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German Pages 857 [858] Year 2021
Jüdisches Denken
© Campus Verlag
Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Der vorliegende fünfte Band bildet den Abschluss seines Werkes »Jüdisches Denken«, das allenthalben als Standardwerk gilt.
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Karl Erich Grözinger
Jüdisches Denken Theologie – Philosophie – Mystik Band 5: Meinungen und Richtungen im 20. und 21. Jahrhundert
Campus Verlag Frankfurt/New York © Campus Verlag
ISBN 978-3-593-51107-8 Print ISBN 978-3-593-44224-2 E-Book (PDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich. Copyright © 2019 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagmotiv: Davidsterne © www.shutterstock.com, Bildnummer: 1256553577 Satz: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Gesetzt aus der Times New Roman Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany www.campus.de
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INHALT VORWORT ........................................................................................................ 25 EINFÜHRUNG ................................................................................................... 27 1. 2. 3. 4. 5.
Einheit und Disparatheit – in Geschichte und Gegenwart .................................................................... 27 Geographische Neuverortung des europäischen Erbes .... 30 Die Aufspaltung des Judentums – Denominationen ......... 32 »Systematische Theologie« als neues Merkmal jüdischen Denkens ............................................................... 35 Die Autoren und Autorinnen .............................................. 38
TEIL I – EIN LETZTES VERMÄCHTNIS DES ALTEN DEUTSCHEN UND FRANZÖSISCHEN JUDENTUMS – DIALOGISCHER EXISTENTIALISMUS VOM BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS I.
EINE EPISTEMISCH-EXISTENTIELLE HEILSKONZEPTION DES DOPPELTEN WEGES AUS JUDENTUM UND CHRISTENTUM – FRANZ ROSENZWEIG (1886–1929) ......................................... 47 1. 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4
Biographisches ..................................................................... 47 Der Stern der Erlösung ....................................................... 48 Das Anliegen ......................................................................... 48 Das persönlich-soziale Anliegen ........................................... 48 Das philosophische Anliegen ................................................ 50 Der philosophische Hintergrund – Schelling ......................... 58 Die Architektur des Stern der Erlösung und deren Aussage................................................................. 61 Die Struktur ........................................................................... 62 Die bildlich symbolische Darstellung der epistemischen Weltzeitalter .......................................................................... 66 »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Die Begründung und Herleitung der drei Grundelemente des Wissens mit Hilfe einer neuen Logik der Sprache .......... 68
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Inhalt
6 2.4.1 2.5 2.5.1 2.5.2 2.6 2.7 2.8 2.9 2.9.1 2.9.2 2.10 2.10.1 2.11 2.12 2.13 2.14 2.15 2.15.1 2.15.2 2.15.3 2.15.4 2.15.5 2.16
II.
Die drei Grundelemente der Welt: Gott, Welt und Mensch – der Weg vom Nichtwissen zum Wissen ................................ 69 Die Sprach-Logik als Mittel der Wissensgenerierung ........... 71 Die Sprache ........................................................................... 73 Die Explikation der drei Urelemente mithilfe der vorweltlichen sprachlichen Urwörter .................................... 77 »Gott und sein Sein oder Metaphysik« .................................. 78 »Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik« .............................. 80 »Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik« ..................... 82 Die Bahn – oder die allzeit erneuerte Welt – das Wunder der Offenbarung ................................................................... 84 Wie kann das Wunder der Offenbarung erlebt werden? – »Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele«.... 87 Offenbarung als Dialog ......................................................... 92 Die neue Sicht der drei Urelemente Gott, Welt und Mensch dank der Offenbarung ............................................................ 93 Das Sinnbild der Sprache ...................................................... 93 »Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge« ..... 95 »Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs« .................... 97 Die Gestalt oder die ewige Überwelt ................................... 102 »Über die Möglichkeit das Reich zu erbeten« ..................... 104 Judentum und Christentum – ihre Rolle im Erlösungswerk 108 Das Judentum – Das Feuer oder das ewige Leben ............. 108 Die Theologie der jüdischen Heimatlosigkeit – der negative Mythos ............................................................ 108 Die Theologie der jüdischen Liturgie im Wochen- und Jahreszyklus – der positive Mythos .......... 112 Das Christentum – Die Strahlen oder der ewige Weg ........ 114 Die bleibende Differenz zwischen Judentum und Christentum und deren Nutzen im Heilsplan ................ 119 Gottes Wahrheit muss des Menschen eigene Wahrheit sein ...................................................................................... 122
MYSTIK DES DIALOGS – MARTIN BUBER (1878–1965) ........ 126 1. 2. 2.1 2.2
Biographisches ................................................................... 126 Grundzüge des Denkens.................................................... 127 Das vielgefächerte Denken .................................................. 127 Das »offizielle Scheinjudentum« und das »unterirdische Urjudentum« ................................... 129
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Inhalt 2.3 2.3.1 2.3.1.1 2.3.1.2 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
III.
7
Dualität und Einheit – eine konstante Denkstruktur Bubers.................................................................................. 132 Dualität im Judentum als »Religion« und als »Nation« ...... 132 Judentum als Religion oder Religiosität .............................. 133 Judentum als Nation: Gesellschaftszwänge oder persönliche Blutsverbundenheit .................................. 136 Dualität als universelle »Urzweiheit« .................................. 139 Die »Urzweiheit« individual- und völkerpsychologisch ...... 139 Dualität der Weltwahrnehmung: Orientierung oder Verwirklichung ............................................................ 141 »Ich und Du« – Bubers Dialog-Mystik ............................ 148 Ist Bubers Dialogik eine Form der Mystik?......................... 148 Überblick über die drei Teile des Buches ............................ 150 Bubers Verhältnis zu Ferdinand Ebner ................................ 152 Die zwiespältige Haltung des Menschen zur Welt: Beziehung oder Erfahrung ................................................... 153 Wesensmerkmale der Beziehung......................................... 157 »Geist« – das Kontinuum der momentanen Beziehungen ... 161 Das ewige Du als Grundlage des Kontinuums der Beziehung ...................................................................... 163 Beziehung als Offenbarung ................................................. 166
DIE HERAUSFORDERUNG DURCH DAS »GESICHT« DES ANDERN – EMMANUEL LÉVINAS (1905/6–1995) ............. 168 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Biographisches ................................................................... 168 Grundzüge des Denkens.................................................... 168 Ansprache oder Verstehen – das menschliche Gegenüber .......................................................................... 174 Das Gesicht, »visage« oder Antlitz ................................... 177 Die Forderung des Andern an das Ich – Grund und Ziel der Ethik ................................................. 179 Das menschliche Subjekt – als Unterworfenes und Angeklagtes ................................................................ 181 Die Geschöpflichkeit und das »Geworfensein« des Menschen als Grund seiner heteronomen Situation ...... .183 Der Mensch als Ebenbild Gottes ...................................... 184 Trennung des Selbst vom Anderen als Akt der imitatio dei .................................................................... 187
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Inhalt
8
TEIL II – AUFGLIEDERUNG DES JUDENTUMS – DAS DEUTSCH-JÜDISCHE ERBE IN DER NEUEN WELT DIE JÜDISCHEN DENOMINATIONEN DER GEGENWART – IN SELBSTDARSTELLUNGEN ........................................................... 193 1. 2.
Vorbemerkung ................................................................... 193 Die Moderne Orthodoxie – Centralist Orthodoxy – Inklusion trotz Abgrenzung – im Sinne des alten Israel-Begriffes................................................................... 194 3. Die völlige Separierung der rechten Orthodoxie von einem »Judaism without Sinai« – Agudath Israel of America und andere .......................................................... 199 4. Das Reform-Judentum oder Progressive-Judaism ......... 202 4.1 Überblick ............................................................................. 202 4.2 1885 – Die Pittsburgh Platform – Aufklärung und antinationaler Universalismus ...................................... 203 4.2.1 Gott ...................................................................................... 203 4.2.2 Bibel – Tora – Gesetz .......................................................... 203 4.2.2.I Die Bibel .............................................................................. 203 4.2.2.II Das Gesetz ........................................................................... 204 4.2.2.III Ritualgesetze ...................................................................... 205 4.2.2.IV Universeller antinationaler Messianismus ........................ 206 4.3 1937 – Die Columbus Platform – im Bezugsfeld moderner Wissenschaft und des Zionismus ........................ 207 4.3.1 Präambel .............................................................................. 207 4.3.2 Gott ...................................................................................... 207 4.3.3 Bibel – Tora – Gesetz .......................................................... 208 4.3.3.I Tora ..................................................................................... 208 4.3.3.II Ethik .................................................................................... 210 4.3.3.III Ritualgesetze ...................................................................... 211 4.3.4 Das jüdische Volk – Rückkehr des Partikularismus ........... 212 4.4 1976 A Centenary Perspective – bittere Lehren aus der Geschichte – der Wert des Partikularen neben Wissenschaft und Universalismus ....................................... 212 4.4.1 Präambel – Grundsätze ........................................................ 212 4.4.2 Gott ...................................................................................... 213 4.4.3 Bibel – Tora – Gesetz .......................................................... 214 4.4.3.I Tora ..................................................................................... 214 4.4.3.II–III Ethik und Ritualgesetz ................................................... 215 4.4.4 Staat Israel und Diaspora .................................................. 216
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Inhalt 4.5
9
1999 – A Statement of Principles for Reform Judaism – Diaspora und Staat – Verbundenheit durch rituelle und historische Jüdischkeit – alte Reformelemente .................... 218 4.5.1 Präambel .............................................................................. 218 4.5.2 Gott ...................................................................................... 218 4.5.3 Bibel – Tora – Gesetz .......................................................... 220 4.5.3.I Tora ..................................................................................... 220 4.5.3.II Traditionsgebote – Riten ..................................................... 221 4.5.3.III Universelle Ethik................................................................ 221 4.5.3.IV Staat Israel und Diaspora .................................................. 223 5. Conservative Judaism – Masorti ...................................... 225 5.1 Historische Anmerkungen ................................................... 225 5.2 Emet Ve’Emunah – Statement of Principles of Conservative Judaism – 1988 .......................................... 227 5.2.1 Vorbemerkung ..................................................................... 227 5.2.2 »Theologie« ......................................................................... 228 5.2.2.1 God in the World ................................................................. 228 5.2.2.2 Die Offenbarung .................................................................. 229 5.2.2.3 Die Halacha ........................................................................ 230 5.2.2.4 Die Frage des Bösen und die Ablehnung der Theodizee ..... 233 5.2.2.5 Eschatologie ........................................................................ 234 5.2.2.6 Messiaserwartung................................................................ 234 5.2.3 »Die Nation« ....................................................................... 235 5.2.3.1 Das jüdische Volk – Bund und Erwählung .......................... 235 5.2.3.2 Der Staat Israel ................................................................... 235 5.2.3.3 Israel und die Diaspora – Die zentrale Stellung von Israel ............................................................................. 236 5.2.3.4 Das Ideal von Klal-Jisraʼel – der Gesamtheit Israels ......... 238 5.2.3.5 Nehmen und Geben zwischen Religionen und Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart .................. 238 5.2.3.6 Tikkun ʽOlam als jüdische Aufgabe ..................................... 238 5.2.4. Ein Leben der Tora – das religiöse Leben ........................... 240 5.2.4.1 Vorbemerkung ..................................................................... 240 5.2.4.2 Frauen ................................................................................. 240 5.2.4.3 Das jüdische Heim............................................................... 240 5.2.4.4 Das Gebet ............................................................................ 240 5.2.4.5 Das Tora-Studium ............................................................... 242 5.3 Conservative Judaism: Religiöse Nation – nationale Religion – Die Sicht von Ismar Schorsch ............ 243 5.3.1 Vorbemerkung .................................................................... 243 5.3.2 Erster Grundwert: Die Zentralität des modernen Israel ....... 243 © Campus Verlag
Inhalt
10 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6 5.3.7 5.3.8 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 7. 8. 9. 9.1 9.2. 9.3
9.4 9.5 9.6 9.7 9.8
Zweiter Grundwert: Das Hebräische – die unersetzbare Sprache jüdischer Ausdrucksweise...................................... 244 Dritter Grundwert: Hingabe an das Ideal eines Gesamt-Israel (Klal Jisraʼel) ............................................... 245 Vierter Grundwert: Die bestimmende Rolle der Tora in der Neugestaltung des Judentums.................................... 245 Fünfter Grundwert: Das Tora-Studium ............................... 246 Sechster Grundwert: Die Halacha als die Gestaltungsherrschaft des jüdischen Lebens ....................... 247 Siebter Grundwert: Der Glaube an Gott .............................. 248 Reconstructionist Judaism ................................................ 250 Vorbemerkung ..................................................................... 250 Die in steter Entwicklung befindliche religiöse Zivilisation (Kultur) des jüdischen Volkes .......................... 250 Das jüdische Volk................................................................ 251 Die Vergangenheit hat ein Votum aber kein Veto ............... 252 Das Verhältnis zur Halacha ................................................. 253 Die Hoffnung für die jüdische Zukunft ............................... 254 Tikkun ‘Olam – eine universalistisch sozial-liberale social justice-Bewegung..................................................... 256 Humanistic Judaism .......................................................... 260 Philosophie als eine die Denominationen übergreifende selbständige Form jüdischer Selbstexplikation ............... 263 Vorbemerkung .................................................................... 263 »Philosophie« und »Weisheit« – als rationale Denkformen im Judentum ........................................................................ 264 Die innerjüdische Debatte um eine jüdische Philosophie im 20. Jahrhundert – gibt es Kriterien für das Attribut »jüdisch« ............................................................................. 264 Der altorientalisch-biblische Rationalismus – Weisheit als Orientierungswissenschaft ............................................. 269 Der rabbinisch-talmudische Rationalismus der Antike – Weisheit als kategorisierende Wissenschaft ........................ 270 Das Mittelalter: Philosophie als die Suche nach der einen Wahrheit –Vereinung von Vernunft und Offenbarung ........ 271 Von der Neuzeit bis zur Aufklärung: Die Marginalisierung der Philosophie in ihrer Bedeutung für die Offenbarung..... 274 Das 19. Jahrhundert: Die Inthronisierung der Philosophie als der neuen Sinnstifterin einer säkularen Kultur-Gesellschaft.............................................................. 277
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Inhalt 9.9
11
Die Gegenwart: Unterschiedliche Konzepte von jüdischer Philosophie.................................................... 284
TEIL III – DIE ENTFALTUNG DES EUROPÄISCH-JÜDISCHEN DENKENS IN DEN VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA – DIE GROSSEN DENKER I.
ERKENNTNISTHEORIE, PHILOSOPHIE UND HALACHA – ORTHODOXE ANNÄHERUNGEN AN DIE MODERNE – JOSEF DOV (BER) HA-LEVI SOLOVEITCHIK (1903–1993) ..... 291 1. 2. 3.
3.1 3.2
3.2.1 3.2.2 3.2.3 4. 4.1 4.2.1 4.2.2
4.3. 4.3.1 4.3.2 4.3.3
Biographisches ................................................................... 291 Das denkerische Profil Soloveitchiks ............................... 293 Halacha als eine der legitimen Erkenntnis-Methoden im modernen Methodenpluralismus – The Halakhic Mind.................................................................................... 297 Der Erkenntnis-Pluralismus der Moderne ........................... 297 Die Geschichte der Erkenntnistheorie und die daraus folgende Forderung nach einer eigenen religiösen Epistemologie ...................................................................... 289 Die Folgen für das Verständnis von Religion...................... 303 Die religiöse Epistemologie................................................. 304 Die Halacha als die höchste Form religiöser Objektivierung ..................................................................... 310 Der Halacha-Mensch – ʼIsch ha-Halacha ........................ 312 Zielsetzung und Charakter der Schrift ʼIsch ha-Halacha .... 312 Die Bipolarität des ʼIsch ha-Halacha – des Halacha-Menschen ........................................................ 315 Die widersprüchlichen Persönlichkeitstypen im ʼIsch ha-Halacha: der »homo religiosus« und der »Mensch der wissenschaftlichen Erkenntnis« und deren ontologischer Grund ........................................... 317 Die Halachische Erkenntnisweise ....................................... 318 Die Erkenntnisweise des Halacha-Menschen – mittels eines die Erkenntnis leitenden »a priori« ................. 318 Das apriori des Halachisten ................................................ 323 Halacha als Objektivierung der subjektiven Religiosität – eine Verkehrung des psychologischen Ansatzes – und der Vergleich mit der Naturwissenschaft...................... 325
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Inhalt
12 4.3.4
Das die Erkenntnis leitende Interesse der Halacha – die Norm .............................................................................. 329 4.4 Das abzulehnende Gegenmodell – der homo religiosus normalis ............................................................................... 331 5. Halacha als Mittlerin der widerstreitenden Bewusstseinsebenen des Menschen – der phänomenologische Zugang ....................................... 333 5.1 Das Grundthema der Schrift U-vikaschtem mi-scham (»von dort aus werdet ihr suchen«) ..................................... 333 5.2 Die Herkunft und der Ort der Religion ................................ 335 5.3 Imitatio dei und Devekut – das Haften an der Gottheit ........ 341 5.3.1 »Das sich sehnende und sich fürchtende Herz« – das mysterium fascinosum et tremendum – Bewusstseinsbeschreibung statt Metaphysik ....................... 341 5.3.2 Imitatio dei als Ersatz für die unio mystica ......................... 343 5.3.3 Die Devekut – das Haften an der Gottheit – die halachische Deutung ...................................................... 344 5.3.4 Der epistemologisch-metaphysische Grund der Devekut .... 347 5.3.5 Die Funktion der Halacha – als Lehrmeisterin und Führerin des menschlichen Bewusstseins ............................ 354 5.3.6 Die Offenbarung .................................................................. 359 6. Halacha als Ausgleich der beiden existentialen Grundtypen des Menschen – The Lonely Man of Faith ............................................................................... 361 6.1 Therapeutisch-existentialistisch-biographisches Schreiben ............................................................................. 361 6.2 Ontologisch-exegetische Begründung des existentialen menschlichen Dilemmas. ..................................................... 364 6.2.1 Adam I und Adam II – zwei gegensätzliche Typen............. 365 6.2.1.1 Adam I ................................................................................. 366 6.2.1.2 Adam II ................................................................................ 366 6.3 Der Glaube .......................................................................... 368 6.4 Die Einsamkeit des Glaubens-Menschen ............................ 370 6.5 Die Erlösung ........................................................................ 372 6.6 Die »Glaubens-Gemeinschaft« als »Bundes-Gemeinschaft«...................................................... 374 6.7 Stellung und Rolle der Halacha ........................................... 378 7. Israel als Volk und Staat in gemeinsamem Leiden – der daraus folgende Auftrag und Verzicht auf Theodizee............................................................................ 379
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Inhalt 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2
7.2.3 7.2.4 7.3 7.3.1
II.
Das Thema vom Leiden des Gerechten und dessen Bearbeitung durch Soloveitchik .......................................... 379 Die duale Verfasstheit des Menschen angesichts der Leiden ............................................................................ 381 Die schicksalhafte und die Berufungs-Existenz .................. 381 Schicksals- und Berufungs-Existenz des jüdischen Volkes nach der Maßgabe der beiden biblischen Bünde Gottes mit Israel .................................................................................... 383 Der Schicksals-Bund für Israel ............................................ 383 Der Berufungs-Bund für Israel ............................................ 384 Die Israel von Gott geschenkte neue Situation .................... 384 Die Folgerungen aus der neuen Situation ............................ 386
DAS BEWUSSTSEIN VON DER ZUWENDUNG GOTTES – ABRAHAM JOSHUA HESCHEL (1907–1972) ............................... 389 1. 2. 2.1 2.2 2.3. 3. 3.1 3.2. 3.3 3.3.1 3.3.2
III.
13
Biographisches ................................................................... 389 Grundlinien des Denkens .................................................. 390 Die Phänomenologie der Dissertation zur Prophetie ........... 390 Ein kurzer Blick auf Edmund Husserl zum Vergleich......... 392 »Eine Philosophie des Judentums« als Phänomenologie der jüdischen Religion ......................................................... 394 Religion auf der Grundlage des menschlichen Bewusstseins ....................................................................... 399 Gottes Gegenwart im menschlichen Glauben ...................... 399 Gottes Gegenwart in der Geschichte und in der Bibel......... 404 Gottes Gegenwart im Tun der Menschen ............................ 410 Die Gebote als Hilfe für Gott im Werk der Erlösung .......... 410 Nicht einzelne Gebote, sondern jüdischer Way of Life ........ 412
INDIVIDUELLES ERLEBEN ALS TEIL DES BUNDESVOLKES ISRAEL – EUGENE B. BOROWITZ (1924–2016) ......................... 414 1. 2. 3. 4. 5.
Biographisches ................................................................... 414 Grundzüge des Denkens.................................................... 414 Der Glaube als Grundlage von Religion und Theologie ..................................................................... 416 Was ist das Judentum der Entscheidung – die rationale Darlegung ..................................................... 419 Das Judentum als Volk des Bundes ................................. 420
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Inhalt
14 6. 7.
IV.
Was ist der Wille Gottes und was die Tora-Offenbarung? ..................................................... 425 Die Rolle der jüdischen Theologie .................................... 428
JUDENTUM ALS ZIVILISATION – DIE FRAGE NACH DEM WESEN DES JUDENTUMS UND DESSEN »REKONSTRUKTION« – MORDECAI M. KAPLAN (1881–1983) ......................................... 429 1.
Vorbemerkung – das Problem des Judentums nach Aufklärung und Emanzipation ............................... 429 2. Kaplans Buch Judaism as A Civilization – Ein Vorschlag zur Rekonstruktion des Judentums ........ 430 2.1 Das Neue an Kaplan – ein Schlaglicht ................................ 430 2.2 Biographisches .................................................................... 431 2.3 Die Aufgabe ........................................................................ 433 3. Die Analyse der Krise des Judentums ............................. 435 3.1 Die Ursachen der Krise – der Verlust der Transzendenz und ein neues Menschenbild................................................ 436 3.2 Die Kräfte der Desintegration des Judentums als eigenständiger sozialer Größe ........................................ 440 3.2.1 Die moderne Staatsauffassung als desintegrativer Faktor für das Judentum ................................................................. 441 3.2.2 Die moderne Wirtschaftsordnung als desintegrativer Faktor des Judentums...................................................................... 443 3.2.3 Modernes Denken und moderne Gesellschaftsformen als desintegrative Faktoren des Judentums .......................... 444 3.2.3.1 Der Glaube an Gott.............................................................. 445 3.2.3.2 Das Volk Israel als Gottes erwähltes Volk .......................... 447 3.2.3.3 Die Tora als Gottes Offenbarung......................................... 448 3.3 Endogene und exogene oft unbewusst wirkende Erhaltungskräfte des Judentums .......................................... 450 4. Die Suche nach der bestandswahrenden Differenz des Judentums.................................................................... 453 5. Judentum als Zivilisation oder umfassende Kultur ....... 457 5.1 Das Land.............................................................................. 458 5.2 Die Sprache ......................................................................... 460 5.3 Sitte, Gesetz und Brauchtum ............................................... 460 5.4 Heilige Werte, Wertvorstellungen, heilige Sachen und Religion ........................................................................ 461 5.5 Kunst ................................................................................... 463 5.6 Die Gesellschaftsstruktur..................................................... 463 © Campus Verlag
Inhalt 6. 7. 7.1 7.2 7.3 8. 9. 10. 10.1 10.2
V.
15
Judentum als gesellschaftlicher Prozess – eine neue »Tora« ................................................................ 466 Gesellschaft – Religion – Gott........................................... 469 Die neue Form des Gottesglaubens – die persönliche Religion ...................................................... 472 Die neue Form des Gottesglaubens in der Volks-/National-Religion .......................................... 480 Der Weg zur neuen Religion – funktionale Deutung der Tradition ........................................................................ 485 Judentum als Lebensweise – »Way of Life« .................... 489 Die unverzichtbaren Requisiten oder Sancta des Judentums.................................................................... 490 Die Gebote der Tora .......................................................... 493 Die religiösen Volksbräuche ............................................... 495 Die kulturellen Volksbräuche .............................................. 497
JUDAISM BEYOND GOD – HUMANISTISCHES JUDENTUM – SHERWIN T. WINE (1928–2007) ................................................... 499 1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 4. 5. 5.1 5.2 5.3 6. 6.1 6.2 6.3 7.
Biographisches ................................................................... 499 Vorausbemerkung ............................................................. 499 Die Grundlagen.................................................................. 501 Vernunft und Menschenwürde ............................................ 501 Gott – nicht mehr denkbar ................................................... 501 Ethik – menschlich autonom ............................................... 502 Jüdische Reaktionen auf die säkulare Revolution aus Sicht der Humanisten ................................................. 504 Lösungsvorschläge............................................................. 506 Jüdische Identität – was ist sie? ........................................... 506 Der Wert der jüdischen Identität ......................................... 507 Die Revision der Historiographie ........................................ 509 Was ist zu tun? ................................................................... 512 Lehren aus der Vergangenheit ............................................. 512 Die neue und die alte jüdische Literatur .............................. 512 Jüdische Identität aus der Geschichte zelebrieren – die Feste............................................................................... 516 Gemischte Ehen und Konversion ..................................... 519
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Inhalt
16
TEIL IV – RELIGION, TRADITION UND POLITIK IN ISRAEL I.
THEOZENTRIK STATT HUMANISMUS – HALACHA STATT ATHEISTISCHER ETHIK – RELIGION UND STAAT – JESCHAJAHU LEIBOWITZ (1903–1994) ............................. 525 1. 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.3 4. 4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.5 4.5.1 4.5.2 5. 5.1 5.2
II.
Biographisches ................................................................... 525 Grundlinien des Denkens .................................................. 528 Gott ..................................................................................... 530 Der Glaube – Inbegriff der Religion ................................ 533 Die Innenseite des Glaubens – das Bewusstsein ................. 533 Die sichtbare Außenseite des Glaubens – das Handeln ....... 537 Halacha statt Sittengesetz – im Schatten von Kant.............. 539 Werte ................................................................................... 543 Bewertung des menschlichen Tuns – Halacha versus Ethik ........................................................... 543 Nochmals Kant – Deontologie und Teleologie.................... 549 Religiös neutrale Handlungsgebiete und religiöses Interesse........................................................ 550 Religion um ihrer selbst willen – menschliche und göttliche Ziele .......................................... 551 Keduscha (Heiligkeit) – ist nur durch Gebotserfüllung zu erwerben ......................................................................... 553 Glaube – ohne historische Offenbarung .............................. 556 Das Wesen des »historischen« Glaubens als Wesen des Judentums...................................................................... 562 Ewige Konstanz und zeitliche Veränderlichkeit der Halacha .......................................................................... 566 Staat und Religion – unterschiedliche Elemente der jüdischen Identität ...................................................... 574 Der Staat .............................................................................. 574 Die besetzten Gebiete und das Überleben des Judentums ... 579
JÜDISCHE IDENTITÄT ALS MULTIKULTURELLER HERMENEUTISCHER PROZESS – EINE BRÜCKE ZWISCHEN VERGANGENHEIT UND GEGENWART UND ZWISCHEN DEN PARTEIUNGEN – AVI SAGI (GEB. 1953) ....................................... 583 1. 2. 2.1
Biographisches ................................................................... 583 Grundlinien des Denkens .................................................. 583 Europäische und analytische Philosophie ............................ 583 © Campus Verlag
Inhalt 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 5. 5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2
5.4
III.
17
Religiöser und kultureller Pluralismus ................................ 585 Stufen des religiösen Pluralismus ........................................ 587 Kultureller Pluralismus für den Staat Israel......................... 589 Der Philosoph als »Gesellschaftskritiker« – nach Michael Walzer ........................................................... 590 Hermeneutik und Phänomenologie – der Ansatz mit Gadamer ...................................................................... 592 Plurale Tradition und Gegenwart ........................................ 592 Identität und Selbstbewusstsein ........................................... 597 Religiosität und Religion ................................................... 603 Das Anliegen ....................................................................... 603 Die Phänomenologie des Gebets ......................................... 605 Die Halacha zwischen Offenheit und Verschlossenheit ......................................................... 613 Tradition als Freiheit und Geschichte .................................. 613 Archetypische Deutungen der ʽAkeda und deren Relevanz für die Haggada ................................... 615 Die Halacha – konstitutives oder regulatives Rechtssystem ....................................................................... 618 Definition............................................................................. 618 Die institutionelle Autorität – Text und Auslegung in der halachischen Realität und im Verständnis mancher Toragelehrten....................................................................... 621 Das Judentum zwischen Religion und Moral ...................... 626
POLITIK DER VERNUNFT AUS DEN QUELLEN DES JUDENTUMS – MODUS VIVENDI STATT FRIEDENSUTOPIEN – MICAH GOODMAN (GEB. 1974) ..................................................... 632 1. 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 3.
Biographisches ................................................................... 632 Der politische Diskurs in Israel um die besetzten Gebiete................................................... 632 Die Zielsetzung des Buches »Die Falle von 1967« ............. 632 Die zionistischen Ideologien seit der Staatsgründung ......... 636 Links und Rechts in der politischen Auseinandersetzung Israels .................................................................................. 636 Die politische Rechte ........................................................... 637 Die politische Linke ............................................................ 639 Der religiöse Zionismus und seine messianische Wende .... 641 Die Argumentationen der Gegenwart .............................. 643
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Inhalt
18 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 4. 4.1 4.2 5. 5.1 5.2 5.3 6. 6.1 6.1.1 6.1.2 7.
Die geographische Situierung Israels in der arabisch-muslimischen Umwelt – eine Sicherheitsfrage ..... 643 Das demographische Problem ............................................. 643 Kann das Sicherheitsproblem durch einen Rückzug und zwei Staaten gelöst werden? ......................................... 645 Kann das Sicherheitsproblem durch Annexion und einen binationalen Staat gelöst werden? ....................... 646 Die Besatzung, ethische und historische Werte – eine Klarstellung.................................................................. 648 Das ethische Problem .......................................................... 648 Liegt hier tatsächlich eine Besatzung vor? – eine Klarstellung.................................................................. 649 Die rechtliche Geschichte der Westbank als Territorium seit 1947 .............................................................................. 649 Die ›Gebiete‹ als halachisches und religiöses Dilemma .. 651 Die halachische Argumentation........................................... 652 Die ineinander verschlungenen theologischen und nationalen Argumente .................................................. 654 Der Ausweg – das Vorbild des Talmud ........................... 656 Zerstörte Gesprächsgrundlagen und ihre Folgen ................. 656 Der Talmud als Vorbild ....................................................... 659 Die Notwendigkeit des Aufgebens von Träumen ................ 660 Zwei mögliche Öffnungen der Falle ................................. 662 Denkanstöße ........................................................................ 662 Denkanstoß Teilregelungen ................................................. 663 Denkanstoß Separierung ...................................................... 664 Schlussbemerkung ............................................................. 665
TEIL V – DIE FEMINISTISCHE REVOLUTION I.
FEMINISTISCHE NEUGESTALTUNG DES JUDENTUMS – DIE KRITIK AN DER TRADITION – EINFÜHRUNG ....................... 669 1. 2. 3.
Zur Einstimmung .............................................................. 669 Anfänge und Grundanliegen ............................................ 671 Die gemeinsamen Erfahrungen der Zurücksetzung der Frauen im jüdischen Leben und in der jüdischen Religionskultur aus der Sicht der betroffenen Frauen – ein erster Überblick ........................................................... 673
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Inhalt 3.1
3.2 3.2.a 3.2.b 3.3
3.4 3.5 3.6 3.7
II.
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Die traditionelle Sichtweise zur Rolle der jüdischen Frau – nach Samson Raphael Hirsch – die Frau als Schatten des Mannes ................................................................................ 673 Die passive unterworfene Rolle der Frau nach der Halacha .......................................................................... 675 Heirat und Scheidung .......................................................... 675 Die benachteiligte Stellung der Frau in der Familie ............ 678 Die rituelle Zurücksetzung der Frauen – der Ausschluss aus der aktiven Teilnahme am Gottesdienst und öffentlichen Ämtern ........................... 679 Der Körper der Frau – Unreinheitszone für den »heiligen« Mann ..................................................... 681 Die Vernachlässigung der Frau in der Bibel und in der Traditionsliteratur ............................................... 682 Das Gottesbild – der Maßstab für das normative Menschenbild ...................................................................... 684 Die Ausblendung weiblicher Spiritualität und Befindlichkeit ............................................................... 686
KULTUR- UND RECHTSPHILOSOPHISCH BEGRÜNDETE NEUERZÄHLUNG DES JUDENTUMS – RACHEL ADLER (GEB. 1943).......................................................... 687 1. 2. 3. 3.1 3.2 4. 5. 5.1 5.2 5.3
Biographisches ................................................................... 687 Grundlinien des Denkens .................................................. 687 Traditionen im alten und im neuen Licht........................ 692 Die Legende vom heiligen jüdischen Helden – die Unsichtbarkeit der Frau ................................................. 692 Wie man Rechtsbeispiele neu versteht ................................ 695 Die Unsichtbarkeit und das Schweigen der Frauen im Gottesdienst .............................................. 698 Eine neue Sexualethik – das Erschrecken vor der Tradition und ein Lösungsvorschlag .................. 703 Die biblischen Schöpfungsberichte und deren rabbinische Deutung ........................................... 703 Die Inzestgebote von Levitikus 18 ...................................... 706 Die Eheschließung ............................................................... 707
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Inhalt
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III.
FEMINISTISCHE ORTHODOXIE IN PHILOSOPHISCHEM GEWAND – TAMAR ROSS (GEB. 1938) .............................................................. 710 1. 2. 3. 3.1 3.1.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3
IV.
EINE FEMINISTISCH-JÜDISCHE THEOLOGIE – JUDITH PLASKOW (GEB. 1947) ...................................................... 726 1. 2. 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 5. 6. 6.1 6.2 7.
V.
Biographisches ................................................................... 710 Grundlinien des feministischen Denkens von Tamar Ross ................................................................. 710 Erkenntnislehre – die Offenbarung ................................. 712 Anti-fundamentalistische Erkenntnislehre und deren Absicherung mithilfe von Gadamers Hermeneutik ............. 712 Worauf gründet die Wahrheit .............................................. 712 Die Schlussfolgerungen aus der erkenntnistheoretischen Erörterung ............................................................................ 715 Kumulative Offenbarung ..................................................... 718 Offenbarungskritik und Lösungsversuche in der Vergangenheit ........................................................... 718 Offenbarungsglaube ist nicht Faktenglaube – Sprachspiele, nach Ludwig Wittgenstein ............................ 721 Die Lösung – kumulative Offenbarung ............................... 723
Biographisches ................................................................... 726 Grundlagen des Denkens .................................................. 726 Erinnerung und Gegenwart – die Tora ........................... 729 Die Erzählungen der Geschichte Israels .............................. 729 Die Halacha – als Kernproblem........................................... 734 Diversität ohne Hierarchie – die Gemeinschaft Israels.................................................................................. 736 Erwählung und Diskriminierung ......................................... 736 Gott in der egalitären menschlichen Gemeinschaft ............. 739 Neue Gottesbegriffe ........................................................... 742 Aufgabe einer »Neuen Sexual-Theologie« ....................... 747 Die Neubewertung der Körperlichkeit des Menschen ......... 747 Die Sexualität als Lebensenergie ......................................... 750 Feminismus als Weltveränderung .................................... 751
JUDENTUM ALS ARCHETYPISCHER HEILUNGSPROZESS – LYNN GOTTLIEB (GEB. 1949)........................................................ 753 1. 2.
Biographisches ................................................................... 753 Grundzüge des Denkens.................................................... 754 © Campus Verlag
Inhalt 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7
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Der Archetypus der Muttergottheit – Schechina ............ 756 Die Jungsche Archetypenlehre als Hermeneutik ................. 756 Erfahrung der Weiblichkeit als Numinosum und imago dei ...................................................................... 758 Die Schechina als Archetypus – in der Frau ........................ 759 Gebet, Erzählung und Ritus als Therapie zur Selbstfindung ................................................................. 762 Neue Riten als therapeutisches Handeln.............................. 765 Gewaltlose Gemeinschaft – Zionismus, Israel und das Palästinaproblem .................................................... 767 Öko-Kaschrut und Frauenmystik......................................... 768
TEIL VI – THEMEN UND STRUKTUREN FÜR EINE JÜDISCHE PHILOSOPHIE IM EINUNDZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT – STIMMEN AUS DER ACADEMIA 1. 2. 2.1
2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
2.8 2.9
2.10 2.11
Vorbemerkung ................................................................... 773 Jüdische Philosophie als Religionsphilosophie – in den Spuren der Tradition ............................................. 777 Auf der Suche nach dem ewigen Israel im gottlosen Raum der Welt mithilfe einer neuen Erkenntnislehre und aufgrund neuer nachemanzipatorischer Erfahrungen.......................... 777 Mit Plato im Kampf für einen reinen transzendenten Monotheismus ..................................................................... 781 Ein platonischer Kampf um einen jüdischen Liebesbegriff wider die billige christliche Liebe ....................................... 783 Dienende Dialogik und Transdifferenz im Angesicht des Anderen ......................................................................... 784 Dialog mit dem Christentum auf Augenhöhe ...................... 786 »Sein zum Tode« – für den Mitmenschen ........................... 788 Multikulturalismus und Tradition, New Age und Ritualismus – Herausforderung und Wegweiser für das amerikanische Judentum.......................................... 788 Philosophische Theologie als interessengeleitete vielfältige Sprache und Interpretation ................................. 790 Doppelte Wahrheit zwischen Endlichkeit und Unendlichem – zugleich eine feministische Religionskritik und Textauslegung ...................................... 792 Das Problem der Begründung von Ethik in gottloser Zeit ... 795 Judentum als rationale Denktradition und Ethik.................. 797 © Campus Verlag
Inhalt
22 2.12 2.13 3.
3.1
3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 4. 4.1 4.2 5. 5.1
Wider die falsche Auffassung vom freien Willen des Menschen ...................................................................... 799 Biblische Gerechtigkeit und Anti-Theodizee ...................... 803 Jüdische Philosophie im Dienst der Selbstdarstellung des Judentums und der Einmischung in die allgemeine Philosophie-Debatte........................................................... 805 Mit Lévinas Raum für eine jüdische Philosophie des Dialogischen im Rahmen der allgemeinen Philosophie erstreiten .............................................................................. 805 »Verschmelzung der Horizonte« von Tradition und Gegenwart in der jüdischen Selbstfindung ................... 806 Undogmatische Integration von »America« und jüdischer Tradition........................................................ 808 Feminismus, Psychoanalyse und die jüdischen Dialog-Philosophen ............................................................. 810 Pragmatische realitäts- und kulturbezogene Philosophie .... 812 Identitätsbildungsprozesse mit offenen Grenzen ................. 813 New Yorker Intellektuellen-Idylle....................................... 816 Methoden und Wesen jüdischer Philosophie .................. 817 Phänomenologie und existentiell-individuelles philosophisches Narrativ ..................................................... 817 Suche nach der Wahrheit durch Skepsis und Negation der Negation ........................................................................ 820 Jüdische Philosophie und die modernen Wissenschaften................................................................... 821 Jüdische Philosophie in der Auseinandersetzung und im Dialog mit den modernen Wissenschaften .............. 821
EPILOG ............................................................................................................ 827 Gibt es eine Einheit in der Vielfalt des jüdischen Denkens? – Ein Rückblick auf fünf Bände jüdischer Geistesgeschichte ............................................................................ 827 A. Von den Anfängen bis zur Aufklärung und Emanzipation................................................................... 827 1. 2. 3.
Gibt es im religiös geprägten jüdischen Denken ein verbindendes Erkennungsmerkmal oder gar Dogma? ......... 828 Gibt es ideengeschichtlich eine konstante Linie im jüdischen Denken? ......................................................... 831 Die formal-hermeneutische Lösung .................................... 835 © Campus Verlag
Inhalt
B.
23
Nach Aufklärung und Emanzipation als die Religion nicht mehr als verbindliches Identitäts-Paradigma des Judentums galt ............................................................ 838 Nachaufklärung und Postmoderne....................................... 838
REGISTER ....................................................................................................... 841 BIBLIOGRAPHIE............................................................................................. 857
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VORWORT Das Jüdische Denken ist nach fünfzehn Jahren an seinem Ziel, der Gegenwart, angelangt. Die jüngsten hier zu Wort kommenden Denker und Denkerinnen – ja zum ersten Mal auch Frauen – sind unsere Zeitgenossen und prägen das jüdische Denken der Gegenwart. Das heißt allerdings nicht, dass das Thema nun wirklich erschöpft sei. Ganz im Gegenteil! Je näher man an die jüngere und jüngste Zeit herankommt, desto schwerer fällt die Auswahl der aufzunehmenden Personen und Themen, und manche Leserin oder Leser wird das Fehlen des einen oder anderen beklagen. Als Autor ist man sich der Unvollständigkeit einer solchen Arbeit schmerzlich bewusst. Dennoch glaube ich sagen zu können, dass die in den fünf Bänden des Jüdischen Denkens behandelten Themen und Autoren repräsentativ für das jüdische Denken sind. Man kann dies unschwer an den zahlreichen internen Querverweisen, Aufnahmen und Zitierungen erkennen, die ein engmaschiges Netz der Bezugnahmen geflochten haben. Bis herein in die jüngsten Texte greifen die Autoren auf Traditionen zurück, die der Leser in den jeweils vorangehenden Bänden des Jüdischen Denkens finden kann. Insgesamt ist ein vielgliedriges Bauwerk entstanden, in dessen Hallen Antworten auf die wichtigsten Fragen zum jüdischen Geistesleben gegeben werden. Die hier vorgestellten jüdischen Bücher sind nicht nur die schlechthin unverzichtbare und reiche Quelle für den Historiker. Sie sind und waren seit Anbeginn Ausdruck der Kraft dieser Jahrtausende alten Kultur. Sie dienten als Hilfe in der Not und der täglichen Begleitung, sie schenkten Erbauung, Freude und Erfrischung, sie gaben Anlass zum Grübeln, zum Forschen und zum Weiterdenken – dieses niedergeschriebene Vermächtnis verbürgte Bestand und Kreativität in der Vergangenheit wie in der Gegenwart und wird es ebenso in der Zukunft tun. Das sollte uns Modernen, denen die Bücher abhanden zu kommen drohen, Zeichen und Mahnung sein, diese Säule jeglicher Zivilisation und intellektuellen Lebens hoch zu halten. Für mich waren die fünfzehn Jahre des Schreibens an diesem Buch eine überaus anregende Reise durch ein reiches und vielfältiges jüdisches Wissen, die stets neue Überraschungen bereithielt, Metamorphosen und wieder längst Vertrautes, Freudiges wie auch zutiefst Bedrückendes, kurz ein Spiegel der ganzen Breite jüdischen Lebens wie es im Nachsinnen und in Worten erschlossen wurde. Und ich kann nur hoffen, dass die Leser, die mir auf diesem Gang folgen, dieselben Erfahrungen machen werden. Wie schnell diese Jahre verflossen sind, wurde mir erst wirklich bewusst angesichts der Tatsache, dass beim Erscheinen des ersten Bandes mein Enkel, Noah Ben, geboren wurde und im hebräischen Jahr 5780, der Auslieferung des letzten, nun auch sein Bruder, Liam David, Bar Mizwa wird – ihm ein herzliches
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Vorwort
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מזל טוב. Ich hoffe nur, dass jeder von den beiden in diesem reichen Angebot seine eigene Gedanken-Nische finden wird. Meine Arbeit an dieser Geschichte des jüdischen Denkens wäre ohne die Hilfe der Bibliothekare und Bibliothekarinnen der UB der Freien Universität Berlin nicht möglich gewesen. Einen bedeutsamen Anteil daran hatten die Damen der Fernleihstelle, die mir alle meine Wünsche, seien sie auch noch so esoterisch gewesen, immer gewissenhaft und schnell erfüllten. Ohne die Arbeit solcher Bibliotheken, die heute ihre Schätze auch über das Internet zugänglich machen, kann keine Kultur und noch weniger die Wissenschaft bestehen – pflegen wir sie! Danken möchte ich an dieser Stelle nachdrücklich Frau Dr. Judith WilkePrimavesi vom Campus Verlag, die mir im Namen des Verlags nicht nur genügend Zeit, sondern noch mehr, viel Raum zur Verfügung stellte, wohl wissend, dass etwas so Mächtiges sich nicht auf wenige Tage und Seiten komprimieren lässt. Danken will ich auch Frau Julia Flechtner für Ihre stete technische Hilfe bei der Erstellung der Druckmanuskripte. Mein Dank gilt schließlich all jenen Kolleginnen und Kollegen, allen Institutionen, die mich auf diesem langen Weg begleitet haben. Besonders dankbar bin ich, dass ich das häusliche Lektorat wieder in die erfahrenen Hände meiner Frau Elvira legen durfte, wiewohl auch sie im politischen Kampf gegen den sich wieder erhebenden Antisemitismus und dessen wohlfeile, sich moralisch gebende wie geschichtsvergessene »Israelkritik« wahrlich genug Zeit und Kraft verbraucht. Berlin im Juni 2019
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EINFÜHRUNG 1.
Einheit und Disparatheit – in Geschichte und Gegenwart
Das herausragende Merkmal der jüdischen Gegenwart ist – außer den traumatischen und grundstürzenden Veränderungen durch die Schoah und die Gründung eines jüdischen Staates im alten Heimatland, denen der vierte Band des Jüdischen Denkens gewidmet war – die Zersplitterung und das allseitige Ringen um Einheit. Natürlich hat es in der langen Geschichte des jüdischen Denkens, welche dieses Buch abgeschritten hat, immer Meinungsverschiedenheiten und auch Parteiungen gegeben, die sich heftig bekämpften. Man denke an die innerbiblischen Auseinandersetzungen zwischen Thron und Prophetie, das Ringen zwischen Polytheismus und dem Glauben an nur einen Gott, Elija auf dem Karmel und die Baʽals-Priester, die sozialen Auseinandersetzungen, von denen die Prophetenbücher berichten. Nach dem babylonischen Exil regte sich ein neues Laienelement, die Schriftgelehrten, später Rabbinen genannt, die im Laufe der Zeit des Zweiten Tempels in Konkurrenz zur Priesterschaft traten und diese nach der Zerstörung im Jahre siebzig der Zeitrechnung völlig entmachtete und ihr nur noch eine symbolische Rolle und eine Reihe von Standesbeschränkungen übrigließ. Es war die Zeit der Hellenisierung und der Aufspaltung in viele Richtungen, die Sadduzäer, die Pharisäer, die Essener oder Qumran-Leute und schließlich die Zeloten. All dies beförderte die schon in der Makkabäerzeit aufgetretene Spaltung zwischen den Ḥasidim, Sadduzäern, Qumran-Frommen und Hellenisten – Letztere insbesondere in der Diaspora. Diese Epoche der Zerklüftung endete mit der Zerstörung des Zweiten Tempels und der Wiedereinsammlung unter den Rabbinen. Diese Epoche kreierte ihre neuen, der Zeit angemessenen Wertvorstellungen und Weltanschauungen, die von den biblischen erheblich abwichen. Dies war die das Judentum bis heute prägende rabbinische Zeit, in deren Mitte neben der Synagoge das Lehrhaus mit seiner reichen literarischen Produktion florierte, die aber über aller Kontroverse, der »Auseinandersetzungen um des Himmels Willen« zwischen einzelnen Gelehrten und ganzen Schulen, Hillel und Schammaj, den kollektiven Rahmen der beiden Talmudim und der zahlreichen Midraschim spannte, um die divergierenden Kräfte zusammenzuhalten. Im Mittelalter hat die voranschreitende Individualisierung und vor allem das Hereindringen der griechisch-arabischen Philosophie auch diese Klammer zerbrochen und zu einer Vielzahl individueller theologisch-philosophischer und halachischer Entwürfe geführt, die zwar aus dem rabbinischen Establishment hervorwuchsen, dieses aber alsbald durch ihre eigenen rationalistischen Erkenntnistheorien gefährdeten, dessen überkommene »Theologie« und Rechtstheorie. Tei© Campus Verlag
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Einführung
le der Halacha, die bisher als die feste soziale und rechtliche Klammer dienten, wurden in Frage gestellt. Eine extreme Folge war das Entstehen des Karäertums, welches die rabbinische Tradition rundherum ablehnte und zu einer neuen religiösen-Volksgruppe wurde. Gegen diese Auflösungstendenzen stellten sich Gruppen eines esoterischen Judentums, welche sich in vielfältigen Entwürfen der Gotteslehre, der Kosmologie und vor allem der Neuverortung des halachischen Rechts mit seinen Geboten, diesen rationalistischen Tendenzen entgegenstemmten. Aus der Mitte dieser Kabbalisten kam schließlich auch die Formel, welche das Zerbrechen des Judentums verhinderte, nämlich die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, welche der Quadratur des Kreises glich. Mithilfe dieser Formel wurden die disparaten und sich im Grunde widersprechenden Denkrichtungen als vier für die Religion unabdingbare Denkweisen zur Verpflichtung erhoben. Mit der mystischen Formel PaRDeS, die für Pschat (Wortsinn), Remes (philosophischer Sinn), Drasch (ethisch-homiletischer Sinn) und Sod (kabbalistischer Sinn) stand, wurde das vielfältige Deuten der Tradition als mystisches Heilsmedium verkündet. Dieser Gedanke setze sich durch bis hinein in die Gebetbücher der Synagoge, in denen nunmehr biblische Texte und Vorstellungen friedlich vereint neben den antiken rabbinischen, den rationalistisch-philosophischen und den esoterisch-mystischen der Kabbalisten standen und noch stehen. Auch die großen rabbinischen Talmudisten unterteilten fortan ihr Lernpensum nach diesen Themen. In der neue Umbrüche bringenden Neuzeit, in welcher neben die mittelalterlichen Bruchlinien, die Erkenntnisse der empirischen und historischen Wissenschaften traten, war es wiederum ein solcher Geniestreich, der es vermochte, die divergierenden Kräfte zusammenzuhalten. Dies war die Lehre von den drei verschiedenen Wahrheiten, die nebeneinander bestehen konnten, ohne der anderen Seite ihren Raum streitig zu machen. Alleine die empirische wissenschaftliche Erkenntnis sollte einen Primat haben, der zwar weltanschaulich höchst gefährlich sein konnte, aber für das halachisch-religiöse Leben und die esoterische Theologie eher neutral war. Die Philosophie hingegen, die mit ihren Auffassungen dem Recht höchst gefährlich geworden war, wurde entthront und zu einer mit dem Glauben höchstens gleichberechtigten Erkenntnis herabgerückt und deshalb nicht mehr in die Religion dreinreden durfte. Die nächste Bedrohung kam mit der Aufklärung, welche, angezeigt schon bei Moses Mendelssohn, die für das Judentum bis dato unbestrittene Einheit von Religion und Staat, und damit auch von jüdischer Religion und jüdisch-rechtlicher, staatsähnlicher Autonomie in Frage stellte. Die Emanzipation versetzte dieser nur philosophisch vorbereiteten Trennung den entscheidenden Stoß und entzog dem Judentum sämtliche öffentliche Rechtsfunktionen und beschränkte es auf ein Dasein als Religion oder »Kirche«. Die ideologischen Auseinandersetzungen, die es bis zu dieser Zeit immer gegeben hatte, wurden ihrer rechtlich© Campus Verlag
Einführung
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soziologischen Klammer, der Halacha, als Bestimmungsmacht des Alltags, beraubt. Die innerjüdischen Auseinandersetzungen mutierten nun zu religiösen, »theologischen« Streitigkeiten und Auseinandersetzungen, die in bürgerrechtlicher Hinsicht keine Bedeutung und Konsequenzen mehr hatten. Die ideologischen Trennungen konnten sich jetzt in religionssoziologischen Separierungen, als Konfessionen oder Denominationen manifestieren und verfestigen. Diese vor allem im Deutschland des neunzehnten Jahrhundert einsetzende innerjüdische konfessionelle Aufspaltung hat nach der Vernichtung des europäischen Judentums in den Vereinigten Staaten von Amerika ihre vollen Blüten getrieben und zu organisatorisch deutlich voneinander separierten jüdischen Denominationen geführt. In Osteuropa hatte sich während der westlichen Aufklärung und Emanzipation mit der Entstehung des Ḥasidismus eine in geradezu umgekehrter Richtung verlaufende sehr heftig bekämpfte Absonderung ereignet, die sich aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesichts des gemeinsamen Feindes von Aufklärung und Emanzipation in der Agudat Jisrael mit der Orthodoxie aussöhnte. Zuvor hatten schon der zunächst weitgehend säkulare Zionismus und die Arbeiterbewegung des Bund für weitere Friktionen gesorgt. Die Gründung des Staates Israel hat die emanzipatorische Auflösung der staatsähnlichen jüdischen Autonomie gleichsam konterkariert, weil mit diesem Staat dem israelischen Judentum der verlorengegangene staatlich rechtliche Rahmen zurückgegeben wurde, erweitert durch staatsrechtliche und politische Elemente, die es seit zweitausend Jahren nicht mehr kannte und darum auch denkerisch in den Hintergrund treten ließ. Mit dieser kurzen Skizze ist die Problemlage umrissen, die bis in die Gegenwart hereinreicht und auch den vorliegenden fünften Band des Jüdischen Denkens nachhaltig prägt, nachdem schon im Band vier die die Lager weit aufspaltenden zionistische Ideen vorgestellt wurden, wie dies auch die kaum verkraftbaren Zweifel und Verzweiflungen im Gefolge der Schoah taten. Die jüdische Gegenwart ist als Folge der eingetretenen Umbrüche in zunächst zwei sich grundlegend unterscheidende Situationen aufgespalten. Da ist auf der einen Seite die Diaspora, die nach der Staatsgründung in der Regel nicht mehr Galut (Exil) zu nennen ist, in der die nachemanzipatorische Trennung von Religion und Staat und damit das Konfessionsverständnis des Judentums die Normalität darstellt – selbst wenn es hier auch ethnisch-nationale Rückbesinnungen gab und gibt. Im Staat Israel hingegen besteht diese Trennung von Religion und Staat nicht mehr – wiewohl sie von vielen Seiten vehement gefordert wird –, so dass die Religion selbst für Atheisten wieder zu einem ihr Leben bestimmenden Rechtsfaktor wurde. Beide so unterschiedliche Situationen sind die kaum vereinbaren denkerischen Grundlagen für die beiden Judentümer. Die von rechtlichen Vorgaben – © Campus Verlag
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Einführung
wie in Israel – ungehinderte, religiöse Separierungsmöglichkeit in der Diaspora schreitet insbesondere in den USA voran und versucht dieses Recht gegen erhebliche Widerstände auch in dem Staat durchzusetzen, der als Staat für das gesamte jüdische Volk gegründet wurde. In diesem Staat hingegen stehen Probleme im Vordergrund, welche die Diaspora so nicht kennt und kennen kann. Diese sind innenpolitisch, Standes- und öffentlichkeitsrechtlich, sicherheitspolitisch und betreffen vor allem die Frage des Verhältnisses von Staat und Religion, welches nach der Aufklärung und Emanzipation nicht einfach auf den status quo ante zurückgestellt werden konnte und in ständiger Spannung gehalten wird. In der Diaspora wurde inzwischen dank der »kirchenrechtlich« unbehinderten Möglichkeiten eine neue »Front« eröffnet, welche tiefgreifende Zerwürfnisse offenbarte und nun auf die Tagesordnung setzte, nämlich der jüdische Feminismus, der in bis dahin ungekannter Weise an den Grundlagen des rabbinischen Judentums rüttelte und dies vor allem in Standes- und religiösen Funktionsfragen, die dann natürlich auch ihre philosophischen und theologischen Weiterungen nach sich zogen. In all dieser Unübersichtlichkeit wurde die »geniale« Formel zur Verklammerung der Zentrifugalkräfte noch nicht gefunden. Darum ist die Frage der jüdischen Identität, die Frage dessen, was die zum Teil so unterschiedlichen Judentümer noch zusammenhält, so prominent und prägt auch diesen Band des Jüdischen Denkens in einer bis dato nicht vorhandenen Intensität. Dies geht so weit, dass man sich einerseits gegenseitig die Legitimität seines Judentums bestreiten kann, und andrerseits nach Formeln einer neuen Einheit sucht, wobei die Grunddualität von »Mutterland« und Diaspora auf beiden Seiten eher an Gewicht gewinnt, selbst wenn der neu aufflackernde Antisemitismus manche zu optimistische Positionen wieder ins Wanken bringen mag. Das gegenwärtige Judentum befindet sich demnach wieder in einer Phase der starken Fliehkräfte, in welcher intensiv nach den möglichen Binde- und Einheitskräften gesucht wird, die aber in einer globalen Offenheit und angesichts der Individualisierung der Gesellschaften weit weniger einfach zu finden sein werden als dies in den skizzierten vorangegangenen Krisensituationen der Fall war. All diese Ungewissheiten und diese Disparatheit prägen das Angesicht dieses fünften und letzten Bandes des Jüdischen Denkens, der sich eher als ein offenes Tor in eine ungewisse Zukunft, denn als beruhigender Abschluss darstellt – wovon die folgende Zusammenfassung einen ersten Eindruck vermitteln soll.
2.
Geographische Neuverortung des europäischen Erbes
In diesem fünften Band des Jüdischen Denkens, der versucht, die Linien des jüdischen Denkens bis in die Gegenwart zu auszuziehen, wird dem amerikanischen © Campus Verlag
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Judentum, genauer dem Judentum der Vereinigten Staaten, eine besonders breite Aufmerksamkeit geschenkt werden müssen, weil dieses Judentum vor allem seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart die vielfältigste Entwicklung genommen hat. Dies gilt umso mehr, nachdem das europäische Judentum zerstört war und in Israel vor allem der Zionismus und insbesondere dessen säkularisierte Seite neben der dominierenden, staatsbeherrschenden Orthodoxie, die beiden wesentlichen Pole der geistigen und politischen Auseinandersetzungen prägte. Das Judentum der USA, das seit 2004 sein 350-jähriges Bestehen, die dreihundertfünfzigjährige »American Jewish History« zelebriert – emblematisch in dem ansprechenden National Museum of American Jewish History, das ganz bewusst auf dem historischen Boden der Mutterstadt der amerikanischen Unabhängigkeit, in Philadelphia, in der »Independence Mall« seinen Ort hat1 –, stellt sich durchaus stolz und selbstbewusst als »Amerikanisches Judentum« dar, mit einem Unterton, der an das Selbstbewusstsein des von den Deutschen vernichtete »Deutsche Judentum« erinnert. Und so reichen denn auch wesentliche Wurzeln dieses amerikanischen Judentums in das »Deutsche Judentum« zurück, vor allem, aber nicht nur, zu Martin Buber und Franz Rosenzweig, wie dem Leser dieses Bandes auf Schritt und Tritt deutlich werden wird, weshalb es nicht unangebracht erscheint, sie beide an den Anfang dieses Bandes zu stellen. Sie bilden gleichsam das Gelenk zwischen dem vernichteten deutschen zu dem neu erblühten amerikanischen Judentum, dies umso mehr als sie schon dem 20. Jahrhundert angehören und zugleich die letzten großen Leuchttürme des deutschen Judentums waren – hier darf man schließlich den geistig eng mit ihnen verwandten Franzosen Emmanuel Lévinas hinzuzählen. Der fünfte Band des Jüdischen Denkens ist somit recht besehen thematisch eine direkte Fortsetzung von Band drei, in dem das deutsche Judentum zu Wort gekommen war, eine Fortsetzung die allerdings historisch wie thematisch von Band vier mit den beiden Themen Zionismus und Schoah unterbrochen worden war. Die in Band fünf behandelten Themen und Phänomene sind in weitem Maße eine Fortführung der Debatten und Entwürfe aus dem deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts. Ein wesentlicher hierher gehöriger Teil an jüdischem Denken des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts wurde schon im vierten Band des Jüdischen Denkens verhandelt, nämlich das zu Zionismus und Schoah. Die Letztere forder-
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Das Museum wurde 1976 »in celebration of our nations bicentennial« eröffnet. Der wunderbar gestaltete Katalog, der die dortige Dauerausstellung der 350-jährigen Geschichte getreu wiedergibt, ist 2011 in Philadelphia erschienen: Dreams of Freedom, National Museum of American Jewish History; der Chief Historian des Museums, Jonathan D. Sarna, hat zum Jubiläum eine zusammenfassende Geschichte vorgelegt: J. D. Sarna, American Judaism. A History. Yale University 2004.
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Einführung
te zugleich ein erneutes Nachdenken über die Ziele und die Notwendigkeit des Zionismus nach erfolgter Gründung des Staates Israel, mit dem manche das erfolgreich erreichte Ende des Zionismus gekommen und diesen damit als beendigungswürdig sahen, während andere dessen Aufgaben noch keinesfalls als abgeschlossen betrachten.
3.
Die Aufspaltung des Judentums – Denominationen
Nicht alleine die zwei oder drei genannten deutsch-jüdischen und französischen Autoren finden ihr Echo jenseits des Atlantiks und in Israel, wohin führende Geister aus dem europäischen Inferno entronnen waren. Sie wurden dort für den Aufbau der jüdischen Gesellschaft und die Entfaltung des Denkens prägend. Besonders augenscheinlich wird diese Nachwirkung an der Aufspaltung des Judentums in den Vereinigten Staaten von Amerika wie auch Kanadas in miteinander rivalisierende und sich auch zum Teil gegenseitig ausschließende Denominationen. Den Anfang dieser Konfessionalisierung des Judentums machte die in Deutschland entstehende Reformbewegung, mit deren theologisch-geistigem Vater, Abraham Geiger, und die sich alsbald um Samson Raphael Hirsch formierende Neo-Orthodoxie, welche sich von beiden, der älteren Orthodoxie wie von den Reformern, unterschied. Hinzu kam in Deutschland die Gruppierung um Zacharias Frankel, die sich als »positiv-historische« Richtung verstand. Alle diese Richtungen, vermehrt durch weitere Abspaltungen, prägen das heutige amerikanische Judentum, deren Formationen sich in jüngster Zeit auch auf andere Länder wie Deutschland ausbreiten. Es ist diese Auffaltung des Judentums in »Konfessionen«, welche das Judentum der Vereinigten Staaten viel stärker als Erben des deutschen Judentums erscheinen lässt, als das israelische Judentum mit seiner orthodoxen Monokultur, welche eine Vielfalt im Sinne der Tradition eher noch bei den individuellen Denkern und an den Universitäten gestattete, ganz zu schweigen von der säkularen kulturellen Öffentlichkeit Israels. Neben den genannten großen organisatorisch wie denkerisch voneinander separierten religiösen und atheistischen Denominationen kann man in der Gegenwart die Philosophie, die, getragen von einzelnen Denkern, schon immer eine bedeutende Rolle zur Selbstexplikation des Judentums darstellte, geradezu als sechste Denomination der jüdischen Moderne und Gegenwart betrachten, dies in Amerika wie in Israel. Die jüdischen Philosophen stellen sich – meist als Universitätsprofessoren – durchaus als eigene Klasse im jüdischen Spektrum dar, weshalb ihnen hier im Rahmen der Palette von Denominationen eine entsprechende eigene Gruppendarstellung gewidmet wird. Um diese Neuformierung einer »akademischen philosophischen Denomination« besser verstehen zu können,
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wird ein Rückblick auf die Präsenz und Entwicklung des rationalen Denkens im Judentum von der Bibel bis in die unsere Tage vorangeschickt. Das die Gegenwart am meisten prägende Element ist demnach die konfessionelle Zergliederung des Judentums. Das amerikanische Judentum ist nominal in fünf, in Wahrheit aber noch mehr Richtungen aufgespalten. Im Unterschied zu den meisten der bislang in diesem Buch vorgestellten Meinungen und Parteiungen kann man für diese neue Gegenwart nicht mehr nur von Meinungen und Auffassungen einzelner Gelehrter, oder einzelner Denkrichtungen, wie Philosophen Kabbalisten oder Ḥasidim, sprechen. Das neue Bild stellt sich als Aufspaltung in konstitutionell verfasste Bewegungen oder Denominationen dar, die soziologisch und organisatorisch, hinsichtlich ihres rabbinischen Führungspersonals, ihrer Gebräuche und ihrer Bildungsanstalten, zum Teil vollkommen getrennte Wege gehen und sich gar die gegenseitig die Legitimität bestreiten, oder um Formen der Inklusion und Exklusion ringen. Die Frage »Wer ist Jude« wurde daher in den USA von vielen Orthodoxen durch die analoge Frage ersetzt »Wer ist ein orthodoxer – und damit einzig legitimer – Jude?«, weil eben diese Richtung sich als die alleinige Trägerin der legitimen jüdischen Tradition erachtet.2 Besonders eklatant zeigt sich diese ausschließende Trennung bei der in Israel mit politischer Macht ausgestatteten Orthodoxie, die zu entscheiden beansprucht, wer als legitimer Jude anzuerkennen ist und damit zum Beispiel unter das »Recht der Rückkehr« fällt, also das Recht auf unmittelbare israelische Staatsbürgerschaft besitzt, wer wen heiraten und wer sich in staatlichen Dokumenten »Jude« nennen darf. Dies ist ein Macht- und Definitionsanspruch, dessen Gültigkeit von dieser Richtung weltweit erhoben wird und vor allem im amerikanischen Judentum für große Verbitterung sorgt. In einer die Beziehungen zwischen der amerikanischen Diaspora und dem Staat Israel sehr schmerzhaft belastenden Weise wirkt sich diese Bestreitung der jüdischen Legitimität nicht nur hinsichtlich des sogenannten »Rückkehrrechtes« aus, sondern auch im alltäglich religiösen Bereich, nämlich im Kampf um das Recht an der Jerusalemer Tempelmauer beten zu dürfen, deren Aufsicht ganz in den Händen des sehr orthodoxen israelischen Oberrabbinats liegt, und welches den konservativen, Reformern, Egalitären und gar Feministinnen das Abhalten ihrer eigenen Gottesdienste an dieser für alle so bedeutungsgeladenen Stelle verwehrt. Auch das zelebrieren der in Israel ausschließlich religiösen Trauungen ist dort das Monopol der Orthodoxie und Ausbruchsversuche durch die anderen Denominationen werden bis vor die Gerichte bekämpft. Angesichts dieser gegenseitigen Abgrenzung der separaten jüdischen Denominationen erachteten diese es deshalb auch für notwendig, ihre je eigene Sicht auf das Judentum in kollektiv erarbeiteten »platforms« oder Grundsatzartikeln, 2
Nach Howard I. Levine, The Non-Observant Orthodox, in: Tradition 2,1, Herbst 1959, S. 1.
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also einer Art Grundverfassungen, darzustellen und diese gleichsam zum Kriterium der Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zu machen. Um es überspitzt zu formulieren: Sprach man bisher bei den Juden von Juden verschiedener Meinungen und Denkrichtungen, so muss man seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit verschiedenen Judentümern rechnen, die sich, wie gesagt, gegenseitig zuweilen sogar die jüdische Legitimität absprechen. Diese institutionell und durch Mitgliedschaften getrennte Konfessionalisierung des amerikanischen Judentums ist der Grund, weshalb in diesem letzten Band des Jüdischen Denkens eine Literaturgattung auftritt, die es in den voraufgegangenen Bänden nicht gegeben hat. Gemeint sind demokratisch entstandene Kollektiv-Schriften, in welchen sich die verschiedenen Denominationen der Öffentlichkeit vorstellen und die nach innen zugleich der Selbstvergewisserung der Mitgliederschaft dienen. Diese Texte schrecken als Konsenspapiere vor Extremen zurück, und wo solche dennoch genannt werden, folgt zumeist sogleich auf dem Fuße eine Relativierung oder Gegenposition. Für acht solche Denominationen, oder zumindest Richtungen, werden hier derartige Verlautbarungen vorgestellt, die, wo mehrere chronologisch aufeinanderfolgende Papiere erarbeitet wurden, zugleich als Spiegel der doktrinären Entwicklung der einzelnen Konfessionen dienen, der für das Reform- oder Progressive Judaism in besonders eindrücklicher Weise grundstürzende Veränderungen offenbart. Die schmerzvolle Situation des Zerfalls der jüdischen Einheit in der Gegenwart findet ihr Echo bis hinein in die Titelgebung zeitgenössischer soziologischer Darstellungen des gegenwärtigen Judentums, etwa in Jack Wertheimers A People Divided. Judaism in Contemporary America (New York 1993) 3 oder in Samuel G. Freedmans Buch Jew vs. Jew. The Struggle for the Soul of American Jewry (New York 2000). Folgt man den beiden genannten Büchern, so ist die Aufsplitterung des Judentums, insbesondere in den USA, sogar noch weit größer: Die Orthodoxie ist gespalten in eine ultraorthodoxe Rechte, die Ḥaredim (Gottesfürchtige), zu welcher auch die verschiedenen ḥasidischen und weitere Gruppierungen zählen, und in die »Linke«, die sogenannte Moderne Orthodoxie, die sich neuerdings auch Centrist Orthodoxy nennt,4 um den Ruch des Modernistischen loszuwerden. Die anderen Denominationen zeigen gleichermaßen innere Friktionen. Das Erstaunlichste ist es, dass sich seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gerade bei den Reformern und Rekonstruktionisten entgegen ihrem ursprünglichen ikonoklastischen Rigor ein ausgeprägter Hang zur Tradition bemerkbar macht, 3
Siehe auch seinen vorzüglichen Überblick über die Situation in den USA: J. Wertheimer, Re-
4
Wertheimer, A People Divided, S. 127.
cent Trends in American Judaism, American Jewish Year Book, 1989, S. 63–162.
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dem die eingeschworenen Reformer der älteren Generation oft mit Ratlosigkeit gegenüberstehen. Denn solche Neotraditionalisten stellen die alten liberalen Maximen geradezu auf den Kopf – dies betrifft schon solche äußerlichen Fragen, ob man im Reformgottesdienst eine Kippa (Yarmulke) tragen und gar Tallit und Tefillin anlegen darf, oder wieviel Hebräisch dieser Gottesdienst verträgt. Beim Conservative Judaism, das so unterschiedliche Professoren an seiner Hochschule hatte wie den Bewusstseinsmystiker Heschel neben dem Vater der Reconstructionists, Mordecai Kaplan, oder den Historiker Ismar Schorsch, hat die Frage um die Zulassung von Frauen, zum Rabbinatsstudium und Kantorenamt zu inneren Segregationen geführt. Und selbst die Säkularen blieben von separierenden Unsicherheiten nicht verschont, weil, so die Auffassung vieler Analysten, sich ein Judentum als abgesonderter kultureller und eigenständiger Gruppierung in einem pluralistisch liberalen Staat ohne Religion nur noch sehr schwer definieren lasse, weshalb sich auch in das areligiöse Lager religiöse Elemente einschleichen. Ein alle diese Strömungen bewegendes und oft zerreißendes Thema ist der Zionismus und die Stellung zum neu entstandenen Staat Israel, dies auch angesichts der Schoah, die vor allem in den liberalen Richtungen bedeutsame Kehrtwenden bewirkt hat.
4.
»Systematische Theologie« als neues Merkmal jüdischen Denkens
Eine bedeutsame Gemeinsamkeit all der sich noch religiös definierenden Richtungen ist es, dass man – im Gegensatz zur älteren Tradition – nun zunehmend offen von einer »jüdischen Theologie« spricht, was man früher in Abgrenzung gegen die christliche Theologie strikt vermieden oder zumindest abgelehnt hatte. Hier macht sich natürlich das Erbe der deutschen Reformbewegung spürbar, deren wichtigster Vertreter, Abraham Geiger, ja in seinem Aufsatz »Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit«5 die Einrichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät gefordert hatte und entsprechende Studienpläne erarbeitete und selbst unter dem mächtigen Einfluss des Theologen Schleiermacher stand.6 Dieses dezidiert theologisch-jüdische Denken zeigt sich emblematisch in der amerikanischen Rezeption der Breslauer Tradition des Jüdisch Theologischen Seminars von Zacharias Frankel, durch die Begründung des Jewish Theological Seminary von New York.7 Diese Tendenz zu einer 5
Siehe Jüdisches Denken Bd. 3, S. 579–582.
6
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3.
7
Dieses Conservative-Seminary hat nun auch in Deutschland seine Filiale, das an der Universität Potsdam in Partnerschaft mit dem Abraham Geiger Kolleg an der School of Jewish Theology angesiedelte Zacharias Frankel College.
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professionalisierten Theologie zeigt sich ebenso an den Titeln der publizierten Bücher, so zum Beispiel an dem reformerischen Grundriss einer systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher Grundlage von Kaufmann Kohler (Leipzig 1910), in jenen Tagen der Rektor des Hebrew Union College in Cincinnati. Zu nennen ist auch der Brite Louis Jacobs mit seinem Buch A Jewish Theology, London 1973. Robert Goldy hat diesem Theologisierungs-Phänomen des Judentums in Amerika eigens eine Monographie gewidmet: The Emergency of Jewish Theology in America (Bloomington 1990). Über diesen amerikanischen Umweg ist die Jüdische Theologie, in Gestalt der Potsdamer »Jewish Theology« nach Deutschland zurückgekehrt und hier erstmals akademisch anerkannt worden. Die dezidierte Hinwendung zu einer »akademischen Theologie« äußert sich auch darin, dass die Vertreter dieser amerikanisch-jüdischen Theologie im engen Austausch mit christlichen Theologen, etwa vom Schlage eines Reinhold Niebuhr oder eines Paul Tillich und anderen, stehen, deren Einfluss auf das eigene Denken offen anerkannt wird. Wo früher der Einfluss der systematisierenden Philosophie auf die Arbeiten einzelner Denker und deren individuelle Konzepte gang und gäbe waren, findet man nun Autoren, welche die »Jüdische Theologie« als systematische denkerische Disziplin, oft in klarer konfessioneller Bezogenheit auf die genannten Richtungen, vortragen. Beispielhaft für die Verflochtenheit von christlicher mit der neuen jüdischen Theologie ist etwa in Titeln wie dem von Sandra B. Lubarsky und David R. Griffin herausgegebenen Sammelband Jewish Theology and Process Thought, mit Händen zu greifen. Hier wird eine jüdische Theologie entworfen, die zuvor auf breiter Front von der christlichen Theologie entfaltet worden war und sich auf das Prozess-Denken der Philosophen Alfred North Whitehead und Charles Hartshorne stützt.8 In ihm wird der Versuch unternommen, die Erkenntnisse der modernen Astronomie und Kosmologie, der Atom- und Quantenphysik sowie der biologischen Evolutionslehre aufzunehmen, mit dem Tenor, die Einheit von allem Seienden, dessen durchgehende Verflochtenheit, als einen allumfassenden Entwicklungsprozess zu verstehen, dessen Triebfeder man mit dem »Traditionsbegriff« Gott bezeichnet. In der jüdischen Variante wird dabei bewusst von einer panentheistischen Theologie gesprochen, in welcher der spinozistische Pantheismus mit einem theistischen Korrektiv aufgenommen wird: Gott ist in allem Geschehen und Existierenden der Welt, den physischen, materialen, geistigen, biologischen, den gesellschaftlichen wie individuellen Gegebenheiten präsent und 8
So etwa R. B. Mellert, What is Process Theology. An Introduction to the Philosophy of Alfred North Whitehead, and how it is being applied to Christian Thought Today, New York, Paramus, Toronto 1975; J. B. Cobb, Jr., D. R. Griffin, Process Theology: An Introductory Exposition, Belfast 1976/1977.
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wirksam und damit dynamisch, veränderlich und offen. Die Gottheit erschöpft sich aber nicht in diesen immanenten Aspekten, sondern sie hat zugleich ein transzendentes Superadditum. Natürlich werden dazu als jüdische Vorläufer die Systeme der Kabbala mit ihrem absolut transzendenten ʾEn Sof und ihrer immanenten Emanation dieses Göttlichen in der Welt herangezogen, außerdem die vorphilosophischen Schöpfungsvorstellungen der Bibel und der rabbinischen Literatur, in denen ein göttlicher Dualismus, als vollkommen transzendenter und zugleich alles in der Welt bewegender Gott als theologische Präzedenzen in Anspruch genommen werden – so etwa in dem Buch des »conservative« Rabbi und Hochschullehrers Bradley Shavit Artson, Renewing the Process of Creation. A Jewish Integration of Science and Spirit (Woodstock, Vermont 2016),9 der diesen Gedanken auch schon bei seinem älteren Hochschul-Kollegen Mordecai Kaplan finden konnte.10 Als Vorläufer dieser jüdischen Prozess-Theologie kann schon Hans Jonas gelten, wie er im vierten Band des Jüdischen Denkens dargestellt wurde.11 Ein anderes Beispiel dieser jüdisch-christlichen Theologie-Verflechtung ist die in den unten folgenden Selbstdarstellungen der Denominationen prominent hervortretende christliche social-gospel-Ideologie, die in den jüdischen Texten als Tikkun-ʽOlam-Verpflichtung wiederkehrt. Der Einfluss der christlichen Theologen auf das jüdische Denken war schon bei verschiedenen in Band vier des Jüdischen Denkens vorgestellten jüdischen Theologen, wie etwa R. L. Rubenstein, unübersehbar. Eine Fortführung der deutsch-jüdischen Tradition – auch dies ein Novum im Vergleich zur Voraufklärungszeit – ist das Phänomen, dass die hier vorgestellten einzelnen großen Gelehrten – zum ersten Mal auch weibliche – nicht einfach als originelle Denker im Rahmen des einen Gesamtjudentums auftreten, sondern immer eine klare oder doch unverkennbare Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Denominationen besitzen. Eine solche Zuordnung ist indessen nicht immer völlig exklusiv, weil die einander gegenüberstehenden Richtungen zugleich einen ideologischen Binnen-Individualismus zuließen und gar fördern, der zu Überlappungen, gegenseitigen Hochschätzungen und eben auch Grenzverwischungen zwischen den verschiedenen Richtungen führt. So war der Begründer, oder besser Grundsatz-Denker, des revolutionären Rekonstruktionismus, Mordecai Kaplan, Zeit seiner beruflichen Laufbahn Professor am Jewish Theological Seminary, der Mutterinstitution des Conservative-Judaism. Der ebenfalls dieser
9
Deutsch: B. A. Artson, Das dynamische Universum. Transzendenz und Wissenschaft, Ame-
10
Siehe zu ihm hier, Jüdisches Denken, Bd. 5. Teil III, Kap. IV, Nr. 7.1, M. Kaplan.
11
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 614–635; u. siehe J. B. Cobb, Jr., Hans Jonas as Process Theolo-
rang, 2017.
gian, in: Lubarsky-Griffin, Jewish Theology and Process Thought, Albany 1996, S. 159–162.
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Institution zugehörige Abraham Joshua Heschel wird zustimmend auch von Vertretern der anderen Richtungen rezipiert, was, vielfach beklagt, zu einem Mangel an gegenseitiger Profilschärfe und als Folge davon zu einer vorübergehenden Schwächung gerade des Conservative Judaism führte. Die Autoren der Reform, deren Mutterinstitution das Hebrew Union College ist, stehen indessen zum Teil noch tief im Denken der deutschen Wissenschaft des Judentums, die vor allem historiographisch und religionsgeschichtlich arbeitete, was sich dahingehend auswirkte, dass die »Theologen« dieser Schule in ihren theologischen Kompendien eher eklektische religionsgeschichtlich orientierte Kompositionen aus Elementen der Vergangenheit – oft mit religionspragmatischen Absichten – erstellten und somit nicht wirklich neue Denkkonzeptionen bieten, so schon der zuvor genannte Grundriss einer systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher Grundlage (Leipzig 1910) des aus Deutschland stammenden Kaufmann Kohler (1843–1926), und des britischen Reformers Claude G. Montefiore (1858–1938) Outlines of Liberal Judaism (London 1910, deutsch: Umrisse des Liberalen Judentums, Leipzig o. D.), sowie Louis Jacobs, A Jewish Theology (Springfield 1974) und sein ansonsten sehr lesenswertes Buch Principles oft the Jewish Faith. An Analytical Study (London1964), in dem er die dreizehn Grundlehren des Maimonides auf ihre Akzeptanz für einen modernen Glauben überprüft, dies allerdings gleichsam nach dem Prinzip von Josef Schlomo Delmedigo, indem er die alten Dogmen an den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen misst und danach entscheidet. Solche historisch zwar gut gearbeiteten Darstellungen bieten demnach theologisch und philosophisch nichts wirklich Neues. Als Grenzfall dieser Beurteilung ist das Buch Liberal Judaism des Professors am Hebrew Union College, Eugene B. Borowitz (New York 1984) zu betrachten, der allerdings in anderen hier in diesem Band besprochenen Publikationen dieses systematische Defizit ausgleicht.
5.
Die Autoren und Autorinnen
Die drei europäischen Autoren, Franz Rosenzweig, Martin Buber und Emanuel Lévinas, die den vorliegenden Band eröffnen, gehören alle drei einer Richtung des Existentialismus an, welche das Dialogische, die Begegnung von Mensch zu Mensch, in das Zentrum ihrer Philosophie beziehungsweise Theologie stellen, die sich ansonsten tiefgreifend voneinander unterscheiden. Um die Differenzen auf den Punkt zu bringen: Für Rosenzweig war die auf Dialog gründende Sprache das Medium zu einer individualistischen Daseinserkenntnis, weg vom statischen »Sein« des Idealismus, für Buber war der nicht nur auf das Sprachliche begrenzte Dialog das Medium zu einer wenn auch nur momentanhaften Daseinsglückseligkeit in der Absehung vom sachbezogenen Zweckdenken und dem völ© Campus Verlag
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ligem Hingegebensein an ein Du, während für Lévinas die Begegnung mit einem Du zur Begegnung mit dem »Anderen« mutierte, die aber nicht Glückseligkeit vermittelt, sondern Anklage und die Forderung nach Verantwortung für den stets fremd bleibenden Anderen – eine Situation, die an das verzweifelte Angeklagtsein durch unbekannte Mächte eines Josef K. in Kafkas Proceß-Roman erinnert. Franz Rosenzweig, der 1929 kurz vor der Katastrophe des europäischen Judentums verstarb, lebte noch in der alsbald zerstörten Illusion einer Gemeinsamkeit von Judentum und Christentum bei der Herbeiführung der Erlösung. Er unternahm den trotzigen Versuch, das bis dahin unterdrückte Judentum als ein der Weltgeschichte und ihren Realitäten entnommenes Volk im Prozess der Erlangung der erlösenden Erkenntnis vor das Christentum zu platzieren. Die Juden gelten ihm als die schon immer Angekommenen, die Christen als die stets auf dem Weg Befindlichen – ein Konstrukt, das wegen seines begleitenden BlutMythos scharfe rassistische Vorwürfe von Seiten junger amerikanischer Juden erntete. Rosenzweig bewerkstelligte seinen epistemischen »Weltalter-Plan« über einen erkenntnistheoretischen Mythos von Sprach-Erkenntnis, welcher die überkommene intellektuelle Weltsicht der idealistischen europäischen Philosophie zu überwinden suchte. Immerhin versuchte Rosenzweig, im Gegensatz zu Martin Buber, das jüdische Gesetz als Teil des schon »erlösten« Status der Juden zu rehabilitieren. Martin Buber kümmerte sich in seinem dialogischen Hauptwerk nicht um Judentum und Gesetz, sondern entwarf eine Dialog-Mystik, die im hier und jetzt schon Augenblicke der Erfahrung der – vielleicht nur postulierten – Transzendenz ermöglicht. Bei Emmanuel Lévinas wird die Dialogik zu einer Konfrontation des Ich, des Selbst, mit dem fremden Anderen, welches das ich anklagt und zur fürsorglichen Verantwortung für den Andern nötigt. Es ist eine Verantwortungsethik aus der Not einer unverschuldeten Schuld, die Lévinas aber nicht als Anklage gegen die Judenmörder Europas richtet, sondern gleichsam bei sich selbst sucht. Die Reihe der der amerikanischen Denker wird von dem neoorthodoxen Josef Dov Soloveitchik eröffnet, dem neben Mordecai Kaplan das umfangreichste Kapitel gewidmet ist. Soloveitchik, in Berlin mit einer Arbeit zu Hermann Cohen promoviert, ist von allen amerikanischen Denkern der originellste, interessanteste und facettenreichste, wiewohl er in ganz traditioneller Weise die Halacha immer wieder als die Grundsäule für das Judentum herausstellt. Um dies zu tun, schöpft Soloveitchik aus einer profunden Kenntnis der europäischen Philosophie und umkreist sein Thema aus unterschiedlichen Ansätzen, zuerst mithilfe des neokantianischen Idealismus, dann als Phänomenologe und schließlich als zünftiger Existentialist mit Berufung auf Kierkegaard und andere und verbindet all diese Zugänge mit typologischen Schriftauslegungen. Seine geistige Palette ist so reich, dass er in seinem Denken alle Grundkonzeptionen der philosophisch © Campus Verlag
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eher einseitigen Denker der Reform und der Konservativen vorwegnimmt und zugleich die Traditionen von Rosenzweig, Buber und Lévinas integriert. Der als herausragender Vertreter des Conservative Judaism viel gepriesene Abraham Joshua Heschel verbindet die Auffassung vom Judentum als einer Glaubensreligion mit der von einer Religion der Halacha. Mit seinem phänomenologischen Ansatz spricht er aber nicht von Gott, von der Offenbarung und von der Halacha, sondern von den Wahrnehmungsweisen des Göttlichen durch den Menschen in der Natur, in der Bibel und im religiösen wie weltlichen Handeln. Dabei greift er in zentralen Punkten auf Elemente der Kabbala und des Ḥasidismus zurück. Eugene B. Borowitz, der Reformtheologe, baut sein Judentum auf der nicht hinterfragbaren »Glaubensentscheidung« auf, nach welcher er sich für dieses Judentum als Volksgemeinschaft entscheidet, das zum hermeneutischen Schlüssel für seine gesamte Theologie, Ethik und Frömmigkeit wird – ohne das Volk Israel kann ein Jude keinen Gott haben. Mordecai Kaplan unternahm mitten aus dem konservativen Jewish Theological Seminary heraus eine Revolution, die letztlich aus der historischen Position dieser Richtung resultierte. Kaplan geht das Thema Religion, Volk und Kultur aus einem dezidiert soziologischen Ansatz an. Das entscheidende ist dabei die Beschreibung der sozialen Realität und das Abstandnehmen von positiven Vorschriften dessen, was jüdisch sei. Die Geschichte mit den sich verändernden Umständen in der Wirtschaft, in der Gesellschaft und im Individualismus, hätten zwangsläufig zu einem Judentum geführt, welches mit allen transzendenten Traditionen und vielen separierenden Sancta des Judentums gebrochen hätte, weshalb das Judentum der Tradition vollkommen an der jüdischen Lebenswirklichkeit vorbeigehe. Ein relevantes und dem jüdischen Leben entsprechendes Judentum müsse angesichts der Erkenntnis, dass Religion eine Funktion der Gesellschaft ist, in weitem Maße neu konzipiert und »rekonstruiert«, den sozialen Realitäten angepasst werden, damit es als starke Bindekraft jüdisches Leben ermöglicht und repräsentiert. Einen Schritt weiter geht Sherwin T. Wine, der ein entschieden atheistisches Judentum repräsentiert, das sich »Humanistisches Judentum« nennt. Wine sucht nach der Beschreibung und nach Gestaltungsmöglichkeiten eines Judentums, das sich vollkommen von allen Transzendenzbezügen und der damit verbundenen religiösen Traditionen lossagt. Eine Basis dafür sucht er vor allem in der jüdischen Geschichte und ihren Traditionen. Er sieht sich dabei allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass er in den vorliegenden geschichtlichen Dokumenten, eingeschlossen der Bibel, eine durch das »klerikale Establishment« zensierte Historiographie sieht, die alles sub specie divinitatis berichtet, um den eigenen Status und Vorteil zu sichern und die anderen, eigentlichen historischen Fakten aus Wirtschaft, Politik, Kunst und dergleichen ausklammert, die aber in Wahrheit © Campus Verlag
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das jüdische Leben gestaltet, getragen und verteidigt hätten. Die Suche nach neuen adäquaten Ausdrucksweisen eines solchen atheistischen Judentums erweisen sich indessen als nicht einfach. Mit Jeschajahu Leibowitz wechselt der Band nach Israel, der damit ein deutlich anderes Klima als der amerikanische und alte deutsch-französische Teil atmet. Leibowitz als Naturwissenschaftler, Mediziner und religiöser Denker ist im Sinne des Halacha-Judentums extrem konservativ, kann dies aber durch eine strikt durchgehaltene Religions-Theorie begründen. Diese dient auch der angriffslustigen Polarisierung und Polemik nach allen Seiten: Die orthodoxen Rabbiner sind ihm zu sehr mit dem Staat und mit der alten Diaspora verwachsen, der Staat zu sehr mit der Religion und religiösen Deutungen seiner selbst, und zwischen ihnen steht der kantige eratische Fels Leibowitz, an dem sich alle reiben. Ganz anders Avi Sagi, der mit Hilfe der philosophischen Hermeneutik vermitteln und Brücken über die tiefe Kluft zwischen Orthodoxen und Säkularen in Israel schlagen will. Mithilfe der hermeneutischen Grundformel von der Verschmelzung der Wahrnehmungshorizonte versucht er aufzuzeigen, dass beide Seiten viel mehr Gemeinsames haben als sie meinen. So beten zum Beispiel nicht nur die frommen, sondern auch die säkularen Menschen wie andrerseits die orthodoxen Halachisten an der Geschichte und den Wechselfällen des Lebens teilhaben. All dies biete Stoff genug, um miteinander ins Gespräch zu kommen, oder doch toleranter zu werden. Mica (Micha) Goodman will den Weg der talmudischen Tradition beschreiben, um die politischen Debatten in Israel sowie zwischen Israelis und Palästinensern zunächst zu analysieren, um zu verstehen, welche Anliegen hinter deren jeweiligen Argumenten stehen. Erst nachdem alle Argumente aus Sicht der Geschichte, sowie hinsichtlich militärischer und sicherheitsrelevanter Fakten, aus religiösen wie moralischen Auffassungen geklärt und dargestellt sind, sollen sie bewertet werden. Das Resultat ist, dass alle Seiten mit ihren Auffassungen zugleich recht haben wie auch im Unrecht sind, hier also echte Dilemmata vorliegen. Um aus dieser »Falle« – so der Titel seines Buches – zu entrinnen, rät er allen Seiten, von illusorischen Träumen Abschied zu nehmen, nicht auf endgültige Lösungen zu hoffen, sondern in mühsamer Kleinarbeit das Zusammenleben erträglicher und möglich zu machen, die Hoffnungen auf endgültige Lösungen Hoffnungen bleiben zu lassen und stattdessen nach bescheideneren modi vivendi zu suchen. Der jüdische Feminismus, der sich seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von den USA auch nach Israel ausbreitete, will nach eigenem Verständnis nichts weniger als eine Revolution des Judentums herbeiführen – und gemessen an seinen Forderungen ist er tatsächlich revolutionär. Konsens bei all den beteiligten Frauen – und Männern – sind die Benachteiligungen der Frauen im jüdischen Recht (der Halacha), insbesondere in Ehestandsfragen und in der © Campus Verlag
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Zeugnisbefähigung in rabbinischen Gerichten, außerdem in der Gestaltung von Gottesdienst und liturgischen Texten sowie in der Teilhabe an allen religiösen Rechten und Pflichten. Darüber hinaus wird eine Nichtbeachtung der Frauen in deren Selbstverständnis und Identitätsbestimmung beklagt, die von der Männergesellschaft traditionell über den Vater und hernach über den Ehegatten vollzogen wurde; dies betrifft nicht nur die gesellschaftliche Stellung, sondern auch den Körper und die Bedürfnisse der Frau, eingeschlossen die sexuellen, außerdem die Behandlung der Frau in der biblisch-rabbinischen Chronographie und Erinnerungskultur. Es geht also nicht nur um das Einrücken der Frauen in männliche Domänen, sondern um eine Vollberechtigung der Frauen als Glieder des jüdischen Volkes auf allen rechtlichen, physischen und spirituellen Bereichen und nicht zuletzt in der religiösen Sprache. Herrscht unter den Feministinnen bezüglich der Kritik am biblischrabbinischen System weitgehende Einigkeit, gibt es im geforderten modus procedendi erhebliche Unterschiede. Während die orthodoxe Feministin Tamar Ross den evolutiven Modus der bisherigen Halacha-Entwicklung unter Berücksichtigung weiblicher Anliegen bevorzugt, gehen die anderen Frauen sehr viel weiter. Rachel Adler will eine narrative Neuformulierung der gesamten jüdischen Tradition, weil jegliches Gesetz ein entsprechendes Narrativ zur Grundlage hat und von ihm getragen wird. Judith Plaskow fordert unter dem Einfluss des christlichen Feminismus vor allem theologisch-denkerische Veränderungen, in der Darstellung der jüdischen Geschichte, in der Attributierung Gottes, in der Verlagerung der Gotteserlebnisse in die Gemeinschaft, in der Schaffung einer SexualTheologie und schließlich in der Beseitigung aller Hierarchien, eingeschossen des Erwählungsgedankens, was schließlich den Blick auf eine weltweite Friedensutopie auch hinsichtlich des Nahostkonflikts eröffnet. Die am weitestgehende Veränderung praktiziert Lynn Gottlieb, die mit Hilfe der Jungschen Archetypen-Lehre eine therapeutische feministische Frauenreligion kreierte, mit allen Ingredienzien einer New-Age-Religion und frauenmystischen Elementen. Die jüdische Philosophie, die sich zum einen als die Weiterführung der seit dem Mittelalter bewährten Form der jüdischen Selbstexplikation bewährte, ist in der Gegenwart für viele eine Form jüdischer Selbstdarstellung geworden, die gleichsam als achte Denomination neben die genannten religiösen Gruppierungen tritt. Um diese Position einsichtiger zu machen, wird, wie schon vermerkt, in einem eigenen Kapitel die Stellung der jüdischen Philosophie, die von vielen als unjüdische, importierte Äußerungsform des Judentums betrachtet wird, vom biblischen Altertum bis zur Moderne verfolgt. Erst im nachfolgenden »AutorenTeil« kommen dann vierundzwanzig männliche wie weibliche Philosophen zu Wort, welche eine breite Palette philosophischer Konzeptionen für das einundzwanzigste Jahrhundert vorstellen. Sie entstammt dem Überblick über eine Umfrage der amerikanischen Philosophin Hava Tirosh-Samuelson und ihrem Schü© Campus Verlag
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ler und Kollegen Aaron W. Hughes nach einer jüdischen Philosophie für das einundzwanzigste Jahrhundert bei Kolleginnen und Kollegen aus Amerika, Europa und Israel, deren Ergebnisse eine fast unübersichtliche Vielfalt jüdischphilosophischen Denkens in der Gegenwart vor Augen führt. Der Epilog, der auf die gesamten fünf Bände des Jüdischen Denkens zurückblickt, stellt abschließend die Frage, ob man in der hier dargestellten Vielfalt jüdischen Denkens eine leitende Mitte, einen roten Faden finden kann, der als das typische Jüdische gelten darf.
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TEIL I – EIN LETZTES VERMÄCHTNIS DES ALTEN DEUTSCHEN UND FRANZÖSISCHEN JUDENTUMS
DIALOGISCHER EXISTENTIALISMUS VOM BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS
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I.
EINE EPISTEMISCH-EXISTENTIELLE HEILSKONZEPTION DES DOPPELTEN WEGES AUS JUDENTUM UND CHRISTENTUM FRANZ ROSENZWEIG (1886–1929)
1.
Biographisches
Franz Rosenzweig, der Begründer des sagenumwobenen Freien jüdischen Lehrhauses in Frankfurt am Main und im Verein mit Martin Buber der Autor der eigenwilligen Neuübersetzung der Hebräischen Bibel, wurde am 25. Dezember 1886 in Kassel in einem weitestgehend der deutschen Kultur assimilierten Elternhaus geboren. Nach dem vom Vater gewünschten Studium der Medizin (1905–1907) wechselte Rosenzweig zur Geschichte und Philosophie und promovierte 1912 schließlich bei Friedrich Meineke in Freiburg mit einem Teil der bis heute gültigen zweibändigen Schrift zu Hegel und der Staat, die aber erst 1920 erschienen war. Durch seinen intensiven philosophisch-theologischen Austausch mit seinen zum Christentum konvertierten Cousins Hans und Rudolf Ehrenberg sowie dem gleichfalls getauften Freund Eugen Rosenstock (-Huessy) kurz vor der eigenen Konversion (1913) hielt ihn sein Studium jüdischer Traditionen bei dem emeritierten Philosophen Hermann Cohen in Berlin an der Hochschule für Jüdische Studien und auch der Besuch einer orthodoxen Berliner Synagoge zu den Hohen Herbstfeiertagen schließlich von diesem gravierenden Schritt ab, was er in einem Brief an Rudolf Ehrenberg1 mit dem lakonischen Satz »Ich bleibe also Jude« konstatierte. Diese Entscheidung eröffnete seine nunmehr bewusste Hinwendung zum Judentum.2 Gegen Ende seines Kriegsdienstes (1916–1918) begann er ab 1918 an der Balkanfront an seinem magnum opus, dem Stern der Erlösung zu schreiben, der 1921 in Frankfurt am Main erschien. Das Angebot seines Lehrers Friedrich Meinecke zur Habilitation3 lehnte Rosenzweig ab, heiratete 1920 und gründete im Verein mit solchen jüdischen Intellektuelle wie Anton Nehemia Nobel, Martin Buber, Ernst Simon, Gerhard (Gershom) Scholem und 1
Vom 31.10.1913, F. Rosenzweig Gesammelte Schriften, Briefe und Tagebücher, hgg. R. Rosenzweig u. E. Rosenzweig-Scheinmann, Dordrecht (The Hague) 1979–1984, Briefe I,1, S. 132–137, hier S. 133; vgl. Mosès, System und Offenbarung, S. 31; R. Mayer, Franz Rosenzweig. Eine Philosophie der dialogischen Erfahrung, München 1973, S. 24.
2
R. Horwitz, Warum ließ sich Rosenzweig nicht taufen? in: Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929). Internationaler Kongress – Kassel 1986, Freiburg-München1988. Hrsg. W. Schmied-Kowarzik, Bd. I, S. 79–96.
3
Die Begründung dafür schrieb er an Meinecke in seinem Brief vom 20.8.20, Gesammelte Schriften 1, Briefe, Bd. 2, S. 678–682.
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Franz Rosenzweig
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anderen das Frankfurter Freie Jüdische Lehrhaus. Ab 1921 trat die Krankheit auf, die ihn 1929 zu seinem frühen Tode führte, eine Amyotrophe Lateralsklerose. Schwerst behindert, beginnt er Gedichte von Jehuda Ha-Levi und ab 1924 zusammen mit Martin Buber die Bibel zu übersetzen, zuletzt nur noch im Diktat.
2.
Der Stern der Erlösung
2.1
Das Anliegen
2.1.1 Das persönlich-soziale Anliegen Das während und kurz nach seinem Dienst als Soldat an der mazedonischen Kriegsfront geschriebene4 Buch Stern der Erlösung5 ist die Folge und Begründung von Rosenzweigs Lebensentschluss, den Verlockungen des Christentums zu widerstehen und Jude zu bleiben. Das Buch sollte ihm selbst und seinen jüdischen Zeitgenossen erklären, warum es aus philosophischen wie theologischen Gründen gerechtfertigt und würdig ist, sich dem Sog der Taufe zu entziehen und 4
Die Berichte über die Entstehung des Werkes an der mazedonischen Front unterscheiden sich erheblich. Während Stéphane Mosès (System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, München 1985, S. 19) noch davon spricht, Rosenzweig habe das Werk »In den Schützengräben Makedoniens während des ersten Weltkrieges« verfasst und erste Entwürfe des Textes auf Postkarten nach Hause geschrieben (Martin Fricke, Franz Rosenzweigs Philosophie der Offenbarung, Würzburg 2003, S. 19), schreibt Michele del Prete »Über die Kriegszeit berichtet schließlich Rosenzweig oft mit Akzenten, die das Bild eines bezahlten Urlaubs suggerieren«, Del Prete, Michele, Erlösung als Werk, Freiburg 2009, S. 45, wofür er die eindrückliche Beschreibung Rosenzweigs in einem Brief an seine Eltern anführt: »Dein Michbedauern ist lächerlich; wäre ich Infanterist oder hätte einmal erlebt, was du mir von R. H. schreibst – aber so! ich sitze und lese und schreibe, den lieben langen Tag und wenn ich eine Bibliothek hätte, würde ich arbeiten wie im Frieden; […] Auch die Gefahr ist an dieser Front minimal, und gesundheitlich geht es mir glänzend. Eigentlich müsst Ihr doch schon an meinem Bücherverbrauch sehen, wie ich hier lebe […], Gesammelte Schriften, I, 1, S. 436; u. vgl. noch die Briefe vom 19.3, S. 187, 30.3. S. 188 etc.
5
Verwendete Ausgabe: Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, mit einer Einführung von R. Mayer, Frankfurt a. M. 1988; Darstellungen: Mendes-Flohr, P., The Philosophy of Franz Rosenzweig, Hannover & London 1988; Fuhrmans, H., Schellings Philosophie der Weltalter, Düsseldorf 1954; Baeck, L., Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig, 1958; Freund, E., Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs, Hamburg 1959; Casper, B., Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers, Freiburg, Basel, Wien 1967; Rühle, I., Gott spricht die Sprache der Menschen: Franz Rosenzweig als jüdischer Theologe – eine Einführung, 2002; Casper, B., Religion der Erfahrung. Einführung in das Denken Franz Rosenzweigs, Paderborn et. al. 2004; Tewes, J., Zum Existenzbegriff Franz Rosenzweigs, Meisenheim am Glan 1970.
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in der deutschen und europäischen Gesellschaft Jude zu bleiben. Neben den zunächst rein philosophischen und theologischen Gründen, die Rosenzweig dafür ins Feld führt, ist es vor allem ein Versuch, das Judentum in der europäisch christlichen Welt heilsgeschichtlich zu positionieren. Es galt, die Notwendigkeit der Erhaltung des Judentums nicht nur für die Juden selbst, sondern gerade auch für das Christentum zu erweisen, und außerdem die noch nicht lange zurückliegende Emanzipation sowie die bürgerlich-rechtliche Gleichstellung der Juden in diesem Sinne zu interpretieren. Dass Rosenzweig mit diesen Versuchen aus heutiger Sicht nicht nur Illusionen erlegen war, sondern in seinem apologetischen Anliegen alles und jedes, was sich an zufälligen jüdischen Bräuchen und Vorstellungen dafür anbot, im Sinne einer heilsgeschichtlichen Hochbewertung vortrug, muss man als Zeichen für den immensen psychischen Druck verstehen, der auf intellektuellen jungen Juden jener Tage lastete, ihr weithin gering geschätztes Judentum mit neuem Stolz zu bekennen und zu deuten. Dies zeigt sich beispielhaft an Rosenzweigs Beschreibung der »kirchengeschichtlichen« Ereignisse seiner Tage, wozu unter anderem das Aufleuchten des russisch-orthodoxen Christentums im westeuropäischen Bewusstsein gehörte und vor allem die Aufnahme des Judentums in die christliche Welt. Rosenzweig schwärmt darüber: »Es ist ja in dieser Zeit eine dritte christliche Kirche mit ihren Völkern in den Kreis der Christenheit eingetreten, uralt wie jene beiden – denn sie sind nur scheinbar nacheinander, in Wahrheit alle gleich alt –, die östliche. Aber nicht als eine neue Kirche ist sie für die Christenheit lebendig geworden, sondern den alten Kirchen ist aus dem Rußland Aljoscha Karamasows eine Erneuerung der Kräfte des Glaubens und der Liebe gekommen, und als Nährboden einer unendlichen Kraft der Hoffnung hat Rußlands Kirche sich nur dem eigenen Volk erwiesen, und auch dem doch erst, als es aus ihrem Dämmerraum heraustrat. Und auch das andre große kirchengeschichtliche Ereignis neben der Einreihung der Russen in den christlichen Kreis, die Befreiung und Aufnahme der Juden in die christliche Welt, wirkt sich gleichfalls nicht in einer neuen kirchlichen Bildung aus, sondern wieder nur in einer Neubelebung der alten Kirchen, und hier allerdings, aus dem ewigen, von Haus aus gotteskindlichen Volk der Hoffnung, strömt unmittelbar die Grundkraft der neuen vollendeten Welt, die Hoffnung, den in Liebe und Glaube mehr als in Hoffnung geübten christlichen Völkern zu, und weil diesmal, statt daß der Christ einen Heiden bekehren müßte, der Christ unmittelbar sich selber, den Heiden in sich bekehren muß, so ist es in dieser beginnenden Erfüllung der Zeiten wohl der in die christliche Welt aufgenommene Jude, der den Heiden im Christen
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bekehren muß. Denn nur im jüdischen Blute lebt blutmäßig die Hoffnung, deren die Liebe wohl gern vergißt, der Glaube entbehren zu können meint.«6 Diesem Ziel der Mission am Christentum dient das von Rosenzweig modernisierte altrabbinische Theologoumenon, nachdem es das jüdische Volk ist, das dank des Torastudiums den Bestand der Schöpfung sichert.7 Bei Rosenzweig lautet dies, entsprechend seiner Weltzeitalter-Theologie wie folgt: »Die Schöpfung selber als Ganzes aber wird mit der Erlösung in alle Zeit, solange die Erlösung noch im Kommen ist, zusammengehalten nur durch das aus aller Welt-Geschichte herausgestellte Ewige Volk. In seinem Leben allein brennt das Feuer, das sich aus sich selber nährt und das darum des Schwertes nicht bedarf, das seiner Flamme aus den Gehölzen der Welt Nahrung zubrächte. Dies Feuer brennt in sich selber. Seine Strahlen, die in die Welt hineinleuchten, erleuchten die Welt; ihm selber brauchen sie nicht zu leuchten.«8 Dies ist ein trotziges Hochhalten eines alten rabbinischen Selbstbewusstseins, das sich allem irdischen Augenschein und allem mangelnden jüdischen Selbstbewusstsein angesichts der christlich-etatistischen Selbstherrlichkeit entgegenstemmt. Rosenzweig hat dem Sog des Christentums widerstanden und wendet diesen zu einer Aufgabe des nun wieder selbstbewussten Juden am Christentum und damit an der zu schaffenden Erlösung.
2.1.2 Das philosophische Anliegen Franz Rosenzweig fordert ein »neues Denken« für das Verstehen der Welt und der Situation des Menschen in ihr. Dieser Anspruch Rosenzweigs ist kein geringer, denn das Neue soll nicht nur neu im Vergleich mit dem Denken seiner Zeitgenossen oder der vorausgehenden Generation sein. Das Neue, das Rosenzweig in einem fast titanisch-jugendlichen Übermut forderte, sollte neu im Verhältnis zur gesamten abendländischen Philosophie von »Jonien bis Jena« sein, wie er dies selbst formulierte.9 Darum auch trägt das Einleitungskapitel des ersten Teiles des Sterns das »Motto« in philosophos!, das heißt »wider die Philosophen«. Das Denken von dem hier die Rede ist, ist das Nachdenken des Menschen über die Welt, über das Vorfindliche und dessen Verständnis, salopp gesprochen, über 6
Stern der Erlösung, S. 317.
7
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 260–262.
8
Stern der Erlösung, S. 372.
9
Stern der Erlösung, S. 13.
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Gott, Welt und den Menschen. Dieser dreifache Forschungsgegenstand ist indessen nicht so leicht zu nehmen, wie es hier klingen mag. Es sind diese drei Themen, welche seit deren Beginn die Hauptthemen der abendländischen Philosophie waren, was ja auch für die im vorliegenden Buch gezeichnete jüdische Philosophie galt, die doch nichts weniger als ein Teil dieses abendländischen Denkens war und ist. Es sind dies zugleich jene drei Themen, welche Immanuel Kant als die finalen drei Klassen benannte, auf die sich alle transzendentalen Ideen bringen lassen, »das denkende Subjekt«, welches Gegenstand der Psychologie, »der Inbegriff aller Erscheinungen (die Welt)«, welche Gegenstand der Kosmologie und »das Ding, welches die oberste Bedingung der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann, enthält (das Wesen aller Wesen)«, das Gegenstand der Theologie ist,10 worauf Rosenzweig ausdrücklich Bezug nimmt. Es sind dies, so Rosenzweig, die drei »Nichtse« unseres Wissens, das heißt die drei Gegenstände, über die wir recht eigentlich nichts wissen, welche gerade noch in Kants Tagen die zentralen Gegenstände der »rationalen Wissenschaften« sein sollten, nämlich die »rationale Theologie, Kosmologie und Psychologie«, die Kant aber, so Rosenzweig, »zerkritisiert hat«.11 Die abendländische Philosophie, meint Rosenzweig, war ausgezogen, um dem Menschen die Welt zu erklären. Dies sei zwar ein lobenswertes Unternehmen, denn der Mensch bedürfe solcher Einsicht sehr wohl, um das zu verstehen, was ihn umgibt, was sein Leben und Dasein bestimmt und ausmacht. Denn eine solche Einsicht wird dem Menschen helfen, sein Leben zu meistern und zu bewältigen. Bei dieser selbstgestellten Aufgabe sei die gesamte abendländische Philosophie allerdings von der Voraussetzung ausgegangen, dass es möglich und nötig sei, dieses gesamte Sein der vorhandenen Welt als eine umfassende Einheit zu verstehen, aus der sich alle Einzelheiten ableiten und verstehen ließen, eingeschlossen Gott und Mensch. Man denke an die mittelalterlichen Deutungen, nach denen die Welt von Gott als der Ursache aller Ursachen über eine ununterbrochene Kette von Zwischenursachen hervorgebracht wurde, so bei den Aristotelikern,12 oder nach den Vorstellung der Platoniker als eine Kette von Emanationen, die von Gott bis zum letzten seienden Wesen reicht.13 Genannt werden kann hier auch, was Rosenzweig eigens vermerkt, die Sichtweise von Baruch Spinoza, der nur die Existenz einer einzigen göttlichen Substanz anerkennen will, deren Modalitäten, sprich Differenzierungen, die Vielfalt der Welt ausmachen.14 Wie
10
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, I, 3, Ausgabe W. Weischedel, Darmstadt 1981, Bd. 4,
11
Stern der Erlösung, S. 21–22.
12
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 451–453.
S. 363.
13
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 491–496. 502–506.
14
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 202–213; Stern, S. 19.
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kamen diese Denker, so fragt nun Rosenzweig, auf die Idee, das gesamte Sein sei ein einziges All, welches zur Erklärung aller Phänomene dieser Welt dienen könne. Rosenzweig gibt selbst eine Antwort: »Worauf beruhte denn jene Allheit? Weshalb wurde denn die Welt nicht als Vielheit gedeutet? Warum gerade als Allheit? Hier steckt offenbar eine Voraussetzung und wieder jene ersterwähnte: die der Denkbarkeit der Welt. Es ist die Einheit des Denkens, die hier gegen die Vielheit des Wissens ihr Recht durchsetzt in der Behauptung der Allheit der Welt. Die Einheit des Logos begründet die Einheit der Welt als einer Allheit. […] In jenem ersten Satz der Philosophie, dem ›Alles ist Wasser‹, steckt schon die Voraussetzung der Denkbarkeit der Welt, wenn auch erst Parmenides die Identität von Sein und Denken aussprach.«15 Es ist diese Identifizierung von Denken und Sein, welche auch bei den jüdischen Philosophen des Mittelalters die herrschende Sichtweise war.16 Die Philosophie hat wohl die »Kontingenz der Welt«, all deren Zufälligkeiten und ihr tatsächliches Sosein wahrgenommen, hatte es sich aber, so Rosenzweig, zur Aufgabe gemacht, durch ihr Denken das »›Zufällige‹ in ein Notwendiges« zu verwandeln,17 und damit seine oft schmerzhafte Unbegreiflichkeit annehmbar zu machen. Dies tat sie insbesondere mit dem schmerzlichsten, was dem Menschen widerfahren kann, nein wird, dem Tod. Die Philosophie versuchte dem Tod seinen Stachel zu nehmen, indem sie ihn zum Beispiel »als die großartige Gelegenheit anpreist, der Enge des Lebens zu entrinnen«, »Sie läßt den Leib dem Abgrund verfallen sein, aber die freie Seele flattert darüber hinweg.«18 Allein, so moniert Rosenzweig, der einzelne Mensch will diesen Betrug der Philosophie nicht länger hinnehmen, denn »die Angst des Todes [weiß] von solcher Scheidung in Leib und Seele nichts […]«.19 Es ist das reale Erleben des Einzelnen, dem die Deutungen der Philosophen, welche die ärgerlichen Details und Unannehmlichkeiten des Lebens in der übergreifenden Logik des Alls versinken lassen und hinweginterpretieren, nicht helfen. Die Erklärung des Leidens als Notwendigkeiten einer höheren Vernunft, welche auch das Übel letztlich als gut erscheinen lässt, kann die schmerzlichen Erfahrungen des Einzelnen eben doch nicht hinnehmbar machen. Ein weiteres kommt hinzu: Die Philosophie konnte die Stellung des Menschen in ihrer Lehre
15
Stern der Erlösung, S. 12–13.
16
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 378. 450. 473. 539; Bd. 3, S. 259. 102–103.
17
Stern der Erlösung, S. 13.
18
Stern der Erlösung S. 3.
19
Stern der Erlösung, S. 3.
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vom All allenfalls über die Ethik erläutern nicht aber in seinem Sosein als einzelner Mensch. Die Ethik, die dem Menschen seine Aufgaben und Ziele in dieser Welt zeigen soll, mache ihn letztlich doch wieder zu einem Stück einer Gemeinschaft, die ihrerseits wieder ein Stück des allgemeinen Seins ist, wie dies auch Hermann Cohen gesehen hat.20 Damit ist der Mensch aber in seinem Sosein und Eigensein, das jenseits der allgemeinen Ethik steht, nicht wirklich erkannt und erfasst, eine Erkenntnis, die den noch idealistischen Denker Hermann Cohen schließlich zur Religion, zum Sündenbewusstsein und Erlösungsbedürfnis des Menschen geführt hatte, welche in der Philosophie bis dahin keine Antwort habe finden können.21 Der Mensch ist demnach mehr als ein durch die allgemeine Ethik bestimmtes Wesen. Er ist zwar ein ethisches Wesen, das anerkennt Rosenzweig, aber darüber hinaus ist er noch viel mehr, er ist ein eigenes Selbst, mit eigenem Charakter und Wesen. Es ist dieses Mehr des Menschen, dessen Wesen die Ethik zwar mit enthält, das aber doch weit darüber hinaus geht, weshalb Rosenzweig den Menschen ein metaethisches Wesen nannte, das heißt ein komplexes Wesen aus Ethik und darüber hinausgehendem eigenem Sein und eigenem Selbst. Rosenzweig sieht für dieses sein neues Denken in Arthur Schopenhauer und vor allem in Friedrich Nietzsche seine Vorläufer und spricht darum in Anlehnung an sie hier von einer neuen Weise der »Anschauung«, die der Mensch von seinem Leben in der Welt gewinnt. Die Weltanschauung, der vornietzscheanischen Philosophie, die Rosenzweig wegen deren Identifikation von Denken und Sein insgesamt als »idealistische Philosophie« als »Idealismus« bezeichnet, deren deutsche Vertreter, Kant und Hegel, nur die Höhe- und Endpunkte dieser Entwicklung darstellten, diese Weltanschauung wird nun durch eine Lebensanschauung abgelöst, in deren Zentrum der Mensch als Einzelner steht, ein Mensch, der neben der allgemeinen ethischen Definition sein ganz individuelles Eigenwesen besitzt, dessen Einzelheit und Einzigartigkeit in seinem ganz persönlichen eigenen Namen zum Ausdruck kommt.22 Diese Herausnahme des Menschen aus der Definition und Erklärung des kosmischen Alls aufgrund seiner individuellen »metaethischen« Befindlichkeit, bedeutet nach Rosenzweig einen ersten Bruch mit der idealistisch philosophischen Sicht von der Allheit des Seins, nach welcher der Mensch als Einzelner nur allenfalls ein organisches Teil des gesamten Alls ist, das systematisch eingereiht werden kann und soll. Mit der Entfernung des Menschen aus dem umfassenden idealistischen Bild des Alls – Rosenzweig tut dies angesichts des Todesschreckens, von dem jeder Einzelne für sich alleine getroffen wird, weshalb er mit ihm sein gesamtes Buch 20
Stern der Erlösung, S. 11; Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 640–646.
21
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 645–646.
22
Stern der Erlösung, S. 10.
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eröffnet – mit dieser Herausnahme ist das idealistisch-philosophische Einheitsbild des Alls, in das sich alles einfügen sollte, zerbrochen. Und ist dieses Bild erst einmal zerbrochen, so müssen sich auch die übrigen beiden Elemente dieses ehemals rationalistischen Gesamtbildes als eigenständige Elemente definieren lassen. Das heißt auch die Welt mit ihren offenbar logisch beschreibbaren Abläufen kann nicht mehr das Ganze, das Allumfassende sein. Wie der Mensch, zwar ethisches Wesen, darüber hinaus doch ein Wesen von eigenem Charakter und Selbst ist, so kann auch die Welt als ein Sein verstanden werden, das viele mögliche Seiten besitzt, Seiten, welche über die nicht zu leugnende Logik des weltlichen Geschehens hinausgreifen. Darum muss auch die Welt analog als eine metalogische Welt gesehen werden können. Die Logik der Welt, welche mit der menschlichen Vernunft erkennbar ist, ist deren eine unbestreitbare Seite, sie kann aber analog zum Menschen Seiten haben, welche jenseits dieser Logik stehen. Ist diese Schlussfolgerung aus der menschlichen Analogie hinsichtlich der Welt noch relativ leicht nachvollziehbar, wird dies doch beim dritten Element der klassischen rationalen Philosophie, der Gottheit, etwas schwieriger. Es gibt ja schon längst den Begriff der Metaphysik, der sich hier anschließen könnte. Allerdings hatte dieser Begriff in der klassischen Philosophie die Bedeutung, dass die Wissenschaft namens »Metaphysik« Dinge beschreibt und verhandelt, die jenseits der Physik stehen, über sie hinaus greifen, also die intelligible göttliche Welt, wie dies auch die in diesem Buch behandelten mittelalterlichen philosophischen Systeme taten. Mit diesem traditionellen Verständnis des Begriffes »Metaphysik« wäre allerdings die Analogie zu Rosenzweigs Neuschöpfungen des Metaethischen und Metalogischen zerbrochen, denn metaethisch bedeutete ja »ethisch plus darüberhinausgehendes (jenseitiges) Verhalten und Wesen« wie metalogisch bedeutete »logisch plus Darüberhinausgehendes (jenseitiges) Geschehen«. Folglich müsste metaphysisch für die Gottheit nunmehr bedeuten »physisch plus darüberhinausgehende (jenseitige) Substanz«. Und es ist diese unerwartete Folgerung, die Rosenzweig tatsächlich zieht. Gott ist »Metaphysisch – nicht aphysisch.«23: »So wie das Metaethische des Menschen ihn zum freien Herrn seines Ethos macht, auf daß er es hat, nicht es ihn; und so wie das Metalogische der Welt den Logos zu einem ganz in die Welt ausgegossenen ›Bestandteil‹ der Welt macht, daß sie ihn habe und nicht er sie; so macht das Metaphysische Gottes die ›Physis‹ zu einem ›Bestandteil‹ Gottes. Gott hat eine Natur, seine eigene, ganz abgesehen von dem Verhältnis, in das er etwa zu dem Physischen außer
23
Stern der Erlösung, S. 19.
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ihm, zur ›Welt‹, tritt. Gott hat seine Natur, sein naturhaftes, daseiendes Wesen.«24 Es ist diese unerwartete, aller idealistischer Philosophie widersprechende Konsequenz aus der Zerbrechung des idealistischen Alls, die Rosenzweig eingestandenermaßen aus der Spätphilosophie von Friedrich Wilhelm Schelling schöpfte.25 Gott hat eine Natur, ein Dasein, eine Auffassung, die auch der mittelalterlichen Philosophie mit ihrer Attributenlehre frontal ins Gesicht schlägt. Nach ihr konnte Gott keine Eigenschaften, keine Attribute haben, ganz geschweige denn eine Natur.26 Diese unerwartete Deutung des Göttlichen ist nach Rosenzweig die unausweichliche Konsequenz für die Entthronung des Denkens gegenüber dem Sein. Die idealistische Identifikation von Denken und Sein hatte ja doch zur Folge, dass nur das, was gedacht werden konnte wirklich Sein hat. Es war kein Zufall, dass die mittelalterlichen Systeme den Intellekt als oberstes Sein und Daseiendes verstanden. Der aristotelische Gott war reines Denken, das nur sich selbst dachte, und die Mittelursachen zur Welt hin waren wiederum Intellekte.27 Für die Platoniker war der Intellekt das erste Emanat aus dem Einen, der Gottheit, dem fortan alles entsprang. Kurz, es gab kein Sein vor dem Denken. Mit diesem Konzept hat Rosenzweig gebrochen, der im Metalogischen der Welt ein weltliches Sein jenseits des Intellektes konstatierte. Nicht das Denken brachte nunmehr das Sein hervor, sondern das Sein ist unabhängig vom Denken. Das Denken und die Logik sind allenfalls ein Teil dieser Welt, nicht deren Ursprung. »Wir suchen nach dem Immerwährenden, das nicht erst des Denkens bedarf um zu sein.«28 Dieser dreigleisige Kampf, bezüglich Gottes, der Welt und des Menschen, wider das idealistische philosophische Weltbild scheint indessen nur das Glacis für den letztlich intendierten Auftritt des »Theologen« Rosenzweig zu sein. Denn nach dem Gewinn seiner drei Meta-Elemente begnügt Rosenzweig sich nicht mit dieser neuen paritätischen Trinität von Gott, Welt und Mensch, sondern er lässt sein eigentliches Anliegen durch eine besondere Emphase erkennen, wenn er den Gewinn seines neuen metaphysischen Gottes so verkündet:
24
Stern der Erlösung, S. 19.
25
Stern der Erlösung, S. 19–20.
26
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 379–384. 410–414. 438–446.
27
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 412–414. 419–422. 438–447. 451–453. 467.
28
Stern der Erlösung, S. 22.
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»So ist die Bahn frei für die philosophische Erstellung des göttlichen Daseins unabhängig von Gedachtwerden und Sein des Alls; Gott muß Dasein haben vor aller Identität von Sein und Denken;«29 Es geht Rosenzweig zunächst um den Menschen, der eine Lebensanschauung braucht, mit der er sein Leben und vor allem seinen Tod, bewältigen kann. Aber aus dieser wenigstens teilweisen Befreiung des Menschen aus der nur ethischen Betrachtungsweise folgt die teilweise Befreiung des Kosmos aus der Logik, zu dessen Erkenntnis man fortan darum auch mit einer Offenbarung rechnen kann.30 Für die Gottheit müsste man indessen eine umgekehrte Formulierung wählen: Aus der genannten doppelten Befreiung von Mensch und Kosmos folgt sodann auch die Befreiung Gottes aus der Naturlosigkeit. Denn wie der Mensch durch die Verflechtung von Ethik und Metaethik und der Kosmos durch die Verbindung von Logik und Metalogik definiert wird, so muss auch die Gottheit komplementär gesehen werden, als Verflechtung von Natur und sagen wir »Metanatur«, also etwas, das nicht den gesetzmäßigen Regeln folgt, dies ist dann das, was Rosenzweig die Freiheit Gottes nennt. Wiederum erscheint diese Folgerung als das eigentliche Ziel der Rosenzweigschen Argumentation: »Aber mit diesem natürlichen Element in Gott, das ihm erst die wahre Selbständigkeit gibt gegen alles Natürliche außer ihm – denn solange Gott nicht seine Natur in sich schließt, ist er letztlich wehrlos gegen die Ansprüche der Natur, ihn in sich zu schließen31 –, mit diesem Natürlichen in Gott also ist der Inhalt des metaphysischen Gottesbegriffes noch nicht ganz umschrieben. So wie der metaethische Begriff des Menschen nicht darin erschöpft ist, daß er sein eigenes Ethos, noch der metalogische Weltbegriff darin, daß sie ihren eigenen Logos in sich hat, so wenig der metaphysische Gottesbegriff darin, daß Gott eine – seine – Natur hat. Sondern so wie beim Menschen erst das, seis trotzige, seis demütige, seis selbstverständliche Aufsichnehmen dieser seiner ethischen Erbschaft und Be-gabung ihn zum Menschen rundet: und wie bei der Welt erst die Fülle und Verzweigtheit und Unaufhörlichkeit ihrer Gestalten, nicht schon ihre Denkbarkeit durch den welteigenen Logos, die Welt kreatürlich machen;32 so wird auch Gott nicht schon dadurch lebendig, daß er seine Natur hat. Sondern es muß noch jene göttliche Freiheit hinzukommen, die wir mit dem danteschen ›dort, wo man kann, was man will‹
29
Stern der Erlösung, S. 19.
30
Stern der Erlösung, S. 6–7.
31
Wie etwa bei Spinozas deus sive natura; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 202–213.
32
Die Welt als Kreatur, das heißt als Schöpfung, zu sehen ist gerade eine Möglichkeit dieses metalogischen Weltverständnisses, siehe Stern der Erlösung, S. 16.
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[…] beinahe mehr verhüllen als erleuchten; erst indem dies Etwas als das eigentlich Göttliche hinzukommt, verwirklicht sich Gottes Lebendigkeit. Wie wir für Gottes ›Natur‹ auf Schelling weisen durften, so können wir für Gottes ›Freiheit‹ den Spuren Nietzsches folgen.«33 Angesichts des mittels der Logik und der ihr folgenden Ethik nicht erklärbaren Todes und der Individualität der Todesangst erreichte Rosenzweig eine Unabhängigkeit der Erklärungsmuster nicht nur für das Menschsein, sondern zugleich für Gott und die Welt. Aus diesen drei Grundelementen menschlicher Wahrnehmung, die von der idealistischen Philosophie als letztliche Einheit gesehen wurden, hat Rosenzweig nunmehr je eigenständige Elemente des Wahrnehmens geschaffen. Der gesunde Menschenverstand, wie dies Rosenzweig hernach in einem von ihm selbst schließlich nicht mehr veröffentlichen Erklärungsbüchlein zum Stern sagte, nimmt diese drei Elemente des Seins zunächst als getrennte Elemente wahr. »Der gesunde Menschenverstand vertraut dem Wirklichen und seinem Wirken. Der Philosoph zieht sich mißtrauisch vor dem fortwirkenden Wirklichen in den geschützten Zauberkreis des Staunens zurück und versenkt sich in die Tiefe des Eigentlichen. […] Und alles Wirkliche ist ja uneigentlich.«34 Unsere Weltwahrnehmung muss beim Wirklichen und nicht bei dem angeblich dahinter liegenden »Wesen« der Dinge beginnen. Und wenn der Philosoph von seinem Nichtwissen als einem einheitlichen Nichtwissen um Gott, Welt und Mensch spricht, so möchte Rosenzweig auch dieses Nichtwissen konkretisieren als Nichtwissen von den je drei getrennten Grundelementen des Seins. Nochmals sich auf Immanuel Kant berufend, sagt er darum zum Ende der Einleitung des Stern, dass das Nichts unseres Wissens über Gott, Welt und Mensch nunmehr nicht ein einheitliches Nichts unseres Wissens sei, sondern: »das Nichts unseres Wissens ist kein einfaches Nichts, sondern ein dreifaches. Damit enthält es in sich die Verheißung der Bestimmbarkeit. […] Und deshalb dürfen wir so gut wie Faust hoffen, in diesem Nichts, diesem dreifachen Nichts des Wissens, das All, das wir zerstückeln mußten, wiederzufinden.«35 Dies wird das Ziel des Restes des gesamten Buches sein. Dass Rosenzweig dafür ein höchst ebenmäßiges Textbauwerk errichtet hat, wird allenthalben in der Literatur vermerkt.
33
Stern der Erlösung, S. 20.
34
F. Rosenzweig, Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, herausgegeben
35
Stern der Erlösung, S. 24.
und eingeleitet von Nahum Norbert Glatzer, Düsseldorf 1964, S. 32.
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2.2
Franz Rosenzweig
Der philosophische Hintergrund – Schelling
Am 11.11.1916 schrieb Franz Rosenzweig einen Brief an seinen Freund Eugen Rosenstock, in welchem er sich zum Stand der Methode seines eigenen Denkens äußert. Es geht da um die mögliche und zweifelhafte Reihenfolge der Wissenschaften: »›davor‹ Logik und Naturphilosophie, ›danach‹ Kulturphilosophie und Theologie«. Für sich selbst wählt Rosenzweig nun den folgenden Weg: »Ich dränge diesen Zweifel beiseite, indem ich die beiden ›davors‹ als Protologie, die beiden ›danachs‹ als Eschatologie behaupte […]. Diese beiden logien nun sind aber, wie schon die Namen, wenigstens der zweite, sagen, nicht erst zu ›machen‹ sondern sie sind schon da. Sie fallen also nun doch in die ›dramatische‹ Epoche hinein, ja genau genommen: sie sind selber sogar der überhaupt einzige Inhalt der Epoche! Alle ›Monologe‹36 handeln ja nur von den prôta und den eschata, [den ersten und letzten Dingen] und es ist die wahre Synthese der ›ersten‹ und ›letzten‹ Dinge, daß sie den Inhalt der ›mittleren Dinge‹ d.i. der dialogischen Weltgeschichte bilden. Die ganze Wahrheit also wirklich steckt in der Geschichte (›wer sie heraus kann reißen, der hat sie‹). Schellings erstes und drittes Weltalter werden also in dem zweiten aufgesogen; dies zweite wird dadurch allerdings zu nichts weiter als zur Geschichte der Offenbarung des ersten und dritten. So – nun werden Sie wissen, weshalb ich in Individuen (ich sage lieber: in Menschen) und nicht in Ästen denke. Daß diese Menschen ein jeder das Ganze sind, diese Grundwahrheit habe ich soeben in für mich selbst überraschender Weise von der Seite her wiederentdeckt, daß das Ganze, nämlich das ›erste‹ und ›dritte Weltalter‹, das System der Philosophie, nirgends anders ist als in ihnen, insofern sie zugleich absolute Monologe und dennoch den Dialog sprachen.«37 Die Hinwendung zur Geschichte als Geschichte der individuellen Menschen ist ja, wie schon oben deutlich wurde, das zentrale Anliegen von Rosenzweig.38 Was hier interessiert, ist der Verweis auf Schellings Weltalter. Rosenzweig ist die Aufteilung der Weltentwicklung in drei Weltalter, wiewohl Schelling dies in der Rosenzweig vorliegenden Version eher am Rande anzeigt, doch sehr bewusst und offenbar auch wichtig und es liegt nahe, an einen Zusammenhang des Auf36
Hier: Innere »Selbstbekenntnisse« des menschlichen Denkens.
37
Rosenzweig, Gesammelte Schriften, 1,1, S. 292–293.
38
B. Casper verweist hinsichtlich Rosenzweigs philosophischer Hinwendung zur Geschichte zu Recht auf W. Dilthey, den Rosenzweig mehrfach als seinen wirklichen Lehrer bezeichnete, s. B. Casper, Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers, Freiburg 1967; zu Dilthey s. Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. II, S. 385–393.
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baues in drei Weltalter bei Schelling und die drei Weltstufen in Rosenzweigs Stern zu denken – worauf schon Stéphane Mosès hingewiesen hat,39 zumal es noch eine weitere Reihe von sachlichen Übereinstimmungen zwischen den beiden Werken gibt. Bevor auf diese hinzuweisen ist, ist es angezeigt, zuvor einige Grundzüge von Schellings Spätphilosophie, insbesondere der WeltzeitalterLehre, zu skizzieren. Ich folge dabei Horst Fuhrmans in seinem Buch Schellings Philosophie der Weltalter.40 Der zentrale Gedanke dieser Philosophie ist, dass Gott nicht ein fern der Welt seiender unbewegter Beweger,41 auch nicht ein unveränderlicher jenseits der Welt stehender Emanator ist,42 noch ein Gott, der schon immer und ewig vollkommen war, der eines Tages die Welt erschaffen hat, um sich anschließend wieder vornehm von ihr distanziert zu halten, wie dies der Theismus verstand. Nach Schellings Auffassung sollte Gott auch nicht wie bei den Aufklärern eine von der Materie freie Vernunft sein.43 Schelling wollte einen lebendigen Gott, welcher der Welt nicht ferne steht und der doch nicht zugleich im Sinne Spinozas mit dieser identisch ist.44 Seine Lösung ist die, dass Gott all das, was es in dieser Welt gibt, auch in sich birgt, Materie wie Geist, Konflikt und Bewegung, Freiheit und Willen. Gott soll daher im durchaus neoplatonischen Sinn Urbild der Welt, aber eben nicht ein statisches, sondern lebendiges Urbild sein, Gott ist der Makroanthropos und Makrokosmos, der mit der Welt zwar nicht identisch, aber in seinem Wachsen doch unmittelbar verbunden ist. »Alles Göttliche ist menschlich, und alles Menschliche ist göttlich« sagt Schelling in den Weltaltern darum einmal.45 Und wie der einzelne Mensch nicht fertig geboren wird, sondern sich erst entwickelt und dadurch sich Schritt um Schritt verwirklicht, so ist auch das gesamte Sein nicht ein statisches, sondern eine Entwicklung über drei Hauptstufen hin. In der vorweltlichen Stufe entwickelt sich die Gottheit erst selbst. Sie wird aus einem Urgrund geboren und verwirklicht sich zunächst selbst in der vorweltlichen Phase, entfaltet oder verwirklicht sich hernach aus freiem Entschluss hinaus in die Welt – all dies ist ein Prozess der Offenbarung Gottes –, um schließlich in der Vollendung des dritten Weltalters alles wieder in sich aufzunehmen, so dass dann Gott alles in Allem sein wird. Mit den Worten Fuhrmansʼ: 39
S. Mosès, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, München 1985,
40
H. Fuhrmans, Schellings Philosophie der Weltalter. Schellings Philosophie in den Jahren
41
Zu dieser aristotelischen Auffassung s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 225. 409–410. 412. 449.
42
Zu dieser neoplatonischen Auffassung s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 498. 530. 533–534. 580.
S. 40–43. 1806–1821. Zum Problem des Schellingschen Theismus, Düsseldorf 1954. 512. 43
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 3, S. 409. 460–461.
44
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 202–213.
45
Schelling, Weltalter, S. 148.
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»›Verwirklichung‹ Gottes beginnt darum in Gott mit seiner Bewußtwerdung. Aber dieser vorweltlichen ›Verwirklichung‹ folgt das viel größere Geschehen der realen Verwirklichung‹ – und sie hat den eigentlichen Akzent. Nicht als träte Gott selbst hinaus in die Welt. Nicht das ist gemeint, sondern das im Grunde Schlichte: Indem Gott seine zuvor verborgene Fülle zur Welt entfaltet, indem er seine innere Fülle aus-spricht und offenbar-macht im ›weltlichen‹ Sein, vollzieht sich ›Verwirklichung‹ Gottes, verleiblicht sich Gott, realisiert er sich, d.h. seine verborgene Fülle. […] was im Sein der Welt und in allem Geschehen überhaupt entfaltet und wirklich wird, ist kein beliebiges Sein, sondern das Sein Gottes, ist Gottes Fülle. Seine Kräfte werden darin real, Mächte seines Schoßes, und sein Innen tritt darin ins Außen. […] Alles Sein ist letzthin Gottes Sein, Sein, das aus ihm kommt und von ihm herrührt. […] Sein der Welt ist zwar Sein für sich selbst, aber es ist nicht Sein aus sich selbst. […] es ist Innen Gottes zum Außen geworden.«46 Und bezüglich des dritten Weltalters: »Denn die Geschichte des Seins endet seit 1809 für Schelling nicht im weltlichen Sein, sondern in einem neuen Äon. Die vorweltliche ›Vergangenheit‹, darin Sein noch ganz verschlossen ist, schreitet über die ›Gegenwart‹ als den eigentlichen Äon des weltlichen Seins zum endgültigen Äon der nachweltlichen ›Zukunft‹, in dem alles Sein wieder mit Gott vereinigt wird. Das Sein, das aus Gott kam und entsprang, kehrt am Ende zu ihm zurück. […] Ausgang und Rückkehr von und zu Gott sind die großen Phasen der Geschichte des Seins in seiner Ent-wicklung. Wenn alles Seiende ent-wickelt ist, hat die Geschichte ihr Ende erreicht. Alles weitere Werden wäre ohne Sinn. Aber Sein geht dann nicht unter – auch nicht in Gott, sondern geht als gewordenes in Gott ein, um dort eine ewige Befestigung zu empfangen, sein Erhoben werden zu end-gültiger, ewiger Gestalt. ›Weltliches‹ Sein wird am Ende gerufen in währendes Sein bei Gott. Das ist die Voll-endung.«47 Zu Recht weist Fuhrmans darauf hin, dass Schelling hier eine Verbindung des neoplatonischen regressus, also der Rückkehr der Emanate in den Emanator,48 mit der christlichen Vorstellung vom Ende der Zeiten verbindet, ein Gedanke der in der lurianischen Lehre von Zimzum, Emanation, Bruch und Tikkun seine Pa-
46
Fuhrmans, Weltalter, S. 300.
47
Fuhrmans, Weltalter, S. 293–294.
48
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 498–499. 500. 560.
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rallele findet,49 worauf Rosenzweig in einem Brief an Rudolf Ehrenberg, der sogenannten »Urzelle des Sterns der Erlösung«, auch einmal hinweist.50 Über all den noch zu nennenden Unterschieden, zwischen Schellings Konzept von den drei Weltaltern und Rosenzweigs Drei-Welten-Lehre ist doch die Gemeinsamkeit nicht zu übersehen. Da gibt es bei Rosenzweig analog zu Schellings drei Weltaltern eine »immerwährende Vorwelt«, eine »allzeiterneuerte Welt« und die »ewige Überwelt«. Ein erster wichtiger Unterschied zwischen Rosenzweig und Schelling ist der, dass Schelling eine Ontologie der Gottesverwirklichung zeichnet, deren Ziel es ist, die widersprüchliche Vielfalt in dieser Welt als Gottesverwirklichung zu zeichnen. Entscheidend dabei ist, dass nicht nur das Geistige, sondern auch das Materielle, nicht nur das Statische, sondern gerade das sich Entwickelnde und Lebende als Wesenszüge des Göttlichen verstanden werden. Hintergrund von all dem ist auch bei Schelling die alte Frage,51 wie aus dem Absoluten Ewigen das Begrenzte Differenzierte entstehen kann – bei Schelling insbesondere die Frage nach dem Anfang der Zeit.52 Demgegenüber zeichnet Rosenzweig eine Geschichte der Epistemologie. Also nicht die Gottheit entwickelt sich zunächst in sich selbst und dann hinaus in die Welt, sondern die menschliche Erkenntnis ist im Voranschreiten und in der Verwirklichung begriffen. Damit geschieht nicht nur, wie bei Schelling, eine Aufwertung des menschlich-Irdischen und der materiellen Natur, sondern der Mensch rückt ins Zentrum der Philosophie, beziehungsweise der Theologie. Alles hängt von ihm ab, von seiner Weise und Fähigkeit die Welt und Gott richtig zu sehen und zu verstehen.53
2.3
Die Architektur des Stern der Erlösung und deren Aussage
Die klare und fast manieristische Architektur des Stern der Erlösung steht in einem deutlichen Gegensatz zu den zum Teil nur sehr schwer erschließbaren Erör-
49
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 638–657; hierzu insbesondere Ch. Schulte, Zimzum bei Schelling, in: Kabbala und Romantik, hg. E. Goodman-Thau, G. Mattenklott & Ch. Schulte, Tübingen 1994, S. 97–118.
50
F. Rosenzweig, Urzelle des Sterns der Erlösung, in: Zweistromland, Gesammelte Schriften,
51
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 403. 411.
52
Vgl. Ch. Schulte, Zimzum bei Schelling, in: Kabbala und Romantik, hrsg. E. Goodmann-Thau,
III, S. 128.
G. Mattenklott & Ch. Schulte, Tübingen 1994, S. 97–118, hier S. 114.; Ch. Schulte, Zimzum. Gott und Weltursprung, Berlin 2014, S. 296–322. 53
Die Parallele zur ḥasidischen Theologie, in der gleichfalls die Welt nach dem Grad der Erkenntnisfähigkeit des Menschen beurteilt wird, ist nicht zu übersehen; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 774–778. 830–835.
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terungen im Einzelnen. Es ist dieser fast gotische Aufbau des Werkes, mit dem Rosenzweig einen theologischen Bau errichtete, der seine Attraktivität insbesondere bei christlichen Theologen fand, wird doch hier ein heilsgeschichtliches Kooperationsmodell zwischen Judentum und Christentum vorgetragen, das vor allem christliche Theologen nach der Schoah ansprechen musste. Denn in diesem Buch wird aus jüdischem Munde eine heilsgeschichtliche Zusammengehörigkeit von Judentum und Christentum vertreten, um die das Christentum, gerade nach seiner Schulderkenntnis gegenüber dem verfolgten und ermordeten Judentum, recht eigentlich seit dem Römerbrief des neutestamentlichen Paulus rang und die man in der eigenen Schuldaporie umso dankbarer anzunehmen geneigt war. Sosehr sich also der Zugang des Werkes als philosophischer geriert, und sich auch Philosophiehistoriker des Buches annahmen, ist doch sein strukturelles Denken theologischer Natur. Wird im Eingang zunächst die Philosophie des »Idealismus« von »Jonien bis Jena« kritisiert, so schreitet Rosenzweig hernach zugegebenermaßen zur Theologie und trägt sein Modell einer Heilsgeschichte vor, das sich fast trotzig an jüdisch-theologischen Motiven festklammert. Am offensichtlichsten geschieht das natürlich am Symbol des »Sterns der Erlösung«, dem jüdischen Identifikationssymbol des sechszackigen Davidssterns, wie auch an drei zentralen biblischen Texten, der Schöpfungsgeschichte (zur Schöpfung), dem Hohenlied (zur Offenbarung) und den »Halleluja-Psalmen« (zur Erlösung),54 aber auch noch weiteren Elementen des jüdischen Brauchtums.
2.3.1 Die Struktur Das gesamte Buch ist aus drei mal drei Teilen aufgebaut wie aus der sogleich folgenden Tabelle ersichtlich sein wird. Jeder der drei Teile des Buches befasst sich mit einer anderen Welt, zum ersten die Vorwelt, zum zweiten die anstehende Welt und schließlich die Überwelt. Diese Welten sind, wie schon vermerkt, nicht als ontologisch-geschichtliche Weltentwicklungen zu verstehen, wie dies in Schellings Weltaltern der Fall war, sondern als Phasen der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit. Die drei Phasen der Vorwelt, der Welt und der Überwelt, sind im Stern der Erlösung demnach Phasen der Weltwahrnehmung durch die einzelnen Menschen oder durch ganze Kulturen. Und da solche Wahrnehmungszustände der 54
Rosenzweig nennt die Psalmen 111–118 die »reinen Wir-Psalmen« und Psalmen des großen Lobsingens (Stern der Erlösung S. 279), wohl weil in ihnen die die Gemeinde einschließende Responsion Halleluja das Wir besonders zum Ausdruck bringen. Die Ps 113–118 sind zugleich das sogenannte »ägyptische« Hallel, das an den Feiertagen im synagogalen Gottesdienst gelesen wird. Vgl. I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt a.M. (3. Aufl.) Nachdruck Hildesheim 1967, S. 125. 137; u. J. Heinemann, Prayer in the Talmud. Forms and Patterns, Berlin – New York, 1977, S. 145.
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Welt bei verschiedenen Menschen zu gleicher Zeit unterschiedlich sind, erscheinen auch die Rosenzweigschen Weltalter bei verschiedenen Individuen und Gesellschaften kontemporär, wiewohl sie zugleich als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezeichnet werden können. Es gilt hier mutatis mutandis der Satz, mit dem Schelling sein Buch von den Weltaltern eröffnet: »Das Vergangene wird gewußt, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. Das Gewußte wird erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt.«55 Mit anderen Worten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind unterschiedliche Formen des Wissens und dessen Kommunikation. Mit Stéphane Mosès: »Diesen drei Äonen entspricht eine dreifache Erfahrung der Ewigkeit: sie wird erlebt als Permanenz der Vergangenheit, als unaufhörliche Erneuerung der Gegenwart und als Unbeweglichkeit einer absoluten Zukunft. Diese drei Zeiterfahrungen bestimmen ihrerseits drei spezifische Modalitäten der Erkenntnis.«56 Die Struktur des Sterns der Erlösung Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
DIE ELEMENTE
DIE BAHN ODER DIE ALLZEITERNEUERTE WELT
DIE GESTALT
ODER DIE IMMERWÄHRENDE VORWELT
ODER DIE EWIGE ÜBERWELT
Einleitung: Über die Möglichkeit, das All zu erkennen
Einleitung: Über die Möglichkeit, das Wunder zu erleben
Einleitung: Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten
Erstes Buch: Gott und Sein oder Metaphysik
Erstes Buch: Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge
Erstes Buch: Das Feuer oder das ewige Leben
Zweites Buch: Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik
Zweites Buch: Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele
Zweites Buch: Die Strahlen oder der ewige Weg
Drittes Buch: Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik
Drittes Buch: Erlösung
Drittes Buch: Der Stern
oder die ewige Zukunft des Reichs
oder die ewige Wahrheit
Übergang
Schwelle
Tor
55
Schelling, Weltalter, S. 15.
56
Mosès, System und Offenbarung, S. 41–42.
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Die seienden Dinge in diesen drei »Weltaltern« werden bei Rosenzweig gemäß seiner epistemologischen Konzeption nicht eigentlich in ihrer physikalischen oder ontologischen Wirklichkeit beschrieben, sondern in der Weise, wie sie von den Menschen wahrgenommen werden. Das heißt, in allen drei Teilen werden dieselben »Dinge« oder »Gegenstände« beschrieben, aber in ihrer unterschiedlichen Wahrnehmung durch die Menschen. In der vorweltlichen Wahrnehmungsweise werden die »Dinge« in ihrer Abgeschiedenheit voneinander, als separat wahrgenommene Entitäten beschrieben, darum nennt sie Rosenzweig »Elemente«. Konkret sind dies auf letzte Abstrakta reduzierte Wirklichkeiten, nämlich der Gott, die Welt und der Mensch. Wer diese drei Entitäten als separierte Größen wahrnimmt, lebt gleichsam in der Vorwelt. Dies geschieht nach Rosenzweigs Auffassung zum Beispiel in den Mythen der altgriechischen und fernöstlichen Religionen. In der Welt der Gegenwart stellen sich diese drei Elemente nicht mehr in ihrer Separierung dar, sondern als dynamisch miteinander verbundene oder interagierende. Die Dinge werden nun nicht mehr in ihrer statischen Momentaufnahme, sondern in ihrer wirklichen Bewegung wahrgenommen. Man kann hier auf Henri Bergsons Beispiel vom Film verweisen, auf dessen Streifen eine Vielzahl von statischen Momentaufnahmen abgebildet ist, von denen jedes einzelne natürlich nicht die Realität der Bewegung zeigt. Die Wirklichkeit ist hingegen erst erfassbar, wenn man die Dinge in wirklicher Bewegung sieht. Rosenzweig bringt das Beispiel des Schmetterlingsforschers, der einen Schmetterling zum Zwecke seiner Untersuchung auf eine Nadel pinnt, der damit aber nicht eigentlich mehr einen Schmetterling studiert, sondern die Leiche eines Schmetterlings. In der gelebten Wirklichkeit gibt es nichts Statisches, nichts ewig Bleibendes, sondern nur Veränderung, mit der eben die idealistische Philosophie nichts anzufangen wusste. Diese Bewegungswirklichkeit nennt Rosenzweig »Die Bahn«. Die erlebte Wahrnehmung dieser bewegten sich stets ändernden Wirklichkeit nennt Rosenzweig »Offenbarung«. Sie findet man laut Rosenzweig im Judentum und im Christentum, im Islam aber nur verstümmelt. Das dritte Weltalter schließlich ist gleichsam eine Utopie, die aber das Bewusstsein der Gegenwart prägt und prägen soll, sie ist die Wahrnehmung der Welt als eine stabile Einheit. In ihr sieht man in seinem Nächsten und in den Dingen nicht nur Gegenstände, sondern das Ziel der Liebe, wie man sich selbst als von Gott geliebt erachtet. Wenn diese Wahrnehmungsweise erreicht ist, sind alle Dinge zu erlösten Seelen geworden. Diese Welt ist die Welt der »Gestalt« oder wie sie Rosenzweig auch nennt das »Reich« und zwar in Anlehnung an die jeweils gängigen deutschen Übersetzungen des christlichen Vaterunsers, »Dein
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Reich komme«,57 und des jüdischen Kaddisch-Gebets, »und sein Reich erstehe in eurem Leben und in euren Tagen«.58 Jedem der drei Teile des Buches ist eine Einleitung vorangeschickt, deren Überschriften die wesentlichen »Wahrnehmungsweisen« der drei Weltalter bespricht: In der Vorwelt das Erkennen, welches die wissenschaftliche Weise des separierenden und klassifizierenden Betrachtens bezeichnet, in der Allzeit erneuerten Gegenwartswelt das Erleben und in der Ewigen Überwelt das Bittgebet. Die drei Bücher jedes Teiles behandeln nun jeweils nacheinander dieselben drei thematischen Instanzen, allerdings nach den adäquaten veränderten Wahrnehmungsweisen der drei Weltalter denen sie zugehören: (VORWELT) Im ersten, separierenden Erkenntnisprozess sind dies die drei Grundelemente menschlichen Erkennens: Gott, Welt und Mensch. Hier wird für jede Instanz zunächst die traditionelle philosophische Wesensdefinition herausgestellt: (I) Für Gott das Sein, (II) für die Welt die Logik und (III) für den Menschen die Ethik. Die Untersuchung ergibt dann allerdings für alle drei Elemente, dass sie jeweils mehr sind als die philosophische Definition besagt, dass sie darüber hinaus noch etwas haben. Das Ergebnis ist, dass (I) die Erkenntnis Gottes über die Physik (so mit Schelling, der Gott eine Physis zuschreibt) hinausgeht man also von einer MetaPhysik zu sprechen hat. (II) Die Erkenntnis der Welt zeigt, dass in ihr zwar eine naturgesetzliche Logik herrscht, ihr aber darüber hinaus noch Weiteres eignet, weshalb bezüglich ihrer von Meta-Logik zu sprechen ist und schließlich (III) beim Menschen, dessen Definition als ethischem Wesen noch eine über die allgemeine Ethik hinausgehende höchsteigene Handlungsmaxime zuzuschreiben ist, darum Meta-Ethik. (WELT) Im zweiten epistemischen Weltalter, in dem alles in Beziehung und Interaktion wahrgenommen, sprich erlebt wird, werden die drei Grundelemente des ersten Weltalters in ihrer Beziehung zueinander wahrgenommen: (I) Gottes Beziehung zur Welt wird nun als eine Beziehung von Schöpfer und Schöpfung wahrgenommen, (II) Gottes Beziehung zum Menschen als Offenbarung, Gott als Offenbarer, der Mensch als Empfänger der Offenbarung und schließlich (III) die Beziehung des Menschen zur Welt und letztlich auch zu Gott als Erlösung. Der Mensch erscheint in dieser Weltsicht als Erlöser von Welt und Gott, wie dies auch die Kabbala sieht. Philosophisch ausgedrückt bewirken diese drei Beziehungen: Für die Welt, dass sie einen immerwährenden Grund jenseits ihrer selbst hat, für den Menschen, dass er zu einer lebendigen Seele wird und für beide, dass sie eine sie schon in der Gegenwart wirksame Utopie der letzten Einheit haben.
57
Matthäus 6, 10; Lukas 11, 2.
58
Vgl. Siddur Sefat ʼEmet, S. 64.
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(ÜBERWELT) In der dritten Wahrnehmungswelt werden zwei unterschiedliche Akteure der Arbeit am Kommen des Reichs, der Gestalt, gezeigt: Das Judentum und das Christentum. (I) Das Judentum als das ewige Feuer oder das, was dieses Leben, diese Weltwahrnehmung schon immer besitzt und nur zu bewahren hat, sowie (II) das Christentum, das von diesem Feuer ausstrahlt, das die Strahlen auf einem ewigen Weg in die Welt der Völker hinausträgt. Am Ende, als Höhepunkt, steht die heilsgeschichtliche Gesamtschau, welche alle drei Weltalter als die eine und einzige Realität erkennt.
2.3.2 Die bildlich symbolische Darstellung der epistemischen Weltzeitalter Das gesamte Bild, das sich aus den getrennten drei Vorwelt-Elementen und ihre nachfolgende Zusammenschau in der Offenbarung ergibt, stellt Rosenzweig als den sechszackigen Davidstern (Magen David, Davidsschild) dar: Die VORWELT besitzt die Erkenntnis dreier unabhängiger Elemente nämlich Gott Welt und Mensch als Metaphysik, Metalogik und Metaethik. Sie bilden das Symbol eines gleichseitigen Dreiecks:
Gott
Welt
Mensch
Die Bahn, oder die ALLZEITERNEUERTE WELT der Beziehungen nimmt von Gott herkommend, die Welt als Schöpfung und den Menschen als Offenbarungsempfänger wahr, während der Mensch als Akteur der Erlösung begriffen wird:
Schöpfung
Offenbarung
Erlösung
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Die Gesamtschau dieser Realität, das ist die Gestalt oder EWIGE ÜBERWELT, legt die beiden Dreiecke übereinander und nimmt so diese Welt als Gesamtrealität, bestehend aus den beiden Vorauszeitaltern und ihrer Verbindung als Einheit wahr:
Gott Schöpfung
Offenbarung
Welt
Mensch Erlösung
Der Stern zeigt nun auf der linken Seite die Verbindung Gottes zur Welt als Schöpfung hingegen auf der rechten Seite die Beziehung Gottes zum Menschen als Offenbarung. Welt und Mensch werden schließlich in der Erlösung zusammengeführt. Es ist die Gesamtschau von der Offenbarung her, welche die drei ursprünglich getrennten Elemente Gott, Welt und Mensch in eine Bezugsordnung zueinander setzt. Die Offenbarung ist es, welche Gott in einer zweifachen Beziehung sieht: Gott steht zur Welt als Schöpfer und zum Menschen als Offenbarer in Beziehung. Daraus gewinnt auch das vorweltliche Dreieck seine richtige Gestalt: Gott steht oben, während Welt und Mensch auf je gleicher Höhe als Geschöpf, beziehungsweise Offenbarungsempfänger, stehen. Also Welt und Mensch haben nach der Offenbarungserkenntnis ihr Herkommen von Gott. Gott ist der Ausgangspunkt, der in zwei Richtungen ausstrahlt (dies ist das Vorweltliche Dreieck, allerdings schon aus der Sicht der Offenbarung). Das weltliche Dreieck, welches die Dynamik darstellt, zeigt Schöpfung und Offenbarung als nebeneinanderstehende Bewegungen. Das Ziel beider Bewegungen ist schließlich die Erlösung. Darum läuft dieses weltliche Dreieck von diesen beiden Bewegungspunkten auf die Erlösung als Ziel zu, steht also umgekehrt wie das vorweltliche Dreieck. Sieht man nun all das Bisherige zusammen, nämlich durch deren Überlagerung zum Stern, so ergibt sich daraus die Erkenntnis: Gott an der Spitze steht zwischen Welt und Mensch als Akteur, nämlich als Schöpfer und Offenbarer. Die Welt steht zwischen Schöpfung und Erlösung so wie der Mensch zwischen Offenbarung und Erlösung steht. Von dem einen Gott läuft alles zu der einen Erlösung hin, aber über die dualen Wegstationen Welt und Mensch und zwar mittels der zweifachen Aktion von Schöpfung und Offenbarung. Damit ist der Stern
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nach Rosenzweig keine geometrische Figur mehr, sondern eine Gestalt, die ein Geschehen symbolisiert.59 All dies sind, dies sei nochmals betont, keine ontologischen Aussagen, sondern epistemologische, das heißt Weisen wie die Gesamtwirklichkeit gesehen werden soll. Mit dieser symbolischen Darstellung der wahrhaften Weltsicht wird für Rosenzweig der Stern der Erlösung, die Gesamtschau der Wirklichkeit in ihrer Dreischichtigkeit, als stets präsente Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als einander überschneidende und zusammengehörige Weltwahrnehmungen, Ausdruck dafür, dass diese Sichtweise in derjenigen Religion beheimatet ist, deren Symbol dieser Stern ist, nämlich im Judentum. Dieser ebenmäßige und klar durchsichtige Bau des ganzen Werkes hat indessen eine große Zahl von Räumen, die Rosenzweig mit einer Vielfalt an Themen und Erörterungen füllt, die dem Leser die Orientierung in diesem durchsichtigen Gebäude nicht selten erschweren. Vieles scheint trotz der ebenfalls symmetrischen Untergliederung60 assoziativ eingefügt, manches um die Fülle des Wissens unterzubringen und anderes, der polemisch-apologetischen Situation geschuldete, hinterlässt zuweilen einen befremdlichen Eindruck.
2.4
»Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Die Begründung und Herleitung der drei Grundelemente des Wissens mit Hilfe einer neuen Logik der Sprache
Nach der Aufspaltung des idealistischen Alls und seiner Trennung in die drei Wissenselemente Gott, Welt und Mensch, in der Einleitung des Sterns, schreitet Rosenzweig nunmehr zur einzelnen Begründung dieser drei Meta-Elemente. Alle drei sind danach durch eine innere Dualität geprägt, nämlich Wesen und Freiheit bei Gott, Logik und Metalogik (z.B. als Offenbarung) beim Kosmos, sowie Ethik und eigenes Ethos beim Menschen. Rosenzweig tut dies in den drei »Büchern« des ersten Teils »Gott und Sein oder Metaphysik«, »Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik« und schließlich »Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik«. Anstelle der Logik der Philosophie, welche von den in der Welt erscheinenden Phänomenen zu den Dingen an sich führte, die in ihrer Zeitunabhängigkeit als Wesentliche erfasst werden sollen, beschreitet Rosenzweig nun den umgekehrten Weg, um von den drei »Nichtsen« unseres Wissens zu drei »Etwassen« unseres Wissens zu gelangen. Das Medium, das ihm dabei dient, ist jedoch nicht mehr die deduktive Logik der »alten« Philosophie, die von den sichtbaren Phä-
59
Stern der Erlösung, S. 285–286.
60
Einen tabellarischen Überblick über alle Themen, die auch in den Untergliederungen sehr systematisch erscheinen, bietet N. M. Samuelson, Moderne jüdische Philosophie. Eine Einführung, Hamburg 1995, S. 302–304.
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nomenen zu deren Wesenserkenntnis hinaufschreitet, sondern er greift zu einer Sprachlogik und leitet aus den inneren Bedeutungsbezügen der Sprache, hier insbesondere der Urworte »Ja« und »Nein« aus dem Nichts der Erkenntnis ein »Etwas« der Erkenntnis ab. Zur Ersetzung der philosophischen Logik durch die Sprache sagt Rosenzweig in seiner Schrift Das Neue Denken,61 die erklärtermaßen eine Erläuterung zum Stern bieten sollte: »So entspringt der Zeitlichkeit des neuen Denkens seine neue Methode. In allen drei Büchern zwar, doch aber am sichtbarsten im Herzbuch dieses Bandes und so des Ganzen, im zweiten, dem Buch der gegenwärtigen Offenbarung. An die Stelle der Methode des Denkens, wie sie alle frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt die Methode des Sprechens. Das Denken ist zeitlos, will es sein; es will mit einem Schlag tausend Verbindungen schlagen; das Letzte, das Ziel ist ihm das Erste. Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen Nährboden nicht verlassen; es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es läßt sich seine Stichworte von andern geben. Es lebt überhaupt vom Leben des andern, mag der nun der Hörer der Erzählung sein oder der Antwortende des Zwiegesprächs oder Mitsprecher des Chors; während das Denken immer einsam ist […] Im wirklichen Gespräch geschieht eben etwas […] Der Unterschied zwischen altem und neuem, logischem und grammatischem Denken liegt nicht in laut und leise, sondern im Bedürfen des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit […] sprechen aber heißt zu jemandem sprechen und für jemand denken […]«62 Gemäß der in der Einleitung vorgenommenen Dreiteilung alles Seienden behandelt Rosenzweig nun diese drei Elemente in den genannten folgenden drei »Büchern« es ersten Teiles des Sterns der Erlösung.
2.4.1 Die drei Grundelemente der Welt: Gott, Welt und Mensch – der Weg vom Nichtwissen zum Wissen Der Schlüssel für das Verständnis der drei »Bücher«, in denen Rosenzweig den Weg vom dreifachen Nichtwissen der Grundelemente Gott, Welt und Mensch zu dem dreifachen Wissen von ihnen führt, liegt zu Beginn des zweiten Buches. Dort macht Rosenzweig klar, worum es hierbei wirklich geht. Es geht darum, eine Brücke vom menschlichen »Glauben« an diese drei Elemente zu dem Wissen von ihnen zu schlagen. Denn dem menschlichen Glauben sind diese drei Ele-
61
Gesammelte Schriften, III (Zweistromland), S. 139–161.
62
Rosenzweig, Neues Denken, GS III, S. 151 f.
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mente Glaubensgewissheiten, die sich der Mensch nicht wird nehmen lassen. Natürlich ist der Glaube, von dem Rosenzweig hier spricht, darauf hat schon Stéphane Mosès zu Recht hingewiesen, nicht der Glaube der Tradition, der Glaube an Gottes Offenbarung auf dem Sinai, seine Erwählungstat gegenüber Israel etc. Glaube bedeutet hier das Gewiss-sein des Menschen hinsichtlich der jeweiligen Wirklichkeit der drei Elemente, mit denen er spontan umgeht und mit denen er ohne vorgängige Reflexion lebt, oder anders ausgedrückt, es ist die menschliche »Erfahrung« dieser Dinge. Oder wie Stéphane Mosès es ausdrückt: »Diese Evidenz, daß dem Dasein etwas Wirkliches zugrundeliegt, nennt Rosenzweig Glauben. Der Glaube ist eine ursprüngliche Erkenntnismodalität, die vom Wissen verschieden ist. Er ist keine theologische Kategorie, sondern die der Erfahrung zugrundeliegende Gewißheit der Realität unseres eigenen Daseins, der Welt und Gottes. Er ist somit die Erkenntnis der allem Denken vorangehenden Realität.«63 Wenn Rosenzweig in diesen drei »Büchern« jeweils vom »Nichts« zu den »Etwassen« dieser drei spontan im Glauben wahrgenommenen oder gesetzten Elemente, voranschreitet, meint er damit auch hier keine ontologische, sondern eine epistemologische Bewegung, also nicht von einem Nicht-Seienden zu einem Seienden, sondern von einem Nicht-Wissen von Etwas, zu einem Wissen von Etwas. Dies muss man sich im Stern stets vor Augen halten, es geht um Erkenntnis nicht um Ontologie, auch wenn der Duktus der Darlegungen zuweilen schwankt und den Anschein des Ontologischen erhält. Die Nähe zur Ontologie ist wohl auch darin begründet, dass die Wahrheit dieses zu gewinnenden Wissens nicht logisch-spekulativ erwiesen werden kann, sondern durch das Leben bewährt werden muss. Die Wahrheit muss sich im konkreten Leben erweisen und ist damit mit der Wirklichkeit, mit dem Dasein, aufs engste verflochten.64 Nunmehr können wir den besagten Schlüssel für diese drei Teile des Sterns besser verstehen. Rosenzweig sagt dort, wo es um das zweite Element, das der Welt, geht: »Von der Welt wissen wir nichts. Und auch hier ist das Nichts Nichts unseres Wissens und ein bestimmtes, einzelnes Nichts unsres Wissens. Auch hier ist es das Sprungbrett, von dem aus der Sprung ins Etwas des Wissens, ins ›Positive‹ getan werden soll. Denn wir ›glauben‹ an die Welt, so fest zum mindesten wie wir an Gott oder an uns Selbst glauben. Deshalb kann uns das 63
S. Mosès, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, Mit einem Vorwort
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S. Rosenzweig, Stern der Erlösung, S. 437.
von Emmanuel Lévinas, München 1985, S. 57.
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Nichts dieser dreie nur ein hypothetisches Nichts sein; nur ein Nichts des Wissens, von dem aus wir das Etwas des Wissens erschwingen, das den Inhalt jenes Glaubens umschreibt.«65 Dieses zu erarbeitende Wissen soll den Menschen nicht von seinem Glauben hinwegführen, es soll hingegen den Inhalt dieses Glauben explizieren, das »unwissenschaftliche jenes ›Glaubens‹ [soll] gerechtfertigt werden.«66 Das Neue und Besondere gegenüber der herkömmlichen Philosophie ist bei Rosenzweig nun aber, dass er nicht zu den herkömmlichen zünftigen Mitteln der philosophischen Logik greift, um diesen Brückenschlag zwischen glaubender Wahrnehmung und inhaltlich-wissender Explikation zu bewerkstelligen, sondern zu einem Instrument, von dem er glaubt, dass es die Wirklichkeit der Dinge genau und richtig widerspiegelt, nämlich die menschliche Sprache. Die Formen und Regeln der Sprache, so glaubt Rosenzweig, lassen uns die dahinter liegenden Realitäten des jeweils bezogenen Seins erkennen. Die epistemische Seinsanalyse führt er darum als epistemische Sprachanalyse durch. Es sind die Elemente der Sprache, welche unser Wissen um das, was wir glauben, explizieren.
2.5
Die Sprach-Logik als Mittel der Wissensgenerierung
Der Glaube als das aus der Erfahrung gewonnene pragmatische Wahrnehmen der drei Urelemente Gott, Welt und Mensch ist die Grundlage menschlichen Agierens in dieser seiner Welt. Diesem Glauben, so wurde schon deutlich, steht das intellektuelle Nichtwissen über diese drei Elemente gegenüber. Die Aufgabe, die sich Rosenzweig nun stellt, ist von diesem Nicht-Wissen auch zu einem Wissen zu gelangen, so dass neben den Glauben auch das Wissen, das intellektuelle Erfassen, treten kann. Der Weg von diesen Glaubensrealitäten zum Wissen über diese Wirklichkeiten kann nun nicht mehr im Sinne der alten kosmologischen Gottesbeweise mithilfe der klassischen philosophischen Logik betreten werden, sondern dafür bedarf es nach Auffassung von Rosenzweig einer anderen »Logik«. Die Vernunft-Logik der Philosophie erscheint Rosenzweig als eine vom Menschen gemachte und darum menschlich beschränkte Erkenntnisweise. Demgegenüber glaubt Rosenzweig an eine andere Art Logik, die nicht vom Menschen gemacht, sondern ihm vorgegeben, ihm eingepflanzt, oder theologisch gesprochen, von Gott anerschaffen wurde. Die Sprache – und dabei denkt Rosenzweig zunächst nicht an die Realität der Vielfalt menschlicher Sprachen – sondern an die Sprachfähigkeit des Menschen, die ihn vom Tier unterscheidet, und,
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Stern der Erlösung, S. 45.
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Stern der Erlösung, S. 45.
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wieder theologisch-biblisch formuliert, zum Ebenbild Gottes, und zugleich erst zum Menschen machte.67 Die Sprache ist nun, anders als die Logik der Philosophie oder des Idealismus wie Rosenzweig summarisch sagen konnte, nicht aus dem Kopf des Menschen entstanden, ein menschliches Konstrukt, sondern sie ist aus der Wirklichkeit des sich vollziehenden lebendigen Seins hervorgegangen und zutiefst in ihm verwurzelt. Und deshalb ist sie allein das adäquate Medium, das Sein der Elemente zum Sprechen zu bringen. Dies hatte der Idealismus verkannt: »Zur Sprache fehlte ihm das schlichte Vertrauen. Dieser Stimme, die scheinbar grundlos, aber um so wirklicher im Menschen tönt, zu lauschen und zu antworten, war der Idealismus nicht gesonnen. Er forderte Gründe, Rechenschaft, Errechenbarkeit, was ihm die Sprache nicht bieten konnte, und erfand sich die Logik, die dies alles bot. Sie bot dies alles, nur nicht das, was die Sprache besaß: ihre Selbstverständlichkeit, dies daß sie zwar mit den Urworten verwurzelt ist in den unterirdischen Gründen des Seins, aber schon in den Stammworten hinaufschießt ans Licht des oberirdischen Lebens und in diesem Licht aufblüht zur farbigen Mannigfaltigkeit, ein Gewächs also mitten unter allem wachsenden Leben, von dem sie sich nährt wie dieses von ihr, aber unterschieden von all diesem Leben eben dadurch, daß sie sich nicht frei und willkürlich über die Oberfläche bewegt, sondern Wurzeln hinabstreckt in die dunklen Gründe unter dem Leben. […] Indem so der Idealismus auf seinem Höhepunkt sich völlig unter die Gewalt seines eigenen Gemächtes, der Logik gab, mußte er doch selber spüren, wie ihm die Fühlung mit dem lebendigen Dasein, das zu begründen und zu begreifen er sich unterwunden hatte, verlorenging. […] An Stelle des geschaffenen Gottesgartens der Sprache, in dem sie ohne das Mißtrauen und die Hinter-gedanken der Logik gelebt hatte, und den sie durch eigene Schuld verlassen mußte, suchte sie nach einem Menschengarten, einem Menschenparadies.«68 Für Rosenzweig musste darum die gottgemachte Sprache, nicht die vom Menschen gemachte Sprach-Logik,69 das Werkzeug sein, um dem Menschen die Welt verstehbar zu machen, ihm deren richtige Erkenntnis, richtiges Wissen zu verschaffen. Ich hatte schon früher darauf hingewiesen, dass Rosenzweig hier, bewusst oder unbewusst, eine Sprachauffassung übernahm, wie sie in der Kabbala verbreitet war. Die Sprache wird in der Kabbala nicht als menschliche Konventi67
Stern der Erlösung, S. 122; damit steht Rosenzweig in der jüdischen Tradition; vgl. Jüdisches
68
Stern der Erlösung, S. 161–162.
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Stern der Erlösung. S. 122.
Denken, Bd. 1, S. 348–354. 423; Bd. 2, S. 720.
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on zur Kommunikation unter den Menschen verstanden, sondern als eine ontologische Größe, die entweder von der Gottheit selbst ausströmte und sich dadurch zur Welt konfigurierte, oder die gar mit Gottes Wesen selbst identisch ist.70
2.5.1 Die Sprache Natürlich war sich Franz Rosenzweig der Vielfalt menschlicher Sprachen bewusst und konnte nicht einfach wie die Kabbalisten das Hebräische als die Urund Gottessprache, als Stamm aller Sprachen ansetzen, die sich dann im Sündenfall des Turmbaus verzweigten, wiewohl er natürlich die Sprache der biblischen Offenbarung sehr hoch schätzte und er auch Formeln aus der kabbalistischen Glosso-Logie übernahm, so die Vorstellung von der Erschaffung der Sprache durch Gott und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen dank dieser dem Menschen von Gott eingesetzten Sprache.71 Aber er hat diese Vorstellungen auf das übertragen, was er hier als Sprache der Vorwelt oder als Ursprache versteht, der erst in der Phase der »Allzeiterneuerten Welt« die konkrete Sprache des Menschen folgte mit all dem was ein »westeuropäischer« Sprachwissenschaftler als die Bestandteile einer konkreten Sprache betrachtet haben mag, Nomina, Verben, Pronomina, Kasus etc. Jedem Kenner der sogenannten semitischen Sprachen, also z. B. Hebräisch, Aramäisch und Arabisch – um wieviel mehr hinsichtlich afrikanischer oder fernöstlicher Sprachen – wird auffallen, dass Rosenzweig hier in indogermanischen, wenn nicht gar in deutschen Kategorien denkt und sie als Symbole oder Ausdrucksformen wirklich ontologischer Gegebenheiten betrachtet – er ist hier ein sehr deutscher Denker. Aber nicht um die Verifizierbarkeit dieser Sprachanalysen kann und muss es hier gehen, sondern alleine darum was Rosenzweig unter ihnen versteht und wie er sein Paradigma der Sprach-Logik gegen die »idealistische« Logik der Philosophie in Stellung bringt. Deswegen also, wie er in der von ihm so verstandenen Sprache sein Seins-Verstehen konzipiert, wie diese Sprachtheorie ihn vom spontanen Wahrnehmungsglauben zur betrachtenden und verstehenden Theorie und Weltsicht führt. Die Sprache, so hatte ich schon angedeutet, hat nach Rosenzweigs Sprachtheorie drei Stufen, die analog zu den drei Weltaltersstufen, der Vorwelt, der All-
70
K. E. Grözinger, In Rosenzweigs Seele – die Kabbala, in: Messianismus zwischen Mythos und Macht, Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, hrsg. v. E. Goodman-Thau u. W. Schmied-Kowarzik, Berlin 1994, S. 127–139; u. vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 341–345; Bd. 2, S. 313–314. 350–352. 766–773.
71
Vgl. die zum vorangehenden Kapitel angegebenen Stellen zum Thema Ebenbild und Gottes Identität mit der Sprache.
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zeiterneuerten Welt und der Ewigen Überwelt aufeinander folgen, oder richtiger sich zwiebelähnlich in dauernder Gegenwart umschließen: »Wir hatten, als wir die Elemente des All in ihrem stummen Hervorgang aus den geheimen Gründen des Nichts schauten, ihre Stummheit redend gemacht, indem wir ihnen eine Sprache liehen, welche die ihre sein konnte, weil sie keine Sprache ist. Eine Sprache vor der Sprache also, wie jenes Hervorgehen Schöpfung vor der Schöpfung ist. Es waren von der lebendigen Sprache her gesehen die ›Urworte‹, die als geheime Gründe unter jedem einzelnen offenbaren Wort verborgen liegen und in ihm ans Licht steigen, Elementarvorworte gewissermaßen, die den offenbaren Lauf der Sprache zusammensetzten. […] In der lebendigen Sprache werden diese unhörbaren Urworte als wirkliche Worte hörbar, sie selbst und mit ihnen alle wirklichen Worte. Statt der Sprache vor der Sprache steht [nun im zweiten Weltalter] die wirkliche Sprache vor uns. Waren jene unhörbaren unter sich beziehungslos nebeneinander stehenden Elementarworte die Sprache der stummen, einzeln nebeneinander liegenden Elemente der Vor-welt, die Sprache, die im lautlosen Reich der Mütter verstanden wird, die bloße ideelle Möglichkeit der Verständigung, so ist die wirkliche Sprache die Sprache der oberirdischen Welt.«72 Die noch unhörbare Sprache der Vorwelt ist eine »Logik der Sprache«, also die Grundstruktur jeglicher sprachlichen Möglichkeit, aus welcher sich in der nächsten Weltalter-Phase, zu der die Offenbarung gehört, erst die Grammatik der wirklichen Sprache entfaltet. Bevor man die zunächst wichtigeren beiden ersten Sprachstufen dieser Theorie betrachtet, ist es hilfreich, nochmals auf Schellings Thesen von den Weltaltern zurückzublicken, von denen sich Rosenzweig deutlich beeinflussen ließ.73 In seinem bereits erwähnten Buchfragment Die Weltalter beschreibt Schelling das erste von drei Weltaltern, die »Urzeit«, in welchem er die Idee Gottes darstellt, die er als einen zeitlosen Prozess, als Geburt Gottes beschreibt. Schelling überschreibt da ein Kapitel mit dem Titel »Unterscheidung der Notwendigkeit und Freiheit in Gott«. In ihm vertrat er, nach dem Schema des mittelelterlichen Bil-
72
Stern der Erlösung, S. 121.
73
Man wird Rosenzweigs Gedankengänge in dieser Frage nur verstehen können, wenn man, wie eingangs schon erwähnt, die diesbezüglichen Auffassungen Schellings in seinem fragmentarisch gebliebenen Werk Die Weltalter, kennt, dessen 1913 bei Reclam in Leipzig erschienene Version Rosenzweig in Händen hatte und in einem Schreiben an Eugen Rosenstock vom 11.11.16 erstmals erwähnte; F. J. W. Schelling, Hg. L. Kuhlenbeck, Leipzig 1913, Zitate nach dieser Ausgabe.
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des vom Menschen als Mikrokosmos,74 die Auffassung, dass es innerhalb der Gottheit eine Dualität von »Notwendigkeit und Freiheit« gebe.75 Das Erstaunlichste an Schellings Gotteskonzeption ist da, dass die Gottheit in der ersten, der eigentlich vorweltlichen Weltaltersphase sich aus einer Dualität, aus einer inneren Widersprüchlichkeit erst schrittweise konstituiert. Das Kapitel beginnt da so: »Ausgangspunkt: Unterscheidung der Notwendigkeit und Freiheit in Gott. Das älteste Wesen sei Gott, soll schon der milesische Thales geurteilt haben. Aber der Begriff Gottes ist von großem, ja vom allergrößten Umfang, und nicht so mit einem Wort auszusprechen. Es ist in Gott Notwendigkeit und Freiheit. Jene wird schon dadurch, daß ihm ein notwendiges Dasein zugeschrieben wird, anerkannt. Die Notwendigkeit ist insofern, natürlich zu reden, in Gott vor der Freiheit, weil sein Wesen erst da sein muß, damit es frei wirken könne. Die Notwendigkeit liegt der Freiheit zugrunde und ist in Gott selbst das Erste und Älteste, soweit eine solche Unterscheidung in Gott stattfinden kann […]. Ob nun gleich der Gott, welcher der notwendige, derselbe ist, welcher der freie ist, so sind beide doch nicht einerlei. Es ist etwas ganz anderes, was ein Wesen von Natur, und was es durch Freiheit ist. Wäre es alles schon von Notwendigkeit, so wäre es nichts durch Freiheit. Und doch ist Gott nach allgemeiner Einstimmung das freiwilligste Wesen. […] Das Notwendige von Gott nennen wir die Natur Gottes. Ihr Verhältnis zur Freiheit ist dem ähnlich (nicht gleich), das die Schrift zwischen dem natürlichen und dem geistigen Leben des Menschen lehrt […]«76 Schelling fügt diesem Dualismus von Notwendigkeit und Freiheit in der Gottheit noch einen weiteren hinzu. Nach seiner Auffassungen wirkten schon in der Notwendigkeit Gottes zwei gegensätzliche Prinzipien, ein »ausquellendes«, »ausbreitsames« und eine Kraft der »Selbstheit, des Zurückgehens auf sich selbst.«77 »Also sind schon im Notwendigen Gottes zwei Prinzipien; das ausquellende, ausbreitsame, sich gebende Wesen, und eine ebenso ewige Kraft der Selbstheit, des Zurückgehens auf sich selbst, des Insichseins. Beide, jenes Wesen und diese Kraft, ist Gott ohne sein Zutun schon von sich.«78
74
Schelling, Weltalter, S. 27.
75
Schelling, Weltalter, S. 30.
76
Schelling, Weltalter, S. 30–31.
77
Schelling, Weltalter, S. 32.
78
Schelling, Weltalter, S. 32.
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Die Nähe zu entsprechenden Vorstellungen der lurianischen Kabbala ist schon lange bemerkt worden.79 Um es in neoplatonischer Diktion zu formulieren, es ist dies die göttliche Emanationskraft, welche die Welt aus sich hervorfließen lässt und sodann der Regressus, das Zurückströmen in die Urquelle, welches in der lurianischen Kabbala Zimzum heißt, was bei Schelling dann eben der Begriff für das auf sich selbst Beharrende der Gottheit bezeichnet: »Die Kraft, durch welche das Wesen sich verschließt, versagt, ist in ihrer Art so wirklich als das entgegengesetzte Prinzip; jedes hat seine eigene Wurzel und keines ist von dem anderen abzuleiten.«80 Es ist dieser doppelte Urdualismus, der nach Schelling nicht nur die Gottheit bestimmt, sondern in gleicher Weise die aus ihm sich entfaltende Welt, der sich im Kosmischen wie – und das ist für die Beziehung zu Rosenzweig wichtig – im menschlich Sprachlichen auswirkt: »Zwar die Menschen zeigen eine natürliche Vorliebe für das Bejahende, wie sie dagegen vom Verneinenden sich abwenden. [… Aber] Ein Hemmendes, Widerstrebendes drängt sich überall auf: dies andere, das, so zu reden, nicht sein sollte und doch ist, ja sein muß, dies Nein, das sich dem Ja, dies Verfinsternde, das sich dem Licht, dies Krumme, das sich dem Geraden, dies Linke, das sich dem Rechten entgegenstellt, und wie man sonst diesen ewigen Gegensatz in Bildern auszudrücken gesucht hat […].«81 Für Rosenzweig, der die Logik der Philosophie durch die Logik der Sprache ersetzen wollte, waren diese Bemerkungen der geeignete Ausgangspunkt, den weltbegründenden Dualismus mithilfe seiner »Sprachlogik« darzustellen. Für Ihn stellt sich dieser Dualismus des Seins, den Schelling in den Weltaltern durchgehend als Bejahende und Verneinende Potenz im Göttlichen darstellt, als ein in der Sprache aufscheinender Grunddualismus der »Bejahung« und der »Verneinung« dar. Diese zwei Grundkategorien sieht er in den beiden Urworten der vorweltlichen Sprache der »Bejahung« dem »Ur-Ja« und der »Verneinung« dem »Ur-Nein«.82 Wie schon durch Schelling angedeutet, erscheinen die dualistischen Widersprüche in der Welt auf der sprachlichen Ebene als Bejahung und Verneinung. Neben, oder besser zwischen diese beiden sich gegenüberstehenden Urworten tritt nun noch das sie verbindende »Und«, denn nur so, meint Rosen79
Vgl. Ch. Schulte, Zimzum; u. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 626–633. 638–646. 811–817.
80
Schelling, Weltalter, S. 33.
81
Schelling, Weltalter, S. 33.
82
Vgl. Stern der Erlösung, S. 26. 34. 47.
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zweig, kann ein Satz zustande kommen, – und die Bildung von Sätzen ist nach Rosenzweigs Auffassung nun eben ein Spiegel für die göttliche und weltliche Realität, die sich in der Sprache manifestiert. Diese drei sprachlogischen Grundkategorien, »Ur-Ja«, »Ur-Nein« sowie das sie verbindende »Und«, gehören noch der vorweltlichen Phase auch des Sprachlichen an. Sie dienen Rosenzweig darum dazu, die spontane Glaubenserfahrung der drei Urelemente, Gott, Welt, und Mensch zu explizieren und so das ursprüngliche Nichtwissen von diesen dreien in ein Wissen von ihnen zu übertragen. Um die Erkenntnis, das Wissen, geht es Rosenzweig, dies sei nochmals betont, nicht um eine Theo-, Kosmo- und Anthropogenese. Darum dient das »Erste Buch« dazu, die drei Urelemente Gott, Welt und Mensch in ihrem »vorweltlichen« Status von unserem Nichtwissen zum Wissen zu führen. Ist dies getan, kann dann im zweiten Buch deren Realisierung in der wirklichen Welt mithilfe der verwirklichten Sprache, einer Sprache mit ausgebauter Grammatik, expliziert werden. Hier im ersten Buch erfolgt also zunächst die Darstellung der Urelemente mit der Vor-Sprache, sprich mittels der Urworte.
2.5.2 Die Explikation der drei Urelemente mithilfe der vorweltlichen sprachlichen Urwörter Der Ausgangspunkt für alle drei Grundelemente ist unser Nichtwissen von ihnen. Bezüglich Gottes: »Von Gott wissen wir nichts. Aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott. Als solches ist es der Anfang unseres Wissens von ihm.«83 Und bezüglich der Welt: »Von der Welt wissen wir nichts. Und auch hier ist das Nichts Nichts unseres Wissens und ein bestimmtes, einzelnes Nichts unseres Wissens. Auch hier ist es das Sprungbrett, von dem aus der Sprung ins Etwas des Wissens, ins ›Positive‹ getan werden soll.«84 Und bezüglich des Menschen: »Auch vom Menschen also wissen wir nichts. Und auch dieses Nichts ist nur ein Anfang, ja nur der Anfang des Anfangs. Auch in ihm erwachen die Urworte, das schaffende Ja, das zeugende Nein, das gestaltende Und.«85 Wie nun stellt sich dieses Erwachen der drei Urworte hinsichtlich der drei vorweltlichen Ur-Elemente dar.
83
Stern der Erlösung, S. 25.
84
Stern der Erlösung, S. 45.
85
Stern der Erlösung, S. 68.
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2.6
»Gott und sein Sein oder Metaphysik«
Der Begriff Metaphysik in dieser Überschrift des Ersten Buches darf, daran sei erinnert, nicht im herkömmlichen Sinn verstanden werden, sondern in der von Rosenzweig nach Schelling neu gesetzten Vorstellung eines göttlichen Grundwesens und eines darüber hinausschießenden Selbstseins der Gottheit. Das heißt, für Gott bezeichnet dieser Begriff des »Metaphysischen« nunmehr das Verwobensein seines Wesens, beziehungsweise seiner Physis oder Natur, auf der einen mit seiner Freiheit auf der anderen Seite. Die Logik der Argumentation zur Erlangung eines Wissens von Gott ist auf das Ziel gerichtet. Da Die Erfahrung des »Glaubens« eine Erfahrung des Göttlichen kennt, unter anderem vielfach bezeugt in den alten Mythologien,86 muss auch das Wissen bezüglich Gottes auf ein Wissen von »Etwas« zustreben, nachdem es zunächst ein Wissen von Nichts ist. Der Weg von diesem Nichtwissen muss nun, wie oben schon dargelegt, mittels der sprachlichen Urworte bewerkstelligt werden. Will man mit Hilfe einer Bejahung von einem »Nichts« zu einem »Etwas« des Wissens kommen, so bleibt nur die Bejahung einer doppelten Verneinung. Also wenn man sagt: Ja, das Nichts Gottes ist nicht Nichts. Damit kommt man zu keiner präzisen Beschreibung des Göttlichen, zu keiner begrenzbaren Definition, sondern nur zu der Aussage, dass da irgendetwas ist. Mit Stéphane Mosès: »Die Uraffirmation, die jedem Dasein zugrundeliegt, ist die des Nicht-Nichtses. Rosenzweig sagt: Affirmation des Nicht-Nichtes und nicht: Affirmation des Seins, weil es sich um das Erfassen einer reinen Realität ohne jeden bestimmbaren Inhalt handelt; diese reine Realität ist das ›leere Sein‹, das noch keine Bestimmung hat. Die ursprüngliche Affirmation ist reine Seinssetzung.«87 »Die Affirmation des Nicht-Nichts heißt: Es gibt Sein, doch weiß ich nicht, worin es besteht. ›Es gibt‹, und nichts weiter.«88 Damit ist, laut Rosenzweig, etwas nicht Begrenztes, das heißt demnach etwas »Unendliches« gesetzt. Will man demgegenüber durch eine Verneinung vom Nichts Gottes zum Etwas Gottes gelangen, muss man das Nichts Gottes verneinen. Das Ergebnis ist: »Verneinung des Nichts setzt – wie jede Verneinung – ein Begrenztes, Endliches, Bestimmtes.«89 Wieder mit Stéphane Mosès: »Ist […] die Affirmation des Nicht-Nichts Position des Unbestimmten, so ist die Negation des Nichts vielmehr Bestimmung: ›Das Nichts ist nicht.‹ Wir haben hier ein Subjekt: das Nichts, an dem alles verneint wird, dem wir also eine unendliche Zahl von Bestimmungen zuschreiben. Das Nichts verneinen heißt: Es gibt unendlich viele Bestimmungsmöglichkeiten. Es ist die reine Negation, die Negation von Nichts. 86
Stern der Erlösung, S. 36 ff.
87
Mosès, System und Offenbarung, S. 58.
88
Mosès, System und Offenbarung, S. 59.
89
Stern der Erlösung, S. 26.
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Die Negation ist die Kategorie des reinen Unterschiedes, während die Affirmation die Kategorie der Seinssetzung ist.«90 Mit dieser Anwendung der beiden sprachontologisch gegebenen gegensätzlichen Sprachkategorien auf das Nichtwissen glaubt Rosenzweig das alte philosophische Problem von Einheit versus Vielheit und von Unendlichkeit und Endlichkeit in der Gottesfrage91 sprachlogisch expliziert zu haben. Das Ur-Ja und das Ur-Nein der Sprache sind der sprachliche Spiegel für das Sein der unterschiedlichen im Glauben erfahrenen Gegebenheiten. Auf das Nichtwissen um Gott bezogen ergeben sich die formulierten sprachbegründeten Erkenntnisse von Gott. Mit anderen Worten: Unsere sprachliche Logik lässt unsere glaubensmäßige Erfahrung von Gott nunmehr sprachlich zum Ausdruck bringen und damit zu einem Wissensbestand werden. Mit seinen sprachlogischen Operationen kommt nun Rosenzweig zugleich zu den von Schelling einst erstaunlicherweise gewonnenen Aussagen, dass es in der Gottheit eine Physis, beziehungsweise eine Natur, und darüber hinaus Freiheit und damit die Freiheit zur Tat gebe. Alternativ spricht Rosenzweig auch von Gottes Wesen und Gottes Freiheit, die sich als »unendliche Willkür« darstellt.92 Die Grundkategorien des Sprachlichen, Ja und Nein, sind demnach die sprachlichen Phänomene oder Auswirkungen des göttlichen Wesens, der göttlichen Physis auf der einen und Gottes Freiheit auf der anderen Seite: »Im Anfang ist das Ja. Und da das Ja also nicht auf das Nichts gehen darf, so muß es auf das Nichtnichts gehen. […] so beschreibt die Bejahung des Nichtnichts als innere Grenze die Unendlichkeit alles dessen, was nicht Nichts ist. Es wird ein Unendliches bejaht: Gottes unendliches Wesen, seine unendliche Tatsächlichkeit, seine Physis.«93 Und: »Das Ja in Gott war sein unendliches Wesen. Sein freies, aus der Verneinung seines Nichts hervorschießendes Nein ist nicht selbst Wesen, es ist nicht ›so‹; nur ›nicht anders‹; so ist es immer auf ›anderes‹ gerichtet, es ist immer nur das ›eine‹. […] Dies schlechthin ›eine‹, dies schlechthinnige Nein zu allem, was nicht es selbst, sondern ›andres‹ ist, welchen Namen dürfen wir ihm geben, wenn nicht den der Freiheit? Gottes Freiheit wird geboren aus der ur-
90
Mosès, System und Offenbarung, S. 59.
91
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 410–414.
92
Stern der Erlösung, S. 30–33.
93
Stern der Erlösung, S. 28f.
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80
sprünglichen Verneinung des Nichts […] Gottes Freiheit ist schlechthin gewaltiges Nein.«94 Anzufügen ist noch ein Letztes. In Schellings Beschreibungen des Göttlichen als zwei sich widerstreitenden Potenzen, als Ja und Nein, tritt noch als drittes das Element der »Einheit« dieser beiden hinzu. Auch dieses sieht Rosenzweig in seinen sprachlichen Urworten vertreten, nämlich als das »Und«. Denn nur das »und« vermag aus den unverbundenen beiden anderen Urworten einen Satz zu gestalten: »Der Satz, ja schon der kleinste Satzteil […] setzt Ja und Nein, So und Nicht anders voraus. Damit haben wir das dritte jener Urworte, das an Ursprünglichkeit den beiden andern nicht gleich, sondern sie beide voraussetzend, dennoch erst beiden zu lebendiger Wirklichkeit hilft: das Wort ›und‹. […] Es ist der Schlußstein des Kellergewölbes, über welchem das Gebäude des Logos, der Sprachvernunft errichtet ist.«95
2.7
»Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik«
Analog zu dem im vorangehenden Abschnitt beschrittenen doppelten Weg vom Nichtwissen um Gott zum Wissen eines Etwas von Gott und zwar mittels der sprachlichen Urworte »Ja« und »Nein« wird auch der Weg bezüglich der Welt begangen. Das Ergebnis hinsichtlich der Welt sieht sodann wie folgt aus. Bejaht wird wiederum das »Nichtnichts« der Welt und auch aus dieser Bejahung folgt wie bei Gott etwas Unendliches, das bejaht wird. Und dieses muss ein »›überall‹ Seiendes und ›immer‹ Währendes« sein.96 »Das Sein der Welt muß wirklich ihr Überall und Immer sein. Überall und immer ist aber das Sein der Welt nur im Denken. Der Logos ist das Wesen der Welt«.97 Mit diesem Logos ist das »Allgemeingültige« in der Welt gemeint. Rosenzweig kann dieses Allgemeine auch »Weltgeist« nennen, allerdings nicht in dem Sinne wie bei Hegel, dass der Weltgeist als Schöpfer des Kosmos verstanden wird: »Der Logos ist nicht wie von Parmenides bis Hegel Weltschöpfer, sondern Weltgeist, besser vielleicht noch Weltseele. Der so wieder zur Weltseele gewordene Logos kann nun dem Wunder des lebendigen Weltleibs sein Recht widerfahren lassen. Der Weltleib braucht nicht mehr als eine unterschiedslo94
Stern der Erlösung, S. 31–32.
95
Stern der Erlösung, S. 35–36.
96
Stern der Erlösung, S. 46.
97
Stern der Erlösung, S. 46.
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se, chaotisch wogende Masse von ›Gegebenheit‹ dazuliegen, bereit, von den logischen Formen ergriffen zu werden, sondern er wird zum lebendigen, stets erneuerten Schwall der Erscheinung, der über den still geöffneten Schoß der Weltseele niedergeht und sich mit ihr vereinigt zur gestalteten Welt.«98 Was mit dieser poetisch-metaphorischen Darlegung gemeint ist, wird erst wirklich von der Betrachtung der »Verneinung« des Nichtwissens von der Welt verständlich. Die Verneinung des Nichtwissens von der Welt durch das »Ur-Nein« lässt das begrenzte »Besondere«, das immer wieder neu in der Welt Entstehende erkennen. Und dies ist nichts anderes als die stets neu in der Welt auftretenden Ereignisse oder »Erscheinungen«, die Phänomene: »Die freie Tat in Gott, das erscheinende Etwas in der Welt: beides sind gleich plötzliche, gleich einmalige, gleich neue Offenbarungen aus der Nacht des Nichts, dort Gottes, hier der Welt. […] Jedes göttliche Tun, jede irdische Erscheinung ist ein neuer Sieg über das Nichts […]«99 Ur-Ja und Ur-Nein deutet Rosenzweig bezüglich der Welt also auf die allgemeine innerweltliche Ordnung einerseits und die kontingente innerweltliche Fülle der Besonderheiten andererseits. Die beiden sprachlichen Grundelemente führten demnach auch in der Welt, wie bei Gott, zur Erkenntnis eines Dualismus, wie dies Schelling mutatis mutandis durch seine Überlegungen erreichen wollte. Die Vielfalt und die Gegensätzlichkeit in dieser Welt hatten ihr Pendant innerhalb der Gottheit und sie finden ihren Ausdruck in der sprachlichen Dualität von Ja und Nein. Es ist diese Logik der Sprache, welche für die drei einzelnen Erkenntnisgegenstände Gott, Welt und Mensch, dieses Resultat erzeugt. Rosenzweig sieht in der Anwendung dieser Sprach-Logik mit dem Ziel der Erkenntnis der Grundelemente unserer Glaubens-Erfahrungen ein altes Problem des Idealismus überwunden. Dieser, so Rosenzweig, sah die wahre Erkenntnis erst in der Erkenntnis der unveränderlichen Ideen des Seins, nicht in den sich stets ändernden und unsteten Begebenheiten der irdischen Wirklichkeit, die ihm nur als Chaos erscheinen mussten. Demgegenüber habe die neue »metalogische« Weltsicht der spontanen Fülle des Lebens wieder ihr Recht zuerkannt.100 Diese neue Wahrnehmung des Besonderen macht auch vor dem Philosophen als Menschen nicht halt. Er ist es, der die Vielfalt der auf ihn zulaufenden und mit ihm verbundenen Fäden zu einer Einheit zusammenfasst. Dies ist aber eine »persönliche, erlebte und verphilosophierte Standpunkteinheit des Philosophen.« Dies ist dann der »subjektive […] Standpunkt des Philosophen«.101 Die Einheit 98
Stern der Erlösung, S. 51.
99
Stern der Erlösung, S. 48.
100
Stern der Erlösung, S. 50.
101
Stern der Erlösung, S. 57.
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der Welt, der sie verbindende Logos, ist die Weltsicht des je einzelnen Philosophen.
2.8
»Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik«
Auch das Nichtwissen vom Menschen wird mithilfe der beiden Urworte des »Ja« und »Nein« zum Wissen geführt. Hatte das Ur-Ja, als Bejahung des Nichtnichts bei Gott zu dessen unendlichem Sein und bei der Welt zu deren Logos oder dem Weltgeist geführt, so führt es beim Menschen zur Vergänglichkeit als seinem Wesen: »Das Sein Gottes war schlechthinniges Sein, Sein jenseits des Wissens. Das Sein der Welt war im Wissen, gewußtes, allgemeines Sein. Was ist gegenüber Gott und Welt das Wesen des Menschen? […] Der Mensch ist vergänglich, Vergänglichkeit ist sein Wesen, wie es das Wesen Gottes ist, unsterblich und unbedingt, das Wesen der Welt, allgemein und notwendig zu sein. Gottes Sein ist Sein im Unbedingten, der Welt Sein Sein im Allgemeinen, des Menschen Sein ist: Sein im Besonderen.«102 Spätestens bei dieser Wesensbeschreibung des Menschen wird deutlich, dass die jeweils beiden Pole von Gott, Welt und Mensch nicht nach der philosophischen Logik abgeleitete und erwiesene Ergebnisse sind, sondern Feststellungen der »Glaubenserfahrung«, im Sinne der Lebenserfahrung, die mithilfe des sprachlichen Grunddualismus expliziert werden. Es ist die Erfahrungswelt des »Glaubens«, die in die Sprachlogik übertragen als explizite Ontologie ersteht. Die hier gemeinte Erfahrung, bei Rosenzweig als Erfahrung des Glaubens benannt, ist indessen nicht die messbare sensible Erfahrung des Empirismus, sondern eher das, was auch Edmund Husserl als Erfahrung sieht, nämlich die Wahrnehmungserfahrung wie sie sich im Bewusstsein des Menschen ereignet, wozu auch rein fiktive Erfahrungsereignisse gehören können.103 Oder wie es Emmanuel Lévinas formulierte: »Unter Erfahrung ist zu verstehen die Fülle der Fakten, aber auch die Ideen und Werte, inmitten derer sich das menschliche Dasein abspielt: Natur, ästhetische und moralische Gegebenheiten, die anderen, ich selber, Gott … Die religiöse oder atheistische Menschheit hat insofern bereits eine Erfahrung von
102
Stern der Erlösung, S. 68–69.
103
Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, ed. K. Schuhmann, Den Haag 1976, Nachdruck Hamburg 2009.
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Gott, als sie diesen Begriff versteht, und sei es auch nur, um seinen Gegenstand zu leugnen, um ihn zu reduzieren oder zu erklären.«104 Das menschliche Sein, so endet das zuvor angeführte Zitat aus dem Stern, ist ein »Sein im Besonderen«. Gemeint ist damit das »Eigensein« jedes einzelnen Menschen, sein höchst eigener Charakter, das was ihn zugleich vollkommen einsam sein lässt, weil er nur ganz alleine so ist. Es ist dieses Alleinesein, das sich in der Todesstunde einstellt, womit Rosenzweig sein Buch ja eröffnete. Dieses Selbstsein, und alleine mit sich selbst sein ist nicht mit der »Individualität« eines Menschen zu verwechseln, auch nicht mit seiner Persönlichkeit. Das Besondere, Einmalige, jedes einzelnen Menschen ist nicht das Individuum, denn dies ist auf halbem Weg zum Allgemeinen, nämlich als Angehöriges einer Gattung.105 Und auch die Persönlichkeit ist nur eine Rolle die dem Menschen vom Schicksal zugewiesen ist und die er in der Vielstimmigkeit der Menschheit zu spielen hat. »Die Persönlichkeit ist immer eine unter andern; sie wird verglichen; das Selbst vergleicht sich nicht und ist unvergleichbar.«106 Das Selbst des Menschen, so Rosenzweig, hat »keine Beziehung zu den Menschenkindern, immer nur zu einem einzigen Menschen, eben dem ›Selbst‹«,107 das Selbst ist das einsame Ich.108 Das Selbst des Menschen wird ihm nicht anerzogen wie die Persönlichkeit. Das Selbst überfällt den Menschen eines Tages und verändert sein bis dahin geführtes Leben. »Das Selbst also wird an einem bestimmten Tag im Menschen geboren. Welcher Tag ist das? Der gleiche, an dem die Persönlichkeit, das Individuum, den Tod in die Gattung stirbt. Eben dieser Augenblick läßt das Selbst geboren werden.«109 Das Selbst des Menschen, so Rosenzweig, überfällt den Menschen zum ersten Mal in Gestalt des »Eros« und dann eben wiederum unverwechselbar als »Thanatos« in der einsamen Stunde des Todes. Das Selbst als Wesen des Menschen, als das unvergleichlich eine, ist, so Rosenzweig, das, was die Bibel das Ebenbild Gottes nennt: »Als Selbst, wahrhaftig nicht als Persönlichkeit, ist der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen. Adam ist wirklich, im Gegensatz zur Welt, ge-
104
E. Lévinas, »Zwischen zwei Welten«. Der Weg Franz Rosenzweigs, in: Zeitgewinn. Messianisches Denken nach Franz Rosenzweig, hrsg. G. Fuchs u. H. Henrix, Frankfurt a.M. 1987, S. 43.
105
Stern der Erlösung, S. 52.
106
Stern der Erlösung, S. 74.
107
Stern der Erlösung, S. 74.
108
Stern der Erlösung, S. 77.
109
Stern der Erlösung, S. 77.
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nau ›wie Gott‹, nur lauter Endlichkeit, wo jener lauter Unendlichkeit ist […].«110 Nach der im Jüdischen Denken mehrfach hervorgehobenen Beobachtung, dass in der Deutung der imago dei-Lehre der Kern des Anliegens eines Autors sichtbar wird, darf man mit Fug und Recht behaupten, dass eben in dieser Betonung des unverwechselbaren und je einmaligen menschlichen Selbst das zentrale Anliegen Rosenzweigs zu suchen ist. Gegenüber der Bejahung des Nichts des Wissens vom Menschen als Bejahung des Nichtnichts, welches zum menschlichen Selbst und seiner Besonderheit geführt hatte, führt die einfache Verneinung dieses Nichts zur menschlichen Freiheit, analog zur göttlichen Freiheit. Nur ist eben diese menschliche Freiheit in ihrer Machtlosigkeit nicht wie bei Gott Freiheit zur Tat, sondern nur Freiheit des Willens. »Das Können ist ihr [der menschlichen Freiheit], im Gegensatz zur göttlichen Freiheit, schon in ihrem Ursprung versagt, aber ihr Wollen ist so unbedingt, so grenzenlos wie das Können Gottes.«111 Auch das Wollen des Menschen ist, wie sein Selbst, nicht das Wollen einer vorgegebenen Matrix. Es ist nicht wie in der Philosophie und auch in den hier im Jüdischen Denken vorgetragenen Lehren,112 die dem Menschen vorgegebene Ethik, die sein Menschsein zur Erfüllung bringt. Das menschliche Wollen dieses »Selbst« ist sein eigenes Wollen, das eigene Ethos, nicht die Vorgabe der Konvention. »Das Selbst lebt in keiner sittlichen Welt, es hat sein Ethos. Das Selbst ist meta-ethisch.«113 Die Transformation der vorweltlichen Urwörter in die »welthaften« Stammwörter und Stammsätze durch die Offenbarung, muss bis nach der Darstellung der Offenbarung zurückgestellt werden.
2.9
Die Bahn – oder die allzeit erneuerte Welt – das Wunder der Offenbarung
Nachdem der erste Teil des Stern die idealistisch-philosophische Welterkenntnis als eines gesamtheitlichen Alls zurückgewiesen und stattdessen die »unbefangene«, ja »gesunde« Sichtweise von drei getrennten Welt-Elementen, Gott, Welt und Mensch, etabliert hatte, folgt im zweiten Teil ein neuer Anlauf, der diese drei Elemente als interagierende und miteinander in Beziehung stehende Wesenheiten zu verstehen lehrt. Die erste unbefangene Sichtweise, so Rosenzweig war die der altgriechischen und fernöstlichen Mythologie, in der zum Beispiel die Götter ihr Leben lebten, während die Welt ihren eigenen Gang ging, ohne dass
110
Stern der Erlösung, S. 75.
111
Stern der Erlösung, S. 72.
112
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 161. 243. 252. 280. 283.
113
Stern der Erlösung, S. 79.
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beide miteinander in einer wesenhaften Beziehung standen. Die nun hier im zweiten Teil propagierte Sicht auf die Wirklichkeit ist die Sicht, die sich einer Offenbarung verdankt und sachgerecht eigentlich nur vom Judentum, abgeleitet auch vom Christentum und in unzureichender oder gar falscher Weise vom Islam vertreten wird. Die Betrachtung der hier und im ersten Teil genannten Religionen lässt Rosenzweigs Buch zu einer Art Religionsgeschichte werden, wobei allerdings Rosenzweigs dogmatische Vorstellung von der »richtigen« Sichtweise der Welt zum Maßstab erhoben wird, weshalb das Ganze somit als eine dogmatische und nicht historisch-kritische Religionsgeschichte erscheint. Das Ziel des zweiten Teiles des Stern ist es, die in Teil eins als getrennte Urelemente sichtbar gemachten drei Wirklichkeitsteile denkerisch in einen inneren lebendigen Zusammenhang zu bringen. Der Weg dahin führt Rosenzweig über eine Erörterung des biblischen und antiken Wunderbegriffs. In Bibel und jüdisch-christlicher Antike bestehe das Wunder nicht in einer Umstoßung der auch schon biblisch anerkannten natürlichen Weltabläufe (zu denen nach dem alten Verständnis allerdings Dinge gehören, die wir heute als Umstoßung der Naturgesetze betrachten), sondern darin, dass ein Prophet ein bestimmtes Geschehnis voraussagt, das dann zu dieser Zeit eintritt. Dieser Wunderbegriff ist Rosenzweig wichtig, weil er mit ihm auch die »Offenbarung« als größtes aller Wunder bezeichnen kann. Ein Wunder, das demnach zum natürlichen Weltverlauf gehört und das in diesem natürlichen Weltverlauf schon durch die Schöpfung angezeigt oder vorhergesagt wird. Mit anderen Worten: Das was dem Menschen laut Rosenzweig eine neue, und das heißt die richtige Weltsicht vermittelt, nämlich die Offenbarung, ist eine im Naturverlauf, sprich in der Schöpfung, natürlich angelegte Erkenntnisquelle, die sich täglich ereignen kann. Schon der mittelalterliche Maimonides hatte ja die Prophetie, sprich die Offenbarung, als einen natürlichen Vorgang beschrieben, als einen Erguss der »göttlichen Vernunft« auf die menschliche Vernunft, zu der sich der Mensch emporreckt.114 Ein Wunder ist die Offenbarung für Rosenzweig deshalb, weil sie in diesem natürlichen »Weltgesetz« seit deren Beginn angezeigt ist. Das Wunder ist das Zeugnis für Gottes Vorhersehung allen Geschehens: »Und eben die unbegrenzte Vorsehung, dies, daß wirklich ohne Gottes Willen kein Haar vom Haupte des Menschen fällt, ist [in der Bibel ] der neue Begriff von Gott, den die Offenbarung bringt; der Begriff, durch den sein Verhältnis zu Welt und Mensch mit einer dem Heidentum ganz fremden Eindeutigkeit und Unbedingtheit festgelegt wird. Das Wunder erwies zu seiner
114
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 419–422. 468–471.
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Zeit grade das, woran seine Glaubwürdigkeit heute zu scheitern scheint: die vorbestimmte Gesetzmäßigkeit der Welt.«115 Das Entscheidende des Wunders ist nicht das erstaunliche Ereignis, sondern dessen Eintreten gemäß einer vorgängigen Ankündigung: »die Vorhersage, die Wundererwartung, bleibt immer das eigentlich konstitutive Moment, das Wunder selbst ist nur das realisierende Moment; beide zusammen bilden das ›Zeichen‹, wie denn die Heilige Schrift wie das Neue Testament größten Wert darauf legen, ihrem Offenbarungswunder, jene durch die Verheißung an die Väter, dieses durch die Weissagung der Propheten, den Zeichencharakter zu verleihen.«116 Es ist gerade dieser Zusammenhang von vorbestimmter Gesetzmäßigkeit der Welt und dem zentralen Wunder schlechthin, dem Offenbarungswunder, der in der Moderne nicht mehr verstanden wurde. Ein Zusammenhang, der ein Wunder da sah, wo ein vorhergesehenes Geschehen eintrat. Wunder war da, wo die vorbestimmte Gesetzmäßigkeit der Welt, Gottes unbegrenzte Vorsehung erkannt wurde, wo der »Mensch den Schleier, der gemeinhin über der Zukunft liegt, zu heben vermag, das […] ist das Wunder«.117 In der Moderne wurde dies so nicht länger verstanden. Der Grund dafür ist für Rosenzweig die Vernachlässigung dieses Weltbezuges des Wunders und damit seine Verankerung im historischen Weltverlauf in der modernen – vornehmlich – christlichen Theologie. In ihr hat man das Wunder unter dem Feuer der historischen Kritik hinauskatapultiert und den Glauben ganz auf das menschliche Subjekt gestellt. Paradigmatisch hierfür ist der protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher, der ja in Abraham Geiger auch seinen jüdischen Adepten hatte.118 Damit war, so Rosenzweig, die Heilsgeschichte mit ihren Wundern und der Bezug auf die Welt als Schöpfung und somit als Glaubenszeuge, aus dem theologischen Repertoire verschwunden. Oder anders ausgedrückt, das Subjektive hat das Objektive, das menschliche Bewusstsein die Fakten von Welt und Geschichte verdrängt. Und es ist gerade dies, das Objektive, auf dem menschliches Wissen aufgebaut wird, wie dies in dem oben schon zitierten Diktum Schellings vom Wissen des Vergangenen119 angezeigt ist. Die Vergangenheit zu der die Welt gehört, ist die Schöpfung, auf der das menschliche Wissen aufgebaut werden kann.120 Und dies ist die Stelle an der Rosenzweig seinen epistemologischen Handstreich ausführt. Während die moderne Theologie mit dem objektiven Wissen nichts mehr anzufangen weiß
115
Stern der Erlösung, S. 105–106.
116
Stern der Erlösung, S. 106–107.
117
Stern der Erlösung, S. 105.
118
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 583–591.
119
Siehe oben unter Kap. 2.3.1.
120
Stern der Erlösung, S. 115.
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und die Philosophie mit dem Veränderlichen, dem Eigenwilligen, Probleme hat – worauf auch Hermann Cohen, der Lehrer Rosenzweigs, nachdrücklich hingewiesen hatte121 – sieht Rosenzweig die Zukunft nur in einer Kooperation von Philosophie und Theologie, die gegenseitig einander bedürften. Das Problem der Verschanzung hinter dem Subjektiven gilt wie für die Theologen auch für die neuere Philosophie nach Hegel, die Rosenzweig darum »Weltanschauungs-, ja Standpunktphilosophen« nennt,122 denen gleichfalls das Objektive aus den Händen geglitten ist. Um beiden berechtigten Anliegen, dem subjektiv-Bewusstseinsmäßigen und dem objektiv-Wissenschaftlichen gerecht zu werden, hilft nach Rosenzweig nun eben nur noch diese neue Kooperation zwischen Philosophie und Theologie, in der beide Seiten dringend je des anderen bedürften. Zu dieser neueren Philosophie sagt Rosenzweig deshalb: »Sie muß ihre neue Ausgangsstellung, das subjektive, ja extrem persönliche, mehr als das, unvergleichbare, in sich selbst versenkte Selbst und dessen Standpunkt festhalten und dennoch die Objektivität der Wissenschaft erreichen. Wo findet sich diese verbindende Brücke zwischen extremster Subjektivität, zwischen, man möchte sagen, taubblinder Selbsthaftigkeit und der lichten Klarheit unendlicher Objektivität? […] Jene Brücke vom Subjektivsten zum Objektivsten schlägt der Offenbarungsbegriff der Theologie. Der Mensch als Empfänger der Offenbarung, als Erleber des Glaubensinhalts trägt beides in sich.«123
2.9.1 Wie kann das Wunder der Offenbarung erlebt werden? – »Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele« Die entscheidende Frage die sich nunmehr aber stellt, ist die, wie dieses Offenbarungswunder erfahren werden kann, ein Wunder das nach den bisherigen Erörterungen dadurch zum Wunder wird, dass es in der Schöpfung »geweissagt« ist und sich dann beim Menschen ereignet. Es muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass mit »Offenbarung« hier zunächst nicht die sinaitische Toraoffenbarung, auch nicht die der Christenheit geschehene Christusoffenbarung gemeint sind. Offenbarung ist, wie schon das zuletzt angeführte Zitat andeutet, zunächst ein höchst individuelles Geschehen,124 das jederzeit und jedem Menschen wider121
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 640–646.
122
Stern der Erlösung, S. 117.
123
Stern der Erlösung, S. 117–118.
124
Vgl. Mosès, System und Offenbarung, S. 87; u. vgl. R. Schaeffler, B. Kasper (sic. statt Casper), S. Talmon, Y. Amir, Offenbarung im Denken Franz Rosenzweigs, Essen 1979, insbesondere den Beitrag von B. Casper.
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fahren kann – erst hernach kann dies auch auf »Völkerindividuen« wie das Judentum übertragen werden und somit die Kollektivoffenbarung wie am Sinai einschließen. Entscheidend bleibt aber das subjektive Erleben: »Die Bibel und das Herz sagen das Gleiche (und nur deshalb) ist die Bibel ›Offenbarung‹«.125 Die Offenbarung kann nicht Offenbarung sein, wenn sie ein weit zurückliegendes Ereignis war. Offenbarung muss Gegenwart sein. Der Mensch wird in der Offenbarung direkt als Du von einem anderen Ich angesprochen. War der Mensch in der »Vorwelt« für Rosenzweig ein in sich verschlossenes einsames Wesen, das alleinseiende Wesen in der Stunde des Todes, oder der tragische Mensch der klassischen griechischen Tragödie, wird er durch das Ereignis der Offenbarung zu einem sprechenden Ich, zu einer sprechenden Seele erweckt. Also Offenbarung findet nur in einem solch ganz persönlichen individuellen Ereignis statt: »das was wir hier suchen, muß ein solches sein, das ganz wesentlich Offenbarung ist und nichts weiter; das heißt aber: es darf nichts sein als das Sichauftun eines Verschlossenen, nichts als die Selbstverneinung eines bloßen stummen Wesens durch ein lautes Wort, einer still ruhenden Immerwährendheit durch einen bewegten Augenblick. Im Aufleuchten eines solchen Augen-blicks wohnt die Kraft, das geschaffene Sein, das von diesem Aufleuchten getroffen wird, aus dem geschaffenen ›Ding‹ umzufärben in ein Zeugnis eines geschehenen Offenbarens. […] Erst so, nicht mehr Zeugnis einer überhaupt geschehenen, sondern Äußerung einer im Augenblick ›soeben‹
125
Rosenzweig, Gesammelte Schriften 1, 2, S. 708–709, Brief an Benno Jacob vom 27.5.1921; u. B. Casper, Religion der Erfahrung. Einführungen in das Denken Franz Rosenzweigs, Paderborn et. al. 2004, S. 127. B. Casper sagt dazu S. 127: »Wir werden also unterscheiden dürfen zwischen 1. dem Sprachgeschehen als dem eigentlichen und umfassenden Ernstfall geschehender Geschichte, das an sich schon als Offenbarung verstanden werden kann und 2. dem vieldimensionalen Sprachgeschehen der Bibel und ihrer Überlieferung, in welcher sich für die aufgrund dieses Sprachgeschehens Glaubenden ausdrücklich Offenbarung zuträgt. 3. Von dieser ausdrücklichen biblischen Offenbarung her aber wird deutlich, daß Sein als schon vorliegendes in seiner Beständigkeit als Schöpfung geglaubt werden darf. Insofern kann Rosenzweig dann Schöpfung als ›erste Offenbarung‹ von ›einer zweiten‹ Offenbarung, einer Offenbarung, die nichts weiter ist als Offenbarung, einer Offenbarung im engeren, nein im engsten Sinn‹ unterscheiden. Von dieser Offenbarung im engsten Sinne her kann dann aber Welt als im Handeln des Menschen zu formende und derart auf Erlösung harrende, den Menschen auf einen Weg zur Erlösung hin herausfordernde Welt verstanden werden.«, nach Stern der Erlösung, S. 179.
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geschehenden Offenbarung, tritt das Ding aus seiner wesenhaften Vergangenheit in seine lebendige Gegenwart.«126 Der Offenbarungsvorgang lässt die bisherige Welt wie das eigene Selbstverständnis als etwas Neues erscheinen. Offenbarung muss ganz gegenwärtig sein und die »Welt« unmittelbar verändern: »Die Offenbarung ist gegenwärtig, ja ist das Gegenwärtigsein selber. Die Vergangenheit, in die auch sie zurücksieht in dem Augenblick, wo sie ihrer Gegenwärtigkeit die Form der Aussage geben möchte, wird ihr nur sichtbar, indem sie mit dem Licht der Gegenwart in sie hineinleuchtet; erst in diesem Blick rückwärts erweist sich die Vergangenheit als Grund und Voraussage des gegenwärtigen, im Ich behausten Erlebens. An sich und zunächst aber ist dem Erlebnis überhaupt nicht die Form der Aussage eigen wie dem Geschehen der Schöpfung, sondern seine Gegenwärtigkeit wird befriedigt durch die Form des unmittelbar in einem entspringenden, gesprochenen, vernommenen und vollzogenen Gebots: der Imperativ gehört zur Offenbarung wie der Indikativ zur Schöpfung; nur er verläßt nicht den Kreis des Ich und Du. Was in jenem allumfassenden einsamen, monologischen ›lasset uns‹ Gottes bei der Schöpfung des Menschen vorausklang, das geht im Ich und Du des Offenbarungsimperativs in Erfüllung. Das Er-sie-es der dritten Person ist verklungen. Es war nur der Grund und Boden, aus dem das Ich und Du hervorwuchs. Dem Erleben, nicht mehr dem Geschehen dient jetzt das Verb zum Ausdruck.«127 In diesem theologisch dicht gepackten Abschnitt ist eigentlich Rosenzweigs gesamte Theologie enthalten. Das aus der Vorwelt-Sicht stammende »lasset uns einen Menschen machen« der biblischen Schöpfungsgeschichte bezeugt den schon in der Gottheit vorpräfigurierten Dualismus von »Ich« und »Du«, der aber erst in der Offenbarung aus der »Ursprache« in die lebendige Sprache transformiert wird.128 Erst jetzt wird aus der Gottesrede, die zunächst ein innergöttlicher das
126
Stern der Erlösung, S. 179–180.
127
Stern der Erlösung, S. 207.
128
An andrer Stelle sagt Rosenzweig dazu: »Dem Ich ant-wortet in Gottes Innerem ein Du. Es ist der Doppelklang von Ich und Du in dem Selbstgespräch Gottes bei der Schöpfung des Menschen. Aber so wenig wie das Du ein echtes Du ist, denn es bleibt noch in Gottes Innerem, so wenig ist das Ich schon echtes Ich; denn es ist ihm noch kein Du gegenübergetreten; erst indem das Ich das Du als etwas außer sich anerkennt, also erst indem es vom Selbstgespräch zum echten Dialog übergeht, wird es zu jenem Ich, das wir soeben als das lautgewordene Urnein beanspruchten.«, Stern der Erlösung, S. 194–195.
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Weltsein präfigurierender »Dialog« war, ein nach außen gesprochener Imperativ, der den Menschen packt und anspricht. In dieser Formel hat Rosenzweig mit einem Streich die höchst persönliche Offenbarung eines gänzlich gegenwärtigen dialogischen Offenbarungsgeschehens zwischen einem Ich und einem Du mit der traditionellen Sicht der sinaitischen Offenbarung verbunden. Auch diese in der Vergangenheit liegende »Offenbarung« wird nur wirkliche Offenbarung, wo sie zu einem präsentischen Ereignis wird, wo das biblische Gebot dem Menschen nicht als ein Zuruf aus der Vergangenheit erscheint, sondern als die Anrede eines gegenwärtigen Du. Diese solchermaßen in der Gegenwart geschehende Offenbarung ist nun wahrhaft das »Offenbarungs-Wunder«, das Rosenzweig fordert, denn die Verheißung dieses Wunders geschah ja schon in der Schöpfung im innergöttlichen Dialog. Nun kann auch gesagt werden, dass die Schöpfung das erste Hervortreten des verborgenen Gottes war, die erste Offenbarung, die aber alleine durch die zweite, die wirkliche Offenbarung als solche verstanden und erfahren werden kann. »So verlangt die erste Offenbarung in der Schöpfung, grade um ihres Offenbarungscharakters willen, das Hervorbrechen einer ›zweiten‹ Offenbarung, einer Offenbarung, die nichts weiter ist als Offenbarung, einer Offenbarung im engeren, nein im engsten Sinn.«129 Rosenzweig geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur die Welt wird durch die Offenbarung zur Schöpfung, auch der Gott der Vorwelt, der verborgene Gott gewinnt durch das Offenbarungserlebnis erst wahrhaft Sein. Rosenzweig lehnt sich dabei an das alte rabbinische Diktum aus der Pesikta de Rav Kahana, das er offenbar nur aus einer späteren kabbalistischen Quelle kennt: »Ihr seid meine Zeugen, Spruch von JHWH, ich bin Gott, und wenn ihr nicht meine Zeugen seid, dann bin ich gleichsam nicht JHWH.«130 An dieses Diktum konnte Rosenzweig tatsächlich seine Vorstellung von der Differenz von vorweltlichem Gott und dem Gott der Offenbarung anlehnen, El (Gott) als der elementare Gott des vorweltlichen Denkens, und JHWH als der persönliche Gott der Offenbarung, der am Sinai sich selbst als »Ich bin JHWH dein Gott (Elohim)« (Ex 20,1) vorstellt, weshalb Rosenzweig ja auch von Ich als dem »Stammwort« der Offenbarung spricht.131 Der Glaube des Menschen, der hier nun, anders als in der Vorwelt, nicht mehr nur das Wahrnehmen des Gegebenen bedeutet, wird nun als Antwort auf die Offenbarung verstanden. Und in dieser Antwort bezeugt der Mensch Gott und verschafft ihm dadurch das Sein des offenbarten Gottes: »Der Glaube der Seele bezeugt in seiner Treue die Liebe Gottes und gibt ihr dauerndes Sein. Wenn ihr mich bezeugt, so bin ich Gott, und sonst nicht – so 129
Vgl. Stern der Erlösung, S. 179.
130
Pesikta de Rav Kahana, XII, 6, ed. Mandelbaum, New York 1972, Bd. 1, S. 208.
131
Stern der Erlösung, S. 193. 198.
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läßt ein Meister der Kabbalah den Gott der Liebe sprechen. Der Liebende, der sich in der Liebe preisgibt, wird in der Treue der Geliebten aufs neue geschaffen und nun auf immer.«132 »Indem die Seele vor Gottes Antlitz bekennt und damit Gottes Sein bekennt und bezeugt, gewinnt auch Gott, der offenbare Gott, erst Sein: ›wenn ihr mich bekennt, so bin ich.‹ Was antwortet nun Gott diesem ihn bekennenden ›Ich bin dein‹ der geliebten Seele? Nun, nachdem Gott innerhalb und auf Grund der Offenbarung Sein gewonnen hat, ein Sein also, das er nur als offenbarer Gott gewann, ganz unabhängig von allem Sein im Geheimen: nun kann er sich auch seinerseits zu erkennen geben, ohne Gefahr für die Unmittelbarkeit und reine Gegenwärtigkeit des Erlebens. Denn das Sein, das er jetzt zu erkennen gibt, ist kein Sein mehr jenseits des Erlebens, kein Sein im Verborgenen, sondern es ist ganz in diesem Erleben großgewachsen, es ist ganz im Offenbaren.«133 Die Offenbarung Gottes begegnet dem Menschen als Geliebtsein durch Gott und seine glaubende Antwort ist die Liebe zum Nächsten. Die Offenbarung selbst ist die Liebe Gottes zum Menschen.134 Die Offenbarung ist ein je gegenwärtiges Erlebnis zwischen einem Ich und einem Du, das aus der Welt eine Schöpfung und aus dem verborgenen Gott der Vorwelt, ein lebendiges Gegenüber und aus dem stummen Menschen eine sprechende und antwortende Seele macht. Die Welt der »Vorwelt«, also dieses dem Menschen gegenübertretende Etwas der Welt, wird ihm erst durch die Offenbarung zur »Schöpfung«. Die Welt als Schöpfung zu erkennen, ist demnach nicht eine wissenschaftliche Erkenntnis im Stile des Vorwelt-Wissens, sondern eine Erkenntnis dank der Offenbarung: »die vergangene Schöpfung wird von der lebendig gegenwärtigen Offenbarung aus bewiesen. Bewiesen, nämlich gewiesen. Im Lichtschein des erlebten Offenbarungswunders wird eine dieses Wunder vorbereitende Vergangenheit sichtbar; die Schöpfung, die in der Offenbarung sichtbar wird, ist die Schöpfung der Offenbarung.«135 Der oben angeführte Text von der Gegenwärtigkeit der Offenbarung136 deutet schließlich noch auf einen weiteren zentralen Gedanken Rosenzweigs, nämlich auf die Bedeutung der Sprache als dem Offenbarungsmedium schlechthin. Offenbarung ereignet sich danach stets als sprachliches Geschehen zwischen einem Ich und einem Du und insofern wird dies auch an der Grammatik der Sprache
132
Stern der Erlösung, S. 191.
133
Stern der Erlösung, S. 203.
134
Vgl. E. Lévinas, Zwischen zwei Welten in: Zeitgewinn, S. 47.
135
Stern der Erlösung, S. 203.
136
Stern der Erlösung, S. 207.
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sichtbar, aus dem Indikativ wird ein Imperativ, oder auch, wie Rosenzweig dies an andrer Stelle sagt, aus Vergangenheit wird Gegenwart.137
2.9.2 Offenbarung als Dialog Ein Letztes muss hier erörtert werden. Durch die Offenbarung wird die Seele, das heißt der einzelne Mensch zum Dialog mit dem Göttlichen erweckt.138 Hermann Cohen, der späte »Lehrer« von Franz Rosenzweig, hatte schon von seinem Begriff der Correlation aus den Gedanken entwickelt, dass das menschliche »Ich« nur im Gegenüber zu einem »Anderen« als eines »Du« konstituiert werden kann.139 Schon oben140 war es angeklungen, dass Rosenzweig die Offenbarung als ein Geschehen versteht, das sich in der totalen Gegenwart als das Angesprochenwerden des Menschen durch ein »Du« ereignet. Die Frage nach dem Du offenbart dem Menschen sein eigenes Ich: »Das Ich entdeckt sich in dem Augenblick, wo es das Dasein des Du durch die Frage nach dem Wo des Du behauptet.«141 Diese zunächst vorbehaltlos ganz anthropologisch formulierte Erkenntnis wird von Rosenzweig nun in durchaus anthropomorpher theologischer Sprechweise und unter Bezug auf die biblische Sündenfall-Mythologie auf Gott den Offenbarer übertragen. Nachdem Gott, so Rosenzweig, bei der Erschaffung des Menschen in einer Art innergöttlichem Dialog das »Lasset und einen Menschen machen« sprach, eine – nach Schellingschem Vorbild – innergöttliche Präfiguration142 der später weltlichen Wirklichkeit, da folgte in der Offenbarung die Wendung Gottes nach draußen auf der Suche nach einem wirklichen Du, nach einem menschlichen Gegenüber: »Wo aber ist ein solches selbständiges, dem verborgenen Gott frei gegenüberstehendes Du, an dem er sich als Ich entdecken könnte? Es gibt eine gegenständliche Welt, es gibt das verschlossene Selbst [des Menschen]; aber wo ist ein Du? Ja wo ist das Du? So fragt Gott auch. ›Wo bist Du?‹143 Es ist nichts als die Frage nach dem Du. Nicht etwa nach dem Wesen des Du; […] sondern zunächst nur nach dem Wo. Wo überhaupt gibt es ein Du?«144
137
Stern der Erlösung, S. 180.184.
138
Stern der Erlösung, S. 255.
139
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 644–645.
140
Zu Stern der Erlösung, S. 207.
141
Stern der Erlösung, S. 195.
142
Stern der Erlösung, S. 194. 207.
143
Gen3, 9: »Und Gott der Herr rief dem Menschen zu und sprach zu ihm: Wo bist du?«
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Mit dieser existentialistisch-dialogischen Neudeutung des biblischen Mythos erklärt Rosenzweig die Begegnung zwischen Mensch und Gott, die Gottesoffenbarung, als ein existential-dialogisches Geschehen. Die Offenbarung wird so zu einer Ansprache eines Ich an ein Du, und, wo von Gottes Offenbarung die Rede ist, von dem Aufruf des göttlichen Ich an das menschliche Du, da ist »das Ich des Sprechers, das Stammwort des ganzen Offenbarungsdialogs«.145 Zur Deutung des Offenbarungsereignisses als einer Ansprache zwischen einem Ich und einem Du gehört auch die Bedeutung, die Rosenzweig dem menschlichen Eigennamen zuschreibt. Denn das unverwechselbare Selbst eines Menschen ist sein Name, bei dem er gerufen wird. »Was einen eigenen Namen hat, kann nicht mehr Ding, nicht mehr jedermanns Sache sein.«146 Dieser Gedanke ist für Rosenzweig so zentral, dass er auch den Gattungsnamen des Ersten Menschen, »Adam«, als Eigennamen zu verstehen neigt, und die Namengebung der Tiere durch diesen Adam in Genesis 2, 19–20147 als Präfiguration und Notwendigkeit für den Besitz von Eigennamen versteht.148 Es wird schließlich ein Signum der Erlösung sein, dass »das Ich zum Er Du sagen lernt.«149
2.10 Die neue Sicht der drei Urelemente Gott, Welt und Mensch dank der Offenbarung 2.10.1 Das Sinnbild der Sprache Hatte die Sprachlogik des »Ja«, des »Nein« und des sie verbindenden »Und« die Stummheit der Vorwelterkenntnis zu einem ersten Stammeln gebracht, so entfaltet sich dank der Offenbarung in der zweiten »Weltstufe« die vorweltliche Sprachlogik, dieses Fragment oder Urelement des Sprachlichen, in die richtige lebendige Sprache, deren Wesenselement es ist, die Dinge in Beziehung zu setzen und zu zeigen. Die Sprache war seit Beginn der Schöpfung als Verheißung da und konnte deshalb in der Offenbarung als Wunder erfahren werden: »jene Sprache der Logik ist die Weissagung einer wirklichen Sprache der Grammatik;«150 »die Sprache, wie sie von Anfang an ganz da, ganz geschaffen ist, erwacht doch erst in der Offenbarung zur wirklichen Lebendigkeit. […] Sie erneu-
144
Stern der Erlösung, S. 195.
145
Stern der Erlösung, S. 198.193.
146
Stern der Erlösung, S. 208.
147
Stern der Erlösung, S. 208.
148
Stern der Erlösung, S. 208.
149
Stern der Erlösung, S. 305.
150
Stern der Erlösung, S. 121.
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ert die uralte Schöpfung zur immer neugeschaffenen Gegenwart, weil schon jene uralte Schöpfung selber nichts ist, als die versiegelte Weissagung, daß Gott Tag um Tag das Werk des Anfangs erneuert.«151 Die Sprache des Weltalters der Offenbarung ist es, die in ihrer Grammatik, mit ihren Sprachregeln, die Sprachlogik der »Urworte« der Vorwelt expliziert und hörbar macht. Rosenzweig ist der Auffassung, dass die Regeln der Grammatik – er denkt dabei auffällig in indogermanischen Sprach-Kategorien – die Wirklichkeit, beziehungsweise wohl treffender, die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch den Menschen offenbaren. Darum kann er sagen: »So aber gliedern sich die Formen der Grammatik auch in sich selbst wiederum nach Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, nachdem die Sprachformenlehre als wirklich Ganzes gegenüber dem Urgedanken der Sprache, der uns zum methodischen Organon der Schöpfung geworden war, zum Organon der Offenbarung wurde; die Offenbarung ist eben, weil sie im Wissen auf die Schöpfung gegründet, im Wollen auf die Erlösung gerichtet ist, zugleich Offenbarung der Schöpfung und Erlösung. Und die Sprache als ihr Organon ist zugleich der Faden, an dem sich alles Menschliche aufreiht, das unter den Wunderschein der Offenbarung und ihrer allzeit erneuten Gegenwärtigkeit des Erlebens tritt.«152 Die Entfaltung der Urworte der Vorwelt in die Sprache der Welt versucht Rosenzweig nun tatsächlich an den grammatikalischen Definitionen der Wörter und ihrer syntaktischen Einordnung dank der Kasusbildung, Wortformen, wie Adjektiven, Personal- und Demonstrationspronomina sowie Verben in Sätzen darzustellen. Die Sätze sind dabei das eigentlich wichtige, denn erst in ihnen treten die Wörter und damit die von ihnen bezeichneten Dinge in eine Beziehung und diese wahrzunehmen ist ja gerade die Hauptaufgabe des Offenbarungsgeschehens. In seiner Beschreibung dieses Entfaltungsprozesses werden die Urwörter zu Stammworten, die schließlich die Stammsätze bilden.153 Das Ziel dieser ganzen Operation war es, dem Weltbild der Vorwelt, das heißt dem systematisierenden, kategorisierenden und die Dinge separierenden eine komplementäre Weltsicht an die Seite zu stellen, durch die das Überschie-
151
Stern der Erlösung, S. 123. Die Vorstellung von der täglichen Erneuerung der Schöpfung durch Gott ist die im täglichen Morgengebet, dem Jozer-Gebet, ausgesprochene: »Gesegnet seist du JHWH, unser Gott, König der Welt, der das Licht bildet und die Finsternis schafft […] und in seiner Güte an jedem Tage stets das Schöpfungswerk erneuert.«, Siddur Sefat ʼEmet, S. 33.
152
Stern der Erlösung, S. 123, Hervorhebungen von KEG.
153
Stern der Erlösung, S. 140–145.
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ßende, das »Meta-« des metalogischen Weltbildes expliziert wird.154 Neben den »idealistisch-philosophischen« Begriff des Seins, das ein denkerischer Begriff jenseits der konkreten Dinge war, tritt nun – mit Schelling – der Begriff des »Daseins«. Dieser »sichert in der Gegenständlichkeit zugleich die Wahrheit der Welt und erhält das elementare, das metalogische Weltbild in Geltung. Die Welt ist kein Schatten, kein Traum, kein Gemälde; ihr Sein ist Dasein, wirkliches Dasein – geschaffene Schöpfung. Die Welt ist ganz gegenständlich, alles Tun in ihr, alles ›Machen‹, ist, da es in ihr ist, Geschehen; […] Die Welt besteht aus Dingen, sie ist trotz der Einheit ihrer Gegenständlichkeit kein einiger Gegenstand, sondern eine Vielheit von Gegenständen, eben Dinge. […] Das Ding hat auch als bestimmtes kein eigenes Wesen, es ist nicht in sich, es ist nur in seinen Beziehungen. Sein Wesen, das es hat, ist nicht in ihm, sondern ist die Beziehung.«155 Und es ist diese Beziehung, die sich in der Sprache der Menschen abbildet und ausdrückt.
2.11 »Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge« Die Verschiebung der Sichtweisen auf die Welt, von der Sichtweise des »Idealismus« zu jener der Offenbarung ist das Entscheidende des zweiten epistemischen Zeitalters: »Während also der Idealismus in dem Gefühl, hier, ›an Ort und Stelle‹ gewissermaßen, das Welträtsel lösen zu müssen, weil er außerhalb der Welt und des Wissens nichts gelten lassen darf, die Elemente Welt und Wissen, Subjekt und Objekt, um jeden Preis in vernunftmäßige Beziehung setzen muß, und deshalb an den mathematischen Symbolen festzuhalten genötigt ist, sind wir von den Symbolen hier frei. Wir können den Schöpfungsbegriff ruhig als einen Anfang des Wissens gelten lassen, ohne schon in ihm alles zum Abschluß zu bringen. Wir stellen ihn in den größeren Zusammenhang der Offenbarung. So braucht er sich nicht in die Rationalität mathematischer Symbole fassen zu lassen; er ist darüber hinaus; die Symbolik, die seinen Inhalt
154
Vgl. Stern der Erlösung, S. 147.
155
Stern der Erlösung, S. 147.
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verdeutlicht, lieferte uns der Aufbau der lebendigen Sprache, die Grammatik.«156 Der neue Blick auf die Welt ist kein Blick der separierenden und katalogisierenden Wissenschaft, es ist ein anderer Blick auf dieselbe Welt, die aber mit diesem anderen Blick, mit dem Blick der grammatikalischen Symbolik in einem anderen Licht erscheint. Die Beziehung der Wörter in der Sprache ist Zeichen für die Beziehung der Urelemente und ihrer Untergliederungen zwischen einander. Die in der Vorweltsicht als »gestaltete Welt« sichtbar gewordene separierte Welt erscheint nunmehr als Geschöpf, in ihrer »Kreatürlichkeit«. Dies ist ein »Kreaturbewußtsein«, das »Bewußtsein des Geschaffenwerdens, nicht des Geschaffenwordenseins.«157 Die Welt wird in diesem neuen Licht nicht als ein für allemale Fertiges wahrgenommen, sondern in dem schon genannten Sinn der creatio continua, der sich allezeit erneuernden Welt, als eine Welt in steter lebendiger Beziehung zum Schöpfer. Und dies bedeutet, in der überkommenen theologischen Sprache, man glaubt an eine »göttliche Vorsehung«.158 Aus dieser Sicht auf die Welt folgt zugleich, dass mit der als Vergangenheit formulierten Schöpfungsaussage nicht alles über die Welt gesagt ist. Mit anderen Worten, der aus der Offenbarung gewonnene Satz »Gott schuf die Welt«, ist nur eine Wahrheit hinsichtlich »der Beziehung zwischen Gott und Welt; nur für sie gilt die Vergangenheitsform, das Einfürallemal, des Satzes; dagegen von der Welt allein braucht das Geschaffenwerden noch nicht mit der einfürallemale getanen Schöpfertat zu Ende zu sein.«159 Denn die Welt ist außer ihrem einmal geschaffen worden sein mehr, »die Schöpfung der Welt braucht ihr Ende erst zu finden in der Erlösung«.160 Die Erschaffung der Welt geht hinsichtlich der Welt weiter und kommt erst in der Erlösung zum Abschluss. Das heißt, erst wenn Schöpfung im Lichte der Offenbarung und im Blick auf die anzustrebende Erlösung wahrgenommen wird, ist der Begriff »Schöpfung« in seiner Fülle wahrgenommen. Als eine im Tempus des Perfekts gemachte Aussage ist sie hinsichtlich der Welt unzureichend. Darum: »Wer von der Stimme der Offenbarung noch nicht erreicht ist, hat kein Recht, den Gedanken der Schöpfung, als wäre er eine wissenschaftliche Hypothese, anzunehmen.«161
156
Stern der Erlösung, S. 154–155.
157
Stern der Erlösung, S. 133.
158
Stern der Erlösung, S. 133.
159
Stern der Erlösung, S. 132.
160
Stern der Erlösung, S. 132.
161
Stern der Erlösung, S. 149.
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Die Schöpfungsaussage lässt sich folglich nicht durch das Vorhandensein der Welt beweisen. Ebensowenig wie sich das Schöpfertum eines Gottes, ja Gott als Schöpfer selbst, durch die Welt beweisen lässt. »Der Schöpfer muß selbst bewiesen, nämlich in seiner Gänze ge-wiesen werden«, also kein Be-weis, sondern ein Hin-weis. »Die Schöpfung ist die Weissagung, die erst durch das Wunderzeichen der Offenbarung bestätigt wird. Es ist nicht möglich, die Schöpfung deswegen zu glauben, weil sie eine zureichende Erklärung des Welträtsels bietet.«162 Die Wahrheit von Schöpfer und Geschöpf muss wie alle diese »Glaubenswahrheiten«, durch das je eigene menschliche Leben bewährt werden.
2.12 »Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs« Der zweite Teil des Stern der Erlösung der die drei Themen, Schöpfung, Offenbarung, Erlösung verhandelt, will die Folgen der Offenbarung für das neue Verstehen des Seienden darlegen. Er will zeigen, dass die drei Grundelemente in Beziehung miteinander stehen, wie dies schon im Symbol des jüdischen »Sterns« sichtbar gemacht wird. Die Gottheit tritt zur Welt als Schöpfer in Beziehung, zum Menschen als Offenbarer und der Mensch zu Gott und Welt als Erlöser oder zumindest Teilhaber am Erlösungswerk. Die Offenbarung eröffnet und bestimmt die Sicht auf die Welt wie auf die zu erwartende Erlösung: »Wie die Schöpfung uns in diesem [zweiten] Teil [des Sterns der Erlösung] nicht mehr Vor-welt war, sondern Inhalt der Offenbarung, so war auch die Erlösung noch nicht Über-welt, sondern wir nahmen sie gleichfalls nur als Offenbarungsinhalt. So wie die Schöpfung als Inhalt der Offenbarung uns aus einer Welt zu einem Geschehen, einem Schon-geschehen-sein wurde, so die Erlösung ebenfalls aus einer Überwelt zu einem Geschehen, einem Nochgeschehen-werden. Die Offenbarung sammelt so alles in ihre Gegenwärtigkeit hinein, sie weiß nicht bloß von sich selbst, nein: es ist ›alles in ihr‹.163 Sie selber ist sich unmittelbar gegenwärtiger lyrischer Monolog zwischen Zweien. Die Schöpfung wird in ihrem Mund Erzählung. Und die Erlösung? Nicht etwa Weissagung. Die Weissagung ist das Band, das diese ganze Mit- und Umwelt des Wunders, als die wir die Offenbarung ansprachen und zu der auch Schöpfung und Erlösung als wunderbare Inhalte der Offenbarung gehörten, in ihrer lebendigen Tatsächlichkeit mit Vor- und Unterwelt der stumpfen, stückwerklichen Tatsächlichkeit verknüpft. Auch die Erlösung ist,
162
Stern der Erlösung, S. 149.
163
Rosenzweig nimmt hier die altrabbinische Ansicht auf, nach welcher in der Tora alles enthalten ist, was der Mensch wissen muss; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 24. 227. 364–365.
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insofern sie ein notwendiger Inhalt der Offenbarung ist, mit der Vor-welt der Schöpfung verbunden, als Deutung der in dieser Vorwelt verborgenen Zeichen; hebt doch die Erlösung nur in den Anblick alles Lebendigen, was in der eigentlichen Offenbarung als unsichtbares Erlebnis in der eigenen Seele vorgegangen war.«164 Diese Darlegungen der neuen Sicht von der Verflochtenheit der ursprünglich getrennten Grund-Elemente, Gott, Welt und Mensch, welche sich deutlich an Schellings Eröffnungsworte der »Weltalter« anlehnt, sich aber bezüglich der Zukunft abgrenzt wie unten noch deutlich werden wird, erscheinen in diesem Mittelteil des Stern in einer fast universalistischen Diktion. Das heißt, Rosenzweigs Beschreibungen haben nichts eigentlich spezifisch Jüdisches, auch wenn er dabei das Hohelied und die Halleluja-Psalmen der Bibel auslegt und auf andere jüdische Reminiszenzen anspielt. Dies betrifft vor allem die Aussagen zur Offenbarung, die unter Beiseitelassung der traditionellen Sinaioffenbarung die Offenbarung als einen existentialistischen fast binnenmenschlichen Dialog zwischen dem Göttlichen und der Einzelseele darstellt und ebenso das hier Folgende zum Thema Erlösung. Auch hinsichtlich der Erlösung findet der Leser eine Darstellung der Beziehung von Mensch, Gott und Welt, die allgemeinmenschlich-individuell erscheint. Die religionsspezifische Verengung auf das Judentum und die christliche Religion erfolgt sodann erst im dritten Teil des Sterns, der ihm erst seinen sehr zeitbedingten deutsch-jüdischen Charakter verleiht. Also auch die Erlösung wird dank der Offenbarungseinsicht in ganz individualistisch-universalen Kategorien dargestellt. Die Erlösung, von der Rosenzweig in diesem Teil seines Stern spricht, ist also nicht die Erwartung eines Messias, oder eines messianischen Reiches, wiewohl er den Begriff des »Reiches« aus den deutschen Versionen des Vaterunsers und des Kaddisch-Gebetes165 verwendet. Aber Rosenzweig gibt dem Begriff des Reiches eine durchgehend individualistische und innerweltlich-präsentische Deutung. Der Inhalt dieser Erlösung ist das Gestaltwerden der individuellen Seele, die zunächst nach der Ansprache im Dialog der Offenbarung bedroht war, in der Liebe der Gottesgegenwart in einer unio mystica aufzugehen: »Diese Gestaltwerdung der gestaltlos in der göttlichen Liebe vergehenden geliebten Seele aber setzt voraus, daß zu ihrer bloßen Ausgebreitetheit vor Gott, in der sie zu verfließen droht, etwas andres hinzutrete, was sie wieder zusammenreißt. Und zwar muß es eine Kraft sein, die fähig ist, in jedem Augenblick die ganze hingegebene Seele ganz zu ergreifen; und in jedem Au164
Stern der Erlösung, S. 278.
165
Siehe oben, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. I, Nr. 2.3.1, Die Struktur.
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genblick, so daß die Seele keinen Raum mehr hat, um zu ›vergehen‹, keine Zeit mehr, um ›andächtig zu schwärmen‹. Eine neue Kraft also muß aus der Tiefe der Seele selber hervorsteigen, um ihr in der Inbrunst des Heiligen ihre Festigkeit und Gestalt zu geben, die sie in der mystischen Brunst einzubüßen drohte. Solch Hervorsteigen aber geschieht nur, indem der Zeiger der Weltuhr weiterrückt, wie vorhin bei der Gestaltwerdung Gottes von der Schöpfung zur Offenbarung, so jetzt bei der Gestaltwerdung der Seele von der Offenbarung zur Erlösung.«166 Die Kraft, nach der hier gesucht wird, ist nicht das persönliche Selbst, welches schon das in sich verschlossene Selbst des tragischen Helden der Antike besaß, es ist auch nicht die Persönlichkeit, die Rosenzweig als Geburtsanlage betrachtet,167 sondern es ist diejenige Kraft, die Rosenzweig als »Charakter« bezeichnet. Der Charakter ist demnach etwas, das den Menschen irgendwann in seinem Leben überfällt, frühestens in der Erotik der Pubertät,168 was seinem Leben »Richtung« gibt.169 Gemeint ist damit eine Willensrichtung die offen für Veränderung und Neues ist. Auch dieser Charakter hat für Rosenzweig eine klare Benennung, es ist die altbiblische und dann auch neutestamentliche170 Forderung der »Liebe zum Nächsten«. »Die Liebe zum Nächsten ist das, was jene bloße Hingegebenheit [in die Liebe zu Gott] in jedem Augenblick überwindet und dennoch stets voraussetzt.«171 Aus dieser Liebe zum Nächsten, der stets und je Irgendeiner ist, der jeweils einem gerade Begegnende,172 fließt die »Tat der Liebe« die das Signum des »kommenden Reiches« ist.173 Dieses Kommen des Reiches, geschieht täglich, es besitzt eine stets präsentische Zukunft. Rosenzweig betont es unter Aufnahme eines Jesuswortes174 »daß das Reich ›mitten unter euch‹ ist, daß es ›heute‹ kommt«.175 Die Zukunft dieses Reiches ist nur dann wirklich gegeben, wenn diese Zukunft stets vorweggenommen werden kann, wenn jeder Augenblick als der letzte begriffen wird,176 und dies geschieht vor allem in der stets spontanen Tat
166
Stern der Erlösung, S. 236.
167
Stern der Erlösung, S. 237. 74. 77. 441.
168
Stern der Erlösung, S. 77. 75. 78. 237. 436.
169
Stern der Erlösung, S. 237–238.
170
Levitikus 19, 18; Mk 12, 31; Mt 22, 39.
171
Stern der Erlösung, S. 238.
172
Stern der Erlösung, S. 243. 262. 263. 281.
173
Stern der Erlösung, S. 254.
174
Stern der Erlösung, S. 253, Lk 17, 21.
175
Stern der Erlösung, S. 253.
176
Stern der Erlösung, S. 252. 253.
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der Liebe. Durch die Liebestat der Menschen wird diese Welt »beseelt«,177 durch sie wächst das Reich, gewinnt Leben: »Von zwei Seiten also wird an das verschlossene Tor der Zukunft gepocht. In dunklem, aller Rechnung entzogenem Wachstum drängt das Leben der Welt heran; in heißem Herzensüberfluß sucht die sich heiligende Seele den Weg zum Nächsten. Beide, Welt wie Seele, pochen an das verschlossene Tor, jene wachsend, diese wirkend. Auch alles Wirken geht ja in die Zukunft, und der Nächste, den die Seele sucht, ist ihr immer bevor-stehend und wird nur in dem gerade augenblicklich vor ihm stehenden vorweg-genommen. Wachsen wie Wirken werden durch solche Vorwegnahme ewig. Was aber ists, was sie vorwegnehmen? Nichts andres als – einander. Das in Tat und Bewußtsein ganz dem augenblicklich Nächsten zugewandte Wirken der Seele nimmt bei diesem Wirken doch im Wollen alle Welt vorweg. Und das Wachsen des Reichs in der Welt, wenn es hoffend das Ende schon für den nächsten Augenblick vorwegnimmt – auf was wohl wartet es für diesen nächsten Augenblick, wenn nicht auf die Tat der Liebe?«178 Die präsentische Bedeutung des »kommenden Reiches« zeigt sich auch da, wo Rosenzweig von der »Lebendigkeit« der Welt spricht, zu der sie von allem Anfang an bestimmt war und die stets im Zunehmen sein soll, die Welt war nicht fertig erschaffen, sondern sie soll erst wachsend fertig werden: »Oder, um von dem Anteil der Welt allein zu sprechen, auf den das Fertigwerden gelegt ist – denn das Dasein hat sich nur allzeit zu erneuern, nicht fertig zu werden -: das Reich, die Verlebendigung des Daseins, kommt von Anfang an, es ist immer im Kommen. […] Es ist immer zukünftig – aber zukünftig ist es immer. Es ist immer ebenso schon da wie zukünftig. […] Es kommt ewig. […] Ewigkeit ist eine Zukunft, die, ohne aufzuhören Zukunft zu sein, dennoch gegenwärtig ist.«179 Das Reich ist eine Menschenwelt der Liebestat, in welcher die Bedürfnisse des Einzelnen vor dem gemeinsamen Wir zurücktreten. Rosenzweig sieht ein sprachliches Symbol für diese Situation im gemeinsamen Lobgesang von Menschen und im gemeinsamen Gebet, in welchem der Einzelne das Kommen des Reiches vorwegnimmt180: 177
Stern der Erlösung, S. 267.
178
Stern der Erlösung, S. 254.
179
Stern der Erlösung, S. 250.
180
Stern der Erlösung, S. 261.
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»Aber das Reich, nach dessen Kommen alles Gebet, auch das Stoßgebet des Einzelnen, unbewußt schreit, […] kommt nicht in der Offenbarung. […] Jetzt ist die Erfüllung unmittelbar da; in der im Dank geschehenen Vereinigung der Seele mit aller Welt ist das Reich Gottes, das ja eben nichts ist als die wechselweise Vereinigung der Seele mit aller Welt, gekommen und alles jemals mögliche Gebet erfüllt. […] der gemeinsame Dank ist schon die Erfüllung alles dessen, worum gemeinsam gebetet werden kann, und das Kommen dessen, um wessentwillen allein alle einzelnen Bitten mit der zwingenden Macht der Gemeinsamkeit sich vor das Angesicht Gottes wagen dürfen: nämlich des Reichs.«181 Der Mensch hat nach alledem entscheidenden Einfluss, ja zentrale Bedeutung für die Herbeiführung des Reiches, der Erlösung. Mit diesem Gedanken nimmt Rosenzweig eine in der lurianischen Kabbala zentrale Vorstellung vom Prozess der Erlösung auf. Nach der lurianischen Kabbala sind es die Menschen, die durch ihr Tun und Handeln den Prozess des Tikkun, die Wiederherstellung oder Vollendung der Welt herbeiführen, eine Vorstellung die Rosenzweig trotz seiner begrenzten Kenntnis der Kabbala dennoch bekannt gewesen sein konnte.182 Mit diesem Gedanken verbunden war in der lurianischen Kabbala auch jener andere, dass nämlich in diesem Prozess der Wiederherstellung der Welt durch den Menschen auch die Gottheit miterlöst wird. Denn nach dieser kabbalistischen Vorstellung ist die Welt letztlich nichts anderes als eine modale Verzweigung der
181
Stern der Erlösung, S. 260.
182
In der sogenannten Urzelle des Sterns der Erlösung (Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18.11.1917) führt Rosenzweigs eigens die lurianische Kabbala an; Gesammelte Schriften, 3 (Zweistromland), S. 128; und vgl. Stern der Erlösung, wo Rosenzweig in einer Verbindung von soharischen und lurianischen Gedanken sagt: » […] der jüdische Mensch erfüllt die unendlichen Bräuche und Vorschriften ›zur Einigung des heiligen Gottes und seiner Schechina‹. Mit dieser Formel bereitet er ›in Ehrfurcht und Liebe‹ sein Herz, er der Einzelne, der Rest, ›im Namen ganz Israels‹, das Gebot, das ihm gerade obliegt, zu erfüllen. Die in zahllosen Funken in alle Welt zerstreute Gottesherrlichkeit, er wird sie aus der Zerstreuung sammeln und zu dem seiner Herrlichkeit Entkleideten dereinst wieder heimführen. Jede seiner Taten, jede Erfüllung eines Gesetzes vollbringt ein Stück dieser Einigung. Gottes Einheit bekennen – der Jude nennt es: Gott einigen. Denn diese Einheit, sie ist indem sie wird, sie ist Werden zur Einheit. Und dies Werden ist auf die Seele und in die Hände des Menschen gelegt. Der jüdische Mensch und jüdisches Gesetz – zwischen beiden spielt sich da nichts weniger ab als der gott-, weltund menschumfassende Vorgang der Erlösung.«, Stern der Erlösung, S. 456; u. K.E. Grözinger, In Rosenzweigs Seele – die Kabbala, in: Messianismus zwischen Mythos und Macht, Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, Hrsg. E. Goodman-Thau & W. Schmied-Kowarzik, Berlin 1994, S. 127–139.
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Gottheit selbst.183 Mit der Vollendung des Tikkun wird nach dieser Lehre Gott alles in allem sein, eine Vollendung seiner Verzweigung in die Welt hinaus. Ganz ähnlich sieht dies Rosenzweig, für den die Erlösung Gottes Tat durch das Werkzeug des Menschen ist. Der Mensch führt für Gott den Erlösungsprozess durch und führt damit zu einer Erlösung auch Gottes, die so auch zu einer Selbsterlösung Gottes wird: »Die Erlösung hat also zu ihrem letzten Ergebnis etwas, was sie über den Vergleich mit Schöpfung und Offenbarung hinaushebt, nämlich Gott selbst. Er ist […] Erlöser in viel schwererem Sinn als er Schöpfer und Offenbarer ist; denn er ist es nicht bloß, der erlöst, sondern der erlöst wird. Gott erlöst in der Erlösung, der Welt durch den Menschen, des Menschen an der Welt, sich selber. Mensch und Welt verschwinden in der Erlösung, Gott aber vollendet sich. Gott wird erst in der Erlösung das, was der Leichtsinn menschlichen Denkens von je überall gesucht, […]: All und Eines.«184
2.13 Die Gestalt oder die ewige Überwelt Während Franz Rosenzweig im Ersten Teil des Stern die drei Erkenntnisziele der Wissenschaft, Gott, Welt und Mensch beschrieben hat, hatte er im zweiten Teil deren theologische Sichtweise, von der Offenbarung erleuchtete, vor Augen geführt. Damit sind die theoretischen Grundlagen für den dritten Teil des Stern gelegt. Dieser Teil stellt die Frage, wer und wie in der Geschichte der »westlichen« Menschheit die in Teil zwei des Buches vorgestellte »Bahn« beschritten hat, um sie ihrem Ziel zuzuführen. Darum werden in diesem dritten Teil nun konkrete Gemeinschaften vorgeführt, welche die in Teil zwei sichtbar gewordenen Erkenntnisweisen errungen haben, die sie in der Bahn weiter voran zum letzten Weltalter bringen kann. Auch hier spricht Rosenzweig von der Erlangung von Erkenntnis und nicht von der Erlangung eines ontologisch neuen Zustandes, wiewohl, zugegebenermaßen, das epistemische Anliegen gerade in diesem Teil des Buches sehr häufig in eine ontologische Sprechweise hinüberzugleiten scheint. Rosenzweigs Benennung der Menschengemeinschaften, welche in Geschichte und Gegenwart die richtige Erkenntnis und das daraus folgende richtige Tun erlangten, beginnt nun, für einen jüdischen Autor verwunderlicherweise, mit dem Christentum,185 zunächst in seiner katholisch-petrinischen Gestalt, gefolgt
183
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 634–638; Bd. 3, S. 217.
184
Stern der Erlösung, S. 266.
185
Stern der Erlösung, S. 308 ff.
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von der protestantisch-paulinischen, sodann von dem halb freidenkerisch-freimaurerischen Ansatz eines »johanneischen« Christentums vom Schlage eines Johann Wolfgang Goethe, und schließlich der neu ins Bewusstsein des Westens getretenen russisch-orthodoxen Kirche. All dies sind Stufen der »heilsgeschichtlichen« Bahn zur Vollendung. Und zum großen Erstaunen folgt nun erst eine »kirchengeschichtliche Entwicklung«, die man eigentlich an ganz anderer Stelle erwartet hätte, nämlich das Auftreten des Judentums im Kreis der christlichen Kirchen: »Und auch das andre große kirchengeschichtliche Ereignis neben der Einreihung der Russen in den christlichen Kreis, die Befreiung und Aufnahme der Juden in die christliche Welt, wirkt sich gleichfalls nicht in einer neuen kirchlichen Bildung aus, sondern wieder in einer Neubelebung der alten Kirchen, und hier allerdings, aus dem ewigen, von Haus aus gotteskindlichen Volk der Hoffnung, strömt unmittelbar die Grundkraft der neuen vollendeten Welt, die Hoffnung, den in Liebe und Glaube mehr als in der Hoffnung geübten christlichen Völkern zu, und weil diesmal, statt daß der Christ einen Heiden bekehren müßte, der Christ unmittelbar sich selber, den Heiden in sich, bekehren muß, so ist es in dieser beginnenden Erfüllung der Zeiten wohl der in die christliche Welt aufgenommene Jude, der den Heiden im Christen bekehren muß. Denn nur im jüdischen Blute lebt blutmäßig die Hoffnung, deren die Liebe wohl gern vergißt, der Glaube entbehren zu können meint.«186 In diesen Zeilen verbirgt sich wohl das innerste Anliegen des Rosenzweigschen Buches. Es schreibt ein Autor, der von der Mission der Christentümer in einem Maße überzeugt ist, dass er kurz davor stand zu einem von ihnen überzutreten, der aber im buchstäblich letzten Augenblick vor diesem Schritt zurückschreckt, um sich der Rolle seines eigenen Judentums im Kreis dieser christlichen Kirchen zu besinnen. Und dies ist das Erstaunliche. Hat es seit dem Mittelalter, etwa bei Maimonides, immer wieder Stimmen gegeben, die dem Christentum immerhin zubilligten, die ursprüngliche Botschaft der jüdischen Tora in einer wie immer veränderten Form den Völkern der Welt zuzutragen,187 so wird hier bei Rosenzweig, aus einem fast zufälligen Nebeneffekt der jüdischen Zerstreuung eine heilsgeschichtliche Mission. Nach dieser Sicht waren es die Christen, welche die jüdische Mission, wenn auch in verwässerter Form, in die Heidenwelt hinaustrugen. Nach Rosenzweig erfüllen nun die christlichen Kirchen mit ihrer Heidenmission eine heilsgeschichtliche Aufgabe, die erst jüngst durch die Aufnahme 186
Stern der Erlösung, S. 317.
187
Mischne Tora, Melachim, 11, 8; so auch Salomon Formstecher, siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 574–577.
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des Judentums in diesen Kreis eine immerhin willkommene Neubelebung erfährt. Im weiteren Verlauf der Darlegung wird diese Verhältnisbestimmung sich als eine komplementäre heilsgeschichtlich notwendige Grundstruktur darstellen, die gleichsam ein entferntes Abbild des innergöttlichen Dualismus ist:188 Judentum und Christentum sind zwei unverzichtbare Faktoren im göttlich-weltlichen Heilsplan. Damit ist die alte jüdische Toleranzhaltung gegenüber dem Christentum, wie sie manche unten noch zu nennende mittelalterliche Stimmen vertraten, weit überboten und eine neue »Theologie der Religionen« eröffnet, welche auch aus der Sicht des Judentums die verschiedenen christlichen Denominationen nicht nur toleriert, sondern sie als dem göttlichen Heilsplan nötig und förderlich erachtet: »Vor Gott sind so die beiden, Jude und Christ, Arbeiter am gleichen Werk. Er kann keinen entbehren. Zwischen beiden hat er in aller Zeit Feindschaft gesetzt und doch hat er sie aufs engste wechselseitig aneinander gebunden.«189 Psychologisch betrachtet stellt sich der Sachverhalt indessen eher anders dar. Der durch die Emanzipation an seinem Judentum fast irre gewordene Jude, der den Glanz der christlichen Kirchen bewundert, hat hier den tapferen Versuch unternommen, in dieser Konstellation die bedeutsame Rolle seines Judentums neu zu justieren und im Verein der europäischen »nichtheidnischen« Religionen zu verorten. Dies ist nicht der alte Stolz des rabbinischen und auch noch mittelalterlichen Judentums, dies ist nun nur noch ein geteilter Stolz, in welchem das Judentum allenfalls primus inter pares ist. Wie dies im Einzelnen aussieht, soll im Folgenden noch dargestellt werden.
2.14 »Über die Möglichkeit das Reich zu erbeten« Nachdem es im ersten Teil des Buches darum ging das »All zu erkennen« und im zweiten Teil das »Wunder zu erleben« geht es Rosenzweig im dritten Teil darum das »Reich zu erbeten«. Es ist wert, an dieser Stelle nochmals Schellings Eröffnungsworte zu seinen Weltaltern in Erinnerung zu rufen und auf die Unterschiede hinzuweisen. Bei Schelling hieß das: »Das Vergangene wird gewußt, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. Das Gewußte wird
188
Rosenzweig übernimmt diesen Gedanken von einem innergöttlichen Dualismus konsequenterweise auch in seine Deutung der »imago«-Vorstellung: »Der Mensch, der in Gottes Ebenbild geschaffene, auch er ist, wie er als jüdischer Mensch vor seinen Gott tritt, eine Herberge von Widersprüchen.«, Stern der Erlösung, S. 341.
189
Stern der Erlösung, S. 462.
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erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt.«190 Für Rosenzweig ist die Vergangenheit noch kein Wissensbestand, diese musst erst noch erkannt, richtig erkannt werden. Demgegenüber ist die Gegenwart für ihn kein Gegenstand des Erkennens mehr, sondern des Erlebens, und die Zukunft ist für ihn keine Ahnung, sondern Gegenstand menschlicher Aktivität, weil sie ja, wie oben schon dargelegt, Zukunft nur sein kann, wenn sie in der Gegenwart vorweggenommen, wenn sie Versuche ermöglicht, sie herbeizuzwingen. Das Erleben des Wunders – im zweiten Teil – geschah durch die Tat der Liebe, die ihrerseits von der Liebe Gottes zum Menschen getragen wurde, von der Liebe der Zuwendung Gottes in der Offenbarung. Jedes Weltalter hat, so Rosenzweig, eine eigene Weise der Wahrnehmung. In der Vorwelt war es die Gewinnung der Erkenntnis mittels »mathematischer Symbole« oder auch der noch lautlosen Urworte. In der Phase des Erlebens in der Gegenwart der Offenbarung war die Sprache mit ihrer Grammatik Zeichen und Ausdruck der Wahrnehmung, in der dritten Phase der Weltalter nimmt diese Rolle die Liturgik ein, das heißt das Gebet der Gemeinschaft, mit dem gesprochenen »Wir« und vor allem mit der gemeinsamen liturgischen Gestik. In ihr, so meint Rosenzweig, wird die Zukunft des Reiches, die Gestalt des Kommenden vorweggenommen und damit herbeigebetet: »Das Gebet ist die Kraft, die über die ›Schwelle‹ aus dem stummgeschaffenen Geheimnis des Eigenwachstums des Lebens und dem sprachbegabten Wunder der Liebe hinanträgt zur schweigenden Erleuchtung des voll erfüllenden Endes. So wird die Liturgik für diesen dritten Teil eine ähnliche Organonstellung einnehmen wie für den ersten Teil die Mathematik, für den zweiten Teil die Grammatik. […] Die mathematischen Symbole waren wirklich nur Symbole gewesen; sie waren das Geheimnis im Geheimnis, stumme Schlüssel, die im Innern dieses Schreins der Urwelt selber in einem Geheimfach aufbewahrt wurden;191 […] Die Formen der Grammatik hingegen sprechen das Wunder unmittelbar aus, sie stecken nicht mehr in irgend einem geheimnisvollen Hintergrund der ihnen angehörigen Welt, sondern sie sind ganz eins mit ihr; sie sind innerhalb des Wunders selber wieder das Wunder, offenbare Zeichen einer offenbaren Welt. Sie sind ihrer Welt genau gleichzeitig; wo sie ist, da ist auch die Sprache, die Welt ist nie ohne das Wort, ja sie ist nur im Wort, und ohne das Wort
190
Schelling, Weltalter, S. 15.
191
Im Ersten Teil des Buches operiert Rosenzweig neben den Urworten mit mathematischen Formeln von y=x, »nein ist ja«, y = »Freiheit«, A = »Gott, göttliche Freiheit« etc. (eine Gesamtzusammenstellung bei N. M. Samuelson, Moderne jüdische Philosophie, S. 298–299), die hier weggelassen wurden, weil sie das Verständnis eher erschweren als erleichtern.
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wäre sie auch nicht.192 Die Gestalten der Liturgik aber besitzen diese Gleichzeitigkeit zu dem in ihnen zu Erkennenden nicht; sie nehmen ja vorweg; es ist ein Zukünftiges, das sie zum Heute machen. So sind sie nicht Schlüssel und nicht Mund ihrer Welt, sondern Vertreter. Sie vertreten die erlöste Überwelt dem Erkennen; das Erkennen erkennt nur sie; es sieht nicht über sie hinaus; das Ewige verbirgt sich hinter ihnen. Sie sind das Licht, in welchem wir das Licht schauen, stille Vorwegnahme einer im Schweigen der Zukunft leuchtenden Welt.«193 Die Liturgie, und das heißt das gemeinsame Gebet ist für Rosenzweig demnach ein Ereignis, in dem das Ideal der Erlösung für kurze Zeit vorweggenommen ist. Es wird an dieser Stelle deutlich, dass es hier wiederum nicht um eine ontologische Vorwegnahme der Erlösung geht, sondern um das Erkennen dieses Ideals. Die gemeinsame Liturgie lässt den teilnehmenden Menschen schon in dieser gegenwärtigen Welt das Ideal der Erlösung wahrnehmen, eröffnet ihm eine Einsicht in das Ziel, auf welches die Welt und das heißt die Wahrnehmung der Welt durch den Menschen zustrebt. Stéphane Mosès beschrieb es so: »Da die Erlösung sonst nur als Utopie gedacht werden kann, kann sie als Erfahrung nur in der Modalität des Imaginären erlebt oder vorerlebt werden, und zwar in der Symbolik der Riten.«194 Dass das gesamte Buch Rosenzweigs in seiner Grundlinie der Frage der richtigen Wahrnehmung von Gott Welt und Mensch durch den Menschen dient, wird in einem längeren Passus dieses dritten Teils, in dem Rosenzweig das gesamte Buch resümiert, nochmals über alle Zweifel deutlich. Dort nennt Rosenzweig die drei unterschiedlichen Weisen der Wahrnehmung des Seienden in den unterschiedlichen »Weltaltern«: Diese sind die »Erkenntnis« in der Vorwelt, das »Erleben« in der Offenbarungswelt der Gegenwart und schließlich die »Erleuchtung des Gebetes« in der Überwelt. In diesem Abschnitt wird auch nochmals klar gesagt, dass die Darstellung der Religionsstufen des »Heidentums« mit ihren Sichtweisen nicht als historisch nacheinander zu verstehen sind, sondern als prototypisch für das »Nacheinander« der individuellen oder gruppenspezifischen Welterkenntnis oder Weltwahrnehmung insgesamt. Die richtige Weltwahrnehmung muss bei diesen wie jenen alle Stufen durchlaufen und kann sie gar parallel und gleichzeitig praktizieren. Angekommen bei der Sicht der Offenbarung stellen sich die Dinge nun wie folgt dar:
192
Man vergleiche dazu die ähnliche Auffassung des Gründers des osteuropäischen Ḥasidismus,
193
Stern der Erlösung, S. 327.
194
S. Mosès, Von der Zeit zur Ewigkeit. Erlösung – eine problematische Kategorie bei Franz Ro-
des Baʽal Schem Tov, Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 766–773.
senzweig, in: Zeitgewinn, hrsg. G. Fuchs & H. Henrix, S. 156.
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»So werden Anfang, Mitte, Ende gleich unmittelbar, nämlich gleich unvermittelbar, nicht mehr zu ver-mitteln, weil schon selber Mitte. Anfang und Ende so unmittelbar wie die Mitte, – nun ist das All, das einst zerschmetterte, wieder zusammengewachsen. Die Offenbarung in ihrer Unmittelbarkeit hatte den Kitt gegeben, der den uralten Bruch heilte. Das reine Denken des Idealismus vermaß sich wohl, ›im Gleichmachwerkzeug, im Gehirne‹ die unreimbare Zeile ›die anhebt: Gott, der Mensch und die Gestirne‹ zu reimen. Zu ›reimen‹ sind aber die dreie, Gott Welt Mensch, nicht. Sondern es war das die erste Forderung, daß man sie schlicht in ihrer ungereimten Tatsächlichkeit aufnahm. Wie in der Weltgeschichte, so muß auch hier das echte metaphysisch-metalogisch-metaethische Heidentum vorangehen, ehe die Offenbarung ihren Mund auftun kann. Die Ausgleichung und Angleichung, die Reimung des Ungereimten, die der Idealismus unternimmt, zerstört nur die reine Tatsächlichkeit, in der die dreie ursprünglich jedes für sich stehen; die handfesten Gestalten Mensch, Welt, Gott zerrinnen in die Nebelbilder Subjekt Objekt Ideal, Ich Gegenstand Gesetz, oder welche Namen nun sonst ihnen zugebilligt werden. Sind aber die Elemente einfach aufgenommen, so können sie zusammentreten, nicht um sich zu ›reimen‹, sondern um in ihrer Wirkung aufeinander eine Bahn zu erzeugen. Nicht Gott oder der Mensch oder die Welt ist das, was in der Offenbarung unmittelbar sichtbar wird; im Gegenteil: Gott Mensch Welt, die im Heidentum sichtbare Gestalten waren, verlieren hier ihre Sichtbarkeit; Gott scheint verborgen, der Mensch verschlossen, die Welt verzaubert. Sichtbar aber wird ihr wechselweises Aufeinanderwirken. Nicht Gott Mensch Welt sind das Unmittelbare, das hier erlebt wird, sondern – Schöpfung, Offenbarung, Erlösung. In ihnen erleben wir es, Geschöpf zu sein und Kind und gläubig-ungläubige Träger des Namens durch die Welt. Aber diese Unmittelbarkeit des Erlebens führt uns so wenig wie jene erste Unmittelbarkeit des Erkennens in ein unmittelbares Verhältnis zum All. Das Erkennen hatte zwar Alles, aber nur als Elemente, nur in seinen Stücken. Das Erleben war über das Stückwerk hinaus; es war ganz in jedem Augenblick; aber weil immer im Augenblick, so war es zwar ganz, doch hatte es in keinem seiner Augenblicke alles. Das All, das sowohl alles wie ganz wäre, kann weder ehrlich erkannt noch klar erlebt werden; nur das unehrliche Erkennen des Idealismus, nur das unklare Erleben der Mystik kann sich einreden, es zu erfassen. Das All muß jenseits von Erkenntnis und Erlebnis erfaßt werden, wenn es unmittelbar erfaßt werden soll. Eben dies Erfassen geschieht in der Erleuchtung des Gebets.«195
195
Stern der Erlösung, S. 434–435.
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Diese Erleuchtung des Gebets, die Rosenzweig gleich anschließend als »Schau« vorstellt ist die Schau der »ewigen Wahrheit«, aber nicht als der Grund sondern als »letztes Ziel«. Und diese letzte Wahrheit ist dann aber doch wieder nichts anderes als was in der »göttlichen Offenbarung« schon denen, die in der wahren Gegenwart leben, offenbar war.196
2.15 Judentum und Christentum – ihre Rolle im Erlösungswerk Erst jetzt, nachdem der gesamte Weg der sich verändernden Wahrnehmungsweisen bis hin zur Gebetserleuchtung abgeschritten war und zugleich festgestellt ist, dass Christentum und Judentum gleichermaßen auf dieser Bahn ihre Funktion wahrzunehmen haben, kommt Rosenzweig zum letztlichen Ziel seines gesamten Unternehmens, nämlich die Rolle seines eigenen Judentums in dem Doppelchor der beiden nachheidnischen Religionen, Judentum und Christentum, näher zu bestimmen. Hier auch kehrt er die zuvor mit Erstaunen festzustellende Reihenfolge um, um dem Judentum nunmehr nicht nur eine zeitliche, sondern vor allem qualitative Vorrangstellung in dem besagten Doppelchor einzuräumen. Er tut dies mit den metaphorischen Überschriften der beiden ersten Bücher dieses Teils, »Das Feuer oder das ewige Leben«, für das Judentum und »Die Strahlen oder der ewige Weg« für das Christentum. 2.15.1 Das Judentum – Das Feuer oder das ewige Leben Das erste Buch des dritten Teils im Stern der Erlösung ist dem Volk Israel gewidmet. In ihm wird das Dasein des jüdischen Volkes in drei Gängen gedeutet. Am Anfang steht das, was man als »negativen Mythos« vom jüdischen Volk bezeichnen kann, sodann folgt der »positive Mythos«, der im Wesentlich eine Deutung der jüdischen Liturgie im Wochen- und Jahreszyklus darstellt, in dem letztlich, nach Rosenzweigs Auffassung, das Geheimnis des Volkes Israel umschlossen ist. Rosenzweig formuliert hier, was man als eine Theologie der Liturgie bezeichnen kann. 2.15.2 Die Theologie der jüdischen Heimatlosigkeit – der negative Mythos In seinem ersten Gang der Deutung des jüdischen Daseins deutet Rosenzweig all das, was man gewöhnlich als die negativen Seiten des jüdischen Exils betrachten würde, als positive Elemente des jüdischen Lebens, die der Erhaltung des außergewöhnlichen, für die Erlösung förderlichen Standes des Volkes Israel dient. Das
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Volk Israel wohnt nicht auf seinem eigenen Boden, es ist darum auch keinem anderen Land wirklich verbunden, es hat keine eigene Alltagssprache und wird auch in den Gastsprachen nicht wirklich heimisch. Dieses Volk hat und braucht keinen Staat, kein eigenes Gesetz und kein eigenes Brauchtum und hat nicht Teil an der Geschichte und es hat auch nicht Teil an der Vorstellung der anderen Völker, dass das eigene Volk einmal zu Ende gehen könne. Nicht so Israel, denn: »Wir allein können uns eine solche Zeit nicht vorstellen; denn alles, worin die Völker der Welt ihr Leben verankerten, uns ist es schon vorlängst geraubt; Land Sprache Sitte und Gesetz ist uns schon lang aus dem Kreise des Lebendigen geschieden und ist uns aus Lebendigem zu Heiligem erhoben; wir aber leben noch immer und leben ewig; mit nichts Äußerem mehr ist unser Leben verwoben, in uns selbst schlugen wir Wurzel, wurzellos in der Erde, ewig Wanderer darum, doch tief verwurzelt in uns selbst, in unserm eignen Leib und Blut. Und diese Verwurzelung in uns selbst und allein in uns selbst verbürgt unsere Ewigkeit.«197 Bevor die hier – angesichts einer langen anderen Tradition – vorgetragene Umwertung der Werte an einigen Details weiterverfolgt werden soll, muss das einzig positiv Genannte, nämlich die »Verwurzelung in uns selbst« näher beleuchtet werden. Mit der Darlegung dieser Verwurzelung eröffnet Rosenzweig dieses Buch und auch sie erscheint nur durch die mentalen Einflüsse der Zeit wirklich nachvollziehbar. Der Hort des Feuers, das nach Rosenzweig das ewige Leben in dieser Welt trägt, ist natürlich das Volk Israel, das ohne äußere Einflüsse dieses Feuer aus sich selbst nährt. Es muss von der Zeit unberührt sein. Darum muss es, »seine eigene Zeit erzeugen. Es muß sich selbst ewig fortzeugen. Es muß sein Leben verewigen in der Folge der Geschlechter, deren jedes das nachkommende erzeugt, wie es selber hinwiederum von den Vorfahren zeugt. Das Bezeugen geschieht im Erzeugen. In diesem doppelsinnigen, tateinigen Zusammenhang des Zeugens verwirklicht sich ewiges Leben. […] Der Sohn wird gezeugt, damit er vom hingegangenen Vater seines Erzeugers zeuge. Der Enkel erneuert den Namen des Ahns. […] Über dem Dunkel der Zukunft brennt der Sternhimmel der Verheißung: so wird dein Same sein. Es gibt nur eine Gemeinschaft, in der ein solcher Zusammenhang ewigen Lebens von Großvater zum Enkel geht […] Eine Gemeinschaft des Bluts 197
Stern der Erlösung, S. 338–339; den Gedanken, dass die Staatslosigkeit der Juden ein Gewinn und Teil der Mission Israels ist, äußerte schon Samson Raphael Hirsch; vgl. Jüdisches Denken Bd. 3, S. 514.
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muß es sein, denn nur das Blut gibt der Hoffnung auf die Zukunft eine Gewähr in der Gegenwart. Jede andre, jede nicht blutmäßig sich fortpflanzende Gemeinschaft kann, wenn sie ihr Wir für die Ewigkeit festsetzen will, es nur so tun […]; alle blutlose Ewigkeit gründet sich auf den Willen und die Hoffnung. Die Blutgemeinschaft allein spürt die Gewähr der Ewigkeit schon heute warm durch ihre Adern rollen.«198 Man glaube nicht, diese Blut-Theologie, dieses Setzen auf die Blutsgemeinschaft sei ein eher nebensächlicher Aspekt für Rosenzweig, spricht doch schon die hymnische Einleitung dieses Abschnitts, der dann die zitierte Blut-Theologie formuliert, gegen eine solche Marginalisierung. Rosenzweig kommt in diesem »Buch« wiederholt auf sie zurück. So konnten die Juden laut Rosenzweig nur deshalb auf die gefährliche Bindung und Verwurzelung in einem Land verzichten, weil »Wir allein vertrauten dem Blut und ließen das Land;«199 dank des Blutes kann Israel auf alle Anstalten verzichten, die andere Gemeinschaften brauchen um »die Fackel der Gegenwart an die Zukunft weiterzugeben«,200 darunter auch die eigene Sprache,201 »wieder kann es [das Volk Israel] das geschichtliche Leben der Weltvölker nicht voll und schöpferisch mitleben, es steht immer irgendwie zwischen einem Weltlichen und Heiligen, von beiden durch das jeweils andere getrennt und so letzthin lebendig nicht wie die Völker der Welt in einem sichtbar in die Welt gestellten volksmäßigen Leben, in einer tönend seine Seele aussprechenden volkstümlichen Sprache, in einem fest auf der Erde begrenzten und gegründeten volkseigenen Gebiet, sondern einzig und allein in dem, was den Bestand des Volks über die Zeit, die Unvergänglichkeit seines Lebens, sichert: im Schöpfen der eigenen Ewigkeit aus den dunklen Quellen des Bluts.«202 Diese Fixierung Rosenzweigs auf die Blutsgemeinschaft ist umso erstaunlicher, als er gewiss wusste, dass es die halachisch sanktionierte Konversion zum Judentum gab und gar herausragende Proselyten eine bedeutende Rolle im Judentum spielten. Zu dem Negativkatalog der den Juden abhandengekommenen und für sie verzichtbaren Güter gehören neben dem eigenen Land, der eigenen Sprache, des
198
Stern der Erlösung, S. 331–332.
199
Stern der Erlösung, S. 332.
200
Stern der Erlösung, S. 332.
201
Stern der Erlösung, S. 336.
202
Stern der Erlösung, S. 338.
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eigenen Gesetzes und Brauchtums, des Weiteren, dass sie keine auf die eigene Volksgeschichte bezogene Zeitrechnung besitzen,203 keine eigene Geschichte,204 keine Fähigkeit, mit den »Sprachen, die es spricht,« je ganz zusammen zu wachsen.205 Die Juden sind damit, per definitionem und zum Wohle der Erlösung, »ewig Wanderer«, ein geradezu umgekehrter und positiv gewendeter AhasverMythos. Selbstverständlich weiß Rosenzweig, dass es das »Land Israel« gibt, dass die Juden im Hebräischen eine Sprache und auch ein Gesetz und eine Geschichte – wenigstens in biblischer Zeit – haben und hatten. Aber um all diese Qualitäten von deren natürlichen und damit für ein Volksleben nötigen Konnotationen zu entfernen, greift Rosenzweig zum Begriff des »Heiligen«. Das Land Israel und die Sprache Israels sind für die Juden nicht mehr lebendige Besitztümer, sondern »heilige«. Damit ist das Land Israel den Juden »eigen eben nur als Land seiner Sehnsucht, als heiliges Land«,206 das Hebräische ist nicht tote Sprache sondern »heilige Sprache«: »Die Heiligkeit der eigenen Sprache wirkt ähnlich wie die Heiligkeit des eigenen Landes: sie lenkt das Letzte des Gefühls ab aus dem Alltag; sie hindert das ewige Volk, jemals ganz einig mit der Zeit zu leben; […] ja sie hindert es überhaupt, […] jemals ganz frei und unbefangen zu leben. […] Eben diese letzte und selbstverständlichste Unbefangenheit des Lebens ist nun dem Juden versagt, weil er mit Gott eine andere Sprache spricht als mit seinem Bruder.«207 Wie sehr sich Rosenzweig mit seiner Umwertung negativer in positive Werte selbst blendet, zeigt sein aller jüdischer Tradition widersprechender Satz, »und es gibt nichts im tieferen Sinn Jüdisches als ein letztes Mißtrauen gegen die Macht des Worts«.208 Auch im Gesetz, das heißt in der Tora, sieht Rosenzweig die vornehmste Aufgabe, dass es »das Volk aus aller Zeit- und Geschichtlichkeit des Lebens heraushebt«.209 Die Geschichte dieses Volkes, so Ro203
Stern der Erlösung, S. 337. 338.
204
Stern der Erlösung, S. 337.
205
Stern der Erlösung, S. 335.
206
Stern der Erlösung, S. 333.
207
Stern der Erlösung, S. 335.
208
Stern der Erlösung, S. 335; man vgl. dagegen Jüdisches Denken, z. B. Bd. 1, S. 124. 125. 341–
209
Stern der Erlösung, S. 337. Rosenzweig sagt dies in diesem Kontext, wiewohl er im zweiten
354., Bd. 2, S. 38. 74. 347. 839. Teil, wo es um die Gegenwärtigkeit der Offenbarung geht, die Toraauslegung, sprich die Mündliche Tora, geradezu als das innovativ-lebendige und zeitbezogene darstellen kann. Es stimmt zwar, dass die rabbinische Tradition lehrt, dass eigene interpretatorische Neuerungen des Gesetzes, schon vom Sinai stammen, so stellt Rosenzweig diese Beobachtung jedoch in einen neuen theologisch-philosophischen Kontext. Die Rabbinen wollen die Unveränderlichkeit der Halacha betonen, deren Sinaizität, Rosenzweig hingegen die Geschichtslosigkeit der jüdischen Existenz; vgl. Stern der Erlösung, S. 338.
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senzweig, ist nicht vergangen, sondern immer gleich nahe, man muss sich mit dem Deuteronomium210und mit der Pesach-Haggada211 stets fühlen als wäre die Volksvergangenheit die eigene Gegenwart, eine neue geschichtliche Gegenwart braucht es da nicht, Israel steht außerhalb der Geschichte. Mit alledem meint Rosenzweig, dass dem jüdischen Volk »das zeitliche Leben versagt ist um des ewigen Lebens willen.«212 Das »ewige Leben«, das hier gemeint ist, ist nicht das jenseitige Leben des Individuums, sondern eben das außergeschichtliche Dasein des jüdischen Volkes innerhalb dieser Welt. Wodurch dieses Volk seine »Ewigkeit« in dieser Welt lebt ist das, was ich oben als den »positiven Mythos« Rosenzweigs von der Sonderstellung Israels bezeichnete, es ist das außerzeitliche Leben in der jüdischen Liturgie des Wochen- und Jahreszyklus, das im folgenden Kapitel darzustellen ist. 2.15.3 Die Theologie der jüdischen Liturgie im Wochen- und Jahreszyklus – der positive Mythos Die herausgehobene Rolle Israels beschränkt sich nach Auffassung Rosenzweigs jedoch nicht auf die eher negativen ausgrenzenden Elemente. Anstelle der Nichtteilhabe an der Geschichte und den Volks-Werten dieser Welt muss es nach Ansicht auch von Rosenzweig etwas geben, das die eigentliche Kraftquelle dieses Volkes ausmacht. Auffällig ist wiederum, dass Rosenzweig hier nicht auf das verweist, das seit Jahrtausenden die Mitte des jüdisch-religiösen Selbstverständnisses ausmacht, nämlich das Studium der Tora, die Tora als das Unterpfand der Gegenwart Gottes in seinem erwählten Volk. Stattdessen stellt Rosenzweig etwas in die Mitte, das zwar de facto und noch mehr für die weniger gebildeten Juden wie auch die Frauen der Mittelpunkt des traditionellen Lebens war, das liturgische Jahr mit seinen Sabbaten und Festen. Statt eines Lebens in den Wechselfällen der Geschichte, lebt dieses Volk außerhalb der geschichtlichen Zeit im Kreislauf der Wochen und der Festjahre. Das jüdische Volk muss sich nicht mehr auf eine Zukunft hin entwickeln, es ist schon dort angekommen: »Das jüdische Volk ist für sich schon an dem Ziel, dem die Völker der Welt erst zuschreiten. Es besitzt die innere Eintracht von Glauben und Leben, die als Eintracht von fides und salus Augustin wohl der Kirche zuschreiben darf, die aber den Völkern in der Kirche noch ein bloßer Traum ist.«213 Aber »Im Gottesvolk ist das Ewige
210
Dtn 5, 3–4.
211
Haggada schel Pesach: »In jeder Generation muss der Mensch sich sehen als ob er selbst aus Ägypten ausgezogen sei. […] Nicht nur unsere Väter hat der Heilige, Er sei gesegnet, erlöst, sondern auch uns mit ihnen zusammen […].«., Stern der Erlösung, S. 337
212
Stern der Erlösung, S. 338.
213
Stern der Erlösung, S. 368.
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schon da, mitten in der Zeit.«214 Das Ewige ist nach der Auffassung Rosenzweigs in Israel da durch die zyklische Wiederkehr von Schabbat und Feiertagen: »Ein Kreislauf, der Kreislauf des Jahres, versichert das ewige Volk seiner Ewigkeit.«215 Dieser jährliche ewige Kreislauf ersetzt dem jüdischen Volk die veränderliche Geschichtlichkeit in der die Völker leben. Die für den gesamten Stern der Erlösung zentrale Deutung der Welt sieht Rosenzweig im liturgischen Jahr, das er auch das »geistliche Jahr« nennt,216 eingepflanzt: Der Sabbat als die Feier der Schöpfung, als das »Erinnerungsfest der Schöpfung«217 und erstes Anzeichen der Offenbarung,218 die drei Wallfahrtsfeste, Pesach, Schavuʽot und Sukkot, sind die Feste der Befreiung, der Offenbarung und der »Erlösung auf dem Boden der unerlösten Zeit und des geschichtlichen Volkes«,219 der »Wanderung« jenseits der Zeitläufte. Natürlich nimmt Rosenzweig hier Elemente der Tradition auf, aber sie gewinnen bei ihm eben doch eine neue Deutung als Mythos des richtigen Glaubens, als Mythos der richtigen Weltwahrnehmung und jüdischen Lebensform außerhalb der Zeitlichkeit und der »ewigen Wanderung« – im Falle des Hüttenfestes (Sukkot). Der jüdische Festzyklus ist für Rosenzweig die zeitlose Lebenssphäre des jüdischen Volkes, der Wall, der es vor der Zeitgebundenheit und den Änderungen der Geschichte bewahrt, es ist die ewige Wiederholung der einmal abgeschlossenen Geschichte dieses Volkes, das sein Ziel erreicht hat und darin beharren muss, das ist seine Ewigkeit. Der Kreislauf des Jahres gilt Rosenzweig als der Raum »in welchem allein uns die Ewigkeit in der Zeit zu beschwören erlaubt ist. Es war der Kreislauf eines Volkes. Ein Volk war in ihm am Ziel und wußte sich am Ziel. Es hatte für sich den Widerstreit zwischen Schöpfung und Offenbarung aufgehoben. Es lebt in seiner eigenen Erlösung. Es hat sich die Ewigkeit vorweggenommen. […] In die Erlösung münden irgendwie auch die Feste der Schöpfung und Offenbarung. Daß dann das Bewußtsein der noch unerreichten Erlösung wieder hervorbricht und dadurch der Gedanke der Ewigkeit über den Becher des Augenblicks, in den er schon abgefüllt schien, wieder überschäumt, das gibt dem Jahr die Kraft, wieder von vorne anzufangen und seinen anfangs- und endelosen Ring einzureihen in die lange Kette der Zeiten. Aber das Volk bleibt gleichwohl das ewige Volk. Ihm gilt seine Zeitlichkeit, dies daß die Jahre sich wiederholen, nur als ein Warten, al-
214
Stern der Erlösung, S. 369.
215
Stern der Erlösung, S. 369.
216
Stern der Erlösung, S. 344. 348. 264.
217
Stern der Erlösung, S. 345.
218
Stern der Erlösung, S. 345. 348.
219
Stern der Erlösung, S. 364.
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lenfalls Wandern, nicht als ein Wachsen. Wachsen – das würde ja bedeuten, daß die Vollendung ihm in der Zeit noch unerreicht bliebe, und wäre also eine Leugnung seiner Ewigkeit. Denn Ewigkeit ist grade dies, daß zwischen dem gegenwärtigen Augenblick und der Vollendung keine Zeit mehr Platz beanspruchen darf, sondern im Heute schon alle Zukunft erfaßbar ist.«220 Das jüdische liturgische Jahr mit seiner zyklischen Wiederholung ist die Gegenwart der Erlösung in einer Welt, die noch der Zeitlichkeit und dem Wachstum unterliegt, es ist der Schutzmantel für die Perle der gegenwärtigen Erlösung und Ewigkeit in einer Umgebung der Zeit und Veränderung. Das Getragenwerden dieser Perle durch die sie umgebende Veränderung erscheint hier darum allenfalls als Wanderung, nicht mehr als Wachstum, denn die Perle selbst ist schon ausgewachsen, ganz im Gegensatz zu der sie umgebenden Welt. Es ist diese Geschichtslosigkeit in einer Welt anhaltender Geschichte, die Rosenzweig zur üblichen rabbinischen, in der Pesach-Haggada noch ganz präsenten, typologischen Geschichtsdeutung greifen lässt, nach der dem jüdischen Volk nichts Neues mehr geschieht, sondern es nur immer wieder demselben Typos von Widerfahrnis ausgesetzt wird:221 »Nicht erst heute stand man gegen uns auf, uns zu vertilgen, nein in jeglichem Geschlecht bis hinauf zu jenem ersten, das aus Egypten zog, – und in jeglichem Geschlecht hat uns Gott gerettet.«222 2.15.4 Das Christentum – Die Strahlen oder der ewige Weg Franz Rosenzweig beginnt sein umfangreiches Kapitel über das Christentum mit einer ausführlichen Referenz auf die messianischen Schlussworte von Maimonides in dessen Halacha-Kompendium Mischne Tora, aus denen er seine eigene Konzeption von der Komplementarität von Judentum und Christentum auf dem Wege zur Erlösung ableitet. Es ist wert, zunächst die Worte des Maimonides 220
Stern der Erlösung, S. 364–365.
221
Zu dieser Geschichtsdeutung s. K. E. Grözinger, Jüdische Geschichtsschreibung zwischen Mythos und Moderne – eine Verortung der Differenz, in: Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Festgabe für Arno Herzig zum 65. Geburtstag, Hg. J. Deventer, S. Rau, A. Conrad, Münster et. al., 2002, S. 53–70; Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 296; Yerushalmi, Y. H., Zachor! Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1996; und vor allem Jüdisches Denken, Bd. 4. S. 19. 36. 38. 40. 46. 298. 505. 511. 530.
222
Stern der Erlösung, S. 353, Die Pessach-Haggadah, Übs. P. Schlesinger u. J. Güns, Tel Aviv 1976,
והיא שעמדה:
»Und diese Verheißung ist es, die unseren Vätern und uns immer bei-
stand; denn nicht etwa einer nur stand wider uns auf, um uns zu vernichten, sondern in jedem Zeitalter erheben sich viele wider uns, um uns dem Verderben preiszugeben. Aber der Heilige, gepriesen sei Er, rettete uns aus ihrer Hand«, S. 12f.
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selbst zu betrachten, damit der Schritt, den Rosenzweig tut, deutlicher wird. Maimonides beschreibt in diesem elften Kapitel der Hilchot Melachim (KönigsGesetze) all das, was der Messias erlangen wird und was ihn erst als Messias erweist. Es sind jene Worte und Darlegungen, die hier im ersten Band schon angeführt wurden.223 Das heißt, wenn der Messiasprätendent, das davidische Königreich wiedererrichtet, den Tempel erbaut, die Juden aus den Exilen einsammelt, Gottes Kriege ficht etc., dann kann er als der Messias gelten. »wenn ihm dies aber nicht gelingt, oder er getötet wird, dann ist er gewiss nicht derjenige, den die Tora verheißen hat […]«. In den unzensierten Texten der Mischne Tora folgt sodann der von Rosenzweig referierte Abschnitt, der im maimonidischen Original so lautet: »So auch Jesus der Nazaräer, der vorgab, der Messias zu sein, aber durch das Gericht hingerichtet wurde. Über ihn hat ja schon Daniel prophezeit: ›Auch aus deinem Volke werden Gewalttätige sich erheben, damit die Weissagung sich erfülle, und werden scheitern.‹ (Dan 11, 14) – Und gibt es denn ein größeres Scheitern als dieses? Denn alle Propheten verkündeten, dass der Messias Israel auslösen, sie erretten und seine Verstreuten einsammeln und ihre Gebote bestärken wird. Aber dieser war Ursache für die Vernichtung Israels durch das Schwert, dass ihr Rest zerstreut und erniedrigt wird und die Tora vertauscht und der größte Teil der Welt in die Irre geführt wird, um einem Gott neben dem Herrn zu dienen. Doch die Gedanken des Schöpfers der Welt hat kein Mensch die Kraft zu begreifen, denn unsere Wege sind nicht seine Wege und unsere Gedanken nicht seine Gedanken. Und all diese Geschehnisse um Jesus den Nazaräer und des Ismaeliten, der nach ihm aufgestanden war, dienen zu nichts anderem als dem König Messias den Weg zu bahnen und die ganze Welt zurechtzubringen (tkn), damit sie gemeinsam dem Herrn dienen, wie es heißt: ›Ja, dann wandle ich den Völkern ihre Lippe zu einer lauteren um, dass sie alle anrufen den Namen des Ewigen, dass sie ihm einmütig dienen.‹ (Zefanja 3,9). Wie soll das geschehen? Schon wurde ja die Welt voll von den Worten um den Messias und den Worten der Tora und der Gebote, und diese Worte verbreiteten sich über die fernsten Inseln und unter vielen Völkern unbeschnittenen Herzens, und sie debattieren über diese Dinge und über die Gebote der Tora. Die einen sagen: Diese Gebote waren die Wahrheit aber sie gelten jetzt nicht mehr und sollten nicht für immer gelten. Die andern sagen, es gibt Mysterien in ihnen und sie sind darum nicht wörtlich zu verstehen, und schon ist ja der Messias gekommen und hat ihre Mysterien offenbart. Wenn 223
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 479–480.
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aber der wahre Messias auftreten wird und ihm Gelingen beschert sein wird und er erhaben und groß sein wird, dann werden sie alle sogleich umkehren und erkennen, dass ihre Väter lauter Lügen ererbt haben und ihre Propheten und Väter sie in die Irre führten.«224 Natürlich hat Rosenzweig den gesamten Zusammenhang gemäß seiner eigenen Zielsetzung umgestellt. Vom Scheitern des Nazaräers ist bei ihm keine Rede, auch der Islam, der ja in seinem gesamten Stern negativ beurteilt wird, findet hier keine Erwähnung, wo es Rosenzweig darum geht, das Christentum als Partner in der Bereitung der Erlösung darzustellen. Gleich zu Beginn apostrophiert Rosenzweig die wunderbaren Wege Gottes, welche zu dieser Konstellation der Kooperation zwischen Judentum und Christentum geführt haben. Für Maimonides ist dieses Wunder eher eine verwunderliche Entwicklung nach dem völligen Scheitern Jesu und der irreführenden Verdrehung dieser Wahrheit des Scheiterns und der jüdischen Wahrheit von Tora und Gebot. Rosenzweig deutet diese Täuschung nur verschleiernd an als »große Irreleitung, neben Gott einen anderen zu verehren« und spricht von dem, was bei den Christen »Wahn« gewesen. Wenn man die folgenden Darstellungen Rosenzweigs über die »Kraft des Christentums« liest und die sehr positiven Äußerungen über Jesus Christus so wird umso deutlicher, dass Rosenzweig sich an den starken Baum des Maimonides nur anlehnt, dann aber weit über ihn hinausgeht, um seine eigene zweigleisige Heilsgeschichte zu entfalten, nach der »Aus dem feurigen Kern225 des Sterns […] die Strahlen226 [schießen].«227 Während bei Maimonides Gottes Pläne bedeuten, dass sie aus dem Scheitern des falschen Messias Jesus, am Ende eine Wegbereitung für den echten Messias machten, und die Völker auf den dereinst wahren Gottesdienst vorzubereiten, ist für Rosenzweig die Mission des Christentums ein unabdingbarer, heilsgeschichtlich unverzichtbarer Faktor zur Erlangung des Zieles der Erlösung geworden. Die Zweigleisigkeit dieser Wegbereitung entspricht gleichsam dem die Gottheit und alle Welten durchziehenden Dualismus, der entsprechend auf dem Weg zur Erlösung der Polarität von Israel und Christentum bedarf, der Dualität von dem schon erlangtem »ewigen Leben« und dem unendlichen »ewigen Weg«, die letztlich für die Mission des Christentums beide vonnöten sind. Im Gegensatz zu Maimonides, der das Scheitern des falschen Messias betont, übernimmt Rosenzweig Bewertungen Jesu durch die Christen. Dies ist indessen
224
Maimonides, Mischne Tora, Hilchot Melachim, 11, 5–8 (unzensierte Ausgabe, MS Jemen
225
Sprich dem Judentum.
226
Des Christentums.
227
Stern der Erlösung, S. 374.
nach ʼOzar Jisrael DBS).
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nicht als religiöse Toleranz des Juden gegenüber dem Christen zu bewerten, sondern ist, wie gesagt ein immanenter Teil von Rosenzweigs universaler Soteriologie, der weltweiten Erlösungstheologie. Rosenzweig übernimmt in dieser Erlösungstheologie, zumindest für den christlichen Teil, die Vorstellung von der »Zeitenwende«, die mit dem Auftreten des Christus gekommen sei: »Das Christentum ist es, das also die Gegenwart zur Epoche gemacht hat. Vergangenheit ist nur noch die Zeit vor Christi Geburt. Alle folgende Zeit von Christi Erdenwandel an bis zu seiner Wiederkunft ist nun jene einzige große Gegenwart, jene Epoche, jener Stillstand, jene Stundung der Zeiten, jenes Zwischen, worüber die Zeit ihre Macht verloren hat. Die Zeit ist nun bloße Zeitlichkeit. Als solche ist sie von jedem ihrer Punkte aus ganz zu übersehen; denn jedem ihrer Punkte ist Anfang und Ende gleich nah; die Zeit ist ein einziger Weg geworden, aber ein Weg, dessen Anfang und Ende jenseits der Zeit liegt, und also ein ewiger Weg; während auf Wegen, die aus Zeit in Zeit führen, immer nur ein nächstes Stück zu übersehen ist. Auf dem ewigen Weg wiederum ist, weil doch Anfang und Ende gleich nah sind, einerlei wie die Zeit auch vorrückt, jeder Punkt Mittelpunkt.«228 Das Christentum hat danach Teil an dem Gut des Judentums nur eben in einer noch der Zeitlichkeit unterworfenen Weise: »So wird das Christentum, indem es den Augenblick zur epochemachenden Epoche macht, gewaltig über die Zeit. Von Christi Geburt an gibt es nur noch Gegenwart. Die Zeit prallt an der Christenheit nicht ab wie am jüdischen Volk. Aber die flüchtige ist gebannt und muß als ein gefangener Knecht nun dienen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die immerfort sich ineinander schiebenden, immerfort wandelnden, sind nun zu ruhigen Gestalten geworden […]. Vergangenes, ein für alle Mal Stillstehendes, ist nun alles, was vor Christi Geburt liegt, sind Sybillen und Propheten. Und Zukunft, zögernd, aber unausweichlich hergezogen Kommendes, ist das Jüngste Gericht. Dazwischen steht als eine einzige Stunde, ein einziger Tag, die christliche Weltzeit, in der alles Mitte, alles gleich taghell ist. Die drei Zeiten der Zeit sind so auseinandergetreten in ewigen Anfang, ewige Mitte, ewiges Ende des ewigen Weges durch diese Zeitlichkeit.«229 Die Faszination, die das Christentum auf den jungen Rosenzweig übte, und hier noch immer spürbar ist, ist doch über Gräben weit von dem erstaunten Zuge228
Stern der Erlösung, S. 375–376.
229
Stern der Erlösung, S. 377.
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ständnis des Maimonides entfernt, nach dem aus dem Schaden des falschen Messias von Gott doch noch ein Nutzen für die Heilsgeschichte resultierte, in deren einziger und ausschließlicher Mitte Israel steht. Rosenzweig konnte angesichts dieses »Zaubers« des Christentums nur eine Zweilinigkeit der Heilsgeschichte konzipieren, die, wie schon gesagt, der innergöttlichen Dualität entspricht, welche ja die Matrix aller Welt ist. Die Anziehungskraft christlicher Gedanken zeigt sich auch in Rosenzweigs Anführung des »Cherubinischen Wandersmanns«:230 »Wär’ Christus tausendmal in Bethlehem geboren und ists auch nicht in dir, so bist du doch verloren.«231 Rosenzweigs Deutung dieses Spruches ist indessen nicht die mystische Identifikation des Menschen mit dem Göttlichen, dem cantus firmus des »Wandersmanns«, sondern im Sinne seines »Existentialismus« nach dem der Augenblick zur Ewigkeit wird. Dieses – vom Judentum schon erlangte – Ideal hat allerdings das Christentum qua Weg nach Rosenzweig noch nicht erreicht: »Nicht als Augenblick also wird der Augenblick dem Christen zum Vertreter der Ewigkeit, sondern als Mittelpunkt der christlichen Weltzeit; und diese Weltzeit besteht, da sie nicht vergeht sondern steht, aus lauter solchen ›Mittelpunkten‹; jedes Ereignis steht mitten zwischen Anfang und Ende des ewigen Wegs und ist im zeitlichen Zwischenreich der Ewigkeit selber ewig.«232 Auch da, wo es um das Bindende, das Gemeinschaftsbildende im Christentum geht, zeigt sich diese verdeckte Bewunderung Rosenzweigs für das Christentum. Hat er beim Judentum hierfür trotzig das Blut, die Blutsbande, als Fundament der Gemeinschaft deklariert, nimmt beim Christentum die »Brüderlichkeit« diese Stelle ein, die »Brüderlichkeit im Herrn«.233 Es ist der gemeinsame Glaube, der aus Menschen Brüder werden lässt. »Christus ist in diesem Bruderbunde der Christenheit sowohl Anfang und Ende des Wegs, und deswegen Inhalt und Ziel, Stifter und Herr des Bundes, als auch Mitte des Wegs, da ist der ganze Weg überschaubar, Anfang und Ende gleich nah, weil der, der Anfang und Ende ist, hier mitten unter den Versammelten weilt. So auf der Mitte des Wegs ist Christus nicht Stifter noch Herr seiner Kirche, sondern Glied, er selber Bruder seines Bundes. Als
230
Stern der Erlösung, S. 377; Cherubinischer Wandersmann § 61, Ausg. H. L. Held, Angelus Si-
231
Der Text bei Held lautet indessen anders: »Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren /
lesius. Sämtliche Werke. In drei Bänden München-Wien-Wiesbaden 2002, III, S. 14. Und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren.« Rosenzweig scheint eine vielleicht populäre Ausgabe verwendet zu haben, welche diesen veränderten Text bot, es sei denn er selbst zitiert aus dem Gedächtnis, und setzt so selbst das Ineinander von Geschichte / Zeit und präsentischer Gegenwart. 232
Stern der Erlösung, S. 377.
233
Stern der Erlösung, S. 382.
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solcher kann er auch bei dem Einzelnen sein; in der Brüderlichkeit mit Christus weiß sich sogar der Einzelne – nicht erst zweie, die beisammen sind – schon als Christ und, obwohl anscheinend mit sich allein, dennoch, weil dies Alleinsein Beisammensein mit Christus ist, als Glied der Kirche.«234 Angesichts solcher Sympathien für christliches Denken und Sein, muss sich natürlich umso dringender die Frage nach der nötigen Differenz zum Judentum und ihrem Sinn für die Stufen der Heilsgeschichte stellen. 2.15.5 Die bleibende Differenz zwischen Judentum und Christentum und deren Nutzen im Heilsplan Ohne weiteres Überlegen wird jedermann erinnerlich sein, dass die bleibende Differenz zwischen Judentum und Christentum vor allem die Christologie, sprich die Gottessohnschaft von Jesus-Christus ist. Dies gilt natürlich auch für Franz Rosenzweig, allerdings ist diese Differenz für ihn nicht eigentlich eine zwischen wahrem Glauben und Häresie, vielmehr ist die christliche Lehre von »einem Gott in drei Personen« nach seiner Auffassung der Essenz nach nicht eigentlich falsch, sondern nur eine noch unterentwickelte Phase im richtigen Gottverstehen, ein letzter Rest »Heidentum« im Christentum, der allerdings für das Erreichen des göttlichen Heilsplanes als unabdingbar erscheint. Wie schon mehrfach vermerkt, folgt Rosenzweig der Auffassung von Schelling, dass es innerhalb der Gottheit eine Dualität von Kräften oder Potenzen gäbe aus denen letztlich die Differenzen in dieser Welt herrühren.235 Nach Rosenzweig sind dies die innergöttlichen Aspekte von Gott als Schöpfer und Offenbarer und – gemäß der altrabbinischen Tradition236 – als Gott der strikten Gerechtigkeit (Middat ha-Din) und Gott der Liebe und des Erbarmens (Middat haRachamim). Die daraus folgenden Differenzen in der Welt sieht auch Rosenzweig, unter anderem daran, dass sich die Christenheit in drei große Konfessionen spaltete, was der Abgrenzung der Völker untereinander entsprach und entgegenkam. Denn nur in dieser offenen Ausfaltung der ursprünglich aus der Gottheit herrührenden Dualität oder Gegensätzlichkeit, können die christlichen Bekenntnisse ihre missionarische Weltaufgabe erreichen: »So muß auch die Art, wie die Gegensätze hier lebendig sind, eine andere sein als bei der Selbstvertiefung. Dort spannten sie sich sogleich durch die inneren Gestalten von Gott, Welt, Mensch; die drei waren lebendig wie in 234
Stern der Erlösung, S. 382.
235
Vgl. Stern der Erlösung, S. 340.
236
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 222 f. 237. 275. 285 f. 370; Bd. 2, S. 137. 158 f. 162 etc.
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ständigen Wechselströmen zwischen jenen Polen. Hier hingegen müssen die Gegensätze schon in der Art der Ausbreitung liegen; nur dann sind sie in jedem Augenblick wirksam und ganz wirksam. Die Ausbreitung muß je in zwei getrennten, ja gegensätzlichen Wegen geschehen. Es müssen unter den Schritten der Christenheit in die Länder, Gott, Mensch, Welt je zweierlei verschiedene Blumen erblühen; ja diese Schritte selbst müssen in der Zeit auseinanderführen, und je zwei Gestalten des Christentums müssen jede ihren Weg durch jene drei Länder gehen, gewärtig, daß sie sich wohl einmal wieder vereinen, aber nicht in der Zeit. In der Zeit marschieren sie getrennt, und nur indem sie getrennt marschieren, sind sie gewiß, das ganze All zu durchmessen und dennoch sich nicht in ihm zu verlieren. So hatte das Judentum nur dadurch das eigene Volk und das ewige Volk sein können, daß es die großen Gegensätze alle schon in sich selbst trug, während den Völkern der Welt jene Gegensätze erst da auftreten, wo sie sich das eine gegen die andern abscheiden. Genau so muß auch die Christenheit, will sie wirklich allumfassende sein, die Gegensätze, mit denen andre Verbände schon in ihrem Namen und Zweck sich jeder gegen alle andern abgrenzen, in sich bergen; nur dadurch kennzeichnet sie sich als der allumfassende und doch in sich eigenartige Verband. Gott, Welt, Mensch können nur dadurch zum Christengott, zur christlichen Welt, zum Christenmenschen werden, daß sie die Gegensätze, in denen sich das Leben bewegt, aus sich hervorspinnen und jeden für sich durchmachen.«237 Die allseits beklagte Not des Christentums, nämlich dessen Zersplitterung, wird hier zu einer notwendigen Tugend gemacht. Es ist die Gegensätzlichkeit der Welt und des Lebens, die als strategische missionarische Kampftruppe ein vielfältiges und gegensätzliches Christentum braucht. Das Judentum, das diese Mission nach außen in die Welt nicht braucht, weil es sich ganz mit sich selbst begnügen und nach innen verschließen darf,238 braucht diese sichtbare Zersplitterung nicht, weil es all diese Gegensätze – gleich der Gottheit – in sich selbst vereinigt. Israel ist in dieser Hinsicht das wirkliche Ebenbild Gottes. »Der Mensch, der in Gottes Ebenbild geschaffene, auch er ist, wie er als jüdischer Mensch vor seinen Gott tritt, eine Herberge von Widersprüchen.«239 Diese Differenz zwischen Judentum und Christentum, die beide als Menschen die innere Widersprüchlichkeit der Gottheit widerspiegeln, liegt nun außer der soziologischen Differenz – hier Widersprüchlichkeit in der sozialen Einheit 237
Stern der Erlösung, S. 386–387; man vergleiche dazu die analoge Darstellung bei Salomon
238
Stern der Erlösung, S. 379.
239
Stern der Erlösung, S. 341.
Formstecher, Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 574–577.
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(Judentum), dort Widersprüchlichkeit in der sozialen Vielheit (Christentum) – auch noch im doktrinalen Bereich. Sie wirkt sich mutatis mutandis entsprechend auf die Gotteslehre, die Theologie im strikten Sinne, in den beiden großen Religionen aus. Während das Judentum einen reinen Monotheismus vertritt, allerdings einen Monotheismus, dessen einer Gott voller innerer Widersprüche ist, vermag das Christentum diese innergöttlichen Gegensätze nicht zusammenzuhalten und faltet sie deshalb in einer Trinitätslehre auf. Also wiederum beurteilt Rosenzweig die christliche Aufspaltung der Gottheit in drei Personen nicht in ihrer Essenz als falsch, denn sie ist letztlich eine Widerspiegelung der innergöttlichen Widersprüchlichkeit, sondern beklagt nur, dass die Christenheit diese innere Widersprüchlichkeit in drei Personen auffalten musste, während die Juden um diese innergöttliche Widersprüchlichkeit wohl wissen, sie aber in einer einzigen göttlichen Person zusammenzuhalten vermögen: »Der Weg der Christenheit in das Land Gott teilt sich also in zwei Wege – eine Zweiheit, die dem Juden schlechthin unbegreiflich ist, auf der aber gleichwohl das christliche Leben beruht. Unbegreiflich ist es uns; denn für uns ist die Gegensätzlichkeit, die ja auch wir in Gott kennen, das Nebeneinander von Recht und Liebe, Schöpfung und Offenbarung in ihm, grade in unaufhörlicher Beziehung mit sich selbst; es geht ein Wechselstrom zwischen Gottes Eigenschaften hin und her; man kann nicht sagen, daß er die eine ist oder die andere; er ist Einer gerade in dem ständigen Ausgleich der scheinbar entgegensetzten ›Eigenschaften‹. Für den Christen hingegen bedeutet die Trennung von ›Vater‹ und ›Sohn‹ viel mehr als bloß eine Scheidung in göttliche Strenge und göttliche Liebe. Der Sohn ist ja auch der Weltrichter, der Vater hat die Welt ›also geliebt‹, daß er sogar seinen Sohn hingegeben hat; so sind Strenge und Liebe in den beiden Personen der Gottheit gar nicht eigentlich geschieden. Und ebensowenig sind sie etwa nach Schöpfung und Offenbarung zu scheiden. Denn weder ist bei der Schöpfung der Sohn noch bei der Offenbarung der Vater unbeteiligt. Sondern die christliche Frömmigkeit geht getrennte Wege, wenn sie beim Vater und wenn sie beim Sohn ist.«240 Es ist für Rosenzweig also nicht eigentlich eine innere Ferne zwischen Judentum und Christentum zu konstatieren, es ist diese Veräußerlichung in der Gemeinschaft wie in der Gotteslehre, die Richtiges erkennt, aber wegen der heidnischen Reste im Christentum241 nicht in einer wahren Einheit zusammengehalten wer-
240
Stern der Erlösung, S. 387–388.
241
Stern der Erlösung, S. 388.
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den.242 Die eigentliche Nähe zwischen den beiden Religionen, trotz ihrer tatsächlichen Trennung, will Rosenzweig an verschiedenen Stellen nun auch im Vergleich zwischen dem jüdischen Festjahr und dem christlichen Kirchenjahr aufzeigen, was ihn gelegentlich in Widersprüchlichkeiten führt, die letztlich ein Spiegel seiner eigenen Widersprüchlichkeit im Blick auf die beiden Religionen sind.243 Es ist dieser heidnische Rest im Christentum der es allerdings, so Rosenzweig, einzig dazu befähigt sein für den Heilsplan und seinen eigenen Gemeinschaftsbestand notwendige Missionsarbeit durchzuführen, weil eben Heiden nur mit einem, wenn auch rudimentären, Rest von Heidentum bekehrt werden können: »denn Fleisch und Blut läßt sich nur untertan machen von seinesgleichen, von Fleisch und Blut, und gerade jenes ›Heidentum‹ des Christen befähigt ihn zur Bekehrung der Heiden.«244
2.16 Gottes Wahrheit muss des Menschen eigene Wahrheit sein Im letzten Buch des dritten Teils des Stern, der den Titel trägt »Der Stern oder die ewige Wahrheit« wird das, was Rosenzweig unter Erlösung versteht nochmals in aller Schärfe deutlich, nämlich nicht ein am Ende der Zeitlinie zu erwartendes Ereignis, sondern eine Wahrnehmung des Seins, in welcher die ewige Wahrheit, die Wahrheit Gottes als die je eigene ganz persönliche Wahrheit des Menschen wahrgenommen wird: »Gottes Wahrheit ist nichts andres als die Liebe, mit der er uns liebt. Das Licht, aus dem die Wahrheit leuchtet, es ist nichts andres als das Wort, dem unser Wahrlich antwortet. […] So sprechen wir unser Wahrlich dort, wo wir uns finden. Es gibt keinen bloßen Zufall. […] Die Wiedergeburt zum Selbst im Überfall des Daimon über den Charakter ist nicht der Zufall als der sie vom metaethischen Standpunkt des Heidentums erscheint, sondern Offenbarung. Als Geborener und Wiedergeborener findet sich der Mensch vor. […] Er muß dort leben, wohin er gestellt ist; denn er ist von der Hand des Schöpfers hingestellt […] Er muß dahin gehen, wohin er gesandt ist; denn er hat vom Worte der Offenbarers Richtung empfangen, […] Stand und Sendung – zu beiden muß er, wie er sie in dem vorgefundenen Ort und in dem entschei-
242
Man vergleiche dazu Asriel von Geronas Historiosophie, die einen ähnlichen Mangel als Grund der Weltgeschichte bis zur Erlösung sieht, Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 270–280. 283– 293.
243
Stern der Erlösung, S. 408–409.
244
Stern der Erlösung, S. 388.
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denden Augenblick seines Lebens als sein persönliches Hier und Jetzt empfing, sein Wahrlich sagen, auf daß sie ihm Wahrheit werden. Seine Wahrheit muß die Wahrheit werden, weil sie überhaupt nur Wahrheit ist als eine seine Wahrheit.«245 Es ist diese einzige für jeden einzelnen Menschen eigene Wahrheit, die er für sich bewähren muss, und nur so wird sie die Wahrheit, »die von Gott urspringt«, und sie ist »das Wesen der Wahrheit überhaupt«.246 Es fällt auf, dass Rosenzweig mit diesen Feststellungen von der Wahrheit wieder die partikular jüdische Diktion verlässt und von der Wahrheit in einer subjektiven Weise spricht, wie sie recht eigentlich für alle Menschen in der Welt gelten kann, also universal ist. Dies gilt, auch wenn Rosenzweig diese Weltwahrnehmung als das Privileg des Judentums apostrophiert, wo nur das Judentum angekommen ist, während die Christen auf dem ewigen Weg dahin sind – zum Wohle der Heidenwelt, um sie zu gewinnen. Es ist wert, noch ein paar weitere, so universal klingende Sätze von Rosenzweig anzufügen, in denen er die persönliche Wahrheit als die göttliche reklamiert: »So gilt mir die Wahrheit erst für Gottes Wahrheit, indem ich sie im Wahrlich zu meiner mache. Was kann ich also mein machen? Nur das, was mir an meinem inneren Hier und Jetzt zuteil wurde. Ob das die ›ganze‹ Wahrheit sei, was kümmert mich das. Genug, sie ward mir ›zu Teil‹. Sie ward mein Anteil. Daß Gott die Wahrheit ist in jenem Sinne, in dem wir es nun festgestellt haben: Ursprung der Wahrheit, – ich kann es nur erfahren, indem ich erfahre, daß er ›mein Teil‹ ist, ›der Anteil meines Kelchs, am Tag da ich rufe.‹ «247 Nach dieser so deutlich universalistischen, weil universal persönlichen, Definition der Wahrheit, versucht indessen Rosenzweig noch einmal den paradox erscheinenden Rückbezug auf das Jüdische, indem er meint, dass dem Juden die Wiedergeburt, die eigentliche, nicht in seinem individuellen Leben geschah, sondern schon in Abraham dem Stammvater, aus dessen Lenden jeder Jude hervorgegangen ist. »Abraham, der Stammvater, und er der Einzelne nur in Abrahams Lenden, hat den Ruf Gottes vernommen und ihm mit seinem ›Hier bin ich‹ geantwortet. Der Einzelne wird von nun an zum Juden geboren, braucht es nicht erst in 245
Stern der Erlösung, S. 436–437.
246
Stern der Erlösung, S. 437.
247
Stern der Erlösung, S. 437. und vgl. noch S. 438.
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irgend einem entscheidenden Augenblick seines Einzellebens zu werden. Der entscheidende Augenblick, das große Jetzt, das Wunder der Wiedergeburt liegt vor dem Einzelleben.«248 Dies ist nun der entscheidende Unterschied zum Christentum – der Christ muss sein Christentum je neu erst erringen.249 Der Jude hat es mit seiner Geburt und damit die Anlage zur Einheitsschau Gottes, der ihm nicht in eine Trinität zerfällt, »es ist das Gottesbewußtsein des jüdischen Alltags«, das ihm geschenkt ist, das Gefühl der richtigen Gotteswahrnehmung.250 Hier in diesem Alltäglichen des Jüdischen hat auch das Gesetz seinen Platz: »Im Gesetz ist eben alles Diesseitige, was darin ergriffen wird, alles geschaffene Dasein, schon unmittelbar zum Inhalt der künftigen Welt belebt und beseelt. Daß das Gesetz nur jüdisches Gesetz, daß diese fertige und erlöste Welt nur eine jüdische Welt ist und daß der Gott, der im Weltregimente sitzt, noch mehr zu tun hat als bloß im Gesetz zu lernen, das vergißt dieses jüdische Gefühl, ganz einerlei ob es dabei das Gesetz im überlieferten Sinn meint oder sich den alten Begriff mit neuem Leben gefüllt hat. […] Das Gesetz steht dann, auch wenn es etwa höchst modern im Kleide irgend einer zeitgemäßen Utopie kommt, in einem tiefen Gegensatz zu jener christlichen Gesetzlosigkeit des Sichüberraschenlassenkönnens und –wollens, die noch den Politiker gewordenen Christen von dem Utopist gewordenen Juden unterscheidet. […] Immer meint der Jude, daß es nur gelte, seine Gesetzeslehre um und um zu wenden; so werde sich schon finden, daß ›alles darin‹251 sei. Dem Heidentum, das die Wege der Christenheit umgriffen, kehrt das Gesetz den Rücken; es weiß nichts davon und will nichts davon wissen.«252 Das Paradox bleibt, die Aussagen wogen hin und her, zwischen einer individuelluniversalistischen und einer hereditären partikularistischen Heilsauffassung. Rosenzweig will diesen Gegensatz offenbar durch seine Konzeption der Bahn oder des Weges auflösen, nach der die beiden Stränge, die in der Gegenwart strategisch getrennt sind, dereinst zusammenführen. Die individuell-universale Heilskonzeption hat demnach der Jude schon immer, beziehungsweise seit Abraham, während der Christ sie erst noch erringen muss – dem Heiden bleibt nur der Weg über das Christentum.
248
Stern der Erlösung, S. 440.
249
Stern der Erlösung, S. 441–442.
250
Stern der Erlösung, S. 448–449
251
Zu dieser rabbinischen Auffassung s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 24. 227. 364–365.
252
Stern der Erlösung, S. 451–452.
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Wenn Philosophie aus und mit der Zeit, in der sie entsteht, ihr Leben und ihre Bedeutung bezieht, so darf es nicht verwundern, dass der Stern der Erlösung bei seinem Erscheinen und vor allem durch das Grauen der Schoah sehr schnell in Vergessenheit geriet, allenfalls in den USA von Freunden Rosenzweigs in Erinnerung gehalten wurde. Verwundern darf dann auch nicht, dass dessen Wiederentdeckung und fast euphorische Rezeption zuerst in dem schuldbeladenen deutschen Christentum aus existentieller Not heraus stattfand. In Israel wurde versucht, Rosenzweig in die jüdische Philosophiegeschichte einzuordnen, was angesichts des illusionären Antizionismus und der Zuschreibung von Heilsqualitäten an das Christentum durch Rosenzweig nicht eben leicht erschien.
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II.
MYSTIK DES DIALOGS – MARTIN BUBER (1878–1965)
1.
Biographisches
Martin Buber wurde 1878 in Wien geboren und verstarb 1965 in Jerusalem. Nach der Trennung seiner Eltern 1881 wurde er von seinen Großeltern im galizischen Lemberg (heute Lwiw, Ukraine) erzogen. Der Großvater war der bekannte Midraschforscher Salomon Buber. Nach dem Abschluss des Gymnasiums in Lemberg studierte Buber in Wien, Leipzig, Zürich und Berlin die Fächer Nationalökonomie, Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte, Psychiatrie und Psychologie. Seine wichtigsten Hochschullehrer waren Wilhelm Dilthey und Georg Simmel. Die Promotion über das Thema Zur Geschichte des Individuationsproblems. Nicolaus von Cues und Jakob Böhme erfolgte 1903. Nach seinem Eintritt in die zionistische Bewegung war er ab 1901 der Leiter des zionistischen Organs Die Welt, in welchem er seinen auf Achad Haam1 bezogenen Kulturzionismus propagierte. Bubers 1904 einsetzende Beschäftigung mit dem osteuropäischen Ḥasidismus sollte sein Denken fortan nachhaltig prägen.2 1902 gehörte Buber zu den Gründern des Jüdischen Verlags, arbeitete ab 1905 für den Verlag Rütten & Loening, und begründete dort die renommierte Monographienreihe Die Gesellschaft. Ab 1909, begonnen mit seinen in Prag gehaltenen Drei Reden über das Judentum,3 trat Buber als öffentlicher Kämpfer für das Judentum auf. 1916 folgte zusammen mit Salman Schocken die Begründung Monatszeitschrift Der Jude, die bis 1928 erschien. 1923 veröffentlichte er sein kleines aber wichtigstes religionsphilosophischen Büchlein Ich und Du. Zusammen mit Franz Rosenzweig arbeitete Buber an einer neuen, sehr eigenwilligen eng an den hebräischen Duktus angelehnte Übersetzung der hebräischen Bibel ins Deutsche. Ab 1921 verfocht Buber als Vertreter des Ha-Po‘el ha-Za‘ir die Idee einer binationalen Heimstätte für Juden und Araber in Palästina, später in den Vereinigungen Brit Schalom und Ichud.4 Von 1925 bis 1933 war Martin Buber erst Lehrbeauftragter und zuletzt Honorarprofessor für jüdische Religionslehre und Ethik an der Universität Frankfurt am Main. Er legte diese Professur 1933 nach der Machtübernahme Hitlers nie-
1
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 159–214.
2
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 683–695.
3
Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M. 1911; Martin Buber Werkausgabe, P. MendesFlohr & P. Schäfer (Hgg.), Bd. 3, Frühe jüdische Schriften, B. Schäfer (Hg.); S. 219–256; auch in: M. Buber, Der Jude und sein Judentum, Köln 1963, S. 9–46.
4
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 414–423.
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der, um einer Aberkennung zuvorzukommen. Er beteiligte sich danach am Aufbau der Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung bei der Reichsvertretung der Deutschen Juden. 1938 konnte Martin Buber aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Jerusalem entkommen. Dort war er bis 1951 Professor für Sozialphilosophie. Von 1960–1962 war Martin Buber der erste Präsident der israelischen Akademie der Wissenschaften.
2.
Grundzüge des Denkens
2.1
Das vielgefächerte Denken
Martin Buber ist im Rahmen des Jüdischen Denkens schon an verschiedenen Stellen behandelt worden.5 So in erster Linie in der Darstellung des osteuropäischen Ḥasidismus, für die Martin Bubers Ḥasidismus-Arbeiten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die schlechthin entscheidende Wegemarke waren. Er war es, der in bis dato unvergleichbarer Weise, den Ḥasidismus in Westeuropa bekannt gemacht hatte und dies bei Juden wie Nichtjuden gleichermaßen. Dieses Verdienst bleibt, auch wenn mitten in dieser intensiven Publikationstätigkeit Gershom Scholem die mächtige Kontroverse gegen Bubers Ḥasidismus-Deutung eröffnete, der sich letztlich die gesamte moderne Forschung anschloss, so dass – und dies ist kein Geringes –, die Buberschen Ḥasidismusarbeiten heute mehr als Dokumente für Bubers eigenes Denken, denn als verlässliche religionsgeschichtliche Quelle zum Ḥasidismus betrachtet werden dürfen.6 Als nächste bedeutsame Instanz der literarisch-intellektuellen Präsenz Bubers ist seine Stellung innerhalb der zionistischen Bewegung,7 die gleichfalls in einer politisch-historischen Auseinandersetzung gipfelten, deren Kern bis heute die israelische oder gar gesamtjüdische Auseinandersetzung um die Aufgabe des Zionismus und dessen Einstellung zum Palästinenser-Problem prägt. Bubers weitere Aktivitäten als Sammler und Deuter mystischer Literatur,8 als Deuter der großen
5
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 683–695; Bd. 4, S. 414–423.
6
Außer den im Band 2 des Jüdischen Denkens schon genannten Arbeiten rund um diese Kontroverse siehe noch, K.E. Grözinger, Martin Bubers Denken im Lichte seiner ChassidismusDeutung; in: Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, 15 (2013), S. 51–73; S. Talabardon, Einleitung zu Martin Buber Werkausgabe, Bd. 17, Chassidismus II. Theoretische Schriften, Gütersloh 2016.
7
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 414–423; und M. Buber, Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage, Herausgegeben von Paul R. Mendes-Flohr, Frankfurt a. M. 1983.
8
M. Buber, Werkausgabe, Hgg. P. Mendes-Flohr und B. Witte, Gütersloh 2001 ff (22 Bde.); M. Buber, Ekstatische Konfessionen, (1909 bei E. Diederichs), hier Heidelberg 1984, 5. Aufl.
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biblischen Themen wie Gottes Königtum,9 Moses,10 der Propheten,11 als Herausgeber der spektakulären Reihe Die Gesellschaft und vieler weiterer Arbeiten zur Erziehung, Philosophie, Theater, Literatur, zeigen ihn als exzeptionellen intellektuellen Vertreter seiner Zeit. Dies gilt insbesondere auch für seine zahlreichen Reden und Essays zum Judentum, in denen er sich als Religionshistoriker und Religionssoziologe präsentiert und damit eine historisch wissenschaftliche Zugangsweise zu den in seiner Zeit brennenden und aktuellen Themen insbesondere des zeitgenössischen Judentums eröffnete. Aber gerade für die beiden Wissenschaften, die Religionsgeschichte und die Soziologie, welche Buber bei dem herausregenden Gelehrten jener Tage, Georg Simmel (1858–1918), studierte, zeigt sich, dass er weniger eine Religionssoziologie vertrat als eine religiöse Soziologie und entsprechend eine »religiöse« Geschichtsdarstellung der jüdischen Religion. Martin Buber hat alle diese Wissenschaften nicht als distanzierter Historiker bearbeitet, sondern als betroffener Mensch, der ein geradezu prophetisches Sendungsbewusstsein hatte, diese seine im Laufe der Zeit wechselnden Erkenntnisse als die ultimative Aufdeckung dessen vorzutragen, was er, hinsichtlich des Judentums als das »Urjudentum« betrachtete. Damit haben Bubers Arbeiten zum Judentum stets eine polemische Note und einen Geltungsanspruch, der von vielen Richtungen des doch sehr pluralistisch verfassten Judentums zurückgewiesen und nicht als das ihrige anerkannt wurde. Es soll hier, wie es dem Duktus dieser Darstellung entspricht, nicht eine intellektuelle Biographie Bubers gegeben, das heißt nicht seine intellektuelle Entwicklung über die verschiedenen Stufen hin gezeichnet werden, sondern nur die Phase in den Mittelpunkt gestellt werden, die schlechthin als das philosophische und »jüdische« Erbe Bubers bis in die Gegenwart gilt, nämlich seine dialogische Philosophie, die Buber vor allem in dem zwar schmalen aber bedeutungsschweren Bändchen unter dem Titel Ich und Du im Jahre 1923 zum ersten Mal veröffentlichte. Dennoch muss hier zum Verständnis gerade auch dieses Büchleins ein wenig weiter zurückgegriffen werden. Nicht alleine wegen der von Buber selbst genannten Entstehungsgeschichte dieses Buches, dessen erster Entwurf laut der Ausgabe von 1936 schon auf das Frühjahr 1916 zurückgeht, dessen erste Niederschrift im Herbst 1919 entstanden ist, der dann die Endfassung im Frühjahr 1922 folgte – an dieser Stelle müssen noch die von Rivka Horwitz erst 1978 veröffentlichten Frankfurter Lehrhaus-Vorlesungen vom Januar bis März 1922 hinzuge-
9
M. Buber, Königtum Gottes, 1932 Heidelberg 1956.
10
M. Buber, Moses, Heidelberg 1952 (2. Auflage; erste dt. Aufl. 1948, hebr. 1945).
11
M. Buber, Der Glaube der Propheten, Zürich. 1950; 2. Aufl. Heidelberg 1984.
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fügt werden, die unter dem Titel »Religion als Gegenwart« standen.12 Viel mehr noch ist der Rückgriff nötig, weil die in Ich und Du sichtbar werdenden Denkstrukturen bei Buber schon viel früher angelegt waren und deren krönende Version in Ich und Du nur von diesen Vorläufern her wirklich verständlich sind. Diese Rückgriffe sind vor allem deshalb wichtig, weil Buber in Ich und Du die Anspielungen auf die jüdische Tradition auf ein Minimum beschränkte, hingegen die deutsche und internationale Kultur für seine Darlegungen bemüht und insbesondere den neutestamentlichen Jesus mehrfach als beispielhaft nennt. Trotz alledem war Buber der Überzeugung, hier das genuin jüdische Denken schlechthin vorzutragen, das natürlich gerade auch darüber hinaus für die gesamte Menschheit von Bedeutung sei. Die Präsenz der jüdischen Tradition ist in den früheren Texten noch sehr viel mehr an der Oberfläche und es ist in diesem Kontext, in dem Buber sein recht eigentlich triangulares Denken von existentieller Dualität und anzustrebender Einheit entwickelt. Als Abschluss dieser Entwicklung steht dann die von jüdischen Bezugnahmen weiter entfernte Darstellung von Ich und Du, in welcher auch die Begriffe oder Kategorien des vorausgehenden Dreiecks nur ausgetauscht sind, während die Grundstruktur erhalten bleibt. Es sollen im Folgenden daher die wichtigsten vorlaufenden Schritte Bubers nachgezeichnet werden, welche die Begrifflichkeit, die Struktur und religiöse Bewertung von Ich und Du vorbereitet hatten.
2.2
Das »offizielle Scheinjudentum« und das »unterirdische Urjudentum«
Mit den beiden Begriffen unterirdisches Judentum und offizielles Scheinjudentum diskreditiert Buber das traditionelle rabbinisch-geprägte Judentum und verherrlicht ein dagegen rebellierendes »wahrhaft zeugendes« Judentum.13 Trotz oder gerade wegen dieser Opposition, will Martin Buber ein Denker sein, der dieses unterirdische echte »Urjudentum« vertritt; und dieser Anspruch Bubers wurde gerade bei traditionsfernen Juden wie bei Nichtjuden willig anerkannt. Demgegenüber standen die traditionsverankerten Juden – und dies sollte auch für den aufmerksamen Leser dieser Darstellung gelten – diesem Anspruch eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Denn Buber hat ein sehr enges dogmatisches Bild von dem, was er als das echte Judentum betrachtete. Dies zeigte sich schon in seinen drei Reden über das Judentum. Dort stellt Buber das dar, was er als
12
R. Horwitz, Buber’s Way to I and Thou. An Historical Analysis and the First Publication of
13
Jüdische Religiosität, in: M. Buber, Der Jude und sein Judentum, Gesammelte Aufsätze (Einl.
Martin Buber’s Lectures »Religion als Gegenwart«, Heidelberg 1978. R. Weltsch), Köln 1963, S. 69.
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»Urjudentum« bezeichnet, das sich von der jüdischen Realität der überwiegenden Zeit der jüdischen Religionsgeschichte grundlegend unterscheidet. Diese die meiste Zeit des Judentums anhaltende jüdische Realität bezeichnet Buber abschätzig als »Religion«. Was er hingegen als »Urjudentum« betrachtet, ist jüdische »Religiosität«, die ohne den ganzen religionsrechtlichen Ballast auskommt und den spontanen Geist des prophetischen Judentums vertritt, wie Buber dieses sieht. Ein solches von Buber selbst angestrebtes Urjudentum sah er nur in wenigen Übergangsphasen der jüdischen Geschichte verwirklicht. An mehreren Stellen seiner frühen Reden über das Judentum, am ausführlichsten in der Schrift »Der heilige Weg«, gibt Buber einen Abriss der jüdischen Religionsgeschichte, wie er sie sieht, und der für sein Denken überaus aufschlussreich, ja kennzeichnend ist. Schon in der Rede über »Die Erneuerung des Judentums« von 1911 sagt Buber unter anderem, dass die besten Elemente jüdischer Religiosität »in der Gottesidee der Propheten zusammenströmen. Damals entstand die Idee der transzendenten Einheit: des welterschaffenden, weltbeherrschenden, weltliebenden Gottes. Das ganze Pathos der Propheten dient dieser Idee. Aber dies ist ein Gipfel des geistigen Prozesses. Die Idee verdünnt, entfärbt sich, bis aus dem lebendigen Gott ein unlebendiges Schema geworden ist, welches die Herrschaft des späten Priestertums und die des beginnenden Rabbinismus charakterisiert. Aber die Einheitstendenz läßt sich nicht niederziehen. Der Kampf zwischen Schema und der Sehnsucht wogt unaufhörlich; er findet eine vorübergehende Ausgleichung in der Anschauung Philos […]«14 Neben den Propheten lässt Buber noch die aus dem Buche Jeremia bekannten Rechabiten gelten, welche die Güter des Kulturlandes verwarfen, gleichfalls in die positive Reihe zählt er die Essäer und als nächstes: »Da geschah es, daß die Bewegung aus den sich absondernden Lebensgemeinschaften [d.h. Rechabiten und Essäer] mitten ins Volk überschlug und hier jene Geistesrevolution entflammte, die heute, irriger und irreführender Weise, Urchristentum genannt wird; sie könnte viel eher, freilich in einem anderen Sinne als dem historischen, Ur-Judentum heißen, denn sie hat mit dem Judentum weit mehr als mit dem zu schaffen, was man heute als Christentum bezeichnet.«15
14
Der Jude und sein Judentum, S. 35f.
15
Der Jude und sein Judentum S. 37.
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Nachdem sodann das Christentum in seiner nichtjüdischen Entwicklung gleichfalls den Gipfel verließ, folgt als nächster Gipfel in der unterirdischen Entwicklung des Urjudentums Baruch Spinoza, »Wieder ist ein Gipfel des geistigen Prozesses erreicht.«16 »Aber wieder beginnt ein Niedergang, wieder wogt der Kampf. Für einen Augenblick erhebt sich die lebendige Einheitstendenz noch einmal im Chassidismus, dann erlahmt die Bewegung, erlahmt der Kampf; die unfruchtbare Zeit hebt an, unsere Zeit hebt an als ein Geschlecht der Wüste wandern wir und wissen nicht wohin. Aber unsere Sehnsucht ist nicht tot. Sie hebt das Haupt und ruft in die Wüste hinaus, wonach sie begehrt, wie einst der Täufer in einer Zeit wie die unsere in der Wüste rief: nach der Erneuerung.«17 Buber selbst, so darf man ergänzen, steht am Ende dieser Reihe als der prophetische Rufer und neuer Künder der »Einheitstendenz«. Es ist keine Frage. Ein solches Bild von der Entwicklung des Judentums kann einer objektiven historischen Nachprüfung nicht standhalten. Dieses Geschichtsbild ist im höchsten Maße dogmatisch, sein Leitfaden ist das, was Buber die »Einheitstendenz« nannte, die sogleich noch erörtert werden wird. Aber nicht dies ist das eigentlich Verwunderliche. Verwunderlich ist vielmehr, welche Stufen hier als Gipfelpunkte genannt werden. Die beiden ersten Säulen, Propheten und Urchristentum, zwischen denen die Verheerung des Priestertums und des Rabbinismus sich breit machte, erinnern doch eher an das Geschichtsbild, wie man es sich im Gefolge der protestantischen Theologie aus der Schule Julius Wellhausens18 zu machen pflegte. Dies ist nicht die Geistesgeschichte des Judentums, nicht das, was die Mehrzahl der Juden als ihre eigene Traditionsgeschichte sehen. Dies ist, wie Buber mehrfach betont, die Tradition dessen, was er das unterirdische Judentum nennt, ein Judentum, das oft gerade von den verstoßenen Ketzern repräsentiert wurde, denn, so sagt Buber an anderer Stelle: »In der Auffassung dieser Verwirklichung [Gottes durch den Menschen] sind in der jüdischen Religiosität drei Schichten zu unterscheiden, in deren Aufeinanderfolge sich das Werden jenes unterirdischen Judentums kundgibt, welches heimlich und unterdrückt, das wahrhafte, das zeugende ist im Gegensatz
16
Der Jude und sein Judentum, S. S. 36.
17
Der Jude und sein Judentum, S. 36.
18
Evangelischer Theologe und Bibelkritiker, 1844–1918, vgl. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 84. 44–48.
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zum offiziellen Scheinjudentum, das ohne Berufung herrscht und ohne Legitimität repräsentiert.«19 Nach Bubers Darstellung erscheint demnach die meiste Zeit der jüdischen Geschichte und deren wesentlichsten Vertreter als Verirrung, als ein Abirren von dem, was Buber selbst als das wahre Judentum erachtet. Gerade jene Zeit, welche die jüdische Tradition wie auch die moderne Forschung, als die formative Epoche und als eine Zeit höchster geistiger Entfaltung des Judentums erkannte, nämlich die Zeit des Exils nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, sie erscheint Buber als eine »Epoche der unproduktiven Geistigkeit, jener Geistigkeit, die fernab vom Leben und vom lebendigen Streben nach Einheit sich von Bücherworten, von Deutungen der Deutungen nährte und in der Luft der ideenlosen Abstraktion ein armseliges, verzerrtes, krankes Dasein fristete.«20 Mit dieser Geschichtskonstruktion wollte Buber seine so originelle wie eigenwillige Sicht des Judentums in durchaus prophetischem Anspruch als das einzig wahre Judentum darstellen.
2.3
Dualität und Einheit – eine konstante Denkstruktur Bubers
2.3.1 Dualität im Judentum als »Religion« und als »Nation« Martin Bubers Denken, angefangen von den drei Reden über das Judentum, über den Daniel. Gespräche über die Verwirklichung (1913) bis hin zu Ich und Du (1923) sind von einem denkerischen Dualismus geprägt, der als Grundstruktur stets erhalten bleibt. »Das Judentum ist nicht einfach und eindeutig, sondern vom Gegensatz erfüllt. Es ist ein polares Phänomen.«21 Zugleich steht über dieser Polarität der Wille zur Einheit: »Das Judentum hat einst das große Sinnbild der inneren Entzweiung aufgestellt, die Scheidung von Gut und Böse, die Sünde; aber es hat auch immer wieder die Überwindung dieser Scheidung gelehrt: in Gott, […] im Leben des heiligen Menschen, der die Sünde, die Scheidung von Gut und Böse, nicht mehr kennt, […] und in der messianischen Welt, in der […] die Sünde für ewig vernichtet wird. So ist und bleibt dies die Grundbedeutung des Judentums für die Menschheit, daß es, der Urzweiheit im innersten Wesen wie keine andere Gemeinschaft bewußt, wie keine andre sie kennend und sie darstellend, eine Welt verkündet, in der sie aufgehoben ist; eine Gotteswelt, die 19
Der Jude und sein Judentum, S. 69; vgl. S. 25.
20
Der Jude und sein Judentum, S. 24.
21
Zweite Rede: Das Judentum und die Menschheit, in: Der Jude und sein Judentum, S. 19.
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im Leben des Einzelnen und im Leben der Gesamtheit verwirklicht werden will: die Welt der Einheit.«22 Diese zu vereinende Dualität war eine Konstante in Bubers Denken, die sich durch all seine Schriften zum Judentum hinzieht. Was sich im Laufe der Jahre allerdings änderte, ist die Benennung oder gar die Kategorie der beiden Pole dieses Dualismus und mit ihnen die Bezeichnung oder Kategorie des Weges, des Mediums oder des Raumes der Überwindung dieser Dualität in der angestrebten Einheit. Diese anzustrebende Einheit changiert in den verschiedenen Texten zwischen einer Einheit der beiden Pole einerseits und einer Einheit der Pole im Menschen, der sich im richtigen Pol befindet und diesen hierarchisch über den anderen Pol setzt. In der ersten Rede von 1909 (erschienen 1911), deren Thema Das Judentum und die Juden lautet, macht Buber doppelte Dualitäten aus. Die erste, wiederum nicht im Sinne der jüdischen Tradition, sondern der Nachaufklärungszeit so benannte Dualität im Judentum ist die von Religion und Nation. Diese beiden zerfallen ebenfalls in zwei Pole: Für die erstere erkennt Buber die Dualität von Religion und Religiosität, für die zweite, die von soziologischer gegenüber einer individuellen Begründung des Nationalen. 2.3.1.1 Judentum als Religion oder Religiosität Zur Polarität des Religiösen erklärt Buber in seinem Aufsatz Jüdische Religiosität23 den Unterschied zwischen Religion und Religiosität, salopp gesagt, als Verkrustung hier und Kreativität dort, oder Passivität hier und Aktivität dort: »Ich sage und meine: Religiosität. Ich sage und meine nicht: Religion. Religiosität ist das ewig neu werdende, ewig neu sich aussprechende und ausformende, das staunende und anbetende Gefühl des Menschen, daß über seine Bedingtheit hinaus und doch mitten aus ihr hervorbrechend ein Unbedingtes besteht, sein Verlangen, mit ihm lebendige Gemeinschaft zu schließen, und sein Wille, es durch sein Tun zu verwirklichen und in die Menschenwelt einzusetzen. Religion ist die Summe der Bräuche und Lehren, in denen sich die Religiosität einer bestimmten Epoche eines Volkstums ausgesprochen und ausgeformt hat, in Vorschriften und Glaubenssätzen festgelegt, allen künftigen Geschlechtern ohne Rücksicht auf deren neu gewordene, nach neuer Gestalt begehrende Religiosität als für sie unverrückbar verbindlich überliefert. Religion ist so lange wahr, als sie fruchtbar ist; dies aber ist sie so lange, als 22
Das Judentum und die Menschheit, in: Der Jude und sein Judentum, S. 27.
23
Gehalten im Mai 1914 in Prag.
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die Religiosität, das Joch der Vorschriften und Glaubenssätze auf sich nehmend, sie doch – oft ohne es zu merken – mit neuem glühenden Sinn zu erfüllen und zuinnerst zu verwandeln vermag, daß sie jedem Geschlecht erscheinen, als wären sie ihm selber heute offenbart, seine eignen, den Vätern fremden Nöte zu stillen. Sind aber die Riten und Dogmen einer Religion so erstarrt, daß die Religiosität sie nicht zu bewegen vermag oder sich ihnen nicht mehr fügen will, dann wird die Religion unfruchtbar und damit unwahr. Es ist also Religiosität das schaffende, Religion das organisierende Prinzip; Religiosität beginnt neu mit jedem jungen Menschen, den das Geheimnis erschüttert, Religion will ihn in ihr ein für allemal stabiliertes Gefüge einzwingen; Religiosität meint Aktivität – ein elementares Sichinverhältnissetzen zum Absoluten –, Religion meint Passivität – ein Aufsichnehmen des überlieferten Gesetzes; Religiosität hat nur ihr Ziel, Religion hat Zwecke; aus Religiosität stehen die Söhne wider die Väter auf, um ihren selbeignen Gott zu finden, aus Religion verdammen die Väter die Söhne, weil sie sich ihren Gott nicht auferlegen ließen; Religion bedeutet Erhaltung, Religiosität bedeutet Erneuerung. Worin immer aber ein andres Volk sein Heil finden mag, dem jüdischen ist es nirgendwo anders erschlossen als in der lebendigen Macht, an die sein Volkstum von je gebunden war und durch die es bestanden hat: nicht in seiner Religion, wohl aber in seiner Religiosität.«24 Die Religion ist das Überkommene, das den Menschen von außen prägt oder prägen will, während die Religiosität von innen heraus kommt von einem persönlichen Entscheiden und Handeln, das den zwingenden Rahmen der Religion sprengen will und kann. Buber meint mit Religiosität die »Gottesinbrunst von Juden, die sie hinausjagte aus dem Zweckgetriebe der Gesellschaft in ein wahres jüdisches Leben, in ein Leben das Gott bezeugt, ihn aus einer Wahrheit zu einer Wirklichkeit macht.«25 In dieser Formulierung der ersten Rede tauchen schon Begriffe auf, die nachher im Daniel zentral werden, das Zweckdenken auf der einen Seite, das als »Wahrheit« gilt und auf der andern Seite das Verwirklichen, das ein Verwirklichen Gottes durch den Menschen ist.26 Die religiöse Verwirklichung Gottes durch den Menschen geschieht, so Buber, in drei Schichten die im Laufe der jüdischen Religionsgeschichte ausgebildet wurden: Erstens durch die Tat des Menschen, durch die imitatio dei (rabbi-
24
M. Buber, Jüdische Religiosität, in: Martin Buber Werkausgabe 2.1. Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften, H. D. Groiser, Gütersloh 2013, S. 204–205; Der Jude und sein Judentum, S. 66.
25
Der Jude und sein Judentum, S. 10–11.
26
Der Jude und sein Judentum, S. 69. 70.
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nisch),27 durch die menschliche Entscheidung (rabbinisch/kabbalistisch),28 und schließlich durch die Einwirkung des Menschen auf Gottes Erdenschicksal (kabbalistisch).29 An dieser Stelle kommt der dritte Pol hinzu, der den Dualismus Bubers stets umschließt, nämlich ein menschliches Tun, das die Pforte zum Absoluten hin öffnet. Das Tun des Menschen umschließt die beiden Pole in Einheit: »Allen drei Schichten gemeinsam und der jüdischen Religiosität ureigentümlich ist die Anschauung von dem absoluten Wert der Menschentat, der nicht mit der dürftigen Erkenntnis irdischer Ursachen und Wirkungen ermessen werden kann. In irgendeiner Tat des Menschen mündet Unendliches, Unendliches entströmt ihr. Nicht am Handelnden ist es, zu fassen, welcher Mächte Abgesandter, welcher Mächte Beweger er ist, aber er wisse, daß die Fülle des Weltgeschicks in namenlosen Verknüpfungen durch seine Hände geht. […] In der Unbedingtheit seiner Tat erlebt der Mensch die Gemeinschaft mit Gott.«30 Mit dieser Bewertung »irgendeiner Tat des Menschen« ist bereits die Struktur von Ich und Du angelegt, nämlich dass das unverfügbare Ewige durch menschliches Handeln verwirklicht oder eröffnet wird. Es ist nicht die zweckgerichtete Tat, sondern irgendeine Tat, die ihre Qualität durch den Wählenden, den Entscheidenden, des für sein Ziel entbrennenden, den Unbedingten, gewinnt, welche dieses Ziel erreicht. Das heißt es ist nicht das »was« einer Tat, sondern das »wie« des Tuns. Will sagen, Gott wird zur Wirklichkeit im spontanen, entschlossenen, Handeln des Menschen, welches Handeln dies auch sei, entscheidend ist das »wie«, nicht das »was«, also können es auch die Gebote der Tradition sein, die allerdings nicht durch die Tradition, sondern durch das entscheidende »wie« geheiligt werden.31 Durch die Religiosität kann selbst die erstarrte Religion wieder belebt werden. Die Einheit der Pole Religion und Religiosität ist durch die hierarchische Priorität des Religiösen möglich.
27
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 243. 257. 284.
28
Buber zitiert hier den Midrasch: »zu Ps. 68, 35 »Die Gerechten mehren die Kraft der oberen Herrschaft.«, Der Jude und sein Judentum, S. 70; und den Grundsatz der Kabbala dass das Wirken Gottes einer Anregung von unten bedürfe, vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 563. 601.
29
Der Jude und sein Judentum, S. 71; Jüdisches Denken Bd. 2, S. 147–149. 451–457. 544–548.
30
Der Jude und sein Judentum, S. 71; Werkausgabe, 2.1, Mythos und Mystik, S. 208–209.
31
Der Jude und sein Judentum, S. 74.
563. 596–601.
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2.3.1.2 Judentum als Nation: Gesellschaftszwänge oder persönliche Blutsverbundenheit Auch der Begriff Nation, den Buber für das Judentum akzeptiert, zerfällt in zwei solche Pole. »Ja gewiß« so meint er, sind die Juden eine Nation »wie es der Form nach eine jüdische Religion gibt, so gibt es der Wirkung nach eine jüdische Nationalität: sie erweist sich im Leben der Juden zwischen den Völkern. Aber wir fragen ja nicht nach der Wirkung, sondern nach der Wirklichkeit des Judentums für das Selbst des Juden.«32 Wie bei der Religion gibt es das äußerliche, gleichsam die tote, jüdische Nation, das ist die von der Umwelt definierte Nation, und die innere, im individuellen Selbst gelebte; sie ist die eigentliche Substanz des jüdisch Nationalen. Da den Juden all die äußerlichen Merkmale einer Nation, gemeinsames Land, Sprache und Lebensform fehlen, sucht Buber in der ersten Rede zum Judentum das entscheidende Merkmal des Jüdisch-Nationalen im Inneren, im Bewusstsein des einzelnen Juden, dem das Äußere, ihm Vorgegebene und aufgenötigte gegenübersteht. Und gemäß dem Geist der Zeit33 beschreibt Buber das Innere Eigentliche mittels des Begriffs des Blutes: »Die Gewalten, aus deren Wirkung sich das Menschenleben, Wesen und Geschick, aufbaut, sind Innerlichkeit und Umwelt; die Disposition, Eindrücke zu verarbeiten, und das eindringende Material. Die tiefste Schicht der Disposition aber, die dunkle schwere Schicht, die den Typus, das Knochengerüst der Personalität, hergibt, ist das, was ich das Blut nannte: das in uns, was die Kette der Väter und Mütter, ihre Art und ihr Schicksal ihr Tun und ihr Leiden in uns gepflanzt haben, das große Erbe der Zeiten, das wir in die Welt mitbringen. Das tut uns Juden not zu wissen: es ist nicht bloß die Art der Väter, es ist auch ihr Schicksal, alles, Pein, Elend, Schmach, all dies hat unser Wesen, hat unsere Beschaffenheit mitgeformt. Das sollen wir ebenso fühlen und wissen, wie wir fühlen und wissen sollen, daß in uns lebt die Art der Propheten, der Sänger und der Könige Judas.«34 Das heißt, auch beim Nationalen des Judentums gibt es eine eigentliche und eine uneigentliche jüdische Nationalität. Auf der einen Seite ist dies das Äußere, das von der Umwelt geprägt und bestimmt wird, durch die näheren und ferneren soziale Gegebenheiten und auf der anderen das von innen kommende Blutbestimmte, die Substanz: »Für den aber, der sich in der Wahl zwischen Umwelt 32
Der Jude und sein Judentum, S. 11.
33
Siehe entsprechend bei Rosenzweig, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. I, Rosenzweig Nr.
34
Das Judentum und die Juden, In: Martin Buber Werkausgabe 3. Frühe jüdische Schriften
2.1.1. 1900–1922, Hg. B. Schäfer, Gütersloh 2007, S. 224.
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und Substanz für die Substanz entschieden hat, gilt es, nunmehr wahrhaft von innen heraus Jude zu sein und aus seinem Blute, mit dem ganzen Widerspruch, mit der ganzen Tragik und mit der ganzen Zukunftsfülle dieses Blutes als Jude zu leben.«35 Solange der Jude nicht das Blut als das Gestaltende in seinem Leben annimmt und anerkennt, sondern sein Judesein von der Umwelt, der jüdischen wie der nichtjüdischen, bestimmt sein lässt, lebt er in einer tiefen Zwiespältigkeit. Das Entscheidende ist, dass der Jude sich nicht von den äußerlichen Faktoren als den sein Leben leitenden bestimmen lässt, sondern von innen her und so zur Einheit gelangt. Die Dualität des soziologisch definierten Judentums einerseits und das vom inneren Selbstbewusstsein geprägte, soll von der Einheit umfangen werden, die nur von der Dominanz des Inneren her gewonnen wird: »In jenen stillsten Stunden, in denen wir uns auf Unaussprechliches besinnen, fühlen wir eine tiefe Zwiespältigkeit unserer Existenz; eine Zwiespältigkeit, die uns so lange unüberwindlich scheint, als wir die Erkenntnis, daß unser Blut das Gestaltende in unserem Leben ist, noch nicht zu unserem lebendigen Eigentum gemacht haben. Um aus der Zwiespältigkeit zur Einheit zu kommen, dazu bedarf es der Besinnung auf das, was unser Blut in uns bedeutet, denn in dem Getriebe der Tage werden wir uns immer nur der Umwelt und der Wirkung der Umwelt bewußt. Vertiefen wir den Blick der stillsten Stunden: schauen wir, erfassen wir uns selber. Erfassen wir uns: ziehen wir unser Leben in unsre Hand, wie man einen Eimer aus dem Brunnen zieht, sammeln wir es in unsere Hand, wie man zerstreute Körner zusammenrafft. Wir sollen uns entscheiden; wir sollen in uns eine Ausgleichung setzen zwischen den Mächten.«36 Man kann angesichts dieser bisher aufgezählten Formeln wie gesagt von einem triangularen Denken Bubers sprechen, wiewohl er zunächst stets nur zwei Pole nennt: Religion-Nation, Religion-Religiosität, Nation, geprägt von Umwelt vom oder Blut. Der Weg zur angestrebten Einheit ist nun nicht einfach die Wahl zwischen den beiden Polen, dem Eigentlichen statt des Uneigentlichen. Vielmehr geht es darum, beide, die für das menschliche Leben unentrinnbar sind, beizubehalten, aber die Dominanz, den Schwerpunkt des jüdischen Selbstbewusstseins auf die Seite des Eigentlichen zu legen. Kein Mensch kann, trotz seiner Wahl des Eigentlichen, auf den andern Pol verzichten. Jeder Mensch ist in einen Kosmos eingestellt, von dem seine Eindrücke aufgebaut sind. Für einen nationalen Kos35
Das Judentum und die Juden, Werkausgabe, S. 225–226 mit einer sprachlichen Verdeutli-
36
Das Judentum und die Juden, Werkausgabe, S. 225; Der Jude und sein Judentum, S. 15–16.
chung aus Der Jude und sein Judentum, S. 17.
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mos sind dies Heimat, Sprache, Sitte und Familie. Kurz, der Mensch »fühlt sich denen zugehörig, die mit ihm die gleichen konstanten Elemente des Erlebens haben, und ihre Gesamtheit empfindet er auf dieser Stufe als sein Volk.«37 Diese Identifikationsfaktoren sind das, was Buber die Äußeren, die Umwelt, genannt hat. Dies ist allerdings eine nur niedrige Stufe der Identifikation. Buber will den Menschen, der nach Dauer sucht, nach bleibender Substanz, nach dem »Ich seines Geistes […]: als dauernde Substanz.«38 Und diese Substanz sieht Buber für das jüdische Nationalbewusstsein da, wo sich der einzelne Jude als Glied der langen Geburten- und Erlebniskette der jüdischen Geschichte sieht, dann wenn »er die Folge der Geschlechter entdeckt, die Reihe der Väter und der Mütter schaut, die zu ihm geführt hat, und inne wird, was alles an Zusammenkommen der Menschen, an Zusammenfließen des Blutes ihn hervorgebracht hat, welcher Sphärenreigen von Zeugungen und Geburten ihn emporgerufen hat. Er fühlt in dieser Unsterblichkeit der Generationen die Gemeinschaft des Blutes, und er fühlt sie als das Vorleben seines Ich, als die Dauer seines Ich in der unendlichen Vergangenheit. Und dazu gesellt sich, von diesem Gefühl gefördert, die Entdeckung des Blutes als der wurzelhaften, nährenden Macht im Einzelnen, die Entdeckung, daß die tiefsten Schichten unseres Wesens vom Blute bestimmt, daß unser Gedanke und unser Wille zu innerst von ihm gefärbt sind. Jetzt findet und empfindet er: die Umwelt ist die Welt der Eindrücke und Einflüsse, das Blut ist die Welt der beeindruckbaren, beeinflußbaren Substanz, die sie alle in ihren Gehalt aufnimmt, in ihre Form verarbeitet. Und nun fühlt er sich zugehörig nicht mehr der Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche konstante Elemente des Erlebens haben, sondern der tieferen Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche Substanz haben. Einst kam er zu dem Gefühle der Zugehörigkeit aus der äußeren Erfahrung, nun aus der inneren. Auf der ersten Stufe repräsentierte das Volk ihm die Welt, nun die Seele. Jetzt ist ihm das Volk eine Gemeinschaft von Menschen, die waren, sind und sein werden, eine Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen, die zusammen eine Einheit darstellen; und dies ist eben die Einheit, die er als den Grund seines Ich empfindet, seines Ich, das in diese große Kette als ein notwendiges Glied an einem von Ewigkeit bestimmten Orte eingefügt ist.«39 Die Dominanz dieses individuell empfundenen historischen Bewusstseins ist es, was die ersehnte Einheit zwischen Äußerlichem und Innerlichem herstellt. 37
Der Jude und sein Judentum, S. 12.
38
Der Jude und sein Judentum, S. 12.
39
Der Jude und sein Judentum, S. 13; Werkausgabe, Bd. 3, S. 222–223.
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Es ist diese Struktur von zwei Polen die durch die Einheit umfasst werden sollen, die sich auch in den folgenden von Buber aufgestellten Polpaaren wiederholen wird und der zugehörigen anzustrebenden Einheit, die durch das individuelle, von innen kommende Bewusstsein erlangt wird.
2.3.2 Dualität als universelle »Urzweiheit« 2.3.2.1 Die »Urzweiheit« individual- und völkerpsychologisch In der zweiten und dritten Rede zum Judentum unter den Titeln Das Judentum und die Menschheit sowie Die Erneuerung des Judentums nimmt Buber das Motiv von Israels Mission in dieser Welt auf, ein Gedanke der zur Beantwortung der stets bedrängenden Frage des Sinns des jüdischen Exils oder der Zerstreuung Israels unter die Völker der Welt entwickelt wurde.40 Auch diese Aufgabe des unter die Völker zerstreuten Israel spannt Buber in sein zwei- beziehungsweise dreipolares Denken ein. Damit Israel eine universelle Mission für alle Völker erfüllen kann, müssen die beiden Grundpole und deren Überwindung universeller Natur sein. Darum beschreibt Buber die »Urzweiheit« und das Ziel ihrer Überwindung nun in psychologischen Kategorien. Er benützt dafür ein Zitat des Schriftstellers Jakob Wassermann,41 in dem Buber den »rätselhaften, furchtbaren und schöpferischen Widerspruch des jüdischen Daseins« adäquat ausgedrückt fand: »›Dies ist sicher: ein Schauspieler oder ein wahrer Mensch; der Schönheit fähig und doch häßlich; lüstern und asketisch, ein Scharlatan oder ein Würfelspieler, ein Fanatiker oder ein feiger Sklave, alles das ist der Jude.‹ […] die mutigste Wahrhaftigkeit neben der Verlogenheit des innersten Lebensgrundes; der letzte Opferwille neben der gierigsten Selbstsucht. Kein Volk hat so niederträchtige Spieler und Verräter, kein Volk so erhabene Propheten und Erlöser hervorgebracht.«42 Was Buber hier beschreibt, ist ihm ein Beispiel dafür, was er anschließend als die allgemeinmenschliche psychische Dynamik beschreibt, die immer wieder als Zweiheit erscheint, ja er nennt dies das »Mysterium der Urzweiheit«. Und wieder folgt als dritter Pol die überwölbende Einheit, die sich insbesondere und besonders stark im jüdischen Volk Ausdruck verschafft »das Streben des Juden nach Einheit«. Und gerade darin sieht Buber die paradigmatische jüdi40
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 481. 486. 487. 501. 514. 541. 574. 575. 576. 648. 656.
41
J. Wassermann, Sabbatai Zewi (Ende), in: Donna Johanna von Castilien, München 1916.
42
Der Jude und sein Judentum, S. 19–20.
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sche Rolle für die Völker der Welt: »Das Streben des Juden nach Einheit ist es, was das Judentum zu einem Phänomen der Menschheit, die Judenfrage zu einer menschheitlichen Frage macht.«43 Die Mission des Judentums an die Menschheit ist demnach für Buber »Das Streben nach Einheit. Nach Einheit im einzelnen Menschen. Nach Einheit zwischen den Teilen des Volkes, zwischen den Völkern, zwischen der Menschheit und allem Lebendigen. Nach Einheit zwischen Gott und Welt.«44 Auch in dieser Phase seines Denkens ist dieses Streben nach Einheit der Punkt der Berührung mit der Transzendenz. Aber diese Transzendenz wird hier mit Hermann Cohen zu einer postulierten Transzendenz,45 die der Mensch braucht, um die Zweiheit zu über-leben. Der Mensch ist es, der aus der Idee der Einheit die Idee des einen Gottes erschuf: »Das Streben nach Einheit ist es, was den Juden schöpferisch gemacht hat. Aus der Entzweiung des Ich nach Einheit strebend, schuf er die Idee des Einheitsgottes.«46 Dieses Streben des Juden nach Einheit ist es, was Buber anschließend die »Tendenz der Einheit« nennt, die er im Geiste der alten Völkerpsychologie47 als den Volkscharakter des Juden sieht. Eine der Triebkräfte für diese Einheitstendenz im Juden ist die Sehnsucht, seine innere Entzweiung in einer absoluten Einheit zu retten und zu erheben. Und noch einmal lehnt sich Buber an Hermann Cohen an, wenn er sagt, dass der jüdische Volkscharakter die Tendenz zur Einheit aus zwei Quellen schöpft. Die erste ist eine philosophische, die an Cohen erinnernde Bestrebung, alles was man wahrnimmt in Begriffe zu fassen in immer höher schreitenden Begriffspyramiden bis zum Begriff der Begriffe, der alles in eins bindet.48 Die zweite Quelle ist psychologisch, nämlich die schon genannte Sehnsucht des Juden, seine innere Entzweiung zu überwinden. Also Ratio und Psyche treiben den Juden zur Gottesidee, zur Idee einer transzendenten Einheit:
43
Der Jude und sein Judentum, S. 21.
44
Der Jude und sein Judentum, S. 22.
45
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 483. 624. 631; u. vgl. A. Geiger, ebenda, S. 591. 606. 612.
46
Der Jude und sein Judentum, S. 23.
47
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 486. 459. 486. 561. 598. 599.
48
Vgl. zu H. Cohen, Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 621. 623. 624. 632. 636. 650.
647.
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»Beide Quellen strömen in der Gottesidee der Propheten zusammen. Es entsteht die Idee der transzendenten Einheit. Des weltschaffenden, weltbeherrschenden, weltliebenden Gottes.«49 Angesichts dieser Aussagen wird es nicht mehr verwundern, wenn im dialogischen Denken Bubers, in Ich und Du, die rein innermenschliche Begegnung durch das transzendente Du überwölbt wird. 2.3.2.2 Dualität der Weltwahrnehmung: Orientierung oder Verwirklichung In seiner Schrift Daniel. Gespräche von der Verwirklichung von 191350 überträgt Buber sein Modell der Dualität und Einheit, das zuletzt psychologisch ausgeführt war, auf die Erkenntnis des Menschen, auf dessen Wahrnehmung der ihm gegenübertretenden Welt, der Menschen, der Tiere oder der Natur. Mit diesem neuerlichen denkerischen Anlauf will Buber einer verbreiteten51 Unzufriedenheit seiner Zeit steuern. Diese Unzufriedenheit war ausgelöst durch die Erdrückung des Menschen durch die von den modernen Wissenschaften, der »Naturerforschung«, zutage geförderten weit ausgefächerten Erkenntnisse und dem darüber empfundenen Verlust einer einheitlichen Weltsicht sowie dem allseits zu beklagenden Verlust einer den Menschen eigenen »Richtung« im Chaos der Informationen. Auch hier geht es Buber nicht um die Ablehnung des Orientierungswissens insgesamt, sondern um dessen sachgerechte Einordnung in das Leben des Menschen. Buber beklagt das Verschwinden von Menschen, die er die »Realisierenden« nennt gegenüber der zunehmenden Zahl der sogenannten »Leistenden«. In diesem Verlust sieht er die negative »Signatur der Zeit«, die seine Bitterkeit erregt.52 Buber verlässt mit diesem Thema das Judentum als direktem oder indirektem Gegenstand seines Denkens und spricht ein allgemeines »Problem« seiner Zeit an. 2.3.2.2.1 Orientieren oder Realisieren Das in den bisherigen Texten sichtbar gewordene duale Muster der Analysen Bubers wird nun auf die menschlichen Erkenntnisweisen, auf seine Weisen der
49
Der Jude und sein Judentum, S. 35.
50
Erstausgabe Leipzig (Insel-Verlag) 1913; wieder in: Martin Buber. Werke, Bd. 1 München-
51
Vgl. Paul Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis
52
Daniel, Werke, 1. Bd., S. 31. 29; Werkausgabe, Bd. 1 (Hg. M. Treml, Gütersloh 2001),
Heidelberg 1962. hin zu ›Ich und Du‹. Königstein 1978. S. 183–245.
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Weltwahrnehmung, übertragen. Auch auf diesem erkenntnistheoretischen Feld sieht Buber eine negative und eine positive Möglichkeit der Menschen, die Welt zu sehen, oder mit ihr umzugehen. Und wieder bedeutet die Negativbesetzung der einen Seite nicht deren völlige Verwerfung, sondern nur die Klage über deren Dominanz. Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass bei Buber wohl unter dem Einfluss seines Lehrers Wilhelm Dilthey53 das Thema der »Weltwahrnehmung« unter dem Begriff des »Erlebens« firmiert. Die in diesem Zusammenhang von Buber verwendeten Begriffe zeigen jedoch, dass er unter dem Begriff des »Erlebens« die generelle Wahrnehmung der Welt durch den Menschen meint und nicht ein emotionales Erlebnismoment. Der Begriff »Erleben« steht in Bubers Schrift Daniel an der Stelle, die man gewöhnlich als Erkennen benennen würde. Man vergleiche dazu Dilthey: »Aber eben darum können für das Studium der Außenwelt die unter diesen Bedingungen entwickelten Begriffe nur Zeichen sein, welche, als Hilfsmittel des Zusammenhangs im Bewußtsein, zur Lösung der Aufgabe der Erkenntniß in das System der Wahrnehmungen eingesetzt werden. Denn das Erkennen vermag nicht an die Stelle von Erlebniß eine von ihm unabhängige Realität zu setzen. Es vermag nur, das in Erleben und Erfahren Gegebene auf einen Zusammenhang von Bedingungen zurückzuführen, in welchem es begreiflich wird. Es kann die konstanten Beziehungen von Theilinhalten feststellen, welche in den mannichfachen Gestalten des Naturlebens wiederkehren. Verläßt man daher den Erfahrungsbezirk selber, so hat man es nur mit erdachten Begriffen zu thun, aber nicht mit Realität, und die Atome sind unter diesem Gesichtspunkte, wenn sie Entitäten zu sein beanspruchen, nicht besser als die substantialen Formen: sie sind Geschöpfe des wissenschaftlichen Verstandes.«54 Die Erkenntnis ist das tatsächlich Erlebte, die wissenschaftliche Erklärung ist ein Konstrukt des menschlichen Verstandes. Entsprechend stellt es auch Buber dar. Das Erleben ist auch für ihn die grundsätzliche Weise der Welterkenntnis, die jedoch unterschiedliche Formen oder vielleicht besser »Kategorien« des Wahrnehmens kennt. Buber steht mit diesem Zugang zur menschlichen Weltwahrnehmung zugleich dem jüdischen Denker nahe, der seine Philosophie buchstäblich gelebt hat, nämlich Ahron David Gordon (1856–1922).55 Gordon seinerseits 53
W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Stu-
54
Dilthey, Geisteswissenschaften, S. 469f.
55
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 214–286.
dium der Gesellschaft und Geschichte, Bd. 1, Leipzig 1883; online: deutsches textarchiv.de
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hat in seinem Denken eine große Nähe zu solch zeitgenössischen Denkern wie Arthur Schopenhauer und Henri Bergson, wie man im vierten Band des Jüdischen Denkens nachlesen kann.56 Auch bei Gordon muss die Welterkenntnis des Menschen »Weltwahrnehmung« genannt werden, denn zu ihr gehört laut Gordon neben der kognitiv-wissenschaftlichen Erkenntnis, das Gefühl als Weltwahrnehmung und schließlich das Er-Leben der Welt im Lebensvollzug.57 Bei Buber sind die zu unterscheidenden Weisen der Weltwahrnehmung zum einen das kategorisierende Orientierungswissen der Forschung und zum zweiten das Realisieren beziehungsweise Verwirklichen, das ähnlich wie bei Gordons Er-leben nicht im Forschungslabor, sondern im Lebensvollzug geschieht. So sagt Daniel zu seinem Gesprächspartner Ulrich im Gespräch »Von der Wirklichkeit«: »Wir sprachen ja schon einmal davon, daß es ein doppeltes Verhalten des Menschen zu seinem Erleben gibt: das Orientieren oder Einstellen und das Realisieren oder Verwirklichen. Was du tuend und duldend, schaffend und genießend erlebst, kannst du um deiner Zwecke willen in den Zusammenhang der Erfahrung einreihen oder um seiner selbst willen in seiner eigenen Kraft und Helligkeit erfassen. Indem du es der Erfahrung einfügst, bearbeitest du es nach ihren Formen und Gesetzen. […] du […] machst es zu einem Ding im Raume, versicherst es an seinem Ort, mit der Ziffer der Luftsäule über ihm und der Ziffer der Erdanziehung unter ihm, mit einer unabschüttelbar festen Beziehung zu jedem anderen Punkte der Welt. […] Ist es aber in diese und ähnliche Gefüge und Getriebe richtig eingestellt worden, dass die Einstellungen zueinander stimmen und es in ihnen zu jeder Zeit wiedergefunden zu werden vermag, und kann der Abriß der Einstellungen in einem allgemein verständlichen Satz ausgesprochen werden, so wird dieser Satz gemeiniglich Wahrheit genannt. […] Nur von Wirklichkeit sollte man bei alledem nicht reden. Ulrich: Und wie, Daniel, so möchtest Du behaupten, auch die Wissenschaft, die sich doch am Naturgeschehen und am zweckmäßigen Handeln bewährt, sei nicht durchaus auf der Wirklichkeit erbaut? Daniel: Das meine ich allerdings. […]«58
56
Jüdisches Denken, Bd. 4, insbesondere die Seiten 234–248; zu Bubers Kenntnis von Gordon siehe M. Buber, Pfade in Utopia, Heidelberg 1985, S. 349–366; und die Artikel Gordons in Bubers Zeitschrift der Jude; und Avraham Shapira, Revival and Legacy: Martin Buberʼs Attitude to A. D. Gordon, Journal of Israeli History, 18:1, (1997) S. 29–45; online: https://doi.org/10.1080/13531049708576095
57
Siehe: Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 235–240.
58
Daniel, Werkausgabe Bd. 1, S. 192–194; Werke, Bd. 1, S. 22–23.
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Es ist deutlich, für Buber ist die wissenschaftliche »Wahrheit« nicht gleich der »Wirklichkeit«. Was Buber »Wirklichkeit« nennt, kann folglich keine kognitive, ordnende und kategorisierende Welterkenntnis meinen. Die »Wahrheit« ist ein Orientierungswissen, eine statische Größe, ein Faktum, das im Experiment jederzeit wiederholbar ist. Die »Wirklichkeit« ist hingegen eine aktive, je einmalige Weltwahrnehmungsweise, ähnlich dem »Er-Leben« von A. D. Gordon. Hugo Bergmann verweist in diesem Zusammenhang auf den WissenschaftsPhilosophen Emile Meyerson (1859–1933)59 und dessen Analyse der Methoden der Wissenschaft. Demnach gebe es in der Wissenschaft zwei sich widersprechende Tendenzen: Da ist zum eine die Tendenz, alles aus Bekanntem ableiten und erklären zu wollen. Dahinter steht die Theorie einer umfassenden Ursachenkette. Dieses Erklärungsmuster kann demnach eigentlich nichts Neues erkennen lassen, weil das Verursachte ja stets in der Ursache schon vorhanden war. Hierbei wird also das Unbekannte stets auf das Bekannte zurückgeführt. Das so erklärte »Neue« ist damit das immer schon Bekannte. Demgegenüber steht die Tendenz, unter Absehung all dessen die Dinge zu erkennen wie sie wirklich sind und die folglich mit echten Neuerungen rechnet, mit bisher völlig Unbekanntem. Die Einsichten Meyersons aufgreifend gibt Bergmann zur Erläuterung der Buberschen Begriffe »Wirklichkeit« und »Verwirklichen« ein Beispiel, das gemäß der Konzeption Diltheys zeigen kann, dass die kategorisierende Wissenschaft ein künstliches Bild von der Welt zeichnet, eine Konstrukt, das sich in abstrakten Definitionen ergeht, wodurch sie der Welt ihre »Wirklichkeit« raubt. »Verwirklichen« heißt somit die Gewinnung der Wirklichkeit. Bergmanns Beispiel ist das des Betrachters eines Hauses: Zunächst sieht der Betrachter nur einzelne Phänomene, eine rote Farbe, eine geschwungene Linie, Dinge die ihn ansprechen und beeindrucken. Sobald dieser Betrachter aber das Gesehene in dem Begriff »Haus« zusammenfasst, verlieren diese Details ihre Unmittelbarkeit und ihr Interesse, das Gesehene ist nun kategorisiert als Haus und wird künftig als Haus unter Häusern betrachtet. Die erlebte Wirklichkeit waren aber jene Details, die erst im Nachhinein zum Begriff führten. »Verwirklichen« heißt in diesem Zusammenhang demnach, die Abstraktion der begrifflichen Wissenschaft beiseitelassen und das Gegenüber wahrnehmen wie es einem zunächst begegnet. Dasselbe gilt analog für ein menschliches Gegenüber. Sobald das Gegenüber in die Gattung Mensch eingereiht wird, ist er Mensch unter Menschen, Teil einer Gattung und nicht mehr das individuelle Unbekannte, das einem begegnet war und einen angesprochen hat.60
59
E. Meyerson, Identité et réalité, Paris 1908.
60
Siehe S. H. Bergmann Hoge ha-Dor, Jerusalem 2002 (Tel Aviv 1935), S. 180–188.
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2.3.2.2.2 Wirklichkeit Auch im Daniel hält Buber an seiner dualen Denkweise fest. Das wissenschaftliche Orientierungswissen soll nicht abgelehnt werden, es soll vielmehr nur in seiner allbeherrschenden Stellung beschränkt werden und hinter das Wahrnehmen durch »Realisieren« oder »Verwirklichen« zurücktreten, in einer hierarchischunterordnenden Einheit, die sichert, dass das Verwirklichen nicht vom Orientieren verdrängt wird. Denn, so die Auffassung Bubers, die wahrhafte Quelle unserer »Erkenntnis« ist die Realisierung, das verwirklichende Leben, welches dann erst in einem zweiten Schritt in die Orientierung eingeordnet wird: »Und wie sollte ich diesen unüberblickbaren Bau der Wissenschaft und sein wundersames Werden nicht ehren? Wie könnte ich ihn hinwegwünschen, hinter ihn zurückwünschen, ohne mich an der Macht des Geistes zu Vergehen? Denn überall, wo ein Wissen ansetzte, wo es begann, wo es schöpferisch war, war es nicht orientierend, sondern realisierend: Versenkung in das reine Erlebnis – und das so Gefundene wurde in das Bett der Einstellung übergeleitet. Und überall, wo das Orientierungswissen selbständig waltete, war es Raubwirtschaft, denn es geschah auf Kosten der mütterlichen, nährenden Säfte des Erlebnisses, die nur die Verwirklichung in Größeres als in einen kleinen Nutzen oder eine kleine Sicherheit umzusetzen vermag. Und diese Übermacht der Orientierung ist es, woran ich leide, wogegen ich mich empöre – um der Realisierung willen, die aus dem Erlebnis Wirklichkeit schafft.«61 Das Erlebnis des Menschen erscheint zunächst neutral, ob daraus dann Wahrheit oder Wirklichkeit wird, entscheidet der Mensch durch sein Tun oder seine Einstellung. Das Entstehen von Wirklichkeit aus einem Erlebnis ist ein »Werk der Seele«, sie formt aus dem Erlebnis Wirklichkeit oder macht es alternativ zum Orientierungswissen.62 Als Orientierungswissen ist das Erlebnis eine bloße Erfahrung geworden. Die offenbar legitime Reihenfolge ist die, dass das im Erlebnis Verwirklichte hernach »eingestellt«, das heißt eingeordnet und zum Orientierungswissen wird. Der Nutzen und der Sinn dieses orientierenden Wissens ist jedoch ein anderer als der des Verwirklichten. Das Orientierungswissen ist eine andere Kategorie der Weltwahrnehmung. Das Wissen lässt sich wiederholen, als Erfahrung einordnen und definieren. Nicht so das Verwirklichte. Das wesentliche Element des Verwirklichens ist die menschliche Konzentration auf das gerade sich Ereignende unter Ausblendung all der möglichen Zu-
61
Daniel, Werkausgabe Bd. 1, S. 194; Werke, Bd. 1, S. 23.
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Daniel, Werkausgabe Bd. 1, S. 194; Werke, Bd. 1, S. 23.
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sammenhänge oder der reflektierenden Zuordnung. Der Augenblick des Verwirklichens ist einer, in welchem der Erlebende »vom Schauer des Ereignisses hingenommen« ist und das der Mensch später im Rückblick als »gelebte Zeit«, nicht nur als »Sache« erinnert. Die Zeiten der Verwirklichung sind die Zeiten der menschlichen Konzentration auf das ihm gerade widerfahrende, nicht Zeiten, in denen das Widerfahrnis sogleich relativiert und als dies oder das kategorisiert wird. Die Zeiten der Verwirklichung sind nicht »die Stunden, in denen die Vielheit das Eine umschattete und schwächte« sondern »in denen das Eine in der ungeschmälerten Fülle seines Glanzes strahlte, weil es auf nichts anderes bezogen wurde als auf es selber«: »Ja dies heißt verwirklichen: das Erlebnis auf nichts anderes beziehen als auf es selber. Und hier ist der Ort, wo sich die Kraft des Menschengeistes erweckt und sammelt und schöpferisch wird. Denn wo die Orientierung waltet, ist jene kluge Ökonomie daheim, deren Klugheit zum Himmel stinkt, weil sie nur spart und nicht erneuert.«63 »Orientierung stellt alles Geschehn in Formeln, Regeln, Zusammenhänge ein, die in ihrem Bezirk nützlich sind, aber einem freieren abgeschnitten unfruchtbar bleiben; Realisieren bezieht jeden Vorgang auf nichts als auf seinen eigenen Gehalt und bildet ihn gerade dadurch zu einem Signum des Ewigen.«64 Es ist diese Bewertung des Erlebens, welche man zurecht Erlebnis-Mystik Bubers genannt hat, die Buber sogar selbst einmal mit der unio des »Primitiven« mit seinem Gott vergleicht.65 Wirklichkeit ist für den Buber der »Daniel-Phase« ein psychologischepistemischer Begriff. Er bezeichnet die spontane, nicht über den Augenblick und den Ort hinausdenkende Hingegebenheit des Menschen an das Erleben. »Denn allein dies ist Wirklichkeit, was so erlebt ist.«66 Der Begriff der Wirklichkeit ist es, den Buber zum Sprung hin zur Ewigkeit, ja hin zu Gott nutzt. Das Verwirklichen, das die Welt nicht auf den Bahnen der festen überkommenen Wissensordnung wahrnimmt, sondern stets Neues erlebt, trägt das Signum des Ewigen, das sich in der Verwirklichung ereignet. In diesem Ereignis ist der realisierende Mensch »ewig am Neuen; ewig am Äußersten;
63
Daniel, Werkausgabe Bd. 1, S. 196; Werke, Bd. 1, S. 25.
64
Daniel, Werkausgabe Bd. 1, S. 213; Werke, Bd. 1, 42.
65
Daniel, Werkausgabe Bd. 1, S. 213; Werke, Bd. 1, S. 43; Mendes-Flohr, Von der Mystik,
66
Daniel, Werkausgabe Bd. 1, S. 197; Werke, Bd. 1, S. 26.
S. 79–81.
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ewig an Gott […] da ja Gott dem Menschen sich nicht anders verwirklichen kann.«67 Buber weiß um die Momentanhaftigkeit dieser Wirklichkeit, weiß, dass sie nicht die einzige Lebensgrundlage des Menschen sein kann, es dem Menschen nicht möglich ist, alleine aus dieser Wirklichkeit zu leben. Um diesen Sachverhalt zu erklären, greift Buber zu einer Sprache, wie man sie in der Mystik findet, gerade auch in dem von ihm so hoch geschätzten Ḥasidismus.68 Die Mystiker wissen nämlich sehr wohl, dass man im Zustand der unio mystica immer nur vorübergehend verharren kann, weil dieser ekstatische Zustand kräfteraubend ist und letztlich die physischen Lebensgrundlagen des Menschen zerstören müsste. Darum reden auch die Mystiker von der Notwendigkeit der steten Rückkehr in den natürlichen menschlichen Zustand. Wer nicht aus dem ekstatischen Zustand der unio mystica zurückkehrt, wird den »Tod im Kuss« sterben.69 Ganz analog beschreibt Buber das unumgängliche Pendeln des Menschen zwischen den beiden Weisen der Weltwahrnehmung. Wieder zeigt sich hier die eigentlich triangulare Grundlage des Buberschen Denkens: Es gibt zwei Weisen der Weltwahrnehmung die sich gegenüberstehen. Der Mensch kann und darf sich jedoch nicht nur für eine der beiden Weisen entscheiden, weil er sonst entweder an der Weltwirklichkeit vorübergeht oder aber an ihr zugrundegeht. Der dritte Pol im Leben des Menschen ist die Verbindung beider in dem ihnen nötigen Maß: »Und so gibt es auch nicht eine realisierende, gibt es nicht eine orientierende Menschenart; ein nur realisierender müßte in den Gott vergehen, ein nur orientierender in das Nichts verkommen; sondern Realisierung und Orientierung wohnen nah beisammen, wie Zeugung und Schwangerschaft, wie Erkenntnis und Verbreitung, wie Erfindung und Verwertung. Wie im Leben der Gemeinschaft die erlangte Wirklichkeit doch immer wieder in den Zusammenhang der Erfahrung eingestellt werden muß, so folgen auch in dem Einzelnen auf Stunden der Verwirklichung Stunden der Einstellung und müssen folgen; ist doch die einsame Wirklichkeit, wie die höchste der Wonnen, so auch die schwerste der Lasten. Aber darin sprichst du wahr, daß dem der Name eines schöpferischen Menschen zukommt, der die tätigste Kraft der Realisierung hat; in dem sich die realisierende Kraft der Seele so zum Werk gesammelt hat, daß sie Wirklichkeit für alle setzt. Seine realisierenden Stunden knüpfen sich zu einer Gipfelfolge des Ewigen, die aus der Vergänglichen Auf- und
67
Daniel, Werkausgabe Bd. 1, S. 211; Werke, Bd. 1, 40.
68
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 840. 841. 846.
69
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 373. 470. 486. 840. 846.
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Niederfolge seines Menschenlebens hervorleuchtet; aber auch in seinen Orientierungen lebt die Regung des Wirklichen fort.«70 Mit diesen Vorstellungen im Daniel ist Buber schon sehr nahe den Strukturen seines dialogischen Denkens gekommen. Da ist die grundlegende Dualität, der man aber im menschlichen Leben nicht ohne Schaden entkommen kann und auf der anderen Seite das Verbindende, das die Dinge in einer Einheit verbindet. »So ist alle Wirklichkeit erfüllte Verbundenheit, nichts Einzelnes ist in sich wirklich; alles Einzelne ist nur Voraussetzung.«71 Dieser Zustand der Verwirklichung ist aber stets ein vorübergehender, augenblickhafter, der stets in die Orientierung zurückführt. Ein Letztes muss noch gesagt werden: Das was Buber hier darstellt, ist, wie schon gesagt, eine Art Erlebnismystik und damit eine religiöse Weltanschauung wie hernach auch das Büchlein Ich und Du, das nur in seinen ersten Teilen wie eine allgemeine Weltwahrnehmungslehre erscheint, dann aber im letzten Teil sich als wahrhafte Religions-Lehre darstellt. Rivka Horwitz72 hat diese Absicht Bubers aufgrund der das Buch vorbereitenden Frankfurter Lehrhausvorlesung nachdrücklich betont, denn dort fehlen die anscheinend nicht religiösen Teile noch ganz. In Ich und Du sind sie tatsächlich nur die Grundlegung dessen, was mutatis mutandis für den Daniel gilt, nämlich dass das Ewige sich im Zeitlichen, im menschlichen Tun verwirklicht.
3.
»Ich und Du« – Bubers Dialog-Mystik
3.1
Ist Bubers Dialogik eine Form der Mystik?
Die im voranstehenden Kapitel beschriebene Erlebnis-Mystik Bubers steht strukturell schon sehr nahe an seiner Dialog-Philosophie, wie er sie in seinem Buch Ich und Du darstellt. Die oben beschriebene mystische Diktion des Pendelns des Menschen zwischen Orientieren und Verwirklichen kehrt in Ich und Du wieder. Verändert hat sich letztlich nur die Terminologie. Statt »Verwirklichen« und »Orientieren« findet man nun »Beziehung« und »Erfahrung« beziehungsweise die Grundworte »Ich-Du« und »Ich-Es« als den beiden existentiellen Möglichkeiten des Menschen. Auch hier gilt es, eine pendelnde Balance zwischen den beiden Möglichkeiten zu halten, wenn der Mensch nicht das wahre Leben verpassen oder im Augenblick des wahren Lebens untergehen will. Es ist angesichts dieser im Folgenden noch näher zu beleuchtenden Strukturgleichheit gerechtfer70
Daniel, Werkausgabe Bd. 1, S. 197; Werke, Bd. 1, S. 26–27.
71
Daniel, Werkausgabe Bd. 1, S. 198; Werke, Bd. 1, 28.
72
R. Horwitz, Buber’s Way to I and Thou.
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tigt, statt von Bubers »Dialog-Philosophie« von Bubers »Dialog-Mystik« zu sprechen. Man mag gegen diese Charakterisierung von Bubers Dialogik als »DialogMystik« einwenden, dass Buber in Ich und Du selbst mehrfach auf dem Unterschied zwischen seiner Ich-Du Begegnung und der Mystik beharrt.73 Buber sieht den wesentlichen Unterschied zwischen seiner Ich-Du-Begegnung und der Mystik darin, dass bei einer unitiven Mystik das Ich des Menschen im Du verschwindet und damit aufgehoben wird. Demgegenüber bleibe gemäß seiner dialogischen Beschreibung der Begegnung von Gott und Mensch die Trennung und das Gegenüber von Ich und Du streng gewahrt. Dies ist allerdings kein genügendes Argument, Bubers Dialogik von der Mystik abzugrenzen. Buber übersieht dabei, dass es auch Formen der Mystik und der gott-menschlichen Begegnung gibt, bei denen die Trennung von Gott und Mensch aufrechterhalten bleibt und man hierbei dennoch von »unitiver« Mystik sprechen kann. Das schlagendste Beispiel dafür ist, wie ich in meinen Darstellungen des Verhältnisses von mystischem Erleben und dessen Darstellung durch die jeweilige vorherrschende Theologie oder Philosophie zeigen konnte, die Hechalot-Mystik genannte frühe jüdische Himmelfahrtsmystik, wie sie im ersten Band des Jüdischen Denkens beschrieben wird.74 In dieser Form der Mystik tritt der Mensch vor den himmlischen Gottesthron und bleibt das Gegenüber von Gott und Engeln. Aber dennoch gibt es eine unio zwischen Gott und Mensch und zwar durch das Medium des Gesangs. Der Grund für diese distanzierte polig bleibende »unio« liegt darin, dass die frühen Mystiker sowohl Mensch wie auch Gott in personhaften Kategorien beschrieben haben. Bei Personen kann es – außer der Sexualität – keine engere Vereinung geben als die sprachliche Kommunikation. Und genau dies will ja auch Buber, der in der Begegnung des Menschen mit dem ewigen Du, das heißt Gott, streng auf die Personhaftigkeit beider Seiten beharrt.75 Personhaftigkeit und Dialogik sind kategorial so miteinander verbunden wie Geisthaftigkeit und Vereinigungsmystik. Angesichts dessen ist es geradezu gefordert,
73
Martin Buber, Ich und Du, in: M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1979, S. 85. 87.
74
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 299–340; und K. E. Grözinger, Phänomenologie der Mystik im
88. Judentum – und ihre theologische Deutung, in: W. Achtner (Hg.), Mystik als Kern der Weltreligionen? Eine protestantische Perspektive, Fribourg-Stuttgart 2017, S. 188–209; Grözinger, Jüdische Mystik, in: Ch. V. Braun, M. Brumlik (Hg.), Handbuch Jüdische Studien, KölnWeimar-Wien 2018, S. 191–210; Grözinger, Jüdische Mystik, in: Handbuch des europäischen Judentums, hrsg. v. E. V. Kotowski, J. H. Schoeps, H. Wallenborn, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2001, Bd. II, S. 127–137; Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 33–36 (hier weitere Titel). 75
M. Buber, Ich und Du, in: M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1979, S. 65–68.69.
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Bubers Beziehungs-Theologie als Dialog-Mystik zu bezeichnen, als unitive Dialogmystik von Partnern, die sich als Personen begegnen.
3.2
Überblick über die drei Teile des Buches
Ich und Du, das philosophische Hauptwerk Martin Bubers, 1923 erschienen,76 markiert Bubers Übergang von seiner Erlebnismystik zur »dialogischen« Phase, die man in Analogie zur »Erlebnismystik«, wie gesagt, gut und gerne »Dialogmystik« nennen kann. Die Schrift trägt noch deutlich die Merkmale des Übergangs: Topoi der ḥasidischen Mystik wie Buber sie verstand, Welt der Einheit, Welt der Trennung,77die Struktur und Terminologie der oben besprochenen Texte, insbesondere des Daniel, augenblickhaftes Aufscheinen des wahren Lebens, dessen verzehrende und nicht festzuhaltende Gegenwart, die ontologische Bipolarität des Seins auch im Kontext des »Verwirklichungsaktes«. Hinzu treten Einflüsse von Ferdinand Ebner78 und Franz Rosenzweig,79 denen vor allem das Element des eigentlich »Dialogischen« zu verdanken ist, ebenso die auch im Ḥasidismus bedeutsame Sprache und das Wort.80 Die zentralen, im ersten Teil des Buches dargestellten, Begriffe der neuen Philosophie sind die »Beziehung« oder »Begegnung«, welche Bubers mystischen Begriff der »Verwirklichung« ablösen. Die Bipolarität des Seins äußert sich beim Menschen als eine Dualität seiner Weltzuwendung, ausgesprochen in den beiden Grundworten81 »Ich-Du« und »Ich-Es«. Das heißt das epistemische
76
Leipzig 1923, wieder 1947 in: M. Buber, Dialogisches Leben, Zürich 1947, entspricht Heidelberg 1979 als: Das dialogische Prinzip, u. ö.; zur Geschichte der Dialogik siehe Casper, B. Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung F. Rosenzweigs, F. Ebners u. M. Bubers, Freiburg 1967; R. Horwitz, Buber’s Way to I and Thou, Heidelberg 1978; P. R. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu »Ich und Du«, Königstein 1978; Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 638–695; S. H. Bergmann, Ha-Filosofija ha-dialogit me-Kirkegaard ad Buber, Jerusalem (1974) 2010; S. H. Bergmann, Hoge ha-Dor, Jerusalem 2002, S. 179–193.
77
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 685–687; K.E. Grözinger, Martin Bubers Denken im Lichte seiner Chassidismus-Deutung, in: Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, 15 (2013, S. 51–73; K. E. Grözinger, Martin Bubers Chassidismus-Deutung, in: W. Licharz (Hg.), Dialog mit Martin Buber, Frankfurt a. M., S. 231–256.
78
F. Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente, Innsbruck
79
Zu Rosenzweig siehe Jüdisches Denken, Bd. 5. Kap. Rosenzweig.
1921. 80
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 766–773. 825–826.
81
Bei Ebner, Das Wort, ist es das »Urwort«, oder der »Ursatz«: »Am Anfang der Sprache war das Wort als Satz und das ›Ich bin‹ war der erste Satz, das »Urwort«, das allen übrigen Worten
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Modell des Daniel wird nun in ein dialogisches übertragen. Die »Ich-Du-Welt« ist die Welt der Gegenwart, der Beziehung und Einheit, sie kommt und geht wie der mystische Augenblick, aber sie ist das wirkliche Leben. Die Beziehung ist je ein alles Andere ausschließendes Ereignis in dem ein Du, Mensch, Natur oder Geistiges, dem Ich gegenübertritt, es vollständig umgreift, aber nicht mit ihm eins wird. Der Du-Welt gegenüber steht die »Es-Welt«, die »Welt der Trennung«, der Erfahrung, der Gefühle, des Ordnens und der Wissenschaft. Sie ist zwar eine beständige Welt, in der man sich einrichten kann, die aber nicht Gegenwart, sondern Vergangenheit ist. Die Welt der Beziehung schenkt dem Menschen das wahre »Du« an dem er erst zum »Ich«, zur Person, wird. Die Welt des »Es« hingegen ist unvermeidbar, denn jeder Augenblick der Begegnung sinkt alsbald in die »Es«-Welt zurück, und wird dadurch erst verstehbar, erfahrbar, verfügbar und Vergangenheit. Nicht so die »Du«-Welt, über die man nicht verfügen, sie nicht haben kann, auch nicht als Gefühl, denn sie steht im »Zwischen« von Ich und Du. Entscheidend hierfür ist, wie im Ḥasidismus, die richtige Einstellung des Menschen,82 ob er das ihm schon immer innewohnende »Du« an der Welt realisiert und sie so zum »Du« oder zum »Es« werden lässt. Im zweiten Teil des Buches prüft Buber das neu gefundene Wesen der Beziehung, an der Gesellschaft der Menschen. Diese Erörterungen legten die Deutung nahe, Buber sei vor allem an der wahren Gesellschaft interessiert, nicht wie der dritte Teil und die Erstfassung in der Frankfurter Lehrhaus-Vorlesung unter dem Titel Religion als Gegenwart nahelegen, an der wahren Religion. In der menschlichen Gesellschaft lebt der Mensch zwangsläufig in der »Es-Welt« der Verfremdung. Soll dies allerdings nicht zur Erstarrung führen, muss er stets von neuem den Geist der Beziehung erwecken, und die »Es« zum »Du« werden lassen, er muss sich von den in der »Es-Welt« waltenden Ursachenzwängen zur freien Entscheidung befreien. Erst so entsteht die Gemeinschaft der Ich’s und Du’s. Im Abschlussteil tritt das Thema der Religion in den Vordergrund, deren Deutung als Begegnung mit dem »ewigen Du«. Zentral ist für Buber, dass sich Religion inmitten der Fülle der Welt, mittels der Vielzahl der als Du begegnenden Individuen ereignet. Alle innerweltlichen Beziehungsakte weisen aber auf ihren transzendenten Anker hin, denn »Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm«.83
und Sätzen und auch Wörtern als Voraussetzung der Aussage zugrunde liegt.«, Ebner, Das Wort, S. 108. 82
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 830–835.
83
Ich und Du, S. 76.
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Dieses ewige Du steht nicht jenseits der einzelnen Begegnungen, sondern schließt sie alle ein. Das ewige Du hat man nicht ohne die Welt oder abseits von ihr, sondern nur mit ihr und an ihr. Auch der Begegnung mit dem ewigen Du eignet die vollkommene Ausschließlichkeit des Beziehungsaktes, allerdings gilt für sie: »Einzig in der Beziehung zu Gott sind unbedingte Ausschließlichkeit und unbedingte Einschließlichkeit eins, darin das All begriffen ist«.84 Religion, das heißt die Begegnung mit dem ewigen Du, geschieht im Hier und Jetzt des weltlichen Alltags.
3.3
Bubers Verhältnis zu Ferdinand Ebner
Die Nähe zu Ferdinand Ebners Buch Das Wort und die geistigen Realitäten85 bezeichnete Buber selbst als »fast unheimlich«.86 An dieser Stelle gesteht Buber immerhin ein, dieses Buch während der Niederschrift des dritten Teiles von Ich und Du gelesen zu haben und zuvor außerdem einige Stücke davon in der Zeitschrift Der Brenner. Rivka Horwitz ist diesen Hinweisen nachgegangen und kommt zu dem Schluss, dass Buber die im Brenner vorauspublizierten zentralen Teile des Buches von Ebner schon 1920 gelesen haben wird, worauf er dann das ganze Buch bestellte, das er wohl im September 1921 erhalten hatte. Ein Vergleich von Bubers im Frühjahr 1922 gehaltenen Lehrhausvorlesungen87 mit dem Endresultat im gedruckten Ich und Du macht den Schluss unausweichlich, dass Buber von Ebner tatsächlich beeinflusst war – was in der Zeit nach Abschluss der Frankfurter Lehrhausvorlesungen bis zur Endfassung von Ich und Du im Jahr 1922 geschehen ist.88 Die Nähe zu Ebner besteht vor allem darin, dass auch Ebner Gott als das ewige und für das Personwerden des Menschen unabdingbare Du des Menschen betrachtet. Bei Ebner findet sich auch der Satz, dass das Ich alleine vom Du her konstituiert wird: »Weil das Ich und Du immer nur im Verhältnis zueinander existieren, gibt es ebenso wenig ein absolutes duloses Ich, als ein ichloses Du zu denken wäre.«89 Auch das Beharren darauf, dass das Verhältnis zu Gott ein »persönliches« sei, ist für beide, Buber wie Ebner, eine wichtige Grundbedingung ei84
Ich und Du, S. 101; u. vgl. S. 80.
85
F. Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente, Innsbruck
86
Zur Geschichte des dialogischen Prinzips, in: Das dialogische Prinzip, S. 309.
87
Publiziert bei R. Horwitz, Buber’s Way to »I and Thou«. An Historical Analysis and the First
1921.
Publication of Martin Buber’s Lectures »Religion als Gegenwart«, Heidelberg 1978; nun auch in; M. Buber Werkausgabe, Bd. 12, Hg. Ashraf Noor, Gütersloh 2017, S. 87–160. 88
R. Horwitz Bubers’s Way to »I and Thou«, S. 170–182.
89
Ebner, Das Wort, S. 19.
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nes dialogischen Verhältnisses des Menschen zu Gott: Bei Ebner: »Weil das Gottesverhältnis ein persönliches ist und sein soll, kann es nur als das Verhältnis des Ichs zum Du verstanden werden, der ›ersten‹ zur ›zweiten‹ Person, wie man in der Grammatik sagt und dabei keine Rangordnung zum Ausdruck bringt.«90 Weiter: »Jedem persönlichen Verhältnisse liegt das Verhältnis des Ichs zum Du zugrunde. Daß der Mensch ein solches zu Gott hat und haben soll, macht die Geistigkeit seiner Existenz aus. Im Verhältnis zu Gott, in dem sein Ich aus der den geistigen Tod bringenden Einsamkeit heraustritt, ›realisiert‹ sich sein geistiges Leben. Das Ich hat keine ›absolute‹ Existenz, denn es existiert nur im Verhältnis zum Du.«91 Es gäbe noch weitere frappierende Übereinstimmungen zu Ebner aufzuzählen, nicht zuletzt hinsichtlich der Bedeutung der Sprache für die Konstitution der Begegnung zwischen dem Ich und dem Du. Angesichts dieser tatsächlich frappierenden Übereinstimmungen darf man allerdings nicht die tiefe Kluft zwischen Buber und Ebners Denken ausblenden. Sie besteht, vor allem in dem bedingungslosen Wahrheitsanspruch des Christentums bei Ebner, wiewohl Buber auch noch in Ich und Du glaubte, gerade Jesu Verhältnis zu seinem Vater als das beispielhafte Ich-Du-Verhältnis herausstellen zu sollen.92 Auffällig ist auch, dass Buber keine Empörung zu den klaren antijüdischen Ausfällen Ebners zeigt, der »dem Juden« wie dem Weib jegliche »Genialität« abspricht und dergleichen mehr.93 Wesentlich ist des Weiteren der Unterschied, dass Ebner das wahre und wirkliche Du des Menschen nur in Gott sieht, während Buber die innermenschliche und irdische Ich-Du Beziehung zum durchscheinenden Prisma der Gott-Mensch-Beziehung machte.
3.4
Die zwiespältige Haltung des Menschen zur Welt: Beziehung oder Erfahrung
Konnte man das im Daniel verhandelte Thema als »erkenntnistheoretisch« definieren, so ist in Bubers Ich und Du dieses Thema samt seinen dort vorgeprägten Strukturen in den Bereich des menschlichen Verhaltens, seiner Einstellung gegenüber dem ihm Begegnenden übertragen. Also nicht die Art der Wahrnehmung wie im Daniel steht hier zur Debatte, sondern die Art des sich in Beziehungsetzens zu den Dingen und Wesen dieser Welt. Um dies sogleich am Anfang klar zu machen, eröffnet Buber das Buch mit der programmatischen Ankündigung:
90
Ebner, Das Wort, S. 25.
91
Ebner, Das Wort, S. 26.
92
Ich und Du, S. 69.
93
Ebner, Das Wort, S. 200–202.
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»Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung.«94 Diese wiederum duale Einstellungsmöglichkeit des Menschen zu den ihm begegnenden Dingen und Lebewesen bezeichnet Buber mit den Begriffspaaren der beiden sogenannten Grundworte, die dem Menschen zu Gebote stehen, nämlich »Ich-Du« und »Ich-Es«. Diese beiden Wortpaare, von Buber »Grundworte« genannt, sind die Analogien oder vielleicht besser Transformationen von »Verwirklichung« und »Orientierung« im Daniel. Das voranstehende ist das involvierte Verhalten des Menschen, das andere das distanziert sich orientierende. Entscheidend für das Verstehen dessen, was Buber mit dem Begriff »Grundwort« sagen will ist, dass damit ein dynamisch pendelnder Identitätsbegriff des Menschen ausgesagt wird. Das Ich des Menschen schwankt demnach zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Das Ich des Menschen wird je durch seine Haltung, sein Verhalten dem ihm Begegnenden gegenüber definiert – und gemäß dem dualistischen Denken Bubers – gibt es eben diese beiden Möglichkeiten. Der Mensch ist gerade dann immer das der beiden Ichs, dessen Grundwort er »ausspricht«, das involvierte oder das distanzierte Ich. Das distanzierte Ich des Ich-Es Grundwortes nimmt aus der Begegnung eine Erfahrung auf, er hat damit ein Etwas, das er in sich trägt. Das Aufnehmen dieser Erfahrung bedeutet aber, dass das Ich und die Welt getrennt bleiben, »Der Erfahrende hat keinen Anteil an der Welt […] Die Welt hat keinen Anteil an der Erfahrung.«95 Ganz anders hingegen beim Ich des Grundwortes Ich-Du. Dieses stiftet eine »Beziehung« zwischen der Welt, dem Begegnenden und dem ich. Die Beziehung gehört dem Menschen nicht, sie pulsiert zwischen der Welt und dem Ich, sie hat er nicht als Besitz, sie kann nur stets immer neu gelebt, vollzogen werden. Natürlich weiß Buber um das Problem, dass er die Begegnung mit der Natur und mit geistigen Gegebenheiten, wie etwa das Kunstwerk, als Beziehung beschreibt analog zur Begegnung zwischen sprechenden Menschenwesen. Um diese so verschiedenen Begegnungs-Paare, Mensch-Mensch, Mensch-Natur, Menschgeistige Dinge, dennoch als eine Kategorie der Beziehung schaffenden Begegnung zu fassen, nennt er die erste »sprachlich«, die zweite »untersprachlich« und die dritte »sprachlos« aber »sprachzeugend«. Bezeichnend ist, dass Buber die nicht geringe Differenz der Beziehung zu den drei so verschiedenen Kategorien im Sprachlichen zusammenfasst. Hier nimmt Buber, bewusst oder unbewusst, eine kabbalistisch-ḥasidische Denkformel auf. Denn im Sinne des sprachmystischen Denkens der Kabbala und des Ḥasidismus, wurde die physische Welt durch das Wort erschaffen, so dass das Wort, die Sprache, das innerste Wesen auch der Naturdinge bildet, der Mensch hingegen hat Anteil an der Sprache und 94
Zitate nach der Ausgabe: Das Dialogische Prinzip, Heidelberg 1979. Hier S. 7.
95
Ich und Du, S. 9.
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kann in ein respondierendes Verhältnis zum Schöpfer treten, gar selbst mit der Sprache Weltdinge erschaffen, während die wortlose Sprache ein Medium auf dem Weg zur unio mystica bildet, die ihn nach ḥasidischer Tradition zugleich mit neuer sprachlicher Kreativkraft erfüllt.96 Gott als Wort ist das Wesen allen Seins und allen Seienden. Vor diesem sprachmythologischen Hintergrund wird auch Bubers schon im ersten Teil des Buches etwas unvermittelte Hinwendung zur Theologie verständlich: »In jeder Sphäre, durch jedes uns gegenwärtig Werdende blicken wir an den Saum des ewigen Du hin, aus jedem vernehmen wir ein Wehen von ihm, in jedem Du reden wir das ewige an, in jeder Sphäre nach ihrer Weise.«97 Wo Sprache als Gottheit, als Kreativkraft und Kommunikationsmedium mit der Gottheit, verstanden wird, hat Bubers Satz einen plausiblen Sinn. Buber entpuppt sich demnach mit seiner sprachlichen Konzeption der »Transzendenz«, sowie des Menschseins und der Kosmologie als Sprachmystiker im Sinne der jüdisch mystisch-esoterischen Tradition. Und da Sprache allemale auf Anrede und Angeredetwerden beruht, ist es nur sachgerecht, wenn Buber diese Wesensbestimmung allen Seins als dialogisch beschreibt. Im Du-Sagen »ist die Wiege des Wirklichen Lebens.«98 Im Du-Sagen hat man Anteil an dem wortwesenhaften Sein. Auch solche Sätze wie »Das Grundwort kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden«, die sich auf das dialogische Grundwort beziehen hat seinen Platz in dem genannten sprachmystischen Denken, denn der Mensch selbst gilt da als nichts anderes als sein Name, in ihm ist er sprachlich konstituiert, er ist sein Wesen.99 Demgegenüber ist die Sprache der distanzierenden Wissenschaft, die Sprache des Ich-Es nicht die Sprache der göttlichen Schöpferkraft. Den Begriff »Grundwort« verwendete Buber in seiner Frankfurter LehrhausVorlesung vom Frühjahr 1922 noch nicht. Dort spricht er stets von Es-Welt und Ich-Welt außer ein Mal in einer Antwort auf eine Zuhörer-Frage. Dort hat der Begriff aber noch nicht die Bedeutung des als Grundwort bezeichneten Wortpaares. Als er aber die Endgestalt von Ich und Du ausarbeitete, hatte er dann wohl unter dem Einfluss der Ebner-Lektüre, die Wortpaare »Ich-Es« und »Ich-Du« an die Stelle von Es-Welt und Du-Welt gesetzt und diese »Grundworte« genannt. Es ist nun auch ein Blick in Ebners Text, der die Bedeutung des Buberschen Begriffs eines »Grundwortes« erhellt. Bei Ebner wird deutlich inwiefern eine gesprochenes oder auch nur intendiertes Wort, ein Grundwort des menschlichen 96
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 849–852. 870–872. 904–910.
97
Ich und Du, S. 10.
98
Ich und Du, S. 13. 15.
99
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 778–780.
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Lebens ist und das Wesen des Menschen begründet, sei es nach der einen oder nach der anderen Seite. Da Ebner selbst nur an der Theologie interessiert ist und in diesem Zusammenhang die orientierend-wissenschaftliche Zugangsweise zu Gott ablehnt, kennt er nur ein solches Grundwort, eben das, welches das Verhältnis des Menschen zu Gott bestimmt, oder bestimmen sollte. Wo Buber von »Grundwort« spricht, spricht Ebner von »Urwort« oder dem »Ursatz«. Dieses Urwort ist laut Ebner eine »Existentialaussage« des Menschen.100 Seinen Ursprung hat es in einem Wehgeschrei des leidenden Menschen mit dem Sinn: »Ich bin und leide«: »Das ›Urwort‹ ging aus einer Schmerzesinterjektion hervor und war, weil die Sprache gar nicht anders als mit einem ›Satz‹ beginnen konnte, ein solcher. Indem in ihm die ›sprechende Person‹ ihre eigene Existenz zur Aussprache brachte, gab sie sich selbst den Namen. Aus dem ›Ursatz‹, mag er lautlich wie immer beschaffen gewesen sein, entsprang der Nominativ Ich. Weil aber das Urwort ein Satz war, in der ersten Person, so implizierte es nicht nur die Selbstnennung des Ichs […], sondern zugleich ein Verbum, das, dem Sinn des Ursatzes nach, eines der Existentialaussage war, der Seinsbehauptung der sprechenden Person, also bin.«101 Das Urwort ist nach Ebner also eine schlechthinnige Existentialaussage, in welcher der Mensch seine existentiale Situation nicht nur beschreibt, sondern herstellt, beziehungsweise in die richtige Position bringt. Mit dem Sprechen des Urwortes schafft der Mensch seine existentiale Situation, welche im Ich sogleich das Du impliziert: »Die Existentialaussage der ›sprechenden Person‹ von sich selbst im ›Urwort‹ war die jedoch noch keinen ›Namen‹ bedeutende Selbstnennung des Ichs. Indem dieses – durch das Wort – in ihr seiner Existenz sich bewußt wurde und sich zugleich, weil das ja die Voraussetzung der Aussage ist, in ein Verhältnis zum Du setzte, mußte ihm selbstverständlich auch dessen Existenz zum Bewußtsein gekommen sein. Und so folgte unmittelbar auf die Existentialaussage in der ›ersten‹ die in der ›zweiten Person‹, auf das ›Ich bin‹ das diesem innerlich und geistig schon zugrundeliegende ›Du bist‹. Nun ist es wieder nicht bloßer Zufall des Sprachgebrauchs, wenn, im Deutschen wenigstens, das Verbum der Existentialaussage der zweiten Person, das ›bist‹, aus demselben Stamm wie das ›bin‹ gebildet ist. Denn das Du existiert, hinsichtlich der Personalität seines Seins, im selben Sinne wie das Ich, und 100
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was von dessen Existenz gilt, gilt auch von seiner. Auch das Du hat vom Standpunkte des Ichs aus seine subjektive Existenz in der Liebe, mit der es geliebt, seine objektive aber im Wort, durch das es angesprochen wird, vom Ich aus zum Wort, zur Sprache kommt – ohne jedoch, was stets im Auge behalten werden muß, eine ›Projektion des Ichs‹ zu sein. So wenig man die Existenz des Ichs in der ›dritten Person‹ behaupten kann, ohne den Widerspruch des Denkens sowohl als des Sprachgeistes herauszufordern, ebensowenig die des Du.«102 Mit diesen Ausführungen von Ferdinand Ebner hat man den sachgemäßen Hintergrund für das Verständnis von Bubers Grundworten. Mit einem Grundwort spricht der Mensch seine existentiale Situation aus, beziehungsweise er setzt sich in das richtige Verhältnis, das bei einem Ich nur ein entsprechendes Du sein kann. Im Unterschied zu Ebner gibt es für Buber allerdings zwei Grundworte, die Buber gemäß seinem dualen Denken als Grundsituationen des menschlichen Daseins erkennt. Dass diese existentiale Lageherstellung des Menschen als Wort gefasst wird, ergibt sich aus der von Ebner beschriebenen Situation des Urschreis, der im ausgeschrienen Ich sogleich das Du impliziert. Analog zum IchDu Urwort, oder Grundwort formuliert Buber gemäß seiner grundlegenden dualen Weltanschauung ein zweites Grundwort, das er aber hierarchisch dem ersten – Gott-bezogenen – unterordnet. Buber schafft mit diesem zweiten Grundwort, im Gegensatz zu Ebner, immerhin das den menschlichen Alltag und sein Orientierungsbedürfnis befriedigende Existential und entkommt so der totalen Ich-Einsamkeit, die den Ungläubigen laut Ebner umfängt.
3.5
Wesensmerkmale der Beziehung
Das Wesen und das Was der Beziehung zu beschreiben fällt Buber natürlich nicht leicht und er greift dafür zu unterschiedlichen Umschreibungen. Demnach ist die Beziehung vollkommene Verwirklichung – im Sinne des Daniel –, Beziehung ist nicht vergleichend und zuordnend, sondern das Begegnende umfängt den Partner, beziehungsweise das nicht-menschliche Gegenüber, mit vollkommener Ausschließlichkeit der Wahrnehmung, das heißt die Konzentration ist völlig auf das anstehende Gegenüber ausgerichtet unter Ausblendung aller relativierender und einordnender Kontexte. Die Beziehung ist Gegenseitigkeit, wiewohl das für ein nicht sprechendes, nicht menschliches Gegenüber schwer zu erklären ist – mit Hilfe der Sprache gab es immerhin den oben schon genannten Versuch der Vor- und Nachsprachlichkeit für diese beiden anderen »Dus«. In der Bezie-
102
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hung nimmt man das Gegenüber nicht im Sinne einer Wissensvermehrung wahr: »Den Menschen, zu dem ich Du sage, erfahre ich nicht.« Man weiß dadurch nicht mehr: »- Was erfährt man also vom Du? - Eben nichts. Denn man erfährt es nicht. - Was weiß man also vom Du? - Nur alles. Denn man weiß von ihm nichts Einzelnes mehr.«103 »Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie […] Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme.«104 Dieser Art sind die vielfältigen Umkreisungsversuche zur Beschreibung dessen, was die Beziehung ausmacht. Beide Seiten sind involviert und aktiviert, aber keine hat die je andere. Die Beziehung steht zwischen den beiden. Buber zeigt dies am Beispiel der Liebe. Sie wird zwar von Gefühlen begleitet, die man hat, aber nicht sie sind die Liebe. Die Liebe geschieht zwischen den beiden Beteiligten. Der Tenor all dieser Umschreibungen ist, dass dem Menschen in der Beziehung jegliche Distanz fehlt, darum kann man auch in der Beziehung nur mit seinem ganzen Wesen stehen. Und darauf folgt sodann die gewichtige Feststellung, dass der Mensch erst am Du zum Ich wird. Man muss dabei allerdings genauer formulieren. Es gibt ja das Ich-Es und das Ich-Du Grundwort. Wer also am Du zum Ich wird, ist ein Ich der Beziehung, nicht das Ich der Orientierung. Aber gemäß der bislang gezeichneten Denkstruktur Bubers muss es für das Leben des Menschen dennoch notwendigerweise beide Pole geben, den involvierten und den distanziert orientierenden, aber doch in einer hierarchischen Über- und Unterordnung. Nur die Beziehung ist das verwirklichte Leben, nicht die Orientierung. Entscheidend für das wirkliche Leben ist das Ich-Du-Verhältnis, die IchDu-Beziehung: »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.«105 Diese grundsätzliche Vorrangstellung der Beziehung für das menschliche Leben ist bei Buber so zentral, dass er zu dessen Bestätigung gar zur Analogie des neu103
Ich und Du, S. 15.
104
Ich und Du, S. 15.
105
Ich und Du, S. 15. 32. Diesen Gedanken hat im Grunde schon Hermann Cohen formuliert, siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 643–644.
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testamentlichen Johannesprologs greift: »Im Anfang ist die Beziehung.«106 Buber glaubt diese ontologische Aussage sowohl entwicklungspsychologisch am Kleinkind zeigen zu können wie an der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung. Die Beziehung als das Grundlegende des Menschseins hat, so Buber, in der Menschheitsgeschichte nie gefehlt, wiewohl sie mit unterschiedlichen Begriffen benannt wurde. Mehr noch, auch die Polarität der beiden »Grundworte« ist ontologisch verankert: »Der Gegensatz der zwei Grundworte hat in den Zeiten und Welten viele Namen; aber in seiner namenlosen Wahrheit inhäriert er der Schöpfung.«107 Aber: »Im Anfang ist die Beziehung: als Kategorie des Wesens, als Bereitschaft, fassende Form, Seelenmodell; das Apriori der Beziehung; das eingeborene Du.«108 Die »Beziehung« ist eine Kategorie des menschlichen Wesens, ist ein Seelenmodell, es ist ein unausweichliches Apriori, das dem Menschen eingeborene Du«.109 Die Transzendenz der Beziehung wird von Buber auch dadurch beschrieben, wenn er sagt, die Begegnung mit dem Du und das Geschehen der Beziehung geschehe recht eigentlich außerhalb von Raum und Zeit, selbst wenn es in Raum und Zeit stattfindet: »Das Du erscheint zwar im Raum, aber eben in dem des ausschließlichen Gegenüber, darin alles andere nur der Hintergrund, aus dem es hervortaucht, nicht seine Grenze und Maß sein kann; es erscheint in der Zeit, aber in der des sich erfüllten Vorgangs, der nicht als Teilstück einer steten und festgegliederten Folge, sondern in einer ›Weile‹ gelebt wird, deren rein intensive Dimension nur von ihm selbst aus bestimmbar ist; es erscheint zugleich als wirkend und als Wirkung empfangend, nicht aber eingefügt einer Kette von Verursachungen, sondern in seiner Wechselwirkung mit dem Ich Anfang und Ende des Geschehens. […] Das Du kennt kein Koordinatensystem.«110 Das bedeutet, das Beziehungsgeschehen zum Du erfährt nicht die Begrenzungen, die zu den Definitionen des Raumes gehören. Dieses Ereignis überschreitet alle Wahrnehmung von Grenzen so wie es keine zeitliche Einordnung und Zuordnung, keine ursächliche Wirkungskette kennt. Wieder drängt sich hier der Vergleich mit der Beschreibung des mystischen Aktes der unio mystica auf, die nach Auffassung der Mystiker jenseits von Raum und Zeit im ewig Göttlichen statt-
106
Ich und Du, S. 22. 31.
107
Ich und Du, S. 27.
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Ich und Du, S. 31.
109
Ich und Du, S. 31.
110
Ich und Du, S. 34.
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findet.111 Auch bei den Mystikern wird, wie schon gesagt, das unitive Ereignis als Augenblick gesehen, der eine Rückkehr in die Begrenztheit erfordert, soll er nicht zur Auflösung des irdischen Daseins des Mystikers führen. Aber auch bei den Mystikern, so insbesondere bei dem Buber sehr wohl bekannten ḥasidischen Meister, des Maggid aus Mesritsch,112 führt dieses Heraustreten aus den raumzeitlichen Begrenzungen zum eigentlichen Menschsein im Vollsinn. Buber hat diese Zusammenhänge sehr wohl gespürt und ein deutlicher Hinweis darauf ist der Schlussabsatz dieses ersten Teiles von Ich und Du: »In bloßer Gegenwart läßt sich nicht leben, sie würde einen aufzehren, wenn da nicht vorgesorgt wäre, daß sie rasch und gründlich überwunden wird. Aber in bloßer Vergangenheit läßt sich leben, ja nur in ihr läßt sich ein Leben einrichten. Man braucht nur jeden Augenblick mit Erfahren und Gebrauchen zu füllen, und er brennt nicht mehr. Und in allem Ernst der Wahrheit, du: ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch.«113 Buber beschreibt dieses Zurücksinken des Du-Erlebens in die Sphäre der Einordnung, Kategorisierung und Orientierung als unausweichliches und geradezu tragisches »Muss«, dem der Mensch nicht entrinnen kann. »Das einzelne Du muß, nach Ablauf des Beziehungsvorgangs, zu einem Es werden.«114 Aber natürlich hat dies den Vorteil, dass in dieser Es-Welt die unverzichtbare Orientierung und Anordnung der Dinge und deren Kommunizierbarkeit mit anderen gegeben ist.
111
Zu den mystischen Vorstellungen im Judentum und deren Beschreibungen siehe nun K.E. Grözinger, Phänomenologie der Mystik im Judentum – und ihre theologische Deutung, in: W. Achtner (Hg.), Mystik als Kern der Weltreligionen? Eine protestantische Perspektive, Fribourg-Stuttgart 2017, S. 188–209; Grözinger, Jüdische Mystik, in: Ch. V. Braun, M. Brumlik (Hg.), Handbuch Jüdische Studien, Köln-Weimar-Wien 2018, S. 191–210; Grözinger, Jüdische Mystik, in: Handbuch des europäischen Judentums, hrsg. v. E. V. Kotowski, J. H. Schoeps, H. Wallenborn, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2001, Bd. II, S. 127– 137.
112
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 826–852; mit dem Beginn seiner dialogischen Phase publizierte Buber das Buch »Der große Maggid und seine Nachfolge«, Frankfurt a. M. 1922, das im Gegensatz zu den älteren ḥasidischen Sammlungen Bubers ganz von dem neuen Denken geprägt ist; siehe K. E. Grözinger, Martin Bubers Denken im Lichte seiner ChassidismusDeutung, in: Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, 15 (2013), S. 51–73.
113
Ich und Du, S. 38.
114
Ich und Du, S. 37.
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3.6
161
»Geist« – das Kontinuum der momentanen Beziehungen
Nachdem deutlich wurde, dass man in der nur augenblicklich aufscheinenden »Gegenwart« oder »Wirklichkeit« und »Beziehung« nicht dauernd leben kann, dass vielmehr die Es-Welt für ein geordnetes Leben unverzichtbar ist, stellt sich die Frage, ob die ihrerseits unabdingbare Du-Welt nur eine völlig abgesonderte Begleitmusik des menschlichen Lebens ist, oder ob sie auch Nachwirkungen in der Es-Welt hat. Diese Frage hat ein besonderes Gewicht, wenn das begegnende Gegenüber nicht die Natur, sondern die menschliche Gesellschaft ist. Buber versucht ein solches nachwirkendes Kontinuum der Beziehung mit der Formel vom »Geist« zu beantworten. Ich nenne dies »Formel«, weil Buber auch hier, wie bei den anderen schon genannten Zentralbegriffen, ein völlig eigenes, vom üblichen Sprachgebrauch abweichendes Verständnis von Geist hat. Die erste Definition von »Geist« ist die, dass der Mensch in diesem Geist nur vermöge seiner Beziehungskraft leben kann. Geist ist eine Aggregatsform der Beziehung. Und wie die Beziehung nicht im, sondern zwischen den Menschen besteht, so auch der Geist: »Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du.«115 Um diese abstrakte und wenig vorstellbare Definition zu konkretisieren, greift Buber wieder zur Sprache und einem Anklang zum Johannesprolog oder zu Goethes Faust:116 »Geist ist Wort«. Und noch konkreter, dialogischer: »Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du«, wobei diese »gesprochene« Antwort in allen möglichen Sprachen, auch durch die Kunst und die Tat geschehen kann. Wie aber soll man meinen, dass das Wort, welches aus dem Menschen hervorkommt, ein Medium zwischen den Menschen sei? Dafür gibt Buber die gewiss tatsächlich wahre Antwort: »in Wahrheit nämlich steckt die Sprache nicht im Menschen, sondern der Mensch steht in der Sprache und redet aus ihr, – so alles Wort, so aller Geist. Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in dir kreist, sondern wie die Luft, in der du atmest. Der Mensch lebt im Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag.«117 Mit dem letzten Satz dieser Beschreibung des Geistes ist der Geist als Möglichkeit, als potentielle Fähigkeit des Menschen charakterisiert. Geist ist also nicht nur in der konkreten Realisierung der Beziehung präsent, sondern auch als Fähigkeit und Möglichkeit des Menschen, die ihm jederzeit zur Konkretisierung bereitsteht.
115
Ich und Du, S. 41.
116
J. W. Goethe, Faust, Teil I, Studierzimmer, Köln (Atlas Verlag) o. D., S. 34.
117
Ich und Du, S. 41.
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Damit ist der Weg gewiesen, auf dem der Mensch die Bipolarität der Welt, beziehungsweise der Begegnungsweisen mit ihr überwinden kann. Die für das Leben unbedingt nötige Es-Welt ist an sich nicht böse. Sie ist es nur insofern sie den gesamten Lebensraum des Menschen einnehmen will. An dieser Stelle greift Buber zu einer altrabbinischen Formel, nämlich der Lehre vom Bösen Trieb. Schon die frühe rabbinische Literatur stellte fest, dass diese irdische Welt ohne den bösen Trieb nicht bestehen könne, denn ohne ihn gäbe es kein Kinderzeugen und kein Häuserbauen und kein Wirtschaften. Das heißt, der böse Trieb ist nur dann böse, wenn er nicht in den Dienst der Welterhaltung und damit in den Dienst Gottes gestellt wird.118 Bei dem Buber des zwanzigsten Jahrhunderts lautet dies wie folgt: »Nutzwille und Machtwille des Menschen wirken naturhaft und rechtmäßig, solang sie an den menschlichen Beziehungswillen geschlossen sind und von ihm getragen werden. Es gibt keinen bösen Trieb, bis sich der Trieb vom Wesen löst; der ans Wesen geschlossene und von ihm bestimmte Trieb ist das Plasma des Gemeinlebens, der abgelöste ist dessen Zersetzung. Wirtschaft, das Gehäuse des Nutzwillens, und Staat, das Gehäuse des Machtwillens, haben so lange teil am Leben, als sie am Geist teilhaben. Schwören sie ihm ab, so haben sies dem Leben getan; das Leben läßt sich freilich Zeit, seine Sache auszutragen, und eine gute Weile vermeint man noch ein Gebild sich regen zu sehn, wo längst schon ein Getriebe wirbelt. Mit der Einführung etwelcher Unmittelbarkeit ist da in der Tat nicht zu helfen; die Lockerung der gefügten Wirtschaft oder des gefügten Staates kann nicht aufwiegen, daß sie nicht mehr unter der Suprematie des dusagenden Geistes stehen; keine Aufrührung der Peripherie kann die lebendige Beziehung zur Mitte ersetzen. Gebilde des menschlichen Gemeinlebens haben ihr Leben aus der Fülle der Beziehungskraft, die ihre Glieder durchdringt, und ihre leibhafte Form aus der Bindung dieser Kraft im Geist. Der Staatsmann oder Wirtschaftsmann, der dem Geist botmäßig ist, dilettiert nicht; er weiß wohl, daß er den Menschen, mit denen er zu schaffen hat, nicht schlechthin als Trägern des Du gegenübertreten kann, ohne sein Werk aufzulösen; aber er wagt es dennoch, nur eben nicht schlechthin, zu tun, bis zur Grenze nämlich, die ihm der Geist eingibt; und da gibt ihm der Geist die Grenze ein […]«119 Im Leben von Wirtschaft und Staat, in denen sich eben Nutzwille und Macht in paradigmatischer Weise ausleben wollen, heißt das also, solange sie am Geist teilhaben, haben sie am Leben teil. Will sagen, wo immer in diesem menschli118
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 273–278, vgl. noch Ich und Du, S. 55.
119
Ich und Du, S. 51–52.
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chen Getriebe der Wille und die Fähigkeit zum »Du-Sagen« vorhanden sind und als stete Möglichkeit bereitstehen, solange ist auch dieser »böse Trieb« nicht böse, sondern dient der Welterhaltung. Der »dusagende Geist« muss als stete Möglichkeit in der Mitte aller menschlichen Gesellschaft gegenwärtig bleiben, nur dann ist die »Es-Welt« gut und in das wahrhafte Leben eingebunden. Buber schreibt diesem Geist Erlöserkraft zu. Dieser Erlösergeist kann alles Tun und Handeln des Menschen erlösen. Und das ist auch die Aufgabe des Geistes. Wenn er sich in einen Elfenbeinturm jenseits des realen groben Lebens zurückzöge, würde er selbst ein hohles Gespenst, ein tönerner Golem. Der Geist ist nur wirklich, wenn er sich an dieser groben Welt verwirklicht. Nur ein Mensch, der in der Fähigkeit des Geistes lebt, der Beziehungs-fähig ist, kann »Person« genannt werden, der Mensch der Es-Welt ist nur »Eigenwesen«. Da aber kein Mensch einer der beiden Welten entraten kann, ist kein Mensch reine Person oder Eigenmensch. Wieder gilt es – nach der nun schon mehrfach berufenen Formel – eine Hierarchie zu bewahren, nach welcher das Personhafte, das Beziehungshafte, das Geisthafte im eigenen Leben die Überhand behält.120
3.7
Das ewige Du als Grundlage des Kontinuums der Beziehung
Der dritte Teil von Ich und Du beginnt mit einem Passus, der die eingangs schon angeführte Auffassung Bubers aufnimmt, dass die irdisch verwirklichte Gegenwärtigkeit eines Du den Blick auf ein ewiges Du eröffnet: »Die verlängerten Linien der Beziehung schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm. Durch jedes geeinzelte Du spricht das Grundwort das ewige an. Aus diesem Mittlertum des Du aller Wesen kommt die Erfülltheit der Beziehungen zu ihnen, und die Unerfülltheit. Das eingeborene Du verwirklicht sich an jeder und vollendet sich an keiner. Es vollendet sich einzig in der unmittelbaren Beziehung zu dem Du, das seinem Wesen nach nicht Es werden kann.«121 Da die Beziehung, wie oben schon besprochen, nur ein Augenblicksgeschehen ist, dem die Kontinuität ermangelt, weil jedes irdische Du alsbald ins Es zurücksinken muss, stellt sich die Frage, wie man auf ein solches anscheinend ephemeres Geschehen das wirkliche Leben gründen kann. Schon die Erörterung des Geistes hat den Versuch Bubers gezeigt, dadurch ein Kontinuum herzustellen, dass der Geist die Kraft des Menschen ist, immer und jederzeit, allem gegenüber
120
Ich und Du, S. 67–68.
121
Ich und Du, S. 76.
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zu einer neuerlichen Beziehung bereit zu sein. Auch die Beschreibung der Beziehung als Wortgeschehen hat vor dem Hintergrund der kabbalistischḥasidischen Sprachtheologie einen ontologischen Kohärenzfaktor sichtbar gemacht. Dieses Verlangen des Menschen nach einer verbürgenden Kontinuität hinter dem momenthaften Beziehungsgeschehen ist es wohl, die Buber hier zur »Theologie«, zum Sprechen von Gott führt. Man fühlt sich dabei an Hermann Cohen erinnert, der schon in seiner Ethik mit Immanuel Kant die Notwendigkeit der Gottesidee behauptete, welche die Ewigkeit der ethischen Aufgabe sichern müsse. Im Band drei des Jüdischen Denkens hatte ich diesen überraschenden Gedanken Cohens so wiedergegeben: »›Die Ethik hat den Begriff Gottes in ihr Lehrgebäude aufzunehmen.‹ Der Gedanke der zu dieser Forderung Cohens führt, schreitet über mehrere Schritte. Zunächst fragt Cohen, wie denn dem Sittlichen eine Wirklichkeit – analog zu jener der Natur – verbürgt werden könne.«122 Das heißt, der Begriff Gott »soll für die Ewigkeit des Ideals die analoge Ewigkeit [wie die] der Natur sichern«.123 Ein analoges Anliegen scheint Buber zur Annahme eines ewigen Du geführt zu haben. Demgegenüber mag die von Elieser Schweid geäußerte Vermutung stehen, dass Buber im gesamten Buch und insbesondere in dessen drittem Teil nicht wirklich als Philosoph, sondern als religiöser Bekenner spricht, der sich hier gar auf eigene Widerfahrnisse berufe.124 Wie dem auch sei, der Eindruck, die Gottheit sei nur ein nötiges Postulat für die Verbürgung, Bedeutung und Kontinuität der Beziehung, lässt sich bei Buber ebensowenig ganz zurückweisen wie für Cohen, trotz der oft so direkten und poetischen Verwendung des Gottesbegriffs durch Buber. Die Gottheit, das ewige Du, ist wie bei der – sogleich noch anzusprechenden – menschlichen Gemeinschaft diejenige Mitte, welche den Umkreis, die Vielzahl der Beziehungsereignisse erst ermöglicht. Aber die Absolutheit der Beziehung ist in dieser leiblichen Welt noch nicht möglich. Die Vollendung der Beziehung ist in dieser Welt nicht möglich ebenso wie die Beziehung zum ewigen Du ohne die Welt nicht möglich ist. Das ewige Du schafft der Beziehung eine Kontinuität, die sie im Gegensatz zur Eswelt in Raum und Zeit nicht hat: »Die Eswelt hat Zusammenhang im Raum und in der Zeit. Die Duwelt hat in beiden keinen Zusammenhang. Sie hat ihren Zusammenhang in der Mitte, in der die verlängerten Linien der Beziehung sich schneiden: im ewigen Du.«125
122
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 624–625.
123
Cohen, Ethik, siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 625.
124
E. Schweid, Toledot Filosofijat ha-Dat ha-jehudit bi-Seman he-ḥadasch, Tel Aviv 2005, Teil
125
Ich und Du, S. 101–102; Werke, S. 146.
III, Bd. 2 S. 89; auch R. Horwitz, Buber’s Way, gibt solche Hinweise.
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Das ewige Du ist nötig, um den Episoden der Beziehung eine Kontinuität zu verleihen, die sie im Raum und in der Zeit nicht hat, nicht haben kann. In seinen Vorlesungen im Frankfurter jüdischen Lehrhaus vom Frühjahr 1922, in denen Buber einen ersten Entwurf des Buches Ich und Du konzipierte, spricht er diese Funktion des ewigen Du mit aller wünschenswerten Deutlichkeit unter der Überschrift »Religion als Gegenwart« an: »Dieses absolute Du, das nicht aus der Naturgeschichte [als] Subjekt erschlossen wird, sondern unmittelbar gegenwärtig ist, dieses absolute Du in unserer Beziehung zu ihm ist der unverbrüchliche Kern einer zusammenhängenden Du-Welt. Von hier aus kann sich der Zusammenhang der DuMomente stiften.«126 Dieses ewige Du hat in Bubers dialogischem Denken eine nötige Funktion wie die postulierte Transzendenz in Hermann Cohens Denken. Um eine Kontinuität oder Kohärenz des episodenhaften Beziehungsgeschehens zu gewährleisten, so könnte man mit Cohen sagen, ist es zwingend nötig ein solches absolutes Du zu fordern, zu postulieren. Erst wenn den Augenblicken der Beziehungen ein Zusammenhang gegeben wird, ist es möglich darin eine lebensbestimmende Wirklichkeit zu sehen und ein Leben darauf aufzubauen: »In Wahrheit aber kann die reine Beziehung zu raumzeitlicher Stetigkeit nur auferbaut werden, indem sie sich an der ganzen Materie des Lebens verleiblicht. Sie kann nicht bewahrt, nur bewährt, sie kann nur getan, nur in das Leben eingetan werden. Der Mensch kann der Beziehung zu Gott, deren er teilhaftig geworden ist, nur gerecht werden, wenn er nach seiner Kraft, nach dem Maß jedes Tages neu Gott in der Welt verwirklicht. Darin liegt die einzige echte Bürgschaft der Kontinuität. Die echte Bürgschaft der Dauer besteht darin, daß die reine Beziehung erfüllt werden kann im Du-werden der Wesen, in ihrer Erhebung zum Du, daß das heilige Grundwort sich in allen austönt; so bildet sich die Zeit des Menschenlebens zu einer Fülle der Wirklichkeit auf, und ob es auch das Esverhältnis nicht überwinden kann und soll, ist das Menschenleben dann so von Beziehung durchwirkt, daß sie in ihm eine strahlende, durchstrahlende Stetigkeit gewinnt; die Momente der höchsten Begegnung sind da nicht Blitze in der Finsternis, sondern wie aufsteigender Mond in einer klaren Sternennacht. Und so besteht die echte Bürgschaft der Raumstetigkeit darin, daß die Beziehungen der Menschen zu ihrem wahren Du, die Radien, die von all den Ichpunkten zur Mitte ausgehen einen Kreis schaffen. Nicht die Peripherie, nicht die Gemeinschaft ist das erste, sondern die Radi126
Rivka, Horwitz, Buber’s Way to I And Thou, S. 111.
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en, die Gemeinsamkeit der Beziehung zur Mitte. Sie allein gewährleistet den echten Bestand der Gemeinde.«127 In der parallelen Stelle in seinen Frankfurter Lehrhausvorträgen wird die religiös-theologische Bedeutung dieser Aussage noch sehr viel expliziter, nämlich: »daß die Linien der reinen Du-Beziehungen der Menschen zusammentreffen in Gott, daß jeder Mensch aus sich selbst in die reine Beziehung tritt und daß diese Beziehungen zusammenströmen in dem einen absoluten Du. Die wahre Menschengemeinschaft ist nur in Gott möglich, nur eben dadurch, daß die wahren Beziehungen der Menschen zum absoluten Du zum Zentrum, all diese Radien, die von den Ichs der Menschen ausgehen zu der Mitte, einen Kreis schaffen. Nicht zuerst ist der Kreis, sondern zuerst sind die Radien, die zur Mitte führen. Dadurch ist der Kreis wirklich. Das bedeutet es wohl, wenn es heißt, die Schechina sei zwischen den Wesen.«128 Die Beziehung findet ganz in der Welt statt sie ist aber als solche nur wirkliche Beziehung oberhalb der Eswelt, weil sie ihre konstituierende Mitte hat.
3.8
Beziehung als Offenbarung
Sollten noch Zweifel bestehen, dass für Buber der gesamte Weg durch das Bändchen Ich und Du ein religiöser und nicht ein philosophischer ist, so wird dieser Zweifel in den Schlusspassagen des dritten Teils vollkommen zerstreut. Denn hier wird die Beziehung sowohl die zum ewigen Du wie auch die zum zeitlichunzeitlichen als Offenbarung verstanden. Der Beziehungsakt teilt dem Menschen etwas mit, das ihn grundlegend verändert – dies ist das wahre Signum jeder Offenbarung: »Was ist das ewige: das im Jetzt und Hier gegenwärtige Urphänomen dessen, was wir Offenbarung nennen? Es ist dies, daß der Mensch aus dem Moment der höchsten Begegnung nicht als der gleiche hervorgeht, als der er eingetreten ist. Der Moment der Begegnung ist nicht ein ›Erlebnis‹, das sich in der empfänglichen Seele erregt und selig rundet: es geschieht da etwas am Menschen. Das ist zuweilen wie ein Anhauch, zuweilen wie ein Ringkampf, gleichviel: es geschieht. Der Mensch, der aus dem Wesensakt der reinen Be-
127
Ich und Du, S. 116; Werke, S. 156.
128
R. Horwitz, Buber’s Way, S. 144; das Dictum von der Schechina entstammt der Mischna, Avot 3, 2; u. siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 255.
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ziehung tritt, hat in seinem Wesen ein mehr, ein Hinzugewachsenes, von dem er zuvor nicht wußte und dessen Ursprung er nicht rechtmäßig zu bezeichnen vermag. […] Die Wirklichkeit ist, daß wir empfangen, was wir zuvor nicht hatten, und es so empfangen, daß wir wissen: es ist uns gegeben worden.«129 Und wieder gilt hier, dass man in die Weise der Es-Welt zurückfällt und meint, man müsse nun etwas bekommen haben, das man beschreiben kann, aber es gibt da keinen Inhalt. In diesem Offenbarungsakt der Beziehung empfängt man keine Lehre, sondern »Gegenwart als Kraft«. Diese Kraft ist eine Kraft der Sinnstiftung. Es ist nicht ein beschreibbarer Sinn des Lebens, sondern einfach, dass dank dieser Kraft alles sinnvoll erscheint, nichts ist mehr sinnlos. Gemeint ist damit der Sinn des eigenen Lebens, nicht der Sinn eines erhofften, sondern gerade das, in dem der Mensch sich findet.130 »Das ist die ewige, die im Jetzt und Hier gegenwärtige Offenbarung.«131 Und um nochmal die Gleichung mit der biblischen Offenbarung herzustellen sagt Buber: »Das Wort der Offenbarung ist: Ich bin da als der ich da bin.« (Ex 3, 14). Die Offenbarung Gottes ist Offenbarung der Gegenwart, Offenbarung der Beziehung, welche ohne beschreibbaren Inhalt und ohne vorgegebene Regeln und Anweisungen dem Individuum Richtung gibt, Richtung zur Umkehr, hin zur Beziehungsfähigkeit.132
129
Ich und Du, S. 110–111; Werke, S. 152.
130
Ich und Du, S. 11–112; Werke, S. 153.
131
Ich und Du, S. 113; Werke, S. 154.
132
Ich und Du, S. 73. 102.
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III. DIE HERAUSFORDERUNG DURCH DAS »GESICHT« DES ANDERN – EMMANUEL LÉVINAS (1905/6–1995) 1.
Biographisches
Zur Biographie von Emmanuel Lévinas siehe Band vier des Jüdischen Denkens.1
2.
Grundzüge des Denkens
Die Texte von Emmanuel Lévinas sind selbst das anschaulichste Beispiel für das zentrale Thema dieses Philosophen. In der Mitte des Denkens von Lévinas steht der Andere, als ein Gegenüber, welches das Ich, das Selbst, fordert und herausfordert. Ein Anderes oder ein Anderer, der für mich in seiner Fremdheit und Unergründbarkeit nie ganz erschließbar sein wird, den ich nie ganz erkenne und verstehe, dessen Andersheit eine Spur ist, die ins Unendliche reicht, die mir aber zugleich so nahe ist, dass sie mein Selbst wesentlich prägt. So etwa könnte man die inzwischen schon fast zur Platitüde gewordene Bemerkung nahezu aller Autoren hinsichtlich der schweren Verständlichkeit von Lévinas’ Texten in Lévinasscher Diktion formulieren. Lévinas ist ein erzählerischer ja fabulierender Philosoph, der seine Themen in unzähligen Anläufen umkreist, nicht vor langen Parenthesen zurückschreckt, eine Fülle von weiterführenden und erläuternden Bemerkungen einfügt, auch zahlreiche Einordnungen der gerade erörterten Gedanken in die gesamte abendländische Philosophie, und der an zentralen Stellen immer wieder auf Texte der hebräischen Bibel verweist, gelegentlich auch talmudische Dicta und kabbalistische Gedanken anführt. Diese Hinweise auf die jüdische Traditionsliteratur sind im philosophischen Werk von Lévinas indessen – angesichts der üppigen gedruckt vorliegenden Talmud-Lektüren – eher spärlich, so dass man sich bei diesem jüdischen Denker fast an Maimonides erinnert fühlt, dessen Werk gleichermaßen sich in zwei ziemlich getrennten – aber doch nicht ganz voneinander geschiedenen – Terrains abspielt, bei Maimonides die Philosophie und die Halacha, bei Lévinas die Philosophie und die fast homiletischen Talmud-Auslegungen. Alleine dieses Nebeneinander der beiden Literaturbereiche fordert dazu auf, auch das allgemeine philosophische Denken von Lévinas hier zu besprechen, nachdem seine religiös-theologische Verarbeitung der Schoah schon im vierten Band des Jüdischen Denkens dargestellt wurde. Dennoch darf man natürlich die 1 Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 608.
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Frage stellen, ob sie sogenannten professionell-philosophischen Arbeiten von Lévinas im vorliegenden Rahmen zu besprechen sind. Denn immerhin nennt er als die Hauptquellen seines Denkens wiederholt den von ihm hochverehrten Edmund Husserl, den von ihm sehr geachteten und zugleich kritisch hinterfragten und gar missbilligten Martin Heidegger, immer wieder Descartes, Plato, Plotin und Parmenides. Dass sich indessen hinter diesen offenbaren Quellen dennoch ein im philosophischen Werk kaum explizit gemachter jüdischer Hintergrund verbirgt, hat selbst ein so hervorragender Kenner und Deuter des Lévinasschen Werkes wie Wolfgang Nikolaus Krewani als schmerzliches Hindernis zum tieferen Verständnis der Schriften von Lévinas empfunden. In seinem Nachwort zu Vom Sein zum Seienden sagt Krewani, nachdem er einen der wenigen Hinweise von Lévinas auf solche Hintergründe besprochen hat: »Diese aus Lévinas’ Judentum gespeisten Gedanken finden in seinen philosophischen Schriften zunächst keinen oder nur ungenügenden Ausdruck. So können die philosophischen Arbeiten dem Leser leicht das Gefühl vermitteln, daß ihm das Eigentliche entgeht. In der Tat ist etwa die Forderung, das eigene Sein müsse verziehen werden (EE 161/VS 116),2 in dem philosophischen Kontext, in dem sie auftritt, eher ein Irrläufer, ein Blindmotiv, eine Spur, die nirgends hinführt. Erst im Fortschreiten des Werks gewinnen die darin aufblitzenden Spuren auch philosophische Gestalt.«3 Immerhin aber nimmt Lévinas den Faden zur jüdisch-philosophischen Tradition mit Martin Buber ganz offen und mehrfach auf.4 An nicht wenigen Stellen nennt Lévinas Martin Buber, dessen Werk er meint in gewisser Weise fortzuführen, dabei bescheiden die Auffassung vertretend, diesem Altmeister nichts mehr hinzufügen zu können, sondern dessen Gedanken von einer ganz anderen Seite nochmal beleuchten zu wollen.5 In seinem kleinen Reflexionstext: »Einige Anmerkungen zu Buber«6 sagt Lévinas: »So ist es auch keineswegs unsere Absicht, mit diesen Anmerkungen, die den einen oder anderen Divergenzpunkt enthalten, die grundlegenden und wun-
2
Die Kürzel beziehen sich auf: EE = De l’existance à l’existant, VS = Vom Sein zum Seienden.
3
Krewani, Nachwort zu E. Lévinas, Vom Sein zum Seienden, Freiburg-München 1997, S. 169.
4
Zu Martin Buber siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kapitel II.
5
E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übs. V. N. Krewani,
6
E. Lévinas, Einige Anmerkungen zu Buber, in: ders. Außer sich. Meditationen über Religion
Freiburg, München1987, S. 92; das Original trägt den Titel: Totalité et Infini, Den Haag 1961. und Philosophie, hg. Und Übersetzt, F. Miething, München-Wien 1991, S. 38–48, hier S. 40.
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derbaren Analysen von ›Ich und Du‹ in Frage zu stellen, und noch weniger, den heiklen und lächerlichen Versuch zu unternehmen, die Lehre eines authentischen Denkers zu ›verbessern‹. Doch die von Buber erschlossene spekulative Landschaft ist reich und auch noch unberührt genug, um einige Sinnperspektiven möglich zu machen, die man nicht – wenigstens auf den ersten Blick – von den prächtigen Wegen aus erblickt, die der Meister angelegt hat.« Diese von understatement und auch zugleich eigenem Selbstbewusstsein geladenen Bemerkungen anerkennen doch grundlegende Gemeinsamkeiten und betonen zugleich abweichende Sichtweisen. Gemeinsam ist den beiden Denkern die Konzentration auf die bipolare menschliche Beziehung, bei Buber »Ich und Du«, bei Lévinas »Das Selbst und der Andere«, die in je ihrer Weise die Mitte und das wirklich Wahre des Menschseins ausmachten. Gemeinsam ist ihnen auch die Dualität des Weltzugangs insofern, dass neben oder außerhalb dieser dualen qualitativ entscheidenden, »eigentlichen« und hochstehenden Personbeziehung eine sachlich orientierende, Wissen und Erkenntnis vermittelnde Weltwahrnehmung existiert, die zwar »uneigentlich« aber gleichwohl für die Menschen unverzichtbar zum Umgang mit den alltäglichen Gegebenheiten ist. Für beide Denker ist die interpersonale Weltzuwendung die wirklich erstrebenswerte, die deshalb gleichsam als Forderung und Botschaft an die Mitmenschen gedacht ist – bei Lévinas ist diese interpersonale Beziehung darum als Ethik konzipiert im Gegensatz zu einer nur ontologischen Seins-Erkenntnis, in welcher die Stellung des Menschen im Sein und in der Welt erschlossen werden soll. Aber gerade an diesem zentralen gemeinsamen Punkt liegt zugleich die entscheidende Differenz. Wo Buber in der Ich-Du-Beziehung gleichsam das glückhafte Angekommensein des Individuums im Angesprochensein und Ansprechen eines Du sieht, steht für Lévinas der unüberwindliche Andere, der das Ich herausfordert, ihm eine Verantwortung für sein Gegenüber aufzwingt, eine durchaus nicht beruhigende und glückhafte Erfüllung eines Augenblicks. Diese Forderung, ja Bürde des Anderen gestaltet Lévinas in unzähligen kreisenden Apellen und Umschreibungen aus, die ihn in fast schmerzhafter Weise dem Josef K. in Kafkas Proceß-Roman nahebringen, der im Geiste einer sehr sündenbewussten, sich steten Anklagen und Gerichtsdrohungen ausgesetzten kabbalistischen Hamartologie das Dasein des Menschen als ein Leben im steten und unablässigen Gericht sieht, bei dem alles und jeder, der ihn umgibt als Ankläger erscheint.7 Es ist erschütternd zu sehen, wie der Angehörige eines Volkes, das gerade schuldlos millionenhaft ermordet wurde, und der selbst über mehrere Jahre in einem deutschen Kriegsgefangenen7
Vgl. dazu mein Buch »Kafka und die Kabbala«, 5., aktualisierte und erweiterte Auflage, Frankfurt a. M. 2014.
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lager verbrachte, ein unablässiges Schuldbewusstsein des Menschen, des Ich, zum Zentrum seiner Anthropologie macht, das die unverschuldete Schuld und Anklage zum unentrinnbaren Existential des Menschseins erklärt – der Vorwurf und die Anklage gehen nicht nach draußen, sondern sind stets gegen das Selbst gerichtet. Der unten noch näher zu skizzierende Grund dieser grundstürzenden Differenz zwischen Buber und Lévinas liegt in einer diametral verschiedenen Zugangs- und Sichtweise der Situation des Menschen in dieser Welt. Buber wie Lévinas zeichnen beide die Linien dieses zentralen Humanum der menschlichen Begegnung über die Tagesrealität hinaus, hin zur Transzendenz, die sie beide auch mit dem traditionellen Begriff Gott benennen können. Und natürlich muss bei beiden das Unendliche, das Göttliche, hier ein völlig anderes Profil haben. Das Unendliche birgt für den einen, Buber, beseligendes Glücksgefühl, für den anderen, Lévinas, unendliche Verantwortung und Schuld.8 Ohne das in so vielfältigen Windungen schillernde Denken von Lévinas auch nur annähernd durchleuchten zu können, soll hier der bescheidene Versuch gemacht werden, einige wenige, aber zentrale Begriffe und deren Kontexte zu klären, dies auch ohne auf die von der Fachliteratur vorgenommenen Versuche, eine Entwicklung in seinem Denken nachzuzeichnen, oder gar die Wende zwischen seinen beiden Hauptwerken Totalität und Unendlichkeit9 und Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht10 zu beschreiben.
8
Zu Lévinas und seinem Judentum siehe noch: W. Stegmaier, Philosophie und Judentum nach Emmanuel Lévinas, in: ders. (Hg.) Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt a. M. 2000, S. 429–460; D. Krochmalnik, Emmanuel Lévinas im jüdischen Kontext, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21,1 (1996), S. 41–62; W. Stegmaier, Lévinas, Freiburg, Basel, Wien 2002 (hier weitere Literatur).
9
E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übs. V. N. Krewani,
10
E. Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übs. Th. Wiemer, Freiburg-
Freiburg, München1987; das Original trägt den Titel: Totalité et Infini, Den Haag 1961. München 1992; das Original: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag 1974; weitere hier verwendete Werke von Lévinas samt den jeweiligen Einführungen durch die Übersetzer: Die Zeit und der Andere, übs. u. Nachwort, L. Wenzler, Hamburg 1984. (Le Temps et l’Autre, Montpellier 1979); Vom Sein zum Seienden, übs. A. M. und W. N. Krewani, Freiburg- München 1997 (De l’existence à l’existant, Paris 1947); Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über Betroffenheit von Transzendenz, übs. Th. Wiemer, Vorwort B. Casper, Freiburg-München1985 (2. Aufl. 1988) (De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982); Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie (En découvrant lʼexistence avec Husserl et Heidegger), übs. u. eingel. W. N. Krewani, Freiburg-München 1983; Ausweg aus dem Sein (De l’évasion, 1982) (Zweisprachige Ausgabe) A. Chucholowski, Hamburg 2005; Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, übs. E. Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1992, gekürzte Ausgabe von: Difficile Liberté. Essais sur judaisme, Paris 1963/1976; Gott, der Tod und die Zeit übs. A. Nettling u. U. Wasel, Wien 2013 (Dieu, la Mort et le Temps, Paris
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Wolfgang Krewani verweist in seinem Nachwort zu Vom Sein zum Seienden auf eine Bemerkung von Lévinas in der »Signature« von Difficile Liberté,11 nach welcher Lévinas seine eigene Philosophie als Weg bezeichnet, »der vom Sein zum Seienden führt und vom Seienden zum anderen«.12 Und in der Tat geht es Lévinas in seiner Philosophie um den Ausbruch des Menschen vom »Sein«, das als gleichgültig sich wiederholendes als anonymes »es gibt« dahinplätschert und ihn in einen Gesamtrahmen zwingt, der ihm jegliche eigenständige Bedeutung als Selbst und Individuum verwehrt. Ziel des Menschen muss es daher sein, so Lévinas, sich aus diesem Sein zu befreien, das sich als ein Kampf aller gegen alle, als Krieg aller gegen alle darstellt, als Kampf der Egoismen gegeneinander, die vom Interesse am Sein (dem conatus essendi)13 bestimmt werden. Das Ziel von Lévinas ist es, den Menschen aus diesem trostlosen Ablauf des Seins als seiendes Selbst zu befreien, in einem »Jenseits des Seins« oder einem »anders als Sein geschieht«, wie er dies in seinem entsprechend betitelten Buch anzeigt. Die für den Leser zunächst erstaunliche Lösung für die Befreiung durch Lévinas ist die Hinwendung zum Anderen, oder besser das sich vom Anderen in Beschlag nehmen und fordern zu lassen. Man kann als ersten Hinweis auf die Motivation für diese eigenartige Sicht gewiss Lévinas’ Verpflichtung gegenüber dem dialogischen Ansatz von Martin Buber betrachten, der ja gerade in der nicht orientierenden Hinwendung zum Du das Entkommen aus den blutleeren Wahrnehmungsweisen des einordnenden und kategorisierenden Blicks auf den anderen Menschen sieht. Aber dies kann nur als eine erste Motivation verstanden werden, denn was Lévinas über den Anderen und seine Wirkungen auf das Selbst, also das Ich, das einem anderen Menschen gegenübertritt, zu sagen hat, geht doch drastisch weit von Martin Bubers beglückender Beschreibung der IchDu Beziehung weg, wie oben schon angemerkt wurde. Die erste Kluft tut sich schon dadurch auf, dass Lévinas das vertraute und Wärme vermittelnde »Du« durch den eher abweisenden, befremdlichen und fordernden, ja anklagenden »Anderen« ersetzt. Ludwig Wenzler erklärt dies in einer kurzen Zusammenfassung des Denkens von Lévinas einmal so: »Die Erfahrung der Inhumanität und Grausamkeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, manifest in der millionenfachen Tötung Unschuldiger, for-
1993; La Mort et le Temps, ed. J. Rolland, Paris 1991); Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie; übs. F. Miething München-Wien 1991 (Noms Propres, Montpellier 1976 und Hors Sujet, Montpellier 1987); Humanismus des anderen Menschen, übs. und eingel. L. Wenzler, Hamburg1989 (Humanisme de l’autre homme (Montpellier 1972). 11
Difficile, liberté, S. 375.
12
W. N. Krewani, Nachwort zu Vom Sein zum Seienden, S. 128.
13
Ein von Spinoza geprägter Begriff, siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 222. 224.
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dert den Philosophierenden heraus, neu nach der Menschlichkeit des Menschen, nach den entscheidenden Möglichkeiten des Menschseins und insbesondere nach dem Recht des anderen Menschen zu fragen.«14 Dies mag eine psychologisch plausible Erklärung für Lévinas’ Wahl des »Anderen« sein, aber in diesem historischen Kontext hätte man dann doch eher den »Mitmenschen« als den »Anderen« erwartet. Den wirklichen Grund dafür, dass Lévinas hier vom Anderen spricht und nicht etwa vom Mitmenschen, dem es zu helfen gilt, und er diesen Anderen als eine so massive Herausforderung für das Selbst darstellt, ist wohl darin zu suchen, wie es sich aus den ersten Kapiteln von Jenseits des Seins nahelegt, nämlich dass dem dort gezeichneten Lauf des normalen Seins eben ein völlig anderes, ein »anders als das Sein« entgegengesetzt werden soll. Befreiung aus der Anonymität des Seins kann man eben nur in etwas finden, das anders ist als dieses Sein. In einem Modus, der »anders« ist als der Kampf aller gegen alle und anders als das Kämpfen um das Sein, dessen totales Gegenteil. Dieses »andere« als das Sein ist für Lévinas die Passivität des Selbst, die Verantwortung des Selbst für den Andern unter vollkommener Hintanstellung eigener Freiheitsräume und Rechte. Das Ich des Menschen gewinnt für ihn von dieser Forderung des anderen her seine Subjektivität, seine Befreiung aus dem Allgemeinen des Seins, hin zu seiner Selbstheit. Und da dies, wie noch näher zu zeigen sein wird, sich vor allem als Anklage darstellt, kann sich dieses zu sich selbst gekommene Ich nurmehr im Akkusativ, dem »Anklage-Kasus«, verstehen, als »Sich«. Die Ersetzung des Buberschen »Du« zum »Anderen« bietet Lévinas noch einen weiteren Vorteil. Buber wollte in der Beziehung zum Du eine Transzendenzerfahrung, eine Begegnung mit dem ewigen Du sehen. Für eine solche Transzendierung eines innerweltlichen Geschehens eignet sich der Begriff des »Anderen« wesentlich besser. Denn schon die biblische Rede von Gott, wie dann auch die mittelalterliche Rede von Gott als dem von der Schöpfung vollkommen Verschiedenen, Anderen bei Saʽadja Gaʼon15 und insbesondere bei der vom Platonismus übernommenen Rede von Gott als dem Einen, der jenseits des Seienden »ist«,16 hat mit Gott schon immer die völlige Andersartigkeit verbunden. Das vollkommen »Andere« ist demnach alleine Gott. Wenn der Andere als Mensch dem Ich begegnet ist es darum systemkonform, das ewige Andere hier im immanenten Anderen als präsent zu behaupten, als Spur des Unendlichen – auch dies,
14
L. Wenzler, Den Anderen Anders denken. Einführung in die Philosophie von Emmanuel Lévinas (1986) in: F. K. Klehr (Hg.) Den Andern Denken. Philosophisches Fachgespräch mit Emmanuel Lévinas, Stuttgart 1991, S. 13.
15
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 362–400.
16
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 528–529; Bd. 2, S. 252.
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das »Unendliche« ist ein in der Kabbala zentraler Begriff für die jenseits der Selbstoffenbarung stehende Fülle der Gottheit, das ʼEn Sof.17
3.
Ansprache oder Verstehen – das menschliche Gegenüber
Wo Martin Buber im Umgang mit oder der Wahrnehmung von Menschen – auch von Dingen – eine Dualität von Ich-Du auf der einen und Ich-Es auf der andern Seite aufstellte, spricht Lévinas von einer Dualität als Begegnung oder Ansprache eines Seienden, sprich eines konkret existierenden Menschen, durch einen Anderen einerseits und des Verstehens im Sinne von Begreifen eines Seienden vom Sein her andrerseits. Auch Letzteres, das rubrizierende und einordnende Kennenwollen des Gegenüber, ist für Lévinas wie für Buber, die Einordnung des Gegenübers von einem weiteren Kontext, nämlich vom »Sein« her, das es dem Betrachter erlaubt, das Gegenüber zu kategorisieren und in größere Verstehenshorizonte einzuordnen. Mit dieser Begegnungsweise gewinnt das Gegenüber seine Bedeutung eben nur vom Allgemeinen, vom Totalen, sprich vom Sein, her und nicht aus sich selbst als individuell Seiendes. Das Verhältnis von Buber und Lévinas lässt sich gut und gerne mit dem von Mischna und Gemara vergleichen, das eine ist der relativ kurze und einfache Grundtext und das andere der durchaus vielseits verflochtene, ausführliche und tiefer greifen wollende Kommentar. Was für Buber eine Frage der Weltwahrnehmung durch den Einzelnen war, wird für Lévinas zu einer Frage der Ontologie, die er aber durch die Ethik ersetzen will. Also aus Bubers Frage der doppelten Weltwahrnehmung wird bei Lévinas eine ethisch-anthropologische Frage. Auch Lévinas kennt wie Buber die durchaus nützliche Möglichkeit der orientierenden und einordnenden Wahrnehmung und Erkenntnis eines anderen Menschen durch sein Gegenüber. Aber diese Erkenntnis und Wahrnehmungsweise hat für Lévinas bereits ethische Valenz in einer bis ins Drastische gehenden Weise. Denn Lévinas sieht in der orientierenden und rubrizierenden Erkenntnis eines Anderen durch das Ich einen Gewaltakt, einen Versuch der Herrschaftsgewinnung über den Anderen, dessen Besitzergreifung, eine Gewalt, die letztlich gar im Wunsch des Mordes gipfeln kann als Akt der völligen Inbesitznahme. – Allerdings entzieht sich der Andere durch seinen dann eintretenden Tod eben doch wieder dieser Herrschaft durch den epistemischen Herrscher, wodurch dieser letzte Schritt der Bemächtigung doch gerade sein Scheitern bedeuten würde. Demgegenüber ist der Anruf des Anderen und das Gegenüberstehen von Angesicht zu Angesicht, das einander Ansprechen, der Verzicht auf solches Herrschaftswissen. In dieser gegenseitigen Ansprache wird der Mensch nicht von
17
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 214–219. 248–254. 524–526. 606–609.
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dem umfassenderen Kontext des Seins her in den Blick genommen, verstanden und mit Bedeutung ausgestattet. Nein, bei diesem Begegnungsakt soll der Andere in seinem individuellen Anders-Sein angesprochen und angenommen werden. Im Dialog, in der Anrede vollzieht sich das legitime Zumessen von Bedeutung, das nicht Verstehen, nicht Erkennen, heißt, sondern mit der Person sprechen, sie in ihrem Sonderdasein und Anderssein zu akzeptieren. Zusammengefasst mit den Worten von Lévinas durch Auszüge aus seinem Aufsatz Ist die Ontologie fundamental: »Indem das Verstehen sich auf das Seiende in der Erschlossenheit des Seins bezieht, schreibt es ihm eine Bedeutung vom Sein her zu. In diesem Sinne ruft es das Seiende nicht an, sondern nennt es nur. Und so vollzieht das Verstehen im Hinblick auf das Seiende einen Akt der Gewalt und der Negation, der partiellen Negation, die Gewalt ist. […] Die partielle Negation, die Gewalt ist, verneint die Unabhängigkeit des Seienden: Es gehört mir. […] aber dann habe ich den Anderen in der Offenheit des Seins überhaupt ergriffen, als Element der Welt, in der ich mich aufhalte, ich habe ihm nicht in die Augen gesehen, ich bin nicht seinem Antlitz begegnet. […] Die Beziehung zum Antlitz als Ereignis der Gemeinschaftlichkeit, das Wort, ist eine Beziehung zum Seienden selbst als bloßem Seienden. […] Das Antlitz bedeutet auf andere Weise. In ihm bestätigt sich der unendliche Widerstand des Seienden gegenüber unserer Macht; […]«18 In diesen Auszügen aus dem Aufsatz zur Bedeutung der Ontologie verwendet Lévinas mehrfach den Begriff des »Antlitzes«, der gleichsam zum Markenzeichen seiner Philosophie wurde. In den französischen Texten verwendet Lévinas indessen den alltäglichen Begriff für das Gesicht eines Menschen »visage«. Thomas Wiemer weist in seiner Übersetzung von Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, darauf hin, dass mit der deutschen Übersetzung »Antlitz«, das im Französischen kein Pendant hat, dem Alltagsbegriff eine »Aura der Erhabenheit« beigegeben wird, die nur zum Teil der Besonderheit des Lévinasschen »visage« gerecht wird und dessen Bezug zur Leiblichkeit und Sinnlichkeit verdeckt, der für die Bedeutung dieses Begriffes in seiner Zweiseitigkeit wichtig ist, wie im folgenden Abschnitt zu Gesicht, Visage oder Antlitz noch zu erörtern sein wird.19 Lévinas sieht in dem Wunsch des Menschen nach Erkenntnis und Deutung der Dinge von einem größeren Kontext her die Ursünde der abendländischen Philosophie, die in Heidegger ihren Höhepunkt finde. Es ist die neuerliche Her18
In: E. Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 103–119, hier S. 115–117.
19
Th. Wiemer, in: Jenseits des Seins, S. 43, Fußnote.
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ausstellung des »Seins« gegenüber dem »Seienden« bei Heidegger, welche diese Tendenz der Gewalt durch das einordnende Erkennen und Verstehenwollen fortsetze. Heidegger wolle den einzelnen Seienden alleine vom Sein her verstehen, das heißt das Endliche vom Unendlichen her und ihm von da seine Bedeutung zumessen. Dies habe zur Folge, dass bei Heidegger »jede Defizienz nur Schwäche ist und ganz Fehler, den man gegen sich selbst begeht; sie ist Zielpunkt einer langen Tradition von Heldenstolz, Herrschaft und Grausamkeit.«20 Lévinas sieht in dieser Tradition die Missachtung des Anderen in seiner Andersartigkeit, indem sie ihn in das Neutrum des Umfassenden einordnet, also in einen Rahmen, zu dem man selbst gehört. Lévinas sieht darin einen Akt der gewaltsamen Aneignung des Anderen. »Die Heideggersche Ontologie ordnet die Beziehung zum Anderen der Relation mit dem Neutrum, nämlich dem ›Sein‹, unter, und dadurch fährt sie fort, den Willen zur Macht, dessen Legitimität und gutes Gewissen allein der Andere erschüttern und stören kann, zu verherrlichen.«21 Lévinas wirft Heidegger vor, damit an einer unmenschlichen Machtordnung festzuhalten. Zu solchen Machtordnungen gehören nach Lévinas auch die Sinngebungsordnungen von Natur und Boden. Lévinas resümiert: »Die Heideggerschen Thesen vom Vorrang des ›Seins‹ vor dem Seienden, der Ontologie vor der Metaphysik, vollenden und bejahen insgesamt eine Tradition, in der das Selbe das Andere dominiert, in der die Freiheit – und sei sie mit der Vernunft identisch – der Gerechtigkeit vorausgeht. Besteht diese nicht darin, den Verpflichtungen gegen sich selbst die Verpflichtung gegen den Anderen voranzustellen, dem Selben den Anderen vorgehen zu lassen.«22 In dieser Beurteilung der Heideggerschen Philosophie wird das Anliegen von Lévinas selbst sichtbar und weshalb er die Ethik als die Grundwissenschaft vor der Ontologie, sprich von einer Lehre vom Sein, ansiedeln will. Es ist das Verhältnis der Menschen untereinander, des einen Ich zu einem Du, eines Selbst zu einem Anderen, das zur Grundlage die Anerkennung der Freiheit und Andersartigkeit des Anderen hat, selbst wenn diese Freiheit eine Herausforderung der eigenen Freiheit bedeutet. Dieses Gegenüber rivalisierender Freiheiten, eine unausweichliche Realität des menschlichen Lebens, kann Lévinas darum auch als »Krieg« beschreiben.23 Aus dieser Situation des Seins kann nicht die Ontologie befreien, sondern nur die Ethik.
20
Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, in: Die Spur des Anderen, S. 193.
21
Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, S. 193–194.
22
Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, S. 195.
23
Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, S. 191.
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Die einzige Möglichkeit diesem Krieg der rivalisierenden Freiheiten zu entkommen ist der Weg der Gerechtigkeit, ein Begriff, der bei Lévinas wie so viele andere eine ganz eigene Bedeutung, beziehungsweise seinen eigenen Bezugspunkt hat.
4.
Das Gesicht, »visage« oder Antlitz
Das »Gesicht« (visage) steht bei Emmanuel Lévinas da, wo für Martin Buber das Du der Ich-Du-Beziehung steht. Das Gesicht des Anderen ist es, das mir mit einer Vielfalt von Ansprüchen entgegentritt und mich herausfordert und das mir die Spur der Transzendenz, des Unendlichen, gleich einem vorübergegangenen Duft vergegenwärtigt. Dieses Gesicht ist demnach nicht die mit den Augen sichtbare Physiognomie, nicht die Konturen von Augen, Nase, Mund und Haaren, wiewohl das »Gesicht« nicht außer oder neben diesen Gesichtszügen steht. Das Gesicht von dem hier die Rede ist, ist mehr als die sichtbaren Konturen, es ist ein Geschehen, das hier in der Immanenz geschieht und zugleich eine Öffnung zur Transzendenz hin hat, einer Transzendenz, die aber nicht eine Überwelt oder Hinterwelt meint. Das Gesicht ist eine »Epiphanie« ein Aufscheinen, welches über die sinnliche Erfahrung hinausweist und zugleich eine Beziehung zwischen zwei Menschen stiftet.24 Das »Gesicht« ist also nicht das, was vor Augen liegt, das man sieht, oder das berührt werden könnte – all dies wäre im Sinne des Erkennens eine Inbesitznahme, ein Herrschafts- oder Gewaltakt. Das Gesicht widersetzt sich alledem. Das Gesicht des Anderen widersetzt sich der Aneignung durch mein Erkennenwollen, widersetzt sich dieser epistemischen Aneignung durch mich. Dieses Entgegentretende ist in seiner Andersheit zu unendlich, zu undurchschaubar als dass es in meine Beschreibungs-Kategorien eingehegt werden könnte. Dieses Andere widersetzt sich dem Ich als moralische Infragestellung des Ich: »Diese Bewegung geht vom Anderen aus. Die Idee des Unendlichen, das unendlich Mehr, das im Weniger enthalten ist, ereignet sich konkret in Gestalt einer Beziehung mit dem Antlitz. Und nur die Idee des Unendlichen – bewahrt trotz dieses Verhältnisses die Exteriorität des Anderen im Verhältnis zum Selben.«25 Sprich, diese Art der Begegnung belässt den Anderen in seiner Andersartigkeit, in seiner Unergründbarkeit, die unendlich ist. Und gerade diese Unergründbar-
24
Vgl. Totalität und Unendlichkeit, S. 267. 280.
25
Totalität und Unendlichkeit, S. 280.
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keit, die ins Unendliche reicht, ist es, die eine neue Dimension in dieser Begegnung eröffnet: »Das Antlitz entzieht sich dem Besitz, meinen Vermögen. In seiner Epiphanie, im Ausdruck, wandelt sich das Sinnliche, das eben noch faßbar war, in vollständigen Widerstand gegen den Zugriff. Diese Verwandlung ist nur möglich durch die Eröffnung einer neuen Dimension […]. Das Antlitz, eben noch Ding unter Dingen, durchstößt die Form, von der sie gleichwohl eingegrenzt wird. Das bedeutet konkret: Das Antlitz spricht mit mir und fordert mich dadurch zu einer Beziehung auf, die kein gemeinsames Maß hat mit einem Vermögen, das ausgeübt wird, sei dieses Vermögen nun Genuß oder Erkenntnis.«26 In diesem Epiphanieereignis begegnet einem der Andere also als Unendliches, als Etwas, das man nie gänzlich umfassen kann. Dieses Außerhalb manifestiert sich in einem absoluten Widerstand seines Andersseins, es stellt sich dem eigenen Erfassungstrieb, meinem Einordnungstrieb entgegen, »das wahre Außen ist in diesem Blick [des Anderen], der mir alle Eroberung untersagt.«27 Die Situation des »Von-Angesicht-zu-Angesicht«, in der einem Menschen das »Gesicht« des anderen in diesem nicht physischen Sinn gegenübertritt ist ein Erleben: »Die Situation ist eine Erfahrung im stärksten Sinne des Wortes: Berührung mit einer Wirklichkeit, die in keine Idee a priori paßt, die über alle hinausgeht. Gerade deswegen konnten wir vom Unendlichen sprechen. Keine Bewegung der Freiheit vermöchte sich das Antlitz anzueignen noch den Anschein zu erwecken es zu ›konstituieren‹. Bevor es antizipiert oder konstituiert wurde, war das Antlitz schon da – es war mit am Werk, es sprach. Das Antlitz ist reine Erfahrung, Erfahrung ohne Begriff. Die Konzeption, die die Aufnahme der Sinnesdaten im Ich vermittelt, endet vor dem Andern als Dezeption, als Gelassenheit, als Entwaffnung, die alle unsere Versuche, dieses Reale zu erfassen kennzeichnen. [… es ist ein] wesentliche[s] Nichtbegreifen des Unendlichen, worin eine positive Seite liegt; dieses Nichtbegreifen ist moralisches Bewußtsein und Begehren.«28 Diese Erfahrung ist die Erfahrung des Scheiterns des eigenen epistemischen Herrschaftswillens, der Begrenzung der eigenen Freiheit durch die Freiheit des Gegenüber. Und dies, das Antlitz des Anderen, so meint Lévinas, ist der Anfang 26
Totalität und Unendlichkeit, S. 283.
27
Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, S. 198.
28
Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, S. 206.
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aller Philosophie, denn es ist die Kritik an den bisherigen Gewissheiten des Ich.29 Diese Situation ist moralisches Bewusstsein denn: »Diese Situation ist moralisches Bewußtsein; meine Freiheit ist dem Urteil des Anderen ausgesetzt; diese Situation hebt das Gleichgewicht auf und ermächtigt uns, im Blick dessen, dem Gerechtigkeit geschuldet wird, den Bereich der Erhabenheit und des Ideals zu sehen.«30 Lévinas begründet die Ethik, und damit – gemäß seinem Verständnis – die Philosophie in der Kritik, die dem Selbst, dem Ich, durch das Gegenüber eines anderen Freiheitsanspruchs widerfährt. Und es ist da, wo eine solche konkurrierende Freiheit wahrgenommen und anerkannt wird, wo der Ort der Gerechtigkeit ist. Die Gerechtigkeit, von der er spricht, hat nicht wie im traditionellen Judentum ihren Bezugspunkt in Gott, sondern am »Gesicht« oder »Antlitz« des Anderen. Wenn Lévinas trotz dieser Verlagerung des ethischen Bezugspunktes dennoch von »Gott« sprechen will, dann so: »Gott erteilt Befehle allein durch die Vermittlung der Menschen, die unseres Handelns bedürfen.«31 Die menschliche Idee vom letztlich nie vollkommen ergründbaren Unendlichen bewährt sich folglich für den Menschen gerade in der Erfahrung des absolut Anderen, in dem die Spur des Unendlichen aufscheint: »Die Erfahrung, die Idee des Unendlichen, bewährt sich im Rahmen der Beziehung zum Anderen. Die Idee des Unendlichen ist die soziale Beziehung.«32
5.
Die Forderung des Andern an das Ich – Grund und Ziel der Ethik
Die Anwesenheit des »Gesichtes« verschafft keine Offenbarung im Sinne eines Erkenntniszuwachses. Die Anwesenheit des Gesichtes des Anderen, welches das eigene Ich in seiner Freiheit beschränkt und infrage stellt, tritt dem Selbst als eine Forderung, als ein Befehl entgegen: »So bedeutet die Anwesenheit des Antlitzes eine nicht abzulehnende Anordnung, ein Gebot, das die Verfügungsgewalt des Bewußtseins einschränkt. Das Bewußtsein wird durch das Antlitz in Frage gestellt.«33
29
Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, S. 207.
30
Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, S. 208.
31
Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, S. 207.
32
Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, S. 198.
33
Die Spur des Anderen, In: Die Spur des Anderen (übs. W. N. Krewani), S. 223.
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Das Selbst wird in dieser Begegnung aus seiner selbstsicheren Ruhe getrieben und gerade dank dieser Austreibung und Verunsicherung kann das ethische Movens wirksam werden: »Die Infragestellung des Selbst ist nichts anderes als das Empfangen des absolut Anderen. Die Epiphanie des absolut Anderen ist das Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir durch seine Nacktheit, durch seine Not, eine Anordnung zu verstehen gibt. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zu[r] Antwort. Das Ich wird sich nicht nur der Notwendigkeit zu antworten bewußt, so als handele es sich um eine Schuldigkeit oder eine Verpflichtung, über die es zu entscheiden hätte. In seiner Stellung selbst ist es durch und durch Verantwortlichkeit oder Diakonie, wie im 53. Kapitel des Buches Jesaja.«34 Es sind Hinweise wie diese auf den Gottesknecht im Jesaja-Buch, mit denen Lévinas seine Philosophie in der jüdischen Tradition verankert. Der Gottesknecht ist der Erwählte Gottes, der den Anderen Gerechtigkeit schafft, indem er sich für sie einsetzt, deren Schuld trägt. Man wird ohne diesen Bezug auf diese jüdisch-religiöse Tradition die philosophische Argumentation von Lévinas wohl kaum richtig verstehen oder begründet sehen können. Dies ist vor allem deutlich in seiner Auseinandersetzung mit Heidegger, dessen an diesem Punkt konträre Auffassung Lévinas als Erbe der abendländischen Philosophie betrachtet, der er nun das jüdisch-religiöse entgegensetzt. Noch deutlicher formuliert er diese Gegenüberstellung mit dem Gleichnis von Odysseus und Abraham. Als Inbegriff dieser abendländisch philosophischen Tradition sieht Lévinas das Bestreben, alles »Andere«, das einem begegnet, in kategorialen Bestimmungen einzufangen und so wieder zum Selben, zur Gleichheit des Seins, zurückzuführen, während das Bestreben von Lévinas es ist, die Andersartigkeit des Anderen als uneinfangbar anzuerkennen und auf den Weg zurück zum Eigenen, zum Verstehen und damit Einordnen in bekannte Bezugsfelder zu verzichten. Paradigmatisch sieht Lévinas dies in den beiden »Urvätern« des Griechen- und Hebräertums symbolisiert: »Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.«35
34
Die Spur des Anderen, S. 224.
35
Die Spur des Anderen, S. 215–216.
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6.
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Das menschliche Subjekt – als Unterworfenes und Angeklagtes
Emmanuel Lévinas bestreitet die Vorstellung des Idealismus, nach welcher das Subjekt und sein Bewusstsein identisch, äquivalente Begriffe sind; Auffassungen, nach welchen das Bewusstsein, das Sein des Seienden vollendet. Mit anderen Worten, er bestreitet, dass der Mensch seine Subjektivität selbst durch sein Bewusstsein herstellen oder vollenden kann. Er bestreitet demnach die Auffassung, das Subjekt entstehe durch eine Selbstreflexion des Ich das »Sich« selbst wahrnimmt. Demgegenüber meint Lévinas: »Das Sich kann sich nicht bilden, es ist bereits gebildet aus absoluter Passivität, und es ist in diesem Sinne Opfer einer Verfolgung, welche jegliche Annahme und Übernahme lähmt, die noch im Opfer erwachen könnte, um ihm so eine Position für sich zu verschaffen; Passivität der Verbundenheit, die bereits als unumkehrbar vergangene geknüpft ist, diesseits des Gedächtnisses, vor aller Erinnerung. Geknüpft in einer uneinholbaren Zeit, der die in der Erinnerung vergegenwärtigte Gegenwart nicht gewachsen ist, in einer Zeit der Geburt oder Schöpfung, die der Natur oder dem Geschöpf eine Spur einzeichnet, die sich nicht in Erinnerung überführen lässt.«36 Das »Sich« ist, um es mit der Formulierung Heideggers auszudrücken, ins Dasein geworfen, und dieses Geworfensein ist es, welches das Ich als auf sich selbst bezogen als »Sich« schon immer konstituiert. Das Fürwort »Sich«, als Akkusativ des reflexiven Personalpronomens, versteht Lévinas nun aber nicht als einen von einem Nominativ abgeleiteten Kasus, sondern tatsächlich als Akkusativ, das heißt als Modus der Anklage und Verantwortung, gemäß dem französischen accuser. Deswegen sieht Lévinas im Angesicht, das dem Ich begegnet, eine Infragestellung des Ich, eine Begrenzung von dessen Freiheit, eine Forderung des Angesichts, Verantwortung für dieses Andere zu übernehmen, dessen Geisel das Ich geradezu ist. Das Selbst ist nicht autark, es kann durch keine intellektuelle Bemühung seine eigene Rechtfertigung und Ruhe finden. Lévinas sieht den Anderen als Ankläger, so dass das Ich sich als Angeklagter, als Schuldiger ohne Schuld sehen muss, als schuldlos angeklagt:37 »Subjektivität als Geisel. Diese Kennzeichnung kehrt die Position um, von der aus die Präsenz des Ich für sich selbst als der Anfang oder die Vollendung der Philosophie erscheint. Diese Koinzidenz im Selben, in dem ich Ur-
36
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (Übs. Thomas Wiemer), S. 232.
37
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 248.
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Emmanuel Lévinas
sprung wäre – oder dank der Erinnerung, Wiedererreichen des Ursprungs – diese Präsenz scheitert von vorneherein am Anderen. Das auf sich selbst beruhende Subjekt wird durch eine Anklage ohne Worte außer Fassung gebracht. Durch eine Anklage ohne Worte – in der Rede nämlich hätte sie ihre traumatische Gewalt bereits verloren. In diesem Sinne Anklage als Verfolgung, auf die der Verfolgte nicht einmal antworten kann oder genauer – Anklage, der ich nicht antworten kann, für die ich aber die Verantwortung nicht abweisen kann. Schon die Setzung des Subjekts ist Absetzung, nicht conatus essendi, sondern von vornherein Stellvertretung als Geisel, die selbst die Gewalt der Verfolgung sühnt. So weit gilt es, die Substanzaufgabe des Subjekts zu denken, seine Ent-dinglichung, sein Sich-vom-Sein-Lösen, seine Unterwerfung – seine Subjektivität. Reines Sich, im Akkusativ, das heißt unter Anklage, verantwortlich schon vor der eigenen Freiheit und unabhängig von Wegen zum sozialen Überbau, in dem – im Rahmen der Gerechtigkeit – die Asymmetrie, die mich dem Anderen gegenüber ungleich hält, zum Gesetz, zur Autonomie, zur Gleichheit zurückfindet.«38 Lévinas zeichnet hier eine Situation des Menschen wie sie Kafka nicht besser hätte beschreiben können. Das ganze Leben des Menschen ist ein Leben im Gericht, unter Anklage, auf die er nicht wirklich reagieren kann, deren Schuldvorwurf ihm nicht wirklich bekannt ist, es ist eine Schuld ohne Verschuldung. Alles was dem Menschen begegnet, kann unvermittelt zum Ankläger werden, selbst alte Bekannte und Freunde. Der Mensch lebt in einem Gerichtsraum, den er nur nicht stets wahrnimmt, der aber irgendwann unübersehbar und unabweisbar seine Gegenwart prägt.39 Diese Beschreibung der menschlichen Situation, wie sie Franz Kafka vor allem in seinem Proceß-Roman bietet, rührt von Auffassungen her, wie sie vor allem in der lurianischen Kabbala und in den aus ihr abgeleiteten eher populären Moraltraktaten vorgetragen wurden und die bis hinein in die Predigten vor allem um die hohen Herbstfeiertage nachwirkten und so jedem Juden bekannt wurden und die auch Lévinas sehr wohl kannte. Zu diesem von Kafka wiedergegebenen sünden- und schuldbewussten Judentum verweise ich auf mein Buch Kafka und die Kabbala.40 Die Texte von Lévinas lesen sich wie eine philosophische Ausarbeitung dessen, was Kafka in seinen Erzählungen, Romane und Fragmenten zum Ausdruck brachte.
38
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 282–283.
39
Vgl. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 194.
40
K. E. Grözinger, Kafka und die Kabbala. Das Jüdische in Werk und Denken von Franz Kafka, 5. Aktualisierte und erweiterte Auflage, Frankfurt/New York 2014.
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7.
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Die Geschöpflichkeit und das »Geworfensein« des Menschen als Grund seiner heteronomen Situation
Die Schuld des menschlichen »Sich« (Le Soi) ist in seinem geschöpflichen Stand begründet, wie dies auch Kafka in Anlehnung an die ḥasidische Theologie sagte: »Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von Schuld«.41 Diese Aussage Kafkas erklärt sich von der Theologie des ḥasidischen Meisters Dov Ber aus Mesritsch her, nach welcher es die Geschöpflichkeit des Menschen ist, mit welcher sein Sündigsein gegeben ist.42 Und es ist gerade dieser Gedanke, den auch Lévinas aufgreift. Er tut dies bei seiner Deutung des biblischen Hiobbuches. Am Ende dieses Buches fragt Gott Hiob, der bis zum Ende unablässig auf seiner Schuldlosigkeit beharrt, ob er dabei war, als Gott die Welt gegründet habe. Hiob, so Lévinas, hat der philosophischen Überheblichkeit gehuldigt, die meint, alles mit der Vernunft erklären zu können, denn »In einer vernünftigen Welt geht es nicht an, daß man sich zu verantworten hat, während man gar nichts begangen hat.«43 Das heißt, es gibt eine Vorgabe für das Menschsein, die der Mensch mit all seinem Denken und Fragen nicht einholen kann und der er allemale ausgeliefert ist. Diesen Zusammenhang nimmt Lévinas gerade auch an einer Stelle auf, an der er von der massiven Schuldsituation des menschlichen »Sich« spricht: »Das Sich, der Verfolgte, ist angeklagt über seine Schuld hinaus, bevor er frei ist, und damit angeklagt einer Unschuld, zu der man sich nicht bekennen kann. Man darf ihn sich nicht vorstellen im Stande der Ursünde – im Gegenteil, er ist die Urgüte der Schöpfung.44 Der Verfolgte kann sich nicht mit den Mitteln der Sprache verteidigen, denn die Verfolgung ist der Ausschluss der Apologie. Die Verfolgung ist genau der Moment, in dem das Subjekt ohne die Vermittlung des Logos getroffen oder berührt wird.«45 Der Mensch ist schon immer in dieser Situation der schuldlosen Schuld. Er ist, wie Lévinas an anderer Stelle sagt der »Erwählte«, ohne diese Erwählung durch ein eigenes »ja« übernehmen zu können. Der Mensch lebt in einer »Güte wider Willen«, »einer Güte, die stets älter ist als die Wahl«: »Güte, die stets älter ist als die Wahl: das Gute hat den Einzigen immer schon erwählt und verpflichtet. Und als Erwählter, der seine Erwählung nicht er41
Vgl. Grözinger, Kafka und die Kabbala, S. 207.
42
Vgl. Grözinger, Kafka und die Kabbala, S. 232.
43
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 271.
44
»On ne doit pas le penser à l’état du pécheé originel – il est au contraire, la bonté originelle de
45
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 270
la creation.«, Autrement qu’être, S. 156.
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Emmanuel Lévinas
wählt, und bei der Einsetzung, die ihm widerfährt, fehlt – ist der Eine von einer Passivität, die passiver ist als alle Passivität des Erleidens. Die Passivität des Einen – seine Verantwortlichkeit oder sein Schmerz – beginnen nicht im Bewußtsein, das heißt sie beginnen überhaupt nicht; diesseits des Bewußtseins bestehen sie in jener vor-ursprünglichen Einwirkung des Guten auf den Einen, Einwirkung, die stets älter ist als jede Gegenwart, als jeder Beginn […]«46 Lévinas versucht demnach die Situation des Menschen, seine Selbstfindung nicht im Selbstbewusstsein des Menschen, der Sich selbst gefunden hat, zu begründen, sondern weit davor als eine conditio humana schlechthin, vor dem intellektuellen und bewusstseinsmäßigen Zu-Sich-Selbst-Kommen. Die Schuld, die Verpflichtung und Verantwortung beginnen schon mit dem Geborensein und davor, sie haben keinen Anfang, sondern sind schon immer da. Theologisch gesprochen: Durch die Schöpfung und die Geschöpflichkeit des Menschen.
8.
Der Mensch als Ebenbild Gottes
Mehrfach wurde im Rahmen dieser Darstellung des jüdischen Denkens darauf hingewiesen, dass die Deutung der biblischen Lehre vom Menschen als dem Ebenbild Gottes (Gen 1, 26–28) durch die verschiedenen Denker im Laufe der Jahrtausende zum Schibbolet für deren Auffassung vom Judentum insgesamt und der Lehre vom Menschen und von Gott im Besonderen ist. Auch Emmanuel Lévinas reiht sich in diese lange ehrwürdige Reihe ein und bietet einen ausführlichen Passus mit seiner Deutung dieser Lehre, die dann, wie zu erwarten, den Kern seiner Philosophie umschreibt. Angesichts dieses Befundes, sollte man mit der Trennung zwischen Philosophie und Religion, das heißt sogenannten »professionellen« und »konfessionellen« Texten von Lévinas behutsam sein und sie allenfalls als Unterschied der literarischen Gattung nicht aber als einen Gegensatz von Philosophie und Glaube verstehen.47 Der Gattungsunterschied betrifft natürlich in erster Linie die Talmudischen Lektüren, aber auch sie sind keine »Lektüren« im traditionellen Sinn, sondern moderne homiletische und auch mit philosophischen Gedanken versehene Textauslegungen. Dies bedeutet demnach, dass es auf beiden Seiten dieser literarischen Tätigkeiten von Lévinas deutliche Echos aus dem je anderen Diskurs gibt – auch hierin ist Maimonides ein sprechendes Vorbild. 46
Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 136.
47
E. Meir verwendet in seinem Buch »Levinas’s Jewish Thought. Between Jerusalem And Athens«, Jerusalem 2008, diese Terminologie, betont allerdings zugleich, dass damit keine Trennung von Philosophie und Theologie bei Lévinas gemeint sein kann.
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Eines der schönsten Beispiele für den Einfluss der Tradition auf die Philosophie von Lévinas ist seine Aufnahme der Deutungen der imago dei Lehre in den philosophischen Diskurs. In der biblischen Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes sind, und dies gilt für alle nachfolgenden Deutungen dieser Lehre, die Theologie (Gotteslehre) und die Anthropologie zusammengebunden, beide gewinnen von hier aus ihr spezifisches Profil. So geschieht dies auch bei Lévinas. Zur Benennung des abwesenden göttlichen Unendlichen, das dennoch als Spur in den menschlichen Begegnungen als unbekannter u-topischer Garant und Quelle des Befehls an den Menschen aufscheint, eines Befehls, der an das Selbst durch das ihm begegnende Antlitz/Gesicht herangetragen wird, greift Lévinas zu dem unpersönlichen französischen »il« dem Personalpronomen der dritten Person. Mit ihm benennt er das unbekannte »Jenseits, aus dem das Antlitz kommt, die dritte Person«. Zur abstrakten Benennung dieses »Il« kreierte er das neutrale Nomen »illéité«, welche die Transzendenz in ihrer jeweils immer neuen absoluten Vergangenheit und Uneinholbarkeit bezeichnet. Die »Illeität« ist das stets verborgen bleibende Dritte, das »Göttliche«, das auch Moses nach Exodus 33 nur als Vorübergegangenes, nicht mehr Einholbares und nicht mehr Rückführbares wahrgenommen hat. Dieses im Antlitz aufleuchtende, aber doch nie greifbare »Il«, das Wolfgang N. Krewani in seiner deutschen Übersetzung zur Unterscheidung vom normalen Personalpronomen mit dem lateinischen »ille« (»jener«), wiedergibt,48 wird von Lévinas in deutlicher Anlehnung an die genannte Begegnungsszene des Moses mit Gott geschildert, in der all seine so auffälligen philosophischen Begriffe, »Angesicht«, »von Angesicht zu Angesicht«, das »Vorübergehen« und die »Herrlichkeit«, begegnen, welche das Mysterium der »Gottesoffenbarung« an Moses wie auch seine Philosophie beschreiben. Diese dritte Person, beschreibt Lévinas mit folgenden Worten: »Diese dritte Person, die sich im Antlitz bereits aus aller Entbergung und aller Verbergung zurückgezogen hat, die vorübergegangen ist – diese Illeität ist nicht ein ›Weniger als das Sein‹ im Verhältnis zur Welt, in die das Antlitz vordringt; sie ist die ganze Ungeheuerlichkeit des absolut Anderen, die der Ontologie entgeht. Die höchste Anwesenheit des Antlitzes ist untrennbar von jener höchsten und unumkehrbaren Abwesenheit, die die eigentliche Erhabenheit der Heimsuchung begründet.«49 Diese vorübergegangene Anwesenheit als Abwesenheit des Ille ist jenes, das Lévinas in traditionellerer Sprache »Gott« nennt, ein Gott, der nur durch den Menschen befiehlt. Nach dieser Klärung des Begriffes der »Illeität« ist man in 48
Vgl. Die Spur des Anderen, S. 229.
49
Die Spur des Anderen, S. 230.
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Emmanuel Lévinas
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der Lage, jenen längeren Abschnitt zu verstehen, an dessen Ende er seine Deutung der imago-Lehre vorträgt: »Die Illeität ist nicht das Es der Sache, die zu unserer Verfügung steht und dem Martin Buber und Gabriel Marcel zu Recht bei der Beschreibung der menschlichen Begegnung das Du vorgezogen haben. Die Bewegung der Begegnung tritt nicht zu dem unbeweglichen Antlitz hinzu. Diese Bewegung ist in diesem Antlitz selbst. Das Antlitz ist durch sich selbst Heimsuchung und Transzendenz. Bei aller Offenheit aber kann das Antlitz zugleich in sich sein, weil es in der Spur der Illeität ist. Die Illeität ist der Ursprung der Andersheit des Seins, an der das Ansich der Objektivität teilhat und die es verrät. Der Gott, der vorbeigegangen ist, ist nicht das Urbild, von dem das Antlitz das Abbild wäre. Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes sein, sondern sich in seiner Spur befinden. Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit, die in der personalen Ordnung selbst ist. Er zeigt sich nur in seiner Spur, wie in Kapitel 33 des Exodus. Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die Andern zugehen, die sich in der Spur halten.«50 Diese Deutung der biblischen Lehre vom Menschen als dem Zelem Elohim, dem Ebenbild Gottes, hat mit der nachbiblischen jüdischen Tradition vieles gemein, ist aber an einem entscheidenden Punkt deutlich von ihr geschieden und hat ein geradezu christliches Motiv aufgenommen. Die Gemeinsamkeit mit der älteren jüdischen Tradition besteht darin, dass mit der imago, wie Lévinas auch selbst betont, keine bildhafte Ikone gemeint ist, sondern ein Verhaltensmodus. Die älte-
50
Die Spur des Anderen, S. 235. Der französische Originaltext lautet nach der Erstveröffentlichung in Tijdschrift voor Filosofie 25, 3 (1963), S. 605–623, hier S. 623: »L’ illéité de cet II, n’est pas le cela de la chose qui est à notre disposition et à qui Buber et Gabriel Marcel ont eu raison de préférer le Toi pour décrire la rencontre humaine. Le mouvement de la rencontre ne s’ajoute pas au visage immobile. Il est dans ce visage même. Le visage est par lui-même visitation et transcendance. Mais le visage, tout ouvert, peut à la fois être en lui-même parce quʼil est dans la trace de l’illéité. L’illéité. Est l’origine de l’altérité de l’être à laquelle l’ensoi de l’objectivité participe en le trahissant. Le Dieu qui a passé n’est pas le modèle dont le visage serait l’image. Etre à l’image de Dieu, ne signifie pas être l’icone de Dieu, mais se trouver dans sa trace. Le Dieu révélé de notre spiritualité judéo-chrétienne conserve tout l’infini de son absence qui est dans l’ordre personnel même. Il ne se montre que par sa trace, comme dans le chapitre 33 de l’Exode. Aller vers Lui, ce n’est pas suivre cette trace qui n’est pas un signe, c’est aller vers les Autres qui se tiennent dans la trace.«
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ren jüdischen Deutungen51 haben die Lehre stets als Aufforderung an den Menschen zur imitatio dei verstanden, sei es als ethisches Gleichtun, sei es als intellektuelle Bemühung und dergleichen. Die weitere Gemeinsamkeit ist dann natürlich die, dass mit dieser Lehre eine Entsprechung von Theologie und Anthropologie ausgesprochen wurde: Wo Gott als ethisch handelnde Person konzipiert war, soll auch der Mensch eine solche sein, wo Er als Intellekt gesehen wurde, ist das Ziel des Menschen die intellektuelle Entwicklung. Der entscheidende Unterschied zur älteren jüdischen Tradition liegt aber darin, dass in der traditionellen jüdischen Rede vom Menschen als dem Ebenbild Gottes stets das »Selbst« des Menschen angesprochen war. Jeder selbst ist gemeint und zur imitatio dei aufgerufen, um so zur imago dei zu werden. Bei Lévinas ist es aber gerade nicht das Selbst, welches als Gottes Ebenbild gesehen wird, sondern es ist der »Andere« das »Gesicht« (visage). Dieses ist es, das sich in der Spur Gottes befindet. Ebenbild zu sein ist nicht eine Aufgabe des Menschen an und für sich, sondern es ist etwas, das dem Menschen unvermittelt im Andern, im visage entgegentritt. Es ist der Andere, das Antlitz oder das Gesicht des Anderen, das sich in der Spur des vorübergegangenen Unendlichen, des Göttlichen, befindet. Dieses Andere tritt in seiner »Nacktheit« und seiner Andersheit als Forderung und als Anklage dem Selbst gegenüber. Die Nähe zum christlichen Verständnis der imago Lehre ist die, dass dort das Ebenbild gleichfalls nicht das Selbst, das eigene Ich ist, sondern ihm in Gestalt des Christus, der die imago ist, entgegentritt. Auch diese christliche imago ist eine Begegnung mit einer Aufforderung von Seiten des Ebenbildes an das Ich, nicht eine Aufgabe, welche dem Ich selbst obliegt, um imago zu werden. Die Gottheit selbst ist, wie dies Lévinas aus Exodus 33 herausliest, das stets sich Entziehende, das Verborgene – und dies ist es, wie es Lévinas schon in seiner Reaktion auf die Schoah sagte, was dem Menschen die Verantwortung für die Welt aufbürdet.52
9.
Trennung des Selbst vom Anderen als Akt der imitatio dei
Es scheint, dass man Lévinas’ Aufnahme des kabbalistisch-lurianischen Gedankens des Zimzum dem jüdischen Kontext von imitatio dei und imago dei zuordnen darf. Lévinas beschreibt in seinem Buch Totalität und Unendlichkeit die Beziehung des Menschen zum Unendlichen.53 Dabei stellt er nachdrücklich fest, 51
Zu ihnen vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 129–140 und in den Registern der weiteren Bände
52
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 608–613.
53
Dazu siehe auch: H. J. Heering, Die Idee der Schöpfung im Werk E. Lévinas’, in: NedThT 38
zu: Zelem und imago.
(1984), S. 289–309; C. Chalier, Ontologie et mal, in: J. Greisch, J. Rolland/Hgg,) L’Ethique
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Emmanuel Lévinas
dass der Mensch niemals das Unendliche selbst hat, sondern allenfalls die »Idee vom Unendlichen«. Er zeigt das an Descartes indem er sagt: »das ›ich denke‹ unterhält mit dem Unendlichen, das es in keiner Weise enthalten kann und von dem es getrennt ist, eine Beziehung, die ›Idee des Unendlichen‹ heißt. Die Transzendenz dieser Beziehung zerreißt nicht das Band, das mit der Relation gegeben ist, aber dieses Band vereinigt auch nicht das Selbe und das Andere in einem Ganzen«, diese Beziehung des Menschen zum Unendlichen beschreibt, so Lévinas, adäquat die »Beziehung des Selben mit dem Anderen«.54 Resümierend wiederholt er später noch einmal: »Die Idee des Unendlichen setzt die Trennung des Selben vom Anderen voraus. […] Eine absolute Transzendenz muß sich in einer Weise ereignen, die sie unintegrierbar macht. Die Trennung wird notwendig durch das Ereignis des Unendlichen, das seine Idee übertrifft und dadurch vom Ich als dem Träger der Idee (der inadäquaten Idee par excellence) getrennt ist […]«55 Die Beziehung des Menschen zum Unendlichen entspricht nun geradeso der Beziehung von Mensch zu Mensch: »Das Selbe und das Andere unterhalten einen Bezug zueinander und absolvieren sich gleichzeitig aus diesem Bezug, bleiben absolut getrennt. Die Idee des Unendlichen verlangt diese Trennung. Wir haben die Trennung als die äußerste Struktur des Seins angenommen, als das Ereignis seiner Unendlichkeit. Die Gesellschaft realisiert sie konkret.«56 Mit Bezugnahme auf Platons Lehre von der Platzierung des »Guten« oberhalb aller Arten von Wesen, – eine kühne Lehre, die nicht der Theologie, sondern der Philosophie zu verdanken sei – sagt nun Lévinas: »Das Paradox eines Unendlichen, das außerhalb von sich selbst Seiendes zuläßt, das es nicht in sich absorbiert – eines Unendlichen, das dank dieser Nachbarschaft zu einem getrennten Seienden gerade seine Unendlichkeit
comme philosophie première. Actes du colloque de Cerisy-la-Salle, Paris 1993, S. 633–678; J. Wohlgemuth, Schöpfung bei E. Lévinas, in: ZKTh 114 (1992), S. 408–424; W. N. Krewani, Diachronie und Schöpfung bei Lévinas, in: J. Wohlgemuth (Hg.), Emmanuel Lévinas – Eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn 1998, S. 43–62. 54
Totalität und Unendlichkeit, S. 60.
55
Totalität und Unendlichkeit, S. 66.
56
Totalität und Unendlichkeit, S. 145.
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vollzieht – mit einem Wort, das Paradox der Schöpfung, verliert unter dieser Voraussetzung an Kühnheit.«57 Gerade in diesem Zusammenhang zieht nun Lévinas die lurianische Lehre vom Zimzum, also der Selbstkontraktion des Unendlichen (’En Sof) heran,58 um die Trennung der verbundenen Seienden als Urakt des Unendlichen, sprich der Gottheit zu deklarieren: »Das Unendliche ereignet sich, indem es in einer Kontraktion auf die Ausbreitung zu einer Totalität verzichtet und damit dem getrennten Seienden einen Platz läßt. So zeichnen sich Beziehungen ab, die einen Weg aus dem Sein hinaus bahnen. Ein Unendliches, das sich nicht kreisförmig mit sich zusammenschließt, sondern sich aus dem ontologischen Raum zurückzieht, um getrennten Seienden einen Platz zu lassen, existiert göttlich. Es stiftet oberhalb der Totalität eine Gemeinschaft. Die Beziehungen, die zwischen dem getrennten Seienden und dem Unendlichen entstehen, machen wieder gut, was in der schöpferischen Kontraktion des Unendlichen an Minderung lag. Der Mensch kauft die Schöpfung zurück. Die Gemeinschaft mit Gott ist weder eine Zutat zu Gott noch ein Verschwinden des Intervalls, das Gott vom Geschöpf trennt. Wir haben die Gemeinschaft mit Gott im Gegensatz zur Totalisierung Religion genannt. Die Begrenzung des schöpferischen Unendlichen und die Mannigfaltigkeit – sind mit der Perfektion des Unendlichen vereinbar. Sie artikulieren den Sinn dieser Perfektion.«59 In seiner Bezugnahme auf die lurianische Lehre vom Zimzum nimmt Lévinas einen weiteren jüdischen, aber insbesondere in der lurianischen Kabbala zentralen Gedanken auf, nämlich dass der Mensch Partner Gottes in der Wiederherstellung, dem Tikkun der Welt ist.60 In dieser Partnerschaft, in welcher der Mensch die Schöpfung wiederherstellt und erhält, ist er wahrlich das Ebenbild Gottes, das seinen Schöpfer nachahmt. Die Nachahmung Gottes als Verbundenheit in der Trennung führt auf den Weg, der schon oben als das zentrale Ziel der Philosophie von Lévinas benannt wurde, nämlich die Herausführung des Seienden aus dem Sein und seine Selbstwerdung in der Herausforderung durch das »Gesicht« des Andern.
57
Totalität und Unendlichkeit, S. 146–147.
58
Zu dieser Lehre Lurjas siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 626–633.
59
Totalität und Unendlichkeit, S. 148.
60
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 650–654. 676–680.
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TEIL II – AUFGLIEDERUNG DES JUDENTUMS – DAS DEUTSCH-JÜDISCHE ERBE IN DER NEUEN WELT
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DIE JÜDISCHEN DENOMINATIONEN DER GEGENWART – IN SELBSTDARSTELLUNGEN 1.
Vorbemerkung
Das amerikanische Judentum, nach dem israelischen das zahlenmäßig wohl zweitstärkste, ist soziologisch, theologisch und philosophisch das vielfältigste und beweglichste. Dennoch definiert es sein Judentum weitestgehend über die Religion, und selbst in Kreisen, in denen die Säkularisierung die Oberhand gewonnen hat, wirkt die Religion als Sprach- und Denkkultur wie auch in ihren Organisationsformen nach. Diese im Vergleich zur altjüdischen Tradition neue Situation ist ein Erbe der deutsch-europäischen Aufklärung und Emanzipation sowie der daraus hervorgegangenen Reform einerseits und der Bildung einer organisierten und als solche benannten Orthodoxie andrerseits.1 Diese Neustrukturierungen haben auch mentalitätsgeschichtlich ein Novum im jüdischen Denken hervorgebracht. Waren es seit dem frühen Mittelalter einzelne individuelle Denker, die durch ihre persönliche Lehrautorität das geistige Profil des Judentums prägten, so treten nun Bewegungen auf, die ein kollektives denkerisches Profil für eine ganze jüdische Gruppe formulieren, oft in expliziter Abgrenzung gegen die anderen Gruppierungen. Insofern fand hier eine bekenntnissoziologische Annäherung an das Christentum statt, in dem jede Richtung oder Kirche ihr eigenes Glaubensbekenntnis, ihre eigenen Vorstellungen in abgrenzenden Katechismen darstellt. Ähnlich ist dies nun auch im amerikanischen Judentum, dessen diesbezügliche Wirkungen zunehmend in anderen Regionen der Welt zu erkennen sind. In Israel hat die innerjüdische Konfessionalisierung zu einem andauernden Kampf der reformerischen Richtungen um Anerkennung gegen die dort alles beherrschende Orthodoxie geführt. Natürlich sind die Selbstdarstellungen der amerikanisch-jüdischen Denominationen nicht so detailliert und dogmatisch ausgefeilt wie die christlichen, was darin begründet ist, dass auch das neuere Judentum der USA keine »Glaubensreligion« mit festen Glaubensregeln darstellt, wiewohl das Wort »faith« in diesen Selbstdarstellungen häufig verwendet wird. Die zentralen Themen der denominativ-konfessionellen Selbstdarstellungen bewegen sich daher auf den vorgegebenen zentralen Feldern der langen jüdischen Geistesgeschichte, also es geht um die Themen der Verpflichtung der Halacha, des Umgangs mit der Tradition, die Anerkennung des geschichtlichen Wandels, die Bedeutung des Ritus, die Stellung der Frau in Synagoge, Haus und Bildung, die Stellung zum Zionismus und zum Staat Israel, die Anerkennung nichtreligiöser Juden als noch zum Judentum gehörig, den Ausgleich der Spannung zwischen 1
Siehe dazu Jüdisches Denken, Bd. 3.
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Orthodoxie
Partikularismus und Universalismus und damit die Stellung und Rolle des Judentums in der Welt – hier spielt das Thema der Erwählung Israels eine wichtige Rolle. Mehr theologisch im europäischen Sinn ist die Frage nach dem Wesen, sowie der Zeit und dem Raum der Offenbarung, auch die Gottesfrage wird erörtert, wiewohl sie, fast erwartungsgemäß, oft eher eine untergeordnete Rolle spielt. Um dieser neuen Situation gerecht zu werden, werden hier zunächst solche Selbstdefinitionen und Selbstbeschreibungen der wichtigsten Richtungen des amerikanischen Judentums folgen, unabhängig von der nachfolgenden Vorstellung einzelner großer Denker, die teilweise den verschiedenen Richtungen zugehören oder denkerisch von mehreren in Anspruch genommen werden können – ein Zeichen der mehrfach diagnostizierten fluktuierenden Verwischung der Grenzen zwischen den bestehenden Bewegungen. Die im Folgenden besprochenen Selbstdarstellungen gehen oft auf die Beschlüsse von Rabbinerversammlungen der einzelnen Richtungen oder auf programmatische Aufsätze anerkannter Vertreter zurück, die dann in den Publikationsorganen der zugehörigen Denominationen – auch dies ein Erbe der deutsch-jüdischen Vergangenheit – ihren prominenten Raum erhielten. Die erneute Publikation solcher gruppenspezifischer Verlautbarungen in den Webseiten der Virtual Jewish Library bezeugt dann schon den Versuch, der Zersplitterung wenigstens in der Darstellung eines Gesamtjudentums entgegenzuwirken.2
2.
Die Moderne Orthodoxie – Centralist Orthodoxy – Inklusion trotz Abgrenzung – im Sinne des alten Israel-Begriffes
Der Rabbinical Council of America, das offizielle Organ der Modernen Amerikanischen Orthodoxie, wurde im Jahre 1935 von Absolventen der 1897/1886 in New York entstandenen Zwillingseinrichtung Isaac Elchanan Theological Seminary und Yeshiva University in New York gegründet und vereinte sich 1942 mit entsprechenden Rabbinern aus dem seit 1922 bestehenden Hebrew Theological College in Chicago. Der herausragende geistige Führer dieser liberaleren orthodoxen Richtung war der im vorliegenden Band ausführlich vorgestellte Rabbi Joseph Ber (Dov) Soloveitchik (1903–1993). Die Grundlagen dieser vereinten 2
Zu den Denominationen siehe: B. Martin (Hg.), Movements and Issues in American Judaism. An Analysis and Sourcebook of Developments Since 1945, Westport (Conn.) – London (England) 1978; J. Wertheimer, A People Divided. Judaism in Contemporary America, New York 1993; eine Sammlung unterschiedlicher Stellungnahmen zum Status der jüdischen Religion von Vertretern der einzelnen Richtungen findet man in: The Condition of Jewish Belief. A Symposion, Compiled by the Editors of Commentary Magazine, New York-London, 1966.
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Jüdische Denominationen
195
orthodoxen Bewegung wurden von Howard I. Levine im Sprachrohr dieser Bewegung, in der 1958 gegründeten Zeitschrift Tradition, dargestellt.3 Die Modernität der in dieser orthodoxen Zeitschrift vorgestellten Bewegung drückt sich nach deren Vorwort so aus: »Die Welt, in der wir leben, erlaubt uns nicht mehr, jeden Zweifel mit den Worten ›So lautet das Gesetz‹, oder ›so sagt die Tora‹ zu beantworten. Tatsächlich genügten derartige Antworten im Laufe der jüdischen Geschichte nur selten. Auch waren solche Antworten nicht wünschenswert bei einem Glauben, in dem die richtigen Antworten stets von den richtigen Fragen abhängen und in dem sogar Moses als unablässig Suchender dargestellt wird, der jedoch nie das vollkommene Verstehen erlangte.«4 Der im Folgenden zur Darstellung der Grundpositionen dieses orthodoxen Judentums angezogene Artikel aus der Feder von Howard I. Levine widmet sich der Frage, wer als orthodoxer Jude zu betrachten ist, selbst wenn betreffende Personen nicht die orthodoxe Observanz leben. Intention dieser zunächst merkwürdig klingenden Fragestellung ist die, dass dieses orthodoxe Judentum sich als den einzig legitimen Vertreter der jüdischen Tradition sieht und damit als den Vertreter des jüdischen Volkes schlechthin, weshalb es möglichst alle Juden unter seinem Dach versammelt sehen will, auch jene, die sich als Reform-Juden, als Conservatives und dergleichen betrachten: »Da wir das Orthodoxe Judentum mit dem Judentum der Vergangenheit und der Zukunft gleichsetzen, ist es unausweichlich, dass wir festlegen, welche Juden der Gegenwart die Glieder in der ewigen Kette unserer Existenz sind. Diese geistige Gemeinschaft ist der Boden und die Saat, die mit Hilfe einer adäquaten Hege (nurture) die Frucht unserer künftigen Existenz tragen werden.«5
3
Der Artikel von Howard I. Levine trägt den Titel: The Non-Observant Orthodox, in: Tradition 2, 1 (Fall 1959), S. 1–19; J. Wertheimer, Recent Trends in American Judaism, in: American Jewish Yearbook 89 (1989), S. 63–162; S. G. Freedman, Jew vs. Jew. The Struggle for the Soul of American Jewry, New York et. al. 2000; M. L. Raphael (Hg.), The Columbia History of Jews and Judaism in America, New York 2008; H. R. Diner, The Jews of the United States, 1654 to 2000, Berkeley, Los Angeles, London 2004; J. D. Sarna, American Judaism. A History, New Haven & London 2004; G. Falk, The German Jews in America. A Minority within a Minority, New York et. al. 2014; J. Neumann, To Heal the World? How the Jewish Left Corrupts Judaism and Endangers Israel, New York 2018.
4
S. J. Sharfman, Foreword, in: Tradition 1, 1, Fall 1958, S. 5.
5
Levine, Non-Observant Orthodox, in: Tradition 1,1, S. 1.
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Orthodoxie
Dieses orthodoxe Judentum will der Repräsentant des Klal Jisrael sein, also der Gesamtheit des Volkes Israel, auch jener die als »Sünder« nicht den Regeln der Halacha folgen. Dies allein schließt solche Menschen noch nicht aus diesem Gesamtisrael aus. Levine erachtet es daher als einen großen Irrtum, nicht observante Juden als »Conservative« oder »Reform« zu deklarieren, oder dass diese sich selbst so zu benennen, weil dadurch, im Sinne des orthodoxen Verständnisses, Demarkationslinien gezogen werden, die im Sinne der Halacha nicht bestehen. Ein Sünder in Israel bleibt dennoch ein Israelit und somit – gemäß der genannten Gleichung: Orthodox ist das genuine Israel – ein orthodoxer Jude. Mit dieser Auffassung ist der Alleinvertretungsanspruch der Orthodoxie für ganz Israel bekräftigt, die Aufspaltung in verschiedene Denominationen als zu verhindernder Prozess der Auflösung Gesamtisraels gebrandmarkt: Denn »Wir kennen nur eine Tora, ein Judentum und eine historische jüdische Gemeinschaft. Wir können die Aufspaltung des amerikanischen Judentums in drei Richtungen nicht als legitim anerkennen. Darüber hinaus ist diese Aufteilung […] keine wirklich ideologische. Viele Menschen, die sich als der ›Reform‹ oder den ›Conservatives‹ zugehörig bezeichnen, beschreiben dadurch nur ein bestimmtes Maß an Observanz und wollen dadurch keine grundsätzliche Leugnung des jüdischen Glaubens an die Tora bezeugen. Somit haben wir nicht drei Richtungen des Judentums, sondern nur drei Variationen eines einzigen Judentums, die man so bezeichnen könnte: OrthodoxOrthodox, Conservative-Orthodox und Reform-Orthodox. Nur in dem Maße, dass es eine wirkliche Differenz in der Ideologie gibt, sehen wir eine Abtrünnigkeit von der Orthodoxie.«6 Entsprechend dieser Inklusion, will auch die moderne Orthodoxie keine separate Denomination innerhalb dieses Israel sein, auch wenn manche orthodoxe Gruppen dies so sehen mögen. Denn »Unsere Tora ist eine. Unser Volk ist eines«, alles andere, jegliche Aufspaltung ist darum ein abzulehnender Mythos. Mit dieser Politik grenzt sich diese Moderne Orthodoxie von Auffassungen ab, wie sie im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts formuliert wurden, als sich die Orthodoxie von den nicht-observanten Reformern zurückzog und separierte.7 Es stellt sich nun aber die Frage, was das Ideal dieser Orthodoxie und was als noch zulässige Nichtobservanz, die innerhalb der Grenze dieses Israel bleibt, sei. Um diese Haltung angesichts der tatsächlichen Realität der Separierungen zu begründen, greift Levine zu einer Kategorisierung der Mitglieder innerhalb dieses umfassenden Konzeptes von Orthodoxie, die er als »relatedness« und »inclusi6
Levine, Non-Observant Orthodox, in: Tradition, 1, 1, S. 3.
7
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 496–498.
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Jüdische Denominationen
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veness« bezeichnet. Diese Differenzierung ist nötig, um auf der einen Seite alle Juden in dieses Konzept der Orthodoxie einzubeziehen und andrerseits die Konturen der tatsächlichen orthodoxen Bewegung nicht zu verwischen und sie zur Amorphität zu verurteilen. Nicht alle Juden sind in dieser soziologisch doch klar sichtbaren orthodoxen Separierung »included«, aber alle »related«. Die beiden Begriffe können dann auch als »aktuelle« und »potentielle« Mitglieder der Orthodoxie verstanden werden. Zur Konkretisierung dieser Differenzierung greift Levine zu der allseits bekannten Aussage der Mischna: »Ganz Israel hat Anteil an der kommenden Welt […] Folgende aber haben keinen Anteil an der kommenden Welt: Wer sagt, die Lehre von der Auferstehung von den Toten sei keine Lehre der Tora und wer sagt, die Tora sei nicht vom Himmel sowie der Häretiker.«8 Levine will diesen Passus der Mischna mithilfe der dogmatisch-ausgrenzenden Auslegung durch Maimonides verstehen.9 Das Resultat dieser Exegese ist: Obwohl das Judentum eine Religion der Gebotserfüllung ist, ist es mit Maimonides doch eine Glaubensaussage, welche über die Zugehörigkeit eines Individuums zu diesem Israel bestimmt. Das heißt: Nicht das Maß der Gebotserfüllung bestimmt über diese Zugehörigkeit, sondern die praktisch vollzogene Aneignung eines Glaubenssatzes. Und alleine durch die so definierte Zugehörigkeit zu diesem Klal Jisrael, zu diesem Volk, hat ein Einzelner Anteil an der kommenden Welt. Mit Maimonides ist das Resultat dieser Mischnadeutung: »Derjenige, der sich von den Wegen der Gemeinschaft trennt, selbst wenn er sich keiner Übertretung schuldig gemacht hat, aber sich vom Volk Israel fernhält und die Gebote nicht in seiner Mitte befolgt und seine Sorgen nicht teilt oder an ihren Fastenübungen nicht teilnimmt, sondern seinen eigenen Weg einschlägt, als wäre er ein Fremder und nicht einer von ihnen, der hat keinen Anteil an der kommenden Welt.«10 Daraus folgt, die wirkliche Essenz des Judentums, das grundlegende Konzept des Judentums, ist die Zusammengehörigkeit der beiden folgenden Elemente, nämlich der eigenen Verbundenheit mit dem jüdischen Volk und zugleich die
8
Mischna Sanhedrin 11, 1; Babyl. Talmud, Sanhedrin 90a, vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1,
9
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437.
10
Levine, Non-Observant Orthodox, in: Tradition 1, 1, S. 8.
S. 368.
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Orthodoxie
Verbundenheit mit der jüdischen Religion. Levine bringt diesen Grundsatz auf die Formel: »Die besondere Beziehung zwischen Mensch und Gott ist nicht die Beziehung von Mensch-Gott, noch die von Mensch-Tora-Gott, sondern MenschIsrael-Tora-Gott. […] wir haben deshalb als Teil von Israel Anteil an der Tora und sind dadurch mit Gott verbunden.« »Ein Jude nähert sich Gott und der Tora zuallererst durch das Anhangen an seinem Volk.«11 Dies ist so, weil der von Gott gewährte Bund, nicht ein Bund zwischen Gott und dem einzelnen Juden, sondern ein Bund zwischen Gott und dem Volk Israel ist. Aus alledem folgt: Solange ein Jude oder eine Jüdin sich an das Volk Israel hält, ist er oder sie Teil des Volkes Israel und damit zugleich potentielles Mitglied des orthodoxen, sprich des »einzigen« Judentums. Dieser Grundsatz hat nun aber weitere direkte rechtliche und gesellschaftliche Konsequenzen, die für das orthodoxe Denken zentral sind. An der Anerkennung dieser Konsequenzen lässt sich sodann das Maß der »relatedness« und »inclusivness« ablesen. Die Zugangshierarchie des Individuums zu Gott zeigt sich laut Levine etwa schon in der üblichen Formel einer jüdischen Trauung, wo der Mann zu seiner Braut sagt: »Siehe du bist mir geheiligt gemäß dem Gesetz des Moses und Israels.« Die Ehe muss also dem Gesetz Israels entsprechen, nicht einfach dem der Tora. Darum gelten Verstöße gegen dieses Gesetz Israels, sprich der durch die Halacha festgesetzten Regelungen und Standards, als eine Übertretung, die entscheidend für die Zugehörigkeit zum Judentum ist. Mit dieser Wendung wird zum einen die absolute Geltung der Halacha für jeden Israeliten begründet wie auch die Autorität der Verwalter dieses israelitischen Gesetzes, nämlich der rabbinischen HalachaGelehrten: »Darum kann ein Jude nicht sagen ›Ich glaube an die Tora, aber ich anerkenne nicht das Recht einer einzigen zentralen rabbinischen Körperschaft, welche sie auslegt. Ich werde hingegen einer anderen Auslegung folgen.‹ Entweder man glaubt an die Tora und an eine rechtsgültige Körperschaft des Rechts, die sie auszulegen versteht, oder die Treuepflicht der Tora gegenüber wird bedeutungslos.«12 Jedem Kenner der jüdischen Rechtstraditionen wird die Formulierung einer »einzigen zentralen rabbinischen Körperschaft« auffallen, denn solche zentrale jüdische Körperschaften sind Innovationen der Moderne im Rückgriff auf die 11
Levine, Non-Observant Orthodox, in: Tradition 1, 1, S. 8.
12
Levine, Non-Observant Orthodox, in: Tradition 1, 1, S. 10.
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Jüdische Denominationen
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nachbiblische Zeit, als es noch ein zentrales Synhedrium gab. Während der langen Exilszeit gab es immer die Möglichkeit andere rabbinische Gerichtshöfe und einzelne Gelehrte aufzusuchen. Levine zieht des Weiteren den großen Talmudkommentatoren Raschi mit den Worten an, dass man einem solchen Gericht auch dann folgen müsse, wenn es ganz offensichtlich eine Fehlentscheidung trifft und Rechts für Links und umgekehrt erklärt.13 Trotz dieser sehr strikten Linienziehungen für die »included Jews«, ermahnt der Autor seine Mitbrüder innerhalb seiner orthodoxen Bewegung, die eingangs gemachten Feststellungen zur Zugehörigkeit (relatedness) zu dem weiter gefassten orthodoxen Israel weitherzig anzuwenden, um möglichst viele Juden innerhalb dieses Rahmens von Klal Jisrael zu halten, in der Hoffnung, dass sie selbst eines Tages oder dann doch ihre Nachkommen die erhoffte Inklusionsstufe erklimmen werden. Levine tut dies nicht ohne den festen Glauben, dass in jedem Juden ein Rest Glaube verbleibt und er scheut sich nicht, dabei auf Jehuda HaLevi zu verweisen, der in jedem Juden die res divina, den injan ha-elohi eingepflanzt findet, den er als »Divine influence« übersetzt – das unauslöschbare Fünklein Glaube.14 Zu dieser moderneren Orthodoxie können auch die im Band vier des Jüdischen Denkens schon vorgestellten Denker Irving Yitzchak Greenberg und Eliezer Berkovits gerechnet werden, trotz deren zum Teil sehr eigenwilligen Auffassungen.15
3.
Die völlige Separierung der rechten Orthodoxie von einem »Judaism without Sinai« – Agudath Israel of America und andere
Die strikte Separierung der »rechten Orthodoxie« von den übrigen jüdischen Gruppierungen geschah formell erst im Jahre 1956. Die Zeitung der 1922 begründeten Agudath Israel of America, The Jewish Observer, berichtet in seiner Ausgabe vom Mai 198116 von dieser durch einen Psak Din, also einer gerichtlichen halachischen Entscheidung, erfolgten Trennung in einem Artikel mit der Überschrift Religious Pluralism at Home: A Hundred Years of the NY Board of Rabbis.17 Demnach wurde der Board of New York Rabbis im Jahre 1881 begründet, in einer Zeit, als die Juden Amerikas noch unter vielerlei demütigenden Zu13
Levine, Non-Observant Orthodox, in: Tradition 1, 1, S. 10.
14
Levine, Non-Observant Orthodox, in: Tradition 1, 1, S. 15; zu Jehuda Ha-Levi, siehe Jüdisches
15
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 563–587. 588–608.
Denken, Bd. 1, S. 601–609. 16
May 1981, Vol. XV, No. 6, Iyar-Sivan 5741.
17
Jewish Observer, May 1981, S. 44–47.
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Orthodoxie
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rücksetzungen leiden mussten, Verachtung als illiterate Einwanderer erfuhren, die noch kaum Englisch verstanden. In dieser Zeit schien es nötig, dass alle jüdischen Gruppierungen mit einer Stimme sprachen, um die jüdischen Interessen zu verteidigen und den amerikanischen Behörden und Institutionen einen Ansprechpartner zu bieten. Allerdings, so der Artikel, haben sich im Laufe der Zeit immer mehr orthodoxe Rabbiner aus diesem Board zurückgezogen, um anderen Richtungen eines »Judaism without Sinai«, sprich der Reform und den Conservatives, durch solche institutionelle Kooperation nicht eine indirekte Anerkennung zu verschaffen. Deshalb haben im Jahr 1956 eine Reihe von Rabbinern und Jeschiva-Absolventen eine Anfrage an führende Jeschiva-Häupter gerichtet, »ob es erlaubt sei, mit dem New York Board of Rabbis und ähnlichen Organen anderer Gemeinden, die aus Reform- und Conservative-›Rabbinern‹ bestehen, zu kooperieren oder gar deren Mitglied zu sein.«18 Die Befragten versammelten sich und erließen das folgende halachische Urteil: »Während einer Versammlung mit dem Ziel der Klärung dieser Frage, haben die Unterzeichneten entschieden, dass es durch das Gesetz unserer heiligen Tora verboten ist, mit derartigen Organen zu kooperieren oder gar deren Mitglied zu sein.«19 Durch eigens ausgestellte Sendschreiben erfuhr dieses Urteil Unterstützung durch verschiedene Rabbiner in den USA und Israel, darunter Rabbi Jizchak Zev Soloveitchik (der Brisker Rav),20 ebenso durch Rabbi Menachem Mendel Schneerson, den Rebben des ḤaaD-Lubawitscher Ḥasidismus21 – mit diesen beiden innerorthodoxen Gruppierungen ist nur ein kleiner Teil der rechten orthodoxen Palette genannt, die um vieles bunter und weiter ist.22 Nach der kurzen Darstellung dieser Ereignisse betont der Artikel nachdrücklich, dass sich an der Situation seit damals wenig geändert habe, die Orthodoxie deshalb nach wie vor keine Vertretung durch andere Organisationen brauche. »Wir sprechen ohne Zweifel für uns selbst!« Denn eine Einigkeit um jeden Preis könne für die nationale Gesundheit gefährlich werden. Darum sei es wichtig, erneut zu betonen, dass die Beteiligung an einem religiösen Rahmen mit Leuten, welche das Judentum untergraben und die ewige Natur der Tora missachten, in
18
Jewish Observer, May 1981, S. 45.
19
Jewish Observer, May 1981, S. 45.
20
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. I, zu Soloveitchik, Nr.1.
21
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 887–897.
22
Einen Überblick gibt der Wikipedia Artikel »Orthodox Judaism« (15.9.18).
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Jüdische Denominationen
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keiner Weise gerechtfertigt werden könne. Unterstrichen wird diese Haltung mit dem Verweis auf die fatalen rechtlichen Konsequenzen, welche eine solche Kooperation haben könne, in Sachen des israelischen Rückkehrrechtes, in Eheangelegenheiten und der Legitimität daraus hervorgehender Kinder, die so leicht zu Mamserim, also rechtlichen Bastarden, werden können. Weitere solche Sünden der abgelehnten Partner sind deren Missachtung des Schabbat, das Erlauben verbotener Schabbatarbeiten, Entweihung der Synagoge, indem die Mechiza, also die Trennung der Geschlechter, abgeschafft wird, ganz zu schweigen von Mischehen. Diese wenigen Bemerkungen mögen genügen, um die unterschiedliche Tonlage zwischen linker und rechter Orthodoxie erkennbar zu machen, ihrer Bereitschaft zur oder Ablehnung jeglicher Kooperation mit den anderen religiösen Richtungen des Judentums. Zu den Bruchlinien zwischen den verschiedenen zur rechten Orthodoxie gehörigen Gruppierungen und der moderneren Orthodoxie gehören vor allem deren Einstellung zu folgenden Themen:23 Die Rezeption oder Ablehnung der allgemeinen modernen Kultur, das Verhältnis und die Beziehungen zu den nichtorthodoxen Richtungen, die Anerkennung oder Ablehnung des Zionismus und des Staates Israel und schließlich die Frage der Halacha, inwieweit sie als novellierungs- und anpassungsmöglich gelten darf, oder als unveränderlich betrachtet wird.
23
Dazu siehe Shubert Spero, Orthodox Judaism, in: B. Martin (Hg.), Movements and Issues in American Judaism, Westport (Connecticut) – London (England) 1978, S. 83–102.
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Reform
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4.
Das Reform-Judentum oder Progressive-Judaism
4.1
Überblick
Das amerikanische Reform-Judentum,1 das sich spätestens seit 1999 auch Progressive Judaism nennt, wird von der Central Conference of American Rabbis vertreten. Diese Richtung des Judentums sieht sich selbst als die Fortführung der in Deutschland begonnenen Reform wie sie sich in den legendären Rabbinerkonferenzen der Jahre 1844 – 1846 in Braunschweig, Frankfurt am Main und Breslau formiert hatte. Als Verbindungsglied zu diesen deutschen Konferenzen gilt die Philadelphia Conference vom Jahre 1869,2 die schließlich in der für die Bewegung grundlegenden Pittsburgh Conference von 1885 ihren ideologischen Grundstein legte. Dieser Grundstein ist die sogenannte Pittsburgh Platform (künftig 1885), die in acht Punkten die Grundlinien der amerikanischen Reformbewegung niederlegte und dabei wichtige Punkte einer Resolution der Vorgängerkonferenz aufnahm. Mit diesen acht Punkten stellte sich das amerikanische Reformjudentum auch denkerisch bewusst als der legitime Erbe des deutschen Reformjudentums dar, auch wenn es in manchen Punkten über die deutschen Debatten hinausgegangen ist. Die in der Pittsburgh Platform formulierten Grundpositionen wurden allerdings in drei nachfolgenden offiziellen Äußerungen der Rabbinerkonferenz ganz wesentlich verändert und damit, nach der Auffassung von W. G. Plauth, wieder den deutschen Themen angenähert, nämlich 1937 in der Columbus Platform (1937), 1976 in der Centenary Perspective (1976) und schließlich 1999 in dem Statement of Principles for Reform Judaism (1999). Die entscheidenden Aussagen der Pittsburgh Platform und deren Veränderungen in den nachfolgenden Papieren sollen hier kurz nachgezeichnet werden. Im Wesentlichen behandeln alle vier Papiere die Themen (hier in der Reihenfolge der Pittsburgh Platform) Gott, Bibel/Offenbarung, Gesetz, Nation und Messiaserwartung, Rolle der Religion in der Gegenwart, Mensch, Sozialmoral, die in den nachfolgenden Papieren zum Teil in unterschiedlicher Reihenfolge und Gewichtung aufgenommen und fortgeschrieben werden.
1
Zur Reform siehe, M. A. Meyer, Reform Judaism, in: Martin, Movements and Issues, S. 158–
2
Zwei der Teilnehmer dieser Konferenz waren auch tatsächlich bei den deutschen Rabbinerkon-
170. ferenzen von 1844–46 anwesend, nämlich Samuel Adler und David Einhorn, der die Konferenz einberief; W. G. Plauth, The Pittsburgh Platform in the Light of European Antecendents, in: W. Jacob (Hg.) The Changing World of Reform Judaism. The Pittsburgh Platform in Retrospect, Pittsburgh 1985; zu nennen ist auch der aus Deutschland gekommene Organisator der Konferenz Kaufmann Kohler.
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Jüdische Denominationen
4.2
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1885 – Die Pittsburgh Platform – Aufklärung und antinationaler Universalismus
4.2.1 Gott Die Pittsburgh Plattform atmet noch unverkennbar den philosophisch-theologischen Geist des deutschen Judentums aus dem 19. Jahrhundert. Dies zeigt sich sogleich im ersten Paragraphen, der von Gott handelt. Der Text spricht nicht von Gott, sondern von der Gottes-Idee, welche die Menschen haben. Hier klingt die kantische Formulierung nach, nach welcher die Gottesidee ein für die Ethik nötiges Postulat sei, wie dies auch der Neokantianer Hermann Cohen verstanden und der deutsche Reformvater Abraham Geiger formuliert hat, ohne dabei an ein transzendentes reales Wesen denken zu müssen.3 Der entsprechende Satz lautet: »Wir glauben, dass das Judentum die höchste Auffassung (conception) von der Gottes-Idee (God-idea) bietet, wie sie in unseren heiligen Schriften gelehrt und von den jüdischen Lehrern nach der Maßgabe und Übereinstimmung mit dem moralischen und philosophischen Fortschritt ihrer jeweiligen Zeit entwickelt und spiritualisiert wurde.«4 Des weiteren wird in diesem Paragraphen der Pittsburgher Verlautbarung gesagt, dass unter den zahlreichen Gotteskonzeptionen, die es in den vielen Religionen der Welt gibt, die jüdische die höchste und für die gesamte Menschheit die Wahrheit schlechthin sei, wiewohl zugleich anerkannt wird, dass es auch in den anderen Religionen eine »consciousness of the indwelling of God in man« gibt. Mit dieser Formel ist dann wohl weniger eine mystische Formel vom göttlichen Funken in der Seele des Menschen gemeint, sondern eher, dass es in allen Religionen solche von Menschen konzipierte Gottesvorstellungen gibt, von denen eben die jüdische als die vollkommenste zu betrachten ist.
4.2.2 Bibel – Tora – Gesetz 4.2.2.I Die Bibel Das traditionelle Thema der »Tora« wird in der Pittsburgh Platform in drei Paragraphen (§§ 2–4) aufgegliedert, deren erster die »Bibel« behandelt – der Begriff Tora kommt in allen drei Paragraphen nicht vor. Man übernimmt hier de facto christliche Sichtweisen, spricht von der Bibel und äußert sich getrennt davon
3
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 624. 605–610. 588. 594. 597.
4
1885, Pittsburgh Platform § 1.
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Reform
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über das Gesetz der Bibel und anschließend im dritten Absatz über die Bedeutung der daraus entwickelten Halacha für die eigene Gegenwart. Die Bibel ist dann auch nicht die Offenbarung, sondern der »Bericht von der Hingabe des jüdischen Volkes an seinen Auftrag (mission) als Priester des einen Gottes.« Die Bibel wird somit zu einem historischen Bericht, natürlich von Menschen verfasst, der von der Hingabe des Volkes Israel an seine Mission als Priester des einen Gottes erzählt. Die Bibel wird demnach nicht als direkte Ansprache Gottes an das Volk Israel verstanden, noch als Bericht von der Beauftragung dieses Volkes durch Gottes Befehl. Es scheint, als erzähle das Buch von der selbst übernommenen Aufgabe dieses Volkes. Zum weiteren hält man dieses Buch für die religiöse und moralische Unterweisung der Menschen als das am besten geeignete. Wobei zugleich betont wird, dass man nicht daran glaubt, dass die modernen Natur- und Geschichts-Wissenschaften den Lehren dieses Buches entgegenstehen, wiewohl es diese in den »primitiven Vorstellungen seiner eigenen Zeit« vorträgt und auch vor Wundergeschichten nicht zurückschreckt – ein deutliches Echo von den Einschätzungen der Bibel durch Spinoza.5 Der Wortlaut des Paragraphen: »Wir verstehen die Bibel als den Bericht von der Hingabe (consecration) des jüdischen Volkes an seine Mission als die Priester des einen Gottes, und schätzen sie als das wirkmächtigste Instrument für die religiöse und moralische Unterrichtung. Wir sind der Auffassung dass die modernen Entdeckungen der wissenschaftlichen Forschung in Natur und Geschichte den Lehren des Judentums nicht widerstreiten, selbst wenn die Bibel die primitiven Vorstellungen ihrer Zeit widerspiegelt und ihre Vorstellung der göttlichen Vorsehung und Gerechtigkeit gegenüber den Menschen zuweilen in Wundergeschichten kleidet.«6 4.2.2.II Das Gesetz Zur Bedeutung des Gesetzes (Halacha) schreitet die Pittsburgh Platform noch ganz auf dem von Baruch Spinoza7 initiierten und durch Moses Mendelssohn weiterverfolgten Weg.8 Danach diente das biblische Gesetz dem altorientalischen jüdischen Volk zur Regulierung und Lenkung des nationalen Lebens im altbiblischen Staat. Von diesen alten Staatsgesetzen gelten für die eigene Gegenwart nur noch die Moralgesetze und solche Zeremonien, die der Erbauung und Heiligung 5
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 164ff.
6
1885, Pittsburgh Platform, § 2.
7
Siehe Jüdisches Denken Bd. 3, S. 187–192.
8
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3. S. 404–407. 415–416.
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des Lebens dienen, aber nur insofern sie dem modernen Leben angepasst werden können: »Wir sehen in der mosaischen Gesetzgebung ein System, das der Einübung des jüdischen Volkes in seine Mission während seines nationalen Lebens in Palästina diente. Heute erachten wir als bindend nur noch ihre Moralgesetze und behalten nur solche Zeremonien bei, die unser Leben erbauen und heiligen, weisen jedoch alle anderen zurück, die den Vorstellungen und Gebräuchen der modernen Zivilisation nicht entsprechen.«9 4.2.2.III Ritualgesetze Die gesamten Speisegebote, die Gesetze zur priesterlichen Reinheit und Kleidung werden als Bestimmungen betrachtet, welche unter dem Einfluss von Denkweisen entstanden, die der eigenen Gegenwart vollkommen fremd sind. Sie dienen dem modernen Menschen nicht mehr als Mittel zur Erbauung oder Heiligung – sie werden darum abgewiesen: »Wir sind der Auffassung, dass all jene mosaischen und rabbinischen Gesetze, welche die Speisegewohnheiten (diet), die priesterliche Reinheit und die Kleidungsgebräuche regulieren, in Zeiten und unter dem Einfluss von Vorstellungen entstanden sind, welche unserer gegenwärtigen eigenen intellektuellen und spirituellen Befindlichkeit vollkommen fremd sind. Sie sind nicht dazu befähigt, den modernen Juden zu priesterlicher Heiligkeit zu führen; ihre Beibehaltung in unseren Tagen ist eher dazu geeignet zu obstruieren, als spirituelle Erhebung zu fördern.«10 Bei dieser Restriktion ist es indessen nicht geblieben. Im Jahr 1972 hat eine Schabbat-Kommission der Central Conference of American Rabbis ein Schabbat-Manual publiziert und damit das neu erwachte Interesse des ReformJudentums an der Halacha dokumentiert,11 das auch den Bar-Mizwa, zusammen mit einer Bat-Mizwa, anstatt der bloßen Konfirmation wieder belebt hat. Seit 1985 hat der Rabbiner und Präsident der liberalen Rabbinerkonferenz, Walter Jacob, zu Themen einer liberalen Halacha publiziert, was 1990 zur Einrichtung des Freehof Institute of Progressive Halakha führte, das seit 1991 eine Reihe Studies in Progressive Halakha herausgibt, mit dem Ziel, die orthodoxe Halacha aufzu-
9
1885, Pittsburgh Platform, § 3.
10
1885, Pittsburgh Platform, § 4.
11
Vgl. Meyer, Reform Judaism, S. 163f.
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Reform
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sprengen und in den so geöffneten Rahmen Regeln einzufügen, welche modernen Lebensweisen und Auffassungen entsprechen.12 4.2.3 Universeller antinationaler Messianismus Die zentrale, durch das biblisch-jüdische Gesetz den Juden gestellte und als messianisch qualifizierte, Aufgabe sieht die Pittsburgh Platform – mit überbordendem Optimismus der Einschätzung der damaligen Weltlage – in der Förderung des Menschheits-Universalismus und in der Ablehnung von jeglichem Partikularismus und damit des Judentums als ethnisch-nationaler Größe. In der Formulierung dieses Universalismus und der daraus folgenden Ablehnung eines nationalen jüdischen Partikularismus nimmt die Pittsburgh Platform das auf, was einst Abraham Geiger sagte, als er die messianische Rückkehrhoffnung aus dem Schmone-Esre-Gebet gestrichen hatte.13 Die Platform fasst dieses für sie zentrale Anliegen in die folgenden Worte: »Wir sehen in der modernen Epoche der universellen Herzens- und Intellekts-Kultur das Herannahen der Verwirklichung von Israels großer messianischer Hoffnung der Errichtung eines Königreiches der Wahrheit, Gerechtigkeit und des Friedens unter allen Menschen. Wir betrachten uns selbst
12
W. Jacob (Hg.), The Changing World of Reform Judaism. The Pittsburgh Platform in Retrospect, Pittsburgh 1985; W. Jacob (Hg.), Liberal Judaism and Halakhah, Pittsburgh 1988; W. Jacob & M. Zemer (Hgg.), Progressive Halakhah. Essence and Application, Tel Aviv, Pittsburgh 1991 (Bd. 1 der Serie zur Progressiven Halakha); weitere Bände der Reihe: W. Jacob and M. Zemer (Hgg.); Dynamic Jewish Law. Progressive Halakhah – Essence and Application, Tel Aviv, Pittsburgh 1991; W. Jacob and M. Zemer (Hgg.) Rabbinic-Lay Relations in Jewish Law, Tel Aviv, Pittsburgh 1993; W. Jacob and M. Zemer (Hgg.) Conversion to Judaism in Jewish Law, Tel Aviv, Pittsburgh 1994; W. Jacob and M. Zemer (Hgg.) Death and Euthanasia in Jewish Law, Pittsburgh, Tel Aviv 1995; W. Jacob and M. Zemer (Hgg.) The Fetus and Fertility in Jewish Law, Pittsburgh, Tel Aviv 1995; W. Jacob and M. Zemer, Israel and the Diaspora in Jewish Law, Pittsburgh and Tel Aviv 1997; W. Jacob & M. Zemer (Hgg), Aging and the Aged in Jewish Law, Pittsburgh, Tel Aviv 1998; W. Jacob& M. Zemer (Hgg.), Crime and Punishment in Jewish Law, New York, Oxford 1999; W. Jacob & M. Zemer (Hgg.), Marriage and its Obstacles in Jewish Law, Tel Aviv, Pittsburgh 1999; W. Jacob & M. Zemer (Hgg.), Gender Issues in Jewish Law, New York, Oxford 2001; W. Jacob & M. Zemer (Hgg.), New York, Oxford 2002; W. Jacob & M. Zemer (Hgg.), Environment in Jewish Law, New York, Oxford 2003; W. Jacob, (Hg.), Beyond the Letter of the Law. Essays on Diversity in the Halakha in Honor of Moshe Zemer, Pittsburgh 2004; W. Jacob (Hg.), American Reform Responsa. Collected Responsa of the Central Conference of American Rabbis 1889–1983, New York 1983; W. Jacob, Contemporary American Reform Responsa, New York 1987.
13
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 612.
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nicht länger als Nation, sondern als eine religiöse Gemeinschaft und erwarten deshalb weder eine Rückkehr nach Palästina, noch einen Opfergottesdienst durch die Söhne des [Priesters] Aharon, noch die erneute Inkraftsetzung irgendwelcher Gesetze für einen jüdischen Staat.«14 Es werden gerade diese vor Geschichtsoptimismus überquellenden Aussagen der frühen Reformgemeinde sein, welche durch die tragischen wie dann auch freudigen Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts umgestoßen wurden, und zu einer tiefgreifenden Revision der Reform-Auffassungen führten, dies hinsichtlich des Optimismus der Entwicklung der universalen Geschichte sowie der Bedeutung des Partikularen, Ethnischen und schließlich Staatlichen.
4.3
1937 – Die Columbus Platform – im Bezugsfeld moderner Wissenschaft und des Zionismus
4.3.1 Präambel In der Präambel (§ 1) wird unter der Überschrift Nature of Judaism das Judentum als die »historisch religiöse Erfahrung des jüdischen Volkes« definiert. Wird damit die partikulare Natur dieses Judentums zwar anerkannt, folgt unmittelbar danach der universalistische Reflex, nämlich dass trotz dieser Herkunft »seine Botschaft universal« sei, »ausgerichtet auf die Vereinigung und Vervollkommnung der Menschheit unter der Herrschaft Gottes.« Sodann wird das Prinzip der progressiven Entwicklung der Religion in spiritueller, kultureller und sozialer Hinsicht beschworen. Alle Wahrheit wird akzeptiert, komme sie aus Schriften oder der Natur, weshalb man auch die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften nicht bestreiten will. Für letztere wird betont, dass man sie, wiewohl sie die Auffassungen der heiligen Schriften des Judentums ersetzen, nicht im Konflikt mit dem grundlegenden Geist der Religion sieht, dessen Ziel der Dienst an Gott und der Menschheit ist.
4.3.2 Gott Die Columbus Platform von 1937 hat die kantische Vorstellung von der Gottheit als einem menschlichen Konzept, wie sie noch die Pittsburgh Platform formulierte, verlassen und klingt schon wieder ganz traditionell. Zwar wird auch hier nicht einfach ein Bekenntnis zu dem einen Gott Israels abgelegt, sondern davon gesprochen, dass der herausragende Beitrag des Judentums zur Religion allge-
14
1885, Pittsburgh Platform, § 5.
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Reform
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mein dessen besondere Gotteslehre sei. Man ist also noch halbwegs zwischen dem menschgemachten kantischen Gottespostulat und dem vorbildhaften Lehrpotential des Judentums im Kreis der Religionen. Erst in einem zweiten Schritt, wird dieser in der Lehre Beschriebene als der ›frei gewählte‹ Gegenstand der Verehrung und Anbetung apostrophiert. Der Text ist das Ergebnis des Ringens zwischen Rationalismus und Fideismus: »Das Herz des Judentums und sein Hauptbeitrag zur Religion ist die Lehre von dem einen, lebendigen Gott, der die Welt mit Gesetz und Liebe regiert. In Ihm hat alles Existierende seinen Ursprung (source) und die Menschheit das Ideal ihres Verhaltens. Obwohl Er Zeit und Raum transzendiert, ist Er die der Welt einwohnende Gegenwart. Wir ehren Ihn als den Herrn des Universums und unseren barmherzigen Vater.«
4.3.3 Bibel – Tora – Gesetz 4.3.3.I Tora Die Columbus Platform spricht im Paragraphen vier, in welchem die Pittsburgh Platform ausschließlich die »Bibel« nannte, wieder – mehr partikular – von der Tora und verbindet in diesem Begriff traditionelle mit modernen Auffassungen. Zum einen liegt die Tora, gemäß der rabbinischen Tradition in »schriftlicher« wie in »mündlicher« Gestalt vor.15 Zum anderen wird sie als Zeugnis der Gottesoffenbarung verstanden, allerdings nicht in der zu erwartenden Ausschließlichkeit, denn die Autoren meinen, Gott offenbare sich sowohl in der Majestät, Schönheit und Ordnung der Natur wie auch in den Visionen und moralischen Bestrebungen des menschlichen Geistes – ein Nachklang von Hegel und seinen Schülern.16 Hier wird also ein Begriff von natürlicher Religion aufgenommen, mithin ein universalistisches Offenbarungskonzept, was gleichermaßen für die menschliche Seite als Offenbarungsempfänger zutrifft. Um dies nochmals zu unterstreichen sagen die Autoren, damit eine Auffassung von Abraham Geiger aufnehmend,17 die Offenbarung sei ein stets anhaltender Prozess, der weder auf eine einzige Menschengruppe noch auf ein bestimmtes Zeitalter beschränkt ist. Die von Israel durch seine Propheten und Weisen gewonnenen Einsichten in die religiösen Wahrheiten sind damit nur quantitativ von denen anderer Völker unterschieden – immerhin wird ihnen das Prädikat der »uniqueness«, also Einzigar15
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
16
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 34. 444. 450–452. 458. 459. 461.464. 465. 467. 481. 482.
17
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 601–604.
486. 488. 501. 504. 513. 517. 538. 539. 541. 566. 568. 573. 593.
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tigkeit, zugebilligt. In diesen Sog der Offenbarung als Erzeugnis eines einzigen menschlichen »Bewusstseins von Gott und Moralgesetz« gelangen schließlich auch die Schriftliche- und Mündliche-Tora der Tradition. Somit sind sie beide Zeugnisse historischer Prozesse im jüdischen Leben, woraus geschlossen wird, dass Teile dieser so entstandenen Gesetze durch den Lauf der Zeit ihre Bindekraft verloren haben. Dennoch bleibt das Ganze als historisches Repositum, an welchem sich der jüdische Genius abarbeiten und entfalten kann. Man sieht, die Problematik der Herausforderung durch die moderne Wissenschaft hat 1937 ihre Bedeutung verloren, stattdessen tritt der Mensch, der als »Offenbarungsträger« und Erkenntnisempfänger, der sein Wissen aus der Natur (sprich auch aus der Wissenschaft) empfängt, in den Vordergrund. Auch hier ist ein Nachklang von Abraham Geiger zu spüren, der die Offenbarung als Entdeckung von Erkenntnissen durch menschliche Genies erklärt hatte.18 Die Gotteserkenntnis bleibt eher eine leere Formel, die ihre Konkretisierung am ehesten durch das menschliche Bewusstsein eines Moralgesetzes erfährt. Die aus all dem zu ziehende Konsequenz wird am Ende nachdrücklich gezogen, nämlich die Pflicht, es den vorausgegangenen Generationen nachzutun und die Lehren der Tora stets den neuen Gegebenheiten anzupassen. Die Dynamik der Weiterentwicklung ist Grundgesetz. Der Text der Platform: »Tora. Gott offenbart sich selbst nicht nur in der Majestät, der Schönheit und der Wohlgeordnetheit der Natur, sondern auch in der Vision und dem moralischen Streben des menschlichen Geistes. Die Offenbarung ist ein kontinuierlicher Prozess, der nicht nur auf eine Menschengruppe oder ein Zeitalter beschränkt ist. Allerdings hat das Volk Israel durch seine Propheten und Weisen, eine einzigartige Einsicht im Bereich der religiösen Wahrheit erlangt. Die Tora, die geschriebene wie die mündliche, bewahren Israels wachsendes Bewusstsein Gottes und des Moralgesetzes. Es überliefert historische Beispiele, Bestimmungen und Normen des jüdischen Lebens, und ist bemüht, diese in Strukturen von Güte und Heiligkeit zu gestalten. Da diese das Ergebnis von geschichtlichen Prozessen sind, haben manche ihrer Gesetze durch das Ende der Umstände, unter denen sie entstanden sind, ihre bindende Kraft verloren. Aber als Depositum unvergänglicher geistiger Ideale, bleibt die Tora die dynamische Quelle des Lebens von Israel. Jede Zeit hat die Pflicht, die Lehren der Tora ihren grundlegenden Bedürfnissen in Übereinstimmung mit dem jüdischen Genius anzupassen.«19
18
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 593–601.
19
1937, Columbus Platform, § 4.
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210 4.3.3.II Ethik
Die Columbus Platform erweitert die in Pittsburgh angesprochenen Themen des mosaischen und rabbinischen Rechtes zu zwei ausführlichen getrennten Kapiteln mit zum Teil mehreren Paragraphen. Die beiden Kapitel nehmen die in Pittsburgh als noch akzeptabel betrachteten Gesetzesteile, das Moralgesetz und der Erbauung fähige Riten, unter den Überschriften »Ethik« (§§ 6–8) und »Religiöse Praxis« (§9) auf und bezeugen damit das neu erwachte Interesse am religiösen Gebaren, dies insbesondere, was den Ritus betrifft. Unter dem Titel »Ethik und Religion« werden ohne Bezugnahme auf konkrete Aussagen der Bibel oder rabbinische Texte ethische Zielsetzungen formuliert, die man schlechthin als universal bezeichnen kann: Verwandtschaft aller Menschen untereinander, Wert jeglichen menschlichen Lebens, individuelle Freiheit, Gerechtigkeit für jeden, die Anerkennung des Staates, der diesen Zielen dient. Sodann folgt die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, in Ökonomie, Industrie, im Handel und in nationalen wie internationalen Angelegenheiten. Weitere Ziele sind der Kampf gegen Armut, Tyrannei, Sklaverei, soziale Ungerechtigkeit und Vorurteile, Schutz der Kinder gegen Ausbeutung, Vorrang gleichen Lebensstandards für alle Arbeitenden vor den Rechten auf Besitz, Wohltätigkeit, Hilfe bei Behinderungen im Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit – kurz ein umfassendes Sozialprogramm, das jeder auch säkularen Gesellschaft zur Ehre gereichen würde. Der einzige Bezug auf die Religion steht am Anfang dieses Paragraphen, wo es heißt: »Im Judentum sind Religion und Moral zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen. Die Liebe zu Gott ist ohne die Liebe zum Mitmenschen unvollkommen.« Der folgende § 8 steht unter dem Titel »Friede« der sich vor allem – durchaus selektiv – auf die Propheten beruft, unverkennbar ein Nachklang der protestantischen Hochschätzung der Propheten vor den mosaischen Gesetzen:20 »Das Judentum hat seit den Tagen der Propheten den Menschen das Ideal eines universellen Friedens verkündet. Zu seinen wesentlichsten Lehren gehörte die geistige und physische Abrüstung aller Nationen. Es verabscheut jegliche Gewalt und vertraut auf moralische Erziehung, auf Liebe und Sympathie, um den menschlichen Fortschritt zu sichern. Es betrachtet die Gerechtigkeit als das Fundament für das Wohlergehen der Völker und als Voraussetzung
20
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 84.
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für anhaltenden Frieden. Es drängt auf internationale Bemühungen zur Abrüstung, zu allgemeiner Sicherheit und zum Weltfrieden.«21 4.3.3.III Ritualgesetze Unter dem Titel The Religious Life wird nun wieder an die klassischen Orte und Gebräuche der jüdischen Religionsübung erinnert, nämlich an das Haus und die Synagoge – die außerdem genannte Schule ist eher ein zeitgenössisches Additum. Aber auch hinsichtlich dieser traditionellen Orte wird nun vor allem deren »ethischer Geist« beschworen, weniger die ihnen zugehörigen traditionellen Riten der Religion. Die Synagoge wird als die »älteste und in höchstem Maß demokratische Institution des jüdischen Lebens« apostrophiert, als Bindeglied zwischen den jüdischen Individuen und der ganzen Gemeinschaft Israels. Natürlich wird auch die Erziehung zur Vermittlung des reichen kulturellen und religiösen Erbes als wesentlich herausgestellt. Das Gebet ist nicht, wie in der altjüdischen Tradition, ein Gebot Gottes, sondern soll, wie seit Beginn der Reform, vor allem dem Menschen dienen, seiner Ausrichtung auf Gott, der Verbindung zu ihm, als Bittgebet und als Medium, zur Ausstattung des Lebens mit höchstem Wert und schließlich, das spirituelle Leben des Volkes zu vertiefen. Auch die Feste und Feiertage werden neu gewürdigt, sie stehen mit ihrer eigenen Ästhetik gleichfalls im Dienst der menschlichen Erbauung: »Das Judentum als way of life bedarf, außer seinen moralischen und spirituellen Bedürfnissen, der Feier des Schabbat sowie der Feste und Feiertage, der Erhaltung und Entwicklung solcher Bräuche, Symbole und Zeremonien, die einen inspirierenden Wert besitzen, der Kultivierung bestimmter Formen religiöser Kunst und Musik sowie der Verwendung des Hebräischen neben der Umgangssprache im Gottesdienst und in der Unterweisung.«22 Insgesamt also der Versuch, die überkommenen religiösen Bräuche beizubehalten und sie durch Ausstattung mit einer neuen Sinngebung wieder attraktiv zu machen, als Kunst und ästhetische Bereicherung, eine Kategorie, unter der auch der Gebrauch des Hebräischen im Gottesdienst rubriziert wird. Insgesamt also der Versuch der Wiedergewinnung älterer Traditionen mit Hilfe ethischer, anthropologischer und ästhetischer Deutung, um einer »verwirrten und beunruhigten Welt« aufzuhelfen.
21
1937 Columbus Platform, § 8.
22
1937, Columbus Platform, § 9.
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4.3.4 Das jüdische Volk – Rückkehr des Partikularismus Schon im Jahre 1937 hat sich das Blatt bezüglich der Bedeutung des Ethnischen gewendet. Theologisch wird dies in den Satz gegossen: »Das Judentum ist die Seele, deren Leib Israel ist.«23 Die Platform spricht nun wieder von einem durch eine gemeinsame Geschichte, und vor allem durch das gemeinsame Erbe des Glaubens, geeinten Volk. Zugleich ringt der Text um den Widerspruch zwischen ethnischem oder religiösem Band, durch das dieses Israel geeint ist, und betont deshalb nachdrücklich, dass die Juden in ihren »Gastvölkern« von keiner doppelten Loyalität gespalten sind, sondern »sie loyal alle Pflichten und Verantwortlichkeiten als Bürger« ihrer Wohnländer auf sich nehmen und zugleich Orte der jüdischen Religion und jüdischen Wissens schaffen wollen. Auch der erstarkte Zionismus macht sich geltend. Palästina, durch Erinnerungen und Hoffnungen geheiligt, soll für ein neues Leben für viele »unserer Brüder« rehabilitiert werden, als jüdische Heimat, Hafen der Zuflucht und Zentrum jüdischer Kultur und Spiritualität. Hier mischen sich Elemente des staatlichen mit solchen des Kulturzionismus.24 Und als wäre diese Aussage schon zu viel Verrat an den alten Reform-Idealen, wird sogleich wieder das universalistische Anliegen des Reformjudentums unterstrichen: »Wir betrachten es als unsere historische Aufgabe mit allen Menschen zusammenzuarbeiten zur Errichtung von Gottes Königsherrschaft, universeller Bruderschaft, Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden auf Erden.«25
4.4
1976 A Centenary Perspective – bittere Lehren aus der Geschichte – der Wert des Partikularen neben Wissenschaft und Universalismus
4.4.1 Präambel – Grundsätze Bevor die Erklärung zum Hundertjährigen Jubiläum des Reformjudentums auf Einzelfragen eingeht, werden einige wesentliche Grundsätze vorangestellt. Da ist zuerst das Bekenntnis zur Interaktion der Religion mit der Moderne, die Auffassung, dass auch die ästhetischen Formen der Religion der Moderne entsprechen sollten, dass die Arbeit ihrer Wissenschaft mit den modernen kritischen Methoden zu betreiben sei und dass die Veränderung wie in der Vergangenheit so auch in der Gegenwart ein fundamentales Grundprinzip des Judentums bleiben müsse.
23
1937, Columbus Platform, § 5.
24
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 29–30.
25
1937, Columbus Platform, § 5.
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Erstaunlich ist der Hinweis auf einen noch stets anhaltenden Dissens innerhalb der Bewegung, ob eine universalistische Ethik ein expliziter Teil der jüdischen Pflicht sein müsse, was hier als Mehrheitsmeinung allerdings bejaht wird, nämlich dass die Frauen in der jüdischen Religionsausübung gleichberechtigt und der Wille des Individuums grundsätzlich anerkannt sein müssen. Aufschlussreich für die gesamte Verlautbarung und deren neuen Ton hinsichtlich traditioneller jüdischer Elemente ist das Bekenntnis, dass das ReformJudentum eine bittere Lehre aus der Geschichte ziehen musste: »Offensichtlich vieles hat sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts verändert. Wir erforschen noch immer die außerordentlichen Ereignisse der letzten Generation und wir suchen deren Sinn zu verstehen und deren Bedeutung in unser Leben zu integrieren. Der Holocaust erschütterte unseren leichtfertigen Optimismus bezüglich der Menschheit und deren unvermeidbaren Fortschritt. Der Staat Israel hat durch seine großen Leistungen unser Verständnis vom Judentum als Volk auf neue Höhen der Aspiration und Hingabe gehoben. Die weltweiten Bedrohungen der Freiheit, die durch das explosionsartige Anwachsen unseres Wissens und immer mächtigere Techniken entstandenen Probleme wie auch die Leere weiter Teile der westlichen Kultur haben uns gelehrt, weniger von den Werten unserer Gesellschaft abhängig zu sein, und erneut das zu bekräftigen, was durch die Jahre hin an jüdischen Lehren gültig bleibt. Wir haben auch gelernt, dass das Überleben des jüdischen Volkes höchste Priorität besitzt und wir durch die Erfüllung unserer jüdischen Verantwortlichkeiten der Menschheit auf dem Weg zur messianischen Erfüllung helfen.«26
4.4.2 Gott In der Centenary Perspective von 1976, nach der Schoah und der Begründung des Staates Israel geschrieben, wird schon bezüglich der Gotteslehre ein völlig neuer, wenn auch deutlich schwankender, Ton angeschlagen, der sich von der Rede einer »Gottesidee« zu entfernen sucht und zwischen Gottes Realität und Gottesvorstellung changiert. In der Verlautbarung wird zum einen von »God’s reality« gesprochen und auf der anderen Seite ein unverbrüchlicher Bezug dieser göttlichen Realität zum menschlichen Leben hergestellt. Dieser Gott wird im Leben »erfahren«. Zugleich wird konzediert, dass es im Laufe der Zeit sich verändernde Gotteskonzepte gab, dass der Glaube bedroht war, dass aber das »Beharren« auf »Godʼs reality« wesentlich für den Überlebenswillen des Judentums
26
1976, Centenary Perspective, Präambel.
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war und auch bleiben wird, wiewohl man auch für neue Gotteserfahrungen und Gotteskonzepte offen ist – dies auch angesichts der durch die jüngste Vergangenheit geweckten Zweifel. Eine ganz wesentliche Rückwendung zur Tradition zeigt sich in der Wiederaufnahme der Lehre von der menschlichen Gottebenbildlichkeit, die hier im Sinne der Unsterblichkeit der Seele gedeutet wird – diese Auffassung wird im übrigen schon in Pittsburgh angesprochen, wenn auch nicht in diesem Zusammenhang der imago-Lehre. Denn dort war ja Gott nur eine menschliche Konzeption, weshalb die imago-Vorstellung wenig Sinn gemacht hätte – dazu noch unten. Der Passus in der Centenary Perspective lautet: »Gott – Das Bekenntnis (affirmation) zu Gott war stets wesentlich für den Überlebenswillen unseres Volkes. In unserem jahrhundertelangen Kampf, unseren Glauben zu bewahren, haben wir Gott in vielfältiger Weise erfahren (experienced) und uns vorgestellt (conceived). Die Versuchungen unserer eigenen Zeit und die Herausforderungen durch die moderne Kultur, haben es jedoch manchen von uns erschwert, einen festen Glauben und ein klares Verstehen zu gewinnen. Dennoch begründen wir unser persönliches wie auch unser gemeinschaftliches Leben auf Gottes Wirklichkeit (reality) und bleiben für neue Gotteserfahrungen und Gotteskonzepte offen. Inmitten des Mysteriums, das wir Leben nennen, bekräftigen/bestätigen (affirm) wir, dass die menschlichen Wesen, die in Gottes Ebenbild geschaffen sind, an Gottes Ewigkeit teilhaben, trotz des Mysteriums, welches wir Tod nennen.«27
4.4.3 Bibel – Tora – Gesetz 4.4.3.I Tora In der Centenary Perspective ist der Abschnitt zur Tora selbst sehr kurz gehalten. Im Grunde ist er eine Kondensierung der Columbus Platform, aber zugleich eine Erweiterung hinsichtlich der die Tora erzeugenden Personen, die auch in der Gegenwart wirken. Beachtenswert ist die Nennung der Historiker, ein Erbe der Wissenschaft des Judentums, wie auch der Philosophen und allerlei begabter Juden – sie sind nun aufgenommen in die Reihe der Tora schaffenden Menschen, eine Erweiterung die Geiger einst mit seiner Theorie vom menschlichen Genie als dem »Offenbarer« schon grundgelegt hatte:28
27
1976, Centenary Perspective, § 1.
28
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 593–604.
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»Tora – Die Tora ist das Resultat der Beziehung zwischen Gott und dem jüdischen Volk. Die Berichte von unseren frühesten Begegnungen (confrontations) sind einzigartig wichtig für uns. Gesetzgeber und Propheten, Historiker und Propheten übergaben uns ein Erbe, dessen Studium für uns religiöse Pflicht ist und dessen praktische Verwirklichung (practice) für uns ein Mittel zur Heiligung ist. Rabbis und Lehrer, Philosophen und Mystiker, begabte Juden jeder Epoche erweiterten die Tora-Tradition. Jahrtausende lang war die Tora-Schöpfung ununterbrochen und die jüdische Kreativität unserer eigenen Zeit fügt der Kette der Tradition neue Glieder hinzu.«29 Dies alles darf sich sehr wohl als »Weiterentwicklung« des Judentums gemäß den Forderungen und Problemen der Zeit verstehen, ein Vordringen der Religion in die Gesellschafts- und Friedenspolitik der Zeit. 4.4.3.II–III Ethik und Ritualgesetz Unter dem Titel Our religious Obligations: Religious Practice werden die beiden Punkte II und III, Ethik und Ritus, zusammengefasst, um mit einem anschließenden Paragraphen ein völlig neues Thema einzuführen – die Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel. Wieder wird das ethische Handeln als Pflicht vor dem »Glauben« als Kern des Judentums zur Erlangung universeller Gerechtigkeit unterstrichen. Nun folgt aber als Lehre aus dem »past century«, ohne die Schoah an dieser Stelle eigens zu nennen, dass die universale ethische Forderung Gottes nur der Anfang der jüdischen Pflichten ist, sie sich darüber hinaus ebenso auf die partikularen Interessen des Judentums ausrichten müsse, ein jüdisches Heim zu schaffen, lebenslanges Lernen, privates und öffentliches Gebet, die tägliche religiöse Observanz, das Bewahren des Schabbat und der Feiertage, sowie die Feier der persönlichen Lebensereignisse, Teilnahme an Synagoge und Gemeinde und an allen Aktivitäten »welche das Überleben des jüdischen Volkes fördern und seine Existenz sichern«. Aber auch an dieser Stelle hält man es für nötig, neben der Kollektivverpflichtung nochmals an die individuelle Selbstbestimmung des Juden zu erinnern: »Auf jedem Gebiet der jüdischen Observanz, sind die Reform-Juden aufgerufen sich den Forderungen der jüdischen Tradition zu stellen, allerdings sie unterschiedlich wahrnehmend, um dabei die eigene Autonomie zu wahren,
29
1976, Centenary Perspective, § 3.
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auswählend und neuschaffend auf der Grundlage von Engagement und Wissen.«30 Hier wird deutlich der Versuch unternommen, verschiedene sich widerstrebende Positionen zusammenzubinden, die universelle ethische Verpflichtung einerseits, dann aber andrerseits die partikulare Verpflichtung, die Existenz des jüdischen Volkes zu sichern. Dies ist eine klare Konsequenz aus den Lehren der Schoah. Der jüdische Ritus dient nunmehr vor allem der Erhaltung des Judentums, ganz im Sinne des von Emil Fackenheim eingeführten 614ten Gebotes, nachdem es oberste Pflicht aller Juden sei, das Judentum in seinem Fortbestand zu sichern.31 Zusammengeschnürt werden soll diese Forderung der kollektiven Verpflichtung auch mit der autonomen Gestaltung eines individuellen Judentums. Neu ist außerdem der Hinweis auf die Ereignisse des persönlichen Lebens, wo sich sicherlich die Forderungen des jüdischen Feminismus Gehör verschafften.32 Spätestens mit dieser Erklärung hat die jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts den Ausbruch des Reformjudentums aus der Partikularität eingeholt und zu einer massiven Kehrtwende genötigt, wie vor allem ein Vergleich des § 5 der Pittsburgh Platform mit den nun folgenden diesbezüglichen Ausführungen Centenary Perspective drastisch vor Augen führt. 4.4.4 Staat Israel und Diaspora Die partikularen Verpflichtungen gegenüber dem Judentum als Volk werden in einem eigens neu hinzugenommenen Paragraphen unter dem Titel Unsere Verpflichtungen: Der Staat Israel und die Diaspora fortgeführt. Der in der Columbus Platform angezeigte Sinneswandel bezüglich Palästinas, wird nun, nach der Staatsgründung, zu einer vollkommenen Solidaritätsadresse mit dem Staat Israel. Die Bindung an diesen im alten Heimatland wiedergegründeten Staat sind nun nicht mehr nur retrospektiv, sondern man spricht von den segensreichen Einflüssen der neuen israelischen Gegenwart: »Wir wurden durch seine Kultur bereichert und seinen unbezwingbaren Geist geadelt.« – dies ist ein deutliches Echo von Achad Haams Vorstellung vom geistigen Zentrum, das die Peripherie befruchtet.33 Man sieht hier außerordentliche Möglichkeiten jüdischer Selbstentfaltung. Damit glaubt man auch die Plicht verbunden, für die Sicherheit dieses Staates Verantwortung zu übernehmen, seinen Aufbau zu fördern und auf dessen Jüdischkeit zu achten und sogar die Einwanderung zu fördern. – Aber auch 30
1976, Centenary Perspective, § 4.
31
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 517–518.
32
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil V, Die Feministische Revolution.
33
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 208–213.
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schon hier wird das leidige Problem angesprochen, dass das Reform-Judentum in Israel die verweigerte vollständige rechtliche Anerkennung als Judentum finden müsse. Nach dieser Hervorhebung der Bedeutung eines wiedererstandenen jüdischen Staates im alten Heimatland schwingt das Pendel sogleich wieder in die andere Richtung, nämlich zur Verteidigung eines legitimen Diaspora-Judentums neben dem staatlichen. »Der Staat Israel und die Diaspora können in fruchtbarem Dialog demonstrieren, wie ein Volk den Nationalismus zugleich transzendiert und bestätigt, und damit ein Zeichen für die Menschheit setzt, die weitgehend mit gefährlichen parochialen Zielen befasst ist.«34 Dieser Zwiespalt zwischen Universalismus und Partikularismus, hier in Gestalt von Diaspora und Staat, und die erzwungene Einsicht, dass die ursprünglichen optimistischen Hoffnungen des Reformjudentums an der historischen Realität zerschellten, ist so brennend und schmerzhaft, dass er in einem eigens noch angefügten Paragraphen ein weiteres Mal angesprochen wird. Im Gegensatz vor allem zur Pittsburgh Platform wird nun der Wert der Erhaltung des jüdischen Volkes als wichtige Aufgabe an sich selbst betrachtet: »Our Obligations: Survival and Service – Die einst ganz neu in die allgemeine Gesellschaft zugelassenen Reform-Juden, die darin ein Zeichen eines wachsenden Universalismus sahen, erkannten den Sinn eines [noch eigenständigen] Judentums gewöhnlich darin, dass dieses Judentum der Menschheit einen Dienst zu erweisen habe. In den zurückliegenden Jahren wurden uns die Tugend des Pluralismus und der Wert des Partikularismus neu bewusst. Das jüdische Volk bestätigt seinen eigenen Wert, indem es an der Erfüllung seiner messianischen Erwartungen arbeitet. Bis zur jüngsten Geschichte schienen uns unsere Verpflichtungen dem jüdischen Volk und der allgemeinen Menschheit gegenüber als völlig übereinstimmend (congruent). Jetzt erscheinen diese beiden Imperative zuweilen im Konflikt miteinander. Wir sehen keinen einfachen Weg, um diese Spannungen zu lösen. Wir müssen uns ihnen aber stellen, ohne einer der beiden Verpflichtungen zu entsagen. Allerdings ist eine universelle Sorge für die Menschheit ohne gleichzeitige Hingabe an unser partikulares Volk selbstzerstörerisch; eine Leidenschaft für unser Volk ohne Befassung mit der Menschheit widerspricht dem,
34
1976, Centenary Perspective, § 5.
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was uns die Propheten bedeuten. Das Judentum ruft uns gleichermaßen zu universellen wie partikularen Verpflichtungen.«35 Selbst diese reumütige Einsicht in die Fehler der Vergangenheit reicht den Autoren noch nicht. In einem weiteren Ansatz beklagen sie, dass die früheren Reform-Juden ein grenzenloses Vertrauen in die menschliche Anlage zum Guten hatten, die eigene Generation durch die schrecklichen Ereignisse aber gezwungen wurde, sich den traditionellen jüdischen Realismus wieder zu eigen zu machen, der von der Fähigkeit des Menschen zum Bösen wusste. Andrerseits sei gerade der Lebensmut der »Holocaust«-Überlebenden und die Wiederentstehung eines jüdischen Staates ein Argument gegen die Verzweiflung. – Ein nicht zur Ruhe kommendes Schwanken, ein Hin- und Hergerissensein zwischen sich widersprechenden Auffassungen der eigenen Reform-Traditionen und der geschichtlichen Realität.
4.5
1999 – A Statement of Principles for Reform Judaism – Diaspora und Staat – Verbundenheit durch rituelle und historische Jüdischkeit – alte Reformelemente
4.5.1 Präambel Das Statement von 1999 will in einer Zeit der Suche nach religiösen Werten, moralischen Zielen und Gemeinschaftsgeist das Reformjudentum für die eigene Zeit definieren. Zu einer solchen Definition gehört das Verwurzeltsein in der jüdischen Tradition, trotz der Offenheit, von anderen zu lernen. Dieses Prinzip der Innovation bei gleichzeitiger Bewahrung der Tradition ist das Markenzeichen der Reform, Diversität und zugleich Gemeinschaftssinn, Glaube und zugleich Anerkennung von Zweifeln, Treue zu den heiligen Texten ohne die kritische Wissenschaft zu opfern.
4.5.2 Gott Mit dem 1999 – wieder in Pittsburgh promulgierten – Statement of Principles for Reform Judaism wird das Rad zur Tradition noch einmal um ein gutes Stück zurückgedreht, dies gewiss unter dem Einfluss von Theologen wie Franz Rosen-
35
1976, Centenary Perspective, § 6; zur Mission, welche das partikulare Judentum in der Welt zu erfüllen habe, siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 481. 486. 487. 501. 513. 514. 541. 574. 575. 576. 577. 648. 656.
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zweig,36 Eugene Borowitz37 und Abraham Joshua Heschel38 (Conservative). Der Text ergeht sich in einer Reihe von Affirmationen, die wider die anerkannte Unsicherheit des Glaubens und der Ansichten trotzig als Bollwerk aufgestellt werden. Noch wichtiger ist nun, dass bezüglich Gottes selbst nur dessen »reality« und »oneness« beteuert werden, weil die Meinungsverschiedenheiten über die göttliche Präsenz ansonsten weit auseinandergehen. Stattdessen, und dies ist höchst beachtlich, wird im Folgenden dieses Abschnitts, dessen Thema doch Gott ist, faktisch nur noch über den Menschen gesprochen, über sein Verhältnis und seine Beziehung zu ihm, seine Wahrnehmung und Reaktion auf dieses Göttliche, woran sich deutlich der Einfluss von Heschel erkennen lässt.39 Hatte man in der rabbinischen Tradition davon gesprochen, dass Gottes Raum in dieser Welt »die vier Ellen der Halacha« seien, so ist es laut dieser Verlautbarung die jüdische Gemeinschaft und ihr rituelles und ethisches Handeln. Das menschliche Tun, Handeln und Empfinden sind die Kategorien, in denen man über Gott reden kann. Besonders hervorzuheben an diesem Tun ist die Einbeziehung des traditionellen Ritus, der hier mit all dem anderen Tun und Empfinden des Menschen in den Paragraphen zu Gott hereingenommen wird. Dies zeigt die erneute scharfe Differenz zu den vorausgegangenen älteren Verlautbarungen, welche das Rituelle fast ganz verabschiedet hatten. Jetzt, 1999, lebt der Gott des Reformjudentums ganz im Ritus, in traditionellen Mizwot (die man früher verschmähte) und in der Ethik der Gemeinde, auch in den ökologischen Pflichten der Umweltbewegung und noch mehr in allen emotionalen Widerfahrnissen des täglichen Lebens. Der Mensch ist der Bürge und Raum für die »Existenz Gottes«. Auffällig ist schließlich ein Letztes, nämlich die Aufnahme der klassischen hebräischen Begriffe der jüdischen Tradition – in hebräischen Buchstaben (im Folgenden ausgelassen) und nachfolgender Transkription – was für den gesamten Text des »Statements« gilt und das in einer religiösen Bewegung, die sich ursprünglich vom Hebräischen fast ganz verabschieden wollte. Der Text im Wortlaut: »Gott. Wir bekräftigen / bestätigen (affirm) die Wirklichkeit (reality) und Einzigkeit (oneness) Gottes, selbst wenn wir in unserem Verständnis der göttlichen Gegenwart unterschiedliche Auffassungen haben (differ). Wir bekräftigen, dass das jüdische Volk durch einen ewigen Bund (b’rit) an Gott gebunden ist, wie sich dies in unseren verschiedenen (varied) Auffassungen von der Schöpfung, der Offenbarung und Erlösung widerspiegelt. 36
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap I, Rosenzweig.
37
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. III, Borowitz.
38
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II, Heschel.
39
Vgl. dazu Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II, Heschel.
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Wir bekräftigen, dass jedes menschliche Wesen im Ebenbild Gottes (b’tzelem Elohim) geschaffen ist, weshalb jedes menschliche Leben heilig ist. Wir betrachten mit Verehrung die ganze Schöpfung Gottes und anerkennen unsere menschliche Verantwortung für deren Erhaltung und Schutz. Wir begegnen Gottes Gegenwart in Augenblicken der Ehrfurcht (awe) und von Verwunderung (wonder), in Taten der Gerechtigkeit und Leidenschaft, in liebevollen Beziehungen und in den Erfahrungen des täglichen Lebens. Wir antworten Gott täglich, im öffentlichen und privaten Gebet, durch das Studium und die Erfüllung anderer Gebote (mitzwot), heiligen Verpflichtungen Gott gegenüber (bein adam la Makom) und anderen Menschen gegenüber (bein adam la-chaveiro). Wir streben nach einem Glauben, der uns in den Wechselfällen unseres Lebens – Krankheit und Heilung, Übertretung und Umkehr, Trauer und Trost, Verzweiflung und Hoffnung, bestärkt. Wir wollen weiterhin daran glauben, dass trotz des unaussprechlichen Bösen, das unserem Volk angetan wurde, und trotz der Leiden, die andere ertragen müssen, die Partnerschaft zwischen Gott und der Menschheit schließlich die Oberhand gewinnen wird. Wir vertrauen auf die Verheißung unserer Tradition, dass obwohl uns Gott als endliche Wesen erschaffen hat, unser Geist ewig ist. In all diesem und noch Weiterem gibt Gott unserem Leben Sinn und Bestimmung.«40
4.5.3 Bibel – Tora – Gesetz 4.5.3.I Tora Der Passus zur Definition der Tora ist 1999 noch kürzer als 1976 geraten. Es wird bekräftigt, dass die Tora das Fundament des jüdischen Lebens ist. Sodann wird gesagt, dass man die von der Tora offenbarten Wahrheiten wertschätzt, als Gottes andauernde Offenbarung an »unser Volk« und als Bericht der andauernden Beziehung »unseres Volkes« mit Gott – also nicht als Zeugnis höherer Wahrheiten, sondern als Zeugnis historischer Begebenheiten. Des weiteren wird die Tora als Zeugnis für Gottes ewige Liebe zu Israel und die gesamte Menschheit apostrophiert – mit Letzterem wird das Problem der Gewichte zwischen Partikularität und Universalität in der Schwebe gehalten.
40
1999, Statement of Principles, § 1.
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4.5.3.II Traditionsgebote – Riten Alles folgende zu den Geboten Gesagte klingt sodann wie ein reumütiges Programm der Rückkehr zur rituellen Tradition des Judentums: Die Wichtigkeit, Hebräisch zu lernen, der Sprache von Tora und Liturgie, um so den sakralen Texten des eigenen Volkes wieder näher zu kommen; der Aufruf der Tora zu lebenslangem Studium im Heim und in der Synagoge wie auch bei neuen LernVersammlungen. Besonders aufhorchen lässt die Wiederaufnahme des alten Topos, dass das Studium der Tora zum Tun der Gebote (mitzwot) aufruft, durch welche das jüdische Leben geheiligt wird. Ausdrücklich wird nochmals betont, dass man sich dem Studium aller Gebote verpflichtet fühlt und zur Erfüllung all jener, welche den Einzelnen oder die einzelne Gemeinde ansprechen. Und dann die für die ursprünglich so spröde und ablehnende Haltung den Geboten gegenüber geradezu revolutionäre Kehrtwendung: »Einige dieser Gebote (mitzwot), heilige Pflichten, wurden schon seit langem von Reform-Juden erfüllt, andere, alte wie moderne, fordern, angesichts der einzigartigen Situation in unserer Zeit, neue Aufmerksamkeit.« Das Gesagte wird konkretisiert: Durch eine regelmäßige Observanz im Heim und in der Synagoge suche man die Zeiten und Räume des eigenen Lebens zu heiligen und dadurch Tora in die Welt zu bringen. Natürlich werden Schabbat, die Hohen Herbstfeiertage und die Feste eigens genannt, als Mittel für Moral-Werte, für Heiligkeit, Ruhe und Freude (Schabbat), zur selbstkritischen Prüfung des eigenen Tuns (die Hohen Feiertage), um mit Freude die religiöse Reise des Volkes durch die Jahreszeiten zu feiern, an die Tragödien und Erfolge in der Geschichte des jüdischen Volkes (Tage der Erinnerung) zu erinnern und schließlich sollen traditionelle und neu zu schaffende Riten des persönlichen Lebens die Meilensteine des persönlichen Lebens markieren. Zu Vorstellungen, was mit Letzterem gemeint sein könnte, verweise ich vor allem auf die Kapitel zum jüdischen Feminismus in diesem Band. 4.5.3.III Universelle Ethik Dem Abschnitt über die rituellen Pflichten folgt wieder der zu den ethischmoralischen Pflichten gegenüber anderen Menschen und der gesamten Schöpfung Gottes. An dieser Stelle wird ein Begriff der altrabbinischen und auch kabbalistischen Tradition eingeführt, der in seinem neuen Gewand bei den jüdischen Intellektuellen und linksgerichteten Juden und weit darüber hinaus in der nichtjüdischen Gesellschaft eine erstaunliche Karriere machte. Es ist der Begriff des Tikkun ‘Olam. In der rabbinischen Theologie dient der Begriff als Symbol für den Verzicht auf eigene Ansprüche, auf das Zurückstellen eigener Positionen um
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des Friedens willen,41 um die Gesellschaft und das rabbinische Rechtssystem zu stabilisieren, sowie für den positiven Einsatz des Bösen Triebes (etwa des Geschlechtstriebes) zur Erhaltung der Welt.42 In der Kabbala hat der Begriff eine theosophisch-theurgische Transformation erfahren, der besagt, dass man durch die Erfüllung der Gebote, die Einheit in der göttlichen Transzendenz und in Folge davon in dieser Welt erlangt.43 Im modernen intellektuellen und linken amerikanischen Judentum wurde der Begriff hingegen zum terminus technicus für ein umfassendes politisch-ökologisch und soziales Weltverbesserungsprogramm, das sich weit von der rabbinischen Tradition entfernt und sich nunmehr als Programm der Bekämpfung aller Missstände dieser Welt, in Politik, Gesellschaft, Recht, Ökologie etc. darstellt. Als solches ist der Begriff zu einem politischen linksintellektuellen und ökologischen Programm mutiert, das von modernen Autoren aus konservativeren Segmenten der jüdischen Gesellschaft als geradezu selbstzerstörerisch für das Judentum bekämpft wird, was unten noch eingehender dargestellt werden soll.44 Auch wenn man dem Statement of Principles nicht eine solche radikale Position unterstellen will, so stehen die folgenden Äußerungen des Statement solchen Positionen doch sehr nahe: »Wir bringen Tora in die Welt, wenn wir bestrebt sind, die höchsten ethischen Verpflichtungen in unseren Beziehungen mit den Anderen und mit Gottes gesamter Schöpfung zu erfüllen. Als Partner Gottes beim Tikkun ‘Olam ()תקון עולם, der Wiederherstellung und Reparatur der Welt, sind wir aufgerufen in der Herbeibringung der messianischen Zeit zu helfen. Wir suchen den Dialog und die Kooperation mit Menschen anderen Glaubens, in der Hoffnung, dass wir gemeinsam Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in unserer Welt schaffen können. Wir sind verpflichtet, Gerechtigkeit (tzedek) und Rechtschaffenheit zu verfolgen und die Kluft zwischen reich und arm zu verkleinern, gegen Diskriminierung und Unterdrückung zu arbeiten, Frieden zu verfolgen, die Fremden willkommen zu heißen, die biologische Vielfalt der Erde und der natürlichen Ressourcen zu beschützen und jene, die in physischer, ökonomischer und geistiger Gefangenschaft sind, zu erlösen. Damit bekräftigen wir erneut das soziale Wirken und die soziale Gerechtigkeit als
41
Vgl. F. Böhl, Gebotserschwerung und Rechtsverzicht als ethisch-religiöse Normen in der rab-
42
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 276–277.
43
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 435. 456. 510.515 etc.
44
Unten Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Nr. 5.2.3.6, Tikkun ʽOlam als jüdische Aufgabe und
binischen Literatur, Freiburg i. Br. 1971, S. 64.
Teil II, Nr. 7, Tikkun ʽOlam; siehe J. Neumann, To Heal the World? How the Jewish Left corrupts Judaism and Endangers Israel, New York 2018.
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zentrale prophetische Schwerpunkte des Glaubens und Handelns im Sinne der jüdischen Reform.«45 4.5.4
Staat Israel und Diaspora
Im letzten Abschnitt des Statement of Principles wird natürlich, wie schon in der vorausgegangenen Erklärung von 1976, die neue Situation durch den wiedererstandenen jüdischen Staat angesprochen. Das dort kurz angerissene Problem des Nebeneinanders von Staat und Diaspora wird in der neuen Erklärung nun systematisch – auch im Sinne der älteren Tradition – geklärt, nämlich durch die Trennung der Begriffe »Israel« als religiöses Volk und Israel als Staat. Israel das Volk der »Erwählung« »Wir sind Israel, ein Volk, das nach Heiligkeit strebt, durch unseren alten Bund und unsere einzigartige Geschichte unter allen Völkern herausgehoben (singled out), Zeugen von Gottes Gegenwart zu sein. Durch diesen Bund und diese Geschichte sind wir mit allen Juden aller Orten und Zeiten verbunden.«46 Diese Worte sind die Grundlage für die weiteren traditionellen Folgerungen, nämlich der Verpflichtung zur Liebe für ganz Israel, der gegenseitigen Verantwortung aller Israeliten füreinander – und dies über alle ideologischen und geographischen Grenzen hinweg. Diese Inklusion aller jüdischer Variationsmöglichkeiten, wird nun insbesondere für die von der Tradition bislang ausgeschlossenen Gruppen konkretisiert. Einbezogen in dieses Israel sollen sein, unterschiedliche Familienformen aller sexueller Orientierungen, Proselyten auch ganze Mischehen, sofern sie ein jüdisches Haus zu führen beabsichtigen. Diese Offenheit soll auch den Übertritt zum Judentum fördern, für alle, die eine geistige Heimat suchen. Allen soll geholfen werden, ein Familien- und Privatleben mit jüdischem Lernen und dem Befolgen jüdischen Brauchtums (observance) zu schaffen – für all das soll die Synagoge als Mittelpunkt dienen. Israel, das Staatsvolk. Unter dieser Rubrik wird der verpflichtende Einsatz für den Staat Israel beschworen und die Freude über dessen Erfolge. Dem Wohnen im Land Israel wird
45
1999, Statement of Principles, Abschnitt: Torah.
46
1999, Statement of Principles, Abschnitt: Israel.
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Reform
im Sinne der alten Tradition eine hohe Qualität bescheinigt, weshalb man auch die Einwanderung (aliyah) ermutigt. Man hegt eine Vision der gleichen menschlichen und religiösen Rechte für alle Einwohner des Staates und ist um einen dauerhaften Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn bemüht. Natürlich darf in diesem Zusammenhang auch das Bestreben nicht fehlen, das Progressive Judentum in Israel voranzubringen und zu stärken. Beide vorangehende Absätze werden dann nochmals in dem Bekenntnis verbunden, das der Staat Israel und das Diaspora-Judentum zwei voneinander abhängige Gemeinschaften sind. Darum sollten die Diasporajuden das moderne gesprochene Hebräisch lernen, während das israelische Judentum vieles vom religiösen Leben der Diasporagemeinden lernen könne. Das Judentum wird hier als Einheit von Staat und Diaspora begriffen.
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Jüdische Denominationen
5.
Conservative Judaism – Masorti
5.1
Historische Anmerkungen
225
Das Conservative Judaism, also das Konservative Judentum, dessen Ableger in Israel, in Deutschland und anderen Ländern sich wohl seit 1979 einfach Masorti (Traditionell) nennen, ist wohl eine Reaktion auf die Publikation der Pittsburgh Platform (1885)1 durch die noch extreme, von der deutschen Aufklärung beeinflusste, Reform-Bewegung. Als offiziellen Beginn der konservativen Bewegung kann man das 1886 in New York gegründete Jewish Theological Seminary betrachten, das sich, wie der Name schon anzeigt als Filialinstitution des Breslauer Jüdisch-Theologischen-Seminars (Fraenckel’sche Stiftung) verstand,2 welches 1854 unter seinem ersten Direktor und spirituellen Mentor Rabbiner Zacharias Frankel (1801–1875) in Breslau seine Tore öffnete und bis 1938 bestanden hatte und das die »positiv-historische Schule« innerhalb des deutschen Judentums vertrat. Diese positiv-historische Ausrichtung ist auch das Signum der New-Yorker Institution und der von ihr betreuten konservativen Bewegung.3 Bis zum Jahr 1985 blieb das Conservative Judaism von Amerika, im Gegensatz zur Reformbewegung, ohne offizielle Beschreibung seiner Ausrichtung und Grundauffassungen. Erst in diesem Jahr trat eine Kommission zusammen, die bis zum Jahr 1988 ein »Statement of Principles of Conservative Judaism« unter dem Titel Emet Ve’Emunah publizierte. Die ersten hundert Jahre hatte sich die konservative Bewegung mit der Negativabgrenzung nach zwei Seiten begnügt, also weder orthodox noch Reform. Man suchte also einen nicht genau definierten Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen, das heißt eine weitere Beibehaltung der Halacha, wenn auch unter Anerkennung von deren historischer Wandelbarkeit und daraus folgender Anpassungsfähigkeit, eine Beibehaltung des Hebräischen als Gebetssprache und vor allem des nationalen Elements, weshalb das Conservative Judaism stets Mitglied der zionistischen Organisation war und hernach fest zum Staat Israel stand, trotz der verweigerten eigenen Anerkennung durch das in Israel herrschende orthodoxe Rabbinat. Die im vorangehenden Kapitel gezeichnete 1
Zur Pittsburgh Platform siehe oben Punkt 4.2. Zur durchaus nicht geradlinig verlaufenen Geschichte der Entstehung der Bewegung siehe, M. R. Cohen, The Birth of Conservative Judaism. Solomon Schechter’s Disciples and the Creation of an American Religious Movement, New York 2012.
2
Siehe: Emet Ve’Emunah. Statement of Principles of Conservative Judaism, The Jewish Theological Seminary of America, The Rabbinical Assembly, The United Synagogue of America 1988 (hier nach der zweiten Auflage 1990), S. 9.
3
Zur Situation der Bewegung in den end-siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts siehe: B. Martin, Conservative Judaism and Reconstructionism, in: B. Martin, Movements and Issues in American Judaism. An Analysis and Sourcebook of Developments since 1945, Westport (Conn.) – London (England), S. 103–157.
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Conservative
226
Veränderung und Hinbewegung der Reform zur Tradition, die Flexibilisierung der Modernen Orthodoxie wie auch eine insgesamt zu verzeichnende Stärkung der Orthodoxie gegen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, haben zu einer zunehmenden Überlappung über die beiden gezogenen Grenzen, nach links wie nach rechts, hinaus geführt und damit zu einer Verunsicherung der konservativen Identität, die geradezu krisenhafte Ausmaße annahm. Der Mangel an Selbstdefinition während der ersten hundert Jahre des Bestehens des Conservative Judaism hat schon während dieses ersten Zentenniums zu einer weit aufgefächerten Meinungsvielfalt innerhalb der Bewegung geführt, die bis hinein in den geistigen Mutterschoß, das Jewish Theological Seminary, reichte. Symptomatisch hierfür ist, dass der geistige Vater des späteren Reconstructionist Movement, Mordecai Kaplan4 zeit seines Lebens Mitglied der Fakultät des Seminars war und dass sich um 1985 über der Debatte um die Zulassung von Frauen zum Rabbinerstudium mit folgender Ordination eine innere rechtsgerichtete Separierung, eine Union for Traditional Conservative Judaism, formierte. Und so bestand auch die 1985 zusammengerufene Kommission zur Erarbeitung der ersten Principles zugegebenermaßen aus »Vertretern der extremsten Positionen«.5 Die Folge war, dass das 1988 fertiggestellte Papier von sechsundvierzig Seiten sich darin gefiel, zu vielen Punkten einfach die sich widersprechenden Auffassungen aufzuzählen mit der lapidaren Einführung: »Einige von uns sind der Auffassung … andere hingegen glauben …«. Das bedeutet, auch der nach hundert Jahren endlich erarbeitete Versuch einer positiven Selbstdarstellung, der sich nicht als verpflichtende Vorschrift für die Mitglieder der Bewegung versteht, ist in weiten Teilen schlicht eine Darstellung unterschiedlicher Auffassungen, wie man sie in den verschiedenen Organen, Gruppen und Individuen der Bewegung antreffen kann. Richtig besehen ist dies allerdings die konsequente Anwendung des von Frankel inaugurierten positiv-historischen Prinzips. Denn da die Jüdische Geistesgeschichte nun einmal eine überaus große Vielfalt an Möglichkeiten hervorgebracht hat, kann ein solch historischer Zugang eigentlich alles als legitim akzeptieren, was in dieser Geschichte an jüdischen Varianten einmal geschaffen worden war.
4
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. IV, Kaplan.
5
Emet Ve’Emunah, S. 5.
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Jüdische Denominationen
5.2
227
Emet Ve’Emunah – Statement of Principles of Conservative Judaism – 1988
5.2.1 Vorbemerkung Im Jahre 1988 legte die 1985 einberufene Kommission ihre offiziell gewordene Beschreibung der Positionen des Conservative Judaism vor. Diese dreiteilige Stellungnahme der Kommission beginnt fast erwartungsgemäß mit einem Teil über Gott unter dem Titel: GOD IN THE WORLD – dass dies auch anders hätte sein können, soll nachher noch deutlich werden. In diesem ersten Teil werden die Themen Gott, die Offenbarung, Halacha (Das jüdische Gesetz), Das Problem des Bösen und schließlich die Eschatologie: Unsere Vision von der Zukunft behandelt. Der Abschnitt von der Offenbarung verhandelt vor allem die Halacha, was schon bezeichnend ist für das, was man als den wesentlichen Inhalt der Offenbarung erachtet. Das hierhergenommene Kapitel zum Problem des Bösen, dient vor allem dazu, die Frage des Bösen mit den eingangs gemachten Aussagen über Gott in Übereinstimmung zu bringen. Schließlich gehört zu »Gott« ein Kapitel über die Eschatologie. Der Sinn von dessen Einfügung in das Kapitel »Gott« wird ganz zum Schluss dieses Absatzes genannt: »Summa summarum, wenn Gott wirklich Gott ist, wenn seine Macht die letztgültige Tatsache in dieser Welt ist, dann ist seine Fähigkeit, mit uns in Kontakt zu treten, mit dem Grab nicht beendet.«6 Die in diesem Teil aufgeführten Unterthemen sprechen, wie die Hauptüberschrift sagt, ganz im Sinne des hochverehrten ehemaligen Professors Abraham Joshua Heschel, über Gottes Präsenz in der Welt – nicht in der Transzendenz – wiewohl der Text dann auch Konzessionen an diese Auffassung macht.7 Der zweite Teil des Statement of Principles ist überschrieben mit THE JEWISH PEOPLE. Dieser Teil verhandelt den Bund Gottes mit dem jüdischen Volk, die Frage der Erwählung, außerdem den Staat Israel und die Rolle der Religion in diesem Staat. Diesem Kapitel musste man natürlich eine Relationsbeschreibung von Israel und Diaspora folgen lassen. Wenn man über Relationen spricht, kann ein Kapitel über die Beziehungen zu den unterschiedlichen jüdischen Strömungen nicht fehlen, dann auch zu den anderen Religionen, was in den USA als ein naheliegenderes Thema gesehen wird als etwa in Europa oder gar in Israel. Schließlich folgt ein Kapitel, das dem amerikanischen Zeitgeist entspricht, nämlich zur Sozialen Gerechtigkeit und den Auftrag eine bessere Welt zu schaffen, also den Tikkun ʽOlam, der oben schon angesprochen und ausführlicher weiter
6
Emet Ve’Emunah, S. 26.
7
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II, Heschel.
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Conservative
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unten zu besprechen sein wird.8 Noch mehr als für die Reformbewegung musste im Zusammenhang mit dem Thema der Weltverbesserung, der Ethik und der Beziehung der Menschen untereinander, bei einer Bewegung, in der das NationalReligiöse eine zentrale Rolle spielte, der das Judentum durchziehende Antagonismus von Partikularität und Universalität angesprochen werden. Der dritte Teil des Statement wendet sich unter dem Titel LIVING A LIFE OF TORA dem religiösen jüdischen Leben zu und packt zunächst das heiße Eisen der Rolle der Frauen im religiösen jüdischen Leben an, wozu sich im Sinne der Tradition das Thema des jüdischen Hauses fügt, sodann folgen Abschnitte zum Gebet und zum Tora-Lernen. Abgeschlossen wird das Ganze durch eine aus drei Punkten bestehende Minimalanforderung für ein Mitglied des Conservative Judaism. Das Ausmaß der inneren Differenzen in der Bewegung, welches der Text getreulich wiedergibt, tritt elf Jahre später nochmals ins grelle Rampenlicht durch einen Aufsatz von Ismar Schorsch, von 1986 bis 2007 Kanzler des Jewish Theological Seminary, der hier im Anschluss an das offizielle Manifest vorgestellt werden soll. 9
5.2.2 »Theologie« 5.2.2.1 God in the World Die zentrale Aussage zum Thema Gott ist nicht eine Aussage über Gottes Existenz, sein Wesen oder Tun, sondern eine Aussage über den menschlichen Glauben an Gott.10 »We believe in God«. Dieser Glaube ist das Fundament des Judentums, er ist ein »Bewusstsein von Gott« (consciousness of God), welches das jüdische Leben in all seinen Facetten bestimmt. In diesem Sinne wird die Tradition, samt der Bibel, als Zeuge für diesen Glauben angeführt. So bezeuge diese Tradition, Gott sei Einer, Schöpfer, der zugleich mit seiner Vorsehung oder Fürsorge (providence) in der Menschheitsgeschichte waltet. Ausdrücklich werden als Zeugen dieses Gottesbewusstseins alle dafür relevanten Richtungen der jüdischen Geschichte angeführt, Propheten, Rabbinen, Liturgie, Philosophie. Dies ist eine zu erwartende Haltung für ein Judentum, das sich als »positiv-historisch« versteht. Mit diesem weiten Blick auf die überkommene und damit legitime Tradition, wird zugleich gerechtfertigt, dass es auch noch in der Gegenwart in allen Fragen ein entsprechend breites Spektrum an Meinungen gibt. Zur Gottesfrage 8
Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Kap. Die jüdischen Denominationen, Nr. 5.2.3.6; Nr. 7; so-
9
Siehe unten Teil II, Kap. Die jüdischen Denominationen, Nr. 5.3.
10
Zum Ganzen vergleiche man Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II, Heschel.
wie oben Teil II, Kap. Die jüdischen Denominationen Nr. 4.5.3.III.
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Jüdische Denominationen
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selbst werden Zweifel und Ratlosigkeit genannt, etwa bezüglich der Theodizee und zur »Existenz Gottes«; solche Zweifel, so wird betont, gehören zum jüdischen Leben schon immer dazu. Das ist auch der Grund, weshalb das »Statement« für die Bewegung keine eindeutigen Spezifizierungen anbieten kann, sondern nur ein Spektrum unterschiedlicher Glaubensauffassungen innerhalb dieser jüdischen Richtung. Manche etwa glauben hinsichtlich Gottes an ein mit Macht über die Welt ausgestattetes übernatürliches Wesen, eine Auffassung die durch die Schrifttradition, die Ordnung in der Schöpfung (design), das Empfinden moralischer Imperative und wunderhafte Erfahrungen gerechtfertigt sein kann. Demgegenüber wollen andere nicht an ein separates Gottwesen glauben, vielmehr sehen sie – im Sinne von Mordecai Kaplan11 – eine göttliche Präsenz in den menschlichen Antriebskräften, in der Sinnsuche für menschliches Leben, im Kampf für Moral und Gerechtigkeit. Damit sei Gott zugleich »eine Gegenwart und Macht, die uns transzendiert, dessen Natur aber nicht von unseren Glaubensauffassungen und Erfahrungen unabhängig ist.« Man sieht sich in dieser letzteren Auffassung durch die jüdische Philosophie und Mystik bestätigt.12 Diese im Menschen wirkenden Antriebskräfte, so wird konsequenterweise nochmals betont, sind nicht die von einem äußerlichen Gottwesen kommende Kräfte, sondern es ist der menschliche Glaube, die menschliche Hingabe, welche die Welt verändern können. An dieser Stelle wird, ohne die Formel zu verwenden, die mehrfach genannte altjüdische Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes in neuer Weise aufgenommen: Die Inhalte und Richtungen des Gottesglaubens prägen die Selbstgestaltungsweisen des Menschen. Sprich, der Mensch ist ein Ebenbild seines Gottesglaubens. 5.2.2.2 Die Offenbarung Beim Thema Offenbarung wird die Schwankungsbreite der Meinungen innerhalb der Bewegung bis an die extremen Pole getrieben. Prinzipiell wird die klassische rabbinische Formel der sinaitischen Offenbarung in doppelter Gestalt, als Schriftliche und Mündliche Tora, welch letztere bis in die Debatte des jeweils gegenwärtigen Lehrhauses andauert, beibehalten und ausbuchstabiert.13 Es werden die klassischen Offenbarungsinstanzen aufgezählt, Sinai, Propheten, biblische Weise, rabbinische Gelehrte, Talmud und Midrasch, Dezisoren – als revelatio continua bis in die Gegenwart.
11
Siehe unten, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. IV Judentum als Zivilisation, M. Kaplan.
12
Vergleiche zum Beispiel Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 103.112. 587–589, wonach die Seelen
13
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
der Menschen aus der Gottheit stammen.
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Nach dieser zunächst konservativen Aufzählung folgen die bestehenden Meinungsverschiedenheiten über das Wesen der Offenbarung. Die ganz Konservativen glauben an eine Begegnung mit Gott und direkte verbal vermittelte autoritative Gebote, welche rabbinisch interpretiert werden. Andere glauben hingegen nur an eine wortlose Gotteserfahrung, welche dann von Menschen als Gebote und Lehren verbalisiert wurde. Diese Richtung glaubt also an einen bedeutenden menschlichen Beitrag bei der Formulierung der Offenbarungsinhalte, was diesen Inhalten ihren jeweiligen historischen Stempel aufdrückt. Die extrem »Linken« sehen die Offenbarung hingegen als »die fortlaufende Entdeckung von Wahrheiten über Gott und die Welt in Natur und Geschichte. Diese [in einem andauernden Prozess gewonnenen] Wahrheiten, wiewohl stets kulturell bedingt, werden dennoch als Gottes letztgültige Bestimmung für die Schöpfung erachtet.«14 Es ist diese breite Streuung von Auffassungen, welche Grundlage für die mehrfach von verschiedenen Seiten gemachte Feststellung sind, dass die Grenzen zwischen Reform und Conservative häufig verwischt sind und Fluktuationen zwischen beiden Richtungen nicht ungewöhnlich erscheinen lassen. 5.2.2.3 Die Halacha Erwartungsgemäß erfordert das Thema der Bedeutung, des Wesens, des Sinnes und der Gültigkeit der Halacha den größten Abschnitt innerhalb der gesamten Verlautbarung. Hier ist auch das ständige und wiederholte Schwanken zwischen den bewahrenden und den erneuernden Intentionen besonders deutlich. Dies äußert sich zunächst in der mehrfach wiederholten Feststellung der Unverzichtbarkeit (indispensability) der Halacha. Dieser gleichsam dogmatische Grundsatz wird sodann durch eine Reihe von wiederum alternierenden Qualifizierungen plausibel gemacht. Das erste Argument für die Notwendigkeit der Beibehaltung der Halacha entspricht der Sicht des Religionshistorikers, der die Halacha als historisch kontinuierlichen Faktor des Judentums beschreibt, deren Verankerung in der Bibel, deren rabbinische Interpretation, die Einbeziehung von im faktischen Leben entstandenem Brauchtum, von Änderungen, die durch sich ändernde ethische Standards nötig geworden waren. Und dann folgt der Satz, der die historische Einsicht auf den Punkt bringt, aber zugleich die scharfe Trennungslinie zur (rechten) Orthodoxie hin markiert: »Da jedes Zeitalter neue Interpretationen and Anwendungsregeln für die überkommenen Normen erfordert, ist die Halacha ein fortlaufender Prozess. 14
Emet Ve’Emunah, Abschnitt: Revelation, S. 19.
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Sie ist somit eine alte Tradition, die in der Erfahrung und den Texten unserer Vorfahren wurzelt und zugleich eine heutige Lebensweise (way of life), welche unserem Leben Wert, Gestalt und Richtung verleiht.«15 Die Halacha wird hier also, im Gegensatz zur ganz strengen Orthodoxie, als ein historisch veränderliches Rechtskorpus betrachtet. Dies ist eine klare Trennungslinie zur strengen Orthodoxie. Aber wie stets folgt nun auch an dieser Stelle die Aufzählung der Meinungsverschiedenheiten: Für die einen ist die Halacha einfach Gottes Wille, weil die jüdische Gemeinschaft dies so glaubt, für die anderen der konkrete Ausdruck »unserer andauernden Begegnung mit Gott.«16 Beide Deutungen geben mithin eine historische Begründung für den Toragehorsam. Die eine ist die Geschichte des jüdischen Glaubens, die andere die Geschichte des jüdischen Erlebens. Nach diesen beiden mehr historischen Begründungen schreitet die Verlautbarungen zu einer Reihe von utilitaristischen Begründungen der Halacha weiter, mit denen im Grunde die alte Tradition der Taʽame ha-Mizwot, also der inhaltlichen, Einsicht vermittelnden, Begründungen für einzelne Gebote oder ganze Bereiche der Halacha aufgenommen wird.17 Als solche Gründe für die Beibehaltung der Halacha werden genannt: Die Halacha dient der Erhaltung des jüdischen Volkes und der Identifizierung mit ihm, sie hat moralerzieherische und stärkende Funktion für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft. An dieser Stelle wird ein weiteres Mal eine Grenze zur Orthodoxie eingezogen: Die Halacha soll nicht durch gesetzliche Machtbefugnis erzwungen werden (wie dies teilweise in Israel geschehe),18 sondern durch Aufstellung von Zielvorgaben, die den Menschen motivieren sollen. Die Gebote geben Minimalstandards des Verhaltens vor und formulieren so für die zu erreichenden Ideale konkrete Handlungsvorgaben, welche – wiederum janusköpfig – sowohl göttliche wie gesellschaftliche Autorität besitzen. Damit betont die Bewegung ihre soziale Eigenstellung als jedes Mitglied verpflichtende Wertegemeinschaft. Außer diesen soziologischen und moralischen Begründungen der Gebote werden auch solche für die Frömmigkeit des Individuums und der Gruppe hilfreiche Stimuli der Halacha genannt: Gestaltung der Gottesbeziehung, Symbolbildung für den Ausdruck der Frömmigkeit, dazu gehören sprachliche (im Gebet) wie auch die Kleidung und die Gewohnheit heilige Texte zu lesen. Die Halacha
15
Emet Ve’Emunah, Abschnitt: The indispensability of Halakhah, S. 20.
16
Emet Ve’Emunah, S. 20.
17
Zu den Taʽame ha-Mizwot, siehe Jüdisches Denken Bd. 1, S. 394. 429. 540; Bd. 2. S. 23. 471.
18
Siehe die oben Teil II, unter Nr. 3. genannte Position der »rechten Orthodoxie«.
523. 597. 604.
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wird als Gottesgeschenk gepriesen und zugleich als Ausdruck der Liebe des Menschen zu Gott. Eine wiederum religionshistorisch begründete Einsicht ist der ausdrückliche Hinweis, dass die Halacha nicht das Einzige und Ganze der jüdischen Identität ausmacht, sondern dass dazu auch ethisches und theologisches Denken gehört, wie es etwa in der Haggada vorgetragen wird, dazu gehört auch die Verbundenheit mit einem besonderen Land (gemeint ist natürlich das Land der Verheißung) und eine besonderen Sprache (das Hebräische), Literatur und Musik – denn »Das Judentum ist tatsächlich eine Kultur (civilization) im vollsten Sinne des Begriffs«19 – womit das Papier dem anderen Exponenten der Bewegung, Mordecai Kaplan,20 seine Reverenz erweist. Der historische Blick auf die Halacha wird unter der Überschrift »Tradition und Entwicklung der Halacha« gleich zu Beginn programmatisch festgestellt: »Die Heiligkeit und Autorität der Halacha betrifft das Gesamtkorpus des Gesetzes, nicht aber jedes einzelne Gesetz für sich, denn die Halacha war während ihrer gesamten jüdischen Geschichte Veränderungen unterworfen.«21 Das Statement anerkennt dabei die historisch richtige Einsicht, dass in der Entwicklung der Halacha nicht nur vorsichtige Anpassungen, sondern zuweilen auch neue Anordnungen (Takkanot) vorgenommen wurden, die im praktischen Leben entstandenes Brauchtum als Halacha fixierten – genannt wird als Beispiel das Fest der Torafreude und die Erziehung – und Bildung – von Mädchen. Aber auch die Entwicklungen in Technik, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik werden als notwendige Faktoren zu Halacha-Novellierung anerkannt. Und wieder wird auch hier darauf hingewiesen, dass es innerhalb der Gemeinschaft des Conservative Judaism prozedurale Unterschiede gibt, wie solche Novellierungen zu erreichen sind, das heißt, welches Maß an Bindung an die klassischen Formen der Halacha-Debatten dafür erforderlich sind. Ein besonders wichtiges Kapitel ist das bezüglich der zur Veränderung der Halacha befugten Autorität. Hier fällt als Veränderung gegenüber der klassischen Vergangenheit auf, dass es in der Gegenwart nicht einzelne herausragende rabbinische Autoritäten sein sollten, welche solche Neuerungen durchsetzen oder anregen dürfen, sondern dass es nun offizielle Institutionen und Gremien gebe, die zu solchen verbindlichen Novellierungen befugt sind, nämlich die Gelehrten des Jewish Theological Seminary of America und entsprechende Institute. Das wären etwa die United Synagoge of America, die Women’s League for Conservative Judaism und die Federation of Jewish Men’s Clubs – also eine Mischung von rabbinischen und Laien-Institutionen, wobei einem Committee on Jewish Law 19
Emet Ve’Emunah, S. 20.
20
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Kap. IV, Judentum als Zivilisation.
21
Emet Ve’Emunah, S. 21.
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and Standards eine besonders starke Stellung zur Gesetzesinitiative eingeräumt wird. Derartige Institutionen sind hier, wie bei der Reform und der Modernen Orthodoxie schon Zeichen einer gesellschaftlichen Veränderung der Moderne, in der es demokratische und richtungsbezogene Institutionen gibt, die nicht mehr für das Judentum als Ganzes, sondern für sozial getrennte Richtungen sprechen. 5.2.2.4 Die Frage des Bösen und die Ablehnung der Theodizee Wenn eine so zentrale theologische Frage wie die nach der Vereinbarung des Glaubens an einen allmächtigen und gerechten Gott mit dem Leiden der Gerechten und Unschuldigen erst nach der Erörterung der Halacha folgt, so ist damit zumindest ein Zeichen gesetzt, was auch im Denken des Conservative Judaism Vorrang haben soll: Wichtiger ist das konkret gelebte Leben und die konkreten Verhaltensweisen, das halachisch regulierte oder doch zumindest unterstützte Leben als Bewältigungsstrategie, – all dies erscheint wichtiger als die theologisch-philosophische Auseinandersetzung mit rationalen oder fideistischen Problemen. Auch die Gründe, die für die Notwendigkeit einer Erörterung der Frage nach dem Bösen und der Theodizee angeführt werden, zeigen an, dass diese Fragestellung sich gleichsam erst als ein neuerlich entstandenes Bedürfnis aufdrängt, wiewohl doch die jüdische Geschichte schon durch die Jahrtausende genügend Gründe dafür bot.22 Hier sind die Gründe natürlich die Schoah, der Horror von »Auschwitz« und die nukleare Bedrohung der Menschheit, symbolisiert durch Hiroshima. Tenor und Eckstein dieser theologischen Erörterung ist die Ablehnung jeglicher Form einer Theodizee, weil die Suche nach einem Sinn menschlichen Leidens als blasphemisch empfunden wird, wie dies schon die im vierten Band des Jüdischen Denkens besprochenen Holocaust-Theologen mit allem Nachdruck festgestellt haben. Diese Ablehnung einer Theodizee gilt natürlich insbesondere angesichts der von vielen orthodoxen Denkern vertretenen Meinung, dass die Schoah von Israel selbst verschuldet sei.23 Andrerseits wird in Emet VeʼEmunah der von manchen Holocaust-Theologen gemachte Versuch aufgenommen, dennoch eine Erklärung für die Kluft zwischen Gottes Allmacht und Gerechtigkeit und dem Leiden der Unschuldigen zu finden. Gemeint ist der Rekurs auf den freien Willen des Menschen, durch den der Schöpfer sich eines Teils seiner Allmacht und seiner gerechten Herrschaftsmöglichkeit begeben hat und damit die Schuld am Bösen in der Welt – wenigs-
22
Zur Theodizeefrage siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 41–42. 45. 47–48. 476. 503.
23
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 41–50. 470. 476. 503. 513. 542. 589. 590. 594–600. 604. 609. 636.
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tens was den Bereich der Geschichte anbelangt, dem Menschen zufällt.24 Diese Zuschreibung gilt natürlich nicht für die vom menschlichen Tun unabhängigen Naturkatastrophen – für sie, wie auch für die historischen Nöte werden die schon im vorangehenden Kapitel angesprochenen halachischen Hilfs-Strategien gepriesen, etwa der Segen über Gott als dem gerechten Richter, dessen Tun auch bei Nichteinsehbarkeit durch den Menschen akzeptiert wird, das Preisgebet für Gott, nämlich das Kaddisch, im Falle von Trauer, oder – theologisch – der Glaube an eine »Kommende Welt« und das »gerechte Königtum Gottes.« Derartige von der Tradition angebotene Reaktionen auf das Böse werden als den Menschen stärkende und zum Guten motivierende psychologische Strategien gesehen. 5.2.2.5 Eschatologie Das auffälligste Merkmal des abschließenden theologischen Kapitels ist, dass all das, was die Tradition als Endzeitvorstellungen und als Messiashoffnungen angeboten hat, als menschliche Träume und Visionen oder auch als Metaphern und Spekulationen charakterisiert wird. Wiewohl natürlich wieder manche aus den konservativen Kreisen diese Aussagen als wörtliche Verheißungen verstehen, ist doch der Tenor des Kapitels, diesen ganzen Vorstellungsbereich als verständliche menschliche Kreationen zu verstehen, als berechtigte Träume, mit deren Hilfe die Menschen ihre psychisch-intellektuellen Probleme angesichts des Bösen und des Todes mithilfe der Hoffnung auf eine persönliche, gesellschaftliche, nationale und universelle Weiterdauer oder Erreichung friedlicher Zustände zu bewältigen suchen – denn kein Mensch könne ohne Träume leben. Dadurch wird dem vergänglichen individuellen Leben Bedeutung auch über das Grab hinaus zugesprochen, der Volksgemeinschaft die Hoffnung auf den Bestand ihrer Identität und die Wiedereinsammlung nach Zion gestärkt und der Völkergemeinschaft die Zuversicht der Erlangung einer Welt ohne Kriege und Gerechtigkeit geschenkt. 5.2.2.6 Messiaserwartung In Sachen der Messiaserwartung – auch sie ein solcher Traum – der sich in der Tradition in zwei Varianten realisierte, im revolutionären Impetus, der die Weltordnung mit eigenem Agieren – bis hin zum Krieg – verändern will, und in einem gradualistischen Messianismus, der im Vertrauen auf eine stufenweise Entwicklung zum Besseren hin der Zukunft entgegenharrt. Während beide Einstellungen ihre Vorteile und Gefahren in sich bergen, will das Conservative Movement sich eher der graduellen Evolution verschreiben, sich indessen zugleich 24
So zum Beispiel E. Berkovits, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 594–600.
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mit der jüdischen Tradition daran erinnernd, dass die Menschen in der Welterhaltung und -Gestaltung Gottes Partner sind.25 Denn »Wir wissen nicht, wann der Messias kommen wird, noch ob er eine charismatische menschliche Person sein wird oder nur ein Symbol der Erlösung der Menschheit vom Bösen dieser Welt ist. Mit der Lehre von der Messiasgestalt lehrt uns das Judentum, dass jeder einzelne Mensch leben muss als hätte er oder sie die Verantwortung, das messianische Zeitalter herbeizubringen.«26
5.2.3 »Die Nation« 5.2.3.1 Das jüdische Volk – Bund und Erwählung Die viel gescholtene Lehre von der Erwählung Israels wird im Sinne von Dtn 7,7f und Amos 3,2 als Verpflichtung zum Gehorsam und zur Aufgabe, im Dienst Gottes zu stehen, verstanden, und als Bundesverpflichtung zur Arbeit für eine gerechte Gesellschaft. 5.2.3.2 Der Staat Israel Die Stellungnahme zum Staat Israel, den man als einzigartiges Phänomen in der Geschichte hochschätzt, ist geprägt von der Sorge, eine Balance zwischen den demokratischen und den jüdischen Interessen in der israelischen Gesellschaft zu wahren, denn beides ist den Autoren wichtig, der jüdische Charakter dieses Staates wie auch die Freiheit von Denken und Handeln für alle Bürger. Der Staat Israel, für das gesamte jüdische Volk gegründet, sollte daher einen jüdischen Charakter haben, weshalb alle diesbezüglichen Vorkehrungen gelobt werden, Schabbat und Feste als wöchentliche und jährliche Feiertage, Kaschrut und andere Gebote, als Praxis aller öffentlichen Organe. Dies wird damit begründet, dass es die Religion sei, welche der wichtigste Faktor zur Erhaltung des jüdischen Volkes ist. Zugleich wird aber der Grundsatz von Moses Mendelssohn unterstrichen,27 dass der Staat keine Macht hat, Religion zu erzwingen, dass andrerseits religiöse Führer nicht daran gehindert sind, ihre Stimme im politischen Leben zu erheben, um die Standards der Moral einzufordern. Der vom Zionismus übernommene Grundsatz, der Staat Israel müsse der Staat für alle Juden sein, führt die nicht orthodoxen jüdischen Bewegungen, inklusive der Conservatives, zu der naheliegenden Forderung: »Der Staat sollte allen Rabbinern, unabhängig von ihrer religiösen Richtung, erlauben, religiöse 25
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 279; Bd. 2, S. 111. 672.
26
Emet Ve’Emunah, S. 27.
27
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 385–388. 389.
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Funktionen auszuüben, inklusive der Heiraten, Scheidungen und Konversionen.«28 Für eine konservative jüdische Richtung erstaunlich, und wohl auch im wohlverstandenen eigenen Interesse, ist die Forderung nach einem säkularen Standesrecht: »Angesichts der großen Disparatheit der Auffassungen unter den Juden, glauben wir, dass die Angelegenheiten des persönlichen Status unter das Zivilrecht gestellt werden sollten, das zivilrechtliche Möglichkeiten für Hochzeiten und Scheidungen vorsieht, für solche die dies bevorzugen, während zugleich die verschiedenen religiösen Gemeinschaften ermächtigt würden, ihre eigenen rituellen Bedürfnisse selbst zu regeln.«29 Der Staat Israel, den man als starken demokratischen Staat sehen will, als einen sicheren Hafen für jüdische Flüchtlinge aus aller Welt, müsse desungeachtet die Rechte der religiösen Minderheiten wahren, weshalb zugleich zum Dialog der Religionen unter seinen Bürgern aufgerufen wird. Für das politische Handeln des Staates Israel anerkennen die Autoren, dass dieser Staat in den unmoralischen internationalen Gewässern oft genötigt ist, einen riskanten und gefährlichen Kurs zu steuern. Dennoch rufen sie dazu auf, die prophetische Aufforderung zu beachten, dass Israel ein Volk des Bundes und ein Licht für die Völker sein müsse. Die Autoren versäumen es nicht, in einem eigenen Abschnitt unter dem Titel »Conservative Judaism and Israel« ihre Unterstützung des Zionismus zu betonen, auch dessen praktische Maßnahmen, wie Kibbuz- und Moschav-Gründung, Schulen und Erwachsenenbildung, Reiseprogramme für Jugendliche nach Israel und die Gründung der Masorti-Bewegung und das trotz mancher fälliger Kritik an innenpolitischen Entscheidungen der Regierungen Israels. Die Aufnahme des Jom ha-ʼAzmaʽut, also des Tages der Unabhängigkeit Israels, in die konservative Liturgie ist ein besonders starkes Zeichen dieser Verbundenheit! 5.2.3.3 Israel und die Diaspora – Die zentrale Stellung von Israel Nach den Stellungnahmen zur gewünschten Ausgestaltung des jüdischen Staates Israel kommt das Papier auf die für eine in der amerikanischen Diaspora lebende Gemeinschaft brennende Frage des Verhältnisses der jüdischen Gesellschaft im Staat Israel und jener in der Diaspora zu sprechen. Hier schlägt das Pendel, das zuvor manch kritische Untertöne bezüglich des Staates anklingen ließ, nun 28
Emet Ve’Emunah, S. 29.
29
Emet Ve’Emunah, S. 29.
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nochmals ganz nach rechts aus und macht deutlich, welche Bedeutung der Staat Israel auch für die Juden in der Diaspora hat, wiewohl sie selbst nicht an »Alija«, sprich den migrantischen Aufstieg in das verheißene Land denken. Gleich zu Beginn dieses Absatzes heißt es: »Wir sind glücklich über die Existenz von Medinat Jisrael (den Staat Israel), in Erez Jisrael (dem Land Israel) mit seiner Hauptstadt Jerusalem, der Heiligen Stadt, der Stadt des Friedens. Wir sehen dies nicht nur in politischen oder militärischen Kategorien so, sondern wir erachten dies als ein Wunder, welches die göttliche Vorsehung in den menschlichen Begebenheiten widerspiegelt. Wir haben unsere Freude an diesem Wunder und feiern die Wiedergeburt Zions.«30 Nach einer Erinnerung an die Bedeutung, welche das Land Israel und die Stadt Jerusalem in der langen religiösen und kulturellen Tradition des Judentums spielte, wird das Land Israel als »spirituelle Heimat« der Juden apostrophiert, die allerdings als transnationales Volk zugleich auch in anderen Ländern dieser Welt zuhause sein können. Und fast erwartungsgemäß wird sogleich – entgegen der Konzeption von Achad Ha-Am31 – davon gesprochen, dass es nicht entscheidend sei, welche der beiden Seiten die andere bereichert habe, beides habe es gegeben. Und dies, so ist deutlich herauszuhören, kann und wird auch künftig so bleiben. In einem späteren Absatz unter dem Titel »Various Centers of Jewish Life« wird ein weiteres Mal von der inneren widersprüchlichen Haltung von Mitgliedern des Conservative Judaism berichtet, die zum einen die Bedeutung Israels für die jüdische Selbsteinschätzung und den jüdischen Stolz weltweit hervorhebt und andrerseits die Relativierung nachschiebt, dass man nicht glaube, die jüdische Identität könne durch die israelische ersetzt werden, auch nicht durch die Fähigkeit Hebräisch zu sprechen. Deshalb betonen die Autoren: »Sowohl der Staat Israel wie auch die Diaspora haben eine Rolle zu spielen. Jede der beiden Seiten kann und muss der anderen helfen und sie in jeder nur erdenklichen Weise bereichern. Jede Seite braucht die andere. Es ist unsere brennende Hoffnung, dass Zion das Zentrum der Tora und Jerusalem ein Leuchtfeuer sein mögen, die dem jüdischen Volk und der Menschheit den Weg weisen.«32
30
Emet VeʼEmunah, S. 31.
31
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 208–214.
32
Emet VeʼEmunah, S. 33.
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Wiederum eine letzte Wendung in der Beurteilung der beiden Pole, indem im letzten Satz die prophetische Hoffnung vom Zion, der Tora in die Welt hinausstrahlt,33 aufgenommen wird, samt der Vision von Achad Haam34 von Jerusalem als dem geistigen Zentrum, das die Peripherie der Diaspora erleuchtet. 5.2.3.4 Das Ideal von Klal-Jisraʼel – der Gesamtheit Israels Eine wichtige Trennungslinie zur rechten Orthodoxie, zugleich Gemeinsamkeit mit der modernen Orthodoxie, ist die Betonung des Prinzips von Klal-Jisraʼel. Das heißt, alle Juden, welcher ideologischen, religiösen oder auch geschlechtlichen Orientierung sie angehören mögen, als Teil des Volkes Israel anzuerkennen, mit allen im Kontakt zu bleiben und diese Vielfalt nicht als Mangel, sondern als Gewinn zu betrachten. Dies soll auch praktische Konsequenzen in den gesellschaftlichen Bemühungen haben, indem man umfassende Dachgesellschaften schafft, und die jüdische Solidarität über allen internen Differenzen zu fördern gewillt ist. 5.2.3.5 Nehmen und Geben zwischen Religionen und Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart Mit dem schon zum geflügelten Wort gewordenen Titel eines Essays von Abraham Joshua Heschel »No Religion is an Island«35 fasst das Papier den Abschnitt »Relations With Other Faiths« zusammen. Aus der historischen Einsicht, dass das Judentum als Kultur und Religion stets im Austausch mit anderen Religionen und Völkern gestanden hat, welche – trotz der zuweilen tödlichen Verfolgungen – sich gegenseitig beeinflussten und bereicherten, wird insbesondere für die USamerikanische Gegenwart die bestehende Basis für den interreligiösen Dialog gepriesen und für die gespannte Situation im Staat Israel erhofft. Triumphalismus auf beiden Seiten wird getadelt und die Möglichkeit, dass Gott sehr wohl auch Bünde mit anderen Völkern hätte schließen können, als Basis für den fruchtbaren Austausch gesehen. 5.2.3.6 Tikkun ʽOlam als jüdische Aufgabe Die unten unter Punk 7, Tikkun ʽOlam, beschriebene Bewegung des »social justice« hat auch im Conservative Judaism seine Spuren hinterlassen, wie eigens die 33
Jesaja 2, 3: »Vom Zion wird Tora ausgehen und das Wort des Herrn von Jerusalem.«
34
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 208–214.
35
Abraham Joshua Heschel, No Religion is an Island, in: Union Seminary Quarterly Review 21,2 Tl. 1 (January 1966), S. 117–134.
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Überschrift dieses Abschnitts signalisiert: »Social Justice: Building a Better World«.36 Hier findet man die Berufung auf Dtn 16, 20 »Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du verfolgen«,37 auf das das Alenu-Gebet, in welchem die Formulierung »die Welt zu heilen (takken) und die Welt unter Gottes Königtum zu verbessern« steht, mit welchen die Begründung für das soziale Engagement über die Grenzen des Judentums hinaus begründet wird – zur Kritik der Heranziehung dieser Texte für die social-justice-movement siehe das genannte Kapitel zu dieser Bewegung. Hier in der Verlautbarung des Conservative Judaism ist zunächst entscheidend, dass die Autoren in diesem Abschnitt versuchen, bezüglich des sozialen Engagements eine Balance zwischen partikularistischen und universalistischen Interessen und Bedürfnissen herzustellen, wobei das partikulare Interesse für den Bestand des Judentums als Volk und Religion ausdrücklich anerkannt wird. Auch hier verraten die Formulierungen das innere Schwanken der Kommission zwischen den beiden miteinander ringenden Positionen: »Der antike Midrasch stellte die These auf, dass die Welt während der sechs Schöpfungstage unvollendet blieb, und dass wir, als die Partner Gottes, sie vollenden sollten. Es liegt eine unvollendete Agenda vor uns, die Welt unter der Königsherrschaft Schaddais zu vollenden. Es ist berechtigt (appropriate), dass die Juden ihre Aufmerksamkeit auf interne Probleme des Überlebens und der Kontinuität des Judentums richten. Dennoch ist es für uns als Individuen wie als Bewegung von höchster Bedeutung, dem Auftrag unserer Tradition zu folgen und die Sache der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Friedens voranzutreiben. Auch wenn wir uns für Juden einsetzen, die in der Sowjetunion, in arabischen Ländern, in Äthiopien und anderen Orten unterdrückt oder verfolgt sind, müssen wir ebenso die Gefahren der nuklearen Vernichtung, Rassismus und Armut in der ganzen Welt wie der Bedrohung unserer Umwelt ansprechen. Wir müssen, wenn nötig, mit unseren Mitbürgern aus allen Glaubensrichtungen politisch aktiv werden, um diese Ziele zu erreichen.«38 Auch in diesem Zusammenhang versäumen es die Autoren nicht auf die »legitimen« Meinungsverschiedenheiten innerhalb der konservativen Gemeinde bezüglich der Gewichtung dieser sich möglicherweise widerstreitenden Aspekte hinzuweisen.
36
Emet VeʼEmunah, S. 36.
37
Ebenso werden Amos 2,7 und Jesaja 10,2 genannt.
38
Emet VeʼEmunah, S. 37.
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5.2.4. Ein Leben der Tora – das religiöse Leben 5.2.4.1 Vorbemerkung Erstaunlicherweise folgt das für eine religiöse Gemeinschaft eigentlich wichtigste Kapitel zur Ausübung der eigenen Religion erst am Schluss der ganzen Stellungnahme. In diesem ausladenden Schlusskapitel wird das Thema der Gleichberechtigung der Frauen, die Gestaltung des jüdischen Hauses, die Bedeutung des Gebetes wie dessen Gestaltung und schließlich das Gebot des lebenslangen Torastudiums behandelt. 5.2.4.2 Frauen Die Gleichberechtigung der Frau innerhalb der Religion und Kultur des Judentums wird mit der Lehre von der Gottebenbildlichkeit begründet. In diesem Sinne wurde auch die viel umstrittene Segensformel des Dankes, man sei nicht als Frau erschaffen, durch eine Formel ersetzt, die alle Mitglieder der Gemeinde gleich gleichermaßen betrifft, nämlich als Dank im Ebenbild Gottes erschaffen zu sein. Das Schulwesen ist für Mädchen offen, die Bat-Mizwa-Feier wurde von Mordecai Kaplan, Professor am Jewish Theological Seminary, eingeführt, für das Agunot-Problem, also der ohne eine Scheidungsurkunde durch den Ehemann ewig an diesen gebunden bleibende Ehefrau, wurde eine Lösung gefunden. Die lange umstrittene Frage der Rolle der Frau im Kultus wurde so gelöst, dass auch Frauen zu Rabbinerinnen ordiniert und Kantorinnen werden können – wiewohl es noch immer Stimmen in der Bewegung gibt, die dies nicht für richtig halten. 5.2.4.3 Das jüdische Heim Das konservativ-jüdische Haus soll an den klassischen rituellen Gegenständen erkennbar sein, begonnen vom Kerzenleuchter bis zur Mesusa, das Gespräch im Haus soll um jüdische Themen, inklusive Israels, kreisen, die Festtage sollen gefeiert, die Kaschrut und die traditionellen Tischgebete eingehalten werden wie auch die ehrfurchtsvollen Beziehungen unter den Familienmitgliedern. 5.2.4.4 Das Gebet Das Gebet soll gemäß der Tradition nicht nur Bittgebet, sondern Gotteslob, Bußgebet, Dank und zugleich religiös-theologische Belehrung sein – diese unterschiedlichen Bedeutungen werden in dem Kapitel ausführlich erörtert. Als durchaus moderne Deutungen des Gebetes liest man da unter anderem, das Gebet helfe dem Menschen, sich selbst zu transzendieren und die Welt aus Gottes Perspektive wahrzunehmen und so die eigenen Wertsetzungen in Frage zu stellen. © Campus Verlag
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Das Gebet hilft der persönlichen psychischen Gesundheit, wozu allerdings die Beziehung zu anderen Menschen hinzugehört, was durch das Gemeindegebet erreicht wird. Richtig erkannt ist die Funktion des traditionellen Gebetbuches als »theologisches Lehrbuch«, indem die wichtigsten Glaubensvorstellungen in den verschiedenen Gebeten täglich rezitiert werden. Ganz im Sinne der Aufklärung und Emanzipation wird auch auf die ästhetischen Seiten und Werte des Gebets hingewiesen, die zugleich zum Ausdruck der eigenen Emotionen dienen, wie auch als Hinweis auf die ethisch-moralischen Verpflichtungen. Schließlich wird das alte traditionelle Motiv des Betens genannt: Das Beten ist ein Gebot. Auch mystische Motive des Gebets werden genannt: Manche empfinden das Gebet als lebendiges Bindeglied zu Gott, oder gar eine direkte Kommunikation mit ihm – all dies wird indessen als mehr persönliche Einstellung dargestellt. Abschließend wird auf die brennende moderne Frage der Erhörung des Gebets durch Gott eingegangen. Hier wird eine eher salomonisch-psychologische Antwort gegeben, dass nämlich das Gebet den Menschen verändern kann und dadurch die Erfüllung der Gebete in neuer unerwarteter Weise sich einstellt oder auch der lange Atem der Beter den Erfolg sichtbar werden lassen kann: »Kann Gott unsere Gebete erhören und tut er dies tatsächlich? Wie können wir dies wissen? Manches Mal werden unsere Gebete erhört, weil wir durch das Beten verändert werden und dadurch unser Ziel erreicht wird. Dies gilt für das kollektive wie das individuelle Gebet gleichermaßen. So fand das jahrhundertelange Gebet für die Wiederherstellung von Zion, das die Hoffnung auf Rückkehr in den Herzen unseres Volkes am Leben erhielt, seine Erfüllung in der Wiedergeburt des Staates Israel. Aber wie immer wir das Phänomen des Gebetes verstehen, vieles seiner Bedeutung liegt darin, dass es unseren Sehnsüchten und Bestrebungen Ausdruck verleiht, unseren Charakter verfeinert und eine starke Beziehung zu Gott herstellt.« Wichtig ist den Autoren, eine Balance zwischen dem festgelegten öffentlichen Gemeindegebet und dem persönlich hingebungsvollen Beten, ausgedrückt durch die beiden Begriffe Keva (feste Regel) und Kawwana (innerlich beteiligte Intention). Das feste Gemeindegebet hat im Unterschied zum zuvor skizzierten Gebet insgesamt die Aufgabe den Mitgliedern der Gemeinschaft ein anhaltendes Bewusstsein von Gott und der jüdischen Tradition zu sichern. Wiewohl die konservative Bewegung weiß, dass man als Jude in allen Sprachen beten darf, wird doch bevorzugt in Hebräisch gebetet, um nicht durch Übersetzungen die ursprünglichen Bedeutungen und Konnotationen der Gebetsworte zu verlieren. Außerdem schaffe das hebräische Gebet eine Verbindung zu allen Juden, wo immer sie in der Welt beten, obendrein bilde das Hebräische mit seiner Intonation ein emotionales Band, das alle Juden, die so beten, verbindet. – © Campus Verlag
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Dies sind zweifellos moderne Deutungen des Betens, die indessen einer Bewegung, die nicht orthodox, sondern konservativ, und damit der Moderne zugewandt sein will, sehr wohl anstehen. 5.2.4.5 Das Tora-Studium Das beständige Torastudium von Männern wie Frauen wird als verpflichtendes Gebot gesehen, wobei die Einbeziehung der Frauen natürlich eine moderne Ausweitung darstellt. Das Torastudium umfasst alle Schriften der jüdischen Tradition, wobei allerdings im Unterschied zum orthodoxen Modus, eine Verbindung von traditionellem Lernen mit den modernen Natur- und GeistesWissenschaften gefordert wird, um nicht nur rein Routinewissen zu erlangen, sondern ein tieferes Verstehen der der Tradition, ihrer Geschichte und Glaubensvorstellungen zu erreichen. Aber auch was die rein jüdische Seite dieses Studiums betrifft hängen die Autoren der Verlautbarung die Messlatte sehr hoch: »Ein gebildeter Jude muss in den religiösen Texten der jüdischen Tradition zuhause sein. Das jüdische Wissen umfasst aber sehr viel mehr. Ein gebildeter Jude muss deshalb mit der jüdischen Literatur, der Geschichte, Philosophie und den Künsten vertraut sein. Das Studium dieser Gegenstände fördert unser Verständnis der jüdischen Geschichte und Religion. Die ästhetischen, emotionalen und intellektuellen Komponenten all dieser Gegenstände helfen, das jüdische Engagement zum Erwachen oder zur Wiederbelebung anzuregen und mehren die Freude daran, jüdisch zu sein.«39 Mit solchen Auffassungen stellt sich das Conservative Judaism nicht einfach als eine religiöse Konfession dar, sondern als eine national-kulturelle Bewegung, als ein hochintellektuelles Judentum, als jüdisches Bildungsbürgertum mit höchsten Ansprüchen. Kein Wunder, dass diesem Abschnitt noch ein eigener Passus folgt, der auf die wichtige Rolle eines »Creative Jewish Scholarship« hinweist, das nicht nur rezeptiv sein dürfe, sondern in all den genannten Bereichen auch Neues hervorbringen müsse.
39
Emet VeʼEmunah, S. 44.
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Jüdische Denominationen 5.3
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Conservative Judaism: Religiöse Nation – nationale Religion. Die Sicht von Ismar Schorsch
5.3.1 Vorbemerkung Ismar Schorsch (geb. 1935) – ehemals Professor und Rektor (Chancellor) der theologischen Mutterinstitution der konservativen Bewegung des amerikanischen Judentums, des Jewish Theological Seminary, hat im Jahre 1995 einen Aufsatz mit einem programmatischen Titel vorgelegt, der für sich selber spricht: The Sacred Cluster. The Core Values of Conservative Judaism.40 Der Kanzler des Seminars, der allseits anerkannten Leitinstitution des Conservative Judaism, setzt mit sieben Grundwerten (core values) ganz andere Akzente, für das konservative Judentum als Emet Ve’Emunah. Bei ihm steht am Ende, was in Emet Ve’Emunah den Anfang ausmachte, nämlich Gott, während der zweite Themenkomplex des Kommissionstextes zum »Jüdischen Volk« bei Schorsch den Anfang bildet, hier allerdings mit der vorrangigen Bedeutung des Staates Israel. Die sieben Grund-Werte von Schorsch, atmen den kräftigen Hauch eines jüdischen Kulturzionismus etwa im Sinne von Achad Haam,41 vermischt mit religiöszionistischem Geist. Diese sieben Grundwerte sind die Folgenden: 1. Die Zentralität des modernen Israel, 2. Hebräisch: Die unersetzbare Sprache jüdischer Ausdrucksweise, 3. Hingabe an das Ideal eines Gesamt-Israel (Klal Jisraʼel), 4. Die bestimmende Rolle der Tora in der Neugestaltung des Judentums, 5. Das ToraStudium, 6. Die Halacha als die Gestaltungsherrschaft des jüdischen Lebens. 7. Der Glaube an Gott. In diesen Punkten und in dieser Hierarchie steht das reale und wirkliche nationale jüdische Leben im Vordergrund. Es ist die national-religiöse Kultur, zu der auch das konkrete Land Israel und dessen Staat gehört, welchen hier das Hauptinteresse gilt und die als Hauptaufgabe des konservativen Judentums betrachtet werden.
5.3.2 Erster Grundwert: Die Zentralität des modernen Israel Der erste Grundwert von Ismar Schorsch für das Conservative Judaism liest sich fast wie ein zionistisches Manifest. Das Land Israel ist Ausgangspunkt und Ziel des Judentums. Die Zentralität des Landes, und gemeint ist damit der moderne Staat, wird belegt durch biblische Texte, und bestätigt durch die Unterstützung Israels in den amerikanisch-jüdischen Gremien, die steten Besuche konservativer 40
I. Schorsch, The Sacred Cluster. The Core Values of Conservative Judaism, in: Conservative Judaism 47, 3 (1995), S. 3–12; https://www.jewishvirtuallibrary.org/the-core-values-ofconservative-judaism – die Seitenangaben nach dieser online-Ausgabe.
41
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4. S. 175–185.
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Juden in Israel, die Kinderverschickung auf israelische Ferienlager und die Unterstützung israelischer Institutionen. Hintergrund für all dies ist jedoch nicht nur die gute Tradition, sondern auch die negative, die nie weichende Angst vor neuen Verfolgungen im Exil. Nur einige Auszüge aus dem Text sollen dieses national-zionistische Klima beleuchten: »Die Zentralität des modernen Israel steht ganz zu Beginn unserer Grundwerte. Für konservative Juden ist, wie für ihre Vorfahren, Israel nicht alleine das Geburtsland des jüdischen Volkes, sondern auch sein endgültiges Ziel. […] Sein Wohlergehen weicht nie aus unseren Gedanken […] Israelische Erfolge auf dem Schlachtfeld, in den Laboratorien, in der Literatur und Politik erfüllen konservative Juden mit Stolz. Ihr Leben ist eine Dialektik zwischen Heimat und Exil. Wie erfolgreich und assimiliert sie auch sein mögen, in ihnen wohnt die Angst vor dem Antisemitismus, der ihnen in der Diaspora ein vollkommenes Gefühl des Zuhause-Seins verwehrt, wo immer sie auch sein mögen. Und dieses Bewusstsein spiegelt den alles beherrschenden Willen des Conservative Judaism, das Judentum niemals zu entnationalisieren.«42 An dieser Stelle verweist Ismar Schorsch, der Historiker, auf die geistigen Urväter dieser seiner Haltung, auf den Autor der »most nationalistic history oft the Jews«, nämlich Heinrich Graetz vom Breslauer Rabbinerseminar und den von ihm unterstützten ersten zionistischen Autor Moses Hess.43 Schorsch will mit alledem der Diaspora nicht jeglichen spirituellen Wert absprechen und alle Juden auffordern, nach Israel auszuwandern – und dies obwohl er glaubt, dass die Situation des Judentums als Religion in der Diaspora gesünder erscheine und unter dem Säkularismus in Israel und aus Mangel an spirituellen Alternativen – wie etwa des Conservative Judaism – leide. »Und dennoch, das Mirakel und Mysterium der Wiederherstellung Israels nach zwei Jahrtausenden aus der Asche des Holocaust wird weiterhin die konservativen Juden mit vollkommenem Erstaunen und tiefer Freude überwältigen.«44
5.3.3 Zweiter Grundwert: Das Hebräische – die unersetzbare Sprache jüdischer Ausdrucksweise Das Ansinnen, den Gebrauch des Hebräischen im jüdischen Gottesdienst auszusetzen, war, so Schorsch, für den Begründer des konservativen Judentums, Zach-
42
Schorsch, Core Values, S. 1.
43
Zu Hess siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 65–117.
44
Schorsch, Core Values, S. 1.
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arias Frankel, der Grund, im Jahre 1845 die Rabbinerkonferenz in Frankfurt am Main zu verlassen. Das Hebräische, so alt wie das Volk, spiegelt in seinen vielen Schichten das ganze Gewebe und die Textur des Judentums, weshalb die Fähigkeit, Hebräisch lesen zu können, der Schlüssel zum Judentum ist – ohne Hebräisch werde man das Judentum niemals ganz und wirklich verstehen. Das Hebräische ist Symbol der historischen Kontinuität und der nationalen Einheit des Judentums. Darum, so glaubt Schorsch, müsse die zentrale Aufgabe, ja die Definition des Zionismus heute sein, die hebräische Sprechfähigkeit zu vermitteln, denn Sprache und Kultur hielten das jüdische Volk fester zusammen als alle erdenklichen ideologischen Konstrukte.
5.3.4 Dritter Grundwert: Hingabe an das Ideal eines Gesamt-Israel (Klal Jisraʼel) Aus den beiden bislang aufgeführten Grundwerten ergibt sich der dritte wie von selbst. Die Einheit aller Juden, welcher Richtung und Parteiung sie auch angehören mögen, muss als Wiederklang der alten rabbinischen Formel von der allseitigen Verantwortung aller Juden füreinander als hoher Wert gelten. Die Wertschätzung dieses Gedankens dürfe nicht, wie man dem konservativen Judentum oft vorhalte, als ethnisches Prinzip verstanden werden, sondern rührt aus einem starken historischen Bewusstsein. Es ist das Wissen um die jüdische Geschichte, ja eine historische Romantik, welche die jüdische Tradition in der normativen Kraft einer heroischen Vergangenheit verwurzelt sieht.
5.3.5 Vierter Grundwert: Die bestimmende Rolle der Tora in der Neugestaltung des Judentums Dass die Tora als Offenbarung des göttlichen Willens zentral für Israel sei, war schon eine biblische und rabbinische Auffassung. Schorsch will diese zentrale Stellung der Tora wiederbeleben, etwa durch eine Verbesserung der liturgischen Gestaltung der Toralesung am Schabbat, insbesondere durch eine das Verständnis der Lesung fördernde Vorbereitung der Gemeinde. Zur Begründung dieser Rolle verweist Schorsch jedoch nicht darauf, dass die Tora Gottes Offenbarung sei, sondern wie auch Jeschajahu Leibowitz45 darauf, dass die Tora ihre Autorität von deren Akzeptanz durch das jüdische Volk habe, die Tora ist die »portative Heimat« der Juden. Es ist dies eine Begründung die sich organisch in die bisherige Argumentationskette von Schorsch fügt, nämlich das National-historischKulturelle ins Zentrum seiner Werteskala zu stellen. Nicht von einer Offenba45
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. I zu J. Leibowitz.
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rung kann der Historiker reden, sondern alleine von der Tatsache, dass Israel sich an diese Tora gehalten hat. Und dies kann aus Sicht des Historikers die einzig nachweisbare und akzeptable Begründung sein: »Für konservative Juden ist die Tora nicht weniger heilig (sacred), wenn auch weniger zentral als sie für ihre vormodernen Vorfahren war. Ich verwende hier bewusst den Begriff ›heilig‹. Die Tora ist der Grundtext des Judentums, die Spitze einer umgekehrten Pyramide unendlicher Kommentare, nicht weil sie göttlich, sondern weil sie heilig ist, das heißt sie ist vom jüdischen Volk als ihre geistige Grundschrift angenommen worden. Diese Formulierung vermeidet die spaltende und nutzlose Frage nach deren Ursprung und den übelriechenden Sumpf der Häresie. Das Gefühl der persönlichen Verpflichtung, einem Gebot zu unterstehen, rührt nicht von der göttlichen Autorschaft her, sondern vom Konsens der Gemeinschaft. Die Schriftliche wie auch nicht weniger die Mündliche Tora sind ein Echo der Gott-menschlichen Begegnung mit einem Minimum an Offenbarung und einem Maximum an Interpretation. Man kann den Zunder nicht mehr vom Funken unterscheiden. Was die Geschichte bezeugen kann, ist, dass die Gemeinschaft Israels sich stets um die Wärme dieser Flamme geschart hat.«46
5.3.6 Fünfter Grundwert: Das Tora-Studium Die vorangehenden Grundwerte, welche das Conservative Judaism auf einem national-kulturellen Fundament aufruhen sahen, bei dem auch die Tora ein Teil dieser allgemein akzeptierten kulturellen Tradition ist, führen konsequenterweise auch zu einer entsprechenden Neudeutung des alten biblischen Gebotes, dass man als Israelit und Jude stets in der Tora studieren solle.47 Die Tora, in ihrem umfassenden Sinn als Grundtext und Interpretation, ist nun als Vermächtnis der nationalen Vergangenheit das Zentrum und der Hauptgegenstand im Bemühen um das Verständnis des eigenen Judentums in der Gegenwart. Und so wie in der Vergangenheit jede Generation die Tora neu durch ihre eigene Deutung rezipiert und verstanden hat, so muss auch die Gegenwart aus ihrer je eigenen Situation heraus diese Tradition rezipieren. Und dazu gehört in der Moderne eben auch die historisch-kritische Erforschung des gesamten Traditionskorpus, als Aufgabe einer umfassenden Mentalitätsgeschichte und zugleich als Eintritt in die lange Kette der Tora-Deuter.
46
Schorsch, Core Values, S. 3.
47
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 261.
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5.3.7 Sechster Grundwert: Die Halacha als die Gestaltungsherrschaft des jüdischen Lebens Auch der Grundsatz, dass die Halacha das jüdische Leben bestimmen müsse, erscheint nun nicht mehr im theologischen Horizont, als Gehorsam gegenüber Gottes Gebot, sondern im geschichtlichen Kontext, in welchem die Halacha als Zaun um die jüdische Kultur und das jüdische Volk, wie auch als Wegweiser für den Juden in seiner jüdischen Gemeinschaft verstanden wird. Die Halacha entspringt nicht dem sinaitischen Gebot, sondern dem »grundlegenden Bestreben des Judentums, Ethik und Theologie in der täglichen Praxis zu konkretisieren.« Die Verpflichtung für den Juden entspringt letztlich nicht Gottes Gebot, sondern der jüdischen Tradition. Da das Conservative Judaism nicht biblisches, sondern rabbinisches Judentum ist, gehört das rabbinische Rechtsgebäude zu dieser verpflichtenden Tradition hinzu, weshalb sie von den Konservativen nicht über Bord geworfen, sondern allenfalls behutsam den neuen Bedürfnissen angepasst wird. Schorsch ist überzeugt, dass der konservative Jude aus Respekt vor der Tradition und der Gesamtheit Israels dazu neigt, die persönliche Autonomie zu opfern, um ein vernünftiges Maß an Konsens und Einheitlichkeit des Gemeinschaftslebens zu bewahren.48 Um diese Aufforderung zum Verzicht auf die individuelle Autonomie etwas akzeptabler erscheinen zu lassen, greift Schorsch zu dem alten Mittel der Taʽame ha-Mizwot, also rationale Gründe für die Sinnhaftigkeit solcher Gebote bereitzustellen.49 Den kollektiven Nutzen sieht er darin, dass durch das Gebot der Bundesgedanke lebendig gehalten wird, nach welchem der Mensch ein Partner Gottes in der Aufgabe zur Vollendung der Schöpfung sei. Dem Individuum mögen die Gebote helfen, sein Leben nach eingrenzenden Regeln zu steuern, weil das Glück eben nicht immer davon abhänge, alles zu tun was zu tun möglich wäre. Des Weiteren hülfen die Gebote, den Menschen gemeinschaftsfähig zu machen, manche auch um Ruheräume der Heiligkeit für den Menschen zu schaffen, in denen das Gefühl der Gottesnähe vorherrscht. Zu Letzterem taugen natürlich traditionellerweise Schabbat und die Feiertage, welchen Schorsch – ganz im Sinne der rabbinischen Tradition – gar die Fähigkeit zuschreibt, einen Geschmack der Ewigkeit zu vermitteln. Gerade dies sei in Zeiten, in welchen der Jude aus dem umhegten Raum seines Judentums hinaus in die allgemeine Mehrheitskultur geworfen sei, besonders wichtig. In dieser schwierigen Situation sei die Halacha ein unverzichtbarer Wall gegen die völlige Assimilation und den Synkretismus sowie als Schutz für das Überleben des Judentums.
48
Man vergleiche dazu die Auffassung von Achad Haam, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 188–198.
49
Zu den Taʽame-ha-Mizwot, siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 394. 429. 540; Bd. 2. S. 23. 471. 523. 597. 604; und oben Teil II, Kap. II, Die jüdischen Denominationen, 5.2.2.3, Die Halacha.
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5.3.8 Siebter Grundwert: Der Glaube an Gott Wie schon vermerkt, stellt Ismar Schorsch den »Gottesglauben« an das Ende seiner sieben Grundwerte des Conservative Judaism. Dabei nennt er den Gottesglauben zunächst den »most basic core value of Conservative Judaism«, gründet und knüpft diesen Grundwert dann aber doch an seinen an der Spitze der Hierarchie stehenden Grundwert, nämlich die »Centrality of Modern Israel«, ein Begriff, der, wie gesagt, bei ihm zwischen Staat und Klal-Jisrael (Gesamtisrael) changiert. Es wurde auch schon deutlich, dass all die folgenden Grundwerte diesem höchsten Grundwert funktional eingeordnet wurden. Dieser Zuordnung kann sich daher auch der »most basic value« von Gott nicht entziehen. Den Absatz über den Gottesglauben beginnt Schorsch deshalb so: »Ich komme schließlich zum siebten und grundlegendsten Grundwert des Conservative Judaism: Seinen Glauben an Gott. Dies ist der Wert, der die religiöse Nation, und die nationale Religion begründet. Sie (beide) sind von dem im universellen Monotheismus gründenden Judentum untrennbar. Nimm Gott, das Ziel des jahrtausendealten Strebens von Israel, heraus, dann wird sich alles andere auflösen.«50 Auch hier geht es also nicht eigentlich um Gott an sich, sondern um den Gottesglauben Israels, und um diesen in seiner Eigenschaft als der Kraft, welche das im ersten Grundwert genannte Israel erst hervorbrachte und noch zusammenhält. Das Thema dieses Grundwertes ist also nicht wirklich die ›Theologie‹, sondern ›Israel und der Gottesglaube‹ – des Gottesglaubens, der Israel schuf und weiterhin trägt. Schorsch vergleicht diese magnetische Kraft des Glaubens mit einer schon bei M. G. Schnaber-Levison sichtbar werdenden Denkformel.51 Schorsch vergleicht nämlich das Sprechen von Gott mit dem Reden über die noch unentdeckte Materie des Universums, die wenigstens 90 Prozent aller existierenden Materie ausmache. Die Existenz dieser Materie sei aber nur aus ihrer Wirkung erschlossen, nämlich ihrer Gravitationskraft, welche das gesamte Universum samt all seinen Bewegungen verursacht und zusammenhält. Eine solche Redeweise von Gott ist zugleich eine moderne Wiederaufnahme der maimonidischen Wirkattribute Gottes, die nichts über Gott selbst sagen, sondern nur über die von den Menschen auf der Erde wahrgenommenen Wirkungen der göttlichen Macht.52 Gott, so fährt Schorsch fort, ist der stets unbekannte Verborgene, wie dies die vielen biblischen Offenbarungsgeschichten beschreiben, der sich stets in
50
Schorsch, The Sacred Cluster, Absatz: Belief in God.
51
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 358.
52
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 442–444.
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Wolken oder ähnlichem verbirgt, sich allenfalls hören lässt. Eine dieser Wirkungen dieses unsichtbaren Gottes ist – ähnliches hatte auch Eliezer Berkovits formuliert53 – die Existenz und das Fortbestehen Israels. Mit dieser Wendung ist Schorsch wieder zu seinem ersten Grundwert zurückgekehrt. Israel wird durch seinen Gottesglauben zusammengehalten und dies ist die auf Erden sichtbare Wirkung Gottes. Um diese Wirkwahrnehmung Gottes wieder auf seinen ersten Grundwert zurückzubiegen sagt Schorsch: »Die jüdische Tradition geht im Conservative Judaism ungebrochen weiter, in der das Streben nach Gott nicht zuallererst aus der Vernunft oder der Offenbarung hervorquillt, sondern aus der der blutgetränkten, wertebeladenen und textlich verwurzelten historischen Erfahrung des jüdischen Volkes.« Damit hat Schorsch den Bogen zu seinem eigentlichen Anliegen zurückgespannt, zur Fortexistenz des Volkes Israel mit seinen beiden Polen, dem Staat und der Diaspora. Und so ist es nur konsequent, dass fast alles Weitere, was Schorsch zum Thema Gott zu sagen hat, letztlich der Pflege und Schaffung dieser Volksgemeinschaft Israels gewidmet ist, auch wenn dieser Eindruck durch eine fast poetisch-homiletische Auslegung zur Morgen-Beracha des Gebetbuches durch Schorsch etwas abgemildert wird. Wichtig ist für Schorsch, darauf hinzuweisen, was das Conservative Movement tut, um dieses hier gezeichnete Israel zu pflegen und zu stärken. Es gilt, Israel-Erfahrung zu schaffen, so zum Beispiel in den Sommercamps des Jewish Theological Seminary, wobei Teilnehmer aus Israel und der Diaspora teilnehmen, um die Wirkungen des Gottesglaubens zu perpetuieren.
53
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 594–601.
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6.
Reconstructionist Judaism
6.1
Vorbemerkung
Das Reconstructionist Judaism – neuerlich unter dem Webseitentitel Reconstructing Judaism anzutreffen – wurde von dem Professor am »conservative« Jewish Theological Seminary Mordecai M. Kaplan (1881–1983) durch sein 1934 publiziertes Buch Judaism as a Civilization inauguriert – dies wird unten im Kapitel zu Kaplan ausführlich besprochen.1 Die Resonanz auf das Buch führte 1935 zur Gründung des Zweiwochenjournals Reconstructionist, das Kaplan in der dritten Neuauflage des Buches von 1957 (das außer einem neu hinzugekommenen Foreword seitengleich und unverändert nachgedruckt wurde) selbst als den Beginn des Reconstructionist movement betrachtete.2 1941 publizierte er mit einigen Weggefährten eine neue »rekonstruktionistische« Pesach Haggada, der 1945 ein Sabbath Prayer Book im selben Geiste folgte. Beide lösten im Jewish Theological Seminary einen Entrüstungssturm aus, und wegen des Gebetbuches verhängte die Union of Orthodox Rabbis 1945 sogar den Bann (Ḥerem) gegen Kaplan, wobei das Buch offenbar auch verbrannt wurde. Mit der Eröffnung des Reconsructionist Rabbinical College im Jahre 1968 in Philadelphia war die Rekonstruktionistische Bewegung zu einer eigenen Denomination geworden, was Kaplan nicht betrieben, aber doch akzeptiert hatte, denn er fuhr regelmäßig in das College, um dort zu unterrichten. In einer 2016 publizierten Verlautbarung3 unter dem Titel Reconstructionist Judaism: Who is a Reconstructionist Jew wurden in (sich zum Teil wiederholenden) sieben Punkten die Grundsätze der Bewegung vorgestellt, die sich aus dem Werk Kaplans ableiten, aber nicht in allen Details mit ihm übereinstimmen, sondern spätere eigenständige Entwicklungen aufnehmen. Insgesamt sind sie ein Zeugnis dafür, dass die Bewegung aus dem Conservative Judaism hervorgegangen ist, wie der Vergleich mit den obigen Darstellungen deutlich zeigt.
6.2
Die in steter Entwicklung befindliche religiöse Zivilisation (Kultur) des jüdischen Volkes
Die Grundposition des Rekonstruktionismus ist die Erkenntnis des steten Wandels der jüdischen Kultur, deren Teil die Religion ist: »Die Rekonstruktionisten definieren das Judentum als die stets sich in Entwicklung befindende Kultur des
1
Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. IV, Judentum als Zivilisation.
2
Die Jewish Encyclopedia will den Beginn der Bewegung schon mit der Society for the Advan-
3
https://www.reconstructingjudaism.org/article/who-reconstructionist-jew, (2. Dezember 2016).
cement of Judaism 1922 beginnen lassen.
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jüdischen Volkes« – woraus natürlich der Wille abgeleitet wird, an dieser Veränderung aktiv teilzunehmen. Diese Kultur (civilization) ist mehr als Religion, sie ist historisches Gedächtnis und Bestimmung. Zum Judentum gehört die (zionistische) Verpflichtung dem historischen Heimatland (Land Israels) und der historischen Sprache (Hebräisch) gegenüber, seiner Ethik und Philosophie, seine Literatur und Kunst – die Nähe dieser Positionen zum Conservative Judaism ist unverkennbar. Der Glaube der in dieser Kultur lebenden Menschen war von Generation zu Generation verschieden und so muss auch die Gegenwart ihren jüdischen Glauben für sich selbst neu formulieren. Religion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sie das Medium ist für die menschliche Suche nach letztgültigem Sinn (ultimate meaning) des Lebens und im Leben. Das Ziel dieser Religion ist demnach, einen Sinn für das eigene und das Leben im Allgemeinen zu finden. Und in dieses vorrangige Programm muss sich auch der Gottesbegriff fügen. Demnach ist Gott die Quelle des Sinns für das menschliche Leben. Die Menschen sollen danach trachten, diese sinnstiftende Quelle ihres Lebens in einer von berechtigten Unsicherheiten und Zweifeln begleiteten Suche zu finden, sprich den Sinn im eigenen Leben und Handeln. Da nun der Sinn im konkreten hier und jetzt zu finden ist, heißt es in der Verlautbarung von Gott: »Wir glauben an einen Gott, der in dieser Welt und insbesondere im menschlichen Herzen wohnt. Gott ist die Quelle unserer Großmütigkeit, Empfindsamkeit und Fürsorglichkeit für die uns umgebende Welt. Gott ist auch die Kraft in uns, die uns zur Selbsterfüllung und ethischem Handeln treibt. Wir finden Gott, wenn wir in dieser Welt nach Sinn suchen, wenn wir zum Lernen (study) motiviert sind und daran arbeiten, die Ziele der Moral und sozialen Gerechtigkeit zu verwirklichen.« Das bedeutet, die Sinnsuche, und das ist die Suche nach Gott, muss ihr Ziel in dieser Welt und im menschlichen Herzen haben. Der anthropologische Bezugspunkt des Sitzes des Göttlichen wird dadurch unterstrichen, dass Gott die im menschlichen Herzen wohnende Quelle und im Menschen wirkende Kraft zur Selbstverwirklichung und ethischem Handeln ist.
6.3
Das jüdische Volk
Anlass zur innerjüdischen Auseinandersetzung ist gewiss die Definition des Begriffs des jüdischen Volkes durch die Rekonstruktionisten. Ganz traditionell klingt zunächst die Feststellung, dass man zum jüdischen Volk durch Geburt o© Campus Verlag
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Reconstructionism
der durch freie Wahl gehört. Was dies ganz konkret bedeutet erfährt man auf der Webseite der Bewegung:4 »Der Rekonstruktionismus ist vollkommen egalitär, ein inkludierendes Judentum, in dem Männer und Frauen, homosexuelle und heterosexuelle gleichermaßen einbezogen und willkommen geheißen werden. Wir waren die erste Bewegung, die formal anerkannte, dass ein Kind im vollen Sinne jüdisch ist, gleichgültig ob nur die Mutter oder der Vater jüdisch ist und das Kind als Jude erzogen wurde. Heute verstehen wir unter ›jüdischem Volk‹ ein Kompositum aus Juden nach der Geburt (die von einem jüdischen Elternteil abstammen), aus Wahl-Juden (die formal zum Judentum übergetreten sind) und assoziierten Juden (Nichtjuden, welche in die erweiterte jüdische Familie einheiraten).« In der Verlautbarung wird dies noch kürzer gefasst: »Unter ›jüdischem Volk‹ verstehen wir, dass alle Juden, seien sie es durch Geburt oder freie Wahl, Mitglieder der erweiterten jüdischen Familie sind.« Die Einzigartigkeit des jüdischen Volkes und seines Erbes wird anerkannt, aber nicht im Sinne eines Überlegenheitsanspruchs, weshalb man auch zu allseitigem Dialog offen ist. Die Rekonstruktionisten nennen sich selbst überzeugte Zionisten, wenn sie natürlich zugleich Kritik an der Nichtanerkennung der nichtorthodoxen Richtungen in Israel Kritik üben, wie auch an manchen Entscheidungen der israelischen Politik.5 Selbstverständlich wird die gleichzeitige Bedeutung der Diaspora betont.
6.4
Die Vergangenheit hat ein Votum aber kein Veto
Der historische Blick auf die Vergangenheit soll prüfen, was und in welcher Weise die Erfahrungen der Früheren für die Gegenwart relevant sein können, die Vergangenheit hat ein Votum, aber kein Vetorecht. Deshalb bleibt die eigene 4
https://www.reconstructingjudaism.org/article/reconstructionism-explained
5
Eine schmerzhaft israelkritische, fast antiisraelische Haltung nimmt der politisch linke Rekonstruktionist Arthur Green in seinem Buch »Radical Judaism. Rethinking God and Tradition, New Haven & London 2010, ein. Er ist gegen Nationalstaaten, ist Internationalist und Universalist und liebäugelt mit Martin Bubers Vision eines binationalen Staates: »Unser Glaube und das Erbe unserer Geschichte erlaubt keiner jüdische Gesellschaft, eine kolonialistische zu sein, eine, in der ein sich selbst als ›überlegen‹ erachtender Bevölkerungsteil sich über einen anderen stellt, dessen Ressourcen enteignet, eingeschlossen das Land einer eingeborenen menschlichen Gruppe, der sie die Freiheit raubt.« (S. 146).
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Sicht auf die Gegenwart entscheidend, man muss seine eigene Sicht gegenüber der Tradition finden. Die neuen historischen Gegebenheiten, Holocaust, Staatsgründung Israels, die neuen Familienstrukturen und der andere Umgang zwischen den Geschlechtern, Fragen der ökologischen und nuklearen Bedrohung – all dies muss in einem Miteinander von Tradition und Neubewertung bearbeitet werden.
6.5
Das Verhältnis zur Halacha
Die Halacha als striktes unveränderliches Gesetzeskorpus vom Sinai wird nicht mehr als verbindliche Autorität anerkannt. Vielmehr versteht man das Judentum als einen beständigen Kampf zur Schaffung einer auf heiligen Werten basierenden Gesellschaft. Mit dieser Sicht der Dinge wird die wissenschaftlichhistorische Aufarbeitung der jüdischen Geschichte durch das Conservative Judaism ausdrücklich anerkannt, allerdings setzt der Rekonstruktionismus andere Prioritäten als die konservative Richtung. »Wir glauben, dass die grundlegenden Lehren für unsere Zeit neu untersucht und neu formuliert werden müssen. Darin sehen wir die vorrangige Priorität vor den Details des jüdischen Gesetzes. Die Juden müssen wissen, warum überhaupt sie Juden bleiben sollten, bevor sie sich Sorgen um Veränderungen der Observanz machen.« Die Autoren sehen den wesentlichen Unterschied zwischen den Konservativen und den Rekonstruktionisten darin, wie weit man in der Veränderung des jüdischen Gesetzes gehen kann und wer dazu berechtigt ist. Neben Gelehrten und Rabbinern will die rekonstruktionistische Bewegung hierbei auch engagierte Laien einbeziehen. In einer von den anderen Bewegungen nicht gekannten Deutlichkeit betont das Papier, dass rekonstruktionistische Juden das moderne Leben in einer pluralistischen Gesellschaft mit deren Regeln und Lebensrhythmen ohne Abstriche akzeptieren und bereichernd finden, wie dies in der jüdischen Tradition schon immer der Fall gewesen sei: »Rekonstruktionisten rufen alle Juden auf, diese offene demokratische Gesellschaft anzunehmen, nicht nur weil dieser strukturelle Pluralismus nicht das Verlassen des Judentums erfordert, sondern auch weil die amerikanischen Ideale aufs beste mit den jüdischen Idealen wie sie entwickelt und rekonstruiert werden sollten, übereinstimmen.« Zu dieser ›glücklichen Übereinstimmung‹ gehört natürlich auch die Beteiligung an der als prophetisches Erbe apostrophierten civil rights-Bewegung, an internationalen Friedensbemühungen und an der ökologischen Umweltfürsorge, wobei
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Reconstructionism
eigens auf die Kooperation mit der Schomre Adama (Hüter der Erde) genannten jüdischen Umweltbewegung hingewiesen wird. Nachdem von den Autoren die Nähe und Abgrenzung zum Conservative Judaism schon mehrfach angesprochen wurde, darf auch die Positionsbeschreibung im Verhältnis zur Reform nicht fehlen. Auch das Verhältnis zur ReformBewegung wird als Nähe und Abgrenzung zugleich beschrieben. Die Rekonstruktionisten teilen mit der Reform die Hochschätzung der prophetischen Tradition und des ethischen Monotheismus, sehen in ihm jedoch nicht das Herzstück des Judentums, weil dieses doch eine umfassende Kultur darstellt, in welcher eine solche dogmatische Frage nur einen Mosaikstein bildet. – Im übrigen ist ja auch der von Kaplan übernommene Gottesbegriff als einer menschlichen Kraft zur Sinnsuche etwas vollkommen anderes als eine Lehre vom Monotheismus. – Einen hervorzuhebenden Unterschied zur Reform sieht man auch darin, in welchem Ausmaß die Tradition zu bewahren sei. »Die Rekonstruktionisten ermutigen die Juden, eine größere Breite traditioneller Praktiken in Betracht zu ziehen. […] Das Judentum ist die historisch einzigartige und meist befriedigende Weise, in der das jüdische Volk anhaltenden Sinn in den großen Ereignissen unserer Geschichte und in den besonderen Situationen unseres individuellen Lebens finden kann.« Es zeigt sich auch hier, dass die Papiere der Selbstdarstellung all dieser Bewegungen allemale Konsenspapiere sind, die als »demokratische« Theologie niemals konsequent sein können und sich in Abgrenzungen gegeneinander oft schwer tun.
6.6
Die Hoffnung für die jüdische Zukunft
Die kurze Selbstdarstellung des Reconstructionist Judaism endet mit einer Vision von der Zukunft des Judentums, welche die dezidierte Ausrichtung auf ein aktives Leben in einem pluralistischen Umfeld unterstreicht und nicht über die Grenzen des irdischen Lebens hinausschreitet. Mit seinen fast utopischen Erwartungen kann man es wohl als messianische Hoffnung ohne Messias charakterisieren, wie man sie seit dem 19. Jahrhundert kennt:6 »Wir Rekonstruktionisten stellen uns ein maximal liberales Judentum vor. Das heißt ein Leben voller Studium, Andacht (worship) und Aktivitäten, das dennoch die uneingeschränkte Teilnahme am säkularen Leben unterstützt.
6
Siehe dazu das sogleich nachfolgende Kapitel zu Tikkun ʽOlam.
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Wir hoffen auf ein Judentum, das als reiche Quelle für eine spirituelle Selbstverwirklichung und moralische Herausforderung für unsere Lebensführung dient. Wir träumen von einem jüdischen Volk, das die Spaltungen überwindet und seine Aufgabe in dem einzigen Ziel sieht, die Welt in einen Zustand zu befördern, in der alle als Träger der Gottebenbildlichkeit respektiert werden. Wir stellen uns ein Israel in Frieden vor und ein jüdisches Volk, in Israel wie in der Diaspora, das die Hingabe, das Wissen und den Wohlstand besitzt eine noch reichere Tradition zu entwickeln, um sie an die künftigen Generationen weiterzugeben.«
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7.
Humanistisch-philosophische Richtungen
Tikkun ‘Olam – eine universalistisch sozial-liberale social justice-Bewegung
Es war die Annäherung des frühen Reformjudentums an die protestantische Religion, welche diese Bewegung zur Ablehnung der Auffassung des Judentums als Volk geführt hatte und die sich deshalb nur noch als Religionsgemeinschaft verstand, wie dies auch die Pittsburgh Platform der frühen amerikanischen Reform noch programmatisch formulierte. Ein weiteres Charakteristikum dieser Annäherung war die von Julius Wellhausen in die protestantische Theologie eingeführte Sichtweise des biblischen Judentums. Demnach sind die biblischen Propheten mit einer universalistischen Ethik sozialer Gerechtigkeit aufgetreten und haben zugleich gegen den religiösen Ritus – vor allem des Tempelkults – protestiert. All dies wird in der Pittsburgh Platform von 1885 mit aller wünschenswerten Deutlichkeit aufgenommen,1 erweitert durch die gleichfalls hierzu gehörige Verwerfung eines persönlichen Messias aus dem Hause David. Die Messiaserwartung wurde im Zuge dieser Entnationalisierung zur Erwartung einer messianischen Gesellschaft des Weltfriedens und der Völker übergreifenden sozialen und politischen Gerechtigkeit umgedeutet. Im Zuge dieser Neudeutungen des Judentums, der Entschränkung aus dem nationalen Band, wurde für viele Juden das Judentum zu der universalistischen Ideologie schlechthin. Schließlich kommt noch ein letztes Motiv hinzu, das innerhalb des Judentums seit der Emanzipation verstärkt diskutiert wird, aber nicht ganz neu war, nämlich die Frage der Berechtigung für ein noch von der Mehrheitsgesellschaft separiertes eigenständiges Judentum. Die Antwort war meist die, dass man dem Judentum eine Weltmission unter den Völkern dieser Welt zuschrieb, ihnen eine Botschaft zu überbringen habe. Nach der »Wellhausenschen« Fokussierung des wahren Judentums auf die angeblich universelle Botschaft der Propheten, wurde dies auch im Reformdenken zur hauptsächlichsten Begründung der Zerstreuung der Juden unter die Völker der Welt. Es ist dieser Cocktail von Motiven, so beschreibt dies Jonathan Neumann in seinem überaus lesenswerten Buch To Heal the World? How the Jewish Left corrupts Judaism and Endangers Israel,2 welcher die aus der Ideologie der frühen Reformbewegung herausgewachsenen amerikanischen politischen Linken zur Grundlage der Definition ihres eigenen Judentums verwandten. Besonders erfolgreich wurde diese Bewegung durch die Einführung des Schlagwortes Tikkun ‘Olam: Vollendung der Welt, Heilung der Welt, oder Reparatur der Welt. Ange-
1
Dort unter Punkt 4.2.2, Bibel-Tora-Gesetz und 4.2.3 Universeller antinationaler Messianismus.
2
J. Neumann, To Heal the World? How the Jewish Left Corrupts Judaism and Endangers Israel, New York 2018; und siehe oben Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Nr. 5.2.3.6, Tikkun ʽOlam als jüdische Aufgabe.
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lehnt an die lurianische Kabbala,3 in der dieser Begriff zunächst als Gottes Wiederherstellungstätigkeit der Welt nach dem »Bruch der Gefäße« und hernach als menschliche Tätigkeit im Einsammeln der verstreuten Funken zur Rückführung des im Bruch zerstreuten Lichtes beschrieben wird, wurde der Gedanke des Tikkun ʽOlam ab den dreißiger-vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem pädagogischen und zunehmend politisch-sozialen Konzept. Danach sollte Tikkun ‘Olam bedeuten, dass der Mensch, sprich die Juden, die Aufgabe hätten, als Gottes Partner die Welt wiederherzustellen und so das messianische Königreich auf Erden zu errichten.4 Der Begriff des Tikkun ‘Olam kommt allerdings gelegentlich schon in der früheren rabbinischen Literatur, in Mischna und Talmud, vor und hatte dort die Bedeutung, dass man zur Stabilisierung und Akzeptanz der bestehenden Rechtsverhältnisse, gelegentliche kleine Änderungen oder Ausnahmen zulassen sollte, um nicht die Akzeptanz oder die Struktur des ganzen Systems zu gefährden.5 Dies zu betonen ist wichtig, weil die moderne Adaption geradezu das Gegenteil im Sinn hat, nämlich den fast revolutionären Umsturz der gesamten rechtlichen, sozialen und politischen Verhältnisse. Zu betonen ist außerdem, wie oben schon vermerkt,6 dass der Begriff des Tikkun ‘Olam in der antiken jüdischen Literatur nur selten gebraucht wird und keinesfalls ein zentraler rabbinischer Rechts- oder Ethikbegriff war, ganz im Gegensatz zur modernen Verwendung, wo er zum Zentrum des Judentums schlechthin ernannt wurde. Die moderne amerikanische Bedeutung des Begriffs ist von dessen rabbinischer und kabbalistischer Deutung, das heißt was deren Verwendung, Zielsetzung und Kontext anbelangt, weit entfernt. In der lurianischen Kabbala ist dies zunächst ein kosmologischer Begriff und der Handelnde ist Gott (der Emanator) selbst, der durch die Beteiligung des Menschen am Wiederherstellungswerk zu einem kosmologisch-rituellen Begriff wird, insofern das menschliche Handeln sich auf die Erfüllung der halachischen Gebote konzentriert. In der rabbinischen Verwendung ist er ein Rechtsbegriff für geringfügige Lizenzen der Abweichung vom strengen Recht, damit der ‘Olam, sprich die menschliche Gesellschaft und ihr Rechtssystem, stabil bleibt. In der modernen Verwendung ist der Begriff zunächst eine politische Agenda allgemeiner gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, rechtlicher und auch internatio-
3
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 650–654. 676–680; und oben Jüdisches Denken Bd. 5, Teil II, Die jüdischen Denominationen, Nr. 4.5.3.III Universelle Ethik; Nr. 5.2.3.6 Tikkun ʽOlam als jüdische Aufgabe.
4
Siehe Neuman, To Heal the World, S. 19 ff.
5
Siehe Neumann, To Heal the World, S. 118ff.
6
Teil II, Die jüdischen Denominationen, Nr. 5.2.3.6 Tikkun ʽOlam als jüdische Aufgabe.
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Humanistisch-philosophische Richtungen
nal-politischer Dimension, selbst zur Begründung von Kriegen;7 hinzu kommen ökologische Gesichtspunkte, also Umweltfragen aber auch die Gleichberechtigung der Frauen im Sinne des damals zugleich aufgekommenen Feminismus. Mit anderen Worten, der Begriff des Tikkun ‘Olam dient im amerikanischen Judentum als Begriff zur Begründung für jegliche liberale politische Anliegen, die dadurch zum Mittelpunkt des Judentums erklärt werden. Dank dieser weiten und absolut nicht-partikularistischen Verwendung des Begriffs, hat sie auch weit über das Judentum hinaus Wirkung entfaltet, so insbesondere unter dem Präsidenten Barack Obama, der seit 2009 im Weißen Haus einen im Sinne des Tikkun ‘Olam gestalteten und gedeuteten Pesach-Seder feierte, wie unter diesem Motto auch »demokratische« Politik betrieben wurde.8 Zur Begründung dieses neuen, aber angeblich alten, Mittelpunktes des Judentums wird in den betreffenden Kreisen auch emsig Schriftauslegung betrieben, um zu bestätigen, dass es sich hierbei um die zentralen Elemente des Judentums handele. Dass es bei solchen Deuteversuchen eher um Eis-egese (Hineindeutung) als um Ex-egese (Herausdeutung) handelt, betont Neumann zu Recht mehrfach und bemüht sich, solchen Deutungen philologisch saubere Auslegungen entgegenzustellen. Dies ist in dem hier beschriebenen amerikanisch-jüdischen Kontext wohl auch angebracht, weil die Tikkun ‘Olam-Exegeten wohl des Glaubens sind, ordentliche philologische Arbeit zu leisten und damit rationale Begründungen beizubringen für das, was sie als das Zentrum des Judentums erachten. Aus Sicht des Religionshistorikers oder des Historikers des jüdischen Denkens sind solche philologischen Gegenbeweise indessen nicht eigentlich nötig. Denn der Kenner dieses Denkens weiß, dass das kreative Voranschreiten des jüdischen Denkens sich zwar stets auf die Bibel, die Tora, und die nachbiblischen rabbinischen Schriften etc. beruft, dabei aber meist eben nicht historischkritische Exegese betreibt, sondern »kreative Lektüre«. Dies wird schon an der schlechthin klassischen jüdischen Literatur, dem rabbinischen Midrasch, deutlich, der die biblische Theologie und Weltsicht grundlegend umgestaltet, sich dabei stets auf die biblischen Schriften beruft und dort Dinge entdeckt, die der historisch-philologisch arbeitende Exeget niemals entdecken würde, ganz zu schweigen von den Umbrüchen der mittelalterlichen Philosophie, der Kabbala, der Neuzeit und der Moderne. Dies ist das traditionelle Prinzip der voranschreitenden kreativen Rezeption der Tradition. Das ist der normale Tora-Diskurs, dass man eigene, auch vollkommen neue und nie dagewesene Gedanken als Tora darstellt und einzuflechten weiß – dadurch erhalten sie ihre Legitimität in diesem Diskurs und können auf Akzeptanz hoffen. Insofern tun die Tikkun ʽOlamIdeologen das, was innerhalb der jüdischen Schriftauslegung schon immer getan 7
Siehe Neumann, To Heal the World, S. 19ff.
8
Zu allem bei Neumann, To Heal the World.
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Jüdische Denominationen
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wurde, man sucht, oder besser konstruiert, für sein eigenes oft revolutionäres Denken Anknüpfungspunkte in der Tradition. Entscheidend für die Bewertung dieser neuen Umdeutung des Begriffs Tikkun ‘Olam und dessen Standortverschiebung ist darum nicht, ob sie sich durch eine historisch-kritische Philologie begründen lassen. Entscheidend ist, was hier als Tora, als jüdisches Denken, verkündet wird und was dessen Folgen für das Judentum, die Welt und das Individuum sind. Der Maßstab für eine solche Beurteilung liegt dann aber gleichsam jenseits des gerade von den amerikanischen Eis-egeten erörterten Textes, sondern in der Werteskala des jeweiligen Interpreten und seiner beabsichtigten Leser. In dieser Hinsicht spricht zum Beispiel der Untertitel des Buches von Neumann eine klare Sprache, der da lautet: »How the Jewish Left corrupts Judaism and endangers Israel.« Der Grund für diese Beurteilung Neumanns ist, dass der durch die Neudeutung auf den Thron gehobene ethische und soziale Universalismus dem Judentum als eigenem Kultur- und Religionsfaktor seine separate Notwendigkeit oder gar Berechtigung abspricht und letztlich zu einer vollkommenen Assimilation und Auflösung des Judentums führen sollte und dass er in manche Kreisen geradezu zu einen jüdischem Antisemitismus führt. Bezüglich des Staates Israel bedeutet diese Ideologie, dass ihr die Begründung eines jüdischen Staates natürlich widerspricht, dass sie in diesem jüdischen Staat eine Ungerechtigkeit sieht, nämlich als kolonialistisches Erbe, dessen Beharren, ein jüdischer Staat bleiben zu wollen, als Rassismus und Ausgrenzung der palästinensischen Araber diskreditiert wird, weshalb auch die heftigsten jüdischen Befürworter von BDS, also Boykott, Delegitimierung und Sanktionen, gegen den Staat Israel und seine Bewohner aus Kreisen kommen, die sich dem Motto des Tikkun ‘Olam zuordnen. Anzumerken ist noch, dass die Ideologie des so konzipierten Tikkun ‘Olam nicht nur in den linksliberalen politisch interessierten Kreisen verbreitet war und ist, sondern auch in die nichtorthodoxen Denominationen des Judentums – wenn auch nicht mit deren antizionistischen Reflexen – eingedrungen ist, wie die im Vorangehenden besprochenen Selbstdarstellungen veranschaulichten. Dies hat, wie auch das sogleich zu Vermerkende zeigt, seine Parallelen im christlichen Protestantismus. Abschließend muss darum an dieser Stelle nochmals zum Anfang zurückgekehrt werden. So wie die Entpartikularisierung des frühen Reformjudentums und der neuen Linken letztlich auf eine Protestantisierung des Judentums zurückgeht, so ist auch die unter dem Motto des Tikkun ‘Olam firmierende jüdisch-amerikanische »social-justice-Bewegung«,9 ein Echo oder Abbild der protestantischamerikanischen Bewegung des Social Gospel, des späten 19. und frühen zwan9
Zu ihr siehe, S. Curtis, A Consuming Faith. The Social Gospel and Modern American Culture, Baltimore and London 1991.
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zigsten Jahrhunderts, die sich zur Aufgabe stellte, den sozialen Kampf im Sinne ihres Christentums zu kämpfen, um durch eigenes Tun das Königreich Gottes auf dieser Erde zu errichten. Auch diese Bewegung war dezidiert liberal und gleichfalls in verschiedene Richtungen zersplittert wie ihr nachfolgendes jüdisches Pendant. In dieser christlichen Version war der Fokus der Religiosität ebenso vom Individuum auf die gesellschaftlichen Institutionen gelenkt worden, die einer Verbesserung bedürften. Dass sich dieses protestantische soziale Evangelium ausdrücklich auf die »Hebräische Botschaft« berief, konnte die jüdische Aufnahme dieser Art Religion umso mehr beflügeln. Einer der wichtigsten Theologen dieser christlichen Bewegung formulierte dies so: »Das social gospel (soziale Evangelium) ist tatsächlich das älteste aller Evangelien. Es ist ›auf den Fundamenten der Apostel und Propheten gegründet‹. Sein Wesen ist der hebräische Glaube, an dem auch Jesus festhielt. Wenn die Propheten je über den ›Plan der Erlösung‹ sprachen, meinten sie damit die soziale Erlösung der Nation. Solange Johannes der Täufer und Jesus das Evangelium verkündeten, war der zentrale Begriff das Königreich Gottes. Und die ethische Lehre beider, die der praktische Kommentar und die Definition der Königreichs-Idee war, hielt Ausschau nach einer höheren sozialen Ordnung, in der neue ethische Standards verwirklicht werden könnten.«10 Als jüdische Vertreter aus diesem, wie gesagt durchaus vielseitigen und differenzierten Lager sollen hier wenigstens zwei Personen beispielhaft genannt werden, Michael Walzer11 und Arthur Green, nachdem eine der heftigsten und irritierendsten jüdischen Gegnerinnen des Staates Israel, Judith Butler, schon im Band vier des Jüdischen Denkens Erwähnung fand.12
8.
Humanistic Judaism
Das Humanistic Judaism ist eine von Rabbi Sherwin Wine (1928–2007) 1963 gegründete Bewegung eines nicht theistischen Judentums,13 das sich seit 1986, 10
Walter Rauschenbusch, A Theology for the Social Gospel, New York-Nashville 1917 (Neu-
11
Zu ihm siehe noch Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. II, Nr. 2.3.
druck), S. 24. 12
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 430–433.
13
Weitere Begleitorganisationen wurden in den nachfolgenden Jahren gegründet, Associaton of Humanistic Rabbis (1967), Society for Humanistic Judaism (1969), Congress of Secular Jewish Organizations (1970), International Institute for Secular Humanistic Judaism (1985), Tmura-IISHJ Israel (ein Ableger des vorangehenden in Israel 2004).
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auch die USA übergreifend, als International Federation of Secular Humanistic Jews darstellt. Die grundlegende programmatische Schrift von Wine, der im vorliegenden Band ein eigenes Kapitel gewidmet ist, trägt den Titel Judaism Beyond God.14 Wiewohl als säkulare Bewegung definiert, hat sie dennoch eine religionsförmige Organisation, mit »Tempeln«, Rabbinern und Rabbinerinnen, einer Ausbildungsstätte für die humanistischen »Geistlichen« und Führungspersonen sowie die zugehörigen Publikationen zur Philosophie dieser Bewegung und einen reich gestalteten Internetauftritt. Wie die anderen jüdischen Bewegungen verabschiedete die Föderation eine Reihe von Proklamationen, in denen sie ihre Grundsätze und Ziele formulierte. Diese sollen im Folgenden skizziert werden. Die Verlautbarungen von 1986, 1988 und 1994 sind allesamt im Anhang von Sherwin Wines Judaism Beyond God publiziert.15 Die Bewegung versteht sich als Vertreterin eines nichtreligiösen, säkularen Judentums, welches die Welt ohne Transzendenzbezüge verstehen und in ihrer Welterkenntnis alleine auf die Vernunft gestützt sein will, weil sie an eine außerirdische in das Weltgeschehen eingreifende Macht nicht glauben kann. Trotz dieser Auffassung, welche sie mit nicht-jüdischen Humanisten teilt und somit letztlich universalistisch ausgerichtet ist, glauben die »säkularen Juden« an den Wert einer partikularen Weiterexistenz des Judentums, der jüdischen Identität und des jüdischen Volkes. Die Geschichte dieses Volkes ist keine aus der Transzendenz gesteuerte, sondern eine durch und durch menschgemachte. In ihrer säkularen Definition des Judentums weiß die Bewegung sich klar gegen einen wiedererwachenden jüdischen Fundamentalismus in Israel wie in der Diaspora gerichtet, insbesondere gegen den »orthodoxen Zwang im Staat Israel, der die Demokratie im jüdischen Heimatland und die Existenz des Staates bedroht«. Dabei wird eigens betont, dass eine tiefe Verbundenheit zum Staat Israel samt seiner pluralen Kultur ein integraler Teil der humanistisch-jüdischen Identität sein muss. In der Frage der jüdischen Identität weiß man sich an entscheidenden Punkten von der israelischen und orthodoxen Doktrin getrennt. So etwa in der zweiten Verlautbarung der Bewegung unter dem Titel Who Is a Jew?:
14
S. T. Wine, Judaism Beyond God: A Radical New Way to Be Jewish, Sherwin T. Wine, KTAV Publishing House and Society for Humanistic Judaism, 1996; weitere Publikationen: Judith Seid, God-Optional Judaism: Alternatives for Cultural Jews Who Love Their History, Heritage, and Community, Citadel Press, 2001; Judaism In A Secular Age – An Anthology of Secular Humanistic Jewish Thought, Edited by: Renee Kogel and Zev Katz, KTAV Publishing House and International Institute for Secular Humanistic Judaism, 1995; Jews Without Judaism: Conversations with an Unconventional Rabbi, Daniel Friedman, Prometheus Books, 2002.
15
Online auch unter: http://www.shj.org/humanistic-jewish-life/issues-and-resolutions/mean/
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Humanistisch-philosophische Richtungen
»Als Antwort auf die destruktive Definition des Wesens jüdischer Identität, die derzeit von einigen orthodoxen Autoritäten verkündet wird, und im Namen der historischen Erfahrung des jüdischen Volkes, stellen wir fest: Ein Jude ist eine Person jüdischer Abstammung [sei sie matri- oder patrilinear] oder jede anderen Person, die sich selbst als Jude erklärt und sich mit der jüdischen Geschichte, den ethischen Werten, der Kultur, der Zivilisation und dem Schicksal des jüdischen Volkes identifiziert.«16 Also weder die Religion, noch die Halacha sollen über die Definition des JudeSeins bestimmen, sondern letztlich das Bewusstsein des Individuums. Dies betrifft insbesondere auch die Sprösslinge von sogenannten Mischehen, die ohne »Konversion« als Juden im Vollsinne zu betrachten sind. Alleine in einer so weiten Sicht des Judentums sieht man angesichts der jüdischen Realität die Möglichkeit der Weiterexistenz des jüdischen Volkes als eines »Welt-Volkes«. Diese Realität ist pluralistisch in jeder Hinsicht, sei es sprachlich, literarisch, sei es in spezifischer historischer Erinnerung und in ethischen Werten. Man ist sich angesichts dieser Weitfassung des Judentums sehr wohl bewusst, dass sich dank dieses individuellen und kollektiven Pluralismus seit der Emanzipation der Charakter des jüdischen Volkes grundlegend verändert hat und sieht darin etwas dezidiert Positives und Kreatives, da es keine nur einzige Weise gibt, Jude zu sein. Natürlich sieht man auch in der humanistischen Bewegung die Notwendigkeit, dieses Jude-Sein konkret zu pflegen und zum Ausdruck zu bringen. Der 1994 bei der fünften zweijährlichen Konferenz, dieses Mal in Moskau, dafür erstellte Katalog zeigt ein durchaus komplexes Beziehungsbewusstsein zur Tradition, in dem sich Wissenschaft, Universalismus und religiös-nationale Tradition miteinander verschlingen – man erinnere sich an die Auffassungen des frühen Zionisten Moses Hess, der in der Religion Israels national-religiöse Manifeste sah.17 Der Katalog dieser Verlautbarung lautet: »Säkulare humanistische Juden suchen aktiv nach Wegen, das Judentum einen bedeutungsvollen Teil ihres täglichen Lebens sein zu lassen und die Solidarität mit Juden weltweit zu stärken. Dazu gehört unter anderem: a. Das Studium der jüdischen Geschichte, Literatur und Kultur als Mittel zum Verständnis der vollen Weite jüdischer Erfahrung, insbesondere von deren säkularen und humanistischen Dimensionen. b. Das Feiern der jüdischen Feste und Zeremonien des Lebenszyklus als kulturelle Ausdrucksweisen der natürlichen und der menschlichen Lebenszyklen und der Ereignisse der jüdischen Geschichte. Säkulare humanistische 16
Beyond God, S. 271–272.
17
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 78–80.
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Jüdische Denominationen
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Juden fühlen sich frei, Aspekte der traditionellen Observanz zu übernehmen, die sie als bedeutsam erachten, oder andere anzupassen, oder gar neue Formen zu gestalten, welche den Bedürfnissen der Gegenwart und künftiger Generationen entsprechen. c. Das Lernen und Gebrauchen einer oder mehrerer jüdischer Sprachen, insbesondere des Hebräischen, der historischen Sprache des jüdischen Volkes und der modernen Sprache des Staates Israel, ebenso Jiddisch, Ladino und andere jüdische Sprachen. Jede dieser Sprachen leistet ihren spezifischen Beitrag zur jüdischen und humanistischen Kultur, und jede von ihnen vermittelt einen intimen Kontakt mit den Erinnerungen, der Kreativität und den Werten des jüdischen Volkes. d. Das Einhalten ethischer Standards, welche auf solchen humanistischen Werten beruhen wie persönliche Autonomie, Würde, Gerechtigkeit und Widerstand gegen Tyrannei, Ausbeutung und Unterdrückung – Werte die aus der Erfahrung und der Literatur des jüdischen Volkes fließen. e. Die Teilnahme im Wirken der weiteren jüdischen Gemeinschaft und das verteidigen der Menschenrechte aller Völker weltweit.«18 Für weitere Seiten der Auffassungen des Humanistic Judaism verweise ich auf das Kapitel zu Sherwin Wine in diesem Band.19
9.
Philosophie als eine die Denominationen übergreifende selbständige Form jüdischer Selbstexplikation
9.1
Vorbemerkung
Das rationale Denken als Medium der Selbstexplikation des Judentums hat das Judentum seit dem Altertum begleitet, war aber nicht unumstritten, wurde oft als illegitim und unjüdisch erachtet, vor allem nachdem sich dieses Denken als »Philosophie« ein griechisches Gewand angelegt hatte. In der Gegenwart tritt die Philosophie mit neuer selbstbewusster Stimme sogar neben den oben gezeichneten Denominationen als eigenständige »Richtung« des Judentums auf, die sich vor allem in akademischen Kreisen größerer Beliebtheit erfreut und von vielen schlechthin als das Medium moderner Selbstbesinnung und Selbstdarstellung des Judentums in der Zukunft aufgefasst wird. Wie es dazu gekommen ist, bedarf eines kurzen Rückblicks in die Geschichte und der Nachfrage, welche Stellung die Philosophie, oder überhaupt das rationale Denken, das ohne Offenbarung auszu-
18
Beyond God, S. 276.
19
Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. V, zu Wine.
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Humanistisch-philosophische Richtungen
kommen beansprucht, von der Zeit des biblischen Israel bis herein in das postmoderne Judentum hatte und hat.
9.2.
»Philosophie« und »Weisheit« – als rationale Denkformen im Judentum
Vom Beginn bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es eine innerjüdische Debatte, um die Stellung der Philosophie in der jüdischen Kultur, ob sie dort ein von außen übernommener Fremdkörper, oder eine legitime Ausdrucksform jüdischer Eigenart sei. Es scheint indessen, dass diese Diskussion selbst ein spezifisches Phänomen des Zeitgeistes und der kulturellen Rahmenbedingungen war, in der sie überhaupt erst aufgekommen ist. Diese Debatte krankte offenbar von allem Anfang daran, dass man als Maßstab der Beurteilung dieser Frage eine aus der griechisch-römischen Denkkultur überkommene Definition für »Philosophie« übernommen hatte. Versteht man unter Philosophie zunächst die Anwendung der menschlichen Vernunft bei der Suche nach Antworten auf Fragen des täglichen und allgemeinen menschlichen Lebens, nach den Rechten und Pflichten des Menschen, nach Handlungsnormen, aber auch nach dem Sinn und Herkommen dieser Welt, im Gegensatz zur Berufung auf eine aus dem Jenseits dieser Welt stammenden Offenbarung, so ist eine so definierte »Philosophie« nicht wirklich etwas Neues innerhalb der israelitisch-jüdischen Kultur. Definiert man Philosophie als Gebrauch der menschlichen Vernunft zur Beantwortung der genannten Fragen, so ist das, was im Mittelalter in Form des muslimischen Kalam und der aristotelischen und platonischen Denkweisen im Judentum aufgekommen ist, nichts wirklich Neues, umso mehr, wenn man Philo von Alexandria mit einbezieht.20 Legt man die Verwendung der vernünftigen menschlichen Denkfähigkeit und die Fähigkeit des Menschen, seine Fragen aufgrund seiner Beobachtungen und Beurteilungen des vor Augen Liegenden beantworten zu können, als Kriterium für den Begriff »Philosophie« an, so muss die gesamte Frage nach der Philosophie im Judentum anders als in der sogleich zu skizzierenden Debatte des 20. Jahrhunderts gestellt werden. Die spezifisch griechische Weise der Verwendung der menschlichen Vernunft wurde mit dem Begriff »Liebe zur Weisheit« Philosophia, benannt, die zugehörige menschliche Denkweise mithin als Sophia, als »Weisheit«. Die biblisch-israelitisch-jüdische Kultur kennt bekanntlich selbst eine Disziplin, die sie als »Weisheit«, hebräisch Ḥochma, bezeichnet. Und so gibt es innerhalb der Bibel eine ganze Gruppe von Texten, die von der Forschung als Weisheitsliteratur
20
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 362ff.
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bezeichnet werden.21 Diese Bücher, es sind die Proverbien, der Prediger (Kohelet) und vor allem das Buch Hiob und einige Psalmen, denken nun tatsächlich ohne Bezug auf eine Offenbarung über die genannten Fragen nach. Wenn dabei in späteren biblischen und nachbiblischen Weisheitstexten die Weisheit gelegentlich als ein transzendentes Wesen betrachtet wird, als eine außermenschliche Größe, die etwa in der Schönheit des Weltalls sichtbar wird, so wird diese menschliche Wissenschaft als menschliche dadurch nicht diskreditiert – auch die griechisch-europäische Philosophie ist vor Hypostasierungen der menschlichen Weisheit nicht zurückgeschreckt – und bis heute gibt es Auffassungen, die glauben, die menschliche Logik sei eine den Menschen transzendierende Wesenheit, die unabhängig von kulturellen Differenzen und Umwälzungen besteht. Der Durchgang durch die verschiedenen Epochen des jüdischen Denkens zeigt, dass es das »rationale Denken« in allen Epochen gegeben hat, dass aber dessen Ausprägung und Zielsetzung sich mit dem Wandel der jüdischen Kultur und der sie umgebenen Kulturen verändert hat. Für die folgenden Überlegungen werde ich zur Klarheit den griechischen begriff Philosophie für die von der griechisch-römischen Tradition geprägte rationale Denkweise verwenden, für die anderen rationalen Denkformen den Begriff Weisheit, den ja auch der moderne jüdische Philosoph par excellence, Moses Mendelssohn, bevorzugte, als »Weltweisheit«. Entsprechend dem zeitlichen Fokus dieses Bandes soll im Folgenden zunächst die innerjüdische Debatte des 20. Jahrhunderts skizziert werden und, um diese richtig verstehen und einordnen zu können, im Anschluss ein Blick auf die vorausgegangenen Phasen des jüdischrationalen Denkens geworfen werden, auf die biblische Rationalität, die nachbiblisch-rabbinische, um schließlich zum Mittelalter, zur Neuzeit, zur Moderne und Postmoderne zu kommen. Danach kann die Debatte des 20. Jahrhunderts neu bewertet und die Legitimität der neuesten Entwicklungen verstanden werden.
9.3
Die innerjüdische Debatte um eine jüdische Philosophie im 20. Jahrhundert – gibt es Kriterien für das Attribut »jüdisch«
Der erste Professor für Philosophie und spätere Rektor der Hebräischen Universität in Jerusalem, Leon Roth, veröffentlichte im Jahre 1962 einen Aufsatz unter dem provokanten Titel »Is there a Jewish Philosophy?«22 Roth zitiert gleich zu Anfang seines Aufsatzes die abschließenden Worte von Isaac Husiks umfassender History of Medieval Jewish Philosophy. Husik sagte am Ende seiner 1916 erschienenen Geschichte: »There are Jews now and there are philosophers, but
21
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 144. 178. 216–219.
22
Wieder in L. Roth, Is there a Jewish Philosophy, London 1999.
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there are no Jewish philosophers and there is no Jewish philosophy.«23 Gewiss, Isaac Husik spricht in dieser Bemerkung über seine eigene Gegenwart oder die jüngste Vergangenheit und nicht über das Mittelalter, dessen jüdische Philosophie er in seinem Buch ja gerade dargestellt hatte. Aber immerhin erschien in Husiks Tagen Davids Neumarks Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters (1907–1910), dessen erstes Kapitel die Überschrift trägt: »Die Aufgaben der modernen jüdischen Philosophie«; 1842 war die Die Religionsphilosophie der Juden von Samuel Hirsch erschienen (1842), von 1835–1865 Steinheims Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge, ein Schibboleth.24 Husik kennt auch den zionistischen Kultur-Philosophen Achad Haam (1856– 1927)25 ebenso Hermann Cohen (1842 – 1918),26 wohl auch Moses Hess (1812– 1875)27 und Martin Buber (1878–1965), bei denen allen er offenbar eine solche jüdische Philosophie nicht sehen will. Damit wird doch deutlich, dass Husik mit seiner Bemerkung offenbar dennoch die grundsätzliche Frage stellte, ob es eine spezifisch jüdische Philosophie neben einer allgemeinen Philosophie gibt. So erscheint es nicht zufällig, dass Husik die» jüdische Philosophie« in seinem Buch mehrfach »medieval Jewish rationalism« nennt, womit er diese offenbar in ein universelles Denken einordnen will. Wir stehen mit Husiks Fragestellung vor dem Problem, ob es berechtigt ist, von einer jüdischen Philosophie zu sprechen, wo doch das, was man sonst Philosophie nennt, eine Wissenschaft ist, die universellen Anspruch erhebt, also keine partikulare Sonderform dulden kann. Will man den Begriff »Jüdische Philosophie« dennoch benutzen, begibt man sich in das Dilemma der Definition einer solchen Philosophie. Man muss erklären, ob es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der allgemeinen und der jüdischen Philosophie gibt. Und wenn ja, woran dieser Unterschied zu erkennen ist. Zur Begründung eines solchen Unterschieds zwischen einer allgemeinen, universellen Philosophie und einer partikularen jüdischen bieten sich folgende Möglichkeiten an: 1. Mit dem Attribut »jüdisch« wird eine eigene Form der Argumentation, eine eigenwillige Weise des Denkens bezeichnet, das von den Beweis- und Argumentationsformen der allgemeinen Philosophie abweicht. Aber darf man eine methodologisch von der allgemeinen Philosophie abweichende Denkweise dann noch Philosophie nennen? – denken wir an die Kabbala mit ihrer Metalogik und ihrer
23
I. Husik, Medieval Jewish Philosophy, 1916 (Neudruck Forge Village (Mass.) 1976, S. 432.
24
S. L. Steinheim, Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge, ein Schibboleth, Frankfurt
25
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 159–213.
a. M. 1835. 26
Zu ihm Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 617–657.
27
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 65–117.
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Meta-Philologie, deren Zugehörigkeit zu einer solchen Philosophie ja kritisch diskutiert wurde, wie unten noch zu zeigen ist. 2. Mit dem Attribut »jüdisch« wird ein bestimmter Inhalt verbunden, durch den sich diese Philosophie von der allgemeinen Philosophie unterscheidet. Etwa in dem Sinn, wie dies der jüdische Philosoph David Neumark in seiner schon genannten jüdischen Philosophiegeschichte sagte. Neumark wollte folgende spezifische Eigenschaft der jüdischen Philosophie erkennen: »Der Grundgedanke der jüdischen Philosophie, der ethische, tritt uns schon in den ältesten Quellen als ein systembildendes Prinzip entgegen.«28 Und: »Der Angelpunkt der Geschichte des Geistes im Judentum bildet die Lehre vom Geiste selbst […] ›Es gibt keinen Geist ausser Gott‹.«29 Keine Frage, Neumark steht mit solchen Definitionen unverkennbar unter dem Einfluss von Kant und Hegel. Und sollte es da noch Zweifel geben, so lässt uns Neumark wissen, dass die jüdische Philosophie aus dem »jüdischen Volksgeist« entsprungen ist.30 Und wenn man es noch deutlicher haben will: »Man sieht, ein jüdisches Transzendentalsystem kann sich auf eine, wahrlich nicht kurze Phase in der Entwickelung der Gotteserkenntnis im Judentum berufen, wenn es Gott zunächst als Ideal der Sittlichkeit erkennt. Der Formulierung der monotheistischen Schöpfungslehre entspricht in der Transzendentalphilosophie die Aufgabe, die Zufälligkeit der Erfahrung aufzuheben.«31 Wer die Geschichte der jüdischen Philosophie nur einigermaßen kennt, der weiß, dass Neumarks Hegel-Kantsche Konstruktion allein Neumarks Idee war, die in der verwirrenden Vielfalt der jüdischen Philosophien und des gesamten jüdischen Denkens nur eine der zahlreichen Varianten darstellt, in der schwerlich eine alles verbindende Formel gefunden werden kann.32 3. Eine weitere Möglichkeit wäre es, den Begriff »jüdische Philosophie« für jegliche philosophische Befassung mit dem Gegenstand Judentum zu verwenden, also ein Nachdenken über das Judentum und sein Wesen. Und da man unter Judentum – bei vielen bis heute – vor allem die Religion versteht, traf und trifft man auf den Begriff der »jüdischen Religionsphilosophie«.33 Demnach wäre die »jüdische Philosophie« ein philosophisches Nachdenken über die jüdische Reli28
David Neumark, Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters nach Problemen dar-
29
Neumark, Geschichte, I, S. 19.
30
Neumark, Geschichte, I, S. 138.
31
Neumark, Geschichte, I, S. 256–257.
32
Vgl. Dazu, K.E. Grözinger, Was ist das Jüdische am »jüdischen« Denken? Auf der Suche nach
gestellt, Berlin 1907, I, S. 15.
dem Kontinuum in der Vielfalt jüdischer Theologien und Philosophien, in: » … und handle mit Vernunft«. Festschrift zum 20-jährigen Bestehen des Moses Mendelssohn Zentrums, hrsg. G. Botsch, K. Bürger et al., Hildesheim, Zürich, New York 2012, S. 21–35. 33
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 34. 420f. 452. 480. 481. 539. 540. 630. 631. 647; Bd. 1, S. 362. 372. 599.
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gion. Dass das Judentum indessen mehr als Religion ist, wird hierbei geflissentlich ausgeblendet. Was aber, wenn man der Meinung ist, das Judentum sei nicht nur Religion? Ist eine philosophische Schrift zum jüdischen Nationalismus, zur Kunst von Juden, zur Sozialstruktur im heutigen Israel auch »jüdische Philosophie«? Und ist es jüdische Philosophie, wenn ein Nichtjude über die jüdische Religion philosophiert? 4. Nachdem die Frage der Logik wie die Frage der Ideologie und des Gegenstandes keine eindeutige Abgrenzung einer jüdischen Philosophie gegenüber der allgemeinen Philosophie erlaubt, bleibt noch die Möglichkeit der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit des Philosophen heranzuziehen. Aber kann man auf die bloße ethnische oder soziale Zugehörigkeit eine Definition einer jüdischen Philosophie bauen? Gehören etwa Edmund Husserl oder Henri Bergson in die Geschichte einer solchen jüdischen Philosophie, wo von manchen Autoren sogar Avicebron alias Salomo Ibn Gabirol34 und Baruch Spinoza35 wegen ihrer mangelnden Jüdischkeit aus der jüdischen Philosophie ausgeschieden werden! Keine der vier genannten Möglichkeiten, den Begriff »Jüdische Philosophie« zu definieren, führt zu einer unser Wissen präzisierenden Definition. Keine von ihnen kann eine umfassende und plausible Definition jüdischer Philosophie begründen. Kann oder soll man demnach den Begriff »jüdische Philosophie«, und auch den weiteren Begriff »jüdisches Denken«, noch gebrauchen? Und wenn ja, was will man damit erreichen? Grenzt man mit diesen Begriffen etwas aus, was sich mit plausiblen Gründen nicht ausgrenzen lässt? Andrerseits stellt sich die Frage, ob man sich mit dem Abschied von einer Bezeichnung »jüdische Philosophie« nicht der Möglichkeit für einen heuristischen Zugriff begibt, der wichtige Einsichten verschaffen kann? Also, sollte man, wenn es aus sachlichen Gründen falsch oder schwierig ist, von einer »jüdischen« Philosophie zu sprechen, auf diesen Begriff verzichten, wiewohl damit ein berechtigtes Erkenntnisziel erreicht werden kann? Das Dilemma bleibt! Und es gibt wohl nur einen Weg, ihm zu entkommen, einen Weg den Dirk Westerkamp, in seinem Buch über Die philonische Unterscheidung vorgeschlagen hat.36 Will man Sinn und Berechtigung, von einer »jüdischen« Philosophie zu reden, erkennen, muss man von solchen essentiellen Definitionsversuchen Abstand nehmen und versuchen, die Frage historisch zu klären. Das heißt, es muss geklärt werden, ob es eine andauernde rationale jüdische Denkkultur gegeben hat und wie sie sich im Laufe der Jahrtausende darstellte und veränderte. Das heißt, man muss auf eine globale essentielle Definiti34
Zu ihm, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 525–552.
35
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 158–228.
36
Vgl. D. Westerkamp, Die philonische Unterscheidung. Aufklärung, Orientalismus und Konstruktion der Philosophie, München 2009, S. 40.
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on des Begriffs »jüdische Philosophie« verzichten, um stattdessen nach der Herkunft und der Absicht dieser Begrifflichkeit zu fragen. Das soll im Folgenden geschehen. Ich werde dafür zunächst einen geschichtlichen Blick auf die rationale jüdische Denkkultur werfen, und fragen, wann und weshalb der Begriff einer jüdischen Philosophie aufkam oder notwendig wurde, um am Ende daraus eine Schlussfolgerung ziehen.
9.4
Der altorientalisch-biblische Rationalismus – Weisheit als Orientierungswissenschaft
Der altisraelitische Rationalismus der sogenannten biblischen »Weisheitsliteratur« ist Teil einer gemeinsamen vorderorientalischen Reflexions- und Erziehungstätigkeit für die höheren Kreise und Staatsbeamten. In diesem Lehrbetrieb wurden die Männer herangebildet, die man die Weisen nannte. Das hierbei vermittelte Wissen ist ein Orientierungswissen, welches die wesentlichsten Lebensbereiche des Menschen beschreibt: Astronomie, Geographie, Wetterkunde, Flora und Fauna, Zivilisationstechniken und dann vor allem die Ethik. All dies geschieht ohne Bezugnahme auf eine Offenbarung, sondern ist ordnendes Erfahrungswissen, »ein auf Erfahrung gegründetes Kundigsein von bestimmten Gesetzen der Welt und Tätigkeiten des Lebens«.37 Hier ist auch zu nennen, was in der theologisch geprägten Forschung gelegentlich »Weisheitstheologie« genannt wird. Dies ist eine rationale, auf der Beobachtung der Welt gegründete Kritik an dogmatischen Aussagen, insbesondere der auch von der älteren Weisheitstradition vertretenen Lehre vom Zusammenhang von Tun und Ergehen, Gerechtigkeit und Wohlergehen. Diese in den Büchern des Predigers (Kohelet) und Hiob vorgetragene Kritik an theologischen Aussagen, steht der rationalen philosophischen Theologiekritik des Mittelalters in nichts nach.38 Rainer Albertz nennt diese Literatur Zeugnis einer »Lebensphilosophie«, in der »die Gottesbeziehung keine wesentliche Rolle« spielte.39
37
G. Fohrer, Geschichte der israelitischen Religion, Berlin 1969, S. 155; u. vgl. G. von Rad, Hiob 38 und die altägyptische Weisheit, in: G. v. Rad, Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 1965; J. Kaufmann, Toledot ha-Emuna ha-jisraelit, Jerusalem-Tel Aviv (1937), Bd. 2, S. 642–646.
38
Siehe bei Fohrer, S. 375–378; zur jüdischen Weisheitsliteratur der nachbiblischen Zeit siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 103. 144. 163.169. 170. 171. 174. 175. 185. 190. 204. 205. 213– 219; u. M. Hengel, Judentum und Hellenismus, Tübingen 1973, S. 275ff.
39
R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Göttingen1997, S. 562.
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9.5
Humanistisch-philosophische Richtungen
Der rabbinisch-talmudische Rationalismus der Antike – Weisheit als kategorisierende Wissenschaft
Auch wenn die rabbinische Literatur unter der Voraussetzung der Offenbarung steht, gilt doch in Sachen der Rechtsgelehrsamkeit, das heißt in der Festlegung der Halacha, ausschließlich das menschliche Urteil. Das wird in der rabbinischen Literatur mehrfach zum Ausdruck gebracht. Etwa dort, wo die Engel im Himmel Gott fragten, wann der Neujahrstag anzusetzen sei und Gott die Engel an den menschlichen Gerichtshof verwies, der dies festzulegen habe. Außerdem in der vielzitierten Geschichte, nach welcher sich ein in der Minderheit befindlicher talmudischer Gelehrter in der Entscheidung über die Halacha im Lehrhaus auf ein Wunder und sogar auf eine Stimme vom Himmel beruft und mit dem Hinweis abgewiesen wird, die Tora sei nicht im Himmel, sondern eben auf Erden in der Hand der Gelehrten, die alleine zu entscheiden haben.40 Jacob Neusner hat in seiner Beschreibung des grundlegenden Rechtsdokuments des rabbinischen Judentums, der Mischna, dessen philosophische Natur beschrieben. Die erste Phase der rabbinischen Rechtskodifikation, eben die der Mischna, nennt Neusner die philosophische. Er begründet dies damit, dass diese die Phänomene der Umwelt sortierende und kategorisierende Tätigkeit der Tannaiten nicht nur philosophische Methoden übernommen habe, sondern dass das Ganze geradezu ein philosophisches System zu nennen sei. Dieses Urteil stützt Neusner weniger auf die materialen Aussagen der Mischna (etwa, dass dieser oder jener Gegenstand kultisch rein oder unrein, dass diese oder jene wirtschaftliche Transaktion legal oder illegal sei), sondern auf die von den MischnaGelehrten benutzte Methode. Unter Berufung auf aristotelische, stoische und mittelplatonische Texte demonstriert Neusner die methodologische Übereinstimmung zwischen den Kategorisierungsverfahren der Tannaiten in der Mischna und der von Aristoteles in seiner historia naturalis inaugurierten Klassifizierungsmethode. Die den aristotelischen Verfahren analoge philosophische Analyse der Mischna sieht Neusner in den Bereichen des wirtschaftlichen und politischen Handelns, in der Ethik und in der Gesellschaftsanalyse. Im Bereich der Ökonomie entdeckt Neusner darüber hinaus auch inhaltliche Übereinstimmungen mit den von den Philosophen benannten Grundkategorien wirtschaftlicher Akteure. Ein weiteres wesentliches Argument dafür, in der Mischna ein philosophisches System zu erkennen, ist die Tatsache, dass die Gelehrten der Mischna die Welt ohne Bezugnahme auf eine autorisierende Tradition und ohne Einbeziehung der himmlischen Welt beschreiben, das heißt eine eigenverantwortete Analyse der sie umgebenden Welt vornehmen.41
40
Dazu und speziell zu dieser Erzählung siehe, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
41
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 224–227.
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9.6
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Das Mittelalter: Philosophie als die Suche nach der einen Wahrheit – Vereinung von Vernunft und Offenbarung
Erst im Mittelalter, beginnend im 9./10. Jahrhundert wird innerhalb des rabbinischen Judentums die jüdische »Weisheit« mit dem griechischen Begriff »Philosophie« benannt.42 Damit ist ein tiefgreifender Kulturwandel innerhalb des Judentums angezeigt. Nicht neu ist, wie aus dem Vorangehenden deutlich wurde, die Verwendung der menschlichen Vernunft zur Analyse der den Menschen umgebenden Welt mit Hilfe der normalen menschlichen Denkfähigkeit. Neu ist hingegen die Anwendung dieses Denkens auf die Theologie, das heißt auf die Lehre von Gott. Das rationale Denken wird nun für die Suche nach der einen Wahrheit, nach der einzig richtigen Wahrheit eingesetzt, in deren Besitz man sich selbst wähnt, und für die Polemik gegenüber den Ansprüchen der anderen Religionen. Dass zur Bearbeitung dieser neuen Thematik auch neue, dem Gegenstand adäquate Denkformen zum Einsatz kommen müssen, galt mutatis mutandis schon für die beiden zuvor genannten Phasen. Und so wie diese Methoden in biblischer Zeit die der altorientalischen Weisheits-Wissenschaft waren und in der Antike erste hellenistische Methoden zur Anwendung kamen,43 so sind es nun die Methoden der philosophischen Metaphysik und der aristotelischen Kategorienlehre. Die beiden vorausgegangenen Phasen des rationalen Denkens interessierten sich nicht für die Konkurrenz von Ratio und Offenbarung, dies ist ein Novum des Mittelalters. Für diese neue thematische Auseinandersetzung bedurfte es der von den Konkurrenten angewandten Argumentationsweisen, die nun wirklich die griechische Bezeichnung Philosophie für diese Art des rationalen menschlichen Denkens erhielten. Es geht demnach wohl nicht darum, dass hier ein Sprung in eine außerjüdische Welt getan wurde, sondern dass die Juden zur Bewahrung ihres Glaubens die neuen Argumentationsweisen einsetzten, mit denen sie diese Auseinandersetzung bestehen konnten, so wie dies zur Bearbeitung der früher interessierenden Themen in den vorausgegangenen Epochen ebenfalls geschehen war. Der erste Philosoph des jüdischen Mittelalters, Saʽadja Ga’on (882–942)44 hat unzweideutig klargestellt, was die Grundlagen der Philosophie und aller Erkenntnis sein sollten: »Die Quelle jeglichen Wissens und der Brunn aller Erkenntnis […] sind drei: Das erste ist die Sinneswahrnehmung, das zweite ist die Erkenntnis mittels
42
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 355–613.
43
Siehe Hengel, Judentum und Hellenismus, S. 295.
44
Zu ihm vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 362–400.
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Humanistisch-philosophische Richtungen
der Vernunft und das dritte ist die Erkenntnis aufgrund einer notwendigen Schlussfolgerung«.45 Diese Aussage galt, wenn auch noch nicht in so hochentwickelter Form, schon für die altorientalische und rabbinische Weisheit. Dies sind die universalen Erkenntnismethoden aller rationalen Erkenntnisweisen und ganz besonders die der Philosophie. Da man mit Sa‘adja in der Philosophiegeschichtsschreibung die mittelalterliche jüdische Philosophie beginnen lässt, stellt sich die Frage, ob man diese Erkenntnismethoden, die Saʽadja hier propagiert, eine partikulare Wissenschaft, eine partikulare Philosophie, eine spezifisch jüdische Philosophie nennen kann? Es ist offensichtlich, dass sich auf dieser von Saʽadja formulierten Erkenntnislehre keine partikulare »jüdische Philosophie« begründen ließ. Und daraus folgte für die mittelalterlichen jüdischen Denker: Es kann nur eine einzige auf die drei genannten Erkenntnisquellen gestützte Wahrheit geben und keine spezifisch-partikulare jüdische Wahrheit. Das bedeutete, dass auch die Offenbarung, in unserem Fall die biblische und rabbinische Tora, dieser einen Wahrheit entsprechen muss. Darum auch fügt Saʽadja seiner vorangegangenen Feststellung hinzu: »Wir aber, die Monotheisten, bestätigen diese drei Wege zur Erkenntnis, fügen ihnen aber noch eine vierte hinzu, die wir mittels jener drei lernten, und sie wurde uns zum Fundament, nämlich die wohlbegründete wahre Tradition, denn sie ist errichtet auf der Sinneswahrnehmung und auf der Vernunfterkenntnis [und der notwendigen Schlussfolgerung].«46 Damit unterwirft Saʽadja auch die jüdische und biblische Offenbarung den Regeln der universalen Erkenntnisgewinnung. Die biblische Wahrheit wird durch diese universale Erkenntnisgewinnung erwiesen und die philosophische Erkenntnis wird von Sa‘adja zur Mutter aller menschlichen Erkenntnis erklärt. Die Konsequenz dieser Auffassung war, dass die heiligen Schriften der Tradition nun systematisch im Sinne dieser universalen philosophischen Erkenntnis gedeutet werden mussten – was auch tatsächlich geschah. Die Philosophie gab die Hermeneutik der Schriftauslegung vor. Das Ziel des jüdischen Philosophen musste es daher sein, die Übereinstimmung der jüdischen Offenbarung und Tradition mit der Wahrheit der Philosophie zu erweisen. Die veritas judaica ist mit der all-
45
Saʽadja Gaʼon, Emunot we-Deʽot, 7. Traktat, J. Kafih (Hrsg.), Jerusalem/New York 1970, S. 14; Übersetzung von J. Fürst, Saadja Fajjumi, Emunot we-Deot oder Glaubenslehre und Philosophie, Hildesheim/New York (1845) 1970, S. 21; siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 365.
46
Saʽadja Gaʼon, Emunot we-Deʽot, 7. Traktat, J. Kafih, S. 15; Fürst, S. 23, siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 365.
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gemeinen Wahrheit der Philosophie identisch und diese ist die eine unteilbare Wahrheit. Es gibt also, wenigstens der Theorie nach, nur eine einzige universale Wahrheit, eine einzige universale Philosophie. Und dies gehörte auch zum Selbstverständnis der mittelalterlichen Philosophen jüdischer Herkunft. Den mittelalterlichen jüdischen Denkern galt die Philosophie, ich will dies hier nochmals betonen, als eine eigenständige und zugleich internationale Wissenschaft, die ihre spezifischen Arbeitsweisen und Methoden kennt, denen sich jeder anzupassen hat, der Philosoph genannt werden will. Maimonides hat darum, angelehnt an den arabischen Philosophen Al-Farabi, eigens ein Büchlein zu den Regeln der Logik verfasst, das als philosophische Leitschnur für alle zu gelten hatte. Unter dem Stichwort Philosophie sagt Maimonides dort: »Philosophie ist ein umfassendes Wort. Manchmal nennt man sie Kunst des Beweisens und manchesmal Wissenschaften schlechthin. Unter sie fallen zwei Wissenschaften, die theoretische Philosophie und die praktische Philosophie oder Philosophie vom Menschen oder politische Wissenschaft. Die theoretische Philosophie zerfällt in drei Teile, die mathematische, die Naturwissenschaft und die Gotteswissenschaft (Metaphysik).«47 Es folgt bei Maimonides sodann die Aufzählung aller Wissenschaften, die zum klassischen Kanon der mittelalterlichen Philosophie gehörten. Und Philosophen, die sich mit diesen Wissenschaften befassten, gab es nach Auffassung von Maimonides folgerichtig in allen drei großen europäischen Kulturen ohne Unterschied. Er kennt keine eigenständige jüdische Philosophie. Auch der im 15./16. Jahrhundert schreibende Philosoph Jizchak Arama spricht, wenn er an jüdische Philosophen denkt nicht von einer »jüdischen Philosophie«, sondern von »den Philosophen aus unserem Volk«,48 »Unseren Weisen, den Philosophen […], wie etwa Maimonides […] und Rabbi Levi Ben Gerschon«.49 Es gab also nach seiner Auffassung einfach Philosophen, unter denen es eben auch Juden gab. Allerdings sieht Jizchak Arama sehr wohl Unterschiede zwischen den Philosophen der Völker, »welche nicht im Geheimnis Gottes stehen und die Vorsehung Gottes leugnen«,50 denen gegenüber der gottesfürchtige »göttliche ToraPhilosoph« steht.51 Trotz dieser Wahrnehmung von Differenzen bleibt es in der
47
Millot ha-Higajon, Ausg. S. Heilberg, Beʼur Millot ha-Higajon le-ha-Rambam von Mendels-
48
Jizchak ʼArama, Sefer ‘Akedat Jizchak (1849), Neudruck Israel o. D., Bd. V, § 89, S. 19a.
49
ʽAkedat Jizchak (1849), Bd. I, § 5, S. 57a.
50
ʽAkedat Jizchak § 19, Bd. 1, S. 160a.
51
ʽAkedat Jizchak § 92, Bd. 5, S. 40a.
sohn commentiert übersetzt und mit einem Wortregister versehen, Breslau 1828, Teil 14.
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jüdischen Literatur des Mittelalters und der Neuzeit dabei, die Philosophie als eine einzige, die Religionen und Ethnien übergreifende, Wissenschaft zu betrachten, an der sich eben auch einzelne Juden beteiligen.52 So sieht es auch noch das hebräische Buch des Bundes (Sefer ha-Brit), eine orthodoxe Sicht auf die Wissenschaften von 1797, in welchem der Autor Elija Horowitz von Philosophen aus den Völkern und den Israeliten ohne inhaltliche Unterscheidung spricht. Im Zusammenhang mit den geläufigen Gottesbeweisen kommt Horowitz zu dem Resümee: »Man weiß über Gott auch mittels des indirekten/abgeleiteten53 Beweises. Und davon sind alle Bücher der Philosophen voll, bei allen Weisen der Völker und allen Weisen Israels wie auch im Buch von den Herzenspflichten.«54 Der Autor unterscheidet inhaltlich also nicht zwischen jüdischer und nichtjüdischer Philosophie. Insgesamt gilt somit für die Juden im Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert, dass es nur eine einzige Philosophie gibt, an der Juden wie Nichtjuden gleichermaßen beteiligt sind. Dies gilt, auch wenn die Philosophen gelegentlich versuchten, sich der je eigenen Theologie anzupassen, die Philosophie also ancilla theologiae wurde. Das heißt, nach der mittelalterlichen Auffassung gibt es nur die eine Wahrheit der Philosophie, die auch mit der (eigenen) Offenbarung übereinstimmt. Die Denkrichtung des philosophischen Mittelalters ging also von der Offenbarung und der Tradition hin zur Vernunft. Es sollte gezeigt werden, dass das partikular-jüdische Wissen, das heiß die Offenbarung, dem universalen Wissen entspricht. Das Jüdische wurde in das Universal-Philosophische eingegliedert beziehungsweise mit ihm identifiziert. Die Philosophie ist eine universelle nicht partikulare Wissenschaft und Erkenntnisweise.
9.7
Von der Neuzeit bis zur Aufklärung: Die Marginalisierung der Philosophie in ihrer Bedeutung für die Offenbarung
Mit dem Ende des Mittelalters und dem Anbruch der frühen Neuzeit sollte sich dieses Verständnis von Wahrheit und damit das Verhältnis von Philosophie und 52
Vgl. z. B. die Einträge in Josef David Asulais (1724–1806) Schem ha-Gedolim, Warschau 1876 (Neudruck Israel o. D.) zu Maimonides, Tl. I, S. 96b: »ein großer Philosoph«, zu Josef Schlomo Delmedigo: ha-Rav ha-kolel, ha-Filosof (»der umfassende Rabbi und Philosoph«), er war einer der alle Weisheiten kannte: Philosophie, Astronomie, Logik, Medizin, Tora und Pilpul des Talmud etc., Teil II, S. 7a.
53
Wenn man z. B. von den Wirkungen der Seele auf deren Existenz schließt.
54
Sefer ha-Brit ha-schalem, Jerusalem 1990.Teil I, Traktat 19, Kap. 7, S. 316. Das Buch von den Herzenspflichten meint Bachja Ibn Pakuda (11.Jh.), Sefer Ḥovot ha-Levavot (Buch von den Herzenspflichten. Eine zweisprachige Ausgabe (hebr. Deutsch.) von: M. E. Stern, Choboth haL’baboth. Lehrbuch von den Herzenspflichten, Wien 1856.
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Offenbarung grundlegend ändern. Paradigmatisch hierfür ist der Arzt, Mathematiker, Philosoph und Kabbalist Josef Schlomo Delmedigo (1591–1655).55 Er konnte diese in seiner Person vereinten so verschiedenen Wissenschaften allesamt ernst nehmen, und sie nachhaltig betreiben. Dies war ihm möglich, weil er mit dem mittelalterlichen Dogma von der einen Wahrheit brach und eine Lehre von den drei Wahrheiten vertrat. Das von den Menschen erwerbbare Wissen ist laut Josef Delmedigo von dreifacher Natur: An erster Stelle steht die Erkenntnis, oder das Wissen (hebräisch: Daʽat), hernach folgen die Überzeugungen, oder das Denken (hebräisch: Machschava), und schließlich kommt der Glaube (hebräisch: ʼEmuna). 1. Das Wissen, das an erster Stelle rangiert, ist die aus der Sinneswahrnehmung gewonnene Erkenntnis. Sie ist die sicherste und die unbestreitbare Wahrheit, der sich alle anderen Erkenntnisweisen beugen müssen. 2. Weniger gewiss als das zuerst genannte Wissen ist die Überzeugung (Denken). Denn sie stützt sich nur auf dialektisch-argumentative Schlussfolgerungen, die aus der communis opinio oder aus Mehrheitsmeinungen abgeleitet werden. Zu diesen Überzeugungen gehört nach Delmedigo die gesamte Philosophie. 3. Das dritte Wissen, schließlich, ist der »Glaube«. Er kann sich nur auf Zeugnisse von anderen und auf die Tradition stützen. Mit dieser Dreiteilung des Wissens ist jedoch noch nicht das Wesentliche gesagt. Für Delmedigo geht es nicht nur um ein Nebeneinander von drei unterschiedlichen Wissensformen. Ihm zufolge unterliegen diese drei Weisen des Erkenntnisgewinns und das daraus resultierende Wissen einer strengen Hierarchie. 1. Die stärkste Position hat die auf die Sinneswahrnehmung gestützte Erkenntnis. Sie verdrängt in jedem Falle die beiden anderen Erkenntnisweisen, die Überzeugung und den Glauben, wenn ihr diese widersprechen. Überzeugung und Glaube können irren und müssen daher vor dem Sinnesbeweis weichen. 2. Wichtiger ist nun die nächste Folgerung hinsichtlich des Verhältnisses von Glauben und Denken (Überzeugung). Der Glaube und die Überzeugung, sprich die Philosophie, können sich gegenseitig nicht widerlegen, denn die Überzeugung (Denken) hängt immer von einer Reihe von Faktoren ab, die kontingent, oder gar subjektiv sind. Das bedeutet, wo Überzeugungen und Glaubensaussagen miteinander im Widerspruch stehen, gibt es keinen Grund, Glaubensaussagen fallen zu lassen. Und gerade diese letzte Aussage ist für Josef Delmedigos Position das Entscheidende. Da er die philosophischen Aussagen für nichts als Meinungen oder Überzeugungen hält, haben philosophische Aussagen nicht die Macht, Glaubensüberzeugungen umzustürzen. Philosophie und Glaube stehen gleichrangig nebeneinander. Es gibt also drei Wahrheiten: Die naturwissenschaftliche, die philosophische und die Glaubenswahrheit. Nur die erste Wahr55
Zu Delmedigo und der gesamten Debatte vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 62–84.
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heit ist absolut. Vor ihr müssen Philosophie und Glaube weichen. Hingegen können sich philosophische und Glaubenswahrheit nicht gegenseitig widerlegen. Mit dieser Auffassung ist die Philosophie gegenüber der Tradition und Offenbarung neutralisiert. Tradition und Glaube müssen sich nunmehr nicht länger vor der Philosophie rechtfertigen. Das bedeutet, dass das religiöse Interesse an der Philosophie zum Erliegen kommen musste, was tatsächlich auch geschah. Die mittelalterliche Philosophie bei den Juden kam zu ihrem Ende. Auch bei Moses Mendelssohn (1729–1786)56 wird die jüdische Tradition von der Philosophie separiert. Allerdings hat bei ihm die Philosophie als universelle Vernunft-Erkenntnis hohen Stellenwert, wohingegen die jüdische Tradition zu einer nicht für jedermann verpflichtenden Partikularerkenntnis herabgestuft wird. Mendelssohn kennt demnach neben der Vernunftwahrheit noch die sogenannte Geschichtswahrheit. Für die universelle religiöse Wahrheit reklamiert Mendelssohn die universelle Vernunft, während die biblische Offenbarungswahrheit zu der im Range niedriger stehenden »Geschichtswahrheit« herabrückte, die als ehemaliges biblisches Staatsgesetz nur für die Juden verpflichtend ist, aber keinen universellen Erkenntniswert besitzt. Darin folgt Mendelssohn Baruch Spinoza,57 der schon vor ihm die Traditionsreligion völlig von den Erkenntnissen der Vernunft trennte, und Leibniz’ Unterscheidung von Vernunft- und Tatsachenwahrheiten. Eine fideistische Separierung und Absicherung der Tradition von der Kritik der universellen Vernunft nimmt im Gefolge von David Hume der Berliner Denker Saul Ascher (1767–1822)58 vor, der dem Glauben eine eigene, von der Vernunft unabhängige Rolle im menschlichen Wesen zuspricht. Beide, Glaube und Vernunft, haben ihr eigenes Terrain und dürfen sich nicht gegenseitig beeinflussen wollen. Auch hier besteht mithin aus der Sicht der Religion keine Notwendigkeit, sich mit der Philosophie zu befassen. In dieselbe Richtung geht schließlich der Reformer Abraham Geiger (1810–1874),59 der im Gefolge von Friedrich Schleiermacher das Bewusstsein und das Gefühl zu den Grundlagen der Religion erklärt. Auch Geiger hat folglich kein vitales Interesse an einer jüdischen Philosophie. War im Mittelalter die Philosophie der Maßstab allen religiösen Denkens, so wird in der Neuzeit aus Sicht der Religion die Philosophie marginalisiert. Die Philosophie hat keinen höheren Rang als der Glaube. Der Glaube muss sich nicht länger vor dem Forum der Philosophie verantworten. Deswegen besteht aus religiöser Sicht auch nicht mehr ein zentrales Interesse an der Philosophie. Dies be56
Zu Mendelssohn, siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 380–416.
57
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 158–228.
58
Zu Saul Ascher siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 417–443.
59
Zu Abraham Geiger siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 578–616.
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deutete, wie gesagt, das Ende der mittelalterlichen Philosophie bei den Juden. Wo die Offenbarungs-Tradition wie bei Spinoza und Mendelssohn zur nichtrationalen jüdischen Partikularerkenntnis wird, erfährt die philosophische Vernunft als Religion der Vernunft wieder eine universale religiöse Bedeutung.
9.8
Das 19. Jahrhundert: Die Inthronisierung der Philosophie als der neuen Sinnstifterin einer säkularen Kultur-Gesellschaft
Wenn die Entwicklung des Denkens in der Neuzeit dazu geführt hatte, dass das religiöse Interesse an der Philosophie in den Hintergrund rückte, oder als universale Vernunftreligion das Partikulare herabstufte, wie ist es dann zu erklären, dass die Männer der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert plötzlich die Existenz einer Jüdischen Philosophie sui generis propagierten und als eigenständigen Wert zum Gegenstand ihrer Forschungen machten? Es ist auch gerade diese Zeit, die nach langer Pause wieder jüdische Philosophen wie Samuel Hirsch (1815–1889), Salomon Ludwig Steinheim (1835–1865), Salomon Formstecher (1808–1889) und Hermann Cohen (1842–1918) hervorbrachte, Philosophen, die bewusst eine jüdische Philosophie betreiben wollten. Und gerade in dieser Zeit wird aus jüdischer Feder wohl zum Ersten Mal der Begriff »jüdische Philosophie« verwendet. Der Vater dieses genuinen Begriffs Jüdische Philosophie war allem Anschein nach der Nestor der Wissenschaft des Judentums, Leopold Zunz, der diesen Begriff in der Programmschrift zur Wissenschaft des Judentums von 1818 allerdings eher en passant gebrauchte.60 Demgegenüber verwendet Immanuel Wolf (Wohlwill) (1799–1847) in der ersten Ausgabe der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums den Begriff »Philosophie des Judentums« dezidiert programmatisch, die zu ihrem Gegenstand »den Begriff des Judenthums an und für sich, den sie nach seiner innern Vernünftigkeit zu entwickeln und in seiner Wahrheit aufzuzeigen hat. Sie lehrt die göttliche Idee, wie sie sich im Judenthum stufenweise offenbarte, begreifen.«61 Um diese anscheinend widersprüchliche Entwicklung zu verstehen, greife ich zu einer Erklärung des Jerusalemer Philosophen Eliezer Schweid.62 Schweid sieht mit der Aufklärung in Europa das Ende der kirchlichen Sinngebungshege60
L. Zunz, Etwas über die rabbinische Literatur, in: Zunz, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin 1875, S. 28; u. vgl. G. Veltri, »Jüdische« Philosophie. Eine philosophisch-bibliographische Skizze, in: M. Brenner – S. Rohrbacher, Wissenschaft vom Judentum, Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000, S. 144. 230.
61
I. Wolf, Über den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, in: Zeitschrift für die Wissen-
62
E. Schweid, Likrat Tarbut jehudit modernit (Das Streben nach einer modernen jüdischen Kul-
schaft des Judenthums, Berlin 1823 Heft 1, S. 20. tur), Tel Aviv 1995.
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monie heraufkommen. Die Kirchen verlieren ihre Deutungshoheit, weil sich die europäischen Gesellschaften weg von ihrer Verfassung als Religionsgemeinschaften hin zu Kulturgemeinschaften entwickelten. Das neue Element, das Menschen und Gesellschaften verbindet, wird nun die Kultur mit ihren vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten in unterschiedlichen Wissenschaften und Künsten. In dieser Situation der Vielgliedrigkeit der Kultur, deren Einzelelemente jeweils nur einen Teil der Wirklichkeit besetzten und abbildeten, sei, so Schweid, der Philosophie die Rolle der umfassenden Sinngebungsinstanz zugefallen. Die Philosophie hatte nun die Aufgabe, die vielfältigen Elemente der Kultur zu bündeln und ihnen einen einheitlichen Sinn zu verleihen. So sagt es auch Leopold Zunz in der oben genannten Programmschrift der Wissenschaft des Judentums: »Und über diese Räume der Wissenschaft, über dem ganzen Tummelplatz menschlicher Thätigkeit herrscht mit ausschließender Majestät die Philosophie, überall unsichtbar, sich aller menschlicher Erkenntnis mit unverletzter Selbständigkeit hingebend.«63 Die europäische Philosophie in ihrer neuen Rolle als umfassender Deutungsinstanz sah sich nunmehr gezwungen, sich mit den von der europäischen philosophischen Tradition abweichenden Weisheiten zu befassen und zu fragen, ob sie ein integraler Teil der alles umfassenden Philosophie sind. Diese Debatte in der europäischen und vor allem deutschen Aufklärungsphilosophie, ob die orientalischen Weisheiten als Teil der allgemeinen Philosophie gelten dürfen, hat Dirk Westerkamp in seinem Buch über Die philonische Unterscheidung dargestellt. In den Debatten der christlichen Philosophen werden zum ersten Mal solche Begriffe geprägt wie die philosophia hebraeorum und philosophia judaeorum oder Mosaica sive Judaica Philosophia.64 Die Frage war also, welche der nichtgriechischen Weisheiten man in die Philosophie einschließen und welche man ausschließen musste, wo »falsche« und wo »echte« Philosophie vorliegt.65 Im Rahmen dieser Debatte spielte natürlich die in jenen Tagen von Vielen geschätzte Kabbala eine herausragende Rolle, ob sie mit ihrer eigenen metaphilologischen und metalogischen Hermeneutik als Philosophie gelten könne, oder vielmehr ausgeschlossen werden müsse. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die späteren einschlägigen Titel des jüdisch-französischen Professors Adolphe Franck, Die Kabbala oder die Religions-Philosophie der Hebräer (deutsch 1844, frz. 1843), und des deutschen Rabbiners D. H. Joel, Die Religionsphilosophie 63
L. Zunz, Etwas über die rabbinische Literatur, Gesammelte Schriften, Berlin 1875, Bd. 1,
64
Westerkamp, Die philonische Unterscheidung, S. 27.
65
Westerkamp, Die philonische Unterscheidung, S. 24.
S. 27; bei Veltri, Jüdische Philosophie, S. 144.
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des Sohar (Leipzig 1849), welche natürlich die Kabbala als Philosophie qualifizieren – im dezidierten Gegensatz zu den meisten nichtjüdischen Autoren.66 Der Begriff einer »jüdischen Philosophie« wurde demnach zunächst von der zünftigen nichtjüdischen Aufklärungs-Philosophie geprägt und dies vor allem unter der Fragestellung von deren möglicher oder nötiger Ausgrenzung. Dies ist gewiss der geistesgeschichtliche und kulturelle Hintergrund für das neue große Interesse an einer eigenen »jüdischen Philosophie« von Seiten der Vertreter der Wissenschaft des Judentums zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auch sie sahen nun in der jüdischen Philosophie diejenige Instanz, welche das Judentum seinem Wesen nach beschreibt. So sagt es Immanuel Wolf mit den oben schon zitierten Worten in seinem programmatischen Eröffnungsaufsatz in der ersten Nummer der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums (1823) und ebenda nochmals: »Das Judenthum wird aber darzustellen seyn einmal historisch, wie es sich nach und nach in der Zeit entwickelt und gestaltet hat; dann aber philosophisch seinem innern Wesen und Begriffe nach.«67 Aus beiden Äußerungen Wolfs wird deutlich, dass diese jüdische Philosophie eher eine philosophische Dogmatik und Darstellung jüdischer Werte sein soll, als eine universelle Suche nach Wahrheit. War die Philosophie als neue Sinngebungswissenschaft die geistige Kathedrale, die über Zugehörigkeit oder Ausschluss von der europäischen und deutschen Kultur entschied, so war die europäische Universität deren sichtbare Seite.68 Die Universität war das jedermann sicht- und greifbare Heiligtum der neuen Sinnstiftungsinstanz für das sich kulturell organisierende Bürgertum. Die Universität vollzog organisatorisch, was die Philosophie intellektuell zu vollbringen hatte. Sie war die universitas litterarum, die alle Wissenschaften der Kulturgemeinschaft umfasste und mit Sinn versah. Und es war der Eintritt in dieses neue Heiligtum, der nunmehr kulturellen und nicht mehr religiös verfassten Gesellschaft, welcher über die Zugehörigkeit zu dieser Kultur-Gesellschaft entschied. Kein anderer als Leopold Zunz hat dies mit aller Schärfe gesehen und den Ausschluss des Judentums aus ihr angeprangert. In der Einleitung zu seinem klassischen Werk Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden historisch entwickelt (1832), sagt er dazu unter anderem: »Mit der bürgerlichen Hintansetzung der Juden steht die Vernachlässigung jüdischer Wissenschaft im Zusammenhange. Durch grössere geistige Kultur 66
Vgl. z. B. Westerkamp, Die philonische Unterscheidung, S. 22. 24.
67
Wolf, Über den Begriff, S. 18–19.
68
Ich folge hier wieder E. Schweid.
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[…] würden nicht alleine die Juden eine höhere Stufe der Anerkennung, also des Rechts errungen haben […] aber kein Professor las über Judentum und jüdische Literatur, keine deutsche Academie setzte Preise darauf aus […].«69 Wir wissen nun, dass es eben dieser Leopold Zunz, der Begründer der Wissenschaft des Judentums, war, der im Jahre 1848 die Errichtung eines Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Literatur an der königlichen Universität Berlins beantragte. Der Antrag wurde abgewiesen. Auch ein entsprechender Antrag des deutschen Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling an den bayerischen König Maximilian wurde abgelehnt. 1912 und 1915 wurden in Berlin und Preußen weitere vergebliche Vorstöße unternommen. Bezeichnend für die Ablehnung des Judentums als akademischem Gegenstand war die Äußerung von Friedrich August Wolf, Professor für Altertumswissenschaften in Halle und Berlin (1759–1824). Zu diesen Altertumswissenschaften sollte nach Wolf nur die griechische und lateinische Kultur gehören nicht aber die hebräische, und zwar mit folgender Begründung: »Die hebräische Nation hat sich nicht selbst auf ein Kulturniveau gehoben, so daß man sie als gelehrtes kultiviertes Volk betrachten könnte. Sie hat nicht einmal Prosa, sondern nur halbe Poesie. Ihre Geschichtsschreiber sind nur miserable Chronisten. Sie konnten nie in ganzen Sätzen schreiben; dies war eine Erfindung der Griechen.«70 Als Reaktion auf diese Ablehnung der Zulassung des Judentums an die deutschen Universitäten, gründeten 1856 einige Juden in Berlin mit Hilfe der Stiftungen der preußischen Hofjuweliersfamilie Ephraim eine eigene jüdische »Universität« unter dem Namen Veitel Heine Ephraimsche Lehranstalt.71 Sie wurde später, ab 1870, von der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in den Schatten gestellt. Die Gründung der Lehranstalt war als bewusstes Pendant zur deutschen Universität konzipiert, welche die Juden ausschloss. Und so wie die physische Gründung einer eigenen jüdischen Universität das Gegenstück zur deutschen Universität sein wollte, so sollte die »Begründung« einer »Jüdischen Philosophie« das Pendant zur europäischen Philosophie sein, welche die philosophia judaica ausgeschlossen hatte.
69
L. Zunz, Gottesdienstliche Vorträge, 2. Aufl. 1891 (Neudruck 1966), S. IX-X.
70
Zitiert nach I. Schorsch, Das erste Jahrhundert der Wissenschaft des Judentums (1818–1919),
71
Dazu siehe, K. E. Grözinger (Hg.), Die Stiftungen der preußisch-jüdischen Hofjuweliersfami-
in: Brenner, Rohrbacher, Wissenschaft vom Judentum, S. 12. lie Ephraim und ihre Spuren in der Gegenwart, Wiesbaden 2009.
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Die Gründung dieser jüdischen Universität und die nachdrückliche Befassung mit einer »jüdischen Philosophie« stellten der europäisch-christlichen Kultur, welche das Judentum aus ihren Hallen ausschloss, nunmehr eine eigene jüdische Kultur entgegen, mit eigener Universität und mit einer eigenen Philosophie. Diese Institutionen sollten nun der analoge Nucleus für eine jüdische Kultur und eine jüdische kulturelle Identität werden, für ein Judentum, das sich nicht in erster Linie über die Religion, sondern über die Kultur definiert. Die Philosophie, die nach dem Mittelalter für die Religion belanglos geworden war, wird nun für die kulturelle Identität zentral. Diese terminologisch neu auf den Schild gehobene »jüdische Philosophie« hatte nun aber, zum Teil mit verkehrtem Vorzeichen, mit denselben Problemen zu kämpfen, welche die Exklusionsdebatte in der christlich-europäischen Aufklärungsphilosophie vorgegeben hatten. Diese jüdische Philosophie sollte ein von der europäischen Philosophie sich abhebendes Profil haben, aber zugleich, um als Philosophie anerkannt zu werden, Kontakte oder gar Verflechtungen mit der griechischen Philosophie aufweisen. Ein weiteres Problem war darum auch, ob man die Kabbala in die jüdische Philosophie einbeziehen könne, oder ob sie von ihr auszuschließen sei. Auch die Frage, ob die jüdische Philosophie einfach durch die religiöse Zugehörigkeit definiert werden könne, wurde gestellt. Alle diese Debatten des jüdischen 19. Jahrhunderts spiegeln sich in den nun erscheinenden Darstellungen der »jüdischen Philosophie« aus jüdischer Feder wider. Schon die Titelgebung der nun erscheinenden Bücher lässt diese internen Diskussionen erkennen: Der oben bereits genannte Isaac Husik publiziert eine Geschichte der mittelalterlichen jüdischen Philosophie (1916), ähnlich David Neumark, der seinen Klassiker mit Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters (1907–1910) überschreibt. Dies ist dann eher essentialistisch zu deuten. Demgegenüber ist der Titel des deutschen Kompendiums von Julius Guttmann72 schon weniger eindeutig. Er lautet: Die Philosophie des Judentums (1933), der immerhin die Deutung als genitivus subjectivus oder als genitivus objectivus erlaubt: Also entweder eine von den Juden hervorgebrachte Philosophie, oder aber eine Philosophie über das Judentum, in welcher das Judentum der Gegenstand des Philosophierens ist. In diese Richtung der Deutung des Begriffs jüdische Philosophie weist auch die Hinzufügung des Attributs »Religion«. So zum Beispiel bei Jacob Guttmann: Die Religionsphilosophie des Saadia von 1882.73 Hier wir deutlich gesagt, was die jüdische Philosophie sein soll: Eine
72
J. Guttmann, Die Philosophie des Judentums, München 1933; siehe Th. Meyer, Vom Ende der
73
J. Guttmann, Die Religionsphilosophie des Saadia. Göttingen 1882. Neudruck Hildesheim /
Emanzipation – Jüdische Philosophie und Theologie nach 1933, Göttingen 2008. New York 1981. Ähnlich M. Joel, Die Religionsphilosophie des Mose Ben Maimon (Maimonides) 1859; M. Joel, Don Chasdai Crescas’ religionsphilosophische Lehren, Breslau 1866.
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philosophische Bearbeitung der jüdischen Religion. Ganz anders ist hingegen ein weiterer Titel zu deuten, der zunächst ganz ähnlich klingt, nämlich die 1849 erschienene Religionsphilosophie des Sohar, von David Heyman Joel. Hier ist die durchaus irrationale Lehre des Sohar, das heißt die esoterische Theologie des Sohar, als Religionsphilosophie bezeichnet. Entsprechend sagt es Adolphe Franck in seinem Klassiker: Die Kabbala oder die Religions-Philosophie der Hebräer von 1843/44. Damit wird die Kabbala insgesamt als jüdische oder hebräische Philosophie bezeichnet. Eine letzte Variante soll hier genannt werden. Es ist gleichfalls ein Werk des Nestors der jüdischen Philosophie-Geschichtsschreibung, Jacob Guttmann. Seinem Buch über Salomon Ibn Gabirol, der bis dahin nur als nichtjüdischer Avicebron bekannt war, gab Guttmann den Titel: Die Philosophie des Salomon ibn Gabirol (Göttingen 1889).74 Warum er hier nicht von jüdischer oder von Religionsphilosophie spricht, macht Guttmann in seiner Einleitung deutlich: »Gabirol […] trägt seine dem Judenthum in den wesentlichsten Punkten zuwiderlaufende philosophische Weltanschauung vor, ohne auch nur im geringsten das Bedürfniss zu verrathen, dieselbe mit seinen religiösen Überzeugungen irgendwie in Einklang zu setzen«.75 Für Guttmann war demnach Gabirol ein Jude, der zwar philosophierte, aber keiner, der eine jüdische Philosophie oder jüdische Religionsphilosophie vorträgt. Er gehört demnach nicht in den Kanon der jüdischen Philosophie. Guttmanns Sohn, Julius, wird da schon zurückhaltender formulieren. Er nimmt Ibn Gabirol in seine Darstellung der »jüdischen Philosophie« auf und weist dennoch zugleich auf das wenig dezidiert Jüdische dieser Philosophie hin.76 Keine inhaltliche Entscheidung will wohl Moritz Eisler wagen, der seine Philosophiegeschichte betitelt als: Vorlesungen über die jüdischen Philosophen des Mittelalters (Wien 1883), womit nur eine ethnische, oder konfessionelle Zugehörigkeit der behandelten Philosophen ausgesagt wird. Gegen eine Verkürzung des Judentums auf die Religion spricht sich hingegen Immanuel Wolf in seinem schon mehrfach genannten Aufsatz aus. Für ihn ist das Judentum, welches die Philosophie ihrem Wesen nach zu beschreiben habe, eben nicht nur die jüdische Religion. Mit dieser nachdrücklichen Klarstellung eröffnet er seinen besagten Aufsatz (1823):
74
Neudruck Hildesheim 1979.
75
Guttmann, Gabirol, S. 4.
76
Julius Guttmann, Philosophie, S. 102–103.
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»Wenn von einer Wissenschaft des Judenthums die Rede ist, so versteht es sich von selbst, daß hier das Wort Judenthum in seiner umfassendsten Bedeutung genommen wird, als Inbegriff der gesamten Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Litteratur überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten; – nicht aber in jenem beschränkten Sinne, in welchem es nur die Religion der Juden bedeutet.«77 Die somit auf den Schild gehobene »jüdische Philosophie« hatte also das Ziel und die Aufgabe der Schaffung einer neuen kulturellen jüdischen Identität für die von der europäischen und insbesondere deutschen Kultur zurückgewiesenen Juden. Diese Rolle wird die jüdische Philosophie dann natürlich umso mehr im neu entstehenden jüdischen Nationalismus, dem Zionismus haben, der ja gleichfalls eine säkulare jüdische Kultur aufbauen wollte.78 Das wesentliche Interesse für eine solche auf Identitätsbildung ausgerichtete Philosophie musste nicht in der Suche nach der für alle Menschen gültigen einen Wahrheit liegen. Im Vordergrund sollte vielmehr die Suche nach der eigenen partikularen Wahrheit stehen, nach der veritas judaica wie sie seit der Vorstellung von unterschiedlichen Wahrheiten denkbar geworden ist. Diese nunmehr dezidierte Abgrenzung gegen die allgemeine Philosophie zeigt sich insbesondere bei den neuen philosophischen Entwürfen, wie sie zum Beispiel Salomon Formstecher, Samuel Hirsch und Salomon Ludwig Steinheim vorgelegt haben. Die mittelalterliche Bewegung vom Partikularen hin zum Universalen hat sich umgekehrt. Ziel ist es nun, das Besondere, das Unterscheidende des Judentums herauszustellen. Die heidnische Philosophie sollte nun zum Judentum kommen und von ihm Besonderes lernen. Als gelungene Beispiele dieser Hoffnung kann man für die Zeit vor der Schoah insbesondere die Vertreter des jüdischen Existenzialismus und des Dialogs, angefangen schon mit dem Neukantianer Hermann Cohen,79 sowie vor allem Martin Buber, Franz Rosenzweig und Emanuel Lévinas nennen.80 Hier wurden Themen der allgemeinen Philosophie mit spezifisch jüdischen Akzenten vertreten, die auch für viele Nichtjuden eine große Attraktivität entfalteten. Dieser Weg zu einer vollkommenen Integration einer Philosophie, welche sich zugleich universal wie auch jüdisch darstellte, wurde durch die Vernichtung des europäischen Judentums jäh abgebrochen.
77
Wolf, Begriff, S. 1.
78
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 4.
79
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 617–657.
80
Hier in Band 5, Teil I, des Jüdischen Denkens.
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9.9
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Die Gegenwart: Unterschiedliche Konzepte von jüdischer Philosophie
Das Judentum der Gegenwart wird, insbesondere im Staat Israel aber auch in der Diaspora, vor allem in der US-Amerikanischen, als eine reich gegliederte Kulturlandschaft wahrgenommen, in der die Philosophie nicht mehr die zentrale Last der Identitätsbildung zu tragen hat, wie sich dies die Gelehrten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vorgestellt hatten. In einer solchen »Normalsituation« hat die jüdische Philosophie ihren Ort vor allem an den Universitäten und an spezifischen Einrichtungen, die sich die Aufgabe gestellt haben, die neue Vielfalt jüdischer Identitäten zu beschreiben und deren Einheit trotz der Divergenz zu definieren. Ab den 1960iger Jahren haben einzelne jüdische Philosophen, so vor allem Emil Fackenheim,81 Yitzchak Greenberg,82 Emmanuel Lévinas,83 Hans Jonas84 und Eliezer Schweid,85 versucht, das Geschehen der Schoah mit philosophischen – nichtreligiösen – Kategorien zu interpretieren. Hier diente die jüdische Philosophie der Lebensbewältigung und der Sinnsuche nach der Katastrophe. In diesen Entwürfen spielte die Frage nach dem Sinn und Verlauf der Geschichte, zum Teil zugleich mit und gegen Martin Heidegger, eine Rolle, oder in Aufnahme Schellingscher Weltaltertheorien. Insgesamt spielte das Thema der Schoah indessen nicht die zu erwartende nachhaltige Rolle in der jüdischen Philosophie, wie dies ein 2014 erschienener, unten zu besprechender Sammelband unter dem programmatischen Titel Jewish Philosophy For The Twenty-First Century86 demonstriert. Die in diesem Band versammelten Aufsätze stammen aus der Feder von 24 männlichen wie weiblichen jüdischen Philosophen. Die beiden amerikanischjüdischen Philosophen Hava Tirosh-Samuelson und Aaron W. Hughes haben von ihren Kollegen und Kolleginnen, Beiträge erbeten, die als Personal Reflections zum Thema jüdische Philosophie gedacht sind. Die meisten Autoren wirken in den Vereinigten Staaten von Amerika, die damit – numerisch wie qualitativ – als das Zentrum einer neuen jüdischen Philosophie vorgestellt werden, zwei 81
Zu ihm siehe, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 501–562.
82
Zu ihm siehe, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 563–587.
83
Zu ihm siehe, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 608–613.
84
Zu ihm siehe, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 614–635.
85
Zu ihm siehe, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 636–645.
86
H. Tirosh-Samuelson & A.W. Hughes (Hg.), Jewish Philosophy for the Twenty-First Century, Leiden-Boston 2014; der Band ist eine geographische und perspektivische Ausweitung der eines Symposions unter dem Titel The Renaissance of Jewish Philosophy in America, dessen Texte in dem Sammelband Jewish Philosophy: Perspectives and Retroperspectives 2012, herausgegeben von R. Jospe und D. Schwartz, publiziert wurden. Immerhin vier Autoren mit zum Teil ähnlichen Texten figurieren hier wie dort.
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von ihnen in Kanada. Nur vier oder fünf von ihnen lassen sich Israel zuordnen, die allerdings teilweise hier wie dort wirkten. Europa ist ausschließlich mit dem Franzosen Shmuel Trigano vertreten. Die mangelnde Präsenz Europas betrifft indessen nur die unmittelbar hier vertretene Gegenwart, während das jüdische wie nichtjüdische philosophische Europa und insbesondere das Deutschland der vorausgehenden Generationen wie ein übermächtiges Imperium präsent ist, von dem sich manche der Gegenwärtigen allerdings befreien möchten. Natürlich ist das beherrschende Thema auch dieses Bandes die lange kontrovers geführte Debatte, ob es denn überhaupt eine jüdische Philosophie geben könne, sowenig wie eine jüdische Mathematik oder jüdische Physik, so dass über dieser Sammlung die oben schon vermerkte Frage von Leon Roth, ob es denn überhaupt eine »jüdische Philosophie« gebe, schwebt. Die Konzeption des Bandes will eine direkte Antwort auf diese Frage geben, wie die Herausgeber gleich zu Beginn ihrer Einleitung feststellen: »Die Fähigkeit zu philosophieren und Dinge kritisch zu reflektieren, ist durch unsere persönliche Geschichte geprägt: Von unserer Abstammung, von unserem Status als Wissenschaftler, von den Menschen, bei denen wir studierten, von unserer täglichen Auseinandersetzung mit der Welt, in die wir gestellt sind, von den Beziehungen, welche wir mit unserer Umgebung pflegen, eingeschlossen unsere Ehepartner und Kinder.«87 Philosophie wird in diesem Band als ein im engsten persönlichen und sozialen Umfeld angesiedeltes Nachdenken verstanden, weshalb alle hier versammelten Autoren gebeten waren, ihren eigenen denkerischen Werdegang, samt entsprechenden biographischen Ereignissen, aus denen sich das nachherige Denken und Philosophieren gleichsam natürlich ergab, nachzuzeichnen. Mit dem hier vorgenommenen Bezug zum je eigenen Leben wird die von Leon Roth gestellte Frage nach einer jüdischen Philosophie klar dahingehend beantwortet: Wo jüdische Menschen über ihr eigenes Leben und die sie umgebende jüdische Gesellschaft und deren Beziehungen zur übrigen Welt nachdenken, kann man von einer jüdischen Philosophie sprechen. Denn »Jüdische Philosophie […] muss nicht – tatsächlich kann man sagen ›kann nicht‹ unbeteiligt sein. Sie stellt einen Rahmen bereit, in welchem jüdische Intellektuelle […] über Themen nachdenken, die für Juden und das Judentum von existentiellem Interesse sind.«88
87
Twenty-First Century, S. 1.
88
Twenty-First Century, S. 3–4.
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Diese partikulare Definition von Philosophie als Wissenschaft, die doch in der Regel einen universalistischen, für alle Menschen gültigen, Anspruch erhebt, unterscheidet sich zugleich erheblich von der schon ab dem 19. Jahrhundert vorgetragenen Definition einer jüdischen Philosophie, die durch ihren Gegenstand, nämlich das Judentum als Religion, oder religiöser Kultur, bestimmt war, also einer Darstellung der jüdischen Dogmen oder Glaubenssätze mit Hilfe der verfügbaren philosophischen Werkzeuge, wie dies vor allem im Mittelalter en vogue war. Gemäß dem Ansatz der hier gegebenen Selbstexplikation jüdischer Philosophen und Philosophinnen ist es nicht das jüdische »Dogma« das philosophisch erklärt oder gerechtfertigt werden soll, sondern das eigene Leben als Jude oder Jüdin in und außerhalb der jüdischen Gesellschaft. Dies geschieht sogar meist unabhängig von den überkommenen Lehren und Traditionen des Judentums, wenn diese natürlich auch in unterschiedlichem Maße und je nach den biographischen Daten bei den einzelnen Denkern nachwirken. Mit dieser Ausrichtung wird zugleich noch eine weitere Auffassung des Begriffs »jüdische Philosophie« abgewiesen, nämlich die jüdische Philosophie-Geschichtsschreibung, wie sie vor allem seit dem 19. Jahrhundert als Teil der Wissenschaft des Judentums vertreten wurde. Am entschiedensten formuliert die individuell-biographische Ausrichtung des Vorhabens der Israeli Avi Sagi, wenn er sagt: »Mittels einer jüdischen Philosophie können einzelne Denker ihre eigene und je spezifische Erfahrung ihrer jüdischen Welt in Begriffe fassen, die darum unvermeidlich bescheiden sein wird […] Der von mir unterstrichene narrative und hermeneutische Charakter dieser Philosophie ist keine zufällige Beschreibung. Im Endprodukt dieses Nachdenkens muss eine Verbindung einer besonderen Lebenserfahrung mit einem begrifflichen Rahmen zum Ausdruck kommen, als der philosophische Diskurs schlechthin. Jüdische Philosophen müssen tief an ihrem Ort und in ihrer Kultur eingewurzelt sein, so dass ihre Philosophie in einem tiefen Sinn ihre eigene Lebensgeschichte ist.«89 Immerhin weitet Sagi diesen ganz individuellen Bezugsrahmen einer solchen jüdischen Philosophie zugleich auf das gesamte jüdische Volk aus – innerhalb dessen ja seine so konzipierte jüdische Philosophie stattfindet. Dabei sollen dann so grundsätzliche Fragen erörtert werden, was denn die jüdischen Individuen und so grundverschiedene Gruppierungen wie Orthodoxe und Atheisten zu einem jüdischen Volk macht: »Diese Philosophie wird jüdisch sein, weil sie sich mit den Problemen der jüdischen Existenz befasst. Die Umbrüche, welche das jüdische Volk in der 89
Twenty-First Century, S. 404.
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jüngeren Geschichte erfahren hat, erfordern philosophisches Nachdenken. Der Fragen sind viele. Etwa im politischen Bereich: Was macht aus den zahlreichen Individuen und Gruppen ein Volk? Sind diese so verschiedenen jüdischen Kollektive wirklich Erscheinungsformen eines einzigen Volkes, und wenn ja, was sind die Merkmale dieses Volkes«90 Diese existentielle Definition einer jüdischen Philosophie kommt natürlich nicht von Ungefähr, und darauf weisen zahlreiche der in dem genannten Band versammelten Autoren hin. Sie hat ihre Wurzeln in der europäischen und deutschen – der jüdischen wie nichtjüdischen – Philosophie, die in den dort vorgestellten Konzeptionen jüdischer Philosophie bewusst aufgenommen wird. Die in diesem Band moderner jüdischer Philosophen versammelten zahlreichen und sehr unterschiedlichen Entwürfe für eine jüdische Philosophie für das 21. Jahrhundert sollen die Darstellung dieses abschließenden Bandes des Jüdischen Denkens als ein offener Ausblick auf die mögliche aber natürlich in keiner Weise sichere künftige Entwicklung beschließen. Als Abschluss dieses letzten Bandes des Jüdischen Denkens wird ein Epilog mit meinem eigenen Resümee folgen, der die Frage nach dem alles Verbindenden dieser großen Vielfalt jüdischen Denkens stellt.
90
Twenty-First Century, S. 403.
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TEIL III – DIE ENTFALTUNG DES EUROPÄISCH-JÜDISCHEN DENKENS IN DEN VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA – DIE GROSSEN DENKER
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I.
1.
ERKENNTNISTHEORIE, PHILOSOPHIE UND HALACHA – ORTHODOXE ANNÄHERUNGEN AN DIE MODERNE JOSEF DOV (BER) HA-LEVI SOLOVEITCHIK (1903–1993) Biographisches
Josef Dov Soloveitchik, in Prużana, Polen, geboren und im amerikanischen Boston verstorben, gehört zu einer fast typischen Gruppe jüdischer Intellektueller, die aus dem ostjüdischen Milieu, teilweise mit einer Zwischenstation im westlichen Europa, vornehmlich in Berlin, schließlich in die Vereinigten Staaten von Amerika emigrierten, um dort in führende Positionen des öffentlichen jüdischen Lebens und der akademischen Institutionen zu gelangen – wie der im vorliegenden Band behandelte Mordecai Kaplan (1881–1883), der in dessen Kapitel erwähnte Solomon Schechter (1847–1915), oder Marcus Jastrow (1828–1903), Joachim Prinz (1902–1988), Abraham Joshua Heschel (1907–1972) und andere. Wie im Falle von Mordecai Kaplan war es auch bei Soloveitchik schon der Vater, der in die USA vorausgezogen war, um seine Familie später nach sich zu ziehen.1 Die Familie Soloveitchik gehörte sowohl biologisch wie geistigintellektuell zur Familie des Begründers der Woloschyner Jeschiva, R. Ḥajjim Ben Jizchak, dem schon in einem vorausgegangenen Band des »Jüdischen Denkens« ein eigenes Kapitel gewidmet wurde.2 Soloveitchiks Großvater Ḥajjim (1853–1918) war selbst an dieser Jeschiva als Lehrer tätig, bis sie im Jahre 1892 auf zaristischen Druck hin geschlossen wurde. Hernach als Rabbiner von Brisk (Brest Litowsk) – genannt der Brisker Rav – begründete Ḥajjim ebenda eine eigene Jeschiva und vertrat dort eine Studienmethode des Talmud, die als »Brisker
1
In dieser biographischen Skizze folge ich Ch. M. Rutishauser, Josef Dov Soloveitchik. Einführung in sein Denken, Stuttgart 2003, hier findet man auch eine ausladende Bibliographie; A. Rakefet-Rotkof, Biografija schel ha-Rav Josef Dov Halevi Soloveitchik, in: A. Sagi (Hg.), Emuna bi-Semanim mischtanim. ʽAl Mischnato schel ha-Rav Josef Dov Soloveitchik, Jerusalem 1996, S. 17–41; weitere zusammenfassende Darstellungen: E. B. Borowitz, Choices in Modern Jewish Thought. A Partisan Guide, New York 1983, S. 218–241; A. Lichtenstein, R. Joseph Soloveitchik, in: Noveck, Great Jewish Thinkers of the Twentieth Century, Clinton Mass. 1963, S. 281–297; I. Bedzow, Halakhic Man, Authentic Jew. Modern Expressions of Orthodox Thought from Rabbi Joseph B. Soloveitchik and Rabbi Eliezer Berkovits, New York 2009.
2
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 313–342.
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Methode« Schule machen sollte.3 Bei ihr werden die behandelten Halachot auf ihre systematischen Grundmotive hin analysiert, um so deren Intention, deren »Geist«, zu erkennen, woraus dann bezüglich weiterer Entscheidungen Schlüsse gezogen werden können. Ein weiteres Moment, das sich auch bei Josef Dov Soloveitchik auf Tritt und Schritt erkennbar macht, ist die stete Heranziehung des Halacha-Kodex von Maimonides, dem Mischne Tora. Der Vater von Josef Dov – Schwiegersohn von R. Elijahu Feinstein (1842– 1929), gleichfalls ein herausragender Gelehrter und Rabbiner in der Gemeinde Prużana – lebte, wie üblich, mit seiner Frau zunächst im Haus des Schwiegervaters, wonach er von 1913 bis 1921 Rabbiner im weißrussischen Khaslowitz wurde, um schließlich nach Warschau zu gehen. Hier in Khaslowitz kam der junge Josef Dov unter den Einfluss des ḤaBaD-ḥasidischen Kinderlehrers Baruch Risberg. Seine talmudische Ausbildung verdankte Josef Dov doch vor allem seinem Vater, Literaturkenntnisse verschaffte ihm seine Mutter. Erst in Warschau erhielt das Kind auch mit Hilfe von Privatlehrern eine säkulare Ausbildung, die 1922 als gymnasiale Ausbildung anerkannt wurde. Dies erlaubte ihm, von 1924–1925 ein Studium an der »Freien Polnischen Universität« aufzunehmen, wonach er sich schließlich an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin einschrieb (1926), um hier sechs Jahre zu studieren und mit dem Berliner jüdischen Leben bekannt zu werden. Das Berliner Studium der Philosophie, Nationalökonomie und Orientalistik4 beendete Soloveitchik am 24.6.1930 mit der mündlichen Doktorprüfung in Philosophie (Tag der Promotion war der 10. 12. 1932) und mit einer Dissertation zum Thema: Das reine Denken und die Seinskonstituierung bei Hermann Cohen.5 1931 heiratete Josef Soloveitchik die in Jena als Erziehungswissenschaftlerin promovierte Tonya Lewitt (1904–1967). Mit ihr war Josef schon zum Zeitpunkt der Promotion auf dem Weg in die USA, wohin sie der Vater Moses gerufen hatte, der schon 1929 dorthin emigriert war und am Rabbi Isaac Elchanan Theological Seminary (der späteren Yeshiva University) als Lehrer arbeitete. Da eine versprochene Anstellung von Josef am Hebrew Theological Seminary in Chicago nicht realisiert werden konnte, ließ sich Soloveitchik in Boston nieder, wo er
3
Vgl. den Aufsatz von Soloveitchik »Schitat R. Ḥajjim, ʼIsch Brisk«, in: Be-Sod ha-Jachid we-
4
So laut dem Lebenslauf in der sogleich zu nennenden Dissertation.
5
Die gedruckte Dissertation trägt den Titel: Das reine Denken und die Seinskonstituierung bei
ha-Jachad. Mivchar Ketavim ʽivrijim, ed. P. Ha-Kohen Peli, S. 212–235.
Hermann Cohen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde genehmigt von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Von Josef Solowiejczyk aus Prużana (Polen). Die Referenten waren Prof. Dr. Heinrich Meier und Geheimrat Prof. Dr. Max Dessoir.
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Rabbiner der vereinigten orthodoxen Synagogen, das heißt Oberrabbiner der Stadt wurde. Zusammen mit seiner Frau baute er dort die erste jüdische Tagesschule unter dem Namen Maimonides School auf und mischte sich in öffentliche halachische Debatten ein, die ihm viel Ungemach eintrugen. Im Jahr 1935 bewarb er sich um die Oberrabbinatsstelle in Tel Aviv, was der Anlass zu seiner einzigen Reise ins Heilige Land war – er wurde allerdings nicht auserwählt. 1959 hat er nun seinerseits das Angebot abgelehnt, aschkenasischer Oberrabbiner des inzwischen gegründeten Staates Israel zu werden. Nach dem Tod seines Vaters Mosche wurde Josef zu dessen Nachfolger als Rektor des Isaac Elchanan Theological Seminary gewählt. Dieses Amt, neben dem er auch Philosophie an der Yeshiva Universität unterrichtete, füllte er bis zum Jahr 1985 aus, als er sich wegen Anzeichen einer Alzheimer-Erkrankung aus dem Berufsleben zurückziehen musste. Neben seiner Hochschultätigkeit wirkte Soloveitchik in zahlreichen rabbinischen Gremien, der Union of Orthodox Rabbis of the United States and Canada, im Rabbinical Council of America, und war ein viel gefragter Redner und Prediger. Nach seinem Engagement, auch als Vorsitzender, bei der zunächst Zionismus-feindlichen Agudat Jisrael trat er wohl unter dem Einfluss der sichtbar werdenden Katastrophe der Schoah der prozionistischen Mizrachi-Bewegung,6 das heißt den Religious Zionists of America, bei, die ihm ab 1946 die Ehrenpräsidentschaft verlieh. Für seine Anhänger ist Soloveitchik der Rav schlechthin und gilt als hochverehrter Vater der modernen Orthodoxie. Nach seinem Tod gründete sich eigens eine Gesellschaft der Lehre des Rav,7 die sich um die Edition der zahlreichen unveröffentlichten Manuskripte Soloveitchiks bemüht.
2.
Das denkerische Profil Soloveitchiks
Josef Dov Soloveitchik wird in der jüdischen Welt der Gegenwart eine hohe Bedeutung zugemessen, weil er die sich anscheinend feindlich gegenüberstehenden Bereiche der Philosophie hier und der Halacha dort miteinander zu verbinden wusste. Er ist es, so Avi Sagi im Vorwort zu dem Sammelband Glaube in wech6
Zu ihr vergleiche Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 439. In seiner Schrift Kol Dodi dofek, in: J. D. Halevi Soloveitchik,ʽIsch ha-ʼEmunah, Jerusalem1992 (8. Aufl.), S. 65–106, stellt Soloveitchik seine Sicht des Zionismus dar, dazu unten Punkt 7, Israel als Volk und Staat; der Text von Kol Dodi dofek auch in: J. D. Halevi Soloveitchik, Divre Hagut we-Haʽaracha, Jerusalem 1982, S. 9–5; und in: Ders. (Hg. P. Hakohen Peli) Be-Sod ha-Jachid we-ha-Jachad. Mivchar Ketavim ʽivrijim, S. 331–400.
7
ʽAmutat Torat ha-Rav.
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selnden Zeiten,8 der das philosophische Denken nicht nur mit der Halacha zusammenführte, sondern in sie hinein. Soloveitchik hat den Versuch unternommen, Bedeutung, Stellung und Wert der Halacha mit Hilfe moderner europäischer Philosopheme zu begründen. Damit wächst Soloveitchik eine Brückenfunktion zwischen den gespaltenen religiösen Lagern der Reform und der Orthodoxie zu – nicht dass er diese Kluft wirklich zu überbrücken vermochte, eher dahingehend, dass er ein Podium für gemeinsame Gespräche zwischen diesen beiden Blöcken bereitete, die sich nicht nur im Austausch widerstreitender Bekenntnisse erschöpfen müssen, sondern denen nunmehr eine Sprache bereitsteht, die einen wirklichen Gedankenaustausch ermöglichen kann. Für die Darstellung von Soloveitchiks Denken beziehe ich mich nur auf die von Soloveitchik eigenhändig verfassten Texte und lasse die zahlreichen Mitschriften seiner Reden beiseite.9 Die einbezogenen Hauptwerke sind demnach: Die Dissertation Das reine Denken und die Seinskonstituierung bei Hermann Cohen, Berlin 1932; ʼIsch ha-Halacha – galuj we-nistar (Hebr. »Der HalachaMensch – offenbar und verborgen«), New York 194410; The Halakhic Mind. An Essay on Jewish Tradition and Modern Thought, New York/London 1986 (verfasst 1944);11 U-vikkaschtem mi-scham12 (Hebr., »Von dort werdet ihr suchen«), Jerusalem 197913; Raʽajonot ʽal ha-Tefilla (Hebr. »Gedanken zum 18-Gebet«), Jerusalem 197914; The Lonely Man of Faith, (1965 in der Zeitschrift Tradition),
8
A. Sagi (Hg.), Emuna bi-Semanim mischtanim. ʽAl Mischnato schel ha-Rav Josef Dov Soloveitchik, Jerusalem 1996; ein weiterer wichtiger Sammelband: A. Rosenak & N. Rothenberg (Hg.), Rav be-ʽOlamo he-ḥadasch. ʽIjjunim be-Haschpaʽato schel ha-Rav Josef Dov Soloveitchik ʽal ha-Tarbut, ʽal ha-Ḥinnuch we-ʽal Machschava jehudit, Jerusalem 2010; A. Rakeffet-Rothkoff, The Rav: The World of Rabbi Joseph B. Soloveitchik, Hoboken NJ 1999; M. D. Angel, Exploring the Thought of Rabbi Joseph B. Soloveitchik, Hoboken NJ 1997.
9
In diesem Punkt stimme ich Ch. M. Rutishauser, Josef Dov Soloveitchik. Einführung in sein
10
Diese erste Ausgabe erschien in der Zeitschrift Talpijot, 1, 3–4, S. 651–735, New York 1944;
Denken, Stuttgart 2003, S. 16–18 zu. sodann in dem Band Be-Jesod ha-Jachid we-ha-Jachad, Mivḥar Ketavim ʽivrijim, ed. Pinḥas ha-Kohen Peli; als Buch zusammen mit den beiden folgenden Essays zuerst New York 1979; englisch: Halakhic Man, übers. L. Kaplan, Philadelphia 1983. 11
Laut Anmerkung des Verfassers in dieser Ausgabe.
12
Nach Dtn 4, 29 »Dann werdet ihr von dort aus den Herrn, deinen (sic!) Gott, suchen und du
13
Zuerst in der Zeitschrift Ha-Darom, 47, New York, Tischre 1978, dann im selben Jahr in dem
14
Zuerst in der Zeitschrift Ha-Darom, 47, New York, Tischre 1978, dann 1979 in dem Sammel-
wirst ihn finden«. Sammelband ʼIsch ha-Halacha. band ʼIsch ha-Halacha.
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als Buch, New York 198615; Kol Dodi Dofek (Hebr., Cant 5, 2, »Die Stimme meines Geliebten pocht«), New York 199216. Daneben werden gelegentlich noch andere kleinere Aufsätze beigezogen.17 Ein Problem für die Darstellung von Soloveitchik im Rahmen des Jüdischen Denkens ist es, dass die angezogenen Haupttexte nicht unerhebliche Differenzen der Auffassungen bieten, die man recht eigentlich als eine Entwicklung des Denkens und damit in biographischer Abfolge darbieten sollte, was, wie schon mehrfach vermerkt, nicht das Ziel der vorliegenden Darstellung ist. Nicht die denkerische Biographie einzelner Autoren sollen hier ja im Mittelpunkt stehen, sondern herausragende Werke, welche denkerische Mark- und Grenzsteine im jüdischen Denken darstellen. Wenn Soloveitchiks unterschiedliche Positionen hier dennoch aufgenommen werden, dann wegen ihrer einzigartigen Verbindung von halachatreuer Orthodoxie und moderner Philosophie. Aber dieses Spezifikum alleine birgt neue Schwierigkeiten. Denn die moderne Philosophie, die im Denken von Soloveitchik wirksam wird, ist nicht eine einzige. Man kann bei ihm eher von einer philosophischen Entwicklung sprechen, die sich sukzessive in seinen nacheinander folgenden Werken ausdrückt. Um mit Dov Schwartz18 zu sprechen: Das Buch ʼIsch ha-Halacha ist als eine erkenntnistheoretisch-idealistische Schrift – im Sinne der Marburger Schule Hermann Cohens und Paul Natorps – zu betrachten, die Schriften U-vikaschtem mi-scham und The Halakhic Mind gehen im Duktus der philosophischen Phänomenologie von Edmund Husserl, Max
15
Hier zitiert nach der Ausgabe 2006 mit einem Vorwort von David Shatz, New York, London
16
Abgedruckt in der hebräischen Ausgabe ʼIsch ha-Emuna, Jerusalem 1992.
17
A Halakhic Approach to Suffering, The Torah u-Maddah Journal Vol, 8/1998–1999 S. 324.
et al.
Catharsis, Tradition Vol. 17, Nr. 2, 1978, S. 38–54; Confrontation, Tradition Vol. 6, Nr. 2, 1964, S. 5–28; Family Redeemed. Essays on Family Relationships, MeOtzar HaRav Vol, 1, Printed in the United States of America 2000; Majesty and Humility, Tradition Vol. 17, Nr. 2, 1978, S. 25–37; Message to a Rabbinic Convention, in: Litvin Baruch (Hg.), The Sanctity of the Synagogue, New York 3, 1987, S. 109–114; On Interfaith Relationships, Rabbinical Council Record, Vol. 12, Nr. 3, Februar 1966, S. 1; On Seating and Sanctification, in: Litvin Baruch (Hg.), The Sanctity of the Synagogue, New York 3, 1987, S. 114–118; Redemption, Prayer, Talmud Torah, Tradition Vol. 17, Nr. 2 1978, S. 55–72; Sacred and Profane: Kodesh and Hol in World Perspectives, in: Epstein Joseph (Hg.), Shiurei ha-Rav: A Conspectus of the Public Lectures of Rabbi Joseph B. Soloveitchik, Hoboken, NJ 1994, S. 4–32; The Community, Tradition Vol. 17, Nr. 2, 1978, S. 7–24; The Synagogue as an Institution and as an Idea, in: Landman Leo (Hg.), Rabbi Joseph H. Lookstein Memorial Volume, New York 1980, S. 321– 339. Weitere Texte bei Rutishauser, S. 275f. Dort auch reichlich Sekundärliteratur. 18
Dov Schwartz, Haguto ha-filosofit schel ha-Rav Soloveitchik, Ramat Gan 2008–2015, 3 Bde.; hier Bd. 1. S. 8. Englische Ausgabe: Religion or Halakha. The Philosophy of Rabbi B. Soloveitchik, Leiden – Boston 2007.
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Scheler und anderen einher, während schließlich The Lonely Man of Faith als Ausdruck des Existentialismus vor allem vom Geiste Søren Kierkegaards gesehen werden kann. Aber es sind nicht nur diese genannten Philosophen, die für das Denken von Soloveitchik wichtig wurden. In der zentralen erkenntnistheoretischen Schrift The Halakhic Mind setzt sich Soloveitchik mit der gesamten crème der europäischen und amerikanischen Philosophie sowie mit den Theoremen der modernen, philosophisch argumentierenden, Physiker auseinander. Diese Schrift, in welcher Soloveitchik nach fünfundachtzig Seiten Geschichte der philosophischen Epistemologie gerade einmal siebzehn Seiten der Halacha widmet, ist eine kritische Geschichte der philosophischen Erkenntnislehre. In ihr werden zahllose nichtjüdische wie auch jüdische Philosophen und Naturwissenschaftler genannt, besprochen, eingeordnet und kritisiert. Sie kann meines Erachtens deshalb als der eigentliche archimedische Punkt in Soloveitchiks Denken betrachtet werden, von dem aus sich die übrigen Abzweigungen verstehen und begründen lassen und vor allem auch das Verständnis der unverrückbaren Bastion dieses orthodoxen Denkers, nämlich der Halacha. Die Halacha kann auch in den übrigen Schriften von Soloveitchik, in denen sie nicht den Mittelpunkt der Erörterung wie in ʼIsch haHalacha bildet, doch als der »Kompass« all seines Denkens entdeckt werden, wie er dies einmal selbst am Ende von The Halakhic Mind zur Findung eines theologisch-philosophischen Standpunktes ausdrückt: »Dafür gibt es nur eine einzige Quelle, aus der eine jüdisch-philosophische Weltanschauung, sich ergeben kann: Die objektive Ordnung – die Halacha. […] Solche Probleme wie die Freiheit, Kausalität, Gott-Mensch-Beziehung, Schöpfung und das Nichts können durch die Prinzipien der Halacha erhellt werden. Ein neues Licht könnte so auf unser Daseinsverständnis geworfen werden. So würde uns der Kompass der Halacha auch durch die Pfade der mittelalterlichen Philosophie leiten […]«19 Demnach soll hier der Versuch unternommen werden, das Denken von Soloveitchik, trotz seiner chronologisch unterscheidbaren Diversität von der erkenntnistheoretischen Mitte her zu deuten, die er in der schon 1944 entstandenen, aber erst 1986 publizierten Schrift The Halakhic Mind bereitgestellt hat. Es werden hier demnach die stets neuen Anläufe von Soloveitchik dargestellt, die Halacha, ihre Funktion und Bedeutung für den modernen Menschen darzustellen, eines Menschen, den er mit den genannten unterschiedlichen philosophischen Syste-
19
The Halakhic Mind, S. 101–102.
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men beschreibt, um in diese Darstellung dann jeweils die Halacha hineinzufügen, als die Lösung der diagnostizierten menschlichen Problematik.20
3.
Halacha als eine der legitimen Erkenntnis-Methoden im modernen Methodenpluralismus – The Halakhic Mind
3.1
Der Erkenntnis-Pluralismus der Moderne
Das Ziel des Essays The Halakhic Mind ist es, aufzuzeigen, dass sich in der Moderne eine Pluralität von Erkenntnisformen (Epistemologien) gebildet hat, nach der in verschiedenen Wissenschaften unterschiedliche Methoden zur Gewinnung von Erkenntnissen über unsere Welt angewandt werden welche die Forscher folglich zu unterschiedlichen Sichtweisen der menschlichen und irdischen Wirklichkeit gelangen lassen.21 Da nun, so geht die Argumentation weiter, diese Unterschiede nicht nur subjektive Vorlieben sind, sondern in der Wirklichkeit der dem Menschen begegnenden Phänomene begründet sind, haben all die unterschiedlichen Erkenntnisweisen nicht nur ein Recht auf gleichberechtigte Anerkennung nebeneinander, sondern sind geradezu notwendig, wenn es gilt, alle Facetten dieser Wirklichkeit zu verstehen und zu durchschauen. Und dies ist, so Soloveitchik, die Chance für die Religion, ihre eigene Sichtweise der Welt als gleichberechtigt und für den Menschen als unabdingbar herauszustellen: »Der homo religiosus bewegt sich in einer konkreten Welt voller Farbe und Klang. Er lebt in seiner unmittelbaren, qualitativen [das heißt, mit seinen Sinnen wahrgenommenen] Umgebung, nicht in einem wissenschaftlich konstruierten [durch die wissenschaftlichen Methoden Stück um Stück zusammengetragenen Bild des] Kosmos. Darum, solange Erkenntnis das ausschließliche Privileg des Naturwissenschaftlers (und des Philosophen, der in dessen Spuren folgte) war, suchte der homo religiosus seine Zuflucht in ande-
20
Siehe auch R. Munk, The Rationale of Halakhic Man. Joseph B. Soloveitchikʼs Conception of Jewish Thought, Amsterdam (Amsterdam Studies of Jewish Thought 3) 1996; M. Fox, The Unity and Structure of Rabbi Joseph B. Soloveitchikʼs Thought, in: Tradition 24, 2 (1989), S. 44–65; W. Kolbrener, Towards a genuine Jewish Philosophy: Halakhic Mindʼs New Philosophy of Religion, in: Tradition 30,3 (1996), S. 21–43; D. Schwartz, Ha-Maddaʽ we-ha-Todaʽa ha-datit be-Haguto schel ha-Rav Soloveitchik, in: A. Sagi (Hg.), ʼEmuna bi-Semanim mischtanim, S. 307–344.
21
Zu dieser Schrift vgl. J. Sacks, Rabbi Joseph B. Soloveitchikʼs Early Epistemology: A Review of the Halakhic Mind, in: Tradition 23, 3 (1988), S. 75–87; S. Spero, Rabbi Joseph Dov Soloveitchik and the Jewish Philosophy of Halakha, in: Tradition 30, 2 (1996), S. 21–34.
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ren Sphären. Theorien des Gefühls (Rousseau, Schleiermacher)22 und des ethischen Wollens (Kant, Fichte, Cohen)23 sollten demnach die Basis der religiösen Erfahrung bilden. Seit aber auch die Philosophie vielfältige (pluralistische) Deutungen der Wirklichkeit anerkannte, hat sie den homo religiosus aus seinen Fesseln befreit und ihn ermutigt, die vielfarbigen und polyphonen Erscheinungen, die auf ihn treffen, als eine einzige Wirklichkeit seines eigenen psycho-somatischen (leib-seelischen) Seins zu deuten. Im Gegensatz zum Naturwissenschaftler, kann der homo religiosus die Wirklichkeit nicht zweiteilen: Die Welt die er [mit seiner Vernunft] erkennt, ist dieselbe wie jene, die er [mit seinen Sinnen] erlebt. Der homo religiosus muss seine Position in der Welt des Erkennens / der Erkenntnis wieder gewinnen. Er ist nicht länger das emotionale Wesen, das von abstrusen Gefühlen und flüchtigen Stimmungen hinweggetragen wird, noch ist er der ethische Idealist auf unendlicher Suche nach Bestätigung und Autorität. Er ist vielmehr ein Typus der Erkenntnis [des erkennenden Menschen], der die Welt verstehen und deuten will. Die Realität, auf welche das Erkenntnisstreben ausgerichtet ist, kann nicht länger allein die Aufgabe des Naturwissenschaftlers und Philosophen sein, sondern auch die des homo religiosus.«24 Damit erhebt Soloveitchik den Anspruch, dass die religiöse Weltsicht, Welterkenntnis und Weltdeutung, gleichberechtigt neben den beiden anderen Wissenschaftsdisziplinen des Naturforschens und der Philosophie stehen müsse.25 Und dies, weil die Religion dezidiert ein Erkenntnisinteresse verfolge und nicht nur ein ich-bezogener Erlebnisraum sei. Man kann in diesem Bestreben Soloveitchiks, Religion als Erkenntnis-Methodologie darzustellen, einen fernen Nachhall jenes Philosophen erkennen, über den er seine Doktor-Dissertation geschrieben hat, nämlich Hermann Cohen. Für den Neu-Kantianer Cohen war das oberste Ziel seiner Befassung mit Religion zunächst, nachzuweisen, dass die Religion Anteil an der systematischen Erkenntnisarbeit der Philosophie und damit an der Logik habe – weshalb er vom Judentum als einer Religion der Vernunft sprach.26 Soloveitchik ist hier – mit Saul Ascher – einen Schritt weiter gegangen. Die Re-
22
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 583–591.
23
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 617–657.
24
The Halakhic Mind, S. 40; die Einfügungen in eckigen Klammern stammen als Erklärungen
25
Man vergleiche dazu ʼElija und Josef S. Delmedigo sowie Saul Ascher, Jüdisches Denken,
26
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 619–630.
von mir (KEG). Bd. 3, S. 62–64. 68–75. 417–443.
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ligion hat nicht Anteil an der philosophischen Erkenntnisweise, sondern repräsentiert ihr gegenüber eine völlig unabhängige, eigene Form der Welterkenntnis. Innerhalb des jüdischen Denkens hat die Frage des Verhältnisses von Vernunfterkenntnis und Religion schon lange eine bedeutende Rolle gespielt, worauf Soloveitchik auch am Beispiel von Moses Maimonides mehrfach verweist. Nach Maimonides gab es ja eine vollkommene Übereinstimmung von Vernunft und Religion,27 eine Auffassung die von Soloveitchik nachdrücklich kritisiert wird. Allerdings verweist er nicht auf jene Debatten der jüdischen Neuzeit, nach welchen es bereits eine Differenzierung und Hierarchisierung von naturwissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Erkenntnissen gegeben hatte.28 Wie und worin Soloveitchik dann bezüglich des Judentums diese religiöse Erkenntnisform verortet, soll später betrachtet werden, auch wie er in Anlehnung an den Neokantianer Paul Natorp und an den Lebensphilosophen und Hermeneutiker Wilhelm Dilthey versucht, eine eigenständige religiöse Hermeneutik zu formulieren, das heißt, wie er von den vor Augen liegenden Phänomenen, Texten und Traditionen zu einer spezifisch religiösen Deutung dieses Vorgegebenen kommt. Zunächst muss in wenigen Strichen Soloveitchiks Weg zur Begründung dieser eigenständigen Erkenntnisform Religion verfolgt werden.
3.2
Die Geschichte der Erkenntnistheorie und die daraus folgende Forderung nach einer eigenen religiösen Epistemologie
Seit Aristoteles und Plato bis zum modernen Kantianismus und NeoKantianismus, so beginnt Soloveitchik seine Analyse, galt als wahre Realität nur das, was mittels der physikalisch-philosophischen Erkenntnis erkannt wurde. Das ist das ewig Unveränderliche, platonisch gesprochen die Welt der Ideen, die alleine würdig für den wahrhaften Erkenntnisakt war, wohingegen die sich stets verändernden Phänomene der irdischen Wirklichkeit nicht wirklich Gegenstand der Erkenntnis sein konnten. Das bedeutet, dass die Philosophie seit Aristoteles bis in das beginnende 20. Jahrhundert »ein Satelit der ›Naturwissenschaft‹ blieb«, mit der Folge, dass man mit zwei Weltsichten rechnete, der naiven, den einfachen Sinneseindrücken verhafteten, und der wahrhaften, abstrakten, aus den Phänomenen erst rekonstruierten theoretischen. 27
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 438–479; u. siehe oben das Kapitel Die jüdischen Denomina-
28
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 62–64. 68–84. 417–443; u. K. E. Grözinger, Abraham Gei-
tionen 9.6. gers theologische Wende vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Debatte um Religion und Vernunft, in: Ch. Wiese, W. Homolka, Th. Brechenmacher (Hg.), Jüdische Existenz in der Moderne. Abraham Geiger und die Wissenschaft des Judentums, Berlin 2013, S. 15–36.
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Es war, so Soloveitchik, zunächst Henri Bergson,29 der eine Divergenz der Wahrnehmungsweisen zwischen den mathematisch fundierten Wissenschaften, inklusive der Philosophie, auf der einen und denen der biologisch geprägten Lebensprobleme und des menschlichen Bewusstseins auf der anderen Seite konstatierte, wiewohl sein »biologistischer Kreuzzug« letztlich nicht die erhoffte Wirkung entfaltet habe. Mehr zu dieser neu sich öffnenden Kluft der Weltwahrnehmung trug die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften bei, die zunehmend die alten Kategorien der Newtonschen Physik hinter sich ließen. Dies führte zu einer Unanschaulichkeit der naturwissenschaftlichen Theorien und damit auch mehr und mehr zu einer Distanz dieser Wissenschaften zu den herkömmlichen Philosophien. Die neu entstandene Kluft zwischen physikalischer Theorie und der subjektiven menschlichen Erfahrung habe schließlich die Notwendigkeit entstehen lassen, eine neue philosophische Deutung der Welt zu finden. Während die Positivisten und Empiriker vom Schlage eines Poincaré, Mach, Avenarius, Russel und Whitehead, ihre Philosophien nun ganz auf die Analyse der naturwissenschaftlichen Konzepte beschränkten,30 hätten andere, die Epistemologen, die Forderung nach einer neuen unabhängigen philosophischen Methode gerufen. Das Ziel war, nicht mehr wie bisher die abstrakte rekonstruierte Welt der Physik zu untersuchen, sondern gerade die sinnengesteuerte Welt und deren subjektive Wahrnehmung durch das Individuum. Es seien dann Denker wie William James, Wilhelm Dilthey, Walter Eucken, Étienne E. M. Boutroux und andere gewesen, welche die Humanwissenschaften von der mechanistischen Gefangenschaft den alten quantitativ-mathematisch Methoden befreiten und dem mentalsubjektiven, qualitativen Zugang zu den Weltphänomenen die Bahn brachen. So sei zum Beispiel das Zeit-Konzept angesichts der Zeitwahrnehmung des Menschen für den Psychologen ein anderes als für den Physiker, der die Zeit in Verbindung mit der Raumvorstellung konzipiere. Ähnliches gelte dann auch für das Konzept der Kausalität, woraus man schließen musste, dass es keine homogene logische Kategorientafel31 zur Feststellung der Welterkenntnis gebe, sondern eine Pluralität der kognitiven Methoden erforderlich sei.32 Mit anderen Worten, Geistes- und Naturwissenschaften bedürften je eigener Erkenntnisweisen. Hinzu kommt das andere, dass das Streben nach Erkenntnis nicht nur ontologischen Aspekten, wie Räumlichkeit oder Zeitlichkeit, unterliegt, sondern noch weiteren Faktoren, wie Wertvorstellungen (Axiologie) oder auch Zielsetzungen:
29
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 178. 218. 234–235. 239. 327–335. 345. 360. 381–
30
The Halakhic Mind, S. 12.
31
Zur aristotelischen Kategorientafel s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 379–384.
32
The Halakhic Mind, S. 14.
383. 402.
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»[Epistemologischer] Pluralismus bedeutet demnach nur, dass sich das Objekt in vielfältiger Weise dem [erkennenden] Subjekt darbietet, und all diesen ontischen Manifestationen je ein bestimmtes Ziel (telos) entspricht. Folglich, kann der Philosoph oder Naturwissenschaftler entsprechend seinen Zielsetzungen einen dieser vielfältigen Aspekte der Wirklichkeit herausgreifen.«33 Zu ähnlichen Folgerungen seien die philosophischen Pragmatisten und die kritischen Idealisten gekommen, so William James, auch John Dewey.34 Diese Schule habe argumentiert, »wenn die Kategorien und Vorstellungen von Substanz, Kausalität, Wirklichkeit, Notwendigkeit und dergleichen nichts als willkürliche Schöpfungen des Geistes seien, mit dem Ziel, das Unbekannte zu ordnen und zu klassifizieren, und wenn pragmatische Überlegungen den Erkenntnisprozess steuern, dann kann es keine Einwände gegen andere Zugänge zur Wirklichkeit geben, auch wenn diese nicht-naturwissenschaftlich (non-scientific) sind.«35 Für den kritischen Idealismus führt Soloveitchik die Philosophie der Symbole von Ernst Cassirer an, der den epistemologischen Monismus der Marburger NeoKantianer verlassen habe und stattdessen die Auffassung vertrat, dass das menschliche Denken die Welt unter unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachte und in verschiedene symbolische Formen gieße, die Sprache, den Mythos, die Kunst, die Wissenschaft und auch die Religion, von denen jedes seine berechtigte Sichtweise in die Welterkenntnis einbringe.36 Ein schließlich kaum mehr zu widerlegendes Argument zugunsten eines epistemischen Methodenpluralismus sieht Soloveitchik in den modernen Naturwissenschaften selbst. Physiker wie Nils Bohr (Komplementaritätstheorie), Werner Heisenberg (Principle of Indeterminacy – Unschärferelation), Max Planck und Albert Einstein haben schließlich selbst für die Naturwissenschaften die Notwendigkeit gesehen, unterschiedliche kognitive Modelle einzusetzen, um die Naturphänomene richtig beschreiben zu können. So die Auffassung von Bohr, dass man das Universum unter dem dualen Zugang des Raum-Zeitlichen auf der einen und des Kausalen auf der anderen Seite betrachten müsse, das Licht einmal als Wellen und einmal als Quanten zu beschreiben habe.37 Albert Einstein zitiert So-
33
The Halakhic Mind, S. 16. 21.
34
Zu ihm siehe unten Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Kap. IV, Kaplan.
35
The Halakhic Mind, S. 20.
36
The Halakhic Mind, S. 21; vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt
37
The Halakhic Mind, S. 24–24.
1994 (1923); zu Cassirer s. Th. Meyer, Ernst Cassirer Hamburg 2006.
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loveitchik mit der unzweideutigen Auffassung von der »logisch unüberbrückbaren Kluft zwischen unseren Sinneserfahrungen [von der Welt] und unseren Konzepten und Beschreibungen [von ihr].«38 Das Resultat aus all dem war, dass die Philosophie die Notwendigkeit einer eigenen spezifischen und pluralistischen Erkenntnislehre erkennen musste. Das Problem solcher pluralistischer Weltsichten blieb nun aber, ob sich hinter dieser Deutungspluralität dennoch ein umfassendes Absolutes, ein mysterium magnum verberge. Während die Pragmatiker und Symbolisten sich dieser Fragestellung verschlossen, haben moderne Metaphysiker wie Bradley, Royce, Bergson, Husserl und Max Scheler nach Wegen gesucht, dieses Absolute nicht aus den Augen zu verlieren. Ihnen gelang dies dadurch, dass sie statt von einer Pluralität der Erkenntnisweisen von einer Dualität sprachen, von der naturwissenschaftlichen und einer philosophisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise hinsichtlich der irdischen Phänomene auf der einen Seite und einer speziell philosophischen hinsichtlich der Noumena, das heißt der Erscheinungen des menschlichen Geistes auf der anderen. Sie fanden dafür Erkenntnismodi wie die Intuition, das eidetische Wahrnehmen, das heißt der Wesensschau, oder den emotionalen Apriorismus, das heißt die emotionale Vorgabe des Erkennens. Wilhelm Diltheys »beschreibende Psychologie«,39 nach der das erkennende Subjekt und das Erkannte Objekt mit einander verschmelzen, war dabei eine allgemein anerkannte Vorgehensweise. Diese Zugangsweisen, so Soloveitchik nutzten auch die späten Metaphysiker aus dem Lager der Phänomenologen40 und Existentialisten.41 Laut diesen Zugangsweisen zum Erkenntnisweg wurde die Einheit des zu Erkennenden durch die Person des erkennenden Menschen hergestellt. Es waren 38
The Halakhic Mind, S. 26; Einstein: »As a matter of fact, I am convinced that even much more is to be asserted: the concepts which arise in our thought and in our linguistic expressions are all – when viewed logically – the free creations of thought which cannot inductively be gained from sense experiences. This is not so easily noticed only because we have the habit of combining certain concepts and conceptual relations (propositions) so definitely which certain sense experiences that we do not become conscious of the gulf – logically unbridgeable – which separates the world of sensory experiences from the world of concepts and propositions.« aus: http://evans-experientialism.freewebspace.com/einstein_russell.htm; A. Einstein, Remarks on Bertrand Russelʼs Theory of Knowledge, From: The Philosophy of Bertrand Russell, Bd. 5 von »The Library of Living Philosophers«, ed. P. A. Schilpp, 1944, Transl. from the original German by P. A. Schilpp.
39
Dazu vgl. W. Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 385–393.
40
Zu ihnen siehe Jüdisches Denken Bd. 5, Teil III, Kapitel II, zu Abraham Joshua Heschel 2.1–
41
Siehe dazu die drei ersten hier in Bd. 5. besprochenen Autoren, Rosenzweig, Buber und
2.3. Lévinas.
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seine Persönlichkeit, sein Geist, die Selbstheit, das Bewusstsein, das Ich, der Fluss des Bewusstseins (stream of consciousness), die seelische Dauer, die Gestalt und das Unterbewusste, welche nunmehr für die Einheit des Erkannten bürgten. »Objekt und Subjekt verschmelzen und werden eins. Es ist der bedeutungsvolle Inhalt von A und B, der den Humanwissenschaftler interessiert, nicht deren Verhältnis zueinander.«42 Er interessiert sich nicht nur für das universelle Konzeptionelle, sondern auch für das Individuelle und Konkrete. Die geistige Wirklichkeit ist darum kein statischer Zustand, sondern ein Prozess des Werdens, ein steter Fluss.43
3.2.1 Die Folgen für das Verständnis von Religion Nach der Darlegung dieser weitreichenden Auflösung der alten philosophischen Erkenntnis-Konzeptionen, deren Auffaltung in Pluralitäten, oder in eine Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, kommt Soloveitchik darauf zu sprechen, welche Konsequenzen all dies für die »Religionsphilosophie«, sprich für das Verständnis von Religion hat. Schon oben war dieses Ergebnis vorweggenommen worden, nämlich dass laut Soloveitchik die Religion nunmehr als gleichberechtigtes Glied in den Kreis der pluralen Erkenntnisträger aufgenommen werden konnte. Um diese Gleichstellung der Religion noch eigens aufzuweisen, fragt er, analog zum einstigen Bemühen von Hermann Cohen, nach der kognitiven Eigenschaft der religiösen Wahrnehmung, das heißt ob man der religiösen Weltwahrnehmung tatsächlich ein Streben nach Erkenntnis zusprechen könne.44 Die moderne Religionsphilosophie, so Soloveitchik, hat den Erweis in der Frage der »Intentionalität« gesucht. Demnach hat jeder psychische Akt einen intentionalen Charakter, das heißt, er ist auf ein Objekt ausgerichtet – er verweist in diesem Zusammenhang auf die entsprechenden psychologischen Auffassungen von Rousseau (Gefühl), Schopenhauer (Wille), Schelling, Royce, Krueger, Volkelt, Maier und Scheler (Intuition) und schließlich Pascals Logique du Coeur.45 Eine solche Ausrichtung auf ein Objekt beinhaltet, auch ohne dessen bewusste Feststellung, immer einen Erkenntnisakt. So beinhaltet zum Beispiel der Satz »Ich liebe mein Land« zunächst die Behauptung der Existenz dieses Landes (Prädizierung), also der Erkenntnis dieses Existierenden. Da nun die Religion als intentionaler Weg zur Erkenntnis definiert ist, muss sein Ausgangspunkt nach Soloveitchik nicht die universale Erkenntnis des Abso42
The Halakhic Mind, S. 34.
43
The Halakhic Mind, S. 35.
44
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 619–629.
45
The Halakhic Mind, S. 42–43.
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luten sein, sondern zunächst das Naheliegende Hier und Jetzt, die sensible Welt, die Schöpfung, aus der Gott alleine zu erkennen ist.
3.2.2 Die religiöse Epistemologie »Die religiöse Philosophie, muss, wenn sie ernsthaft auf eine religiöse Erkenntnis ausgerichtet ist, eine eigene Epistemologie entwickeln. Eine solche Disziplin würde die grundlegenden Vorstellungen und Formen der Wirklichkeit untersuchen und sie sodann in einen religiösen Rahmen einfügen. Dann würde alsbald deutlich werden, dass viele Vorstellungen aus Naturwissenschaft und Philosophie nicht mit den theoretischen religiösen Programmen zusammenpassten. Grundlegende Vorstellungen wie Zeit, Substanz, Kausalität und Wirklichkeit, müssten, um für die religiöse Erkenntnis annehmbar zu sein, neu untersucht und neu gedeutet werden.«46 Diese Forderung nach eigenen, neuen religiösen Konzepten für die Grundkategorien des Weltverstehens expliziert Soloveitchik beispielhaft an der Zeitvorstellung. Er meint, weder die naturwissenschaftliche Methode, die Zeit in eine quantitative Chronometrie oder Chronogeographie zu übersetzen, noch die humanwissenschaftliche Herangehensweise, die Zeit als kreative Qualität, als den Bewusstseinsstrom zu identifizieren (W. James), oder als pure Dauer (durée, Bergson),47 würde dem religiösen Verstehen entsprechen. Für das Verständnis der Religion ist die Zeit eine Substanz, eine Wesenheit, die mit Attributen wie »heilig« oder »profan« qualifiziert werden kann. Für die Religion stellten sich Fragen wie die der Dualität von Zeit und Ewigkeit, oder von Gott in seiner Transzendenz, jenseits der Zeit, und zugleich in seiner Immanenz innerhalb der Zeit. Entscheidend sei auch die Kalenderfrage. Für die Religion ist, anders als für die Naturwissenschaft, die Gliederung der Zeit in Tage, Wochen, Monate und Jahre von entscheidender Bedeutung. Auch wird in der Religion, worauf Kierkegaard hingewiesen habe, die Zeit als eine zyklische Bewegung, eine ewige Wiederholung wahrgenommen, was wiederum der naturwissenschaftlichen Auffassung von der Zeit als raum-zeitlicher Erstreckung nicht entspreche.48 Solche unterschiedlichen Zeit-Konzepte des religiösen Denkens dürfen, so betont Solo-
46
The Halakhic Mind, S. 46–47.
47
Zu Bergson siehe Jüdisches Denken, Bd. 4. Bd. 4, S. 178. 218. 234–235. 239. 327–335. 345.
48
Vgl. D. Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheits-
360. 381–383. 402. verständnis, Berlin 1997.
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veitchik, nicht als pure Fantasie abgetan werden, sie sind vielmehr in das religiöse Bewusstsein eingebrannt, das die Zeit in seiner eigenen Weise wahrnimmt. Entsprechend müssten auch die übrigen Kategorien, der Kausalität, von Raum, Quantität, Qualität, Notwendigkeit etc. einer neuerlichen Untersuchung unterworfen werden und dadurch eine neue Deutung erfahren.49 Für all das fordert Soloveitchik, wie gesagt, eine eigene Methodologie, eine eigene religiöse Hermeneutik. Die von der modernen anti-intellektuellen Philosophie vorgeschlagenen Methoden wie Intuition, Wesensschau (Husserl), die dionysische Mystik (Nietzsche), der Gestalt-Theorie (Ernst Kretschmer, Ludwig Klages, Emil Utitz), auch der Subjektivismus eines Schleiermacher und Kierkegaard, könnten hier nicht wirklich zielführend sein. Auch die religiöse Philosophie müsse auf strikten logisch-epistemologischen Prinzipien errichtet werden.50 Für eine religiöse Epistemologie muss, so meint Soloveitchik, ein doppeltes Ziel verfolgt werden: Es müssen zum einen innerhalb des religiösen Raumes die Bereiche des Subjektiven (individuelle qualitative Sinneswahrnehmung) wie auch des Objektiven (quantifizierte wissenschaftliche Sichtweise) gleichberechtigt miteinander koordiniert werden. Die subjektive und die objektive Weltsicht müssen in der Religion gleichermaßen ihre Berechtigung und ihren Ort haben.51 Andrerseits aber dürfe deshalb auch das subjektive Empfinden nicht, wie in der Schleiermacherschen Konzeption,52 den absoluten Primat in der religiösen Weltdeutung haben, vielmehr müsse das subjektive religiöse Empfinden von den objektiven religiösen Rahmenvorgaben, den religiösen kollektiven Traditionen umklammert bleiben. Das bedeutet, dass man die religiöse Weltsicht nicht alleine aus den subjektiven Ergüssen des Individuums erheben darf, sondern dieses subjektive Erleben erst im Lichte der objektiven Religionstradition gesehen werden müsse. Soloveitchik ist demnach der Überzeugung, dass die Religion sich weder auf die objektivierte Wahrheit der Naturwissenschaft noch der Philosophie beschränken darf, sondern dass zum religiösen Leben eben auch das unmittelbare religiöse Erleben und Empfinden gehört, das dem Menschen eine eigene, höchst individuelle Weltsicht vermittelt. So wie auch umgekehrt nicht das Subjektive zum alleinigen Maßstab der Erkenntnis werden dürfe. Meist werde jedoch nicht erkannt, wie etwa in den liberalen Religionsformen der Moderne, dass das subjektive Wahrnehmen der Welt ohnehin nicht unmittelbar zur Erkenntnis und Erkenntnisformulierung zur Verfügung steht. Denn die 49
The Halakhic Mind, S. 46–50.
50
The Halakhic Mind, S. 50–55.
51
Vgl. oben, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, zu Martin Buber und Emmanuel Lévinas.
52
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 482. 524–525. 529. 585–591.
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unmittelbare Wahrnehmung ist etwas, das nur im gelebten Vollzug des Erlebens ergriffen werden kann, und somit schon der eigenen Erinnerung und noch viel mehr der Kommunikation an andere verschlossen bleibt. Sobald das unmittelbar Erlebte in Worte gefasst wird, erzählt wird, setzt schon die Objektivierung ein, alleine durch die gewählten Wörter der Sprache, die allemale schon vorkonzipierte Begriffe sind. Um nun dieser individuellen Erlebnisseite des Religiösen habhaft zu werden, nimmt Soloveitchik zu den Methoden der modernen Psychologie Zuflucht, wie er sie nach ausdrücklichem Bekunden53 von dem Marburger Neokantianer Paul Natorp, in dessen Buch Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Tübingen 1912, kennengelernt hat. Natorp erklärt in diesem Buch, wie das unmittelbare Erleben, das unmittelbare Erkennen, der wissenschaftlichen Erkenntnis aus dem besagten Grund nicht zugänglich ist. Will der Psychologe nun dennoch einen Begriff von diesem unmittelbaren Erkennen der Psyche erhaschen, bleibt ihm kein anderer Weg, als von den schon verobjektivierten, in Worte und Begriffe gefassten Erkenntnissen auf das wahrscheinlich tatsächlich Erlebte zurückzuschließen, also eine Rekonstruktion des Unmittelbaren, des Subjektiven aus dem Objektivierten vorzunehmen.54 Nach den Marbur53
Siehe The Halakhic Mind, S. 126, Note 75.
54
In seiner für den akademischen Unterricht zusammengefassten Voraus-Version Allgemeine Psychologie in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen, Marburg 1910, S. 9–10, sagt Natorp dazu das Folgende unter der hier kursiv gesetzten Überschrift: »§ 7. Rekonstruktion des Unmittelbaren im Bewußtsein die eigentümliche Methode der Psychologie. Nach dem Gesagten muß die kausalgesetzliche Erklärung der Bewußtseinserscheinungen rein der Naturwissenschaft, ihre teleologische Ordnung den Kulturwissenschaften als Aufgabe verbleiben. Es kann keine im kausalen Sinne erklärende Psychologie geben, die nicht Naturwissenschaft entweder schon wäre, oder es zu werden bestimmt wäre; und keine im teleologischen Sinn erklärende, die nicht Kulturwissenschaft wäre oder werden müßte. Es fragt sich, welcher eigentümliche Weg der Forschung also für eine von beiden verschiedene Psychologie übrig bleibt. Die Antwort ergibt sich aus der Erwägung, daß zwar die objektivierende Erkenntnis der einen wie der anderen Art ein Unmittelbares des subjektiven Bewußtseins voraussetzt, daß aber dies Unmittelbare keineswegs auch mittelbar bekannt ist. Denn die Erkenntnis des Erscheinenden geht naturgemäß zuerst objektivierend vor; sie verfährt konstruktiv; sie schafft aus dem gegebenen, Mannigfaltigen, aber Unbestimmten die Einheiten der Auffassung, die Begriffe, sie gibt so erst diesen in sich Bestimmungslosen die Festigkeit der Bestimmung, und damit der Erscheinung den Gegenstand. Es ist eine ganz neue Art der Reflexion, die auf das Unmittelbare der subjektiven Erscheinung rein als solches sich richtet, aus welchem alle erkannte Objektivität erst herausgearbeitet sei. Ja es könnte die Aufgabe ganz unlösbar scheinen, diesen ursprünglichen Bestand des unmittelbaren Bewußtseins zu erkennen, weil es in der Tat unmöglich ist, zu erkennen, ohne zu objektivieren. Diese Erkenntnis des Subjektiven ist in der Tat nur möglich durch einen Rückschluß von den vollzogenen Objektivierungen auf das, was als letzte subjektive Grundlage zu diesem vorauszusetzen ist. Die Rekonstruktion des Unmittelbaren muß sich also stützen auf die vorausgegangene Konstruktion des Objekts; sie besteht im Grunde in der reinen
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ger Neo-Kantianern ist, anders als bei Kant, die Erkenntnis alleine auf den idealen Intellekt gebaut, nicht auf die Sinneswahrnehmung. Letztere sei vielmehr bereits von den voraus gebildeten intellektuellen Konzepten abhängig. So sagt es auch Soloveitchik: »Jede Sinneswahrnehmung ist schon durch etwas Vorläufiges konditioniert, nämlich den kreativen [intellektuellen] Akt der Objektivierung.«55 Daraus folgt, nach dieser Auffassung kann die subjektive Wahrnehmung erst aus der objektivierten rekonstruiert werden. Diese Verkehrung des Prozesses der Erhebung von Subjektivem aus dem Objektiven, das für Soloveitchiks religiöse Hermeneutik zentral ist, wird für ihn zum wichtigsten Argument, nämlich dass die Religion nicht alleine vom subjektiven Erleben und Wahrnehmen erkannt
Umkehrung des Weges der objektivierenden Erkenntnis, so daß diese beiden Aufgaben der Erkenntnis: Konstruktion des Objekts und Rekonstruktion des Subjektiven, sich genau korrespondieren müssen, aber der Richtung nach sich entgegengesetzt sind. Der Gegensatz des Objektiven und des Subjektiven ist zuletzt nur der Gegensatz dieser beiden Richtungen des Erkenntnisweges. Demnach kann durch Psychologie freilich nicht ein völlig neuer Inhalt zutage gefördert werden. Aber neu ist doch die durchgängige Wiederherstellung der Verbindungen, welche die objektivierende Erkenntnis aufheben mußte; denn alle Objektivierung beruht auf Abstraktion, auf dem verfolgen einzelner Richtungen des Bewußtseins, dem Herausheben bestimmter Einheiten, die nur dadurch ›Objekte‹ dem Subjektiven des unmittelbaren Bewußtseins sich gegenüberstellen. Erst in der Verfolgung beider Grundrichtungen des Erkennens und dem Einblick in ihre genaue Wechselbeziehung zu einander vollendet sich die Arbeit der Erkenntnis, indem das objektive Verständnis der Phänomene aus den Gesetzen sich ergänzt durch das Verständnis der Gesetze selbst und aller durch sie geleisteten Objektivierung aus ihren subjektiven Grundlagen in der unmittelbaren Erscheinung.« Eli Holzer vergleicht Soloveitchiks hermeneutische Methode zur Auslegung von Texten mit der Hermeneutik der Geisteswissenschaften von Wilhelm Dilthey. Er beklagt dabei, dass bei Soloveitchiks Hermeneutik, im Gegensatz zu Dilthey, die historische Verankerung des subjektiven Erlebens für die Rekonstruktion nicht berücksichtigt werde, Soloveitchik also gleichsam eine unveränderliche Subjektivität voraussetze, wodurch die heiligen Texte gekennzeichnet seien. Demgegenüber habe auch Dilthey für die Textauslegung das »erklären« der historischen Umstände der Subjektivität nicht ausgeschlossen und nur noch ein »verstehen« im Sinne eines Nachlebens gefordert. E. Holzer, Ha-Teoria ha-hermeneutit schel ha-Rav Soloveitchik beḤibburo The Halakhic Mind, in: Rosenak & Rothenberg, Rav be-ʽOlam he-ḥadasch, S. 23–41; im selben Band vertritt J. Tarner eine etwas abweichende Einschätzung, nach der Soloveitchik eine historische Abhängigkeit der Objektivierungen des Subjektiven sehr wohl anerkenne. Zugleich stellt er fest, dass Soloveitchik seine Forderung nach einem epistemischen Pluralismus nicht auf die innerjüdische Pluralität ausgedehnt habe, J. Tarner, The Halakhic Mind ka-Dijjun bi-Techum ha-Filiosofija schel ha-Dat we-Haschlachotaw ha-jehudijot, in: Rav be ʽOlamo heḥadasch, S. 42–55. Soloveitchik nennt das halachische Judentum darum auch das wirkliche, authentische, das treue oder wahrhaftige Judentum, ʼIsch ha-Halacha, S. 37; Halakhic Man, S. 31. 55
The Halakhic Mind, S. 65.
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und vermittelt werden kann, sondern dass es stets auch der verobjektivierten Form des Religiösen bedarf, also des schriftlichen und rituellen Korpus der Religion. Das bislang Gesagte, das für die Erkenntnisgewinnung der realen materiellen Phänomene dieser Welt, wie auch, mit gewissen Unterschieden, für die Phänomene des Geistes gilt, bedeutet dann eben: Auch für die Geistigen Phänomene gibt es eine unmittelbare subjektive Wahrnehmung und deren objektivierte Abstraktion. Hinsichtlich der religiösen Phänomene findet demnach gleichermaßen eine Objektivierung der subjektiven Wahrnehmung statt. So zum Beispiel wird die subjektive ethische Einsicht religiös-moralischer Menschen in kommunizierbaren Satzaussagen, Normen und Werten objektiviert.56 Soloveitchik sieht in den geistigen Dingen geradezu einen inhärenten Drang, das Subjektive, das persönlich Erlebte, in äußerlichen Objektivierungen sichtbar zu machen, in Gesetzen, theologischen Lehrsätzen, Mythen und vor allem in Riten und im Kultus.57 Das religiöse Leben besteht mithin aus dem Dreiklang von Subjektivem (das individuelle Empfinden), von Objektivem (objektive normative Anschauungen) und schließlich dem Konkreten (Vollzug externer psycho-physischer Handlungen).58 Während nun in den Naturwissenschaften, die Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Ereignissen, A und B, auf der Ebene der Objektivierung, und nur hier darstellbar sind, ist dies im Bereich des Geistigen nicht möglich. Die theologische Aussagen A und B können auf der Ebene der objektivierten Aussage zum Beispiel nicht als kausal voneinander abhängig beschrieben werden, vielmehr wird ein möglicher Kausalnexus oder überhaupt eine Beziehung solcher Aussagen zueinander hier nur auf der subjektiven Ebene sichtbar, ist aber auf der objektivierten nicht mehr zu erkennen. Um solche Zusammenhänge im Bereich des Geistigen sichtbar zu machen muss man auf die Ebene des Subjektiven zurückgehen. Und dies ist laut Soloveitchik, im Gefolge von Paul Natorp, nur durch eine Rekonstruktion des Subjektiven aus dem Objektivierten möglich. Deswegen sagt er: »Was wir demnach sehen ist das Folgende: Objektive Reihen [von Aussagen] im Gebiet der Religion können aus sich selbst weder verstanden noch erklärt
56
The Halakhic Mind, S. 67.
57
The Halakhic Mind, S. 68–69; zu diesem Übergang vom Subjektiven zum Objektivierten siehe K. E. Grözinger, Jüdische Mystik, in: Ch. V. Braun & M. Brumlik (Hgg.), Handbuch Jüdische Studien, Köln, Weimar, Wien, 2018, S. 191–210; K.E. Grözinger, Jüdische Mystik, in: E. V. Kotowski, J. H. Schoeps, H. Wallenborn (Hgg.) Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd. 2, S. 117–137; K. E. Grözinger, Judentum, in: W. Achtner (Hg.), Mystik als Kern der Weltreligionen?, Fribourg-Stuttgart 2017, S. 188–209.
58
The Halakhic Mind, S. 68–70.
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werden. Dazu muss die subjektive Ebene erforscht werden, denn zuweilen können identische objektive Konstrukte absolut gegensätzliche subjektive Aspekte repräsentieren. Der Religionshistoriker, der religionsvergleichende Studien anstellt, kann seine Daten nur deuten, wenn er eine vorliegende positive Reihe von Glaubensaussagen, Dogmen, Normen und Bräuche auf die subjektive Ebene zurückverfolgt. Jeglicher Vergleich objektivierter Normen ist ohne die subjektive Perspektive vollkommen ohne Grund.«59 Wenn man zum Beispiel Platos Philosophie analysiert, müssen die folgenden subjektiven Faktoren rekonstruiert werden: Das Ineinander der kollektiven (gesellschaftlichen) und individuellen Psyche, das Zusammenspiel der Gesellschaft und die Distanz des Genies, das Ineinander von allgemeinen kulturellen Kräften und die Einzigartigkeit des Charakters etc. All dies muss aus den vorliegenden objektiven Texten erschlossen, rekonstruiert werden. Das Subjektive ist aus dem Objektiven zu erschließen. Da nun in der Religion beide Erkenntnisebenen, die subjektive wie auch die objektive, mit gleichem Gewicht ernst genommen werden sollen, bleibt nach den erkenntnistheoretischen Einsichten Natorps für die religiöse Erkenntnis eben nur jener doppelte Weg des konstruierenden Vorwärts und des rekonstruierenden Rückwärts. Nach der Feststellung, dass die Religion beide Seiten des Erkennens braucht, das unmittelbar Erlebte wie das in der Tradition Objektivierte, kann Soloveitchik mit einem kurzen Blick in die Religionsgeschichte die seiner Ansicht nach negativen Konsequenzen eines einseitigen religiösen Subjektivismus aufzeigen. Dem religiösen Subjektivismus, den er mit Pascal, Rousseau, Haman und Herder heraufgekommen sah und deren Nachfolger in Schleiermacher, Kierkegaard, Wilhelm Hermann, August Sabatier zu sehen seien, wirft er vor, dass bei einem solchen Subjektivismus die Religion nicht mehr kommunikabel und damit von der menschlichen Kultur ausgeschlossen bleibt. Damit seien zugleich Gefahren verbunden, die Soloveitchik als Barbarei und zerstörerische Kraftentfaltung benennt. Für Soloveitchik ist, gewiss in Erinnerung an das zentrale Argument von Jehuda Ha-Levi in seinem Sefer ha-Kusari,60 die Offenbarung durch die Größe der anwesenden Menschenmenge verbürgt, nicht durch das ekstatische individuelle Erleben: »Eine Offenbarungsreligion schließt von allem Anfang an jeden extravaganten Individualismus aus. Es ist nicht nur das individuelle Ego, selbst wenn dies mit übernatürlichen Kräften begabt ist, sondern die gesamte Gemeinschaft, die Gott begegnet. Die offenbarte Religion beruht auf der Vorstellung von 59
The Halakhic Mind, S. 72–73.
60
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 585–613.
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einem charismatischen gesellschaftlichen Ego, das die lebendige Inkarnation des Glaubens darstellt.«61 Außerdem, so fährt Soloveitchik fort, müsse der religiöse Akt jedem Mitglied der menschlichen Rasse zugänglich sein. Und »Das Vorhandensein einer objektiven Seite der Religion ist eine conditio sine qua non, wenn die Religion irgendeine Rolle in der menschlichen Gesellschaft spielen soll. In dieser Hinsicht irrte der religiöse Liberalismus. Er hat die Rolle der Norm und deren Beziehung zur körperlichen Sphäre unterschätzt. […] Die Besonderheit des religiösen ›Sollens‹, wie es im Ritual und Kultus offenbart wurde, hat er ignoriert.«62 Keine Religion kann ohne objektive Seite existieren. Und so wie die konkretesten Ausdrucksweisen der Kunst in Büchern und Gemälden zu finden sind, »so ist die verlässlichste Quelle objektiver religiöser Konstrukte in der religiösen Literatur zu finden, die Normen, Dogmen, Forderungen etc. enthält. Die kanonisierten Schriften sind die verlässlichste Grundlage für die Objektivität [der Religion].«63 Damit hat Soloveitchik das Terrain bereitet für seine Hochschätzung der Halacha. Wie mit ihr umzugehen ist, wie aus ihr die Religion erkannt werden soll, muss nun im Folgenden dargestellt werden.
3.2.3 Die Halacha als die höchste Form religiöser Objektivierung Nach Soloveitchiks epistemologischen Vorgaben hat von den beiden unverzichtbaren Seiten der Religion, das heißt des Subjektiven wie des Objektivierten, die Religion nur im Letzteren, dem Objektivierten, ihren eigentlich festen Grund, denn das Subjektive kann allenfalls vom Objektivierten aus rekonstruiert werden. Angesichts dieser Erkenntnis, kann es nicht mehr verwundern, wenn Soloveitchik das Zielkapitel von The Halakhic Mind, den vierten Teil, mit den folgenden Worten eröffnet: »Die Objektivierung erfährt ihren höchsten Ausdruck in der Halacha. In der Halacha ist der subjektive Fluss in den Griff genommen und in dauerhafte und greifbare Größen übertragen. Sie ist die Kristallisation der fließenden individuellen Erfahrung in feste Prinzipien und universale Normen. Kurz gesagt: Die Halacha ist das Instrument der Objektivierung unseres religiösen 61
The Halakhic Mind, S. 79; S. Spero, Rabbi Joseph Dov Soloveitchik and Belief in God, in:
62
The Halakhic Mind, S. 80.
63
The Halakhic Mind, S. 81.
Modern Judaism 19 (1999), S. 1–20.
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Bewusstseins, das Formprinzip des transzendentalen Aktes, die Matrix in welcher das amorphe religiöse Urmaterial (hyle) geformt ist.«64 Belege für die objektivierende Methode der Halacha sieht Soloveitchik darin, dass die Halacha häufig zu Quantifizierungen greift, also Maße für bestimmte Dinge und Handlungen angibt – ein Hinweis, der in seinem Buch »Der HalachaMensch« im Zentrum steht. Damit ist die Halacha für ihn zum zentralen Ort der Erkenntnis der jüdischen Religion erhoben, von dem aus auch die subjektiven Weltwahrnehmungen des religiösen Juden zu rekonstruieren sind. Allerdings dürfe das subjektive Rekonstrukt, entgegen dem oben entstandenen Eindruck, niemals die objektivierte Seite interpretieren, also ein objektives Gebot durch sein subjektives Korrelativum, da zwischen der subjektiven Seite und der objektiven kein Kausalverhältnis bestehe. Ein solches vorausgesetzt zu haben ist nach Soloveitchik auch der kardinale Fehler von Moses Maimonides, der suchte, für die religiösen Gebote des Judentums rationale Begründungen zu geben (Taʽame Mizwot).65 Nicht nur, dass diese Erklärungen des Maimonides für das religiöse Bewusstsein der meisten Juden folgenlos geblieben seien, sondern noch viel kritikwürdiger sei die Tatsache, dass durch solche Erklärungen das religiöse Motiv der Gebote durch andere, sachfremde Motive ersetzt würde. Erklärt man zum Beispiel wie Maimonides ein Gebot durch dessen ethische Nützlichkeit oder einen ethischen Grundsatz, dann ist das religiöse Gebot zu einem ethischen Befehl transformiert und die Religion zur Magd der Ethik gemacht.66 Wird das Schabbat-Gebot als Geschenk der Ruhe und Erholung des Menschen gedeutet, dann wird der Schabbat als Instrument eines hedonistischen Zieles verstanden. Das Wohlergehen des Menschen ist nach einer solchen Deutung das höhere Ziel, in dessen Dienst der Schabbat steht. Wieder wird also das religiöse Gebot für ein anderes »höheres« Ziel instrumentalisiert. Demgegenüber, so legt Soloveitchik dar, habe Maimonides in seinem Halachakodex – anders als im philosophischen More Nevuchim – den richtigen religiösen Deutungsweg eingeschlagen. Dort stelle er jeweils zunächst fest, dass die Gebote eine Verordnung der Tora sind, was als deren erschöpfende Begründung zu betrachten ist: Das Gebot ist ein religiöses Gebot der Tora. Es gibt also keine weitere kausale Begründung, etwa durch die Ethik oder das menschliche Wohlergehen. Die kausale, rationale Erklärung der Gebote stelle unerlaubter Weise eine Ursache fest, wodurch das Gebot einer übergeordneten Ordnung unterstellt wird – dies ist die Methode der Naturwissenschaft, die Methode der Objektivierung.
64
The Halakhic Mind, S. 85.
65
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 480–487. 394. 429–430. 540.
66
The Halakhic Mind, S. 93.
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Allerdings sagt Maimonides im Halachakodex Mischne Tora, nachdem er durch den Verweis auf die Verordnung der Tora die nachträgliche Kausalisierung abgewiesen habe, dass es in dem Gebot dann doch einen Hinweis gebe, den der Einzelne mit eigenen Gedanken verbinden möge. So zum Beispiel, wenn das Toragebot, am Neujahr den Schofar zu blasen, als Hinweis dafür genommen wird, Buße zu tun, oder das Schabbat-Gebot, als Hinweis auf Gottes WeltSchöpfer-Tätigkeit, und damit zur Bewusstmachung der menschlichen Geschöpflichkeit dient, so ist mit solchen Hinweisen nicht eine kausale Objektivierung vollzogen, sondern umgekehrt rekonstruktiv der Weg zum Subjektiven eingeschlagen. Das objektive Gebot wird nun einer subjektiven Applizierbarkeit zugeführt und damit der individuell religiösen Sphäre. Durch diese Hinweise – die eigentlich jedem Prediger und jedem Individuum nach je eigenem Bedürfen anheimgestellt sind – werden, so Soloveitchik, verborgene Schichten aufgedeckt, welche diesen objektivierten Formen zugrundeliegen. Soloveitchik könnte den symbolischen Deutungen eines Samson Raphael Hirsch, wie sie hier im dritten Band beschrieben wurden, offenbar sehr wohl zustimmen.67 Denn »durch stete Beobachtung und Analyse der objektivierten Formen des religiösen Handelns, können die allgemeinen Tendenzen und Neigungen, die im religiösen Bewusstsein verborgen sind, erfasst werden.«68 Dies ist wohl das Verständnis der »Rekonstruktion des Subjektiven« aus dem Objektiven, in der er sich auf Natorp beruft. Es hat dabei aber eine Verschiebung von einer retrospektiven Rekonstruktion (Natorp) zu einer prospektiven (Soloveitchik) stattgefunden. Der Psychologe Natorp wollte eruieren, was sich damals im Individuum abgespielt hat, während Soloveitchik vor allem darauf aus ist, was der Leser der Halacha für sich daraus subjektiv ableiten kann. Aber trotz, oder gerade wegen dieser Verschiebung glaubt er, dass es letztlich nur die Halacha ist, aus der eine »philosophische jüdische Weltanschauung entfaltet werden« könne.69
4.
Der Halacha-Mensch – ʼIsch ha-Halacha
4.1
Zielsetzung und Charakter der Schrift ʼIsch ha-Halacha
Dem Bändchen ʼIsch ha-Halacha (1944), nach der Dissertation die erste größere Schrift des jungen Soloveitchik und etwa gleichzeitig mit The Halakhic Mind,70 wird allgemein große Beachtung geschenkt, wohl nicht zuletzt wegen seines Titels, der zumindest aufhorchen lässt. Soloveitchik unterstreicht dies selbst, wenn 67
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 518–537.
68
The Halakhic Mind, S. 99.
69
The Halakhic Mind, S. 101
70
The Halakhic Mind entstand gleichfalls 1944, wurde aber erst 1986 veröffentlicht.
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er sagt, dass er in dieser Schrift dem – vor allem von Seiten der christlichen Theologie – viel gescholtenen Vertreter des halachischen Judentums sein Recht und seine Würde zurückgeben möchte. Betrachtet man das Bändchen genauer, kann allerdings der Eindruck entstehen, dass Soloveitchik in ihm nicht in erster Linie seine persönliche Theorie der Halacha vortragen, sondern den Vätern der eigenen Familie Soloveitchik ein Denkmal setzen will, eine Auffassung, welche auch Dov Schwartz vertritt und darauf hinweist, dass die in dem Buch vorgestellten Meinungen der osteuropäischen Halachisten nicht völlig mit Josef Dovs eigenen Auffassungen übereinstimmen.71 Die Differenzierung von Dov Schwartz kann indessen nur hinsichtlich der den litauischen Vätern zugeschriebenen halachischtheoretischen Erkenntnisweise gelten, die Schwartz zu Recht mit der Epistemologie von Hermann Cohen vergleicht, während in der Schrift als ganzer Josef Soloveitchik dieser »reinen Erkenntnis« der Litauer noch andere, kritische Facetten hinzufügt, wie er dies analog schon in seiner Dissertation zur Erkenntnislehre von Hermann Cohen getan hatte. Mit anderen Worten, Soloveitchik propagiert in dieser Schrift insgesamt eine mit eigenen kritischen Korrekturen versehene neokantianische Philosophie der Halacha. Betrachtet man die Schrift ʼIsch ha-Halacha als ganze, so wird eine zwiespältige Haltung Soloveitchiks zur reinen litauischen Halacha-Wissenschaft seiner Familie umso deutlicher – alleine schon durch ihre Form. Denn sie besitzt kaum die Gattung einer reinen Gedenkschrift, sondern verlässt diese vielfach und mutiert zuweilen zu einer Midrasch-Predigt, welche die altbekannten rabbinischtheologischen Topoi vertritt,72 sie bietet philosophische Referate, deren Zurechtrückung und Korrektur, nicht wenig Polemik gegen andere Religionen, insbesondere das Christentum, aber auch gegen die innerjüdischen Richtungen des Ḥasidismus und des liberalen Judentums. Will sagen, es ist zu erkennen, dass Soloveitchik in diesem Büchlein ein hohes Maß an innerer Beteiligung verrät und nicht nur gedenken und rühmen will. Das alles hat zugleich zur Folge, dass von dem im zuvor besprochenen Werklein, The Halakhic Mind, geforderten und vertretenen erkenntnistheoretischen Pluralismus eigentlich nur so viel übrigbleibt, dass damit eine Bresche allein für
71
D. Schwartz, Haguto ha-filosofit schel ha-Rav Soloveitchik, Bd. 1 S. 10. Die in dem Bändchen ʼIsch ha-Hlacha verherrlichten Gelehrten sind die Großväter Rabbi Ḥajjim, zunächst Lehrer an der berühmten Voloschyner Jeschiva, hernach in Brest Litovsk, bekannt als der Brisker Rav, und mütterlicherseits R. Elija Feinstein aus Prużana sowie der Vater Rabbi Mosche (Rabbiner in Khoslovitz, dann Lehrer am New Yorker Rabbi Isaac Elchanan Theological Seminary) und die Onkel Menachem Krakowski, Meʼir Berlin (Bar-Ilan) und Jizchak Zeʼev Soloveitchik, die der Autor mit einer beachtlichen Reihe von Anekdoten und Lobesworten ehrt.
72
Sie wurden in Jüdisches Denken, Bd. I, S. 221–298 ausführlich dargestellt und darum an dieser Stelle nicht wiederholt.
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das halachische Denken als dem wahren jüdischen Denken geschlagen werden konnte. Nicht nur die genannten anderen religiösen Richtungen werden polemisch des Irrtums geziehen, sondern alle Religionen, die sich in erster Linie auf das subjektive religiöse Befinden berufen. Demgegenüber stellt Soloveitchik den Halacha-Menschen als einen Menschen dar, der von der ratio gelenkt oder dessen subjektive Emotionen doch zumindest von der Vernunft reguliert würden. Der Halacha-Mensch ist nach seiner Auffassung ein Mensch, der zwischen den beiden extremen Polen des rationalen Wissenschaftlers (Mann des Wissens) auf der einen und des homo religiosus, des normalreligiösen gefühlsbetonten Menschen, auf der anderen Seite steht. Der Halacha-Mensch wird demnach durch drei grundlegend unterscheidbare Traditionen geprägt. Das eine ist das »rationale« Erkenntnisstreben, das mit einem vorgeprägten, vorgegebenen Erkenntnis-Paradigma sich der realen Welt annähert. Hier folgt Soloveitchik, dessen Dissertation über die Erkenntnistheorie von Hermann Cohen und der Marburger Schule noch ganz frisch ist, der neokantianischen Auffassung, dass der Erkenntnisprozess des Menschen von einer a priori vorgegebenen Erkenntnisstruktur geprägt ist, was im Folgenden noch näher zu erörtern sein wird. Das andere ist der Intellektualismus des mittelalterlichen Moses Maimonides, der, wie Soloveitchik eigens durch eine Anekdote unterstreicht, gleichsam der Familien-Philosoph der Soloveitchiks war.73 Allerdings wird dieser maimonidische Intellektualismus durch ihn behutsam aber nachhaltig durch eine halachische Note neu verortet, wie noch zu zeigen sein wird. Die dritte maßgebliche Tradition ist die überkommene rabbinische Theologie von Talmud und Midrasch, die er indessen meist aus der Haggada, also den erzählerischen und nicht aus den rechtlichen Texten schöpft. Damit ist zugleich gesagt, dass Soloveitchik sich nicht die Mühe machte, eine halachische Rechtsphilosophie74 zu erarbeiten, also nicht ein Denken herauszuschälen, das sich hinter den konkreten halachischen Entscheidungen manifestiert. Vielmehr greift er hier zu den Tora-theologischen Äußerungen der alten Midrasch-Literatur.75 Wenn man nun in diesem Büchlein dennoch – nicht zu Unrecht – eine Halacha-Philosophie vorgestellt sieht, so trifft dies nicht eigentlich auf die materielle Halacha zu, sondern nur auf deren Epistemologie. Richtigerweise würde man hier demnach von einer »Halacha-Erkenntnistheorie« – im Sinne der Dissertati-
73
U-Vikaschtem mi-scham, S. 230–231.
74
Zu der letztlichen Unmöglichkeit einer »Philosophie der Halacha«, an deren Stelle man allenfalls eine »Philosophie von Halachot« (im Plural) als Ziel setzen könne siehe A. Sagi, Reflections on the Challenges confronting the Philosophy of Halakha, in: M. Kacka, Z. Braiterman, D. Novak (Hg.), The Cambridge History of Jewish Philosophy, Vol. 2: The Modern Era, Cambridge et. al, 2012, S. 501–518.
75
Zu ihnen siehe Jüdisches Denken, Bd. 1. S. 221–297.
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on – sprechen, weniger von einer »Halacha-Rechtsphilosophie«.76 Die Anlehnung an die Marburger neokantianische Erkenntnisphilosophie geschieht indessen eher nur in formaler Hinsicht, nicht so, dass Soloveitchik die Marburger Epistemologie der reinen apriorischen Vernunft-Erkenntnis übernommen hätte. Der zentrale analoge Gedanke, der ihn hier mit den Marburgern verbindet, und der uns später noch beschäftigen wird, ist das Herangehen an das ErkenntnisObjekt nicht mit einem puren Empirismus, sondern mit einer von der wirklichen Realität unabhängigen Erkenntnis-Schablone, oder Erkenntnis-Vorgabe (apriorischer Denkmuster), der sich die Wirklichkeit letztlich beugen muss. Es ist dieser letzte Punkt, der dem Werkchen seine wirkliche Besonderheit in der jüdischen Geistesgeschichte verleiht, weil es eine wohl genuin jüdische Denk- und Umgangsweise mit der irdischen Realität, mit den Phänomenen der Natur und des Kosmos herausschält, die sich in vielerlei Weise bis in den alltäglichen Verhaltensgestus hinein auswirkte.
4.2.1 Die Bipolarität des ʼIsch ha-Halacha – des Halacha-Menschen Die Besprechung des Buches The Halakhic Mind hat für den Halacha-Menschen zwei Vorgaben ergeben. Zum einen muss der Halacha-Mensch, soll er das Ideal des jüdisch-religiösen Menschen sein, jene Doppelheit der Weltwahrnehmung oder Welterkenntnis in sich vereinen, nämlich die subjektive, spontan erlebte, sinnliche Wahrnehmung der Welt und sodann auch die objektivierte, quantifizierte und als Regelwerk von Gesetzen gezeichnete Welt. Zum zweiten galt nach den Klarstellungen von The Halakhic Mind, dass die Halacha, nicht der Midrasch, nicht die Poesie oder das Lied und das Gebet, die höchste Objektivierungsform der jüdischen Religion darstelle. Folglich ist es für Soloveitchik vorgegeben, dass nicht der Midrasch-Mensch, nicht der Gebetsmensch, oder der Predigt-Mensch und dergleichen auf den Thron des jüdisch-religiösen Ideals zu heben ist. Also darum der Titel und das Thema des Buches »Der HalachaMensch«. Trotz dieser Voranstellung des objektiven Elements der Halacha muss, nach den von Soloveitchik aufgestellten Vorgaben, der Halacha-Mensch auch die subjektive Seite der Religion vertreten. In diesem Sinne eröffnet er dieses zweite, für ihn zentrale Buch: »Am Halacha-Menschen sind zwei widersprüchliche Gestalten sichtbar, die sich in seiner Seele und in seinem Geist verwirklichen, zwei Spiegelbilder, 76
Hierzu vgl. L. Kaplan, Rabbi Joseph B. Soloveitchikʼs Philosophy of Halakha, in: The Jewish Law Annual 7 (1987), S. 139–197; ders. The Religious Philosophy of Rabbi Joseph Soloveitchik, in: Tradition 14, 2 (1973), S. 43–64; A. Nadler, Soloveitchikʼs Halakhic Man: Not A Mithnagged, in: Modern Judaism 13 (1993), S. 119–147.
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von denen das eine dem andern nicht gleicht. Auf der einen Seite ist er vom allgemeinen homo religiosus so weit entfernt wie der Osten vom Westen und entspricht in Vielem dem prosaischen, Erkenntnis suchenden Mann der Wissenschaft. Andrerseits ist er wieder der Gottesmann, mit einem ontologischen Blickwinkel, der dem Himmel [Gott] gewidmet ist, und mit einem Weltverstehen, das im Lichte der Gottheit erstrahlt. Darum ist es schwierig, das religiöse Bewusstsein des Halacha-Menschen mit den Maßstäben der beschreibenden Psychologie und der modernen Religionsphilosophie zu untersuchen. Der Halacha-Mensch repräsentiert vielmehr einen einzigartigen Typus, einen unabhängigen ›seltsamen‹ Charakter, der für Religionswissenschaftler sperrig ist.«77 Um dieses zwiespältige Bild des Halacha-Menschen etwas deutlicher zu konturieren stellt Soloveitchik ausführlich dar, was er unter dem allgemeinen homo religiosus und was unter dem kognitiven Typus des Wissenschaftlers versteht, an denen beiden der Halacha-Mensch teilhat, mit denen er aber doch nicht identisch ist. Beim Bild des Halacha-Menschen wie auch bei dieser Gegenüberstellung geht er typisierend vor – worauf er selbst hinweist78 – dies hat zur Folge, dass die Darstellung der beiden Typen dem hier angestrebten Ziel angepasst ist, ohngeachtet dessen, dass damit etwas andere Akzente gesetzt werden als in Halakhic Mind. Letzteres betrifft vor allem den homo religiosus, dessen Bestrebungen hier nicht so nachdrücklich als »Erkenntnisstreben« akzentuiert werden, wie dies im Kontext von The Halakhic Mind nötig war, wo es darum gegangen war, die Religion als Erkenntnismedium neben die anderen Erkenntnisträger zu stellen. Zum anderen wird auch der »Wissenschaftler« innerhalb des Halacha-Menschen in den Kapiteln 5–6 nach dem extremen Bild des Neokantianismus vom Schlage eines Hermann Cohen dargestellt, das in den restlichen Teilen des Buches nicht durchgehalten wird, sondern dem gewöhnlichen Bild des Halachisten konformer erscheint. Bevor Soloveitchik die beiden kontroversen epistemischen Weltzugänge skizziert, meint er indessen, dass deren Verbindung in jedem einzelnen Menschen zwar dessen Zerrissenheit bewirke, die letztlich jedoch eine kreative Kraft entfaltet und den Menschen durch ein läuterndes Feuer geistiger Disharmonie zum Höheren führt.79
77
ʼIsch ha-Halacha, S. 11; Halakhic Man, S. 3.
78
ʼIsch ha-Halacha, S. 11, Fußnote 1; Halakhic Man, S. 3, Endnote 1, S. 139.
79
ʼIsch ha-Halacha, S. 12; Soloveitchik verweist in diesem Zusammenhang auf ähnliche Positionen bei Heraklit und Hegel, Kierkegaard, den evangelischen dialektischen Theologen Karl Barth und Rudolf Otto.
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4.2.2 Die widersprüchlichen Persönlichkeitstypen im ʼIsch ha-Halacha: der »homo religiosus« und der »Mensch der wissenschaftlichen Erkenntnis« und deren ontologischer Grund Der Mensch der wissenschaftlichen Erkenntnis (Wissensmensch – ʼIsch haDaʽat) steht in der platonisch-aristotelischen Tradition, er sucht in der chaotischen Vielfalt der Weltphänomene die Ordnung und das Gesetz, denn nur was beständig, unveränderlich ist, ist wirklich existent und der Erkenntnis zugänglich. Der Wissenschaftler sucht Licht in das Dunkel der unordentlichen Vielfalt zu bringen, sucht Ordnung, Kausalität. »Erkenntnis besteht für den Mann des Wissens in der Aufdeckung des Geheimnisses und der Lösung des Rätsels, die tief in der Wirklichkeit verborgen und verschlossen sind, durch die Erkenntnis der festgeprägten Abläufe und der Natur der Welt. Das Tun des Wissenschaftlers ist das Aufdecken und Enthüllen.«80 »Ganz anders der homo religiosus. Wenn er der Welt Gottes gegenübersteht und sie betrachtet, ist er nicht bestrebt, das Mysterium der Schöpfung in eine einfache Erscheinung umzuwandeln, die sogar ein Schulkind versteht. Im Gegenteil, sein Wille ist es, das Mysterium des Seins zu unterstreichen, – das mysterium tremendum – und das Geheimnis der Schöpfung hervorzuheben.«81 Das heißt nicht, dass er den geordneten Kosmos verschmäht, im Gegenteil, aber für ihn liegt gerade darin das Geheimnisvolle. Je mehr Ordnung und Regel in der Welt er entdeckt umso größer erscheint ihm das Wunder umso dringender werden die Fragen und die Probleme. »Erkenntnis heißt für den Gottesmann, das Staunenswerte und das Wunder in den Gesetzen des Seins zu erfassen. Gerade das Verstehen der funktionalen Verbindungen, die zwischen den Phänomenen der Welt bestehen ist das Unbegreifliche, das Erstaunliche und das am tiefsten Verborgene.«82 Diese beiden sich widerstreitenden Erkenntnis-Zugänge zur Welt, die der Halacha-Mensch in sich vereint, sind indessen kein eigenartiger Zufall, sondern entsprechen der irdischen Wirklichkeit selbst, den hier begegnenden Phänomenen, ist also ontisch begründet. Die Wirklichkeit, so Soloveitchik öffnet sich der menschlichen Erkenntnis auf der einen Seite und auf der anderen verschließt sie sich und gibt ihre Geheimnisse nicht preis. Es ist die Natur der Dinge selbst, ihre Dualität zwischen Verborgenheit und Selbstoffenbarung, welche die doppelte Erkenntnishaltung im Menschen erzeugt: »Die ontische Dualität wird zur ontologischen Dualität. Die Janusköpfigkeit des Erkenntniszugangs des Wissensmenschen und des religiösen Menschen sind in der existierenden Wirklichkeit selbst
80
ʼIsch ha-Halacha, S. 16–17; Halakhic Man, S. 6.
81
ʼIsch ha-Halacha, S. 17; Halakhic Man, S. 6–7.
82
ʼIsch ha-Halacha, S. 17; Halakhic Man, S. 7.
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begründet.«83 Vorbildhaft nimmt dies nach Soloveitchik Moses Maimonides auf, der zum einen als erstes Gebot die Gotteserkenntnis fordert und zum anderen diese wieder für unmöglich hält, weshalb man Gott nur die sogenannten negativen Attribute zuschreiben kann, eine negative Theologie, deren wesentliche Aussage eben ist, dass wir von Gottes Wesen nichts erkennen können.84 Summa summarum begründen die beiden unterschiedlichen Erkenntnisweisen des Wissensmenschen und des homo religiosus zwei grundlegend verschiedene Weltanschauungen: »Der homo religiosus anerkennt keinen ontischen Monismus. Für ihn ist das Seiende (Jeschut) nicht uniform und einheitlich, sondern vielseitig (pluralistisch), hat zahllose Schichten, Stufen und Ebenen. Der ontische Pluralismus bildet die Grundlage seiner Weltanschauung. Er sucht in dieser konkreten körperlichen Wirklichkeit Spuren höherer Welten, die vollkommen gut und ewig sind.«85 Demgegenüber gibt es für den wissenschaftlich orientierten Wissensmenschen nur ein Interesse, nämlich die Gesetzlichkeit des von den Sinnen wahrnehmbaren Seienden zu erfassen – alles was darüber hinausgeht liegt nicht in seinem Interesse. Allerdings, so meint Soloveitchik, habe sich das religiöse Interesse in der gesamten europäischen Philosophie immer wieder geltend gemacht, in Platons Ideen, in der unerkennbaren Urmaterie des Aristoteles, die erst durch Formen in die Wirklichkeit gebracht wird,86 in der neoplatonischen Emanationslehre,87 in der unendlichen Substanz des Spinoza,88 und in der Neuzeit bei Kant (das Phänomen und das Absolute), bei den Phänomenologen Husserl und Scheler, bis zum epistemologischen Idealismus eines George Berkeley und Hermann Cohen. Ja auch im praktischen Verhalten von Askese einerseits und Wirklichkeitsverehrung andrerseits zeige sich dieses Streben der Menschen nach der Flucht aus der realen Wirklichkeit hin zu idealeren Lebensbedingungen.
4.3.
Die Halachische Erkenntnisweise
4.3.1 Die Erkenntnisweise des Halacha-Menschen – mittels eines die Erkenntnis leitenden »a priori« Der nächste wichtige Schritt in der Zeichnung des Halacha-Menschen ist es, aufzuzeigen, inwiefern er wirklich dem ʼIsch ha-Daʽat (Wissensmenschen) oder
83
ʼIsch ha-Halacha, S. 19; Halakhic Man, S. 9.
84
ʼIsch ha-Halacha, S. 21–22; Halakhic Man, S. 11–13; Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 438–450.
85
ʼIsch ha-Halacha, S. 23; Halakhic Man, S. 13.
86
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, Register s. v. »Materie« und »Form«.
87
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. Register s. v. »Emanation«.
88
Vgl. Jüdisches Denken, B. 3, S. 202–213.
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dem Mann der Wissenschaft entspricht. Um dies zu zeigen, greift Soloveitchik auf das Modell der neokantianischen Erkenntniskonzeption von Hermann Cohen zurück, wie er sie in seiner Dissertation erörtert hat. Dabei schränkt er, wie schon erwähnt, in den einführenden Kapiteln den Begriff des Halacha-Menschen zunächst ein und zeichnet ihn als den reinen Theoretiker, dem an der konkreten Realisierung der Halacha nicht gelegen ist. Erst später wird der Begriff wieder auf die traditionellere Konzeption des Halacha-Entscheiders mit dem Ziel von deren Realisierung eingeschränkt. Die erste Charakterisierung, die dieser Halacha-Theoretiker erfährt, wodurch er dem Naturwissenschaftler vom Typ des Wissensmenschen an die Seite gestellt werden soll, ist die, dass dieser Halacha-Theoretiker in seiner Hinwendung zur Wirklichkeit zunächst nicht an der Transzendenz interessiert ist. Auch ist sein Interesse an dieser Wirklichkeit nicht von reiner Wissbegierde hinsichtlich der Dinge oder aus lebensbezogenen Motiven gesteuert, sondern alleine durch »apriorische Welt-Bilder, die er im innern seiner Seele und seines Geistes trägt.«89 Um diese Aussage zu verstehen, muss man zunächst beachten, wie Soloveitchik die Weltzuwendung des reinen Wissensmenschen, des Naturwissenschaftlers beschreibt. Er sagt da unter anderem, dass der Wissensmensch, um das Geheimnis der Welt zu lüften, sich zunächst eine ideale Welt konstruiert, in der es feste Regeln und Bezüge gibt. Er schafft sich eine ideale apriorische Welt. Diese konnte er aus der empirischen Weltbeobachtung gewinnen, die ihm im Laufe sich wiederholender Begebenheiten Regeln erscheinen ließ, die der Wissenschaftler zu einem theoretischen Gebäude, zu Weltmodellen konstruiert, ohne dass er dann noch des Augenscheins bedarf.90 Diese ideale apriorische Welt ist dem Wissenschaftler fortan der Maßstab für seine Weltbetrachtung:
89
ʼIsch ha-Halacha, S. 26; Halakhic Man, S. 17.
90
Diese Gewinnung der apriorischen Denkmöglichkeit entspricht der Kritik von Soloveitchik, die er gegen Cohens reines Denken vorbringt: »Die Frage nach der Objektivität des apriorischen Denkens, nach dessen Gültigkeit, hat Kant durch die apriorische Notwendigkeit beantwortet. Das reine Denken konstituiert und ermöglicht die Erfahrung, daher ist es gültig und notwendig. Gegen diese apriorische Verifizierung der reinen Anschauungs- und Denkformen, durch den Hinweis auf die Unwegdenkbarkeit der kategorischen Momente machen sich schwerwiegende Einwände geltend. […]. Um die Objektivität der Kategorien zu beweisen, müßten wir eher eine empirische Verifizierung aufbringen, d. h. die apriorischen Formen des Anschauens und Denkens sind deshalb gültig, weil sie durch die Empirie bestätigt werden. […].«, Soloveitchik (Solowiejczyk), Das reine Denken und die Seinskonstituierung bei Hermann Cohen, S. 33; u. s. Sh. A. Bruckstein, Halakhic Epistemology in Neo-Kantian Garb: J. B. Soloveitchikʼs Philosophical Writings Revisited, in: Jewish Studies Quarterly 5 (1984), S. 346–368.
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»Und wenn er sich dann der Wirklichkeit zuwendet, um sich seiner idealen apriorischen Lehre (Torato) in der konkreten Realität zu bedienen, dann tut er dies mit seiner apriorischen Lehre in der Hand. Er will dann die Wirklichkeit nicht bereitwillig und rezeptiv erkennen wie sie tatsächlich ist, sondern er kreiert sich das apriorische Bild, die ideale Gestalt, und vergleicht sie mit der realen Welt. Seine Hinwendung zur Wirklichkeit soll nun nur noch feststellen, in welchem Verhältnis die unmittelbare Wirklichkeit zu seiner idealen apriorischen Schöpfung steht. Wenn dann der Meister des apriori zum Praktiker wird, dann will er das Maß der Übereinstimmung zwischen seiner idealen Welt und dem Konkreten Sichtbaren erkennen.«91 Mit der Erkenntnis fester idealer Gesetze und der Messung der Übereinstimmung des Einzelphänomens mit diesen apriorischen Regeln hat der Wissenschaftler seine Aufgabe erfüllt, ein weiteres Interesse an den konkreten Details hat er nicht. Diese Art der Herangehensweise nennt Soloveitchik nach der Vorgabe der Cohenschen Philosophie mathematisch: »Dieser Zugang ist der Zugang der Mathematik und der mathematisch geprägten Naturwissenschaften. […] Diese Herangehensweise ist apriorisch und idealistisch. Das heißt: Die Erkenntnis ist eine Konstruktion von Gesetzen, deren Notwendigkeit aus ihr selbst geschöpft ist und die bezüglich ihrer Wahrheit keiner genauen Entsprechung in dem korrelativen konkreten Bereich bedarf. Die Übereinstimmung beider ist nur Näherungsweise. […] Hier besteht eine ideale neben einer konkreten Welt.«92 Es ist gerade diese Struktur von erkennendem Subjekt, zu erkennendem Objekt und dem dafür zur Verfügung stehendem Erkenntnis-Apparat, den Soloveitchik auch beim Halacha-Menschen vom theoretischen Typus sieht. Der ihm apriori an die Hand gegebene Erkenntnis-Apparat ist die Halacha. Denn auch sie ist ein ideales Weltkonstrukt, das dem Halachisten dazu dient, die konkrete Wirklichkeit auszumessen. Der bedeutsame Unterschied, dass die Halacha, wie Soloveitchik eigens betont »vom Sinai« in die Hand des Halachisten kam, also von Gott
91
ʼIsch ha-Halacha, S. 27; Halakhic Man, S. 18.
92
ʼIsch ha-Halacha, S. 27; Halakhic Man, S. 18–19. Vgl. die Eröffnungsworte von Soloveitchiks Dissertation: »Wenn wir den Cohenschen Idealismus charakterisieren wollen, so könnten wir sagen: er sei mathematisch-naturwissenschaftlicher Idealismus. Die Mathematik und die Physik waren stets zwei mächtige Werkzeuge des philosophischen Kritizismus.«, Soloveitchik, Das reine Denken, S. 11; und ebenda S. 77: »Cohen setzt das logische Denken dem mathematisch-naturwissenschaftlichen gleich, daher der folgerichtige Schluß: Sein ist nur das mathematisch-naturwissenschaftliche Sein.«
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gegeben sei, wie er gleich anschließend sagt, und der Tatsache, dass das Konstrukt des Mathematikers und Naturwissenschaftlers von ihm selbst erstellt wurde, ist später noch zu erörtern. Allerdings tendieren die Formulierungen von Soloveitchik dahin, diesen Unterschied zu verwischen, weil ja auch die sinaitische Halacha vom Halachisten bearbeitet und weiter konstruiert wird. Auch die folgende Definition der Halacha hält diesen Schwebezustand: »Das Wesen der Halacha, die er vom Heiligen, Er sei gesegnet, empfangen hat, ist das Konstrukt (Jezira) einer idealen Welt und die Erkenntnis des Maßes der Übereinstimmung zwischen dieser und der Wirklichkeit […]. Es gibt keine Erscheinung in der Welt, kein Gebilde noch Geschöpf, auf welche sich die apriorische Halacha nicht mit ihrem idealen Maßstab bezieht.«93 In dieser Phase seiner Erörterung des Halachisten betont Soloveitchik mehrfach das Desinteresse des Halachisten an der Realisierung der Halacha. »Die [theoretische] Halacha, nicht das realisierende Tun, das ideale Konstrukt, nicht die Realia sind das Bestreben des Halachisten.«94 Das innerste Anliegen des Halachisten gelte demnach alleine dem theoretischen Konstrukt. »Wenn viele der halachischen Begriffe den Phänomenen der Realität nicht entsprechen, macht dies dem Halacha-Menschen keine Sorgen. Das Ziel seines Strebens ist nicht die Realisierung der Halacha, sondern die ideale Konstruktion, die sie vom Sinai erhalten hat und diese besteht in alle Ewigkeit.«95 Diese Zielsetzung des theoretischen Halachisten mag in der Tat, wie Dov Schwartz, meint,96 den Theoretikern aus der litauischen Schule entsprechen und somit eine Art Denkmal für die halachischen Vorväter aus Soloveitchiks Familie sein, aber sie entspricht nicht dem Ideal des traditionellen Halachisten, dem auch Soloveitchik selbst verpflichtet ist, nämlich dass der Halachist sehr wohl bestrebt ist, die Halacha im Leben des Juden zu verwirklichen, wie er an vielen Stellen dieser Schrift nachdrücklich betont.97 Die große Nähe des apriorischen halachischen Denkens zu den Methoden der mathematischen Naturwissenschaft sieht Soloveitchik auch darin, dass die Halacha wo immer dies geht, mit Maßen und Ordnungsgrößen arbeitet, sprich die Objektivierung, das halachische Ideal in Zahlengrößen auszudrücken, das heißt zu quantifizieren:
93
ʼIsch ha-Halacha, S. 30; Halakhic Man, S. 19.
94
ʼIsch ha-Halacha, S. 31; Halakhic Man, S. 24.
95
ʼIsch ha-Halacha, S. 31; Halakhic Man, S. 23; vgl. ʼIsch ha-Halacha, S. 34–34.
96
D. Schwartz, Haguto, Bd. 1, S. 10.
97
ʼIsch ha-Halacha, S. 35. 80. 91; Halakhic Man, S. 29. 80–91. 108–109.
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»Der Halachist gleicht doch ein wenig dem Mathematiker, der das Unendliche nur beherrscht, um eine durch Zahlen und mathematische Maße begrenzte Endlichkeit zu kreieren und zu erkennen. Die Halacha verwendet auch die Methode der beschränkenden Quantifizierung, sie quantifiziert die Qualität [das sinnlich Wahrgenommene] und die subjektive Religiosität in Formen objektiver und konkreter Phänomene, die Maß und Begrenzung haben […]. Die Halacha legt Urteile fest, Gesetze und feste begrenzte Maße für jedes Gebot – wie wird ›Essen‹ definiert und was sind seine Maße, wie ›Trinken‹ und was sind seine Maße, was ist eine Frucht, was ihre Maße und Erkennungsmerkmale, die 39 am Schabbat verbotenen Arbeiten und deren Umfang, die Maße einer Bezeltung, welche die Unreinheit [eines Toten] weitergibt, Begrenzungen, Geldeinheiten und dergleichen mehr.«98 Das fundamentale Ziel der Halacha ist demnach, laut Soloveitchiks Auffassung, das Qualitative, das heißt die subjektive religiöse Erfahrung, den stets fließenden Inhalt des Bewusstseins des religiösen Menschen, auf feste und beständige Maße zurückzuführen, in festgefügte Regeln, die niemand verrücken kann.99 Er meint, der Wille Gottes werde sowohl im subjektiven Erleben wie auch in der idealen Halacha sichtbar – beides hält er für nötig. Aber nach dem in seiner Schrift The Halakhic Mind 100 schon ausgeführten ist die halachische Basis das, was die Religion letztlich sichert. Schon an dem Natorpschen psychologischen Modell hatte Soloveitchik ja bereits dargelegt, dass das Subjektive nicht kommunizierbar und auch nicht wirklich greifbar sei, weshalb die einzige verlässliche Basis zur Erkenntnis einer Religion letztlich deren objektivierte Form, wesentlich also die Halacha, ist. Auch in ʼIsch ha-Halacha unterstreicht er es nochmals mit allem Nachdruck, dass eine Religion, die nur auf das subjektive Erleben aufgebaut ist, keinen Bestand haben kann: »Eine subjektive Religiosität hat keinen Bestand und all jene Bestrebungen, die auf eine Subjektivierung des religiösen Handelns aus sind, welche die Konkretheit und Körperlichkeit des religiösen Lebens leugnen und den Menschen in eine abstrakte reine Welt verbringen, in der es weder Essen noch Trinken gibt, sondern nur den Genuss des inneren Erlebens seines Geistessturmes und seines Strebens nach oben, seiner verborgenen Sehnsüchte, verborgenen Begierden und mysteriösen Wünsche – werden zugrundegehen. Die direkte Macht der Religion, die den Menschen erfasst und ihn sich zum Untertan macht und erobert, wirkt nur, wenn die Religion eine konkrete Religi98
ʼIsch ha-Halacha, S. 54; Halakhic Man, S. 55.
99
ʼIsch ha-Halacha, S. 55; Halakhic Man, S. 57.
100
S. oben Kap. 3.2.3 Die Halacha als die höchste Form religiöser Objektivierung.
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on ist, eine Religion des sichtbaren Lebens, in der es Bilder, Gerüche und Anfassbares gibt, eine Religion die das Fleisch und das Blut mit all ihren Sinnen, Adern und Gliedern spürt, mit all ihrem Wesen und Sein, eine sinnenhafte Religion, mit welcher der Mensch der Begierden in Kontakt tritt auf Schritt und Tritt. Eine subjektivistische Religiosität mit geistigen Positionen, von Emotionen und Affekten, von Ansichten und Strebungen wird nie Erfolg haben.«101 Die sichtbaren Dinge im Alltag, die Regeln und der Kultus sind die objektifizierten Seiten der subjektiven Religion und sie brauchen Maß und fassbare Umgrenzung – dies bietet die Halacha.
4.3.2 Das apriori des Halachisten Das apriori der Weltbetrachtung der Naturwissenschaftler war, so hatte es sich schon gezeigt, das aus der Empirie erschlossene gesetzliche Regelwerk, das dann unabhängig zu einer idealen Theorie entwickelt wurde, an der hernach die Realität gemessen wird. Für den Fall der modernen Physik hat Soloveitchik in der Schrift The Halakhic Mind die Theorien der Quantenmechanik versus der Wellentheorie für das Licht genannt oder auch die Relativitätstheorie Einsteins. In der Philosophie von Hermann Cohen waren es die von jeder Empirie unabhängigen Denkentwürfe des reinen Denkens oder die kantischen unwegdenkbaren Kategorien, welche als die idealen Maßstäbe der Weltbetrachtung dienten. So hat auch der Halachist bei seiner Weltbetrachtung ein apriori gestaltetes ideales Weltbild, mit dem er die konkrete Welt ausmisst: »Die Halacha hat eine festgefügte apriorische Beziehung zur gesamten Wirklichkeit mit all ihren Details, Einzelheiten und Minituosa. Der Halachist wendet sich der gesamten Schöpfung zu und betrachtet sie aus der Sicht einer idealen Welt, die er in seinem halachischen Bewusstsein trägt. Alle Begriffe der Halacha sind apriorische Begriffe, mit ihrer Hilfe blickt der Halachist auf die gesamte Welt. Seine Weltanschauung ist wie die des Mathematikers: apriorisch und ideal. Sowohl der Mathematiker wie auch der Halachist betrachten die konkrete Welt aus einem apriorischen und idealen Blickwinkel. Sie verwenden apriorische Bezeichnungen und denkerische Konzepte, die von vorneherein ihre Beziehung zu diesen Erscheinungen festlegen. Sie prü-
101
ʼIsch ha-Halacha, S. 55–56; Halakhic Man, S. 57–58.
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fen das Existente mittels eines idealen Blickes, nämlich ob eine bestimmte vorliegende konkrete Erscheinung ihrer idealen Konstruktion entspricht.«102 Was sind nun diese apriorischen Bezeichnungen und Konzepte des Halachisten? Soloveitchik gibt wenigstens zwei ausführlichere Beispiele dafür. Das erste ist der Fall einer Quelle: Wenn ein Halachist eine Quelle sieht, so ist das apriori das Regelwerk der kultischen Reinheit. Dies ist der Maßstab, mit dessen Hilfe der Halachist den Quell betrachtet, dessen Wesen und Qualität beurteilt. Nach diesem Regelwerk taugt ein Brunnen mit fließendem Wasser zur Herbeiführung der kultischen Reinheit eines Menschen, der mit einem Körperausfluss behaftet ist, als »Entsühnungswasser«, (Me-Ḥattat). Ein fließender Quell braucht im Gegensatz zu einer Mikwa nicht das Volumen von 40 Seʼa (332 oder 572 Liter) Wasser wie dies zum Beispiel Maimonides in seinem Kodex beschrieben hat.103 Es sind die in diesen idealen Regelungen vorgegebenen Größen, welche das Bild des Halachisten von dem konkreten vorliegenden Brunnen bestimmen. Die tatsächliche Realität dieses Brunnens ist dann nicht weiter interessant. Ein anderes Beispiel sind Sonnenauf- und -untergang, an welchen den Halachisten nicht die Ästhetik oder die Regeln der Gravitation und Sonnenbahn interessieren, sondern: Mit diesen Himmelserscheinungen sind Zeitpunkte gesetzt, welche das Eintreten oder Auslaufen von Gebotsverpflichtungen bedeuten: Morgens die Schmaʽ-Rezitation, das Anlegen der Schaufäden (Zizit), und Tefillin, das Morgengebet und dergleichen mehr. Sie bestimmen die rechtsgültigen Zeiten für den Tempeldienst, das Abgeben von Gerichtszeugnissen und so weiter. Die Halacha hat solche apriorischen Maßstäbe für alle Lebensbereiche, für die animalischen Körperfunktionen des Menschen, Essen, Trinken, Geschlechtsverkehr, für die soziale Gegebenheiten wie den Staat, die Gesellschaft und das Individuum, Handel, Schäden, Nachbarschaftsbeziehungen – kurz für alles was die Welt des Menschen ausmacht. Der Halacha-Mensch begegnet der Welt mit einem fertigen ErkenntnisKonstrukt, das seine Wahrnehmung und sein Verhältnis der konkreten Wirklichkeit bestimmt. Alles was die Halacha interessiert gehört zu dieser konkreten irdischen Welt, die Transzendenz ist kein Gegenstand der halachischen Weltbetrachtung.104 An diesen Beispielen wird deutlich, dass Soloveitchiks Vergleich von Mathematiker und Halachist alleine formaler Natur sein kann. Es ist alleine die Struktur, dass das Erkenntnissubjekt an das Objekt seiner Erkenntnis einen vorgefertigten Maßstab anlegt, nach dem er die Realität bemisst. Hinsichtlich des 102
ʼIsch ha-Halacha, S. 30; Halakhic Man, S. 23.
103
Mischne Tora, Mikwaʼot, 9, 8.
104
ʼIsch ha-Halacha, S. 37; Halakhic Man, S. 32.
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konkreten Inhalts dieser apriori Maßstäbe könnte die Differenz kaum größer sein. Die apriori Maßstäbe des Naturwissenschaftlers sind zum einen aus der Naturbeobachtung gewonnen und danach als Konstrukt, etwa der Kausalität, gebildet worden, sie müssen sich hernach auch an dieser Realität erweisen oder beweisen, müssen als Verständniskonstrukt ihren von jedermann nachweisbaren Zweck erfüllen. Wo diese Realitätskontrolle verweigert wird und die apriorischen Modelle aus dem reinen Denken entspringen, sind sie immerhin als anthropologisch universal zu verstehen. Demgegenüber spricht Soloveitchik von einem apriori, das er wiederholt als sinaitische, von Gott kommende Offenbarung apostrophiert. Damit ist – zumindest aus der Sicht der Säkularen oder anderer Religionen – dieses apriori ein partikulares. Der Kulturwissenschaftler würde es als ein kulturell gewachsenes oder kreiertes apriori einschätzen. Und dies ist eine Einschätzung, die teilweise aus vorliegenden Äußerungen auch Soloveitchiks Plazet finden könnte, denn der Halachist arbeitet ja theoretisch an der Sinaivorgabe weiter. Dass ein solches partikulares epistemisches Konstrukt indessen akzeptabel sein muss, hat er in seinem Buch The Halakhic Mind vorbereitet, wo er eine Pluralität der Erkenntniswege nicht nur feststellt, sondern auch einfordert. Die kulturelle Akzeptanz dieser halachischen apriori-Konstrukte ist ihm durch die jüdische Tradition belegt. Sie wird vom Halacha-Menschen nicht nur akzeptiert, sondern auch weiter bearbeitet. Und darum gilt Soloveitchik die Weltsicht des Halacha-Menschen als die genuin jüdische – unter Ausschluss des liberalen Judentums und aller Formen von Mystik und einseitiger Subjektivität. Das fast sprichwörtliche Desinteresse an der Natur in weiten, vor allem jüdischorthodoxen Kreisen, fände darin gewiss seine Erklärung.
4.3.3 Halacha als Objektivierung der subjektiven Religiosität – eine Verkehrung des psychologischen Ansatzes – und der Vergleich mit der Naturwissenschaft In The Halakhic Mind hatte Soloveitchik die Halacha – in Anlehnung an Paul Natorps Psychologie – als die Objektivierung der subjektiven Religiosität bezeichnet. Das bedeutet, das Diffuse, das nur im spontanen Erleben Lebbare wird in der Halacha ausbuchstabiert, in feste Formen gebracht – das Primäre ist demnach das Subjektive und das Sekundäre das Objektive. Hier in ʼIsch ha-Halacha erscheinen die Dinge jedoch verkehrt worden zu sein. Die Halacha wird mehrfach als am Sinai offenbartes apriori bezeichnet, das nun seinerseits die diffuse Religiosität vom Schlage des homo religiosus in festere und stabilere Bahnen lenken soll. Dies ist nicht der Prozess der Rekonstruktion, von dem Soloveitchik in The Halakhic Mind im Gefolge von Natorp sprach, der aus dem Objektiven das ursprünglich subjektiv Erlebte rekonstruieren soll zum Zwecke der Erkennt© Campus Verlag
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nis der Subjektivität. In ʼIsch ha-Halacha dient dieser Rückgang nicht der Erhebung und Erkenntnis des subjektiven religiösen Erlebens, sondern hier ist von einer Steuerung der Subjektivität durch das sinaitische apriori die Rede. Diese Verschiebung zeigt sich schon daran, dass er nun von einer Objektivierung der Religion spricht und nicht des subjektiven Erlebens oder des religiösen Bewusstseins. Wenn er dabei dann trotzdem sagt, dass in der Halacha die Subjektivität in eine Objektivität transformiert werde, so ist das nur dem Anschein nach dasselbe wie seine frühere Meinung. Die Frage bleibt dann: Woraus ist laut ʼIsch haHalacha das Objektive entstanden? Die Antwort lautet nun, sie kommt vom Sinai. Und nun wird behauptet, diese sinaitische Objektivität verwandle eine unabhängig von ihr vorhandene (im 20. Jahrhundert gelebte) Subjektivität »in Objektivität und in eine feste Gesetzlichkeit.« Diese sinaitische Objektivität kann kaum die jetzt aus der Subjektivität, entstandene Objektivierung sein. Vielmehr wird sie nun zu deren Zuchtmeister: »Die Halacha, die uns vom Sinai übergeben wurde, ist die Objektivierung der Religion (Dat) in feste und klare Formen, in definierte und festgeformte Gesetze und bestimmte Grundsätze. Sie verwandelt die Subjektivität in Objektivität und in eine feste Gesetzlichkeit.«105 Der von Soloveitchik hier sogleich angefügte Vergleich mit dem Physiker verdeckt diese Verschiebung von der psychologisch-neokantianischen Position zu einem anderen Vergleichs-Paradigma, das des Naturwissenschaftlers. Er sagt da: »Das ist mit einem Physiker zu vergleichen, der das Licht und den Klang und alle Inhalte der sinnlichen (qualitativen) Wahrnehmung in quantitative Bezüge transformiert, nämlich »in mathematische Funktionen und objektive Wechselbeziehungen.« Damit verlässt er das Natorpsche Psychologie-Modell und greift zum naturwissenschaftlichen Modell von vorgegebenen Naturgesetzen und der Bemessung der Realität an ihnen. Ja, auch der Physiker verwendet ein eigenes ihm schon vorliegendes Kategoriensystem, das mit der momentanen subjektiven sinnlichen Wahrnehmung nicht eigentlich tun hat. Der Physiker verwandelt nicht die gerade stattfindende individuelle Subjektivität in die Objektivität, sondern er greift zu einem anderen Kategoriensystem, das mit dem Korrelat der subjektiven Wahrnehmung nur gewisse Analogien aufweisen mag und das er diesem nun überstülpt. So weit stimmt der Vergleich zwischen Sinai und physikalischem Gesetz. Allerdings ist das physikalische Gesetz von Menschenhand mittels des an der Realität gewonnenen Eindrucks konstruiert, von der Halacha gilt aber, sie sei am Sinai offenbart worden. Anders verhielt es sich aber mit dem psychologischen Vorgang, dem subjektiven Erleben nach Natorp: Er war die Quelle des je105
ʼIsch ha-Halacha, S. 56; Halakhic Man, S. 59.
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weils Objektivierten, nicht ein Erleben, das mittels vorgegebener Kategorien gedeutet wird. Der Unterschied wird aber erst richtig an der jeweils beabsichtigten Zielsetzung der »Objektivierung« deutlich. Der Physiker will mit seinem Messsystem und seinem physikalischen Modell nicht das ästhetische Empfinden des Individuums verändern, sondern eine Erkenntnis bereitstellen, welche das subjektive Empfinden nicht bieten kann und die neben das Subjektive als alternative Erklärung tritt. Hingegen soll die Halacha nach Soloveitchik, wie schon mehrfach angeklungen war, Einfluss auf die Subjektivität ausüben, wenn er sagte, dass eine Religion ohne die Objektivierung keinen Bestand haben könne, sondern des objektiven Regulats bedürfe. So auch hier: »Die Halacha will die Religiosität zur Objektivität bringen, nicht nur durch die Einführung von praktischem Tun, und psycho-physischem Handeln in die Religion, sondern auch durch die Ordnung des inneren Korrelativs im Geiste des Menschen. Die Halacha legt Gesetze fest und stellt Zeichen auf, die als eine Barriere vor dem subjektiven Strom des allgemeinen homo religiosus bilden, der zuweilen durch seinen Strudel das gesamte Sein des Menschen nebulosen Kräften ausliefert.«106 Die Subjektivität ist hier nicht mehr die Quelle oder der Ausgangspunkt zur Objektivierung, sondern die Objektivierung wird zum Leitinstrument des Subjektiven – die Richtung ist verkehrt. Der Subjektivität und der aus ihr erzeugten Objektivierung im Sinne Natorps ist hierbei jegliche historisch-kulturelle Verquickung genommen, worauf schon Eli Holzer hingewiesen hat,107 weil das Objektivierte ein sinaitisches apriori ist – zunächst nur vergleichbar mit dem vorgegebenen Naturgesetz. An dieser grundlegenden Einschätzung ändert sich auch nichts, wenn Soloveitchik an anderer Stelle mit Nachdruck auf das bekannte literarischexegetische Phänomen der Ḥiddusche Tora, also der kreativen HalachaInterpretation durch den Halachisten hinweist.108 Die Novellierungen der Tora werden nicht durch das zeitbezogene subjektive Erleben hervorgebracht, sondern, so Soloveitchik, durch eine dem halachischen System internen Klärungsprozess: »Der Mann der Halacha ist ein Mensch, der sich nach Kreation und Neuerung des Torastudiums sehnt, das heißt: Nach Neuentdeckungen (Neudeu106
ʼIsch ha-Halacha, S. 57; Halakhic Man, S. 59.
107
E. Holzer, Ha-Teʼoria ha-hermeneutit schel ha-Rav Soloveitchik be-Ḥibburo ›The Halakhic Mind‹. ʽIjjun bikorti we-haschlachot ḥinuchijot, in: Ha Rav be-ʽolamo he-ḥadasch, S. 23–41.
108
ʼIsch ha-Halacha, S. 73; Halakhic Man, S. 81.
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tungen) in der Tora (Ḥiddusche Tora). ›Der Heilige, Er sei gesegnet, erfreut sich an dem Tora-Pilpul‹ – lies nicht Pilpul, sondern Neuerung. Diese Neuerung ist nicht alleine auf die Tora-Forschung bezogen, sondern erstreckt sich auch auf den Bereich des praktischen Tuns, auf die reale Welt.«109 Diese Ḥidduschim, Neuerungen/Novellierungen, sind viel eher mit der Arbeit eines Juristen zu vergleichen, der das Recht aufgrund seines Studiums der Rechtsquellen weiterentwickelt, was zu entsprechender legislativer oder gerichtsrelevanter Aktivität führen kann. Aber Soloveitchik verwendet diesen Vergleich, soweit ich sehe, nirgends. Allerdings deuten Formulierungen wie die folgende in diese Richtung, das heißt, die einer rechtsimmanenten Weiterentwicklung ohne Bezug zur Lebensrealität: »Die reale Welt zwingt ihm [dem Halachisten] nichts Neues auf und nötigt ihn nicht, irgendetwas Neues zu tun, das er nicht schon zuvor aus seiner idealen Welt gekannt hatte. Diese Welt ist sein Besitz und Eigentum; er ist frei in ihm kreativ zu sein, Neuerungen vorzunehmen, zu verbessern und zu vervollkommnen. Hier herrscht vollkommene Freiheit des Geistes und Denkens, ohnehin erscheint es ihm, als sei diese ideale Welt seine Schöpfung.«110 Das vom Sinai vorgegebene objektive System kann also vom Halachisten in freier Ausübung weiterentwickelt und ›verändert‹ werden, als ob es seine eigene Schöpfung wäre. Die von Soloveitchik erstrebte Gleichstellung mit dem Tun des Naturwissenschaftlers leidet jedoch an einer wesentlichen Differenz. Das dem Physiker vorgegebene Naturgesetz ist ein von Menschen aus der Erfahrung erstelltes Konstrukt, das er natürlich stets weiterbilden kann. Die Vorgabe des Halachisten ist demgegenüber eine göttliche, sinaitische, Vorgabe, welche die unveränderliche, nicht-menschliche, Vorgabe aller weiteren Halacha-Arbeit ist. Aber es gibt da dann dennoch nochmals die Wende rückwärts, zum psychologischen Konzept Natorps, wenn auch in einer eher autosuggestiven oder doch imaginativen Form. An einer im Folgenden noch zu besprechenden Stelle, an der Soloveitchik das normative Anliegen jeglicher Halacha-Forschung und halachischen Welterkenntnis verhandelt, stellt er die vom Halachisten aus seiner Forschung gewonnene Einsicht in die Normverpflichtung nicht als eine ihm aufgezwungene, von außen, vom Sinai, gekommene Verpflichtung dar. Vielmehr erscheint dem Halachisten die Verpflichtung durch die Halacha nun als sein eigenes inneres Gesetz, als Trieb des eigenen Willens: 109
ʼIsch ha-Halacha, S. 83; Halakhic Man, S. 99.
110
ʼIsch ha-Halacha, S. 61; Halakhic Man, S. 66; s. W. S. Wurzburger, The Centrality of Creativity in the Thought of Rabbi Joseph B. Soloveitchik, in: Tradition 30, 4 (1996), S. 219–228.
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»Der Halacha-Mensch ist sich hier keinerlei Zwanges oder einer Notwendigkeit bewusst, welche die Norm ihm aufzwingt. Vielmehr scheint es ihm, als habe er die Norm in seinem Inneren, in seiner Seele gefunden, so als ob sie nicht nur ein ihm auferlegtes Gebot ist, sondern ein existentiales Gesetz, seines eigenen Seins. […] Es gibt hier eine Mischung aus Pflicht und Selbstbewusstsein, ein Zusammenstimmen von Norm und Mensch, der Einheit von Befehl und Gewissen und Willen.«111 Mit dieser Formulierung scheint Soloveitchik auf das Modell von Natorp zurückzukommen, nach welcher die gesetzliche Norm letztlich eine Objektivierung eines subjektiven Erlebens oder Dranges ist. Allerdings zahlt er zugleich den Tribut an die Dogmatik von der Sinaizität der Halacha, wenn er sagt, dass dem Halacha-Menschen dies nur so »scheint«.
4.3.4 Das die Erkenntnis leitende Interesse der Halacha – die Norm Gegenüber dem aus dem Vorangehenden entstandenen und von Soloveitchik selbst mehrfach bestätigten Eindruck, als habe der Halachist bei seinen kreativen Forschungen nur ein rein theoretisches, wissenschaftliches Ziel, das an der Realisierung der halachischen Forschungsresultate im konkreten Leben nicht interessiert sei, gibt es dann doch noch andere Töne. Auch Soloveitchik kann und will sich letztlich nicht dem Ziel des traditionellen Halachisten entziehen, dass die Halacha im alltäglichen Leben zu verwirklichen sei. Bei seiner oben besprochenen112 Darlegung und Forderung nach einem epistemologischen Methodenpluralismus hatte Soloveitchik schon den Gesichtspunkt angeführt, dass die von den verschiedenen Forschern herangezogenen Erkenntnismethoden auch von den Forschungszielen und -absichten des Forschenden abhängig sein können, dürfen und müssen.113 Entsprechend stellt er – entgegen dem theoretischen HalachaPurismus – die Frage nach dem primären Ziel der halachischen Forschung. Dass diese zunächst dem idealistischen Ziel der Differenzierung, Novellierung und Ausgestaltung des halachischen Systems, unabhängig von dessen Nutzanwendung dienen soll, wurde schon deutlich. Soloveitchik verweist dazu eigens auf das Phänomen, dass die großen Halachisten, wie etwa auch Maimonides in seinem Mischne Tora, sich auch halachischen Themen widmen, die für die eigene reale Gegenwart absolut nicht mehr relevant oder gar obsolet waren, so etwa die
111
ʼIsch ha-Halacha, S. 60–61; Halakhic Man, S. 64–65.
112
Kap. 3, Der Erkenntnis-Pluralismus in der Moderne.
113
Vgl. oben Kap. 3.1.1.
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ganzen Tempel- und Priestergesetze.114 Das andere Leitinteresse der Halachaforschung ist nun aber, so Soloveitchik, das Normative: »Der Zugang des Halacha-Menschen zum Sein ist nicht nur ontologisch, sondern auch normativ. In Wahrheit dient der ontologische Ansatz nur als Korridor aus dem er die Halle der normativen Auffassung betritt. Er erkennt die Welt, um sie als Objekt religiösen Handlungen und Gebotserfüllungen zu unterwerfen. Er erkennt den Raum mittels apriorischer religiöser Gesetze, um in ihm [zum Beispiel] die Norm des Schabbat zu verwirklichen, das Gebot der Laubhütte (Sukka), die Idee der kultischen Reinheit. Er stellt wie der Astronom Rechnungen an, um die Festzeiten und Jahre festzulegen. Er befasst sich mit der Welt der Pflanzen, um ihre Gattungen hinsichtlich des Verbotes der Gattungsmischungen von Saaten und Pflanzen115 und um die Maße des Wachstums hinsichtlich der [landwirtschaftlichen] Gebote der Saaten festzulegen und so weiter. Die normative Lehre geht, was die Zielsetzung anbelangt, der ontologischen Lehre voran. Die Erkenntnis dient dem Ziel des Tuns, denn ›das Studium ist groß, denn es führt zum Tun‹116.«117 Es ist dieses Verständnis der Halacha-Forschung, welches die Konzeption vom rein theoretischen Interesse der Halacha immer wieder überschreitet und deutlich macht, dass der theoretische Halacha-Mensch nur ein Denkmodell ist, das in der Ahnenreihe der litauischen Familienmitglieder Soloveitchiks einen gewissen Vorrang hatte. Soloveitchik geht mit der Auffassung von der Normativität der halachischen Erkenntnis sogar so weit, dass er auch formal nichthalachische Texte der Bibel als normativ deklariert. Etwa wenn es im Psalm heißt, der Himmel verkündige des Schöpfers Werk, dann eben nur, um die Taten Gottes in der Welt zu preisen, die der Mensch in der imitatio dei nachahmen soll, denn Gottes Tun erkennt man eben nur aus der Schöpfung, wie dies Maimonides mit seiner Lehre von den Wirkattributen grundsätzlich formulierte.118 »Um das moralische Ideal zu verwirklichen, müssen wir uns dem gesamten Existierenden zuwenden und es unserer Erkenntnis zuführen. Eine solche Erkenntnis ist wesentlich zielgerichtet (teleologisch) – sie ist bestrebt, die Norm zu entdecken, die in der Wirklichkeit ver-
114
ʼIsch ha-Halacha, S. 31–34. 60; Halakhic Man, S. 24–28.
115
Vgl. Lev 19, 19; Dtn 22, 9–11.
116
Babylonischer Talmud, Kidduschin 40b.
117
ʼIsch ha-Halacha, S. 59; Halakhic Man, S. 63.
118
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 438–446.
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borgen ist.«119 Jeder Kenner der antiken rabbinischen Literatur wird erkennen, dass hier jene altrabbinische Weltauffassung nachwirkt, die ich hier im ersten Band als den »in der Ethik begründeten Kosmos« genannt habe.120
4.4
Das abzulehnende Gegenmodell – der homo religiosus normalis
In der Überschrift dieses Abschnitts habe ich dem von Soloveitchik in seinen englischen Texten verwendeten Begriff des allgemeinen religiösen Menschen homo religiosus das Wort normalis beigefügt, wie er dies auch im Hebräischen des ʼIsch ha-Halacha meistens tut, dort heißt dieser allgemeine homo religiosus ʼIsch ha-Dat ha-kelali also »der allgemeine religiöse Mensch«. In der ersten Endnote zu The Halakhic Mind erklärt Soloveitchik: »The term homo religiosus is used throughout to denote the religious personality«.121 Diese Klarstellung ist nötig, weil Soloveitchik ja auch seinen Halacha-Menschen als religiösen Menschen versteht, einen der zwischen dem Naturwissenschaftler und dem allgemeinen homo religiosus steht, der also nicht zu dem negativ besetzten homo religiosus normalis gehört. Dieser allgemeine religiöse Mensch, zu dem vor allem der Christenmensch, die Anhänger der übrigen Religionen, aber auch das liberale Judentum und der Ḥasidismus gehören, ist für Soloveitchik das negative Gegenmodell zu seinem Halacha-Menschen: »Der homo religiosus ist absolut subjektiv. […] Wenn er vor der Schöpfung steht, dann entflammt er in einem heiligen Feuer der Verwunderung, er erzittert und bebt am ganzen Leibe angesichts des Unverständlichen, des Unerkennbaren und Verborgenen. Seine Seele rast und braust wie ein aufgewühltes Meer. Er erschrickt vor dem Mysterium und fürchtet sich vor ihm, er verbirgt sein Angesicht, hat Angst, es anzuschauen, er flieht vor ihm und zugleich nähert er sich ihm wider Willen an, wird von ihm angezogen mit magischen Stricken, sehnt sich nach ihm und hat Verlangen, sich mit ihm zu verschmelzen. Der homo religiosus schwebt beständig zwischen diesen beiden mächtigen Polen, zwischen Liebe und Furcht, zwischen Begierde und Schrecken, zwischen Verlangen und Schrecken.«122
119
ʼIsch ha-Halacha, S. 60; Halakhic Man, S. 64.; u. vgl. ʼIsch ha-Halacha, S. 84; Halakhic Man,
120
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 257–262.
121
Halakhic Mind, S. 105.
122
ʼIsch ha-Halacha, S. 63; Halakhic Man, S. 66–67.
S. 100–101.
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Soloveitchik nimmt hier expressis verbis und zustimmend die Beschreibung des Religionshistorikers Rudolf Otto in dessen Buch Das Heilige auf.123 Die Situation des nicht durch die Halacha gestützten und gelenkten religiösen Menschen ist ein Zustand der inneren Zerrissenheit, zwischen Hingezogenheit und Abgestoßen- werden, der religiöse Mensch schwankt – wie dies Schleiermacher und mit ihm der Gründungsvater der jüdischen Reform, Abraham Geiger formulierte124 – in seiner Selbsteinschätzung zwischen Niedrigkeits- und unendlichem Abhängigkeitsgefühl auf der einen und einem stolzen Selbstbewusstsein der Erhabenheit auf der anderen Seite.125 Soloveitchik glaubt, dass diese Zerrissenheit zur Grundstruktur des religiösen Bewusstseins schlechthin gehört und alleine durch die Halacha aufgefangen und ausgeglichen werden kann.126 Der homo religiosus strebt von Grund aus nach der Transzendenz, und ist deshalb auch geneigt das Diesseits abzulehnen und der Askese zu verfallen oder einer idealisierten Diesseitlichkeit.127 Entsprechend ist für den homo religiosus das Heilige etwas Transzendentes, eine himmlische Kategorie, der er zustrebt. Demgegenüber will der HalachaMensch, der ja auch dieses religiöse Streben in sich trägt, diese ungesunde Weltabwendung auffangen und mit dem Irdischen verbinden. Darum ist der HalachaMensch darauf aus, durch sein halachisches Handeln die Heiligkeit auf die Erde zu ziehen, wodurch er den irdischen Alltag heiligt.128 Da der homo religiosus aus der Welt in eine schwer erreichbare Transzendenz strebt, ist er ein Mensch, der auf Heilsmittler hofft, auf Kleriker wie in den Kirchen und Charismatiker, die ihm den Kontakt zur Transzendenz vermitteln. Weil die Halacha den umgekehrten Weg beschreitet und die Transzendenz, das Heilige, auf die Erde herabzieht, sind die Halachisten erklärte Gegner aller religiösen Mittlergestalten: »Und darum waren die Großen der Halacha auch mit dem Zaddikim-Kult bei den Ḥasidim nicht einverstanden, der der Auffassung der
123
ʼIsch ha-Halacha, S. 12. 17. 62; Halakhic Man, S. 4. 7. 67; The Halakhic Mind, S. 3–4.; The Lonely Man of Faith, S. 21; R. Otto, Das Heilige. Über das irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, (1. Aufl. 1917), Breslau 1922 (8. Aufl.).
124 125
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 583–591. ʼIsch ha-Halacha, S. 63; Halakhic Man, S. 67; Soloveitchik diagnostiziert diese Zerrissenheit in den Systemen angefangen von den Sophisten, bis Sokrates, Platon, Aristoteles, Nietzsche, Klages und Scheler.
126
ʼIsch ha-Halacha, S. 63–64; Halakhic Man, S. 67–69.
127
ʼIsch ha-Halacha, S. 24–25. 35; Halakhic Man, S. 14–16. 30.
128
ʼIsch ha-Halacha, S. 38. 46–49; Halakhic Man, S. 33. 44–48.
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Halacha diametral entgegen steht.«129 Die Halacha, so unterstreicht Soloveitchik, ist in dieser Hinsicht absolut demokratisch.130 Dasselbe gilt für das menschliche Streben nach Erlösung, auch sie ist für den allgemein religiösen Menschen ein jenseitiger Begriff, während der HalachaMensch die Erlösung hier auf Erden durch sein eigenes Tun herbeiführen will.131 Nicht, wie dies auch und gerade im Ḥasidismus gefordert wird, die Nichtung der Welt soll das Ziel des halachischen Menschen sein, sondern die Heiligung der Erde.132 Das halachische Tun – auch dies ist ein durch Soloveitchik von der Tora auf die Halacha hin akzentuierter altrabbinischer Gedanke133 – dient dem Tikkun ʽOlam, also der Erhaltung der Welt, so dass sich der Mensch als Kooperationspartner Gottes in der Weltschöpfung und Welterhaltung betrachten kann, da diese durch das Tun des Menschen ihrer Vollkommenheit und dadurch ihrer Bestandssicherung zugeführt wird.134 Das halachische Weltbild ist demnach absolut optimistisch, wie das die Bibel und die rabbinische Literatur schon vertraten.135 In seiner Schrift ʼIsch ha-Halacha bespricht Soloveitchik noch weitere theologische Topoi, die nichts anderes als die alten rabbinischen Vorstellungen sind und hier speziell als Lehren des »halachischen Judentums« vorgestellt werden, das er für das einzig traditionstreue und wahre Judentum hält.
5.
Halacha als Mittlerin der widerstreitenden Bewusstseinsebenen des Menschen – der phänomenologische Zugang
5.1
Das Grundthema der Schrift U-vikaschtem mi-scham (»von dort aus werdet ihr suchen«)
Die verschiedenen Schriften von Josef Dov Soloveitchik können als der Versuch verstanden werden, den Ort der Halacha im religiösen Selbstverständnis des Ju129
ʼIsch ha-Halacha, S. 45; Halakhic Man, S. 44; weitere Kritik am Ḥasidismus: ʼIsch haHalacha, S. 58; Halakhic Man, S. 60–62; zu den ḥasidischen Mittlergestalten s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 876–885. 904–910.
130
ʼIsch ha-Halacha, S. 45; Halakhic Man, S. 43.
131
ʼIsch ha-Halacha, S. 41; Halakhic Man, S. 37–38.
132
ʼIsch ha-Halacha, S. 44–45; Halakhic Man, S. 64.
133
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 277; Entsprechendes in der Kabbala, das auch Soloveitchik mutatis mutandis anerkennt, siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 598. 676–680. 650–654.
134
ʼIsch ha-Halacha, S. 65. 80. 83. 88–90; Halakhic Man, S. 71. 91. 99. 105–106; zu Tikkun ʽOlam siehe Jüdisches Denken, Bd. 5 Kap. Teil. II, Denominationen, Nr. 4.5.3.III Universelle Ethik; Nr. 5.2.3.6 Tikkun ʽOlam als jüdische Aufgabe; Nr. 7 Tikkun ʽOlam – eine universalistisch sozial-liberale social justice -Bewegung.
135
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 183; u. K. E. Grözinger, Prediger gottseliger Diesseitszuversicht, Jüdische ›Optimisten‹, FJB 5, (1977) S. 42–64.
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dentums mit immer wieder neuen und anderen philosophischen Instrumenten zu beschreiben und zu begründen. Hat er in der Schrift The Halakhic Mind mittels des aufgezeigten Methodenpluralismus zuerst einmal einen Raum für die Religion und die Halacha als deren Objektivierung in der Arena der anerkannten Erkenntnisweisen erstritten und in ʼIsch ha-Halacha die Erkenntnismethode der Halacha auf die Ebene des neokantianischen epistemischen Modells – und das der Naturwissenschaften – gehoben, so unternimmt er in der Schrift U-vikaschtem mi-scham136 einen neuen Anlauf mit Hilfe der phänomenologischen Philosophie insbesondere von Max Scheler und dem Religionsphänomenologen Rudolf Otto. Dov Schwartz, der in seinem zweiten Band zu Soloveitchiks Denken137 auf die zentrale Verankerung dieser Schrift im Denken der Phänomenologen nachdrücklich hinwies, nennt außerdem die Theologen Reinhold Niebuhr, Paul Tillich, Karl Barth und Emil Brunner als Denker, die auf Soloveitchik wirkten. Das Interesse dieser Schrift ist, im Sinne der Religionsphänomenologie, ganz auf den Menschen als den Träger der Religion ausgerichtet. Dies zeigt sich bereits in der zu Beginn der Schrift stehenden typologischen Auslegung138 des Hohen Liedes, das als ein Sehnen des Menschen nach Gott, der sich offenbart und zugleich wieder verbirgt, gedeutet wird. Auch die Kapitelüberschriften dieses Textes sprechen eine deutliche Sprache hinsichtlich des zentralen Themas, nämlich des sich nach Gott sehnenden Menschen: »Das sehnende Herz« (2),139»Das enttäuschte Herz« (3),140 »Mein Geliebter entzieht sich und geht vorüber« (3,2),141 »Das überraschte Herz« (4),142 »Das sich sehnende und sich fürchtende Herz« (5),143 »Das gespaltene Herz« (6),144 »Das eilende und fliehende Herz« (7),145 »Das sich tröstende Herz« (8),146 »Von der imitatio dei zur Gottesanhaftung (Devekut)« (11),147 »Das an Gott haftende Herz« (12),148 »Das prophezeiende Herz« (17),149 »Das zu Gott hin eilende und nicht wiederkehrende Herz« (19).150 136
Sie ist abgedruckt in dem Band ʼIsch ha-Halacha, S. 114–235.
137
Das Buch von Dov Schwartz, Haguto ha-filosofit schel ha-Rav Soloveitchik trägt den (hier übersetzten) diesbezüglichen Untertitel: »Von der Erforschung des Bewusstseins zur Beschreibung der existentialistischen Persönlichkeit«.
138
Zum typologischen Denken von Soloveitchik s. E. Borowitz, The Typological Theology of
139
U-vikaschtem, S. 122.
140
U-vikaschtem, S. 134.
141
U-vikaschtem, S. 137.
142
U-vikaschtem, S. 141.
143
U-vikaschtem, S. 147.
Rabbi Joseph B. Soloveitchik, in: Judaism 15, 2 (1966), S. 203–210.
144
S U-vikaschtem, 156.
145
U-vikaschtem, S. 159.
146
U-vikaschtem, S. 167.
147
U-vikaschtem, S. 187.
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5.2
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Die Herkunft und der Ort der Religion
Der Titel und zugleich das Motto dieser Schrift ist der Vers Dtn 4, 29. Nach einer Strafandrohung, Gott werde die Israeliten, die den Götzen dienen, unter die Völker zerstreuen, wo sie weiter Götzen dienen werden aber dann: »Und ihr werdet von dort aus den Herrn euern Gott suchen, und wenn ihr ihn von ganzem Herzen und ganzem Gemüt suchen werdet, werdet ihr ihn finden.« Soloveitchik eröffnet die Schrift U-vikaschtem mi-scham, wie gesagt, mit einer typologischen Auslegung des Hohenliedes, in welcher die sehnsuchtsvolle Geliebte, die Freundin, die Schöpfung – und zugleich das Volk Israel bedeutet – während der geliebte Mann den Schöpfer vertritt, der sich zuweilen zeigt, sich dann aber immer wieder entzieht:151 Schulamit, die Schöpfung, die niedrige und schmutzige, sehnt sich nach ihrem Liebsten, nach Gott. Der Geliebte, der Schöpfer, liebt zwar seine Freundin, verbirgt sich vor ihr aber dennoch im Geheimen. Die Schöpfung ihrerseits liebt den Schöpfer öffnet aber nicht die Türen ihres Zeltes.152 Soloveitchik sieht im Hohenlied – ähnlich wie sich dies unten noch an seiner Deutung der Schöpfungsgeschichte zeigen wird – die Situation des Menschen schlechthin beschrieben, das Streben nach der Gotteswahrnehmung, die sich ihm immer wieder entzieht. Und diese Sehnsucht, das Verlangen nach Gott, ist im Wesen des Menschen angelegt und zeigt sich in all seinen geistigen Strebungen: »Es gibt in der gesamten Wirklichkeit, weder in der Natur noch im Geistigen, einen geheimen Winkel, in den das sich das nach seinem Geliebten sehnende Bewusstsein des Menschen nicht hineinschaute und ihn durchforschte. Es forscht nach den Funken der Transzendenz, die sich hin und wieder in der finsteren und dunklen Welt offenbaren. Dies ist kein romantisches Sehnen derer, welche die oberflächliche Alltäglichkeit fliehen. Dieses Sehnen ist vielmehr im Boden des allgemeinen kulturellen Bewusstseins eingepflanzt. Fleisch und Blut sehnt sich danach, der Enge der begrenzten und bedingten Welt zu entfliehen, um in die Weite Gottes, in das Unendliche und Unbedingte hinauszutreten. Diese Suche ist das Emporschwingen über sich selbst hin-
148
U-vikaschtem, S. 189.
149
U-vikaschtem, S. 217.
150
U-vikaschtem, S. 227. Zum Ganzen s. M. S. Berger, ʼU-vikashtem Mi-sham: Rabbi Joseph B. Soloveitchikʼs Response to Martin Buberʼs Religious Existentialism, in: Modern Judaism 18 (1998), S. 93–118.
151
U-vikaschtem, S. 120.
152
U-vikaschtem, S. 120–121.
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aus (die Selbsttranszendenz), die das wahre Wesen des kulturellen Aufstiegs des Menschen ist.«153 Soloveitchik nimmt hier eine Formulierung von Max Scheler auf, nach welcher es alleine die Eigenart und die Fähigkeit des Menschen ist, sich über sich selbst hinaus zu erheben, sich selbst zu transzendieren, um von dieser höheren Warte aus, die er mit dem obersten Seinsgrund identifiziert, sich selbst und die ganze Welt zu beurteilen.154 Dieses Bewusstsein des Menschen, das nach der Transzendenz sucht, ist indessen überaus vielfältig, so vielfältig wie die die Menschen, die Zeiten und die kulturellen und realen Situationen, in die sie gestellt sind. Und Soloveitchik sieht diese Gottsuche der Menschheit in der gesamten Geschichte der Philosophie bis hinein in die moderne Mathematik wirksam.155 Das Streben des menschlichen Bewusstseins nach der Erkenntnis der Transzendenz, nach dem Göttlichen, zeigt sich in der Wissenschaft ebenso wie in der Philosophie und in jeglichem Erkenntnisstreben des Menschen. Vier Bereiche zählt er auf, in denen sich dieses menschliche Verlangen der Selbsttranszendenz und der Suche nach dem Göttlichen äußert: 1. Im kosmischen Drama, 2. In den Tiefen des geistigen Seins des Menschen, 3. In seiner Skala von apriorischen Begriffen und 4. In der Tatsache der Religion und in der Transzendenzerfahrung.156 Dieses dem menschlichen Wesen zugrundeliegende religiöse Erkenntnisstreben glaubt, das Göttliche, das Transzendente, in den vier genannten Phänomenen wie folgt wahrzunehmen: 1. Im Kosmos an der Naturgesetzlichkeit und Kausalität, die letztlich die Suche nach einer ersten Ursache von allem weckt. 2. Im menschlichen Geist an der Problematik von Freiheitsbewusstsein auf der einen und dem Bewusstsein des Zwangs auf der anderen Seite, ebenso im Dilemma von Gewissen und Sündenbewusstsein, und auch im erhabenen, ins Unendliche strebenden ästhetischen Erleben. 3. In der intellektuellen Begrifflichkeit, an deren Spitze der apriorische Gottesbegriff steht. Und schließlich 4. Im schlechthinnigen Abhängigkeitsbewusstsein, in den Sehnsüchten des Menschen, in der Ekstase der Mystiker und dem Gefühl, dass es ein nicht sensibles Sein gibt.157 153
U-vikaschtem, S. 124.
154
Scheler sagt dazu: »Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – emporzuschwingen und von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus alles, darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen. So ist der Mensch als Geistwesen das sich selber als Lebewesen und der Welt überlegene Wesen. Als solches ist er auch der Ironie und des Humors fähig, die stets eine Erhebung über das eigene Dasein einschließen.«, M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 1991, S. 47.
155
U-vikaschtem, S. 125. 124.
156
U-vikaschtem, S. 122.
157
U-vikaschtem, S. 122–124.
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Kurz, in allem kulturellen, geistigen und emotionalen Streben sieht Soloveitchik mit den phänomenologischen Philosophen, die wesenhafte Sehnsucht des Menschen nach der Transzendenz.158 Wie schon in The Halakhic Mind kommt Soloveitchik auch in dieser Schrift darauf zu sprechen, dass alle diese Erkenntnisstrebungen der Menschen in all den vier genannten Bereichen in weitem Maße von den rationalen Wissenschaften bewerkstelligt werden können, dass es aber, wie moderne Philosophen vom Schlage eines Schelling, Kierkegaard, Bergson und Husserl (Soloveitchik nennt sie Existentialisten und moderne Metaphysiker) feststellten, in all diesen Bereichen ein gerüttelt Maß an Irrationalem gebe, das sich dem Kategoriensystem der Wissenschaft entzieht und das vielmehr dem ganz individuellen Erfahren anheimgestellt ist. All die formalen Wissenschaften, trotz ihrer unleugbaren und nutzbringenden Erkenntnisse, konnten die Grundfragen des Menschen nicht beantworten, nämlich: »Diese Wirklichkeit, was ist sie, was ihre Bedeutung und was ihr Sinn?«159 Es ist das individuelle Wahrnehmen und spontane Erfahren dieser Weltwirklichkeit, wie es von der Wissenschaft nicht erfasst wird und das seine eigenen Erkenntnisweisen hat, das dem Menschen auf die genannten Fragen seine eigene Antworten gibt. Diese eigene außerwissenschaftliche spontane und unmittelbare Wahrnehmungsweise arbeitet demnach mit anderen Methoden als die rationalen Wissenschaften: »So wie das Bewusstsein von der Wirklichkeit im Allgemeinen und der Existenz des eigenen Ich im Besonderen sich nicht mit logischen Entscheidungen befasst, sondern dieses Bewusstsein tatsächlich das geistige Wesen des Menschen selbst darstellt, so ist auch die Erfahrung der Gottheit. Sie ist vollkommen ursprünglich, ist der Anfang und das Ende der Existenz des Menschen. Dieses geht schon immer und wird auf immer dem Analogieschluss und der Schlussfolgerung vorangehen.«160 Soloveitchik steht in dieser Auffassung dem Denken des von ihm häufig genannten Max Scheler denkbar nahe, wenn dieser in seinem Buch Vom Ewigen im Menschen etwa sagt, es gehöre zum Wesen des Menschen, dass er ein apriorisches Bewusstsein nicht nur vom Ich und der Welt, sondern auch vom Göttlichen hat: »Wie auf allen Gebieten der Erkenntnis das Sein und der Gegenstand dem Menschen früher gegeben sind als die Erkenntnis des Seins und erst recht die 158
U-vikaschtem, S. 125.
159
U-vikaschtem, S. 127.
160
U-vikaschtem, S. 128.
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Art und Weise, wie ihm diese Erkenntnis zugeht, so sind auch die Gegenstände des ›Göttlichen‹ – Gott oder die Götter – zunächst zu dem Urgegebenen des menschlichen Bewußtseins selbst gehörig. Vermöge der natürlichen religiösen Akte schaut, denkt und fühlt der Mensch prinzipiell an allem und durch alles, was ihm sonst als daseiend und soseiend gegeben ist, sich ihm ein Seiendes erschließen (sich ihm ›offenbaren‹), das mindestens zwei Wesensbestimmungen besitzt: es ist absolut seiend und es ist heilig.«161 Die Wahrnehmung solcher Urgegebenheiten, zu denen auch das Göttliche gehört, geschieht nach Max Scheler in dem von aller rationalen Wissenschaft grundlegend verschiedenen »religiösen Akt«: »Daß der Mensch also, auf welcher Stufe seiner religiösen Entwicklung er sich auch befinde, immer und von vorneherein in einen von der gesamten übrigen Erfahrungswelt grundverschiedenen Seins- und Wertbereich blickt, der weder aus dieser Erfahrungswelt erschlossen ist noch ihm durch Idealisierung an ihr gewonnen, der ferner nur und ausschließlich zugänglich ist durch den religiösen Akt: das ist die erste sichere Wahrheit aller Religionsphänomenologie. Es ist der Satz von der Ursprünglichkeit und Unableitbarkeit religiöser Erfahrung.«162 Das Bewusstsein vom Göttlichen ist darum für das religiöse Bewusstsein, wie Soloveitchik statt vom »religiösen Akt« sagt, eine unhinterfragliche Gegebenheit. Mit der Verortung der Gotteswahrnehmung im religiösen Bewusstsein ist aber ein weiteres gegeben, worauf Dov Schwartz zu Recht hinweist.163 Das »Sein« des Gottes der Religion ist ein anderes als das »Sein« der metaphysischen Erkenntnis des Philosophen. Wird – um mit Hermann Cohen zu sprechen – das Sein bestimmter Gegenstände durch die rationale Erkenntnis erst gesetzt, als Gegenstand der Erkenntnis, so ist die »Setzung« des göttlichen Seins im religiösen Bewusstsein ein völlig anderes. Schwartz verweist hierzu auf einen Absatz bei Max Scheler, dem Soloveitchik sehr wohl zustimmen könnte. Scheler meint dazu:
161
Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, Berlin 1933 (3. Aufl.), S. 379.
162
Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, S. 398.
163
D. Schwartz, Haguto ha-filosofit schel ha-Rav Soloveitchik, Bd. 2, S. 53; zum Bewusstsein als Gottes Raum in der Welt siehe auch das Kapitel zu A. J. Heschel, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II.
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»Der Gott der Religion und der Weltgrund der Metaphysik mögen realidentisch sein; als intentionale Gegenstände sind sie wesensverschieden. Der Gott des religiösen Bewußtseins ›ist‹ und lebt ausschließlich im religiösen Akt, nicht im metaphysischen Denken über außerreligiöse Bestände und Wirklichkeiten. Das Ziel der Religion ist nicht rationale Erkenntnis des Weltengrundes, sondern das Heil des Menschen durch Lebensgemeinschaft mit Gott – Vergottung.«164 Die Gottheit der Religion ist demnach alleine im religiösen Akt, im Vollzug der Religion, »gesetzt«. Und zu diesem religiösen Akt gehört, so Scheler sogleich im Anschluss, die Gemeinschaft der Gruppe, der persönliche Glaube und die Botschaft der heiligen Personen. Soloveitchik wird all diese Elemente gleichermaßen als konstitutiv für den religiösen Akt erachten, und er wird dafür eigens theologische Begründungen beisteuern. Es ist ihm wichtig, zu betonen, dass die Wahrnehmung des Göttlichen im religiösen Akt am selben Gegenstand geschehen kann, wie dessen wissenschaftliche Erkenntnis. Es ist allemale die Begegnung mit der irdischen Wirklichkeit, die das Sprungbrett für die Erkenntnis des Transzendenten ist, für die Erfahrung der Transzendenz. Der Unterschied besteht ausschließlich in der Methode: Hier ist es die wissenschaftliche Syllogistik, das Vergleichen und Schließen, dort die intuitive Wahrnehmung der Transzendenz durch und inmitten des irdisch Realen: »Demnach geschieht die ontologische Erfahrung des Menschen auf zweierlei Weise: 1. Als wissenschaftliche, relative, begrenzte und bedingte Erfahrung, die ein ideal-funktionales Korrelativ parallel zu dem unverständlichen und fremdartigen Erlebnis kreiert. 2. Als transzendentale Erfahrung, als Erfahrung des absoluten Unendlichen innerhalb des Zeitlichen, des Umgrenzten und Bedingten; im Erleben des Schöpfers innerhalb der Schöpfung, der ihr Ursprung und ihr Ziel ist. Die erste Erfahrung geschieht durch mathematische und symbolische Vergleiche, während die zweite sich in dem unablässigen Sehnen und dem wunderhaften, unmittelbaren Erlebnis ereignet, die aus den Tiefen des menschlichen Erlebens hervorbrechen und ihn in geheimnisvolle Weiten fortreißen. Es gibt eine religiöse Wirklichkeit, wie es auch eine wissenschaftliche Wirklichkeit gibt, eine religiöse Realität wie eine wissenschaftliche Realität.«165 Im Judentum, so Soloveitchik, gehören jedoch beide Zugangswege zur Transzendenz zum Menschen allgemein und zum Judentum im Besonderen. Gott hat 164
M. Scheler, Vom Ewigen im Menschen, S. 327–328.
165
U-vikaschtem, S. 133.
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diese Dualität gewollt, was aber zugleich bedeutet, sie muss auch festgehalten und gelebt werden. Man soll an Gott nicht nur glauben, sondern soll ihn auch erkennen, nämlich an seinen Werken, wie dies Maimonides fordert, nämlich indem die Werke Gottes als Wirkattribute Gottes erkannt werden. Jedoch diese Erkenntnis Gottes in seinen Werken genügt nicht, wesentlich gehört hier hinzu der Glaube an die Offenbarungen Gottes und der Gehorsam dieser Offenbarung gegenüber. Der Mensch besitzt nach dem Willen Gottes diese zwei Bewusstseinsebenen!166 Die rationale Suche nach Gott ist legitim und notwendig (dies ist das »natürliche Bewusstsein«, bei dem der Mensch die Initiative der Gottsuche ergreift), das andere Bewusstsein, nämlich das »revelatorische Bewusstsein« (Todaʽa gilujit) ist das Bewusstsein, dass sich Gott offenbarte und es dem Menschen unmöglich ist, aus eigenen Kräften zu Gott vorzudringen. Die Initiative liegt nach diesem Bewusstsein ganz bei Gott. Beide Zugangsweisen sind legitim und eignen dem Judentum.167 Es ist erstaunlich zu sehen, dass Soloveitchik die alte Frage nach der Gottebenbildlichkeit des Menschen in der natürlichen Bewusstseinsebene ansiedelt, dort wo der Mensch wissenschaftlich und kreativ tätig ist. Ihr gegenüber hebt er aber das Bewusstsein von der Offenbarung Gottes hoch hinaus. Dieses Offenbarungsbewusstsein hebt den Menschen über die natürlichen Begrenzungen, lässt ihn die wahre Freiheit erfahren und zugleich die Verpflichtung zur Unterwerfung unter die göttlichen Gebote.168 Ersteres, das kulturell-wissenschaftliche Bewusstsein und seine Erkenntnis ist entsprechend mit den Entwicklungen der voranschreitenden Menschheitskultur und Wissenschaft veränderlich, wohingegen das Offenbarungsbewusstsein, der Glaube an die Offenbarung und deren Inhalte, vom Menschen unabhängig, nicht veränderlich sind. »Keine noch so wundervolle Neuerung der Zeitläufte hat Einfluss auf das Offenbarte, das aus dem Schoß er Ewigkeit fließt. Entwicklung und Offenbarungsglaube sind absolute Gegensätze.«169
166
U-vikaschtem, S. 149.
167
U-vikaschtem, S. 148–149. Max Scheler spricht entsprechend von einer »natürlichen Offenbarung« und einer »positiven Offenbarung«, Vom ewigen im Menschen, S. 350–351; u. vgl. Schwartz, Haguto, Bd. 1, S. 71.
168
U-vikaschtem, S. 154. 150–153.
169
U-vikaschtem, S. 155.
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5.3
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Imitatio dei und Devekut – das Haften an der Gottheit
5.3.1 »Das sich sehnende und sich fürchtende Herz« – das mysterium fascinosum et tremendum – Bewusstseinsbeschreibung statt Metaphysik Mit dem hier in den Anführungszeichen deutsch übersetzten Titel überschreibt Soloveitchik die religiöse Situation des Menschen. Er ist zwischen der Sehnsucht zu Gott, mit dem Wunsch, sich mit ihm zu vereinen und der Furcht und dem Schrecken vor Ihm hin und her gerissen.170 Soloveitchik folgt darin, wie aus den wörtlichen Aufnahmen ersichtlich,171 der Strukturbeschreibung von Rudolf Otto,172 nach dem das Heilige, das Numinose, dem Menschen als mysterium tremendum et fascinosum erscheint. Nach Soloveitchik: »So finden wir, dass eine Dualität des Zugangs des Menschen auf den Schöpfer besteht. Diese Dualität drückt sich in einem doppelten Bewusstsein aus, einem natürlichen ontologischen Bewusstsein und einem revelatorisch-prophetischen Bewusstsein.«173 Nach dem ersten ist er aktiv und strebt zu Gott, beim zweiten wird er hingegen von der Gottesoffenbarung überraschend überfallen. Das religiöse Bewusstsein hat an beidem Teil, ist einerseits himmelstürmend, frei, kreativ, um kognitive und ästhetische Erfahrungen zu machen, und andrerseits beschränkend, unterwerfend und zwingend.174 Bezeichnend für Soloveitchiks Zugang auf die Beschreibung der Religion ist nun, dass er die traditionellen Gottesattribute Middat ha-Din und Middat haRachamim, also Gottes Gerichtsstrenge und Erbarmen,175 als Bezeichnungen für ein konstantes Phänomen der Gotteserfahrung des Menschen versteht. Nicht Gott wird mit diesen beiden Attributen beschrieben, sondern zwei beständige Pole der menschlichen Gotteserfahrung. Also die Middat ha-Din steht für das mysterium tremendum der Gotteserfahrung, die Middat ha-Rachamim für das mysterium fascinosum.176 Die Religion und die Theologie beschreibt Soloveitchik in U-vikaschtem mischam demnach konsequent aus phänomenologischer Sicht. Was zu beschreiben ist, liegt vor den Augen des Autors, nicht in der spekulativen Höhe der Metaphy-
170
U-vikaschtem, S. 147; siehe D. Hartman, Love and Terror in the God Encounter: The Theolo-
171
U-vikaschtem, S. 158.
172
Rudolf Otto, Das Heilige.
173
U-vikaschtem, S. 148.
gical Legacy of Rabbi Joseph B. Soloveitchik, Vermont 2001.
174
U-vikaschtem, S. 150–156.
175
Zu ihnen siehe Jüdisches Denken Bd. 1. 222. 237. 239. 245. 285–286; zu deren Bedeutung in
176
U-vikaschtem, S. 157–158.
der Kabbala s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 137 und Register s. v. Middot.
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sik. Und dieses Beschreibbare sind die Bewusstseinsebenen des Menschen. Und sie sieht er vor allem in der Dualität von natürlichem und revelatorischem Bewusstsein des Menschen. In der traditionellen innerjüdischen Debatte um das Nebeneinander von Gottesfurcht und Gottesliebe177 findet Soloveitchik die Auswirkung der besagten Dualität von natürlichem und revelatorischem Bewusstsein auch im Erleben von Gottes-Liebe und Gottes-Furcht des Menschen. Hinsichtlich beider gibt es seiner Meinung nach allerdings zunächst eine niedrigere Ebene, nach der die Liebe eine Liebe der Belohnung für das rechte Verhalten und die Furcht die Angst (Pachad) vor der Bestrafung im gegenteiligen Fall darstellt, beide also in einem Gegensatz zueinander stehen. Erst auf höherer Ebene, wenn die Liebe eine Liebe zu Gott und eine Sehnsucht zur Vereinung mit ihm wird und die Furcht die Ehrfurcht (Jirʼa) vor seiner Größe, sind die beiden Erlebnis-Gefühle miteinander vereinbar.178 Hier aber ergibt sich eine neue Problematik, die mit der Ottoschen Formel vom mysterium fascinosum et tremendum charakterisiert werden kann. Der liebende Mensch will sich mit Gott vereinen, wird aber vor der Vollendung durch das tremendum zurückgestoßen: »Das Haften der Schöpfung an ihrem Schöpfer bedeutet die Aufhebung der Selbständigkeit und Eigenartigkeit der Welt. Sie bedeutet den Untergang der Endlichkeit in der Unendlichkeit. Die Welt hat Bestand, solange sie in ihrer eigenen Herrschaft eingehüllt ist. Sie verliert ihre Selbständigkeit, wenn sie aus ihrem Bereich heraus und hin zu Gott stürzt. Die Furcht vor der Aufhebung des Seins ist mit der Sehnsucht nach der Erhebung des Seins verwoben, die sich in der Nähe bei Gott verwirklicht. Die Seele sehnt sich nach ihrem geliebten und fällt in Ohnmacht vor der Herrlichkeit seiner erhabenen Macht.«179 Soloveitchik beschreibt hier eine widersprüchliche Situation des Menschen wie sie analog der ḥasidische Mystiker Dov Ber aus Mesritsch sah: Der Mensch schwankt zwischen der Hingabe in der Selbstnichtung in Gott und dem selbstsüchtigen und sündenhaften Wunsch, ein eigenes selbstbestimmtes Ich zu sein.180
177
Dazu s. Y. Tishby, Fear of God, Love of God, and Communion, in: ders. The Wisdom of the
178
U-vikaschtem, S. 173–175. 176–178.
Zohar, Oxford 1991, Bd. III, S. 974–1016. 179
U-vikaschtem, S. 168–169.
180
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 826–852.
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5.3.2 Imitatio dei als Ersatz für die unio mystica Die Aufforderung an Israel, auf den Wegen Gottes zu wandeln, wie sie im Deuteronomium (28,9) formuliert ist, wird seit der frühen rabbinischen Literatur als Aufruf zur Nachahmung Gottes, zur imitatio dei verstanden.181 Gemäß dem Wandel des Menschen- und Gottesbildes veränderte sich im Laufe der jüdischen Religionsgeschichte auch die konkrete Deutung dessen, worin man Gott ähnlich wird oder ihn nachahmt. Während im biblischen Kontext dabei eher auf die Herrschaftsfunktion oder auch auf die Heiligwerdung des Menschen abgehoben wird,182 deutet die frühe rabbinische Literatur die Nachahmung als ethisches Nacheifern, das heißt, als Erfüllung der Gebote der Nächstenliebe. Das Mittelalter sieht hier eher eine intellektuelle oder eine sprachliche Annäherung an die Gottheit, die Mystiker und Kabbalisten sehen die nachzuahmende Gottestätigkeit in der kreativen Buchstabenkombination oder der mystischen Nichtung. Ganz anders verortet Soloveitchik diesen alten ehrwürdigen Topos. Für ihn ist die imitatio dei ein Kompromissweg aus der Zerrissenheit des Menschen zwischen abstoßendem göttlichem tremendum und dem den Menschen anziehenden fascinosum. Der Mensch, der Sehnsucht nach Gott verfallen und im Begehren, Gott anzuhangen, an ihm zu haften (in der Devekut) – auch dies eigentlich ein biblisches Gebot (Deuteronomium 10, 20; 13, 5), das hier als religionspsychologisches Phänomen gedeutet wird – erfährt bei seinem selbstgewollten Versuch, sich Gott zu nähern, immer wieder die furchterregende Zurückstoßung, aus der heraus sodann ein neuer Anlauf der Annäherung folgt. Diese Situation, die sich zugleich als das dialektische Dilemma von moralisch-ethischer Freiheit des Menschen auf der einen, und von durch die Offenbarung aufgezwungener Verordnungen, die den Menschen verknechten, auf der anderen Seite, darstellt, wird nach Soloveitchik, durch den »Ausweg« der imitatio dei aufgefangen und ausgeglichen. Auch dabei ist seine Diktion verräterisch. Anstatt einfach das biblische Gebot der Nachahmung Gottes183 anzuführen, spricht er hier vom Willen des Menschen, eine Lösung seines Dilemmas zu finden: »Zwischen diesen beiden Bestrebungen – zum einen nach der vollkommenen ethisch-moralischen Freiheit, die aus der Sehnsucht des Menschen nach Gott hervorbricht und aufsteigt, und zum anderen der Verknechtung durch die Un181
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 30. 284. 318. 323. 329. 352. 354. 416. 423. 487. 524. 552.
182
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 129–139.
183
Die imitatio dei wird in der Bibel mehrfach gefordert. Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 284 u.
562; Bd. 2, 379. 387. 720– 722. 835. 865–866.
Register sub voce imitatio dei. In der Fach-Literatur wird zu Recht das biblische Gebot zur Heiligkeit, Lev 19, 2, in diesem Sinne verstanden; vgl. S. Schechter, Aspects of Rabbinic Theology, New York 1961 (1906), S. 199ff.
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terwerfung unter das göttliche Gebot, ein Gesetz, das dem Menschen wider seinen Willen auferlegt wurde, als er versuchte vor Gott zu fliehen – finden wir als Lösung des Widerspruchs zwischen Freiheit und moralischer Verknechtung den Willen, [Gott] ähnlich zu werden. Im Gedanken der imitatio kommt unter anderem die schreckliche Verzweiflung des schwachen Menschen zum Ausdruck, der es nicht vermag, das Verlangen seiner Seele zu verwirklichen, nämlich das Haften (Hitdabbkut) an Gott, durch das er die vollkommene und absolute Freiheit erlangen könnte. […]. Der Mensch beugt sich einem uneinsehbaren Schicksal, das zwischen ihm und der Realisierung seiner einzigen Hoffnung trennt, nämlich die vollkommene Freiheit durch das Anhaften [an Gott] (Devekut) zu erlangen und sagt sich: Obwohl ich nicht an Ihm haften kann, kann ich Ihm doch ähnlich werden. Der Akt der imitatio ist eine Art Eingeständnis des Angeklagten, des Scheiterns seines anmaßenden Versuches zur vollkommenen Devekut zu gelangen, denn wenn er am Heiligen, Er sei gesegnet, haftet, besteht keine Notwendigkeit mehr, ihm ähnlich zu werden.«184 Dass all dies eine phänomenologische Beschreibung eines anthropologischpsychischen Zustandes ist und nicht eine Berufung auf ein Gebot der Tora, wird sogleich nochmals deutlich, wenn Soloveitchik im Fortgang dieses Textes von der »Idee der imitatio« spricht, mit deren Hilfe der Mensch versucht, eine überrationale Unausweichlichkeit sich rational zugänglich und begründbar zu machen. Das biblische Gebot wird hier mit den Methoden der Religionsphänomenologie und -psychologie als menschliche religiöse Strategie erklärt. Bei diesem Resultat bleibt er jedoch nicht stehen. Die imitatio dei als Ausweg und als Kompromiss des irdischen religiösen Menschen aus dem dialektischen Dilemma kann natürlich nicht das letzte Wort sein. Die Religion hat dennoch die Verheißung, dass der Mensch die volle Gottesnähe schließlich erreichen wird. In diesem Sinne deutet er die imitatio dei nur als Etappe auf dem Weg zur wirklichen Devekut. Was er unter dieser versteht, muss im Folgenden noch erörtert werden.
5.3.3 Die Devekut – das Haften an der Gottheit – die halachische Deutung Josef Dov Soloveitchik ist – wiewohl er mehrfach zustimmend Auffassungen der Kabbalisten anführt, die er dann richtigerweise »Gelehrte der Mysterien« (Ḥachame ha-Sod) bezeichnet – ein erklärter Gegner aller weltabgewandten Mystik, weshalb er seine Erörterung des Begriffs der Devekut erwartungsgemäß
184
U-vikaschtem, S. 180.
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mit einer Ablehnung von dessen mystischer Bedeutung eröffnet. Die Devekut ist für Soloveitchik in keinem Fall eine mit der Selbstaufhebung des Menschen einhergehende Verschmelzung des Individuums mit der Gottheit, jenseits der irdischen Realität, wie dies ja auch von jüdischen Mystikern formuliert werden konnte.185 Demgegenüber behauptet er – und hier spricht er als Dogmatiker und nicht als Religionshistoriker – »Aber das Judentum, voran die Halacha sagt demgegenüber: Nicht dies ist der Weg!«186 Des Weiteren beharrt er darauf, wie dies auch noch Gershom Scholem tat,187 dass der Begriff Devekut, durchaus gemäß seiner biblischen Bedeutung, immer nur ein Anhaften des Menschen an der Gottheit bedeute, niemals aber die Aufhebung der Trennung zwischen Mensch und Gott, also keine »Einung« im substantiellen Sinn. Der an Gott haftende Mensch, so Soloveitchik, bewahrt stets seine Selbständigkeit. Dass es auch jüdische Mystiker gab, die dies anders sahen, blendet Soloveitchik aus, oder verwirft dies nachdrücklich, wie im Falle der ḤaBaD-Mystik, der er diese »Abirrung« ausdrücklich vorwirft.188 Angelehnt an die biblische Prophetie vertritt er demgegenüber die Auffassung, dass die Devekut ursprünglich erst ein eschatologisches Heilsgut sei, das aber von den Autoren der synagogalen Liturgie und von den Halachisten in ein präsentisches Gut transformiert wurde, als ein Gut, das man in gewisser Weise schon in dieser Welt, wenigstens annäherungsweise vorwegnehmen könne. Für die Konkretisierung dieser Aussage greift Soloveitchik auf die altrabbinischen Aussagen zurück, wonach die Schechina, die Präsenz Gottes, in der Welt erlebt werden kann, nämlich dann, wenn Menschen – oder auch nur einer – beieinandersitzen und Tora lernen.189 Aber auch schon, wenn man an solchen Menschen haftet, welche Toragelehrte sind, kommt man in den Genuss der Devekut: »Man hafte an den Gelehrten und an denen, die Seinen Namen kennen«,190 denn »Die welche Gott erkennen, haften an ihm und durch die Verbindung mit denen die Ihn erkennen, kann jeder Mensch die Devekut an Gott erlangen.«191 Dies ist eine – schon rabbinisch vertretene – Möglichkeit der Devekut, die dann in manchen Richtungen des osteuropäischen Ḥasidismus eine nachhaltige und eigenständige Wiederbelebung erfuhr.192
185
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 523. 583; Bd. 2, S. 296. 368. 847–848.
186
U-vikaschtem, S. 190.
187
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 296.
188
ʼIsch ha-Halacha, S. 45. 58; Halakhic Man, S. 44. 60–62.
189
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 253–257.
190
U-vikaschtem, S. 191. 194.
191
U-vikaschtem, S. 194.
192
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 876–885.
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Die andere, umfassende Möglichkeit zur Devekut sei, so lehre die Halacha, die Heiligung des irdischen Alltags, welche die Schechina im Hier und Jetzt wohnen lasse, eine Auffassung die Max Kadushin als »Normal Mysticism« schon für die altrabbinische Theologie reklamierte.193 Resümierend sagt Soloveitchik: »Die Devekut, ihrem Wesen nach eine eschatologische Vision, die zur Prophetie vom Ende der Tage gehört, beginnt sich auch schon in dieser zerrissenen und zerstückelten Welt im Leben des unvollkommenen, einsamen Menschen zu verwirklichen. Das Judentum wusste schon immer um die Kohärenz des zeitlichen und ewigen Seins, der Welt, die um ihre Existenz kämpft, und der erlösten Welt, der unreinen Welt und der Welt, die vollkommen rein und gut ist.« Aus der altrabbinischen Konzeption der Devekut als dem Hangen an den Toragelehrten und dem Torastudium in der Gruppe auf der einen und der Ablehnung der Selbstnichtung in den mystischen Konzeptionen der Devekut auf der anderen Seite leitet Soloveitchik indessen zwei grundsätzlich neue Weiterungen ab. Die eine ist die, dass er die Auffassung vertritt, dass das Haften an Gott grundsätzlich an die Beteiligung an der menschlichen Gesellschaft, konkret an die jüdische Gemeinde samt deren Geschichte,194 gebunden ist: »Das Haften an Gott ist an das Haften an der Gesellschaft gebunden. Die Gemeinschaft (Ḥabura), mit der sich der Mensch verbinden muss, ist eine ideale Gemeinschaft, die Gemeinschaft derer, die Gott kennen […] Der Heilige, Er sei gesegnet, verbindet sich mit dem Einzelnen nur dank der Gemeinde (Zibbur) der Ihm Getreuen, die Ihn suchen. Wenn der Mensch sich von der Gemeinde absondert, ist er der Devekut am Herrn nicht würdig.«195 Die andere Weiterung von Soloveitchik ist die, dass er den mystischen Topos von der menschlichen Selbstaufhebung in Gott geradezu umkehrt und sagt, dass der Mensch in der Devekut sich nicht selbst aufhebt, sondern im Gegenteil, sich
193
M. Kadushin, The Rabbinic Mind, New York 1952.
194
U-vikaschtem, S. 193.
195
U-vikaschtem, S. 192. Vgl. S. 194.; zur entsprechenden ḥasidischen Auffassung vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 876–878; u. vgl. K. E. Grözinger, Religiöse Autorität im Chassidismus. Neue Formen der rabbinischen Lehrer-Schüler-Beziehung, in: A.-B. Renger (Hg.), Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart. Von Religionen der Antike bis zur modernen Esoterik, Göttingen 2012, S. 273–284; analog sieht dies der Reform-Gelehrte Eugene Borowitz, siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. III, zu E. Borowitz.
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in ihr erst selbst verwirklicht. »Das Judentum hat entschieden, dass der Mensch durch die vollkommene Realisierung seiner Persönlichkeit sich an Gott heftet, durch das Aufsuchen aller Möglichkeiten, die in den Tiefen seines Seins verborgen sind. Die Ausweitung der Seele, nicht deren Einschränkung sind das Tor zur metaphysischen Anhaftung an Gott.«196 Nach alledem könnte man sagen, Devekut ist für Soloveitchik nichts anderes als der Zustand der normalen, in der jüdischen Gemeinde gepflegten Frömmigkeit, welche die Gebote erfüllt, in der Gemeinschaft betet und Tora »lernt« und hier sein Menschsein entfaltet. Aber das ist ihm noch nicht genug. Er will der Frömmigkeit der Menschen, voran der Toragelehrten, die Gott kennen, auch noch eine epistemologische fast ins Metaphysische neigende Begründung und Basis geben.
5.3.4 Der epistemologisch-metaphysische Grund der Devekut Dov Schwartz unterstreicht, dass Soloveitchik in dieser phänomenologisch angelegten Schrift U-vikaschtem mi-scham kein Interesse an der Metaphysik zeigt, sondern sich ganz auf den Menschen und sein Gottesbewusstsein konzentriert.197 Diese Bewertung kann man auch dann noch gelten lassen, wenn Soloveitchik bei seiner Darlegung des ontologischen Grundes der Devekut selbst von einem »epistemologisch-metaphysischen Grund« der Möglichkeit der Devekut spricht.198 Denn die gesamte folgende Argumentation ist im Grunde auf der Erkenntnislehre aufgebaut, wenn sie dieser Erkenntnis auch, durchaus im neokantianischen Sinn, eine transzendente Seite gibt. Es hat wohl einen autobiographischen – die Vorliebe zu Maimonides in der Familie Soloveitchik – aber noch vielmehr einen sachlichen Grund, dass er sich hier auf Maimonides beruft. Denn für Maimonides sind Gott, der Mensch und die Beziehung zwischen ihnen wesentlich auf den Intellekt, auf das Erkennen gegründet.199 Soloveitchiks Ausgangspunkt der Erörterung über das Wesen der Devekut ist die schon oben vorgetragene Feststellung, dass der Mensch, der Gott erkennt, durch dieses Erkennen in der Devekut steht. Warum dies gesagt werden kann, muss nun belegt werden. Soloveitchik stützt seine epistemologisch-metaphysische Begründung einer auf den Intellekt gegründeten, also gnoseologischen Devekut zunächst auf zwei 196
U-vikaschtem, S. 193.
197
Haguto, Bd. 2, S. 53.
198
U-vikaschtem, S. 195.
199
Siehe auch L. Kaplan, Maimonides and Soloveitchik on the Knowledge and Imitation of God, in: G. Hasselhof u. O. Fraisse (Hg.), Moses Maimonides (1138–1204), Würzburg 2004, S. 491–523; Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 462–478.
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Stellen bei Maimonides.200 Dabei greift er zu unterschiedlichen Deutungen seiner Quelle. Der Grundgedanke dieser Devekut – und dies ist zunächst nur der erste Schritt – ist der, dass beim Erkenntnisvorgang, das erkennende Subjekt, also das denkende Ich des Menschen und das gedachte Objekt, welches sich nun in den Gedanken des Menschen befindet, eins sind. Außerdem ist dann der Vorgang des Denkens als solcher mit beiden, mit dem denkenden Subjekt und dem gedachten Objekt, ebenfalls identisch. So weit der Grundgedanke, der allerdings mit einer Reihe von Differenzierungen versehen ist. Zunächst geht er von einer Aussage des Maimonides in Hilchot Jesode haTora aus, in der Maimonides darlegt, dass diese Identität von Denken, Denker und Gedachtem nur bei der Gottheit gelte, während sie beim Menschen unterschieden sind: »Der Heilige, Er sei gesegnet, erkennt seine Wahrheit indem er sie erkennt, wie sie an sich ist. Er erkennt sie nicht mit einer Erkenntnis (Deʽah), die außerhalb seiner liegt, so wie wir Menschen erkennen. Denn unsere Erkenntnis und wir selbst sind nicht eins. Aber der Schöpfer, E.s.g., Er und seine Erkenntnis und sein Leben sind eins von jeder Seite und jeder Richtung und in jeder Weise eine Einheit. […] Er ist der Erkennende, Er ist der Erkannte und er ist das Erkennen selbst – alles ist eins.« 201 Diese Aussage, die Maimonides und der hebräische Übersetzer des More Nevuchim, Schmuʼel Ibn Tibbon, auch in der Formel der Identität von Sekhel, Maskil und Muskal, Intellekt, Intelligens und Intellectus ausdrücken kann, untermauert Soloveitchik sogleich durch eine epistemologisch-phänomenologische Deutung202 des menschlichen Erkenntnisvorgangs: Wenn ein Mensch zum Beispiel einen Tisch erkennt, so stellt er fest, dass es hier zwei Größen gibt: Das erkennende Subjekt und das erkannte Objekt – Subjekt und Objekt stehen einander gegenüber. Diese Aufspaltung, so fährt Soloveitchik fort, trifft sogar bei der menschlichen Selbsterkenntnis zu, bei der logisch ein erkennendes Ich einem erkannten Ich gegenübersteht. Das Resultat für ihn lautet sodann:
200
Zu Maimonides vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–487.
201
Hilchot Jesode ha-Tora 2, 10; bei E. Goodman-Thau, Chr. Schulte, Moses Maimonides. Das
202
Vgl. dazu z. B. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Buch der Erkenntnis, Berlin 1994, S. 60–63. Philosophie, Hamburg, 2009.
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»Es ist klar, dass bei Gott, der eine absolute Einheit ist, es eine solche Trennung in erkennendes Ich und erkanntes Ich grundsätzlich nicht geben kann, denn dann wäre seine absolute Einheit aufgehoben.«203 Nach dieser epistemologischen Grundaussage folgt die metaphysische Folgerung: Da Gott einer und der Einzige ist und die Welt, das All, nur in Ihm und durch Ihn existiert, bedeutet dies, dass wenn er die Welt erkennt, diese Trennung bei ihm gleichermaßen nicht stattfindet. In seiner Selbsterkenntnis erkennt die Gottheit zugleich die Welt: »Gott […] ist einer und einzig, der ein weiteres Existierendes ausschließt, das ›All‹ existiert nur in Ihm und durch Ihn. Alles hat Teil an seinem Sein und ist von ihm umfangen. Die Existenz von Substanzen erklärt sich als Einwurzelung in Gott. Darum gibt es kein Gegenüber von Subjekt und Objekt bei der Welterkenntnis Gottes. Man kann die Welt ganz unmöglich von der Gottheit trennen, weil die Trennung von der Quelle den Tod im ontologischen Sinn bedeutet. […] Gottes Erkennen der Welt ist eins mit seiner Selbsterkenntnis.«204 So weit der Gedankengang zur Differenz von menschlichem und göttlichem Erkennen. Die nächste Stufe ist nun deren Wiederzusammenführung gemäß einer Stelle in Maimonidesʼ More Nevuchim. Dort will Maimonides anhand des menschlichen Erkenntnisvorgangs beweisen, dass Denken, Denker und Gedachtem eins sind. In Kapitel achtundsechzig des More zitiert Maimonides von den »Philosophen« bezüglich der Gottheit zunächst die genannte Formel von der Einheit des Sekhel, Maskil und Muskal. Um nun seinen Lesern die Möglichkeit dieser Gleichung innerhalb der Gottheit plausibel zu machen zeigt Maimonides, dass diese Einheit ja auch im aktiven menschlichen Erkenntnisvorgang gelte. Das heißt allerdings, nicht solange der Mensch nichts denkt, also nur der Möglichkeit nach ein Denker ist, sondern erst ab dem Augenblick, wenn er aktiv denkt: »Sobald er aber irgendein Ding denkt (jaskil), so zum Beispiel wenn er die Form dieses ihm gezeigten Baumes denkt, indem er dessen Form unabhängig von seinem Stoffe denkt und sich nun diese stofflose Form vorstellt – und hierin besteht ja die Tätigkeit des Denkens (Sekhel) – , dann ist er ein Denkender (Maskil) in Wirklichkeit. Aber das in die Wirklichkeit übergegangene Denkvermögen (Sekhel) ist eben die in seiner Vernunft (Sekhel) vorhandene, 203
U-vikaschtem, S. 197.
204
U-vikaschtem, S. 197; vgl. ebda., S. 201.
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vom Stoffe losgelöste Form des Baumes, denn das Denken (Sekhel) ist nicht ein von dem Gedachten (Muskal) verschiedenes Ding. Es ist dir also einleuchtend, daß das gedachte Ding (Muskal) die vom Stoffe gelöste Form des Baumes ist; diese ist auch das in die Wirklichkeit übergegangene Denkvermögen (Sekhel). Das Denkvermögen (Sekhel) und die gedachte Form (Muskal) des Baumes sind also nicht zwei Dinge, da das zur Wirklichkeit gewordene rationelle Vermögen (Sekhel) nicht ein Ding außerhalb des Gedachten (Muskal) ist. Das Ding aber, durch welches die Form des Baumes gedacht und vom Stoff gelöst wurde, nämlich das Denkende (Maskil), ist ohne Zweifel die in die Wirklichkeit übergegangene Vernunft (Sekel).«205 Diese Einbeziehung des aktiven menschlichen Denkvorganges, welcher in seinem vorübergehend aktivierten Status dem stets aktiven Denken der Gottheit gleicht, durch Maimonides, rechtfertigt Soloveitchik durch einen Sprung in die maimonidische Metaphysik der Prophetie. Maimonides sagt in Kapitel 36 des zweiten Buches im More, dass das menschliche Denken nur ein Ausfluss aus dem göttlichen sei, weshalb sich beide im Falle der Aktivierung des menschlichen Denkens gleichen können. An der besagten Stelle heißt es bei Maimonides: »Das Wesen der Prophetie und ihr wahrer Begriff ist die Emanation (Schefaʽ), welche von Gott durch die Vermittlung der aktiven Vernunft (Ha-Sekhel haPoʽel) sich zuerst auf das Denkvermögen (Ha-koach ha-dabri) und dann auf die Einbildungskraft ergießt.«206 Der Aktive Intellekt (Vernunft) ist in der jüdische-aristotelischen Philosophie des Mittelalters jenes intelligible Mittelwesen zwischen Gott und der Welt, das die Welt und das menschliche Denken hervorbringt.207 Der Koach-ha dabri, das »Redevermögen«, ist ein Synonym für die menschliche Vernunft,208 da es nach Maimonides die höchste Stufe der Vernunftentfaltung des Menschen darstellt. Es ist darum sachlich gerechtfertigt, wenn Soloveitchik die Gleichung zwischen göttlichem und aktivem menschlichen Denkakt von Maimonides mit den folgenden Worten aufnimmt und deutet:
205
Maimonides, Führer der Unschlüssigen, I, 68, Übersetzung A. Weiss, Bd. 1, S. 256–257;
206
Maimonides, More, II, 36, Übs. Weiss, Bd. 2, S. 238; Übersetzung Ibn Tibbon, II, S. 76a.
207
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 406. 413. 414, 417. 419. 420. 460. 466. 470. 476. 477. 558.
208
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 470.
Übersetzung Ibn Tibbon, Neudruck Jerusalem 1960, I, S. 99a–100b.
591. 592. 599. 600. 602. 606. 607; Bd. 2, S. 179. 304. 308. 343.
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»Die Erkenntnis ist ›eine Emanation aus dem Heiligen, E. s. g., mit Hilfe des Aktiven Intellekts‹, und jeder kognitive Akt ist eine infinitesimale Teilhabe an der unendlichen Erkenntnis Gottes. Es gibt keine begrenzte Erkenntnis und kein Mensch erkennt etwas außer durch die Vermittlung der unendlichen Erkenntnis.«209 Bevor Soloveitchik aus diesen Feststellungen den letzten Schritt tut, um die Devekut zwischen Mensch und Gott als intellektuelle Teilhabe darzustellen, ist er bemüht, das Einswerden von Denkakt, Denker und Gedachtem im menschlichen Erkenntnisakt mit der modernen Philosophie zu untermauern. Nach Soloveitchiks oben dargestellter phänomenologischer Deutung des menschlichen Denkaktes, laut dem das denkende Subjekt und das gedachte Objekt sich – anders als im göttlichen Denken – gegenüberstehen, also nicht eines sind, will Soloveitchik hier nunmehr die Gleichheit zwischen göttlichem und menschlichem Denken begründen, die sich nur dadurch unterscheiden, dass das göttliche Denken stets aktiv, nie unterbrochen ist, während das menschliche Denken immer wieder in die Potenzialität, also die Inaktivität zurückfällt. Auch ist das menschliche Denken endlich, während das Göttliche unendlich ist. Die von Maimonides im More Nevuchim nun doch behauptete analoge Gleichheit des menschlichen und göttlichen Denkaktes, also die Verschmelzung von Denker und Gedachtem, begründet Soloveitchik, darauf hat Dov Schwartz ausführlich hingewiesen,210 mit Hilfe der neokantianischen Epistemologie, voran der von Hermann Cohen und mit Elementen aus Salomon Maimon.211 Während bei Maimonides das menschliche Denken ein Geschenk Gottes ist, vermittelt durch den Aktiven Intellekt, also der Mensch beim Denkakt passiv bleibt und die Erkenntnis auf ihn einströmt, sieht Soloveitchik nun, mit Hermann Cohen, im Denkakt des Menschen einen aktiven kreativen Akt. In U-vikaschtem mi-scham beschreibt Soloveitchik diese menschliche Erkenntnisaktivität so: »Wenn der Mensch das intelligible Wesen des Existierenden (Jeschut) erfasst, dringt er in es ein und vereint sich mit ihm. Anstelle einer Erkenntnis im Sinne einer Photographie fremder Gegenstände, die auch nachdem sie begriffen (erkannt) wurden, ihre selbständige Beständigkeit und Bestehen fortführen […], tritt hier eine aktive und kreative Erkenntnis auf. Sie dringt in den Bereich des Objekts ein, erobert die Alterität, nimmt sie gefangen und
209
U-vikaschtem, S. 198.
210
D. Schwartz, Haguto, Bd. 2, S. 142–149.
211
Von ihm stammen die Überlegungen zur Maimonidischen Formel der Identität der drei am Erkenntnisakt beteiligten Größen in seinem hebräischen Buch: Givʽat ha-More le-Schlomo Maimon, Neuausgabe S. H. Bergmann u. N. Rothenstreich, Jerusalem 1966, S. 107–108.
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wird eins mit ihr. […] Nun verwischen sich die Gebiete des Subjekts mit denen des Objekts und beide verschmelzen durch den Erkenntnisakt zu einer vollkommenen Einheit, ohne Unterschied zwischen dem ›ich‹ und der ›Sache‹.«212 Mit diesen Formulierungen hat Soloveitchik unter Aufnahme der neokantianischen Erkenntnistheorie nicht nur die Verschmelzung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt aufgezeigt, sondern er hat darüber hinaus einen Gedanken gewonnen, der das menschliche Denken noch näher an das göttliche heranrückt, nämlich den Gedanken, dass auch der menschliche Erkenntnisakt ein aktiver und kreativer Akt ist, wie dies auch für Gottes Denken gilt, der durch sein Denken die Welt hervorgebracht hat und noch hervorbringt. Bei Hermann Cohen stellt sich das Entsprechende nach der Darstellung in Soloveitchiks Dissertation so dar: »das Wesen der Erkenntnis besteht in der Seinskonstituierung. […] Für Cohen ist das Denken kein Gegebenes, sondern ein ewiger Prozeß, der sich selbst konstituiert. […] Das Denken selbst unterliegt einer Konstituierung, die der des Seins parallel läuft.«213 Und »Die Tätigkeit des Denkens, die Denkfunktion, oder wie Cohen sie nennt, das Erzeugen entspricht den Anforderungen der absoluten Einheit, die in gesetzmäßiger Folge und kontinuierlichem Prozeß hergestellt wird.«214 Nach all diesen Gleichungen (und Differenzierungen) zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Denken kann Soloveitchik in die Zielgerade zur Beschreibung seiner Vorstellung von der Devekut einbiegen. Das erste, das er feststellt, ist, dass der Mensch durch seinen Erkenntnisgewinn seine Persönlichkeit ausweitet und sich mit der von ihm erkannten Welt vereint. In diesem Prozess der Vereinigung von Mensch und Welt findet nun aber zugleich eine Einswerdung mit Gott statt, der ja seinerseits die Welt denkt, die nichts anderes ist als seine eigene Wahrheit, die nicht von ihm getrennt ist. »Wenn der Mensch sich mit der Welt innig verbindet (misdawweg),215 dann verbindet er sich zugleich mit dem Schöpfer« sagt Soloveitchik, denn »Der Akt der Schöpfung ist seinem Wesen nach ein denkerischer Vorgang des Heiligen, E. s. g., als des Gottes der Welt.«216 Und: »Das Wort des Heiligen, E.s.g., ist zugleich sein Denken und sein Wille, in denen und durch die alles existiert.«217 Für das Verständnis der Devekut bedeutet dies:
212
U-vikaschtem, S. 198.
213
Solowiejczyk, Das reine Denken, S. 36.
214
Solowiejczyk, Das reine Denken, S. 64.
215
Das Verbum dient zur Benennung der Vereinigung im Geschlechtsakt.
216
U-vikaschtem, S. 201.
217
U-vikaschtem, S. 201.
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»Zum einen ist die Welterkenntnis Gottes mit der Erkenntnis seiner absoluten Wahrheit identisch. Und zum anderen identifiziert sich der die Welt erkennende Mensch mit der Welt und dadurch mit der Wahrheit der Wirklichkeit Gottes. […] Mit anderen Worten: Durch die Erkenntnis der Welt erkennt der Mensch seinen Schöpfer und haftet (mitdabbek) an ihm. […] Der Mensch und Gott vereinen sich in der Erkenntnis der Welt.«218 Mit diesen Formulierungen steht Soloveitchik zum einen ganz nahe an einer intellekts-mystischen unio mystica219 und zum anderen natürlich auf Seiten von Maimonides, der in der Welterkenntnis die Erkenntnis der Wirkattribute der Gottheit erkennt. Die Devekut, und damit das religiöse Ziel, wäre demnach ein rein intellektueller Vorgang. Damit kann sich natürlich der »Halacha-Mensch« Soloveitchik nicht zufriedengeben. Daher fügt er diesem Ergebnis noch dessen finale Ergänzung im Sinne eines Halacha-Judentums bei, eine Weiterung die er schon oben mit der neokantianischen Erkenntnistheorie vorbereitet hat, nämlich dass der Erkenntnisprozess ein kreativer Prozess sei. Dies ist hinsichtlich der mittelalterlichen Vorgaben bezüglich der Gottheit ja keine Frage – Gott erschafft die Welt durch sein Denken. Aber wie sieht das auf Seiten des Menschen aus? Kann er sich auf die reine intellektuelle Aktivität zurückziehen? Für die mittelalterlichen Vorgaben stand es ja schon fest, dass bei Gott dessen Denken, dessen Wille und dessen Tun ein und dasselbe seien.220 Soll das menschliche »Denken« nun tatsächlich dem göttlichen entsprechen und soll dieses »Denken« der Begegnungs- und Haftpunkt zwischen Gott und Mensch sein, so müssen die beiden Elemente »Wille« und »Handlung« auch auf der menschlichen Seite der Gleichung vorhanden sein. Darum hat »Der erkennende, der wollende und handelnde Gott, dem Menschen befohlen zu einem Geschöpf zu werden, das erkennt, will und handelt und dadurch Gott ähnlich wird und an ihm haftet, indem er Denken, Willen und Handeln miteinander verbindet.«221 Konkret bedeutet dies für Soloveitchik dass das Denken des Juden mit Werken der Liebe, und mit Werken von Recht und Gerechtigkeit verbunden sein soll. Die Realisierung des Denkens in Werken geschieht mittels des ethischen Willens. Damit sind beim Menschen wie bei Gott Denken, Wille und Tun eines.222 Eine bessere Begründung der Halacha kann es – theologisch gesprochen – kaum geben.
218
U-vikaschtem, S. 201–202.
219
Zu solchen vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1 34; Bd. 2, S. 294–302. 367–368. 848.
220
Vgl. zu den Attributen Gottes Jüdisches Denken, Bd. 1, 379–384. 410–414. 438–446.
221
U-vikaschtem, S. 202.
222
U-vikaschtem, S. 203.
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5.3.5 Die Funktion der Halacha – als Lehrmeisterin und Führerin des menschlichen Bewusstseins Nachdem Soloveitchik, wie im Vorangehenden gezeigt, die Aufgabe der Halacha als Medium zur imitatio dei beschrieben hat, bemüht er sich, die Funktion der Halacha auch im Rahmen der phänomenologischen Darstellung des menschlichen Bewusstseins zu erläutern. Demgemäß ist es die Aufgabe der Religion, der jüdischen Religion, das Bewusstsein des Menschen emporzuheben, damit die Dualität der anthropo-endogenen Gottessehnsucht zu einer Einheit wird – eine Dualität, die sich in den Polen von natürlichem (rationalem) Bewusstsein und Offenbarungsbewusstsein ausdrückt.223 Es ist demnach die Halacha, welche diese normale menschliche Bewusstseinsspaltung überwindet. Denn eine Einseitigkeit nach dieser wie nach jener Seite ist – wie oben schon deutlich wurde – für den Menschen schädlich. Die Halacha vermag die beiden menschlichen Bewusstseinspole zusammenzuhalten und heilvoll miteinander zu verbinden: Dies ist der Kernsatz, mit dem Soloveitchik die Stellung der Halacha in seiner phänomenologischen Darstellung der Religion definiert: »Auf dreierlei Weisen drückt sich das Streben des Judentums nach der Hebung des Bewusstseins auf die Ebene eines geistigen Bewusstseins aus, welches das natürliche Streben des Menschen zu Gott mit seinem in der Offenbarung gegründeten Glauben verbindet: 1. In der Herrschaft der Vernunft (Sekhel), 2. der Emporhebung des Körperlichen und 3. in der Verstetigung des Gotteswortes.«224 Dies kann und soll die Halacha nach Soloveitchiks Auffassung leisten. Die Halacha ist es, welche die drei genannten Strebungs-Weisen zur Geltung bringt und damit die Bewusstseins-Einung bewerkstelligt, worauf im Folgenden noch einzugehen sein wird. 1. Zum ersten Punkt (Herrschaft der Vernunft) betont er, dass die Halacha die Dualität des menschlichen Bewusstseins, das zwischen natürlicher und offenbarter Erkenntnis hin und her gerissen ist, dadurch verbindet, dass sie die beiden Prinzipien, ratio und Offenbarung miteinander vereint.225 Die apriorische Grundlage der Halacha ist die Offenbarung, die nun aber mit allen Mitteln der menschlichen Vernunft zu bearbeiten ist. Letztere darf zwar an den Grundlagen nichts verändern, ist aber dennoch gehalten, stets Neuerungen (Ḥidduschim) auf dieser vorgegebenen unverrückbaren Grundlage zu erarbeiten. Ein Verfahren, das So-
223
Siehe oben, Teil III, Kap. I, Soloveitchik Nr. 5.2.
224
U-vikaschtem, S. 204; u. vgl. ebda. S. 215.
225
Vgl. U-vikaschtem, S. 215.
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loveitchik auch in den allgemeinen Wissenschaften sieht, nämlich eine axiomatische Grundlage, unverrückbare Grundvoraussetzungen, auf deren Basis der Erkenntnisfortschritt erarbeitet werden muss.226 2. Die Halacha ist es ebenfalls, die den anderen Dualismus des menschlichen Bewusstseins überbrückt, nämlich den zwischen Körperlichkeit, oder Natur, und Geist. Anstatt wie es die Griechen und andere Religionen taten, nämlich das Körperliche zugunsten des Geistigen zu unterdrücken und weitestgehend zu eliminieren, verfolge die Halacha das Ziel der Hebung des Körperlichen – nicht durch dessen Zurückdrängung, sondern durch dessen Heiligung. Die Halacha ist vollkommen auf das Materielle ausgerichtet, heiligt dieses aber durch dessen Unterwerfung unter die Gebote der Tora. Die menschlichen Begierden werden kanalisiert, das Essen wie auch das Geschlechtliche bis hin zur Entleerung der körperlichen Exkremente: »Der Mensch dient Gott auch wenn er auf der Toilette sitzt, darum muss er wissen, wie zu sitzen und wie sich hernach zu reinigen.«227 Die Halacha will alles heiligen, deshalb greift sie auch alles Wissen der Naturwissenschaften auf, um es sachgerecht ihren Zielen einzupassen: »Darum besteht ein sehr enges Band zwischen der objektiven-normativen Halacha und der wissenschaftlichen Erkenntnis des freien kreativen Intellekts. Es gibt keine wissenschaftliche oder technologische Neuerung, an der die Halacha nicht Interesse hätte. Das halachische Bewusstsein ist bemüht, in die verborgenen Schätze der Wissenschaft einzudringen. Zum Beispiel: Die Gebote von den Mischarten haben eine direkte Beziehung zur Morphologie der Pflanzen und Tiere; die Hebeabgaben und Zehntabgaben, die Wartefrist bei Obstbäumen, Erstlinge, die Laubhütte, Mischarten und das ›Zelt‹ des Toten – hängen nicht nur mit der Messtechnik zusammen, sondern auch mit dem mathematisch-begrifflichen Verständnis des Raumes. Das Heraustragen von Gegenständen am Schabbat […], Erst- und Zweittäter bei Mord und Schädigungen […] direkte und indirekte Ursache – sie alle hängen vom Verständnis des Prinzips der Ursächlichkeit im Allgemeinen und von den Gesetzen der Mechanik im Besonderen ab. […]«.228 Das bedeutet, die konkrete Ausführung der unveränderten biblisch-halachischen Gebote ist von den wissenschaftlich erkannten Gegebenheiten der realen Welt abhängig. Es muss also stets die Frage gestellt werden, wie sich das biblische Gebot unter den veränderten Umständen, seien sie wissenschaftlicher, sozialer oder sonstiger Art, ihrem Sinne gemäß ausführen lassen. Das ist die Verbindung 226
U-vikaschtem, S. 204–206.
227
U-vikaschtem, S. 215.
228
U-vikaschtem, S. 216.
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von offenbartem Gesetz und rational erdachter Ausführungsmöglichkeit. Somit sind Offenbarungs-Bewusstsein und natürlich-wissenschaftliches Bewusstsein miteinander verwoben. »Der Halachist (ʼIsch ha-Halacha) hängt an übervernünftigen Begriffen und bearbeitet sie mit objektiven rationalen Methoden.«229 Der moderne Religions- und Mentalitäts-Historiker wird dieser Konzeption den Kritikpunkt entgegenstellen, dass ja auch das, was von Soloveitchik als unveränderliche Offenbarung verstanden wird, für den modernen Historiker, eine in der Zeit entstandene und von der Geschichte gewordene und sich verändernde Größe ist. Aber gerade an diesem Punkt verläuft die Scheidelinie zwischen Orthodoxie und Liberalismus oder säkularer Geschichtswissenschaft. Soloveitchik sucht eine solche Kritik mit der These zurückzuweisen, dass ja auch die moderne Wissenschaft ihre Grenze gerade im Bereich des persönlichen Weltwahrnehmens hat, das einer auf das Unveränderliche konzentrierten Wissenschaft nicht zugänglich sei. Auch, dass selbst die modernen Wissenschaften das Irrationale erkennen, wenn sie versuchen ein der ratio entsprechendes Bild von der Welt zu zeichnen – wie Soloveitchik dies grundsätzlich in The Halakhic Mind dargestellt hat.230 3. Zum dritten Punkt (der Verstetigung des Gotteswortes) verdeutlicht Soloveitchik, dass es hierbei im Grunde um die Verstetigung der Prophetie geht, um die Konzeption einer revelatio continua – auf den ersten Blick ein Widerspruch zur Aussage von der Unveränderlichkeit der Offenbarungsgrundlagen. In seinen Ausführungen zur Gottesoffenbarung in der Prophetie muss er gleichsam einen Hürdenlauf von einer sehr traditionell klingenden anthropomorphistischen Beschreibung über die Brücke des Maimonidischen Prophetieverständnisses hin zu seiner phänomenologischen Konzeption bestreiten. Er beginnt mit der ganz traditionellen Auffassung von der Prophetie, nach welcher der Prophet von der Gottesoffenbarung überfallen wird: »Der Beginn der Prophetie, eine der Grundsäulen des Glaubens, ist die Offenbarung Gottes gegenüber dem Menschen, in welcher er sein Wort an ihn richtet. Der Prophet ist aus der konkreten Welt herausgehoben in eine wunderbare übervernünftige und über-ontologische Welt. Dort wird dem Propheten befohlen, wieder in seine reale Welt zurückzukehren, um sie zurechtzubringen (takken) und sie rein zu machen.«231
229
U-vikaschtem, S. 215.
230
Siehe oben Kapitel 3.1.2 Die Geschichte der Erkenntnistheorie.
231
U-vikaschtem, S. 217.
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Gegenüber dieser biblischen »Überfall-Theorie« spricht Maimonides davon, dass der Mensch sich auf die Prophetie vorbereiten müsse, mit den Worten von Maimonides: »Die Prophetie kommt zu niemandem, es sei denn er ist ein herausragender Gelehrter der Weisheit, mächtig in seinen Tugenden, den sein Trieb in nichts überwältigt, der vielmehr selbst mit seinem Wissen den Trieb stets besiegt, der einen weiten Verstand besitzt […] der sich heiligt und sich von dem allgemeinen Lebensweg des Volkes absondert […].«232 Für Soloveitchik sind diese beiden Auffassungen von der Prophetie die Vorgaben für sein eigenes dualistisches Erkenntnismodell, von dem der Mensch geprägt und von dem er zerrissen wird, die natürliche Erkenntnis der Wissenschaft – oder der natürlichen Theologie – und der Offenbarungserkenntnis, die hier schon mehrfach genannt wurden. Die Zusammenführung dieser beiden Erkenntnisweisen und damit die Überwindung der epistemischen menschlichen Zerrissenheit ist das Gebot der jüdischen Religion, trotz ihrer ontologischen Differenz: »Es ist tatsächlich so, dass das natürliche Bewusstsein und das Offenbarungsbewusstsein zwei unterschiedlichen Bereichen angehören, zwischen denen kein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Was heißt das? Wenn der Mensch wider Willen Gott begegnet, dann ist diese plötzliche Offenbarung verschlossen und der Mensch schreckt zurück. Wenn aber der Mensch Gott begegnet, nachdem er darum gebeten hat, nach dem Gebet und der Erwartung einer Offenbarung, dann vereint sich das Wissen mit dem Glauben, das freie kreative Bewusstsein mit dem Zwang ausübenden Offenbarungs-Bewusstsein.«233 Diese Verbindung muss, in seinem Sinne, das Ziel des jüdischen Menschen sein, um die Spaltung des epistemischen Bewusstseins zu überwinden. Soloveitchik fügt diese Forderung in die altrabbinische Konzeption ein, wonach die Erschaffung der Welt durch Gott erst mit der Tora-Offenbarung am Sinai ihren Abschluss fand und die Schöpfung bis dahin von unsicherem Bestand war.234 Daraus zieht er sogleich den weitergehenden Schluss, dass die Weltschöpfung und die Sinaioffenbarung letztlich von gleichem Wesen seien, die sich nur durch aspektuale Hinsicht voneinander unterschieden. Das heißt, die Erschaffung der Welt ist ein ethisches Handeln, so dass auch umgekehrt gilt, dass ethisches Handeln, das Befolgen der Gebote, ein schöpferischer Akt ist.235 Das Ziel des Menschen muss es daher sein, die Einheit beider zu erkennen, dann wird 232
Maimonides, Hilchot Jesode ha-Tora 7, 1 nach U-vikaschtem, S. 218.
233
U-vikaschtem, S. 219.
234
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 257–262.
235
U-vikaschtem, S. 223.
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er erst verstehen, dass seine Suche nach der Welterkenntnis, aus der Schöpfung, von Gott durch die Offenbarung des Gebotes beantwortet wird.236 »Das Geschöpf der Schöpfungstage findet sein Ziel und seine Vollendung im Offenbarungsbewusstsein.«237 Damit werden die Freiheit und Kreativität der natürlichen Erkenntnis mit dem Zwang der Offenbarungsgebote verbunden. Und je weiter der Mensch in der Erkenntnis dieser Einheit von Weltgesetz und Offenbarungsgesetz voranschreitet,238 umso mehr erscheint ihm das Offenbarungsgebot als Teil seiner eigenen Freiheit und als Weg zur Vollendung der eigenen Identität. So dass man schließlich dahin gelangt, dass man versteht: »Das Befolgen der Gebote bringt dem Menschen Freude und das Glück des Schaffens. Die Verwischung der Kluft, die zwischen dem höchst persönlichen freien Moralgesetz und dem offenbarten zwingenden Gebot bestehen, bewirkt ein vollkommenes Erlebnis der Freiheit, als ob das göttliche Gebot mit der Forderung des rationalen kreativen Bewusstseins identisch sei.«239 Das natürliche und das Offenbarungsbewusstsein werden vereint, der innere epistemische Friede ist hergestellt. Diese Vereinung der beiden Bewusstseinsebenen hat für Soloveitchik indessen einen noch tieferen, das Wesen und die Identität eines Menschen an ihrem Kern betreffenden Sinn. Er glaubt nämlich, dass der Mensch erst zu sich selbst kommt, wenn die Offenbarung zu seinem natürlichen Bewusstsein hinzutritt und so beide, das natürliche und das Offenbarungsbewusstsein, in ihm vereint sind. Erst so findet der Mensch sein eigenes individuelles Ich, erst so wird er über das Niveau des nur Natur-Menschen hinausgehoben: »Der Mensch, der nicht Gott begegnet, befreit sich nicht aus einer stummen und düsteren Wirklichkeit, die nicht durch das Licht der geistigen Einswerdung erleuchtet wurde. Eine persönliche Wirklichkeit ist eine Wirklichkeit der Offenbarung. Rabbi Jehuda Ha-Levi, der Dichter und Philosoph, hat dieses Geheimnis offenbart: Die Beziehung Gottes zum Menschen ist doppelter Natur: Auf der einen Seite beinhaltet Seine Beziehung zur gesamten Welt auch Seine Beziehung zum Menschen, der ja ein unabtrennbarer Teil der
236
U-vikaschtem, S. 221.
237
U-vikaschtem, S. 221.
238
Ira Bedzow, Halakhic Man, Authentic Jew. Modern Expressions of Orthodox Thought from Rabbi Joseph B. Soloveitchik and Rabbi Eliezer Berkovits, Jerusalem, New York 2009, fasst dies einmal so zusammen: »Moral and natural Law are the same«; und siehe J. D. Soloveitchik, (Hg. M. S. Berger) The Emergence of Ethical Man, Jersey City 2005.
239
U-vikaschtem, S. 222.
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359
Welt ist. Auf der anderen Seite wendet Er sich ihm auch gesondert zu, jenseits der Welt und ihrer Fülle, in einer einzigartigen Beziehung, einer Beziehung der Offenbarung. In dieser Situation vereint sich der Mensch mit seinem Schöpfer und zugleich mit sich selbst als einem persönlichen Wesen. Die Offenbarung Gottes vor dem Menschen und die Offenbarung des Menschen vor sich selbst als einem höchst persönlichen Wesen geschehen in einem einzigen Vorgang.«240 Der Mensch wird durch die Gottesoffenbarung, so fährt er fort, aus einem Lebewesen zu einem sprechenden Geist erhoben, er wird fähig zur Begegnung von Ich und Du und der Begegnung mit Gott.241
5.3.6 Die Offenbarung Die vorangehenden Darlegungen, nach denen die Offenbarung Gottes den Menschen erst zum Menschen macht, durch die seine Bewusstseins-Dualität zu einer Einheit geführt wird, haben natürlich auch Folgen für die Bewertung der Offenbarung. Natürlich bleibt für den orthodoxen Denker Soloveitchik die Offenbarung am Sinai nach wie vor das Urdatum der jüdischen Religion, aber deren Funktion als Medium der Menschwerdung bis herein in die Gegenwart und für die Zukunft, erfordert den Gedanken einer revelatio continua. In seinen Äußerungen über die Offenbarung zeigt sich bei ihm, wie schon bei seiner Rede über das Sein Gottes und anderen Themen, ein Fluktuieren der Diktion zwischen Tradition und phänomenologischer Terminologie. Häufig spricht er statt von Offenbarung vom Bewusstsein der Offenbarung, das heißt die theologischmetaphysische Diktion wird zu einer anthropologischen. Worum es demnach letztlich geht, ist nicht die Andauer der aus der Transzendenz hereindringenden Offenbarungsstimme, sondern um die Fortdauer des Offenbarungs-Bewusstseins des Menschen. So sagt er zum einen: »Der Gott, der sich Moses aus dem Dornbusch offenbarte und ihm das Mysterium des ›Ich werde sein, der ich sein werde‹ offenbarte, ist nicht verschwunden. Der Dornbusch brennt noch immer im Feuer und die Stimme Gottes aus dem Busch schallt im Raum der Welt.« 242 Und auf der anderen Seite spricht er von der »Idee […] der Fortdauer der SchechinaOffenbarung«, welche von der Halacha mit der Bezeichnung »Tradition (Masora) und Überlieferung (Kabbala) der Mündlichen Tora benannt wurde.« Diese 240
U-vikaschtem, S. 226.
241
U-vikaschtem, S. 226–227.
242
U-vikaschtem, S. 226; zur ewig präsenten Sinai-Stimme siehe K.E. Grözinger, Die Gegenwart des Sinai, Erzählungen und kabbalistische Traktate zur Vergegenwärtigung des Sinai, FJB 16 (1988), S. 143–183.
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»Termini« so fährt Soloveitchik fort, bezeichneten nicht nur das didaktische Weitergeben eines Lehrinhaltes, sondern »Die Tradition und Überlieferung der Mündlichen Tora bringen einen weiteren und tieferen Begriff zum Ausdruck […]. Tradition und Überlieferung realisieren sich in der Erweckung des Offenbarungs-Bewusstseins […] in einem stürmenden Erleben von Generation zu Generation.«243 Die Offenbarung wird hier zu einem innermenschlichen Prozess, einem Generationen übergreifenden Erleben. Ganz in diesem Sinn wird sodann auch die wöchentliche synagogale Toralesung nicht nur als Belehrung verstanden, sondern als stete Wiederholung der Offenbarung Gottes, weshalb sie im Stehen angehört werde – wie am Sinai.244 Entsprechend stellt Soloveitchik auch das Verhältnis von Lehrer und Schüler dar, die eine geistige Vereinung der beiden bewirke, bei der ein »persönliches Charisma (Hod, Exzellenz) vom Lehrer auf den Schüler emaniert wird«, bei der die Seelen der Beteiligten aneinander in Devekut haften. Vom Propheten heißt es entsprechend, dass er seine Prophetie aus seinem Bewusstsein auf das Bewusstsein künftiger Menschen ergießt.245 Die Prophetie und die Offenbarung schlechthin sind das unverzichtbare Lebenselixier des zum Individuum werdenden Menschen, das stets verfügbar sein muss und durch die Tradition von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Realisierung all dessen kommt natürlich durch die Identifizierung des Menschen mit dem göttlichen Willen zustande, wie er in der Halacha zum Ausdruck kommt,246 denn »sie [die Halacha] übersetzt das wollende Denken in einen handelnden Willen. Das Wesen des offenbarten halachischen Gesetzes emaniert aus dem wollenden Denken Gottes, wenn er das Unendliche als die Erkenntnis seiner Wahrheit und des Alls erkennt. Darum, wenn der Halachist das wollende Denken des Heiligen, E.s.g., auf sich anwendet, identifiziert er sich mit dem Denken (Sekhel), dem Ur-Willen des Einen und verbindet sich innig (misdawweg) mit Ihm. […] die halachische Erkenntnis des offenbarten Gebotes verbindet das Endliche mit dem Unendlichen.«247
243
U-vikaschtem, S. 227.
244
U-vikaschtem, S. 228.
245
U-vikaschtem, S. 233.
246
U-vikaschtem, S. 204.
247
U-vikaschtem, S. 204.
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Jüdisch-Amerikanische Denker
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Das Leben nach der Halacha und in der Halacha ist demnach die Erfüllung der Devekut, das Haften an der Gottheit – ein Resultat das dem Autor von ʼIsch haHalacha und orthodoxen Rabbiner nicht unangemessen ist.
6.
Halacha als Ausgleich der beiden existentialen Grundtypen des Menschen – The Lonely Man of Faith
6.1
Therapeutisch-existentialistisch-biographisches Schreiben
Es erweckt Erstaunen und Neugier, wenn man sieht, dass der Autor von Der Halacha-Mensch und von Das halachische Denken (The Halakhic Mind) ein weiteres Bändchen mit dem Titel The Lonely Man of Faith (1965) vorgelegte. Hat er seine Grundposition vom Judentum geändert? Ist er von der Seite des orthodoxen Halacha-Judentums auf die des liberalen Glaubensjudentums gewechselt? Weder die eine noch die andere Vermutung ist richtig. Genau betrachtet hat Soloveitchik mit dieser Schrift seine dualistischen epistemologischen Grundpositionen der früheren Texte nicht verlassen. Der Glaubensmensch nimmt in dieser Schrift den einen Fokus der bisher dargestellten epistemischen Polarität ein. Er vertritt die Position der phänomenologischen Lebenswahrnehmung und ihm gegenüber steht der homo faber und mathematische Welterkunder, wie dies aus U-vikaschtem mi-scham und auch schon in The Halakhic Mind beschrieben war.248 Verändert hat sich in dieser dipolaren Weltwahrnehmung, worauf Dov Schwartz zurecht hinweist,249 jedoch die Stellung dessen, was Soloveitchik den »Glauben« (faith) nennt. In U-vikaschtem nimmt der Glaube die vermittelnde Position zwischen rationaler und emotionaler Weltwahrnehmung ein, sie beide – mit Hilfe der Halacha – vermittelnd zu ertragen. In The Lonely Man of Faith nimmt der Glaube vollkommen die eine Seite – die phänomenologische – ein, während ihr gegenüber unvermittelt die Position des homo faber steht. Soloveitchik nennt den homo faber hier den »Menschen des Stolzes«, der Kreativität. Letzterer, der homo faber, der kreativ die Welt beherrscht und erkundet, ist für ihn jetzt die imago dei,250 das schöpferische, das die Welt beherrschende Ebenbild Gottes von Genesis 1, der die imitatio dei übt251 – , er ist der »majestic man«.252 Demgegenüber
248
Vgl. L. Kaplan, Degamim schel ha-ʼAdam ha-dati ha-ʼideʼali be-Hagut ha-Rav Josef Dov Soloveitchik, in: Mechkare Jeruschalajim be-Machschevet Jisrael 4, 3–4 (1985), S. 327–339; D. Singer u. M. Sokol, Joseph Soloveitchik: Lonely Man of Faith, in: Modern Judaism 2 (1982), S. 227–272; A. Fischman, »ʼIsch ha-ʼEmuna ha-boded« be-Perspektiva soziologit, in: A. Sagi (Hg.), ʼEmuna bi-Semanim mischtanim, S. 265–274.
249
Schwartz, Haguto, Bd. 2, S. 320f.
250
The Lonely Man, S. 11–12.
251
The Lonely Man, S. 17.
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ist der Glaubensmensch, der aus dem Staub gemachte Adam253 des zweiten biblischen Schöpfungsberichtes, worauf noch eigens einzugehen sein wird. Außer dieser Positionsverschiebung des Glaubens kommt in dieser Schrift eine persönliche autobiographische Note hinzu, Soloveitchik sagt, er wolle hier keine philosophischen Fragen erörtern, sondern »Erfahrungen, mit denen ich konfrontiert war. […] Es ist eine Erzählung eines persönlichen Dilemmas.«254 Der Bericht von einem »Krisenbewusstsein«. Er will beschreiben: »Die Rolle des Glaubens-Menschen, dessen religiöse Erfahrung mit inneren Konflikten und Inkongruenzen belastet ist, der zwischen der Ekstase in Gottes Partnerschaft und der Verzweiflung der Gottverlassenheit hin und her schwankt, und der zwischen dem wachsenden Kontrast zwischen Selbstachtung und Selbstverleugnung zerrissen ist […].«255 Aus alledem fließt die »leidvolle Erfahrung der Einsamkeit (loneliness)«, nochmals in erster Person von Soloveitchik formuliert: »Ich verzweifle, weil ich einsam bin und mich deshalb als gescheitert fühle (frustrated).«256 Er fühlt sich unerwünscht und nicht angenommen. Mit einer sogleich nachfolgenden Frage zeigt Soloveitchik an, zu welchem Denkerkreis er sich in dieser Lagebeschreibung zugehörig fühlt, nämlich zu den Existentialisten vom Schlage eines Søren Kierkegaard. Soloveitchik fragt an der besagten Stelle: »Ich muss mir die offensichtliche Frage stellen, weshalb ich von diesem Gefühl der Einsamkeit und Unerwünschtheit befallen bin? Ist es die Kierkegaardsche Angst die mich überfällt – eine ontologische Furcht, die aus dem Bewusstsein des Nichtseins fließt, die die eigene Existenz bedroht, oder ist dieses Einsamkeitsgefühl einfach meinem persönlichen Stress geschuldet, den Sorgen und Frustrationen? Oder ist es schließlich der allgemeine Geisteszustand des westlichen Menschen, der sich selbst entfremdet ist […]?«257 Soloveitchik wird aufgrund dieser Fragestellungen und Ortsbeschreibungen des Menschen in der Fachliteratur tatsächlich als existentialistischer Denker bezeich-
252
The Lonely Man, S. 80. 15. 19. 32– 33.
253
The Lonely Man, S. 11.
254
The Lonely Man, S. 1
255
The Lonely Man, S. 2.
256
The Lonely Man, S. 3; vgl. auch J. Soloveitchik, Confrontation, in: Tradition 6, 2 (1964), S. 5–
257
The Lonely Man, S. 4.
28; ders. The Community, in: Tradition 17, 2 (1978), S. 7–24.
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net.258 Und zu Recht, Soloveitchik setzt sich mit Kierkegaard in dieser Schrift mehrfach zustimmend und ablehnend auseinander.259 Simon Noveck meint sogar: »In Entlehnung von Kierkegaard, geht Rabbi Soloveitchik so weit, dass er auf die Forderung, einen einzigen eindeutigen Schlüssel für des Menschen Persönlichkeit zu benennen, vorschlägt, diesen in der ›Einsamkeit‹ (loneliness) zu sehen […].«260 Avi Sagi betont in diesem Zusammenhang die Wendung ins Persönliche und Biographische, weg von der theologischen oder philosophischen Gotteslehre, hin zur menschlichen Selbstexplikation, die für Soloveitchik in der Mitte seines Denkens stehe. Dies sei eben das Merkmal eines solchen Existentialismus: »In der Selbstexplikation erlangt der Mensch eine Durchsichtigkeit seiner selbst und ein Verständnis seiner Welt, und dieses Verstehen ist seine Erlösung. In dieser Hinsicht führt Soloveitchik die Kierkegaardsche Tradition fort, die in der philosophischen Beschäftigung eine Reise des Menschen zu sich selbst sah. Kierkegaard sah im philosophischen Schreiben den Ausdruck einer Befassung mit sich selbst und einer existentialistischen Sorge. Das Schreiben ist eine Tätigkeit, durch die der Mensch zum Verständnis seiner Existenz und gelangt und dazu, sich mit ihr zufrieden zu geben.«261 Eben in demselben Sinne wollte Soloveitchik diese Schrift The Lonely Man of Faith verfassen, nach dem Motto von Elihu im Buche Hiob: »Ich will sprechen, um Erleichterung zu finden.«262 Er verbindet also mit dem Aussprechen – wie einst Berta Pappenheim263 – eine therapeutische Wirkung.
258
Soloveitchik als Existentialist: E. B. Borowitz, Choices in Modern Jewish Thought, New York 1983, S. 218–272; S. Noveck, Great Jewish Thinkers of the Twentieth Century, Clinton (Mass.) 1963, S. 281–297; B. ʼIsch Schalom, Ha-Safa ka-Kategorija datit be-Haguto schel RJ“D Soloveitchik, in: Sefer ha-Jovel le-Rav Mordekhai Breuer, Hg. M. Bar-Ascher, Jerusalem 1992, S. 799–821; Z. Kolitz, Confrontation: The Existential Thought of Rabbi J. B. Soloveitchik, Hoboken NJ 1993.
259
The Lonely Man, S. 50.101–102.
260
Noveck, Great Jewish Thinkers, S. 288.
261
A. Sagi, Ha-Rav Soloveitchik: Hagut jehudit le-nochach ha-Moderna, in: ders. ʼEtgar ha-
262
The Lonely Man, S. 2; vgl. ebenda, Seite 8, wo dem Stellen auch unbeantwortbarer Fragen ei-
263
Vgl. I. Stephan, Sprache, Sprechen und Übersetzen. Überlegungen zu Bertha Pappenheim und
Schiva ʼel ha-Masoret, Jerusalem, Ramat Gan 2006, S. 31. ne solche therapeutische Funktion zugeschrieben wird. ihrem Erzählungsband »Kämpfe« (1916), in: K. E. Grözinger (Hg.), Sprache und Identität im Judentum, Wiesbaden 1998, S. 29–42.
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6.2
Ontologisch-exegetische Begründung des existentialen menschlichen Dilemmas
Bevor die Frage von Glaube und Einsamkeit in dieser Schrift von Soloveitchik erörtert werden können, muss auf die für diesen Denker gewiss nicht überraschende ontologische Verankerung der conditio humana in einer typologischen Schriftauslegung264 hingewiesen werden. Wie schon bei der Auslegung des Hohen Liedes in U-Vikaschtem mi scham liest er die biblischen Texte nicht historisch- kritisch, sondern als Spiegel und Matrix einer unveränderlichen menschlichen Situation. Er sieht den biblischen Text – mit den Phänomenologen – als eidetisch-noetisches Bild,265 womit sein eher fundamentalistischer Zugang zur Bibel eine moderne epistemische Rechtfertigung erhält. Mit Hinweis auf diese modernen epistemologischen Vorgaben, wie er sie in The Halakhic Mind erörtert hatte, eröffnet er seine typologische Deutung der beiden unterschiedlichen biblischen Schöpfungsgeschichten im ersten und zweiten Kapitel der Genesis: »Wir alle wissen, dass die Bibel zwei Erzählungen über die Erschaffung des Menschen bietet. Wir kennen auch die von der Bibel-Kritik vorgeschlagene Theorie, welche diese beiden Berichte zwei unterschiedlichen Traditionen und Quellen zuschreibt.266 Da wir natürlich ohne jede Einschränkung die Einheit, Integrität und den göttlichen Charakter der Heiligen Schriften annehmen, weisen wir diese Hypothese zurück, die wie so vieles der BibelKritik auf von modernen Menschen erfundenen literarischen Kategorien be-
264
The Lonely Man, S. 11.10.
265
Zur eidetischen Wesensschau siehe: Th. Blume in: UTB Handwörterbuch der Philosophie, s.v. Eidetik »Von griech. eidos ›Gestalt, Urbild, Idee‹: in der Phänomenologie Husserls der Name für die Wissenschaft des in der Wesensschau Gegebenen. Husserl entwickelt ein Verfahren der eidetischen Variation, bei dem man sich zu dem zu bestimmenden Begriff einen beliebigen Vertreter, einen unter diesen Begriff fallenden Gegenstand vorstellt. Sodann beginnt man damit, dieses Vorbild in der einen oder anderen Weise zu variieren, indem man sich Gegenstände vor das innere Auge ruft, die dem ursprünglich gewählten Gegenstand ähnlich sind. Im weiteren Fortgang dieser Variation scheint dann auf einmal das den nacheinander aufgerufenen Gegenständen innewohnende gemeinsame Wesen auf, das Husserl als Eidos bezeichnet. Auf der Grundlage dieses Verfahrens entwirft Husserl eine im Gegensatz zu den Tatsachenwissenschaften (Natur- und Geisteswissenschaften) stehende Wesenswissenschaft, welcher die Aufgabe zufällt, das Wesen der jeweils in der Vorstellung gegebenen Gegenstände zu ermitteln. Die eidetische Wissenschaft ist ihrerseits untergliedert, wobei jeder naturwissenschaftlichen Disziplin eine regionale eidetische Ontologie korrespondiert, d. h. eine Wissenschaft, die damit befasst ist, die Wesen der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen zu schauen.«, nach: http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/?title=Eidetik
266
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 44–48.
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ruht, die aber vollkommen den eidetisch-noetischen Inhalt der biblischen Geschichte ignorieren.«267 Statt nun also der historisch-kritischen Bibelwissenschaft zu folgen, sieht Soloveitchik in den beiden Schöpfungserzählungen zwei unterschiedliche MenschenTypen repräsentiert, die das Wesen des Menschen schlechthin ausmachen. Dazu muss jedoch sogleich hinzugefügt werden, dass er diese beiden unterschiedlichen Menschen-Typen268 stets in je ein und demselben Menschen vereint sieht,269 obwohl er sie in der Darstellung zunächst getrennt behandelt. Das heißt, jeder Mensch trägt beide unterschiedliche Menschtypen in sich, was nicht zuletzt ein Teil und die Ursache des zu beschreibenden menschlichen Dilemmas ist.
6.2.1 Adam I und Adam II – zwei gegensätzliche Typen Soloveitchik nennt die beiden Menschtypen Adam I und Adam II. Der erste Adam ist der in Gottes Ebenbild270 erschaffene, es ist der, welcher nach Gen 1, 26–28 die Erde erobern, sie mit Nachkommen füllen und sie beherrschen soll. Demgegenüber ist der zweite Adam der nach Gen 2, 7–8.15 aus dem Staub der Erde gebildete Lehmklumpen, dem aber Gott den Lebensodem einhauchte, und dessen von Gott bestimmte Aufgabe es ist, den Garten zu bewahren. Es sind diese textlichen Vorgaben, welche das Bild der beiden Adam-Typen für ihn bestimmen. Die Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Menschen-Typen, nimmt in variierter Form all jene Dualismen auf, die sich durch sein gesamtes Werk ziehen. Dieser anthropologische Dualismus ist in den früheren Schriften im Wesentlichen als epistemischer Dualismus beschrieben, also in der Weise wie die beiden unterschiedlichen Menschentypen Erkenntnis im Allgemeinen und Gotteserkenntnis im besonderen sehen. Hier die naturwissenschaftlich quantitative Abstraktion der Welterkenntnis des Wissenschaftlers und dort die phänomenologische, qualitative, erlebnishafte, gefühlte Weltwahrnehmung im konkreten Erleben der Vielfalt.271 In der Neuaufnahme dieses Dualismus, der nunmehr auch die konkrete Weltbewältigung einbezieht, gibt es natürlich neue Verortungen und Bewertungen, etwa was Rolle und Stellung des Glaubens ausmacht und in der Beurteilung des homo religiosus, wie im Folgenden noch deutlich werden soll. 267
The Lonely Man, S. 9.
268
The Lonely Man, S. 10.
269
The Lonely Man, S. 80.
270
Zu den Vorstellungen zum Menschen als imago dei siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 129–
271
Vgl. oben Teil III, Kap. I, Nr. 3.1; 3.2.1; 3.2.2.
139 u. Register s. v. imago dei; sowie Bd. 2 u. 3 jeweils im Register s.v. imago (dei).
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366 6.2.1.1 Adam I
Der Menschentyp Adam I ist als Ebenbild Gottes ein kreativer Mensch, seine von Gott gegebene Intelligenz ist vor allem auf das Praktische ausgerichtet, was ihm die Kontrolle über die Natur verschafft. Sein Erkenntnisinteresse ist an der Frage nach dem »Wie?« ausgerichtet, also wie die Dinge dieser Welt funktionieren – mit dem Ziel, sie zu beherrschen; seine Welterkenntnis ist die schon mehrfach beschriebene quantifiziert-mathematische, und sie ist utilitaristisch.272 Das individuelle Ziel dieses Adam ist die Erlangung von Ehre, die sich in Herrschaft über die Schöpfung ausdrückt, er ist der »majestätische Mensch«,273 der sich selbst helfen kann, auch Verantwortung für die Schöpfung trägt: »Also der erste Adam ist aggressiv, kühn, und siegesorientiert. Sein Motto ist der Erfolg, Sieg über die kosmischen Kräfte. Er befasst sich mit kreativem Tun, und versucht seinen Schöpfer nachzuahmen (imitatio dei). Der charakteristischste Vertreter des ersten Adam ist der mathematische Naturwissenschaftler, der uns von den sensiblen Dingen wie Farbe und Klang, Hitze, Fühlen, Riechen, den einzigen für unsere Sinne wahrnehmbaren Phänomenen abzubringen sucht, hin zu einer relational-formalen Welt der Gedanken und Konstrukte […]«274 Zur kreativen Befähigung dieses ersten Adam gehört auch die Ästhetik und die von den Menschen erdachte und gestaltete Rechtsnorm, kurz alle Felder der menschlichen Kultur. 6.2.1.2 Adam II Der zweite Adam ist hingegen einer, der nicht an der Weltbeherrschung interessiert ist, wiewohl auch er das Ziel der Welterkenntnis verfolgt. Allerdings hat er andere Leitfragen als der erste Adam, nämlich die Frage nach dem »Warum?« der Welt, nach dem »Was?« und schließlich nach dem »Wer ist es«, der den Menschen antreibt, ihn zu suchen. Gerade zur Erläuterung dieser letzteren Frage greift Soloveitchik nochmals auf die Religionsphänomenologie von Rudolf Otto zurück, wenn er diesen mysteriösen Antreiber der menschlichen Suche beschreibt:
272
The Lonely Man, S. 12–14.
273
The Lonely Man, S. 15. 33.
274
The Lonely Man, S. 17.
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»Wer ist es, der den Menschen unwiderstehlich fasziniert und zugleich unwiderruflich zurückstößt. Wer ist es, den der Adam zugleich als mysterium tremendum und als die elementarste, offensichtlichste und verstehbare Wahrheit erfährt (experiences)? Wer ist es, der zur selben Zeit deus revelatus und deus abscondidus ist. Wer ist derjenige, dessen lebensspendenden und lebenserwärmenden Atem Adam stets fühlt und der doch zugleich so ferne von allem bleibt?«275 Dieser Adam, will die Welt nicht durch eigene Konstrukte in den Griff bekommen, stattdessen will er die »gegebene« Welt, in die er »geworfen« ist, verstehen – nicht zufällig verwendet Soloveitchik hier Heideggersche Begriffe.276 Der Adam II ist fasziniert von der konkreten Welt, von jedem »Lichtstrahl, jeder Knospe und Blüte«, von der »sensiblen« Welt.277 Beide Adam-Typen sind durch dasselbe Mysterium des Seins herausgefordert, aber sie verwenden unterschiedliche Methoden es zu erkennen, unterschiedliche Zugänge zu seiner Deutung. Das bedeutet, sie haben unvergleichbare Zugänge und Perspektiven zur und von der Welt.278 Der wesentliche sachliche Unterschied zwischen den beiden Hinwendungen zur Welt ist indessen der, dass der erste Adam sein Ich in der Ehre der Weltherrschaft, in seiner Majestät sucht, während der zweite Adam seine Erlösung sucht, eine erlöste Existenz. Diese Differenz zwischen den beiden zeigt sich vor allem im unterschiedlichen Verhältnis der beiden Typen zur menschlichen Gesellschaft. Adam I sucht die Gesellschaft als utilitaristische Arbeitsgesellschaft, in der sich seine Herrschaftswürde darstellen lässt. Soloveitchik nennt sie die »natürliche Gesellschaft«. Demgegenüber erfährt Adam II seine Erfüllung in der »Gemeinschaft des Glaubens« oder der »Bundesgemeinschaft«, deren Bedeutung allerdings erst deutlich wird, wenn zuvor die Natur der »Einsamkeit« und des »Glaubens« deutlich ist, weshalb darauf später nochmals zurückzukommen sein wird.
275
The Lonely Man, S. 21.
276
Schwartz, Haguto, Bd. 2, S. 328 sagt dazu: »Heidegger vertrat die Auffassung, dass das Subjekt wider Willen in die Welt der Objekte geworfen ist, in der es sich selbst verwirklichen muss, darum ist es einsam, Heidegger, Being and Time, transl. By Macquarrin u. E. Robinson, NY 1962, S. 236–237; das ist in der deutschen Ausgabe der § 41, S. 191–200; u. vgl. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979 (15. Aufl.), § 68b, S. 342: »Wie verhält sich zur Zeitlichkeit der Furcht die Angst? Wir nannten dieses Phänomen eine Grundbegrifflichkeit. [vgl § 40, S. 184ff]. Sie bringt das Dasein vor sein eigenstes Geworfensein und enthüllt die Unheimlichkeit des alltäglich vertrauten In-der Welt-seins.«
277
The Lonely Man, S. 22.
278
The Lonely Man, S. 23.
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6.3
Der Glaube
Es ist erstaunlich zu sehen, dass eine Schrift, welche die Situation des »Glaubens-Menschen« schildern will, nicht mit einer klaren Definition dessen beginnt, was denn dieser Glaube sei, sondern den Begriff einfach gebraucht. Erst nach und nach ergeben sich einige Züge, die das Wesen dessen, was Soloveitchik hier unter »Glaube« versteht, erkennen lassen. Das erste ist, dass er durchgehend den Begriff »faith« verwendet und nicht die Alternative »belief«. Während letzterer Begriff eher das bezeichnet, was ein Mensch glaubt, also einen Inhalt, einen Glaubenssatz oder ein Dogma, meint der erstere, »faith« den Glauben mit dem man glaubt, also den Gestus des Vertrauens. Aber auch dazu gäbe es natürlich Erklärungsbedarf, dem er immer eher beiläufig nachkommt. Aus der ganzen Schrift ergibt sich der Eindruck, dass mit »Glaube« zunächst einfach die Lebensform oder Lebenseinstellung des Adam II gemeint ist, also die Offenheit für das Detail dieser Welt und seiner Wunder, das Staunen, der nicht-utilitaristische Zugang zu den Gegenständen und Personen dieser Welt. Dieses umfassende Verständnis des Glaubens als höchst individuellem Lebensvollzug bestätigt Soloveitchik, wenn er sagt: »Der Akt des Glaubens ist urtümlich (aboriginal), der mit elementarer Macht als eine alles verschlingende und durchdringende, als beseligende und leidenschaftliche Erfahrung ausbricht, in der sich unsere allergeheimsten Triebe, Bestrebungen, Ängste und Leidenschaften, zuweilen sogar unerwartet, manifestieren. Die Hingabe des Glaubens-Menschen ist in den Charakter seines Persönlichkeits-Grundes (in-depth personality) gegossen und wird unmittelbar angenommen, bevor der Verstand die Chance hat, die Vernünftigkeit dieser unbestimmten Hingabe zu untersuchen.«279 Diese unmittelbare Erfahrung, die ganz individuell erlebt wird, kann wegen dieser je einmaligen Wahrnehmungsweise durch den ja stets verallgemeinernden Intellekt nie ganz erklärt werden, worin allerdings keine Schwäche, sondern im Gegenteil ihre Stärke beruht: »Die Unübersetzbarkeit der ganzen Glaubenserfahrung ist nicht ihrer Schwäche, sondern geradezu ihrer Stärke zu verdanken.«280 Eine solche Glaubenserfahrung hat nichts mit organisierter und öffentlicher Religion zu tun, die eher eine Sache des Adam I ist, der ein ästhetisches Erlebnis sucht. Demgegenüber erfordert ein »echtes Glaubenserlebnis«, dass man sein
279
The Lonely Man, S. 94.
280
The Lonely Man, S. 95.
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»Selbst vorbehaltlos Gott übergibt, der unbedingte Hingabe fordert, Opfer und Rückzug.«281 Und weiter: »Der Akt des Glaubens ist unveränderlich, denn er transzendiert die Grenzen von Zeit und Raum. Der Glaube wird aus dem Eindringen der Ewigkeit in die Zeit geboren. Sein Wesen ist Unveränderlichkeit und anhaltende Gleichheit. Der Glaube wird nicht als das Produkt eines evolutionären Prozesses erlebt, nicht als etwas, das durch des Menschen kulturelle Leistung erzeugt wird, sondern ist etwas, das ihm geschenkt wird, wenn er von Gott überwältigt wird. Sein vorrangiges Ziel ist die Erlösung aus den Unzulänglichkeiten der Endlichkeit, hauptsächlich aus dem Fluss der Zeitlichkeit.«282 Nachdem dieser Glaube zunächst auf der rein anthropologischen Ebene als höchst individuelles »Erleben« des Menschen geschildert worden war, fügt Soloveitchik in den soeben zitierten Worten einen weiteren Grundgedanken der Religionsphänomenologen hinzu, nämlich dass der menschliche Glaube eine Reaktion auf das mysterium tremendum sei, das ihm begegnet oder ihn überfällt – ein mysterium das Soloveitchik allerdings nicht zögert, mit dem traditionellen theistischen Begriff »Gott« zu benennen. Der Glaube ist, wie er an anderer Stelle sagt, ein »Transzendenzbewusstsein« des Menschen.283 Dieses menschliche Erleben, der Glaube, hat demnach, gemäß den Auffassungen der Religionsphänomenologen, ein dem Menschen nicht verfügbares von außen auf ihn einströmendes Pendant, ein Mysterium, auf welches der Mensch mit seinem Glaubenserlebnis reagiert. Diese Grundstruktur des Glaubens als menschlichem Erleben gilt Soloveitchik als unveränderlich, unabhängig von dessen kulturellen Übersetzungen und Darstellungen in der explikativen Sprache. Außer diesen Beschreibungen des Glaubens als ein nicht in Lehrsätzen ausdrückbares Glaubenserlebnis gibt er Hinweise auf die von ihm gesehenen Wirkungen des Glaubenserlebens auf den Menschen. Eine dieser Wirkungen besteht in der Macht des Glaubens, den Menschen von »Angst und neurotischen Komplexen« zu befreien. Der Glaube hat demnach eine therapeutische und den Menschen »erlösende Kraft«.284 Was diese Aussage von der Erlösungs-Kraft des Glaubens für das Verständnis von »Erlösung« bedeutet soll noch gesondert betrachtet werden.
281
The Lonely Man, S. 98.
282
The Lonely Man, S. 99.
283
The Lonely Man, S. 99; man vergleiche dazu die Auffassungen von A. J. Heschel in diesem
284
The Lonely Man, S. 100.
Band, Teil III, Kap. II.
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370
Andrerseits – und dies erscheint zunächst widersprüchlich –, steht im Zentrum der Beschreibung des Glaubens durch Soloveitchik, die Feststellung, dass der Glaube den Menschen nicht vom Gefühl der Einsamkeit befreit, sondern es im Gegenteil gerade der Glaube ist, der ihm diese Einsamkeit, die noch zu beschreiben ist, beschert. Die genannte Widersprüchlichkeit von therapeutischer Wirkung und Ursache der Einsamkeit des Menschen durch den Glauben zeigt, dass der Glaube, von dem hier die Rede ist, eine gänzlich anthropologische Kategorie ist, mit all den daraus folgenden Eigentümlichkeiten, nicht ein unverbrüchliches Himmelsgeschenk. Das Erlebnis des Glaubens ist, wie oben schon angeführt, »mit inneren Konflikten befrachtet, er schwankt zwischen der Ekstase in Gottes Gemeinschaft und Verzweiflung, wenn er sich von Gott verlassen fühlt, er ist zerrissen«285 Auf die rhetorische Frage, woher er selbst das Gefühl der Einsamkeit hat, gibt Soloveitchik darum die unmissverständliche Antwort: »Ich glaube, dass […] der wirkliche und zentrale Grund des Gefühls der Einsamkeit, von dem ich mich nicht befreien kann, eben […] in der Erfahrung des Glaubens selbst begründet ist. Ich bin einsam, weil ich in meiner bescheidenen und unzureichenden Weise ein Mann des Glaubens bin, für den das Existieren dasselbe wie Glauben bedeutet […].«286
6.4
Die Einsamkeit des Glaubens-Menschen
Das Gefühl der Einsamkeit des glaubenden Menschen, darf nicht mit dem »alleine sein« verwechselt werden, denn man kann inmitten von Menschen und Freunden einsam sein und doch nicht alleine.287 Das Bewusstsein der Einsamkeit hat mit dem Bewusstsein des Andersseins zu tun, dem Bewusstsein, dass alle anderen Menschen verschieden sind und das Ich in seinem So-Sein ein Solitär ist.288 Es ist das Dilemma, dass der Mensch gerade dann, wenn er sein eigenes 285
The Lonely Man, S. 2; es ist wert hier auf ganz ähnliche Aussagen von Søren Kierkegaard zu verweisen, wie sie A. Sagi in seinem Buch Kierkegaard, Religion and Existence. The Voyage of the Self, Amsterdam-Atlanta 2000, wiederholt darstellt, z. B. »The believer is a ›solitary person in fear and trembling and much spiritual trial‹«, Sagi, aaO., S. 160, nach Kierkegaard, For Self-Examination: Judge Yourself!, Eds. and trsl. H.V., Hong and E. Hong, Princeton 1990, S. 19.
286
The Lonely Man, S. 4.
287
The Lonely Man, S. 3; Siehe A. Sagi, Bediduto schel ʼIsch ha-ʼEmuna be-Mischnato schel J.
288
The Lonely Man, S. 75; vgl. ebenda, S. 29. 39–40.
D. Soloveitchik. Ha-Dialektika schel Goral we-Jiʽud, in: Daʽat 2–3 (1978–79), S. 247–257.
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Ich entdeckt, in die Antithese verfällt, in »das Bewusstsein seiner Einzigkeit und ontologischen Inkompatibilität mit jeglichem anderen Wesen. Der zweite Adam entdeckt plötzlich, dass er alleine ist, dass er sich der animalischen und mechanisch den Instinkten folgenden Welt entfremdet hat […].«289 Soloveitchik stellt die rhetorische Frage, ob dieses Einsamkeitsgefühl die von Kierkegaard beschriebene Angst sei, das heißt eine ontologische Furcht angesichts des künftigen und ehemaligen Nichtseins dieses Menschen.290 Teilweise bejaht er diese Frage, wenn er die Situation des allgemeinen Menschen und speziell des Glaubensmenschen einmal so beschreibt: »Tatsächlich, der ganze zufällige Charakter seines [des Menschen] Seins ist mit diesem furchterregenden Zeitbewusstsein verbunden. Er trat in die Existenz zu einem gewissen Zeitpunkt, dessen Bedeutung er nicht zu begreifen vermag, und er wird dieses Dasein zu einem gleichermaßen willkürlichen Zeitpunkt verlassen. Der zweite Adam erfährt das Vergehen und die Vergänglichkeit einer nur Gegenwarts-Existenz, die nicht durch ein ›davor‹ oder ›danach‹ abgesichert ist.«291 Eine andere Möglichkeit für das Entstehen des Einsamkeits-Bewusstseins könnten, so Soloveitchik, die persönlichen Stress-Erfahrungen sein, oder aber die Selbstentfremdung des modernen westlichen Menschen. All dies sind mögliche Elemente und Ursachen dieses Einsamkeitsbewusstseins, aber doch nicht dessen Zentrum, das im Glaubenserlebnis selbst liegt. Welche Art Einsamkeit ist es, die den Gläubigen umgibt? Die Geschichte hat gezeigt – und hier stehen Soloveitchik gewiss die biblischen Propheten vor Augen – dass die Männer des Glaubens objektiv immer alleine dastanden,292 dies ist Teil der Ontologie des Glaubens. Darüber hinaus lassen sich jedoch auch geschichtlich bedingte Einsamkeitsfaktoren aufzeigen. Und der wesentliche Faktor in der Gegenwart der Moderne ist der, dass »Der Glaubende sich als einen Fremdling in der modernen Gesellschaft sieht«, eine Gesellschaft die narzistisch, ehrsüchtig, diesseitsorientiert ist, während der Mann des Glaubens »nach einer Lehre lebt, die keine technische Potenz besitzt, und durch ein Gesetz, das nicht im Labor getestet werden kann, der an einer eschatologischen Vision festhält, deren Erfüllung nicht mit einer gewissen
289
The Lonely Man, S. 36.
290
The Lonely Man, S. 4; s. S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, in: S. Kierkegaard, Die Werke, Erster Teil übs. H. Ulrich, Berlin 1925, S. 52–57; S. Kierkegaard, Der Begriff Angst übs. L. Richter, Reinbek 1964.
291
The Lonely Man, S. 67.
292
The Lonely Man, S. 5.
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Wahrscheinlichkeit oder gar Sicherheit vorausgesagt werden kann.«293 Man erliege an dieser Stelle jedoch nicht der Fehldeutung, als sei nun doch ein definierter Glaubensinhalt oder ein fest formuliertes Gesetz der Anlass des Dilemmas. Das Dilemma rührt aus dem unbegründbaren Festhalten des Glaubensmenschen an diesen Dingen her, es ist der Gestus des Glaubens, der die Einsamkeit bewirkt, nicht irgendwelche Inhalte. Im Glauben steht die Frage des Selbstbewusstseins des Individuums auf dem Spiel und die Tatsache, dass diese Frage nicht endgültig und mit nur immer neuen Rückschlägen beantwortet werden kann, dies ist es, was diese Einsamkeit verursacht. »Die Einsamkeit ist nichts anderes als die Infragestellung der eigenen ontologischen Legitimität, des eigenen Wertes und der eigenen Angemessenheit.«294 Und diese Einsamkeit, so meint Soloveitchik ist angesichts eines Mitmenschen, dem man in die Augen blickt noch viel größer als angesichts des stummen kosmischen Dramas.295 Es ist der Mangel an der Möglichkeit einer wirklichen Kommunikation, welche die eigene Existenz unsicher erscheinen lässt,296 ihn in eine »existentielle Unsicherheit« wirft.297 Dieser Mangel wird auch nie beseitigt werden, da das Glaubensmysterium niemals vollkommen expliziert, niemals in kulturelle Kategorien übersetzt werden kann. Es wird da immer ein Rest des nicht Mitteilbaren bleiben und somit der Rest der »psychologische[n] Einsamkeit und Angst, die aus der Begegnung mit dem Menschen der Kultur resultieren«.298 Das heißt, die unvermeidbare Begegnung von Adam I und Adam II mit ihren nicht übereinstimmenden Weltwahrnehmungs- und Deutungsweisen, die letztlich in jedem einzelnen Menschen stattfindet, ist schließlich der anthropologisch unausweichliche Grund dieser Einsamkeit und Angst – eine Situation, die gottgewollt ist, weil er den Menschen in dieser Dualität erschaffen hat.299
6.5
Die Erlösung
Der bisherige Gang der Erörterungen lässt es schon erwarten, dass die Vorstellung von Erlösung, die Soloveitchik in diesem Kontext von Einsamkeit und Selbstzweifeln vortragen wird, nicht die traditionellen Vorstellungen der kollektiven Erlösung Israels durch den Messias,300 noch auch die individuelle Erlö293
The Lonely Man, S. 6.
294
The Lonely Man, S. 30.
295
The Lonely Man, S. 37.
296
The Lonely Man, S. 37.
297
The Lonely Man, S. 66.
298
The Lonely Man, S. 93.
299
The Lonely Man, S. 86.
300
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 288–298. 479–480, und ebenda das Register s. v. Messias.
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sung der Seele im Garten Eden oder gar hernach in der Auferstehung der kommenden Welt sein wird.301 Erlösung kann hier nur bedeuten, die Erlösung des Menschen aus der beschriebenen existentiellen Notsituation und das hinüberschreiten in eine neue existentiell diesseitige Lebensform des Individuums. Die Erlösung des Individuums in dieser diesseitigen Existenz kann demnach nur eine entsprechende Lebensform sein, ein Prozess, der den Menschen dem Ziel der persönlichen Erlösung näherbringt – das er aber nie vollkommen wird erreichen können. Diese anzustrebende »redemptive«, also erlösungschaffende, Lebensform ist natürlich die des zweiten Adam, der nicht nach persönlicher Ehre und Beherrschung der Welt strebt, sondern den »Modus der Existenz [wählt], durch den der Mensch sein eigenes Ich finden kann, nämlich das erlösungsschaffende Selbst.«302 Nur dieser Lebensmodus kann ihn zum »Erlebnis einer erlösten Existenz« führen.303 Das Thema der Erlösung ist nun für ihn so wichtig, dass er dafür immerhin eine eigene Definition bietet: »Erlöstsein ist, anders als der Zustand, Ehre zu besitzen, ein ontologisches Bewusstsein. Es ist nicht nur ein äußerliches, zufälliges Attribut unter anderen Attributen des Daseins, sondern eine endgültige Form, des wirklichen Seins. Eine erlöste Existenz ist wesenhaft von einer unerlösten verschieden. Das Erlöstsein muss nicht vor der Außenwelt dargestellt werden. Sogar ein Einsiedler, der keine Gelegenheit hat, seine Ehre vorzuführen, kann ein erlöstes Leben führen. Die läuternde Weise des Erlösungsvorgangs spürt man im Stillen, im Grund der eigenen Persönlichkeit und sie geht tiefer als die IchDu-Beziehung (um einen existentialistischen Begriff zu verwenden)304 und reicht in die verborgensten Schichten des für sich ganz alleine stehenden Ich, das sich als einzigartiges Wesen kennt. Will man es in persönlichen und emotionalen Kategorien ausdrücken, dann drückt sich die läuternde ErlösungsLebensweise (cathartic redemptiveness) im Gefühl der Wertesicherheit (axiological security) aus. Das Individuum empfindet seine eigene Existenz als wertvoll, legitim (angenommen) und angemessen, die in etwas Festem Unveränderlichem ruht.«305
301
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 129–138. 159. 198–202. 206–208. 263–273. 291 etc.
302
The Lonely Man, S. 24; vgl. auch J. Soloveitchik, Redemption, Prayer, Talmud Torah, in:
303
The Lonely Man, S. 24.
304
So vor allem Martin Buber, Ich und Du, Heidelberg 1974; siehe oben Jüdisches Denken Bd. 5,
305
The Lonely Man, S. 33–34.
Tradition 17, 2 (1978), S. 55–72.
Teil I, Kap. II.
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Dieses Ziel oder diese Form der Lebensweise erreicht man nicht durch die Kontrolle über seine Umwelt und die anderen Menschen, sondern durch »Selbstkontrolle. Ein erlöstes Leben ist ipso facto ein diszipliniertes Leben.«306 Die Erlösung erlangt man durch Bescheidenheit und Rückzug, und die Bereitschaft von »einem höheren und wahrhafteren Wesen (being) überwältigt zu werden.« Oder theistisch formuliert: »Der Mensch findet die Erlösung, wenn immer er vom Schöpfer der Natur überwältigt ist.«307 Kurz gesagt. Die Erlösung ist ein Vorgang, der sich mitten in diesem Leben abspielt, am menschlichen Individuum selbst, an seinem Selbstverständnis, an seinem zu sich selbst kommen, das zunächst in seiner ganz intimen Sphäre geschehen kann und muss, aber auch draußen geschehen kann – dies allerdings nicht in der natürlichen Gesellschaft der Menschen vom Adam Typus I sondern in der besonderen »faith-community« die eine Bundes-Gemeinschaft ist, was sogleich noch zu besprechen ist.308
6.6
Die »Glaubens-Gemeinschaft« als »Bundes-Gemeinschaft«
Ein wesentlicher Faktor für die Einsamkeit des Glaubensmenschen war die Unmöglichkeit, mit den anderen zu kommunizieren, das heißt ein Verstehen zu erreichen, das bis in die Tiefen des isolierten Selbst des Menschen reicht. Denn »Für Adam II [sind] die Kommunikation und das Kommunizieren erlösungsschaffende Opfergesten«,309 welche allerdings in der normalen Gesellschaft des »majestic man«, also des weltbeherrschenden Adam I, in dessen »natürlicher Gesellschaft« nicht zu haben sind. Angesichts dessen ist dem Glaubensmenschen die »Saat eingepflanzt« eine andere, dafür geeignete Gemeinschaft zu bilden, die nicht von der Eroberung und Beherrschung lebt, sondern von deren Gegenteil, der Opferbereitschaft und des Rückzugs. Typologisch findet dies Soloveitchik wiederum in der zweiten Schöpfungsgeschichte, nach welcher der Adam II eine ihm gemäße Partnerin erst erhält, nachdem er ein Stück von sich selbst opferte – die berühmte Rippe.310 Die göttliche Einsicht des zweiten Schöpfungsberichtes »dass es für den Menschen nicht gut sei alleine« zu sein (Gen 2, 18) wird vom Glaubensmenschen als existentiell-ontologisch verstanden – ein »Dasein« in Einsamkeit ist nicht gut. Der Mensch braucht einen Dialogpartner, mit dem zu306
The Lonely Man, S. 34.
307
The Lonely Man, S. 35.
308
Die Abhängigkeit dieser Erlösungsvorstellungen von Kierkegaard ist offensichtlich, man vergleiche dazu Avi Sagi, Kierkegaard, Religion and Existence. The Voyage of the Self, Amsterdam-Atlanta 2000, S. 90–91.
309
The Lonely Man, S. 38.
310
The Lonely Man, S. 38.
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sammen er die »Einsamkeit« in Grenzen halten kann. Er braucht eine »existentielle Gemeinschaft« in welcher »eine einsame Seele eine andere findet, die von Einsamkeit und Alleinsein geplagt und die zugleich unbedingt hingebungsvoll ist.«311 Die Gestaltung dieser existentiellen Bundes- und Glaubensgemeinschaft besteht nun aber überraschenderweise nicht – im Minimalfall – aus zwei Menschen, einem Ich und einem Du, sondern aus einem Ich, einem Du und einem Er, wobei der dritte im Bunde Gott ist: »Diese ist […] eine Gemeinschaft der gegenseitigen Verpflichtung, geboren aus dem Leid und der Niederlage und umfasst drei Mitglieder: ›Ich, Du und Er‹, den Er, in dem alles Sein verwurzelt ist und in dem alles seine Wiederherstellung und damit Erlösung findet. Der erste Adam traf die Frau ganz von selbst, während der zweite Adam von Gott bei Eva eingeführt wurde, der Adam aufrief, Eva in eine existentielle Gemeinschaft aufzunehmen, die durch eine Opfertat und Leiden gestaltet worden war und bei der Er selbst ein Partner wurde. Gott ist niemals außerhalb der Bundesgemeinschaft. Er kommt zum Menschen und teilt mit ihm seine Bundes-Existenz. Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Geschöpf und Schöpfer werden Teil derselben Gemeinschaft. Sie verbinden sich und haben Teil an einer einzigen vereinenden Existenz.«312 Diese zunächst überraschende – natürlich an Buber erinnernde – Beschreibung der den Menschen erlösenden Kommunikations-Gemeinschaft kann sich auf einen alten rabbinischen Midrasch berufen, nach welchem die Erzmutter Saraj und der Erzvater Abram erst zu einer Lebensgemeinschaft wurden, nachdem Gott dieser Gemeinschaft beitrat – erkennbar an der Hinzufügung des »H« aus dem Gottesnamen, wodurch sie nun Sarah und Abraham hießen.313 Dov Schwartz verweist in diesem Zusammenhang auf eine Nähe zur Kirchlichen Dogmatik des protestantischen Theologen Karl Barth,314 in dem die Möglichkeit wahrer Menschengemeinschaft ebenfalls anhand der Erschaffung der Frau aus dem Mann und die göttliche »Zuführung« zu ihm gedeutet wird. Der zentrale Satz lautet bei
311
The Lonely Man, S. 40.
312
The Lonely Man, S. 42.
313
Mekhilta Jishmael, Jitro Par 1 Ausgabe H. S. Horowitz, Jerusalem 1970, S. 189; Jalkut Schimʽoni, Schemot 2 § 169; ähnlich Bereschit Rabba 44,10; Pesikta Rabbati 43; Aggadat Bereschit 43.
314
Vgl. auch A. Brill, Elements of Dialectic Theology in Rabbi Soloveitchikʼs View of Torah Study, in: H. Kreisel (Hg.), Study and Knowledge in Jewish Thought, Beer Sheva 2006, S. 265–296.
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Barth: »Er schafft nicht nur Ich und Du, Mann und Frau, sondern auch ihr Verhältnis zueinander als solches.«315 Es ist nun gerade diese Beteiligung Gottes an der existentiellen Bundesgemeinschaft, die es Soloveitchik ermöglicht, auch in diesem existentialistischen Kontext die Bedeutung der Halacha für das Glaubenslebens einzuführen. Sie nämlich ist das wirkliche Fundament des Bundes und zwar dank ihres »juristisch-halachischen Prinzips der freien Aushandlung, gegenseitigen Übernahme von Verpflichtungen und vollkommener Anerkennung der gleichen Rechte beider Seiten des Bundesverhältnisses.«316 Dazu muss im nächsten Kapitel sogleich noch weiteres gesagt werden. Die Beteiligung Gottes in dieser Bundesgemeinschaft bewirkt ein doppeltes, nämlich zum einen die Offenbarung Gottes, des deus abscondidus, und zugleich die Offenbarung des Menschen aus seiner eigenen Verborgenheit.317 Der Trialog 315
Dov Schwartz, Haguto, Bd. 2, S. 333 u. vgl. S. 345–353. Die gesamte Sagen-Deutung Barths zur Stelle lautet: »Als dieses Wunderwerk stand es eben da vor dem Menschen, als nun das geschah, was die Sage mit den Worten beschreibt, daß Gott ›sie dem Menschen zuführte‹. Hier offenbar wird nun – nachträglich, wie es sich gehört – doch auch so etwas wie der Erkenntnisgrund der ganzen Sache sichtbar gemacht: von der ihm von Gott Zugeführten weiß der Mensch so merkwürdig genau, wie sie während seines Tiefschlafs und also ohne sein Wissen geworden ist. Ihr, dieser dem Menschen von Gott Zugeführten Geheimnis hat die Sage als solches so konkret zu beschreiben gewagt, so konkret beschreiben müssen, weil es eben in dieser konkreten Gestalt nun einmal Wirklichkeit ist. Man bemerke, daß diese Wirklichkeit mit ihrem so konkreten Zeugnis von ihrem Werden sich nicht erschöpft im bloßen Dasein der Frau. Das göttliche Zuführen gehört mit zu dieser Wirklichkeit. Der Bericht läßt die Frau gerade nicht nur da sein, um dann vom Menschen, nachdem er zufällig erwacht war, zufällig entdeckt und nach eigenem Gutdünken erkannt, begrüßt und aufgenommen zu werden. Gott bringt sie ihm, Gott zeigt und Gott schenkt sie ihm. Ohne dieses Mittelglied ist sowohl das vorher wie das nachher Berichtete undenkbar: es ist Gottes Beziehung zum Menschen, seine Zuwendung zu ihm, die diese Vollendung seiner Erschaffung, die die Existenz der Frau an seiner Seite sinnvoll und die ihm deren Geheimnis offenbar macht. Die Vollendung der Erschaffung des Menschen in der Beziehung von Ich und Du, von Mann und Frau, in der wechselseitigen Begegnung, in der Zweisamkeit beider ist ja Gottes Werk. In seinem Willen und Plan hat ja das Alles seinen ursprünglichen Grund. Damit der Mensch das Alles realisiere, damit es auch für ihn begründet und damit lebbar sei, muß wieder Gott ins Mittel treten. Er schafft nicht nur Ich und Du, Mann und Frau, sondern auch ihr Verhältnis zueinander als solches. Es ist gerade dieses kein Zufall und nicht des Menschen Willkür. Als Sache des Zufalls und der Willkür könnte es nicht der Gegenstand der Freude und nicht der Gegenstand der Offenbarung und der Erkenntnis sein, als der es im Folgenden geschildert wird. Es wäre dann lauter stumpfe, verschlossene, blinde Tatsächlichkeit. Auch dieses Zuführen ist also ein integrierendes Moment des ganzen hier beschriebenen Schöpfungsaktes.« Zit. nach The Digital Karl Barth Library: File///C:/Users/User/Documents/Barth K. KD III/Karl Barth KD III gesamt.htm
316
The Lonely Man, S. 42.
317
The Lonely Man, S. 51.
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von zwei Menschen und Gott findet seine Realisierung in der Betergemeinschaft, die letztlich eine Fortführung der Gemeinschaft von Gott und Prophet darstellt,318 weil in beiden ein Gespräch zwischen Mensch und Gott stattfindet.319 Aber auch für diese Beschreibung des Dialogs greift Soloveitchik nochmals zu der distanzierenden phänomenologischen Terminologie und spricht nicht von einer Offenbarung der Transzendenz in der Irdischkeit, sondern: »Das Gebet ist im Grunde das Bewusstsein des Menschen, sich in der Gegenwart Gottes zu finden und seinen Schöpfer anzusprechen. Das Gebet hat nur eine einzige Bedeutung: Vor Gott zu stehen.«320 Diese auf das persönliche Bewusstsein reduzierte Beschreibung der Gebetssituation findet nach Soloveitchik nun gerade in der objektivierenden Ausgestaltung dieser Gebetssituation in einer halachisch festgelegten synagogalen und häuslichen Liturgie statt. Er changiert hier zwischen phänomenologischer Bewusstseins-Beschreibung und objektivierend-metaphysischer Terminologie. So auch in seinem abschließenden Resümee zur Möglichkeit des Menschen, trotz seiner Einsamkeit in den erlösenden Dialog zu treten: »Wäre Gott nicht der Gemeinschaft von Adam und Eva beigetreten, wären sie niemals in der Lage gewesen und wären nie daran interessiert gewesen, den paradoxen Sprung über die Kluft, ja mehr den Abgrund zu tun, der zwei Individuen voneinander trennt, deren höchst persönliche ErfahrungsBotschaften in einem ganz eigenen Code verfasst sind, den niemand anderer entziffern kann. Ohne die Bundeserfahrung, des prophetischen Dialogs, hätte der Adam abscondidus in seiner Er-Rolle verharrt und Eva abscondida in ihrer Sie-Rolle, die dem je anderen unbekannt und ferne sind.«321 Es ist alleine der Offenbarung Gottes aus seiner transzendenten Er-Anonymität – hier verwendet Soloveitchik wieder die metaphysische Terminologie –, um den Menschen mit einer moralischen Mission zu betrauen, was die Selbstoffenbarung der beiden Menschen im Gebetsdialog ermöglichte. Und so »war das schließliche Ziel der menschlichen Suche nach Erlösung erreicht. Das Individuum fühlte sich von seiner Einsamkeit und Isolation befreit.«322 Gewiss kommt hier nochmals das eingangs schon erwähnte autobiographische existentielle Element zur Geltung – hat er doch diese Schrift seiner geliebten Gattin Tonya gewidmet »Ei-
318
The Lonely Man, S. 55.
319
The Lonely Man, S. 52–53.
320
The Lonely Man, S. 54.
321
The Lonely Man, S. 65.
322
The Lonely Man, S. 65–66.
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Josef D. Soloveitchik
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ner Frau von großem Mut, edler Würde, vollkommener Hingabe und bedingungsloser Treue.«323
6.7
Stellung und Rolle der Halacha
Abschließend muss die Frage gestellt werden, welche Rolle Soloveitchik im Rahmen dieses sehr individualistisch-existentialistischen Aufrisses der Halacha zuzuschreiben ist. Der erste Ansatzpunkt für eine Antwort auf diese Frage fand sich schon zu Ende des vorangehenden Abschnitts. Für die menschliche Glaubensgemeinschaft als wahrer Dialoggemeinschaft, die der natürlichen »Herrschaftsgesellschaft« gegenübersteht, ist die Mittlerrolle Gottes unabdingbar, denn ohne diese Vermittlung würden sich diese beiden fremd und unverständig gegenübertreten. Dies hatte er aus der ontologisch zu verstehenden typologischen Deutung von Genesis 2 abgeleitet. Die Grundlage dieses so entstandenen Dreierbündnisses ist, so betonte er, die gleichberechtigte Partnerschaft des freien Aushandelns, was ja das Prinzip der Halacha sei, die mithin ein konstitutiver Baustein dieser Glaubensgemeinschaft ist, die Soloveitchik nun auch HalachaGemeinschaft nennen kann.324 Die Halacha ist, so wird dieser Gedanke weitergeführt, das Wort des göttlichen Partners in dieser Trialog-gemeinschaft. Gott ist in der Halacha schon immer als Lehrer verstanden worden, dies ist sein bleibender Redebeitrag in diesem Dreieck des Gesprächs von zwei Menschen und Gott. »Gottes Wort ist ipso facto das Gesetz und die Norm.«325 Man mag nun die Frage stellen, warum eine Gemeinschaft, die auf dem unhinterfragbaren Individuum und seinem Glaubenserleben steht, das Wort des einen Partners dieser Gemeinschaft als Gesetz und Norm verstehen sollte. Zur Beantwortung dieser Frage greift er auf die schon früher aufgestellte Formel zurück, wonach jedes subjektive Erleben, jede subjektive Frömmigkeit, wenn sie nicht in diffuse Mystik abgleiten und untergehen will, ihr Erleben und Widerfahrenes objektivieren, »das innere Leben in äußerliche Fakten übersetzen« müsse,326 wie dies zuallernächst in der spontanen Gebetsrede geschah, die im Laufe der Zeit zu obligatorischen Gebetstexten halachisch verfestigt wurden. Dies ist auch der Grund dafür, weshalb das individuelle Gebet im halachischen Judentum keine so prominente Rolle wie in anderen Glaubensgemeinschaften einnimmt, denn das spontane Gebet ist hier nur ein Teil einer gesamten Struktur, niemals alleiniger Ausdruck der Frömmigkeit. »Das Gebet muss stets in ein Gebetsleben eingebunden sein, das der Realisierung des göttlichen Imperativs verpflichtet ist, 323
The Lonely Man, Widmungsseite.
324
The Lonely Man, S. 61.
325
The Lonely Man, S. 61.
326
The Lonely Man, S. 54. 59.
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es ist kein separates Element, sondern der zartfeine Prolog zur halachischen Tat.«327 Schließlich gilt es, eine letzte zentrale Funktion der Halacha zu bedenken. Da die Halacha, wie Soloveitchik schon nachdrücklich in ʼIsch ha-Halacha betonte, im Wesentlichen den Dingen dieser realen Welt zugewandt ist, stellt sie das unverzichtbare Band zwischen den beiden menschlichen Gemeinschaften, der natürlichen Gesellschaft und der Glaubensgemeinschaft dar. Und dies bedeutet nicht nur eine Versöhnung verschiedener Menschengruppen miteinander, sondern auch des Individuums mit sich selbst, denn jeder Mensch, daran sei erinnert, ist zugleich Adam I und Adam II: »Wenn der Mensch sich der Bundes-Gemeinschaft hingibt, erinnert ihn die Halacha, dass er auch in einer anderen Gemeinschaft erwünscht und gebraucht wird, der kosmisch-majestätischen [natürlichen] Gesellschaft. Und wenn es geschieht, dass der Mensch in den kreativen Unternehmungen der Herrschafts-Gesellschaft involviert ist, macht ihn die Halacha nicht vergessen, dass er zugleich ein Bundes-Wesen ist, das niemals außerhalb des Bundes Selbsterfüllung finden wird und dass Gott seine Rückkehr in die Bundesgemeinschaft erwartet.«328 Mit anderen Worten, die Halacha ist es, welche die beiden ontologischen Seiten des Menschen zusammenhält, sie alleine ist das Fundament die ein erfülltes menschliches Leben ermöglicht, das unentrinnbar auf den beiden Wesenszügen des Menschen beruht, die sich in den Typen von erstem und zweitem Adam darstellen ließen.
7.
Israel als Volk und Staat in gemeinsamem Leiden – der daraus folgende Auftrag und Verzicht auf Theodizee
7.1
Das Thema vom Leiden des Gerechten und dessen Bearbeitung durch Soloveitchik
Bevor Soloveitchik auf Israel als Volk und Staat und dessen Situation zu sprechen kommt, erörtert er zunächst generell die Frage des menschlichen Leidens und wie damit umzugehen ist. Erst hernach wendet er diese Einsicht auf das Kollektiv des ganzen Volkes Israel an. In seiner Behandlung des schmerzvollen Themas vom Leiden des Gerechten – in der Schrift Kol Dodi dofek, (»Die Stimme meines Geliebten pocht« – 327
The Lonely Man, S. 63.
328
The Lonely Man, S. 78–79.
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Cant 5, 2),329 das seit dem biblischen Hiob und den Psalmen die jüdische Literatur begleitete, bleibt er seinen strukturellen Denkmustern treu – dem der anthropologischen Dualität, der typologischen Schrift- und Geschichtsdeutung und dem Verzicht auf metaphysische Argumente. Die Typologie der Schriftdeutung gilt auch dieses Mal dem Hohenlied, das seit der rabbinischen Schriftauslegung als Allegorie der Beziehung Israels zu seinem Gott gelesen wurde, wie auch den biblischen Bundesschlüssen der Tora – dem Bundesschluss in Ägypten (»Und will euch als mein Volk annehmen und will euer Gott sein« (Ex 6, 7) und dem am Sinai (»Dann nahm er das Bundesbuch und las es dem Volke vor. Und sie sprachen: Alles, was der Herr geboten hat, wollen wir tun und darauf hören.« Ex 24, 7–8). Soloveitchik verfasste diesen Text unter dem Titel von Hohelied 5, 2 im Jahre 1956 als Rede zum israelischen Unabhängigkeitstag am 16. April dieses Jahres.330 In ihm reagierte er auf die Schoah und die israelische Staatsgründung wie auch auf das Verhalten weiter – vor allem orthodoxer – jüdischer Kreise auf diese Ereignisse. – Ich selbst (KEG) schrieb diese Darstellung der Predigt von Soloveitchik in den Tagen des erneuten »Gaza-Krieges« des Jahres 2014 und muss mit Schrecken die Weitsicht seiner Thesen wahrnehmen, die auf seiner meist als wissenschaftsfern erachteten typologischen Geschichtsdeutung basierten: Die Weiterexistenz und gar Verstärkung des Antisemitismus, insbesondere in Europa, und die bleibende Einsamkeit der Juden auch in dem verfassten Staat Israel, von dem man doch hoffte, dass er dieses Weltübel beenden und die jüdische Existenz normalisieren würde. – Soloveitchik formuliert in dieser Rede Gedanken, die für das Verhältnis von jüdischer Diaspora und Staat Israel konstitutiv sind und die darum für das Verständnis des gesamten Judentums auch im 21. Jahrhundert unverzichtbar erscheinen, auch wenn sie aus dem Mund eines orthodoxen Rabbiners und in orthodoxer Diktion einherkommen.
329
Hier zitiert nach der Ausgabe Jerusalem 1992 im zweiten Teil der Ausgabe der hebräischen Übersetzung von The Lonely Man of Faith – ʼIsch ha-ʼEmuna; der Text findet sich auch in der Sammlung von P. Ha-Kohen Peli, Be-Sod ha-Jachid we-ha-Jachad. S. 331–400; zum zionistischen Denken von Soloveitchik siehe W. S. Wurzburger, Ha-Jesodot ha-filosofijim beMischnato ha-zijonit-datit schel ha-Rav Soloveitchik, in: A. Sagi (Hg.), ʼEmuna bi-Semanim mischtanim, S. 111–122; D. Schwartz, Mischnato schel ha-Rav J. D. Soloveitchik ba-Reʼi heHagut ha-zijonit-datit: ha-Ḥillun we ha-Medina, in: Sagi, A. (Hg.), ʼEmuna bi-Semanim mischtanim, S. 123–145; J. Blidstein, ʽAm Jisraʼel be-Haguto schel ha-Rav Josef Dov Soloveitchik, in: Sagi, A. (Hg.), ʼEmuna bi-Semanim mischtanim, S. 149–174; zu Soloveitchiks teilweise schwankender Haltung zur Theodizee, seinem praktischen Existenzialismus neben seiner Hoffnung nach sinngebender Transzendenz, siehe A. Sagi, The Critique of Theodicy: From Metaphysics to Praxis, in, ders. Jewish Religion after Theology, Boston 2009, S. 141– 184.
330
Siehe D. Schwartz, Haguto, Bd. 2, S. 199.
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7.2
381
Die duale Verfasstheit des Menschen angesichts der Leiden
In der Behandlung der Frage der unerklärlichen Leiden in dieser Welt geht Soloveitchik einen völlig neuen Weg. Er nimmt gänzlich Abstand davon, nach irgendwelchen Rechtfertigungen für die Leiden zu suchen, weder solche, die im leidenden Menschen selbst liegen (ein verborgenes Unrecht), noch solche, die einem möglichen Erziehungsprogramm Gottes zuzurechnen wären (Züchtigungen der Liebe, Erwerb eines reichen Lohnes im Jenseits), oder stellvertretendes Leiden für die Sünden anderer,331 noch auch greift er zu metaphysischen Dualismen wie sie die Kabbalisten vortrugen,332 oder philosophischen Relativierungen,333 die etwa in der mangelnden Erkenntnis des Menschen lägen und von weitsichtigen Denkern erklärt werden könnten, oder gar das Böse als nicht wirklich existent erklären.334 Soloveitchik nimmt demgegenüber die Leiden mit vollem Bewusstsein als schicksalhaft gegeben hin, über die man nicht rätseln soll. Er nennt diese Leiden »schicksalhaftes Leiden« (gorali), weil sie vom Schicksal gegeben sind, ohne dass man darüber grübeln soll. Statt dieser abgelehnten Möglichkeit, nach Sinn und Ursache des Leidens zu suchen, sieht Soloveitchik noch eine andere Weise, mit den Leiden umzugehen. Er erkennt neben der Schicksalhaftigkeit des Leidens noch eine zweite Dimension, nämlich eine teleologische. Das heißt, man solle erkennen, dass das Leiden dem Menschen ein »Auftrag« eine »Berufung« (Jiʽud) auferlegt. »Das Judentum hat stets zwischen einer ›schicksalhaften‹ Existenz und einer ›Berufungs‹-Existenz unterschieden, zwischen dem ›Ich‹, das ein Kind des Schicksals ist und dem Ich, das einen Auftrag (Berufung) hat.«335
7.2.1 Die schicksalhafte und die Berufungs-Existenz Die schicksalhafte Existenz ist das Geworfensein des Menschen in seine unentrinnbare Lebenssituation, die er nicht wählen konnte; er ist hier einfach das in die Welt geworfene passive Objekt. Das Böse in der Welt trifft ihn und zerreißt ihn und verwirrt ihn, er leidet ohne zu fragen. Erst hernach stellt der Mensch die Frage nach dem »Warum?«, stellt intellektuelle Fragen, sucht nach Erklärungen,
331
So die älteren jüdischen Antworten, vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 199. 206. 242. 267. 372.
332
Dazu s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 134–138. 171–186. 236–242. 431–437. 570–578. 773–
333
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 206. Bd. 2, S. 135. 568.
778. 334
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 429.
335
Kol Dodi, S. 65; mit dieser Konzeption steht Soloveitchik den sogenannten HolocaustTheologen nahe. Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 41–50. 589–591. 576. 503–505. 513– 518. 595–600. 604. 609–613.
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die ihn beruhigen sollen, die es letztlich aber nicht vermögen, denn »Es gibt das Böse, das nicht gedeutet noch verstanden werden kann.«336 Schuld an dieser Unerreichbarkeit jeglicher sinnhaften Erklärung ist die Tatsache, dass der Mensch die Welt gleichsam stets nur von deren Rückseite sehen kann. »Das schicksalhafte ›Ich‹« stellt intellektuell-forschende und metaphysische Fragen zum Bösen, die niemals gelöst und beantwortet werden können.«337 Demgegenüber entwindet sich das »Berufungs-Ich« aus dieser passiven Zwangslage, um wieder Herr seiner selbst zu werden, dank seines eigenen Willens die Welt, in die er »geworfen« ist, wieder zu beherrschen. Es sagt sich: »Wider willen wurdest du geboren und wider Willen wirst du sterben aber durch deinen freien Willen wirst du leben.«338 Will sagen: »Der Mensch wird als Objekt geboren und stirbt als Objekt, aber er ist fähig als Subjekt zu leben, als kreativ Schaffender, der seinem Leben den eigenen individuellen Stempel aufprägt, der den Automatismus hinter sich lässt zugunsten einer kreativen Aktivität. Die Berufung des Menschen in der Welt ist, nach Auffassung des Judentums, das Schicksal in Berufung zu verkehren, die von außen bewirkte und beeinflusste Existenz in eine aktive und Einfluss nehmende Existenz, eine erzwungene verzweifelte und gewaltvolle Existenz in eine Existenz voller Willen, Elan und Initiative.«339 Der Weg dahin ist die Abwendung vom nutzlosen Grübeln nach den Gründen und dem Sinn des Leidens, hin zu der Frage, was man tun soll, um mit und trotz des Leidens leben zu können. Wozu wollen die Leiden den Menschen verpflichten? Es geht nicht darum, nach den Ursachen zu forschen, sondern danach, wie das Leiden geheilt und verbessert werden kann. Nach diesen mehr philosophisch gestalteten Erörterungen formuliert Soloveitchik es als Sicht der »Halacha«, dass die Leiden den Menschen heben, seinen Geist läutern und heiligen, weg von der Oberflächlichkeit. »Die Leiden sollen das Verderbte an der Persönlichkeit des Menschen heilen,«340 sollen ihn zur Buße und Umkehr führen.
336
Kol Dodi, S. 67.
337
Kol Dodi, S. 67.
338
Kol Dodi, S. 67.
339
Kol Dodi, S. 67.
340
Kol Dodi, S. 68.
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7.2.2 Schicksals- und Berufungs-Existenz des jüdischen Volkes nach der Maßgabe der beiden biblischen Bünde Gottes mit Israel Was Soloveitchik bislang bezüglich der dualen Verfasstheit des Individuums beschrieb, sieht er nun gleichfalls für das Kollektiv des Volkes Israel und er glaubt dies durch die beiden Bundeschlüsse Gottes mit Israel vorbestimmt – Ex 6, 7 den Bund in Ägypten und Ex 24, 7–8 den Bund am Sinai. Der Ägypten-Bund ist der Schicksals-Bund und der Sinaibund der Berufungs- (Auftrags-) Bund. Also auch für Israel als Ganzes gilt es, das Leiden in doppelter Weise zu verstehen, als schicksalhaft auf der einen und als Berufungsauftrag auf der anderen Seite.
7.2.3 Der Schicksals-Bund für Israel Der Bundesschluss in Ägypten bedeutet für die Israeliten, das heißt für jeden einzelnen Juden, dass sie wider Willen in die Existenz des Volkes Israel gezwungen sind. Dieser schicksalhaften Geworfenheit in das Volk der Juden kann sich keiner entziehen, selbst wenn er wollte, irgendwann holt ihn dieses Zugehörigkeitsschicksal ein – wer Jude ist, bleibt Jude. Aus der Zugehörigkeit zu diesem Volk folgt schicksalhaft die historische Einsamkeit des Juden, wie dies schon für Abraham galt und wie dies der Prophet Bileam einmal ausrief: »Siehe ein Volk, das einsam wohnt und nicht zu den Völkern gezählt wird« (Numeri 23, 9). Sein Resümee lautet darum konzise: »In Wahrheit sind die beiden Ideen ›Judentum‹ und ›Abgesondertheit von der Welt‹ identisch.«341 Judesein in dieser Welt heißt einsam sein. Darum hat der Jude ein unauslöschbares Bewusstsein von diesem Bund, er ist durch Fleisch und Blut an dieses Volk und an seinen Gott gebunden. Dieses Gebundensein äußert sich vor allem als Schicksalsgemeinschaft – trotz aller Zerstreuung und unterschiedlichen jüdischen Kulturen und trotz der Zugehörigkeit zu verschiedenen Ständen. Alle Juden werden entweder gemeinsam verfolgt oder gemeinsam gerettet. Wenn ein Jude wegen seines Judentums leidet, leiden alle Juden mit und können sich dem nicht entziehen. Aus dieser Leidensverbundenheit leitet sich eine Verantwortung füreinander ab, man steht in einer Schuldgemeinschaft und ist verpflichtet, den sündigen Volksgenossen zu ermahnen. Dies ist auch die Sicht der Antisemiten, sie nahmen und nehmen die Juden in der Geschichte in eine Kollektiv-Haft – frevelt ein Jude, wird dies sogleich allen Juden zugerechnet. Aus dem inneren wie dem äußeren Grund dieser Kollektiv-Haftung folgt die Pflicht aller Juden, sich gegenseitig zu unterstützen. Diese gegenseitige Hilfe bietet dem einzelnen Juden Trost und Stütze. 342 341
Kol Dodi, S. 87.
342
Kol Dodi, S. S. 88–91.
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7.2.4 Der Berufungs-Bund für Israel »Die Berufung (Auftrag) bedeutet im Leben des Volkes – wie im Leben des Individuums – eine bewusste Existenz, die das Volk aus freien Stücken wählte und in der sie die vollkommene Erfüllung ihres geschichtlichen Seins findet.«343 Im Gegensatz zum Ägypten-Bund ist der Sinai-Bund ein freiwilliger Bund, den die Israeliten einst am Sinai und den jeder Jude in der Gegenwart aus freien Stücken annehmen oder ablehnen kann. Das oberste Ziel dieses Sinaibundes ist, so Soloveitchik, die imitatio dei, indem der Mensch über sich selbst hinauswächst, und die Einheit des Volkes anstrebt, die sich im Dienst an dem einen Gott realisiert. Durch diesen Dienst an dem einen Gott wird dieses Volk Israel eine Einheit das heißt eine Gemeinde (ʽEda), die durch positive Bestrebungen, durch einen Auftrag, oder Berufung, zusammengehalten wird. Als solche BerufungsGemeinschaft, die einen gemeinsamen positiven Auftrag zu erfüllen sucht, entfernt sich diese menschliche Gesellschaft von jener anderen Gesellschaftsform, die nur ein Lager (Machane) ist, das nur durch äußere negative Kräfte und Nöte zusammengehalten wird.344 Was dies konkret bedeutet, vor allem in der Zeit nach der Schoah, soll im Folgenden noch deutlich werden.
7.3
Die Israel von Gott geschenkte neue Situation
Die doppelte Verbundenheit der Juden als Schicksals- und Berufungsgemeinschaft sieht nun Soloveitchik in der schicksalhaften Zeit nach der Schoah und des noch ungesicherten Bestandes des jungen Staates Israel besonders gefordert. Denn gerade diese Zeit nach der Schoah entpuppte sich als ein von Gott geschenkter Kairos in der langen Leidensgeschichte Israels. Es ist an dieser Stelle seiner Erörterungen, an der er die typologische Deutung des Hoheliedes einführt. Dort im Hohenlied heißt es: »Ich schlafe, doch mein Herz ist wach, da pocht die Stimme meines Geliebten: ›Öffne mir, meine Schwester, meine Freundin und Taube, meine Traute‹ […] [Sie aber sprach:] Ich habe mein Röckchen schon ausgezogen, wie kann ich es wieder antun, habe meine Füße gewaschen, wie kann ich sie wieder beschmutzen?‹« (Cant 5,2–3). Soloveitchik versteht dies als Weigerung Israels, auf das Pochen Gottes zu reagieren und sich träge zurückzulehnen, anstatt den Ruf aufzunehmen und ihm zu folgen. Sechs Mal hat Gott, so lautet seine Deutung, in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten bei Israel an die Tür gepocht, und dies inmitten der höchsten Not, als Gott sein Angesicht vor Israel vollkommen verborgen hatte, in Maidanek, Treblinka, Buchenwald und den Gasöfen von Auschwitz, darum ist es nun an der 343
Kol Dodi, S. 92.
344
Kol Dodi, S. 94–95.
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Zeit zu antworten. Das sechsmalige Pochen Gottes war nach dieser Deutung: 1. Auf der politischen Ebene, der Beschluss der UNO zur Gründung des Staates Israel. 2. Der Erfolg im Unabhängigkeitskrieg von 1948, als die kleine jüdische Armee sich der Vielzahl arabischer Armeen erwehrte. 3. Im theologischen Bewusstsein der christlichen Welt, das bis dato das Recht der Israeliten auf das Land Israel als aufgehoben betrachtete und nun überraschenderweise wieder anerkannte. 4. Die sich assimilierende jüdische Jugend im Westen wendet sich ihrer jüdischen Volkszugehörigkeit wieder zu. 5. Zum ersten Mal in der langen Exilsgeschichte gilt jüdisches Blut nicht mehr als anscheinend wertloses herrenloses Gut. Die Juden wehren sich ihres Lebens – und selbst wenn dies den Vorwurf der alten Talionsregel »Auge um Auge « bedeuten würde, so ist diese Selbstwehr gerechtfertigt und gefordert. Hinsichtlich des Muftis von Jerusalem345 und des Ägypters Nasser fordert Soloveitchik – ausdrücklich gegen die anderslautende Auslegung der altrabbinischen Literatur –,346 eine wörtliche Anwendung der biblischen Talion, 347 Rache als Notwehr ist legitim. Hier, so fährt er fort, darf man auch nicht auf die Zusage der Großmächte bezüglich des Status quo des jungen Staates trauen »Wissen wir denn nicht aus Erfahrung, welchen Wert die Zusagen des britischen Außenministeriums haben und die Freundlichkeiten bekannter Beamter unseres US-Amerikanischen Außenamtes?«348 »Überhaupt, wie absurd ist die Forderung, dass ein ganzes Volk von der Gnade anderer abhängig sein soll ohne Möglichkeit der Selbstverteidigung? Die Ehre jeder Gesellschaft wie die Ehre jedes Einzelnen ist es, die Möglichkeit des Schutzes des eigenen Lebens und der eigenen Ehre zu besitzen. Ein Volk, das nicht seine eigene Freiheit und Ruhe schützen kann, ist nicht frei und unabhängig.«349 Und an dieser Stelle seiner Ausführungen unterstreicht er, dass das Gift des hitleristischen Antisemitismus in der Generation, welche mit Gleichmut auf die Gaskammern als etwas Normales und nicht Nachdenkenswertes blickte, noch immer wirkt. Das einzige Gegengift dagegen, so Soloveitchik, ist »die Fähigkeit des
345
Der Großmufti von Jerusalem Hadji Mohammed Amin el Husseini (1893–1974), der zur Arabisierung Palästinas engen Kontakt zum Nazi-Regime Deutschlands pflegte, vgl. Hans Adolf Jacobsen, Der Weg zur Teilung der Welt, Koblenz/Bonn, 1973, S. 129ff; Gamal Abdel Nasser (1918–1970), Ministerpräsident und hernach Staatspräsident von Ägypten.
346
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4. Kap. Achad Ha-Am, Nationale Moral und Religion; Bd. 3,
347
Kol Dodi, S. 81.
348
Kol Dodi, S. 82.
349
Kol Dodi, S. 82.
S. 144.
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Staates Israel, das Blut seiner Kinder und Erbauer zu verteidigen.«350 Und schließlich 6. – und dies ist eine Wahrheit, vor der sich noch immer viele Menschen in dieser Welt verschließen: »Der Jude, der aus dem Land seiner Feinde flieht, weiß nunmehr, dass er eine sichere Zuflucht im Lande seiner Väter finden kann. Dies ist ein neues Phänomen in unserer Geschichte. Bis dahin irrten ganze Bevölkerungen Israels, die von ihrem angestammten Ort ausgerissen wurden, in der Wüste der Völker, ohne Unterschlupf und Bleibe an einem anderen Ort zu finden. […] Diese Situation hat sich verändert!«351 – Man denke an die bitteren Worte von Leon Pinsker aus der Zeit lange vor der Staatsgründung Israels, der gerade dies beklagte.352
7.3.1 Die Folgerungen aus der neuen Situation Soloveitchik stellt im Jahr 1956 mit Schmerzen fest, dass die Leiden des jüdischen Volkes mit der Errichtung des Staates Israel noch nicht zu Ende sind. Der junge Staat steht noch auf schwachen Füßen, die Welt schmeichelt den Hassern Israels – und gerade gelte es nicht, nach Ursachen zu forschen für Fragen, die auch Gott nicht beantwortet. Es gibt nur die eine Frage: »Was ist die Verpflichtung des leidenden Menschen, die aus dem Leiden erwächst?«353 Es sind solche Verpflichtungen, welche die Juden zur Zeit der Schoah nicht gesehen haben, was er nun trauernd beklagt. Er nennt all die Versäumnisse, vor allem des amerikanischen und insbesondere des orthodoxen Judentums, die zu den Geschehnissen der Schoah geschwiegen oder nicht genug dagegen unternommen haben: »Zur Zeit der furchtbaren Schoah, als das europäische Judentum systematisch in den Gaskammern und Feueröfen vernichtet wurde, stand die jüdische Gemeinschaft in Amerika nicht auf der erforderlichen Höhe, und handelte nicht wie Juden, die das Bewusstsein eines gemeinsamen Schicksals haben. Eine Gemeinschaft des Leidens und eine gemeinsame gezielte Kooperation wären vonnöten gewesen. Wir empfanden nicht, wie es sich gebührte, die Not des Volkes und taten nur wenig zur Rettung unserer elenden Brüder. […] Wir waren Zeugen der schrecklichsten Tragödie unserer Geschichte – und wir schwiegen.«354 Doch nicht nur in der Vergangenheit, auch in der Gegenwart von 1956 sieht Soloveitchik die Not noch unverändert. Das Schicksal stellt auch in diesen Tagen
350
Kol Dodi, S. 82.
351
Kol Dodi, S. 82.
352
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 119–124.
353
Kol Dodi, S. 74.
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Kol Dodi, S. 100.
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die Juden mit der Krise durch die der junge Staat Israel geht, erneut auf die Probe. Und er nennt die Bedrohung, die er sieht: »Es ist angezeigt hier offen zu sprechen: Die Sache betrifft nicht nur die politische Zukunft des Landes Israel. Die Arglist der Araber ist nicht nur auf die staatliche Unabhängigkeit ausgerichtet, sondern auf den Bestand der jüdischen Bewohnerschaft insgesamt. Sie sind bestrebt die gesamte jüdische Bevölkerung, Männer wie Frauen, Säugling wie Kleinkind, Rind wie Schafe, auszurotten – Gott behüte. […] Die Bibelworte ›Krieg hat der Herr wider Amalek von Generation zu Generation‹ (Ex 17, 16) betreffen nicht nur den Krieg gegen einen besonderen Stamm, sondern enthalten die Verpflichtung, sich wider jede Nation oder Gruppe zu erheben, die vom Irrsinn des Hasses durchdrungen ist, und die Gemeinde Israels vernichten will. Wenn ein Volk auf seine Fahnen schreibt ›Kommt wir vernichten sie aus den Völkern, damit des Namens Israels nicht mehr gedacht wird‹ (Ps 83,5), dann ist dies Amalek. In den dreißiger und vierziger Jahren waren dies die Nazis und Hitler an ihrer Spitze. […] Heute sind es die Massen von Nasser und des Mufti. Wenn wir heute wieder schweigen, weiß ich nicht, was unser Urteil vor dem König der Gerechtigkeit sein wird. […] Wir müssen begreifen, dass das Schicksal der jüdischen Bevölkerung im Lande Israels auch unser Schicksal ist. Die Araber erklärten den Krieg nicht nur gegen den Staat Israel, sondern gegen die ganze Gemeinde-Israels. Sie sind nun die Führer der internationalen antisemitischen Bewegung und deren wichtigsten Geldgeber.«355 Aus alledem wird deutlich, dass Soloveitchik nicht gewillt ist, eine Trennung zwischen Israel als Staatsvolk und den Juden der Diaspora zu dulden. Das Schicksal der einen ist das Schicksal der anderen und es geht nicht an, dass sich Juden der Diaspora aus dem Schicksals-Bund Israels davonschleichen in der Illusion, dass die Antisemiten und die Israel-Feinde zwischen ihnen einen Unterschied machen. Die Situation ganz Israels vor seinen antisemitischen Feinden, so betont Soloveitchik, hat sich mit der Staatsgründung nicht verändert. Dies ist, so glaubt er, die wesentlichste Fehleinschätzung des säkularen Zionismus, der glaubte, Israel sei nun wie ein Volk unter den anderen Völkern und die sogar glaubten, das Band zwischen Staat und Diaspora zerschneiden zu können. Für ihn ist das eine Naivität, die er so manchen Politikern des jungen Staates vorwirft.356 Darum betont er in seinen Gedanken zum Unabhängigkeitstag des Jahres 1956:
355
Kol Dodi, S. 101–102.
356
Kol Dodi, S. 103. 104.
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»Der Staat Israel kann nicht und wird auch künftig nicht in der Lage sein, den Bund des ›Und will euch als mein Volk annehmen‹ (Ex 6, 7) beiseite zu schieben und die Schicksalsgemeinschaft aufzukündigen, welche die Quelle der jüdischen Einsamkeit ist. Der Staat Israel ist heute so vereinsamt wie es die Gemeinde Israel seit den Tausenden Jahren ihrer Existenz gewesen war. Ja vielleicht ist die Einsamkeit des Staates heute noch deutlicher als in der Vergangenheit, denn sie wird noch deutlicher als je in der internationalen Arena offenbar.«357 Soloveitchik zählt dazu – für seine Tage – das kommunistische Russland, den katholischen Vatikan, die Schüler Ghandis samt Francos, das britische Außenministerium und Tschang-Kai-Tschek auf, die sich allesamt wider den Staat Israel zusammentaten um Israel zu vereinsamen. Der Staat Israel hat den Antisemitismus nicht aufgehalten. »Im Gegenteil, der Antisemitismus hat sich verstärkt und benützt für seinen Kampf nun lügnerische Beschuldigungen gegen den Staat Israel.«358 – Dem ist im Jahre 2019 nichts hinzuzufügen, allenfalls neue Namen und Staaten. Wir treffen hier auf einen religiösen Denker, der die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse und Zustände seiner Zeit – die auch noch diejenigen des begonnenen 21. Jahrhunderts sind – mit den Mitteln der typologischen Geschichts- und Schriftdeutung beschreibt und damit eine Realität zeichnet, die auch ohne den religiösen und typologischen Hintergrund nicht zu leugnen ist.
357
Kol Dodi, S. 103.
358
Kol Dodi, S. 104.
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II.
DAS BEWUSSTSEIN VON DER ZUWENDUNG GOTTES – ABRAHAM JOSHUA HESCHEL (1907–1972) 1. Biographisches
Abraham Joshua Heschel, Glied der hoch angesehenen Apter ḥasidischen Familie, und unter dem Einfluss des Kotzker Ḥasidismus aufgewachsen, ist ein Mythos in der amerikanisch-jüdischen Theologie, ein religiöser Denker und zugleich politisch aktiver Kämpfer, der in fast allen Lagern des amerikanischen Judentums Anerkennung gefunden hat.1 Geboren 1907 in Warschau, erhielt er eine traditionelle jüdische Erziehung. Nach dem frühzeitigen Tod seines Vaters (Abraham war gerade neun Jahre alt), wandte er sich mit 15 Jahren weltlichen Studien zu, um dann ein naturwissenschaftliches Gymnasium in Wilna zu besuchen. Dort wurde er ab 1923 Mitglied der Schriftstellergruppe Jung Wilna und ging 1927 nach dem Abitur zum Studium nach Berlin, an die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, an das Hildesheimer Rabbinerseminar sowie an die Berliner Universität. Letztere schloss er 1933 mit einer Dissertation zur Prophetie ab, die er aber wegen des aufgekommenen Nazi-Regimes erst 1936 bei der polnischen Akademie der Wissenschaften in Krakau zum Druck bringen konnte. Bis 1937 in Berlin als Schriftsteller und Herausgeber aktiv, berief ihn Martin Buber 1937 in die Leitung des Frankfurter Jüdischen Lehrhauses. 1938 wurde er von der Gestapo verhaftet und ins Niemandsland zwischen Deutschland und Polen abgeschoben. Nach gelungener Befreiung konnte er in Warschau am Institut für Jüdische Studien lehren. 1940 gelang ihm die Ausreise in die USA. Dort unterrichtete er zunächst am Hebrew Union College in Cincinnati, wurde dann aber an das New Yorker Jewish Theological Seminary berufen, an dem er bis zu seinem Tod als Professor für jüdische Mystik und Ethik lehrte. Heschel war aktiv in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und im jüdisch-christlichen Gespräch, etwa als Partner in der Formulierung der »Judenerklärung« des Zweiten Vatikanischen Konzils. Das schriftstellerische Opus von Heschel ist überaus umfangreich und auch vielseitig. Ich verweise auf die Bibliographie bei Bernhard Dolna, hier in der Fußnote nenne ich nur die in Deutsch erschienenen Werke Heschels.2
1
Ich folge hier im Wesentlichen der lesenswerten biographischen Skizze Heschels in Bernhard Dolna, An die Gegenwart Gottes preisgegeben. Abraham Joshua Heschel: Leben und Werk, Mainz 2001.
2
Alle Titel (außer dem Letzten) im Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vluyn: A. J. Heschel, Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums 1980; Der Mensch fragt nach Gott. Untersuchungen zum Gebet und zur Symbolik 1982; Wer ist der Mensch 1984; Die ungesicherte
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Abraham J. Heschel
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2.
Grundlinien des Denkens
2.1
Die Phänomenologie der Dissertation zur Prophetie
Den ersten Hinweis für die Grundlagen seines Denkens gibt Heschel selbst in der 1962 erschienenen englischen Überarbeitung seiner 1932 abgeschlossenen Berliner Dissertation. Es war David Novak, der auf diese entscheidende Bemerkung Heschels verwiesen hat.3 Heschel sagte in dieser amerikanischen Version: »Während ich noch immer an die Vernünftigkeit der oben beschriebenen Methode glaube, die in wichtigen Aspekten die Methode der Phänomenologie widerspiegelt, bin ich doch gegen die Unparteiischkeit misstrauisch geworden, die ihrerseits selbst eine Art Parteilichkeit ist. Die Existenz des Propheten ist entweder irrelevant oder relevant. Ist sie irrelevant, dann kann ich nicht wirklich von ihr betroffen sein; ist sie aber relevant, dann ist meine Unparteilichkeit nur ein Vorwand. Das Nachdenken mag Erfolg haben, einen Gegenstand zu isolieren; das Nachdenken selbst aber kann nicht isoliert werden. Das Nachdenken ist Teil einer Situation.«4 Selbst wenn sich Heschel von der Phänomenologie seiner Studienzeit etwas entfernt haben mag, so bleibt doch sein grundsätzlicher Zugang zu seinen Themen, insbesondere in dem hier in den Mittelpunkt gestellten Buch God in Search of Man im Grunde doch dem phänomenologischen Grundansatz treu. Dies soll im Folgenden noch näher dargestellt werden. Zunächst ist es dienlich, die wesentlichen Grundzüge der von Heschel in seiner Dissertation5 von 1932 angezogenen Phänomenologie zu betrachten, um sie hernach von einigen zentralen Positionen Edmund Husserls, dem Begründer der Phänomenologie, zu beleuchten. Heschel äußert sich zur Methode ausführlich in seiner Einleitung des Prophetie-Buches. Der erste und wesentlichste Punkt ist der von Heschel in die Mitte seiner Untersuchung gestellte Gegenstand, nämlich das »Bewusstsein« der Propheten. Es geht ihm um die Erkenntnis von »Wesen und Aufbau des prophetischen Bewußtseins«. Sein Interesse gilt also nicht den prophetischen Ansichten und Lehren, deren Ideen, oder gar deren Wahrheit, sondern
Freiheit. Essays zur menschlichen Existenz 1985; Die Erde ist des Herrn. Die innere Welt der Juden in Osteuropa 1985; Der Sabbat: seine Bedeutung für den heutigen Menschen 1990; Israel 1991; Maimonides: Eine Biographie 1992; Die Prophetie, Kraków 1936. 3
D. Novak, Heschel’s Phenomenology of Revelation, in: S. Krajewski and A. Lipszyc, Abraham Joshua Heschel (Hgg.), Philosophy, Theology and Interreligious Dialogue, Wiesbaden 2009, S. 36.
4
A. J. Heschel, The Prophets, Harper Paperback, New York 1969 (1962), S. XII.
5
A. Heschel, Die Prophetie.
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der Beschreibung der Eigenart des Prophetischen, er sucht nach den das Wesen der Prophetie bestimmenden Bewusstseinstatsachen. Darum lautet der Titel der deutschen Version des Prophetenbuches von Heschel präziser »Die Prophetie« und nicht wie im englischen »The Prophets«, weil es nicht um die durchaus unterschiedlichen Botschaften der Propheten geht, sondern um das alle Propheten verbindende Wesen des prophetischen Bewusstseins. Dabei wird eigens eine psychologische Reflexion auf das Unterbewusste und Unbewusste ausgeblendet. Abgewiesen wird auch die dogmatische Auffassung von einem objektiven Wortempfang des Propheten wie auch die subjektivistische Auffassung, nach welcher die Prophetie nur ein innerpsychisches Erzeugnis sei. Beschrieben wird der Vorgang der Prophetie aufgrund der vorliegenden Selbstzeugnisse der biblischen Propheten und zwar wie sie von den Propheten beschrieben werden. Das Resultat ist: »Die Analysen dieser Bekenntnisse zeigen, daß die Ganzheit der prophetischen Persönlichkeit als Einheit von Eingebung und Erlebnis anzusehen ist. […] Das prophetische Leben kennt Erfahrungsvorgänge, in denen konkret reale, transzendente Gegebenheiten geistiger Art an das Bewußtsein herantreten. […] Ohne auf das schwer lösbare Problem der Offenbarungsgrenzen eingehen zu wollen, konnte aus dem noetischen Charakter der Eingebungsinhalte bewiesen werden, daß auch die Eingebung selbst in den allgemeinen Bewußtseinszusammenhang hineingehörte, daß auch Inhalte, die nicht bewußtseinsursprünglich sind, daß Offenbarung zum Bewußtseinsbestand wurden.«6 Da die Untersuchung dem Bewusstsein des Propheten gilt, kann die Aufgabe nicht sein, nach irgendwelchen objektiven äußeren Ursachen zu forschen, welche das Bewusstsein angeregt hätten, sondern es geht nur um das Bewusstsein selbst. Die von den Propheten behauptete Offenbarung ist Teil des eigenen Bewusstseins und kann nur als solche gegriffen werden. Allerdings spricht dieses Bewusstsein von einer den Propheten treffenden Wirklichkeit wie auch von einem eigenen Ich-Erleben, aber beides ist unvermischt miteinander verbunden. »Beide Seiten ergänzen sich gegenseitig und bilden, da sie nicht einander entgegengesetzt, sondern nur ursprungsverschieden sind die synoptische Struktur der prophetischen Persönlichkeit. […]. Die Totalität des prophetischen Erfahrungsvorganges setzt sich aus Rezeptivität und Spontaneität, aus Eingebung und Erlebnis zusammen.«7 Der Offenbarungsvorgang ist ein seelisches Geschehen und nur dieses kann beschrieben werden. 6
Heschel, Prophetie, S. 2–3.
7
Heschel, Prophetie, S. 3.
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Da das Interesse dem Wesen der Prophetie gilt, können, ja müssen, ganz im Sinne der Husserlschen Einklammerung des Unwesentlichen die individuellen Umstände »ausgeschaltet« werden. »Wir betrachten die Vorgänge, insofern sie Inhalte des Denkens und Vorstellens sind, also als Bewußtseinsvorgänge und lassen die äußeren Auswirkungen und Begleiterscheinungen jeder Art unbeachtet.« 8 Ein weiterer wichtiger Gedanke der phänomenologischen Analyse ist die Unterscheidung von Denkakt (noesis) und Gedachtem (noema), das heißt der Bewusstseinsakt ist immer zugleich auch ein Bewusstsein von »Etwas«. Diese in Eins gebundene Bipolarität kehrt bei Heschel als »Gegenstands-« und »Gefühlssphäre« wieder, als »Inhalt« und »Form« »Eingebung« und »Ereignis« sowie »Erlebnisinhalt« und »Erlebnisform« wieder. Es sollen nun kurz einige Festlegungen von Edmund Husserl aus seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie9 angeführt werden, um die Zugehörigkeit Heschels zu dieser Methodologie aufzuzeigen, wiewohl er sich nicht eigens auf Husserl bezieht. Erst danach kann gezeigt werden, wie das im Folgenden zu besprechende »Hauptwerk« Heschels, trotz seiner inzwischen erfolgten partizipiellen Abweichung, im Grunde noch immer an der phänomenologischen Sichtweise in seiner Behandlung der jüdischen Religion festhält.
2.2
Ein kurzer Blick auf Edmund Husserl zum Vergleich
Der wesentlichste Grundzug der wissenschaftlichen Fragestellung, den Heschel von Husserl übernommen hat, ist, dass er nicht nach den sogenannten objektiven Dingen draußen in der Welt fragt, sondern danach, wie der Mensch diese Dinge, die ihm da begegnen – und dies können außer physisch-konkreten Gegenständen auch geistig-ideale sein – wahrnimmt und sie ihm dadurch gleichsam erst zur Wirklichkeit werden. Der Ort, an dem das geschieht, ist das menschliche Bewusstsein. Dies ist der zentrale Forschungsgegenstand der Phänomenologie, der allerdings nicht mit der Psychologie verwechselt werden darf. Die Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft, das heißt eine Wissenschaft von Tatsachen und Realitäten, also reale psychische Vorgänge. Um die Phänomenologie von einer solchen Psychologie abzugrenzen sagt Husserl: »Demgegenüber wird die reine oder transzendentale Phänomenologie nicht als Tatsachenwissenschaft, sondern als Wesenswissenschaft (als ›eidetische‹ 8
Heschel, Prophetie, S. 5; zum Ganzen vgl. J. D. Soloveitchik, oben Teil III, Kap. I, Nr. 5.
9
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Mit einer Einführung […] von E. Ströker, Hamburg 2009 (1976).
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Wissenschaft) begründet werden; als eine Wissenschaft, die ausschließlich ›Wesenserkenntnisse‹ feststellen will und durchaus keine ›Tatsachen‹.«10 Dazu gilt es, von allen Zufälligkeiten abzusehen, sie zu reduzieren oder auszuschalten, um das Wesen der Dinge, nicht deren zufällige Erscheinung, zu erkennen. Der Blick auf ein Haus von der Straßenseite aus lässt noch nicht dessen Wesen erkennen, es gibt da auch noch die Gartenseite und viele andere »Seiten« – in gewisser Weise wird hier die alte platonische Ideenlehre oder die mittelalterliche Lehre von der das Wesen der Dinge ausmachenden Form11 wiederbelebt, allerdings mit erkenntnistheoretischen Interessen, also den Weisen der menschlichen Wahrnehmung und wie er daraus das Wesen der Dinge feststellt oder »konstituiert«. Es geht darum, was im Bewusstsein des wahrnehmenden Menschen geschieht: »Wir halten also den Blick festgerichtet auf die Bewußtseinssphäre und studieren, was wir in ihr immanent finden.«12 Dieses Bewusstsein ist in seinem Bewusstseins-Erlebnis allerdings stets auf ein Etwas ausgerichtet, ist intentional auf einen Gegenstand bezogen, Bewusstsein ist stets Bewusstsein von Etwas und dies kann, wie gesagt etwas tatsächlich Äußeres sein wie auch eine reine Fiktion.13 Wenn es um das Wesen eines Baumes im Bewusstsein des Menschen geht, so ist dies nicht der reale Baum da draußen, der abbrennen kann. Der seinem Wesen nach erkannte Baum im menschlichen Bewusstsein brennt nicht ab.14 »Das Eidos [also die als Wesen erkannte Sache], das reine Wesen, kann sich intuitiv in Erfahrungsgegebenheiten, in solchen der Wahrnehmung, Erinnerung usw., exemplifizieren, ebensogut aber auch in bloßen Phantasiegegebenheiten. […] Damit hängt wesentlich zusammen, Setzung und zunächst anschauende Erfassung von Wesen impliziert nicht das mindeste Setzung irgendeines individuellen Daseins; reine Wesenswahrheiten enthalten nicht die mindeste Behauptung über Tatsachen, also ist aus ihnen allein nicht die geringfügigste Tatsachenwahrheit zu erschließen.«15 Abschließend muss noch auf die für Husserl grundlegende Unterscheidung von Noesis und Noema hingewiesen werden: »Es muß vor allem erkannt werden, daß
10
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, S. 6.
11
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 407–410. 412. 414. 415. 441. 447. 450. 451. 454. 463. 475.
12
Husserl, Ideen, S. 68.
13
Husserl, Ideen, S. 16.
493. 494. 496. 497. 504. 507. 509. 514. 521. 528–29. 533–539. etc.
14
Husserl, Ideen, S. 205.
15
Husserl, Ideen, S. 17.
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hier, wie bei allen intentionalen Erlebnissen [Erlebnisse die auf etwas ausgerichtet sind, etwas wahrnehmen], die beiden Seiten, Noesis und Noema, prinzipiell unterschieden werden müssen.«16 Beide sind Teil des Bewusstseins, das eine, die Noesis, aber ist der Vorgang des Wahrnehmens und des Versuchs, der Sache einen Sinn zu geben, das andere, das Noema, ist das Resultat der Sinnsuche, nämlich das Sinn beigeben, der Baum als Idee im Bewusstsein des Menschen. Mit diesem Rückzug auf die phänomenologische Methode können sich die religiösen Autoren ganz auf die Beschreibung des religiösen Bewusstseins eines Menschen konzentrieren, ohne dabei verpflichtet zu sein, das dort beschriebene »Noema« als außermenschliche Realität anerkennen zu müssen. Man kann mit dieser Methode das Gottesbekenntnis, das Gottesbewusstsein, der anderen Menschen beschreiben, ohne dabei ein eigenes Gottesbekenntnis abzulegen, oder eine Realität außerhalb des Bewusstseins behaupten zu müssen – wiewohl dies für den bekennerfreudigen Heschel natürlich kein Problem ist.
2.3.
»Eine Philosophie des Judentums« als Phänomenologie der jüdischen Religion
Aus den zahlreichen Publikationen von Heschel soll hier sein Buch God in Search of Man zur Darstellung seines Denkens gewählt werden und zwar wegen seines Untertitels A Philosophy of Judaism, weil durch ihn angezeigt ist, dass er hier eine grundlegende Darstellung seiner Sicht des Judentums geben wollte. Und es ist gerade die Behandlung der drei Hauptthemen dieses Buches, welche die letztliche Verankerung von Heschels Denken in der Phänomenologie auch in dieser vorangeschrittenen Phase seines Lebens offenbart. Die drei Hauptteile des Buches sind überschrieben mit »God«, »Revelation« und »Response«. Eine aufmerksame Lektüre dieser drei Teile des Buches zeigt nun allerdings, dass der von ihm dabei beschriebene Gegenstand letztlich immer der Mensch ist, seine Haltung und sein Bewusstsein im Angesprochensein von etwas, das auf ihn trifft, nämlich Gott, die Offenbarung und die Forderung zur Gebotserfüllung. Der mit den traditionellen jüdischen Erwartungen an die drei Themen herangehende Leser wird im Kapitel »Gott« Themen erwarten, die ihm aus der Midraschliteratur oder aus der mittelalterlichen jüdischen Philosophie bekannt sind, also die klassischen Topoi dessen, was man als jüdische »Theologie«, die Lehre von und über Gott betrachten könnte. Das heißt also Themen wie Gott als Schöpfer, Gottes Präsenz in der Welt als Schechina und deren Metamorphosen in der mittelalterlichen Philosophie oder Kabbala. Stattdessen schreibt Heschel hier über die irdische Welt und die Art und Weise wie dieser Gott hier vom Men-
16
Husserl, Ideen, S. 217.
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schen wahrgenommen wird wie er seinen Raum auf dieser Welt im Bewusstsein beziehungsweise im Glauben findet. Im Kapitel über die »Offenbarung« spricht er von der Präsenz Gottes in der Tora, eine Präsenz, die durch einen menschlichen Bewusstseinsakt erst vorhanden ist. Auch hier geht es demnach wieder um einen in der irdischen Welt vorhandenen »Gegenstand«, der seine religiöse Valenz erst durch das menschliche Bewusstsein gewinnt. Und schließlich im dritten Teil des Buches unter dem Titel »Die Antwort« beschreibt Heschel wie die Präsenz Gottes im entsprechend bewussten Ausführen der heiligen Gebote offenbart wird. Will sagen alle drei Kapitel gehen vom Menschen aus und von seinem Bewusstsein, hier in dieser Welt das Göttliche zu erleben oder wahrzunehmen. Es geht um die Präsenz Gottes in den Wahrnehmungsweisen des Menschen angesichts der Natur, des Bibel-Buches und der Gebote. Es sind diese Grundzüge, des Heschelschen Denkens, die er seit dem phänomenologischen Ansatz seiner Dissertation mit sich trägt. Ich sage dies, wiewohl es eine heftige Debatte in der Literatur gibt, ob man den späteren Heschel noch als Phänomenologen betrachten darf.17 In seinem überaus materialreichen Aufsatz zu dessen Beziehungen zu den verschiedenen philosophischen und religiösen Traditionen stellt Michael Marmur fest, dass Heschel eine Beeinflussung einzig durch die Phänomenologie offen eingestand. Marmur führt dazu einen bezeichnenden Passus aus Heschels hebräischem Aufsatz zum Wesen des Gebetes an.18 Heschel schreibt dort: »In allen Phänomenen des spirituellen Lebens treffen wir auf zwei Qualitätstypen: Den Typus des aktuellen Geschehens und den der Bedeutsamkeit oder Bedeutung. Wenn zum Beispiel ein Mann im Garten steht und mit seinem Finger auf eine bestimmte Blume deutet, erkennen wir zweierlei: Die Bewegung des Fingers (ein Ereignis in Raum und Zeit) und dessen Bedeutung (die Absicht des Bewegers, die sich aus der der Bewegung ergibt). Auf diese beiden Arten wird das Phänomen (die Bewegung des Fingers) gedeutet aber jede richtige Einschätzung desselben muss beide beachten.«19 Marmur deutet den Abschnitt dahingehend, dass er der noetisch-noematischen Unterscheidung entspricht, die das Herz der Husserlschen Phänomenologie ausmacht. Und tatsächlich, so meint Marmur, ereignet sich am locus classicus der frühen Husserlschen Diskussion das Beispiel für diese Unterscheidung ebenfalls in einem Garten, wo es ein Apfelbaum ist, an dem die beiden Kategorien aufge-
17
M. Marmur, In Search of Heschel, in: Shofar, 6,1, Special Issue: A Jewish Life: Abraham
18
A. J. Heschel, »The Essence of Prayer« [Hebrew], Bitzaron, Vol. 2, No. 5 (1941): 346–352.
19
Bei Marmur, Search, S. 14.
Joshua Heschel: A Centenary Tribute (Fall 2007), S. 9–40.
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wiesen werden.20 Wie immer man die Deutung Marmurs einschätzt, der Abschnitt kann als Indiz für die anhaltende Verpflichtung Heschels der menschlichen Realität gegenüber verstanden werden, die sich zum Einen auf die irdische Realität ausrichtet und zum anderen im Prozess der Beobachtung, der Noesis, das Aufgenommene mit Sinn ausstattet, das Noema, das durch menschliches Denken mit Sinn Versehene. Hier also: Der Beobachter nimmt eine räumliche Fingerbewegung wahr und diese deutet er im Wahrnehmungsvorgang als ein Hinzeigen auf die Blume. Die Verpflichtung zur Phänomenologie erkennt man jedoch auch noch aus Heschels Buch, das in der Mitte der folgenden Betrachtungen stehen soll, God in Search of Man – »Gott sucht den Menschen«. In ihm gibt er schon zu Beginn die unzweifelhafte Absicht seines Buches bekannt: »Das Thema der Theologie ist der Inhalt des Glaubens. Das Thema der vorliegenden Studie ist der Akt des Glaubens.«21 Heschels »Theologie« ist eine Lehre vom Glauben des Menschen an Gott, der in raum-zeitlichen Gegebenheiten gewonnen wird. Er nennt diese Art »Theologie« Tiefen-Theologie, eine unverkennbare Anlehnung an den Begriff der Tiefenpsychologie, die eine Suche nach den unbewussten Vorgängen in der Tiefe der menschlichen Psyche meint. Den Begriff der Tiefentheologie erklärt Heschel demnach ganz analog: »Um die Tiefe des religiösen Glaubens zu verstehen, wollen wir nicht so sehr herausfinden, was eine Person auszudrücken vermag, als vielmehr das, was sie nicht in Worte zu fassen vermag, also Einsichten, die keine Sprache erklären kann.«22 An andrer Stelle des Buches kommt er auf diesen konkreten Ausgangspunkt des Glaubens, also der fideistischen »noesis« zu sprechen, wo er sagt: »Das heißt, die Gewissheit über die Wirklichkeit Gottes gewinnen wir nicht als Schlussfolgerung logischer Voraussetzungen, in einem Sprung von der Logik zur Ontologie, von einer Annahme zu einer Tatsache. Dies ist im Gegenteil ein Übergang von einer unmittelbaren Wahrnehmung zu einem Gedanken, von einem vorbegrifflichen Bewusstsein zu einer entschiedenen Gewissheit, vom Überwältigtsein durch die Präsenz Gottes zu einer Gewissheit
20
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, § 88–89, S. 202–206; Elisabeth Ströker, Intentionalität und Konstitution. Wandlungen des Intentionalitätskonzepts in der Philosophie Husserls, in: Dialectica, Vol. 38, No. 2/3 (1984), S. 191– 208, online https://www.jstor.org/stable/42970513.
21
God in Search, S. 7.
22
God in Search, S. 7.
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seiner Existenz. Was wir im Akt des Nachdenkens tun, ist diese vorbegriffliche Erkenntnis auf die Ebene des Verstehens zu heben.«23 Um es auf den Punkt zu bringen: Gemessen an der philosophischen phänomenologischen Literatur, etwa eines Edmund Husserl, ist Heschel kein Phänomenologe. Aber im Vergleich zu den klassischen Theologien, welche sich um Definitionen der Transzendenz mühen ist er ein Denker, der sich auf das konzentriert, was dem Menschen und insbesondere dem Juden in dieser Welt entgegentritt und das er durch seinen Noesis, hier durch seinen Glauben, mit einem Sinn ausstattet, der durch den Glauben die realen Dinge der Welt in seinem Glaubensakt mit einem Sinn ausstattet. Nennen wir Heschels Denken also eine Art vereinfachte theologische Phänomenologie. Diese seine Distanz zur zünftigen Phänomenologie zeigt sich bei ihm auch in seiner zuweilen beklagten aber auch gerühmten, oft redundanten, plerophoren, auch aphoristischen, häufig nicht mehr argumentativen, sondern homiletischen Sprache, die ihn eher als lyrischen Theologen erscheinen lassen, der ja seine schriftstellerische Laufbahn tatsächlich als Poet begonnen hatte.24 Schließlich muss noch ein Letztes vermerkt werden. Heschel als Theologe des Conservative Judaism steht mit seiner Beschreibung des Judentums zwischen den extremen Positionen von Reform und Orthodoxie. Weder lehnt er die Halacha im Sinne der Reformer ab, die sich in ihrer Definition des Judentums ganz auf den Glauben konzentrieren, noch beschränkt er sich auf die Halacha wie die streng Orthodoxen. Vielmehr versucht er, ganz im Duktus der altrabbinischen Weise vor der Spaltung in Reform und Orthodoxie, Glauben und Halacha zu verbinden und sie beide als unverzichtbare Teile des Judentums zu betrachten. Allerdings bedeutet dies nicht einfach eine Rückkehr zu einem Status quo ante. Vielmehr hat die Betonung des Glaubens durch die Reformtheologie bewirkt, dass der Glaube für Heschel eine Prominenz bekam, die er zuvor in der rabbinischen Frömmigkeit so nicht hatte und auch die Halacha in einer Weise restituiert wurde, die sie in der Orthodoxie und auch davor so nicht hatte, insofern es in der Halacha von Heschel nicht um die minutiösen Details der Halacha-Treue ging, als vielmehr um einen Jewish Way of Life, zu dessen Grundlage das halachische Handeln als kultureller Faktor, aber eben nicht in allen juristischen Details gehört.
23
God in Search, S. 121.
24
Dazu siehe E. K. Kaplan, Heschel as Philosopher: Phenomenology and the Rhetoric of Revelation, in: Modern Judaism, Vol. 21, No. 1 (Feb., 2001), pp. 1–14, online: https://www.jstor.org/stable/1396667 B. Dolna, An die Gegenwart Gottes preisgegeben. Abraham Joshua Heschel: Leben und Werk, Mainz 2001, S. 20.
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Um diese seine persönliche Sicht des Judentums vorzutragen, greift Heschel natürlich auf die jüdische Tradition zurück, tut dies aber in einer erstaunlichen Weise, indem er nämlich für jeden der drei genannten Themen des Buches, Gott, Offenbarung und Antwort in der Gebotserfüllung (Response), auf je grundverschiedene Traditionsströmungen zurückgreift, die sich in ihrer Intention und Grundauffassungen offensichtlich widersprechen – aber darin tut er im Grunde nichts anderes als was jedes traditionelle jüdische Gebetbuch ebenso macht, nämlich eigentlich unversöhnliche philologisch-theologische Gegensätze je nach religiösem Bedarf nebeneinander zu stellen. Dies soll im Folgenden für jeden der drei Themenblöcke dargestellt werden.25 Heschel nennt sein Verfahren, die Religion zu behandeln, Religionsphilosophie, womit er sagen will, dass er hier mit Hilfe der Philosophie das menschliche Glauben als eine Erfahrung untersuchen und verstehen will, nach dessen Ursachen und Wesen fragt. Nicht will er mit der Philosophie die letztgültigen Antworten auf die Fragen des Menschseins geben. Dies, so meint er, sei eine Aufgabe der Religion. Er nimmt den alten Topos von der Differenz von Jerusalem und Athen auf und will mit ihm sagen, dass beide unterschiedliche Formen des Denkens seien, hier die Offenbarung und dort die Ratio, hier die Religion, dort die Philosophie. Wo diese beiden Denkweisen wie im Mittelalter miteinander identifiziert werden, ist eine von beiden verloren. Deswegen gilt seine »Religionsphilosophie« nicht den Fragen und Antworten der Religion, also nicht den Fragen nach Gott und der Schöpfung per se, sondern viel eingegrenzter, wie er dies in der Dissertation schon durchführte, den Fragen des Menschen, seinen Lebenssituationen und wie da Glaube entsteht, weshalb der Mensch nach Gott sucht und als was sich der Glaube gibt – kurz die phänomenologischen Fragestellungen. Deshalb ist die Marschrichtung zu fragen die, wie der Mensch Gott sucht und finden kann. Die Antwort lautet – und damit ist die Gesamtstruktur des Buches gegeben: »Es gibt drei Ausgangspunkte über Gott nachzudenken; drei Spuren, die zu ihm führen. Die erste ist der Weg, die Gegenwart Gottes in der Welt, in den Dingen, zu erfühlen (sensing); der zweite ist, seine Gegenwart in der Bibel zu spüren; und der dritte ist, seine Gegenwart im heiligen Handeln zu fühlen.«26 Das heißt, das eine ist die Gotteserkenntnis aus der Natur und der Welt (eine Art natürlicher Theologie), das zweite ist die aus der Offenbarungsschrift und das 25
Englische Kurzform des Folgenden K. E. Grözinger, The Jewish Tradition in the Philosophy of A. J. Heschel, in: S. Krajewski & A. Lipszyc, Abraham Joshua Heschel. Philosophy, Theology and Interreligious Dialogue, Wiesbaden 2009.
26
God in Search, S. 31.
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dritte jene im menschlichen Tun, in der menschlichen Reaktion auf die beiden vorangegangenen Erfahrungsangebote.
3.
Religion auf der Grundlage des menschlichen Bewusstseins
3.1
Gottes Gegenwart im menschlichen Glauben
Der erste Teil des Buches, der den einfachen Titel God trägt, ist, wie gesagt, weder eine Theologie im Sinne der personalistischen altrabbinischen Haggada noch eine Metaphysik im Duktus der mittelalterlichen Philosophie, sondern Heschel »reduziert« die Theologie auf die Präsenz Gottes im menschlichen Glauben, die metaphysische Transzendenz wird phänomenologisch »eingeklammert«. Zur Realisierung dieser neuen theologischen Konzeption greift er auf zwei durchaus verschiedene jüdische Traditionen zurück, auf eine postaufklärerisch-fideistische und eine voraufklärerisch-mystische – beide sind gleichsam durch seine Biographie begründet, letztere auf seine ḥasidische Herkunft in Polen und erstere auf seine Studienzeit im Raum des nachaufklärerischen deutschen Judentums von Berlin. Die westliche fideistische Tradition war die im dritten Band des Jüdischen Denkens27 beschriebene Sicht des Berliner Juden Saul Ascher (1767–1822). In seinem 1792 erschienenen Buch Leviathan oder über Religion in Rücksicht des Judenthums hatte Ascher das Judentum in bewusstem Gegensatz zu Moses Mendelssohn ausschließlich auf den Glauben gegründet. Sich auf den schottischen Philosophen David Hume berufend, glaubte Ascher, dass der Glaube neben der Vernunft ein eigenständiger und unabhängiger Weg zur Erkenntnis sei – dabei letztlich die Debatte von den zwei beziehungsweise drei unterschiedlichen Wahrheiten der Delmedigos und Spinozas fortführend.28 Im Gegensatz zur klassischen mittelalterlichen jüdischen Philosophie29 betonte Ascher, dass es keinerlei Beziehung oder gar Identität von Vernunft und Offenbarung gebe, da der Glaube eine von der Vernunft unabhängige menschliche Begabung oder Fähigkeit sei, die ihn zu eigenen und von der Vernunft abweichenden Erkenntnissen führe. Ascher war darum überzeugt, dass der Mensch für ein vollkommenes menschliches Leben beide brauche, Vernunft und Glaube. Glaube und Vernunft haben ihr je eigenes Territorium, das sich nicht überlappe und nicht vermischt werden könne. Die Vernunft hat als Erkenntnisgegenstand die Natur, während der Glaube an die Offenbarung verwiesen sei, oder noch genauer, dass der Glau27
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 417–443.
28
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 68–75.
29
Zu ihr siehe Jüdisches Denken, Bd. 1.
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be die Basis der Offenbarung sei. Eine unmittelbare Folgerung aus dieser Sicht für Ascher war, dass der Mensch kein vorformuliertes Gesetz brauche, keine Halacha, da er dank seiner beiden Erkenntnis-Fähigkeiten, Vernunft und Glaube, von solchen Traditions-Vorschriften unabhängig sei. In der Auffassung, dass der Glaube das Fundament der Religion sei, stimmt Heschel mit Saul Ascher vollkommen überein, hier vertritt Heschel also eine postaufklärerische fideistische Definition der Religion, der jüdischen Religion. »Die Religion, ich wiederhole es, ist eine einzigartige Quelle der Erkenntnis.«30 Demgegenüber widerspricht er Ascher diametral in seiner Auffassung von der Notwendigkeit des Gesetzes, was er eigens im dritten Teil seines Buches erörtert. Darauf ist später einzugehen. Wenn man allerdings die Frage stellt was denn der »Glaube« nach der Auffassung von Heschel sei, wird alsbald deutlich, dass er sich in dieser Frage nicht länger auf Ascher stützt, sondern auf die ḥasidische Tradition zurückgreift, wie er sie gewiss im Namen des Begründers des Ḥasidismus, Israel Ben Eliʽeser Baʽal Schem Tov31 kannte. Das Fundament jeglichen Glaubens ist nach Heschel die »Ehrfurcht« (awe). Dies ist eine moderne Variante des alten jüdischen Begriffs der Jirʼat Schamajim (der Ehrfurcht vor dem Himmel, das heißt vor Gott). Die Ehrfurcht ihrerseits definiert er als Sinn für das Transzendente: »Die Ehrfurcht ist ein Gefühl für die schöpfungsbedingte Würde aller Dinge und ihrer Wertschätzung bei Gott, das Wahrnehmen, dass die Dinge nicht nur sind, was sie sind, sondern, wenn auch nur entfernt, für etwas Absolutes stehen. Die Ehrfurcht ist ein Sinn für Transzendenz, für einen allumfassenden Hinweis auf Ihn, der jenseits aller Dinge steht. Dies ist eine Einsicht, die man besser in Haltungen als in Worten mitteilen kann. Je mehr wir sie ausdrücken wollen, desto weniger bleibt von ihr. Die Bedeutung von ›awe‹ (Ehrfurcht) ist es, wahrzunehmen, dass sich das Leben unter weiten Horizonten abspielt, Horizonten, die weit über die Spanne eines einzelnen menschlichen Lebens, oder des Lebens eines Volkes, einer Generation oder Ära hinausgreifen. Die Ehrfurcht befähigt uns, in der Welt Hinweise auf das Göttliche wahrzunehmen, in kleinen Dingen den Anfang unendlicher Bedeutsamkeit zu spüren, das Letztgültige (ultimate) im Alltäglichen und Einfachen zu fühlen, in der Eile des Vergänglichen die Stille der Ewigkeit.«32
30
God in Search, S. 17.
31
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 709–808.
32
God in Search, S. 75.
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Die Ehrfurcht ist eine Haltung, ein Bewusstseinserleben, das den Menschen befähigt, dem gewöhnlichen Wahrgenommenen einen ewigen, göttlichen, Sinn zuzuerkennen. Das heißt, die Gegenwart des Göttlichen in allem und jedem Einzelnen wird durch die menschliche Haltung der Ehrfurcht wahrnehmbar. Es ist demnach eine menschliche Einstellung, eine menschliche Wahrnehmungsweise, welche die Gegenwart des Göttlichen in der Welt sicht- und spürbar macht. Es ist eine besondere epistemische Eigenschaft des Menschen, die er einsetzen muss und kann, um durch sie das Göttliche in der Welt wahrzunehmen. Es ist eben diese Beschreibung der »Ehrfurcht« als Grundlage des Glaubens, wie sie in gleicher Weise der Begründer des osteuropäischen Ḥasidismus, Israel Ben Eliʽeser Baʽal Schem Tov verstand. In Aufnahme der kabbalistischen Auffassung, dass Gott die Welt mittels der hebräischen Buchstaben erschaffen hat, glaubte der Bescht (Baʽal Schem Tov), dass alle Welten voll der »Herrlichkeit« (Kavod) Gottes sind, die sich in den Buchstaben der Schöpfung verbirgt. Allerdings, so betonte der Bescht, dass kein Mensch diesen göttlichen Kavod wahrnimmt, außer er versteht in der richtigen Weise auf die Dinge der Welt zu blicken. Es hängt, so sagt es der Nachfolger des Bescht, der Maggid aus Mesritsch, ausschließlich am Menschen, dass er in Allem und Jedem die Macht, das Licht und die Herrlichkeit Gottes, das göttliche Nichts, sieht: »›Wer guten Auges ist, der ist gesegnet‹ (Prov 22,9). Das Auge wird Weisheit genannt, und in der Tat ist das Schauen die unterste Stufe der Weisheit. Und der, welcher guten Auges ist, das heißt, gute Weisheit besitzt, der bringt Segen in die Sache, die er anblickt. Denn wenn er eine Sache anblickt, dann weiß er, dass diese Sache vor Ihm, Er sei gesegnet, wie Nichts ist. Das heißt, dass sie ohne Seine Gottheit, E.s.g., die in dieser Sache weilt, tatsächlich Null und Nichtig ist. Das heißt die Kraft des Wirkers ist im Gewirkten und ohne ihn ist sie Nichts. […] Und durch sein Schauen in dieser Weise zieht der Mensch aus der Gottheit, sie sei gesegnet, aus der Lebensquelle, zusätzliche Lebensessenz in diese Sache, denn er heftet (dvk) diese Sache an das vollkommene Nichts, aus dem alles Existierende ausgehauen wurde, vom Nichts zum Sein (me-’Ajin le-Jesch). Und das ist es [was der Schriftvers sagt]: ›Wer guten Auges ist, der ist gesegnet‹, nämlich für diese Sache.«33 Es hängt also alles von der Hinwendungsweise des Menschen zu den alltäglichen Realitäten ab, ob er in ihnen die göttliche Macht wahrnimmt und er so aus den belanglosen materiellen Dingen eine gotterfüllte Welt macht, die zwar de facto stets da ist, aber vom Menschen nicht erkannt wird. Nochmals anders in der
33
Maggid Devaraw § 73, S. 124f; siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 830–831.
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buchstabenmystischen Sprache des Bescht und seines Schülers Jakob Josef ausgedrückt: »So wie es zweiundzwanzig Buchstaben in den Worten der Tora und des Gebetes gibt, so gibt sie es auch in allen materiellen und dinglichen Sachen dieser Welt, denn durch sie wurde die Welt erschaffen und alles was in ihr ist, […] nur sind die Buchstaben eben durch die Materie der Dinge dieser Welt mit mehreren Bedeckungen, Umkleidungen und Schalen umkleidet. Und in den Buchstaben ruht die Geistigkeit des Heiligen, E.s.g., denn seine Herrlichkeit, sie sei gesegnet, erfüllt die ganze Welt und alles, was in ihr ist. Kein Ort ist leer von Ihm, […] nur ist dies in Verborgenheit. Und wenn die Leute der Erkenntnis davon wissen, dann ist für sie diese Verborgenheit keine Verborgenheit mehr und es ist da keine Veränderung [neben dem einen Gott].«34 Nur ein Mensch, der fähig ist, das göttliche Licht und die göttliche Einheit hinter den »Schalen« der geschöpflichen Welt zu erkennen, kann den nächsten religiösen Schritt tun, nämlich – wie bei Heschel – zum Glauben, zur Emuna, zu gelangen.35 »Glauben« bedeutet allerdings für den Bescht dasselbe wie Devekut, das ist das mystische Hangen an Gott. »Denn der Glaube an Ihn, Er sei gesegnet, ist die Devekut.«36 Dies ist der erfüllte menschliche Zustand in dieser Welt, in dem er trotz aller äußeren Schalen stets bei Gott ist, an Gott glaubt. Heschel fordert in dem zuvor angeführten Text eben dasselbe, nämlich dass man das Unbekannte im Bekannten wahrnehmen müsse, das Unendliche im Endlichen, das Mysterium innerhalb der normalen Weltordnung.37 Die letzten Einsichten müssen, so Heschel, nicht im diskursiven Denken gefunden werden, sondern im Wundern und im totalen Staunen, in der Tiefe der Ehrfurcht (awe), in unserem Gespür für das Mysterium, für das Unaussprechliche.38 Für ihn ist, wie für die ḥasidischen Meister, die Epiphanie der göttlichen Gegenwart in dieser Welt von der menschlichen Einstellung abhängig. Und dank dieser Einstellung und dank dieser Wahrnehmung des Göttlichen hat der Mensch Glauben, der ihn hinter die Schalen der Welt blicken lässt. Nach der Erzählung einer kleinen Episode um den Kotzker Rebben Mendel, der sagte, dass er die
34
Sefer Baʽal Schem Tov, I, Bereschit §11, S. 39; siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 769.
35
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 766–773.
36
Beim Schüler des Bescht Jaʽakov Josef aus Polnaʼa, Toledot Jaʽakov Josef, Jitro, S. 56.b.56c;
37
God in Search, S. 114.
38
God in Search, S. 116–117.
wajischlach, S. 31a; u. siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 872. 876.
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himmlischen Gäste in der Laubhütte beim Fest nur dank seines Glaubens wahrnimmt, nicht mit den physischen Augen, kommentiert Heschel: »Dies ist wahrhaft die Größe des Menschen, dass er zum Glauben fähig ist. Denn der Glaube ist ein Akt der Freiheit, der Unabhängigkeit von unseren beschränkten Fähigkeiten, sei es die Vernunft oder die Sinneswahrnehmung. Es ist ein Akt geistiger Ekstase, des sich Erhebens über unsere eigene Weisheit.«39 Der griechische Begriff der »Ekstase« bedeutet dasselbe wie der ḥasidischhebräische Ausdruck »Devekut«, nämlich das Verlassen der irdischen Realitäten in der unio mit dem Göttlichen. Wie Saul Ascher stützt Heschel die Offenbarung, die Wahrnehmung des Göttlichen auf den Glauben des Menschen, der neben der Vernunft eine eigenständige Erkenntnisfähigkeit ist, und mit der ḥasidischen Tradition betont er, dass es am Menschen liegt, diese Sichtweise zu beherrschen, sie einzusetzen, um so hinter den Realitäten dieser Welt das Göttliche wahrzunehmen. Die Wahrnehmung des Göttlichen hängt somit ganz vom Menschen ab, ohne seine Glaubenswahrnehmung kann keine Tatsache von einer Gottheit in der Welt behauptet werden. Gott ist in der Welt dank des menschlichen Bewusstseins in Gestalt des Glaubens. Zu der von der ratio verschiedenen Erkenntnisfähigkeit des Glaubens gehört laut Heschel dann auch eine unterschiedliche Weise des Diskurses im Glauben. »Im Augenblick. In dem wir den Namen Gottes aussprechen, verlassen wir die Ebene des wissenschaftlichen Denkens und betreten den Raum des Unaussprechbaren. Einen solchen Schritt können wir nicht mit der Wissenschaft tun, weil er die Grenzen all des Gegebenen überschreitet.«40 Damit stößt man an die Grenzen der Vernunft. Heschel ist mit der Theorie Aschers von einem unabhängigen Terrain der Glaubenswahrnehmung und Glaubenserkenntnis konsequent. Sobald jedoch diese Erfahrung artikuliert wird, verliert sie an Unmittelbarkeit und Authentizität. Das eigentliche Widerfahrnis kann ausschließlich erlebt und nur unter Verlust beschrieben werden.41 »Die Offenbarung ist ein Mysterium, für das die Vernunft keine Vorstellung (Konzeption) hat.«42 Dank derartiger Aussagen kann Heschel dann auch die Tür zu nicht rationalen geradezu fundamentalistischen Aussagen etwa biblischer Berichte aufstoßen, bezüglich derer er dann allerdings betont, sie dürften nicht wörtlich genommen 39
God in Search, S. 118.
40
God in Search, S. 102.
41
God in Search, S. 116.
42
God in Search, S. 189.
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werden, sondern nur als Hinweis auf etwas Unsagbares, allenfalls als etwas der poetischen und metaphorischen Sprache Vergleichbares, verstanden werden. So etwa: »Die Bibel hat des Menschen Illusion, er sei alleine, erschüttert. Der Sinai brach das kosmische Schweigen, das unser Blut in Verzweiflung erstarren lässt. Gott steht unseren Schreien nicht fern; Er ist nicht nur ein Muster (pattern), sondern eine Macht, und das Leben ist die Antwort, nicht ein Monolog.«43
3.2.
Gottes Gegenwart in der Geschichte und in der Bibel
Im zweiten Teil seines Buches unter dem Titel »Revelation« folgt Heschel wiederum seiner im Grunde mit der Dissertation eröffneten phänomenologischen Agenda, indem er das wesentliche Geschehen der Offenbarung als einen Bewusstseinsvorgang im Menschen bei seiner Begegnung mit einem zunächst physisch-irdischen Buch, der Bibel, beschreibt. Das auffälligste Merkmal ist indessen zunächst dies, dass er das rationalistische mittelalterliche Konzept der Philosophie, etwa des Maimonides44 abweist. Maimonides hatte in der Prophetie einen natürlichen allezeit möglichen intellektuellen Prozess, als intellektuellen Ausfluss aus dem angelisch-kosmischen Aktiven Intellekt auf den individuellen Intellekt des Propheten verstanden, der theoretisch für jeden Menschen offen steht, würde nicht Gott selbst diese Möglichkeit willkürlich einschränken.45 Demgegenüber sagt Heschel in dem schon angeführten Satz: »Die Offenbarung ist ein Mysterium, für das die Vernunft keine Konzepte hat.«46 Die Differenz zu Maimonidesʼ Auffassung von der Prophetie bleibt auch dann noch bestehen, wenn Heschel, eigens aus den Briefen des Maimonides einen Passus zitiert, der besagt, dass es für die Inhalte der Prophetie keine rationalen Maßstäbe gibt, weil sie über der Natur stehen, an welche die menschliche Ratio gefesselt und von ihr begrenzt ist.47 Ein solcher Inhalt ist zum Beispiel die Behauptung, die Welt sei zu einem gewissen Zeitpunkt erschaffen worden und sei nicht ewig. Ein Urteil in dieser Frage lehnt Maimonides auch in seinem More Nevuchim ab, weil die Beweise für das eine wie das andere nicht ausreichten.48 Bei der Natürlichkeit der Prophetie in Maimonidesʼ Lehre geht es demnach nicht um die Inhalte, sondern um das Wesen der Prophetie als natürliche Emanation aus dem Aktiven Intellekt. Es geht dabei also um das »Wie?« der Prophetie und 43
God in Search, S. 238.
44
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 468–471.
45
Jüdisches Denken Bd. 1, S. 469.
46
God in Search, S. 189.
47
Heschel, God in Search, S. 233; Maimonides, Kobez Teschuvot ha-Rambam we-Igrotaw, ed.
48
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 454–459.
Lichtenberg, Leipzig 1859, II, S. 23b-c.
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nicht um das »Was?« In der Erklärung dieser Worte des Rambam folgt Heschel wieder seiner oben beschriebenen Agenda, dass es am Menschen liegt, ob er diese Worte der Offenbarung als Wahrheit anerkennt. Die Prophetie tritt dem Menschen als ein Ereignis gegenüber, das er dann selbst in seiner Wahrheit bestätigen oder ablehnen kann. »Es gibt keine Beweise für die Wahrheit der prophetischen Behauptungen für Menschen die spirituell taub und ohne Glauben und Weisheit sind.«49 Wie die im ersten Teil beschriebenen Dinge, welche der Mensch bei seiner Wahrnehmung mit transzendentem Sinn ausstattet, ist es auch bei der Prophetie: »Die Aussage, Gott spricht, teilt ein Mysterium mit. Sie ruft unseren Sinn des Wunderns und Erstaunens auf, auf ein Mysterium zu antworten, das unsere Fähigkeit zu verstehen übersteigt.«50 »Der Mensch muss lernen, seine Vernunft für das Schätzen dessen zu üben, was jenseits der Vernunft liegt.«51 So ist es nur konsequent, dass Heschel beim Thema der Offenbarung wieder auf etwas Reales, Irdisches, verweist, dessen transzendentalen Wert der Mensch erst zu erfassen lernen muss, denn: »Die Quelle der Wahrheit kann man nicht in einem ›für immer im menschlichen Herzen eingefalteten Prozess‹ finden, sondern in herausragenden Ereignissen, die zu bestimmten Augenblicken in der Geschichte geschahen.«52 In diesem Sinn nimmt er auch den geläufigen Topos vom Judentum als einer Religion der Geschichte auf: »Das Judentum ist eine Religion der Geschichte, eine Religion der Zeit. Der Gott Israels wurde nicht vor allem in den Fakten der Natur gefunden. Er sprach durch Ereignisse der Geschichte […] der Gott der Propheten war ein Gott der Ereignisse; der Erlöser aus der Sklaverei, der Offenbarer der Tora, der sich selbst eher in Geschehnissen der Geschichte manifestiert als in Dingen oder Orten.«53 Mit dieser Sicht widerspricht Heschel auch der Auffassung des Vaters der Reform-Bewegung, Abraham Geiger, der das Konzept einer revelatio continua vertrat, die sich von Generation zu Generation durch menschliche Deutungsaktivitäten vor allem genialer Menschen fortsetzen ließ.54 Damit setzt er auch einen neuen Akzent gegenüber seinem Kapitel zu Gott, in dem er die zum Glauben führende Ehrfurcht gerade angesichts der Natur und Größe der Welt erwartet. Jetzt,
49
God in Search, S. 233.
50
God in Search, S. 186.
51
God in Search, S. 189.
52
God in Search, S. 197.
53
God in Search, S. 200.
54
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 38. 593–604.
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wo er auf die Geschichte abhebt, verhandelt er auch die Bibel als Zeugnis eines historischen Ereignisses, nämlich der Offenbarung am Sinai. Die Bibel vertritt nun gleichsam jenes geschichtliche Ereignis, so dass sich an ihr in der Gegenwart stets neue Offenbarung ereignen kann. Auch sie ist ein Gegenstand in Raum und Zeit, bei dem es wie zuvor bei den Dingen der Welt gilt, ihm einen Sinn zuzuschreiben, ihn als Offenbarungsträger anzunehmen. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist, dass Heschel hier nicht, wie zu erwarten, von der Tora spricht, sondern von dem auch jedem Christen und säkularen Menschen als dickes Buch entgegentretendes Objekt. Mit dieser Rede von der Bibel, statt der Tora, übernimmt Heschel zunächst wieder ein Element der Aufklärung, welche die Bibel als Buch eigenen Wertes sieht und nicht als die Hälfte des rabbinischen ToraKonzeptes, welches von Schriftlicher- und Mündlicher-Tora spricht.55 Auf der anderen Seite stattet er dieses Stück der Aufklärung nun mit kabbalistischen Konnotationen aus, um es von den übrigen Büchern der Welt abzuheben. Aufklärerisch ist zunächst noch die Qualifizierung der Bibel mit ihren prophetischen Helden als ein Kulturgut, das einen festen Platz in der Geschichte der Menschheit eingenommen hat. Aber davon abweichend ist die Auffassung, dass diese Bibel der Ort der göttlichen Präsenz in der Welt ist – eine Auffassung die auch schon oben von den Ḥasidim angeführt wurde, nach der die Gottheit in den Buchstaben der Tora präsent sei. Heschel sagt dazu: »Es mag leicht erscheinen, mit dem Gedanken zu spielen, die Bibel sei ein Buch wie viele andere Bücher, oder dass die Geschichte vom Sinai ein Märchen sei. Aber gerade mit einem solchen Gedankenspiel verspielen wir unsere Verpflichtung Gott gegenüber und unsere Verbindung mit ihm. […] Wenn man Gott nicht in der Bibel findet, wo sonst sollten wir Ihn dann suchen?«56 Diese Worte von der Präsenz Gottes in der Bibel sollen keine Metapher für das Bekenntnis sein, dass man in der Bibel das Dokument der sinaitischen und prophetischen Offenbarung sieht. Mit diesen Worten will Heschel die Realpräsenz Gottes in der Bibel bekennen: »Wer darüber nachsinnen will, was jenseits der Bibel ist, muss erst lernen dafür empfänglich zu sein, was in der Bibel ist. Wir müssen nicht alleine auf das Wort von Moses und der Propheten trauen. Entscheidender als der Ursprung der Bibel von Gott her ist die Gegenwart Gottes in der Bibel. Es ist das Empfinden der Gegenwart, das uns erst zum Glauben an ihre Herkunft führt. 55
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
56
God in Search, S. 236; und siehe ebenda S. 266–267.
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Der Weg, um die Präsenz Gottes in den Worten der Bibel wahrzunehmen ist nicht, nachzuforschen, ob ihre Gedanken mit den Errungenschaften unseres Verstandes übereinstimmen […] Was wir fragen müssen, ist, ob es in der Bibel etwas gibt, das außerhalb der Reichweite der Vernunft liegt, jenseits des Bereiches des normalen Menschenverstandes, ob ihre Lehren mit unserem Sinn für das Unaussprechbare, mit dem Gedanken der Einheit übereinstimmen, die uns helfen über die Vernunft hinauszureichen, ohne sie zu verleugnen, die dem Menschen helfen, über sich selbst hinauszugreifen ohne sich selbst zu verlieren.«57 Dies ist nun in der Tat ein esoterisches ja fast mystisches Bibelverständnis, was Heschel eigens eingesteht: »Die Bedeutung der Offenbarung ist nur denen gegeben, die auf Mysterien aus sind (mystery-minded), nicht solchen, die nach dem Wortsinn streben (literal-minded).«58 Es ist dieses mystische Wahrnehmen des Göttlichen in der Bibel, die ihre Autorität und Herkunft verbürgt. Mit der Qualifizierung der Sonderstellung der Bibel unter den übrigen Büchern dieser Welt geht Heschel, wie sogleich noch deutlich werden soll, weit über die Lehre von der doppelten Erkenntnisfähigkeit des Menschen von Saul Ascher hinaus. Damit ist er an einem Punkt angelangt, welchen der Baʽal Schem Tov oben auch schon ausgedrückt hatte, nämlich dass – dank der hebräischen Buchstaben, welche göttliche kraftgeladene Gottesnamen sind59 – Gott sowohl in der Schöpfung wie in der Tora präsent ist. Heschel: »Wenn der Glaube an die Immanenz Gottes in der Natur plausibel ist, dann ist der Glaube an die Immanenz Gottes in der Bibel zwingend.«60 Er geht in der Markierung der hier aufgenommenen Tradition noch einen Schritt weiter, wenn er sagt, dass Gott in »den Worten der Bibel präsent«61 ist. Darum kann er auch sagen, dass die »Worte der Bibel Quellen des Geistes« sind.62 Es ist kein Zufall, dass er in diesem Zusammenhang den Sohar zitiert,63
57
God in Search, S. 250.
58
God in Search, S. 257.
59
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 303–334. 335–394. 395–462. 557–560. 766–773; u. K. E. Grözinger, Tausend Jahre Baʽale Schem. Jüdische Heiler, Helfer, Magier, Wiesbaden 2017, hier insbesondere S. 12–26. 30–64.
60
God in Search, S. S. 245.
61
God in Search, S. 246.
62
God in Search, S. 253.
63
God in Search, S. 254.
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denn es ist eine spezifisch kabbalistische Vorstellung, dass die Bibel nicht einfach ein Buch ist, sondern die Repräsentanz des Göttlichen in dieser Welt. Die Tora, so sagt es der große Nachmanides, ist nichts weniger als ein Geflecht aus den Namen Gottes, sie selbst sind das Wesen, die Essenz Gottes und der aus ihm hervorfließenden Emanation.64 Die Tora zu studieren bedeutet für einen Kabbalisten nichts weniger, als in der Realpräsenz Gottes zu verweilen und mit ihr umzugehen. Aber auch hier gilt dasselbe wie das zur physischen Welt Gesagten, nämlich dass sich diese Präsenz der Gottheit nur dem Leser offenbart, der fähig ist, das in den Buchstaben der heiligen Tora verborgene Licht wahrzunehmen. Eben dies sagt auch Heschel: »Um befähigt zu werden, dem Geist in den Worten zu begegnen, müssen wir lernen, uns nach einer Wesensverwandtschaft mit dem Pathos, der Leidenschaft, Gottes zu sehnen. […] Um die Präsenz Gottes in der Bibel zu spüren, muss man lernen, für Gott in der Bibel präsent zu sein. […] Um die Liebe zu verstehen, reicht es nicht, Geschichten über sie zu lesen. Man muss mit den Propheten involviert sein, um sie zu verstehen. Man muss inspiriert sein, will man die Inspiration verstehen. So wenig wie wir das Denken ohne zu Denken ausprobieren können, sowenig können wir die Heiligkeit spüren, ohne heilig zu sein. Die Präsenz wird denen nicht enthüllt, die unbeteiligt sind und zu beurteilen suchen, auch nicht denen, die keine Kraft haben, über die Werte hinauszugreifen, die sie selbst schätzen, und nicht jenen, welche die Geschichten wahrnehmen, nicht aber das Pathos, die Idee und nicht die Wirklichkeit Gottes.«65 Um gleichsam keinen Zweifel über diese Nähe zwischen Heschel und der Kabbala aufkommen zu lassen, führt er eigens die kabbalistische Vorstellung von der doppelten Tora an, von der »himmlischen« und der »offenbarten Tora«, wonach Letztere die irdische Angleichung der höheren Tora an die niedrigen irdischen Umstände darstellt.66 Es ist diese neoplatonische Sicht der Wiederholung der höherstehenden Ideen auf den jeweils niedrigeren Stufen der Realität in einer den jeweiligen Stufen angepassten Qualität, welche ihn zu der weiteren – ebenfalls kabbalistischen – Aussage führt, das die Tora hier auf Erden im Exil weilt und dass es unterschiedliche Schichten an Bedeutung in der Tora gibt, eine äußerliche und eine innerliche:
64
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 303–334. 335–394. 395–462. 557–560. 766–773; u. K. E.
65
God in Search, S. 252.
66
God in Search, S. 262; u. siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 488–584; Bd. 2, S. 615.
Grözinger, Tausend Jahre Baʽale Schem, S. 12–26. 30–64.
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»Das ursprüngliche Licht ist verborgen. Wollte die Tora perfekt sein, wäre sie eine Utopie geblieben. Die Gesetze der Tora verlangen von jeder Generation, nur das zu erfüllen, was sie vermag. Einige ihrer Gesetze (zum Beispiel Ex 21,2ff)67 sind keine Ideale, sondern Kompromisse, realistische Versuche, die moralische Situation des antiken Menschen zu verbessern. […] Die Bibel musste auch die hässlichen Gesetze des Krieges behandeln, wiewohl sie um die Hässlichkeit des Krieges wusste. Auch die Tora ist im Exil.«68 Mit dieser Lehre hat Heschel zugleich zwei Probleme gelöst. Das erste ist die Zurückweisung des naheliegenden Einwandes, dass ein Buch mit Texten und Themen wie die Bibel sie bietet, doch kein himmlisches, göttliches, Buch sein könne. Und zum Zweiten wird damit eine Tür dafür geöffnet, nicht mehr an alle Gebote der Tora gebunden zu sein, weil diese irdische Tora ja nur bemüht war, sich an die hässliche Welt anzupassen, dass aber nunmehr, nachdem die Welt in einem anderen Zustand ist, andere Anpassungen möglich und nötig sind. Es ist die Offenbarung, das Angesprochenwerden des Menschen, das zwar in seinem Bewusstsein stattfindet, aber sich in diesem Bewusstsein eben als Angesprochener empfindet, ein Angesprochensein, das wohl direkt zum Titel des Heschelschen Buches führte: Gott sucht den Menschen. Er fügt zu diesem Thema eigens ein Kapitel ein,69 in welchem er biblische Texte, mystische Erfahrungen von Philosophen wie aus dem Ḥasidismus anführt, die von dem Bewusstsein der Menschen zeugen, von Gott gesucht, ja verfolgt zu werden, wie dies Hiob sagte: »Du jagst mich wie ein Löwe« (Hiob 10,16) oder Jehuda Ha-Levi »Die Welt ist erfüllt von Deiner Herrlichkeit« – vor der es kein Entrinnen gibt. Es sind dies von Menschen wahrgenommene Ereignisse, auf denen er die jüdische Religion begründet sieht: »Das Wesen des jüdischen religiösen Denkens liegt nicht darin, Gotteskonzepte zu haben, sondern in der Fähigkeit, die Erinnerung an Augenblicke der Erleuchtung durch Seine Gegenwart in Worte zu fassen. Israel ist kein Volk von Definierern, sondern ein Volk des Bezeugens: ›Ihr seid meine Zeugen‹ (Jes 43, 10).«70
67
»Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre dienen, im siebenten aber soll
68
God in Search, S. 270. 263; und siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 615.
er ohne Entgelt freigelassen werden [etc.].« 69
God in Search, S. 136–141.
70
God in Search, S. 140.
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3.3
Gottes Gegenwart im Tun der Menschen
3.3.1 Die Gebote als Hilfe für Gott im Werk der Erlösung Der dritte Teil des Buches unter dem Titel »Response« ist nach der massiv fideistischen Position Heschels im ersten Teil des Buches etwas überraschend, denn dort hatte er die Religion ganz auf den menschlichen Glauben gegründet. Nun aber besteht Heschel in pointierter Opposition gegen die jüdische Reform auf der wesenhaften Notwendigkeit der Halacha für das religiöse Leben des Juden. Zur Begründung führt er zwar einige psychologische Argumente an, aber die Basis für seine Befürwortung der Halacha ist wiederum die Kabbala. Der erste Eindruck, weshalb Heschel auf der Einheit von Haggada und Halacha besteht, mag sein, dass er einfach zu der vormittelalterlichen oder auch zum Teil noch voraufklärerischen Sicht zurückkehren wollte. Dies wäre indessen nur die halbe Wahrheit. Während für das rabbinische Judentum die Erfüllung der Gebote durch den Menschen hauptsächlich als ein Erweis des Gehorsams gegenüber Gott und als Medium zur Heiligung des Menschen in der imitatio dei verstanden wurde,71 geht er weit über diese Vorstellungen hinaus. Entsprechend dem, was er über die Worte der Bibel sagte, gelten ihm die Gebote als eine Vergegenwärtigung der Gottheit in dieser Welt. Deshalb sagt er: »Das heißt, die Überzeugung von der Göttlichkeit der Gebotserfüllung (deeds) geht weit über die Vorstellung von der imitatio dei hinaus. Heilige Akte, die Gebote, ahmen nicht nur nach, sie repräsentieren die Gottheit. Die Gebote sind vom Wesen (essence) Gottes, sie sind mehr als irdische Weisen seinem Willen zu gehorchen.«72 Während der Philosoph Maimonides das wesentliche Bindeglied zwischen Gott und Mensch im menschlichen Intellekt sah,73 sieht Heschel dies in den Mizwot: »Eine Mizwa ist eine Tat, die Gott und Mensch gemeinsam haben. […] Die Erfüllung der Gebote wird nicht als ein Tun ›trotz des bösen Triebes‹ bewertet, sondern als ein Akt der Communio mit Ihm. Der Geist der Mizwa ist Gemeinschaft (togetherness). Wir wissen, Er ist ein Partner unseres Tuns.«74 Diese communio zwischen Mensch und Gott mittels der Gebote ist, so Heschel, möglich, weil der Mensch im Ebenbild Gottes erschaffen ist. Dem Leser des Jü71
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 280–288.
72
God in Search, S. 289.
73
Siehe Jüdisches Denken, I, S. 462–471.
74
God in Search, S. 287.
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dischen Denkens ist bekannt, dass es für diese biblische Vorstellung des Menschen als imago dei (Zelem ʼElohim) viele sehr verschiedene Deutungen gibt,75 aber auch hier greift Heschel zur Deutung der Kabbala, wenn er sagt: »Die Bibel sagt, dass der Mensch in der Ähnlichkeit (likeness) Gottes erschaffen wurde und errichtet damit das Prinzip der analogia entis, der Analogie des Seins. Das heißt in seinem wesentlichen Sein hat der Mensch etwas mit Gott gemeinsam. Außer dieser Analogie des Seins lehrt die Bibel das Prinzip der Analogie des Handelns. Der Mensch kann Gott ähnlich handeln. Es ist diese Gottähnlichkeit im Handeln […], die das Bindeglied ist, durch das der Mensch Gott nahekommen kann. In dieser Ähnlichkeit zu leben liegt das Wesen der imitatio dei.«76 Der Sohar und andere kabbalistische Schriften sehen in der doppelten Ebenbildlichkeit des Menschen mit der Gottheit, nach der sowohl seine Seele wie auch sein Leib Ebenbild Gottes sind, die Grundlage für die Möglichkeit des Menschen, vermittels der Gebotserfüllung mit der Gottheit zu kommunizieren.77 Um noch auf eine weitere Parallele zwischen Heschels Gebotsverständnis und dem der Kabbala hinzuweisen, ist es wert, noch eine andere Bedeutung der Gebotserfüllung herauszuheben, die dann vor allem in der späteren, der lurianischen Kabbala zentrale Bedeutung erlangte. Nach der Auffassung der lurianischen Texte bewirkt das Erfüllen der Gebote durch den Menschen den Erlösungsprozess, den Tikkun, die Wiederherstellung der beschädigten Welt und der Gottheit selbst.78 In diesem Sinne sagt Heschel: »Den Willen Gottes im Tun zu erfüllen heißt, im Namen Gottes zu handeln, nicht nur zu seinen Gunsten, nämlich im Tun, das seinem Willen entspricht. Er braucht das Tun des Menschen zur Erreichung Seiner Ziele in der Welt. […] Es gibt den ewigen Ruf in der Welt: Gott fleht den Menschen an, zu antworten, umzukehren und zu erfüllen. Vom Menschen wird etwas gefordert, von allen Menschen, zu allen Zeiten. […] Die Gebote sind spirituelle Ziele, Punkte der Ewigkeit im Fluss der Zeitlichkeit.«79
75
Siehe die jeweiligen Register der Bände des Jüdisches Denkens.
76
God in Search, S. 289.
77
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 579–603. 437–441.
78
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 676–680. 650–654.
79
God in Search, S. 291.
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Gott braucht die Erfüllung der Gebote durch den Menschen, darum sind sie nach Heschels Auffassung neben dem Glauben unverzichtbar. Der Glaube macht Gott in der Welt wahrnehmbar, während die Gebote die Erlösung voranbringen.
3.3.2 Nicht einzelne Gebote, sondern jüdischer Way of Life Schon oben wurde angedeutet, dass Heschel durchaus offen ist für eine nicht fundamentalistische, sondern flexible Rezeption der Forderungen der Halacha. Es gibt mehrere Stellen in seinem Buch, an denen er diesen kritischen Ansatz expliziert, was durchaus als Widerspruch zu der bisherigen, von der Kabbala beeinflussten, Einschätzung der Gebote betrachtet werden kann.80 Die Lösung dieses Widerspruchs zwischen Halacha-Fundamentalismus und liberalem HalachaVerständnis findet man gerade an jenen Stellen, an denen Heschel die Wichtigkeit der Halacha erörtert. Dort verwendet er nämlich anstatt des Begriffs »Halacha« oder »Mizwoth« Begriffe wie »Jewish life«, »Jewish living«, um für die Gebote einen weiteren Kontext ins Auge zu fassen, nämlich die Gebote als Ausdruck eines jüdischen Lebensstils und auch als Bekenntnis zum jüdischen Leben und zum Judesein. So zum Beispiel: »Wir müssen nicht nur bemüht sein zu vermeiden, dass wir ein einzelnes Gebot übertreten, sondern dass wir das Ganze verlieren; vermeiden müssen wir den Verlust der Zugehörigkeit zur spirituellen Ordnung des jüdischen Lebens. Ordnung des jüdischen Lebens heißt nicht eine Sammlung von Ritualen, sondern eine Ordnung der gesamten Existenz eines Menschen, eine Ordnung, die alle seine Wesenszüge, seine Interessen und seine Geistesart formt, nicht so sehr die Erfüllung einzelner Taten fordert, dann und wann einen Schritt zu unternehmen […], sondern bedeutet die Zugehörigkeit zu einer Ordnung, in der einzelne Taten, Zustände religiöser Gefühle, sporadische Sentimente und moralische Episoden Teil eines gesamten Verhaltensmusters werden.«81 Mit dieser Wendung von der Halacha und den einzelnen Mizwot zu einem Gesamtensemble eines »jüdischen Lebens« versucht Heschel den Glauben und das jüdische Ritual als untrennbare Elemente des einen jüdischen Lebens miteinander zu verbinden. Nach diesem mehr umfassenden Begriff ist für den Juden nicht die Erfüllung einzelner Gebote entscheidend, sondern das Gesamt eines spezifischen Typs von jüdischem Leben, das nicht von einzelnen spezifischen Geboten
80
God in Search, S. 302–303.
81
God in Search, S. 301.
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abhängt. In diesem jüdischen Lebensstil gehören Glaubens- wie Tatelemente unverbrüchlich zusammen, weil eben das menschliche Leben ein Leben in Leib und Seele zugleich ist: »Die jüdische Observanz, das muss betont werden, geschieht auf zwei Ebenen. Sie besteht aus Taten, die der Körper in einer klar definierten und sichtbaren Weise erfüllt, und aus Akten der Seele, die weder definiert noch augenscheinlich sind, aus der richtigen Intention und diese in Taten zu überführen. Beide, Körper und Seele müssen gemeinsam das Ritual ausführen, das Gesetz, den Befehl, das Gebot. Gedanken und Gefühle, die im Inneren des Menschen verschlossen sind und Taten, die ohne Beteiligung der Seele geschehen, sind unvollkommen.«82 Darum, so schließt Heschel, braucht man die Halacha als Wissenschaft vom Tun und die Haggada als die Wissenschaft vom Sein.83
82
God in Search, S. 307.
83
God in Search, S. 310.
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III. INDIVIDUELLES ERLEBEN ALS TEIL DES BUNDESVOLKES ISRAEL – EUGENE B. BOROWITZ (1924–2016) 1.
Biographisches
Eugene B. Borowitz war von 1962 bis zu seinem Tod Professor für Erziehung und jüdisch-religiöses Denken am Hebrew Union College, Campus New York, mit vielen Preisen ausgezeichneter Autor von zahlreichen Büchern. Er gilt als einer der führenden liberalen jüdischen Theologen. Aufgewachsen in Columbus, Ohio, studierte er an der dortigen Staatsuniversität und anschließend am Hebrew Union College in Cincinnati, wo er 1950 seinen Doctor in Hebrew Literature erwarb. Zunächst als Rabbiner amtierend, wurde er 1957 Direktor des Religious Education Department der Union of American Hebrew Congregations.
2.
Grundzüge des Denkens
Eugene Borowitz ist ein Denker auf dem Weg, der stets um sich blickt, zurückschaut, die amerikanisch jüdische Realität in ihrer ganzen beunruhigenden Wirklichkeit wahrnimmt. Er ist ein Reformtheologe aus dem Stamm eines Abraham Geiger und Kaufmann Kohler und weiß zugleich, dass die Entwürfe des 19. Jahrhunderts für die jüdische Reformbewegung überholt sind. Er weiß auch, dass es nie eine feste theologische Formel geben wird, dies umso mehr in einer Zeit, in welcher es nach seinem eigenen Urteil keine klaren Antworten mehr gibt, ein Zustand der letztlich dem Reform-Grundsatz von der Priorität der Autonomie des Individuums entspricht. Zugleich aber gehört Borowitz zu einer Reformbewegung, welche von dem reinen Konfessionalismus der Pittsburgh Platform und gar schon eines Abraham Geiger abgerückt ist, einer Denomination, die sich auf das Judentum als Volk und dessen Religion als Volks-Religion des Judentums zurückbesonnen hat. Typisch für diesen Denker ist der Beginn seines Aufsatzes in der von der Zeitschrift Commentary veranstalteten Umfrage unter 55 Rabbinern nach »Dem Stand des Jüdischen Glaubens«1. Auf die dort gestellten fünf Fragen 1. nach dem Glauben an die Offenbarung der Tora, 2. nach der Erwählung des jüdischen Volkes, 3. ob das Judentum die einzig wahre Religion oder nur eine neben anderen sei, 4. ob es ein spezifisches jüdisches Denken gebe und ob dies mit anderen Denksystemen vereinbar sei, und schließlich 5. ob die »Gott
1
The Condition of Jewish Belief. A Symposion Compiled by the Editors of Commentary Magazine, New York-London 1966, S. 30.
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ist tot« Bewegung2 irgendeine Bedeutung für das Judentum habe, gab Borowitz zunächst die folgende für Ihn bezeichnende Antwort: »Ich gestehe, ich kann Ihre Fragen nicht beantworten. Zum einen, weil in unserer gegenwärtigen Welt nicht mehr klar ist, was als Antwort gelten könnte. Etwa eine mathematisch-logisch-wissenschaftliche Definition Gottes mit Whitehead? Oder eine linguistische Analyse des Bundes? Eine Phänomenologie des Gebotes (Mizwah)? Ein bewegendes Gedicht, eine leuchtende Tat oder eine unausweichliche Überzeugung? Kaum! Jede Antwort erzeugt eine neue Frage oder gar zwei; jede Antwort gebiert neue Zweifel beim Gläubigen nicht weniger als bei dem, der sagt, er sei ohne Glauben. Je bedeutungsvoller die menschlichen Fragen heutzutage sind, desto weniger scheint es möglich, einigermaßen feste und unabänderliche Antworten zu geben.« Die meisten überaus zahlreichen Texte von Borowitz sind entsprechend. Glaubt man, einen festen Punkt gefasst zu haben entgleitet er einem wieder in die reichen Rück- und Seitenblicke auf andere Meinungen, in ein Panorama von Stimmen der jüdischen Tradition. Dies wird insbesondere dem Leser von Borowitz’ Buch Liberal Judaism3 deutlich, an das der Leser mit der Erwartung herantritt, eine konzise Übersicht über die Auffassungen des Liberalen Judentums zu erhalten. Stattdessen erhält man einen durchaus lehrreichen Blick in eine Fülle von Stimmen aus der Tradition des jüdischen Denkens, eher eine historische Darstellung dieses Denkens als eine systematische Neukonzeption. Dies ist jedoch der Duktus vieler liberaler Darstellungen, die sich eher im Sammeln von Traditionselementen erschöpfen, als eigene systematische Entwürfe zu versuchen. Solchen systematischen Erwartungen entspricht am ehesten Borowitz’ Buch A New Jewish Theology in the Making4 sowie Teile des Buches How Can a Jew Speak of Faith Today?5 und Renewing the Covenant. A Theology for the Postmodern Jew.6 Im Folgenden stütze ich mich vor allem auf die beiden erstgenannten Werke, welche die Grundlagen für das Spätere vorbereiteten und dieses erschließen.
2
Zu ihr siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 480–500.
3
E. B. Borowitz, Liberal Judaism, New York 1984.
4
E. B. Borowitz, A New Jewish Theology in the Making, Philadelphia 1968.
5
E. B. Borowitz, How Can a Jew Speak of Faith Today?, Philadelphia 1969.
6
E. B. Borowitz, Renewing the Covenant. A Theology for the Postmodern Jew, Philadelphia, New York, Jerusalem 1991.
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3.
Eugene B. Borowitz
Der Glaube als Grundlage von Religion und Theologie
Die berühmten 13 Glaubensartikel von Maimonides in ihrer in den Gebetbüchern rezipierten Form beginnen stets mit den Worten: »Ich glaube mit vollkommenem Glauben« dann folgt eine dogmatische Aussage, zum Beispiel im ersten Artikel »dass der Schöpfer, sein Name sei gesegnet, der Schöpfer und Führer aller Geschöpfe ist und er alleine alle Werke gemacht hat, sie macht und auch machen wird.« Trotz solcher für Maimonides zentraler dogmatischer Glaubens- oder Wissensaussagen, mit denen die mittelalterliche Dogmatisierung des Judentums ihren Höhepunkt erreicht hatte,7 blieb die Debatte um den Glauben als zentralem Fundament der jüdischen Religion umstritten, so dass man seit Moses Mendelssohn, der bezüglich des Judentums von keinen offenbarten Lehrmeinungen wissen wollte,8 vom Judentum gerne als von einer Orthopraxie statt von einer Orthodoxie spricht. Wenn nun Borowitz dennoch die Bedeutung des Glaubens für sein liberales Judentum meinte eigens begründen zu müssen, so tut er dies nicht aus einer Gegenposition zur halachabestimmten gegenwärtigen Orthodoxie, sondern in der Konfrontation von Vernunft und Offenbarung, oder Vernunft und Glaube. Natürlich gab es seit den beiden Delmedigos der Renaissance,9 und dann wieder nachdrücklich von dem Berliner Postaufklärungs-Denker Saul Ascher10 eine klare Abgrenzung von Glauben und Vernunft, dahingehend, dass sie beide ihr je eigenes Territorium menschlicher Erkenntnis hätten und sich nicht gegenseitig kritisieren könnten. Und in gewisser Weise nimmt Borowitz, ohne dies zu sagen, den Faden von Ascher auf, um die Bedeutung des Glaubens für die Religion zu begründen, aber er tut dies doch in einer ganz anderen Art, indem er die klare Grenzziehung zwischen beiden aufhebt und die Vernunft gleichsam zur Magd des Glaubens macht – wenn auch in etwas anderer Weise als die mittelalterliche Theologie dies tat. Borowitzʼ Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft entspricht eher der Motivationstheorie von David Hume, der sagte: »Wir reden nicht streng und philosophisch, wenn wir von einem Kampf zwischen Leidenschaft (passion) und Vernunft (reason) sprechen. Die Vernunft ist und sollte nämlich nur die Sklavin der Leidenschaften sein, sie kann niemals vorgeben eine andere Aufgabe zu haben als ihnen zu dienen und ihnen zu gehorchen.« 11 An die Stelle der Leidenschaften tritt bei Borowitz der Glaube (faith),
7
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437.
8
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 404–407; und siehe die Debatte um die Existenz von Dog-
9
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 62–84.
men im Judentum, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 19–20. 369. 431–437. 10
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 417–443.
11
»We speak not strictly and philosophically when we talk of the combat of passion and reason. Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other
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der wie die Leidenschaften bei Hume eine eigene Größe darstellt, die nicht von der Vernunft hinterfragbar ist. Allerdings ist das, was Borowitz in diesem Zusammenhang unter faith versteht, nicht eine Handlungsmotivation (commitment to action), auch keine Hingabe an einen Inhalt (commitment to content), sondern ein Bekenntnis zu einem Grundwert, einer festen Grundannahme (commitment to a basic premise).12 Es ist eine solche nicht von der Vernunft zu widerlegende subjektive Entscheidung, ein subjektiver Grundwert, der allen nachfolgenden rationalen Erklärungen vorausgeht und sie bestimmt. Es ist das, was das menschliche Tun und Denken grundsätzlich bestimmt, vor allen rationalen Überlegungen, die vorangehende Grundentscheidung dessen, was das eigene Leben bestimmen soll. Und diese Grundentscheidung nennt Borowitz »Glaube«, »faith«, und er fährt dann fort, seinen Glaubensbegriff zu erklären: »Tatsächlich macht diesen die Struktur einer solchen Entscheidung selbst klar. Wenn man zwischen alternativen rationalen/vernünftigen Möglichkeiten zu entscheiden hat […], kann man nicht die ratio/Vernunft selbst als Grundlage der Entscheidung heranziehen. Das Kriterium für die Angemessenheit/ Adäquatheit der Vernunft kann nicht die Vernunft selbst sein, denn es soll ja gerade die Vernunft beurteilt werden. Oder um es deutlicher auszudrücken: Jede Philosophie beginnt mit einer Glaubensentscheidung. Das ist damit gemeint, wenn man sagt, jede Person habe ihre eigenen Prämissen. Prämissen werden nicht durch die Vernunft bestätigt/validiert. Sie sind Ausdruck des Glaubens.«13 Daraus folgt: Wenn sich ein Mensch für das Judentum als seiner Grundprämisse entscheidet, kann dies nicht rational erklärt werden, sondern dies ist ein Akt des Glaubens. Erst hernach kann die »Sklavin«, sprich die Vernunft, ihr Werk tun, nämlich in einer erläuternden Theologie. Natürlich kann ein Mensch mehrere solche Gegenstände als Prämissen für sein Tun und Denken wählen. Aber hierfür gibt es Prioritäten, eine Wertehierarchie. Und wenn es um die Gestaltung des eigenen Lebens geht, um seine Einstellung zur Welt und zur Gesellschaft, dann gibt es gewiss eine zentrale Prämisse für jeden Menschen, die sein Handeln und Denken bestimmen soll. In diesem Sinne sagt Borowitz für sich selbst:
office than to serve and obey them«; Hume, David (1739/40), A Treatise of Human Nature, London 1739, Buch II, 3.3, S. 248 online: https://digital.lb-oldenburg.de/brandes/content/zoom/51325 12
Borowitz, New Jewish Theology, S. 177.
13
Borowitz, New Jewish Theology, S. 187.
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»Mein Glaube an das Judentum steht vor jedem anderen Glauben, deshalb will ich diese Priorität des Glaubens an das Judentum zu meinem methodologischen Ausgangspunkt machen.«14 Diese Entscheidung ist keine rationale Entscheidung, sondern eine Glaubensentscheidung, eine persönliche »Leidenschaft«, um Hume aufzugreifen, der nicht durch rationale Argumente widersprochen werden kann, allenfalls durch eine andere Glaubensentscheidung. Ist diese Entscheidung aber einmal getroffen, dann kann die Vernunft die sich daraus ergebenden Konsequenzen formulieren und kann auch versuchen, diese dann zu erklären – allerdings in dem Wissen, dass solche Erklärungen dann nur denen verständlich sein werden, welche dieselbe Eingangsprämisse teilen. Was nun die Konsequenzen dieser Grundentscheidung nach Auffassung von Borowitz sind, welche konkreten Auffassungen und Handlungen sich daraus ergeben, soll im nächsten Abschnitt dargelegt werden. Diese vorangegangene Erörterung von Borowitz, sollte die Frage klären, an welcher Stelle man als jüdischer Theologe einsetzen müsse, um seinen Glauben zu explizieren. Die frühen deutschen Väter der Reform, erbauten ihre Theologie auf rationalen Denksystemen, auf Philosophien ihrer Zeit, so Hermann Cohen als Neokantianer auf die Vernunft, Leo Baeck auf die Ethik, Abraham Geiger auf den Fortschritt der Geschichte – und außerdem mit Schleiermacher auf das »Erleben« (experience),15 Martin Buber auf eine spezifische Weise des Kennenlernens eines anderen, kurz: »Die liberalen jüdischen Denker haben in der Regel versucht, ihren Glauben derart auszurichten, dass sie einen universalen Standard der Wahrheit suchten, um dann das Judentum nach seinen Kategorien zu interpretieren. Dieser Standard wurde durch die Theologen in der Regel von der zeitgenössischen lokalen Philosophie geborgt, wiewohl Cohen und Buber ihre eigene schufen.«16 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was die Wahl des Ausgangspunktes für Borowitz bedeutet, nachdem die philosophischen Einsatzpunkte keinen Sinn mehr für ihn ergeben.17 Stattdessen ist für ihn der Glaube an Israel der hermeneutische Schlüssel und die Grundlage für seine Theologie, für seinen Gottesglauben. Gott sieht er gleichsam nur durch die Brille Israel als Bundesvolk. Ohne diese Brille sieht man diesen Gott nicht, kann nicht über ihn reden. Sprich eine 14
Borowitz, New Jewish Theology, S. 189.
15
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 578–616.
16
Borowitz, New Jewish Theology, S. 183.
17
Borowitz, New Jewish Theology, S. 188.
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partikulare, nicht eine universale philosophische Wahrheit soll der Ausgangspunkt für den Gottesglauben sein. An dieser Stelle bricht natürlich wieder der Widerspruch zwischen individueller Autonomie und gesellschaftlicher Heteronomie auf. Darum stellt Borowitz die Frage: »Wie kann man einer Tradition, welche man nicht als absolute annehmen kann, seine primäre Gefolgschaft schenken? Kann man das Recht des Individuums, zu beurteilen und anderer Meinung zu sein, bewahren, ohne einem rivalisierenden Prinzip des Glaubens zu verfallen? Genau dies ist es, was ich vorschlage. Unter ›Glaube an das Judentum‹ verstehe ich die bewusste persönliche Zustimmung zu der einzigartigen Sinnhaftigkeit und Bedeutung der religiösen jüdischen Tradition für unser Leben. Solch ein Glaube behauptet eine qualitative Unterscheidung zwischen der Wahrheit über Gott, den Menschen und die Geschichte, die uns das Judentum gegenüber jedem anderen System oder Struktur gibt, ohne dabei zugleich darauf bestehen zu müssen, dass das Judentum immer recht hat und nicht auch aus anderen Quellen lernen könnte. Da dies auf einer persönlichen Zustimmung begründet ist, garantiert es zugleich das Recht, anderer Meinung zu sein, ohne sich dadurch selbst auf den Status eines vorrangigen Prinzips zu erheben. […] Der Glaube, den ich als liberaler Jude zu leben versuche, ist darum eine mächtige Bejahung der Vorrangstellung des Judentums in meinem Leben, wenn auch nicht in absoluter Hinsicht.«18 Das bedeutet, alle Fragen des Lebens und Glaubens werden zuerst aus der Sicht der jüdischen Tradition bearbeitet, aber nicht so, dass man sich dadurch in eine absolute Abhängigkeit begibt, aber doch so, dass es an dieser Grundentscheidung vorbei keinen Weg gibt.
4.
Was ist das Judentum der Entscheidung – die rationale Darlegung
Eugene Borowitz gehört zu einem liberalen Judentum nach der Columbus Platform von 1937, deswegen ist für ihn das Judentum nicht mehr nur eine Religionsgemeinschaft, sondern wie seit der biblischen Zeit ein Volk, das Volk Israel. Das bedeutet, dass jüdische Religiosität nicht in erster Linie eine Religion des Individuums ist, das natürlich auch, sondern vor allem die Religion des Volkes Israel. Die Offenbarung des jüdischen Gottes war eine Offenbarung an das Volk
18
Borowitz, New Jewish Theology, S. 191–192.
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Eugene B. Borowitz
Israel und deshalb ist der Jude, so Borowitz, Jude nur im Kollektiv des jüdischen Volkes, das heißt: »Seinen Gottesglauben kundzutun – dem würden wohl die meisten jüdischen Denker unserer Tage zustimmen – mag eine allgemeine Religiosität zum Ausdruck bringen, aber das Judentum kann nur dann wirklich erlangt werden, wenn man zugleich bereit ist, seine besondere Beziehung zum jüdischen Volk zu bekennen.«19 Borowitz stimmt dabei ausdrücklich Mordecai Kaplan zu,20 dass dieses ethnische Element die unverzichtbare Komponente aller jüdischer Religiosität ist, ja sogar, dass ein Judentum, das nur Gott kennt, nicht aber sein Volk Israel, kein authentisches Glied in der jüdischen Tradition sein kann.21 Der religiöse Jude Borowitz denkt jedoch ebenso über die umgekehrte Seite dieser Medaille nach, nämlich dahingehend, dass ein nur national denkender Jude, der ein erklärter Atheist ist und an der Religion kein Interesse hat, auch wenn er sich Israel zugehörig fühlt, zumindest ein Problem in der Frage der Zugehörigkeit zum Judentum darstellt: »Er hat einen Platz innerhalb seines Volkes, solange er dies wünscht – dennoch, er steht nicht innerhalb von dessen traditionellem Rahmen. Er hat seine Rechte als Arbeiter, Sucher, Beitragsleister – aber kaum als Führer, Sprecher, oder Vorbild. Man muss ihn ›Jude‹ nennen, denn es gibt keinen passenden anderen Ausdruck für ihn – dennoch ist er in seiner Abweisung des jüdischen Glaubens kein ›wahrer‹ kein ›guter‹ Jude. Solange seine Loyalität zum Judentum auf das Volk beschränkt ist, nicht aber den Gott, dem es dient, einbezieht, muss er als verkürzt und unvollkommen betrachtet werden.«22
5.
Das Judentum als Volk des Bundes
Nachdem die Emanzipation den Volksverband des Judentums für den liberalen Juden aufgelöst hatte, so Borowitz, und er seine Bestätigung in erster Linie aus dem eigenen Erleben, sei es rational, moralisch oder religiös, bezogen habe, waren andere traditionelle Hoffnungsanker des Judentums zusammengebrochen, so vor allem die eschatologische Hoffnung, die Hoffnung auf einen Messias, wie auch die Begründung der Ethik in der Transzendenz. An ihre Stelle traten inner19
Borowitz, New Jewish Theology, S. 44.
20
Zu ihm Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. IV.
21
Borowitz, New Jewish Theology, S. 44.
22
Borowitz, New Jewish Theology, S. 54–55.
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weltliche Stützen, die persönliche Autonomie, das soziale Engagement, getragen von dem Glauben an das Gute im Menschen. All dies sei, so Borowitz durch das Morden von Hitlerdeutschland zerstört worden. Den einfältigen Glauben an Gottes Hilfe in der Geschichte Israels, den dennoch viele traditionelle Juden hegten – man vergleiche dazu die in Band vier des Jüdischen Denkens vorgestellten Positionen,23 – hat einer der Redakteure der Zeitschrift Commentary, Irving Kristol, in seiner Rezension des Buches Basic Judaism von Rabbiner Milton Steinberg24 mit dem spöttischen Untertitel »A Comfortable Religion for an Uncomfortable World« kommentiert. Kristol vertritt in dieser Besprechung des Buches von Steinberg die Auffassung, dass die jüdische Religion und ihre Theologie so lange bedeutungslos und nichtssagend bleibe, solange sie nicht die Frage des Bösen in der Welt in einer adäquaten Weise thematisiere. Er kritisiert: »Das heutige Judentum, und speziell das liberale Judentum, scheint, trotz des Horrors des modernen Totalitarismus, unfähig, die Sünde zu erkennen, wenn sie ihrer ansichtig wird. Es sieht das Böse einzelner übelgesonnener Individuen (oder Nationen), aber es weigert sich, dem Bösen seine ganze und bedrohliche Statur zuzuschreiben. Es zieht vor, sich in die Kleider des Liberalismus des 19. Jahrhunderts zu kleiden, um einer Exekution des zwanzigsten Jahrhunderts beizuwohnen. Die transzendente Hoffnung des Judentums hat sich in einer verständnislosen selbstzufriedenen Euphorie eingenistet.«25 Borowitz, dem man hinsichtlich mancher seiner Äußerungen den Vorwurf von Kristol nicht wird ersparen können, erhebt gegen ihn allerdings dezidierten Widerspruch und beruft sich dabei auf die oben beschriebene subjektive Glaubensentscheidung.26 Das erste Argument von Borowitz gegen Kristols Forderung lautet, dass es aus seiner Sicht besser sei, eine jüdische Theologie nicht wie das Christentum bei der Sünde und der Sündhaftigkeit des Menschen anzusetzen, sondern bei der Möglichkeit und Fähigkeit, ja der Forderung an den Menschen, zu handeln, das Gute zu tun: »Die Entfaltung einer für unsere Gegenwart relevante jüdische Theologie muss sich entscheiden, ob sie mit dem Problem der Sünde oder dem Wert des Gebotes (Mizwa) einsetzen soll. Im einen Fall wird des Menschen stetes Versagen zur Grundlage der religiösen Erfahrung gemacht. Im anderen Fall wer23
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 35–47. 469–479.
24
I. Kristol, How Basic is Basic Judaism?, in: Commentary; Jan 1, 1948, S. 27–34.
25
Kristol, How Basic, S. 33.
26
Borowitz, A New Jewish Theology, S. 56 ff.
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den die Notwendigkeit und die Fähigkeit, Gerechtigkeit zu üben, als das denkerische Anliegen zugrundegelegt, wie sie es früher im Leben waren.«27 Zurecht kann sich Borowitz mit dieser alternativen Prioritätensetzung auf die jüdische Tradition berufen, während Kristol die Position von Paulus einnimmt, der den Juden die Fähigkeit bestreitet, aus eigener Kraft Gerechtigkeit zu üben. Mit diesem Rekurs auf die traditionelle Gebotsfrömmigkeit steuert der liberale Jude allerdings in schwieriges Gewässer, denn auf der einen Seite rühmt er die fast unfassbare Dankbarkeit des Juden, dem Gott seinen Willen kundgetan hat, weshalb die Bibel und die rabbinische Literatur entsprechend weniger an Philosophie als an Darlegungen der Gesetze und Gebote Gottes interessiert seien. Das Problem für den liberalen Juden besteht nun andrerseits darin, dass er mehrfach auf den liberal-jüdischen Grundsatz der individuellen Autonomie des Menschen hinweist, die doch offenbar im Gegensatz zu dem das Leben überziehenden Netz von Geboten in der rabbinischen Tradition steht. Diesem Dilemma suchten laut Borowitz die liberalen Denker zu entkommen indem sie nicht eine Theologie der Gebote entwickelten, sondern wie Borowitz sie nennen möchte, eine Theologie des Bundes, »denn diese beruht auf einer zeitgemäßen Wiederbestätigung des Sinai-Bundes und dessen Erneuerung während der Jahrhunderte unter der prophetischen Führerschaft. Sie versucht, die Konsequenzen zu erforschen und zu verstehen, was es bedeutet, wenn man die Religion als Bundes-Beziehung definiert und beabsichtigt, insbesondere die Art und die Bedeutung des jüdischen Bundes mit Gott zu erklären.«28 Diese Ausweitung der Gebots-Religion auf eine Bundes-Religion erlaubt es Borowitz, das Judentum in »existentialistischen Begriffen« zu verstehen, nämlich dahingehend, dass das Judentum sich nicht nur als ein Kompositum von Vorstellungen (ideas), einer Gottesvorstellung und sogar einer Reihe von Praktiken darstellt, sondern die Religion zugleich das Führen eines Lebens bedeutet, das auf einer Beziehung mit Gott beruht, in welchem das ganze Selbst des Menschen involviert ist.29 Diese Definition des Judentums als Bundesreligion macht es nun möglich, die Quadratur des Kreises zu vollziehen und das individualistische Element dieser Religion mit dem kollektiven zu verbinden, denn »Der Bund wurde nicht zwischen einem einzelnen Juden und Gott geschlossen, sondern zwischen Gott und dem ganzen Haus Israels. Der einzelne Jude hat Teil an der Beziehung seines Volkes mit Gott dank seiner Geburt.« – Natürlich wird an die-
27
Borowitz, A New Jewish Theology, S. 61.
28
Borowitz, A New Jewish Theology, S. 63.
29
Borowitz, A New Jewish Theology, S. 63.
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ser Stelle auch die willentliche Übernahme dieses Bundes in der Konversion vermerkt.30 Des weiteren kann Borowitz mithilfe dieses Bundesgedankens die vor allem in der nach-Emanzipations-Literatur vertretene Auffassung von der Mission Israels an die Völker der Welt mit einbeziehen.31 Mit diesem Missionsgedanken ist auch fast notwendigerweise der andere Glaube verbunden, nämlich dass »Israel glaubt, dass Gott das jüdische Volk durch die gesamte Geschichte bewahren und beschützen wird – wiewohl diese Fürsorge nicht vom Volk als Ganzem auf jede einzelne jüdische Familie oder jedes Individuum übertragen wird, wie die Juden unserer Zeit so bitter erfahren haben. […] der Bund erklärt ihm das große Mysterium, dessen Zeuge und Beteiligter er selbst war – nämlich Israels fortdauerndes Überleben.«32 Aus diesem Wissen, so Borowitz, konnte auch das schwere Leiden die Bande zwischen den Teilen dieses Israel nicht zerreißen. Für das Vertrauen, dass Gott das Überleben Israels sichert und der Bund Gottes mit Israel weiter besteht, wird die Schaffung des Staates Israel als ein bewegendes Zeichen bewertet. Es ist an dieser Stelle, an welcher die vorrationale Glaubensentscheidung von Borowitz ansetzt, die aber zugleich den Eindruck erwecken mag, hier werde das Böse, das in der Schoah einen so schrecklichen Höhepunkt erreichte, nicht in seiner ganzen Tiefe und Erschrecken wahrgenommen wird. Die Entscheidung lautet: »Ich weiß nur, dass für mich, und ich glaube für das gesamte jüdische Volk, der Holocaust niederschmetternd, aber nicht entscheidend war. Er war nicht der Sinai unserer Gegenwart. Er verbrannte uns, er quälte uns, erschreckte uns und tut dies bis auf diesen Tag. Dennoch, seine brutale Obszönität wurde nicht zu unserem Paradigma der Zukunft. Ich konnte nie aufhören, mich darüber zu wundern, im technischen, biblischen Sinn, dass es nach dem Holocaust keinen Massenabfall vom Judentum gegeben hat. Wenn überhaupt etwas, dann dies, dass es in der ganzen Gemeinschaft den Wunsch gab, die jüdische Existenz wiederzugewinnen und wiederzuerrichten.«33 Man darf dies gewiss nicht als Leichtfertigkeit gegenüber der Schoah verstehen, sondern nur als den berechtigten Willen, nicht das Tun der Mörder, sondern das Tun der Juden, ihrer Lehrer und Tradenten durch die Jahrtausende, als bleiben30
Borowitz, A New Jewish Theology, S. 63.
31
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 481. 486–487. 501. 513. 514. 541. 574–577. 648. 656.
32
Borowitz, A New Jewish Theology, S. 64–65.
33
Borowitz, How Can a Jew Speak of Faith Today?, S. 52–53.
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des Paradigma des Judentums festzuhalten. Es ist ein Aufruf, nicht in der Ratlosigkeit über das schreckliche Geschehen zu versinken, sondern aus der alten Tradition neue Kraft zu schöpfen. Und zu dieser Tradition gehört eben auch das Ethnische, die »ethnische Nähe«, welche Borowitz als konstitutives Element seines Religionsverständnisses anerkennt; die Sache mit Israel ist »theopolitical«. An dieser Stelle muss der bewegende Abschnitt aus Borowitzʼ Buch über die Möglichkeit, auch nach der Schoah über Glauben zu sprechen, angeführt werden, der zeigt, wie bis hinein in dieses einst so un-ethnisch denkende liberale Judentum das jüdische Volk und dessen neu gegründeter Staat das Bewusstsein der Juden weltweit prägt. Der Abschnitt handelt vom Beginn und Verlauf des Sechstagekrieges, dessen schreckenerregende Bedeutung schon im Band vier des Jüdischen Denkens angesprochen wurde:34 »Jener Montag-Nachmittag, als der Krieg begann und keine Nachrichten über das Geschehen durchkamen, herrschte schwarze Angst in der gesamten jüdischen Welt. Dies war keine militärische Frage, wer siegen werde. Sie war theologisch. Würde Gott das Volk Israel erneut verlassen und zulassen, dass die Bürger des Staates Israel von ihren arabischen Feinden dahingeschlachtet werden? Wochenlang hörten die Juden von Radio Kairo die Drohungen, die Juden im Staat Israel auszurotten, und sie sahen im Fernsehen wie der Mob dort wie auch in anderen arabischen Hauptstädten in einen frenetischen Hass gegen die Israelis gepeitscht wurde. Die Gefahr war wirklich und nicht übertrieben. Wenn die arabischen Armeen die Israelis zurückdrängen würden, gäbe es ein unglaubliches Massaker, gegen das die westlichen Regierungen nicht rechtzeitig einschreiten würden. Und Gott hatte in diesem Jahrhundert ja schon einmal gezeigt, dass er sich aus der Geschichte zurückziehen konnte, um zuzulassen, dass sein Volk dahingeschlachtet wird. Würde das Judentum einen zweiten Holocaust überleben? Es war darum nicht alleine die israelische Armee, die auf dem Prüfstand stand, sondern allen Ernstes, Gott selbst. Dann kam der Sieg, klar, eindeutig und entscheidend; errungen durch Intelligenz und Fähigkeit, gestärkt durch Moral und Entschlossenheit; unbefleckt von Brutalität, Rachegefühlen, Grausamkeit, Rachsucht. Wir mit unserem verdrehten Verstand kannten die historische Wirklichkeit und setzten die Bibel vielfältig herab. Nun geschah es vor unseren Augen, die Geschichte wurde wieder biblisch. Natürlich war dies eine Erleichterung, eine Hochstimmung, zumindest ein Sieg und was für einer. Damit beginnt erst die Erklärung, denn die Wahrheit ist, dass viele Juden, zu ihrem eigenen Erstaunen die Gegenwart einer transzendenten Wirklichkeit erkannten, die in der Geschichte wirkt, von der sie fast glaubten, sie könne sich da nie mehr bemerk34
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 17. 41. 319. 435. 441. 443–445. 525.
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bar machen. Sie alle kannten die technischen Gründe für den israelischen Erfolg, aber sie wussten alle, dass diese nicht wirklich erklärten, was hier geschehen war. Ohne Soldaten und Generäle, ohne Ausrüstung und Training, wäre nichts geschehen. Was aber geschah, war mehr als sie alleine hätten tun können, und deshalb dankten die Juden natürlich und notwendigerweise Ihm, der Wunder wirkt und sein Volk aus Ägypten befreit. Die Juden sahen Ihn wieder als den, der seines Bundes gedenkt. Ich will nicht sagen, der israelische Sieg bewiese den Juden, dass es Gott gibt. Ich sage nur, dass das, was im Juni passierte die meisten Juden in einer Weise ansprach, wie es zum Beispiel die Sinai-Kampagne von 1956 nicht tat. Für einen Augenblick bekam das enge naturalistische Konzept, durch welches die säkularisierten Menschen alles betrachten, einen Riss, und wir sahen Ihn. Deshalb kann man über die jüdische Hoffnung heute nicht mehr sprechen, wie wir es nach dem Holocaust und vor diesem Krieg getan hätten.«35 Für diesen liberalen Juden sind Religion und nationales irdisches Volk unzertrennbar. Das Geschehen mit diesem Volk, das Geschehen in der Geschichte ist ausschlaggebend für den Gottesglauben, selbst wenn man dazu eine eklektische Geschichtsbetrachtung betreiben muss. Angesichts der beiden so widersprüchlichen Ereignisse wie Schoah und Sechstagekrieg muss die oben genannte Glaubensentscheidung eintreten, welche sich zwischen Verzweiflung und Handlungsoptimismus für die Zukunft zu entscheiden hat.
6.
Was ist der Wille Gottes und was die Tora-Offenbarung?
Nachdem Borowitz die jüdische Religion und den Juden ganz in den Rahmen des Volkes, der Nation, also des Kollektivs, gestellt und so die Rolle und Aufgabe des einzelnen Juden definiert hat, kommt er zu dem eigentlichen liberalen Schibbolet, nämlich zu der Frage, was denn der Wille Gottes sei, den ein Jude zu befolgen hat. Die traditionelle rabbinische Position und die der ihr folgenden Orthodoxie ist klar, nämlich die von der Halacha festgestellten Gebote. Wie steht es in dieser Frage für den liberalen Juden, der die individuelle Autonomie des Menschen auf den Schild gehoben hat. Borowitz erklärt seine Position geschickt am Fest der Toraoffenbarung, dem Schavuʽot-Fest, das am 50. Tag nach Pesach stattfindet, woraus das christliche Pentecoste (griechisch für den 50. Tag) entstand. Dies ist mithin das Fest, bei dem alles zum Schwur kommt, dem Fest an dem laut der Tradition die Tora mit ihren Geboten dem Volk Israel übergeben wurde. Borowitz sagt dazu ganz lapidar:
35
Borowitz, How Can a Jew Speak of Faith Today?, S. 54–56.
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»Schavuʽot feiert Gottes Gabe der Worte der Tora in schriftlicher wie in mündlicher Form, ich kann dies nicht glauben. Bei aller Liebe und allem Respekt, die ich für die jüdische Tradition und ihre – die meine gewöhnlich weit übersteigende – Weisheit, habe, kann ich nicht glauben, dass Gott sich in Worten offenbart.«36 Diese seine schroffe Auffassung begründet Borowitz mit der für ihn zentralen persönlichen Erfahrung, nämlich dass sein Gott, auch wenn sich der Mensch Borowitz Ihm besonders nahe fühlte, niemals Worte gesprochen hat. Und dann folgt das schlechthin zentrale Credo für Borowitzens liberales Judentum: »Nach meiner Auffassung ist die für das liberale Judentum charakteristischste Aussage, dass das Wissen um Gott, das Menschen besitzen können, gänzlich subjektiv ist, eine menschliche Antwort auf Ihn, nicht eine objektive Entgegennahme Seiner Formulierungen durch den Menschen. Es ist diese Begründung der Offenbarung in der menschlichen Person, welche den fundamentalen Liberalismus des modernen Judentums ausmacht, das heißt sein Bemühen die religiöse Wahl-Freiheit zu maximieren und sein Vertrauen in das verantwortungsbewusste Individuum.«37 Borowitz scheint hier ganz auf die Position von Saul Ascher einzuschwenken, der die Möglichkeit einer Offenbarung vollständig vom Glauben des Menschen abhängig macht.38Allerdings begründet Borowitz diese Personabhängigkeit mit der menschlichen Freiheit, die, wie wir sahen, bereits die Grundlage für die Glaubensentscheidung darstellte. Mit alledem wird die Verbindlichkeit der Halacha, wie auch schon der Gebote der Tora abgewiesen, weil eben Gott keine Worte sprach und somit die Gebote so nicht von ihm gesagt wurden. Vielmehr sind die formulierten Gebote der Tora die menschgestaltige Antwort des Menschen auf die wortlose Kommunikation mit der Gottheit. Darum sagt Borowitz: »Als einer, der den Bund als Grundlage seiner Existenz bekennt, anerkenne ich, dass auch ich unter dem Gesetz stehe. Nur ist für mich das Gesetz nicht mit der Schriftlichen oder der Mündlichen Tora der Tradition identisch. Dieses ist vielmehr jene lebendige Disziplin, die aus dem Bewusstsein der direkten Beziehung zu Gott fließt, nicht nur als persönliches Selbst, sondern als ein Glied der Gemeinschaft, mit der er den Bund geschlossen hat. Und obwohl ich nicht zustimmen kann, dass der am Sinai geschlossene Bund zwi36
Borowitz, How Can a Jew Speak of Faith Today?, S. 61.
37
Borowitz, How Can a Jew Speak of Faith Today?, S. 62.
38
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 425–427.
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schen Gott und Israel damals in festen und unveränderlichen, VertragsBedingungen (mitsamt den Prinzipien zu deren Erweiterung und Ausarbeitung über Generationen) geschlossen wurde, weiß ich doch, dass eine Beziehung nur dann von Bedeutung ist, wenn sie in Taten resultiert, weil ein Bund ohne Verantwortung und ein Glaube ohne Werke bedeutungslos ist.«39 Dennoch aber feiert Borowitz das Schavuʽot-Fest. Nicht weil er glaubte, dies sei die Erinnerung an ein wirkliches historisches Geschehen – denn was die Tradition und die Bibel erzählen ist außerhalb historischer Kategorien. – Borowitz verweist in diesem Zusammenhang als Pendant eigens auf die Entmythologisierung der Auferstehung Jesu durch den evangelischen Theologen Rudolf Bultmann.40 Das Schavuʽot-Fest feiert Borowitz deshalb nicht als Fest der Tora, sondern als Fest der Bundeserneuerung. Dieses Fest feiert er als Wiederholung und erneute Bekräftigung des Bundesverhältnisses des Volkes Israel mit seinem Gott, eines Bundes, an dem der Einzelne als Mitglied dieses Volkes teilhat. Und um die Bedeutung dieser Bundesbeziehung in seiner konkreten Auswirkung nochmals zu unterstreichen, stellt Borowitz fest, dass er den Bund (Brit) nicht wie die rabbinische Tradition in gesetzlichen, sondern in persönlichen Kategorien deutet. Er sieht sich folglich mit den anderen jüdischen Richtungen in der Feier des Bundes vereint, aber in der Deutung dieses Bundes als Beziehungskategorie getrennt. Die Feier des Schavuʽot-Festes hat für Borowitz, wie alle übrigen Gebote, die er noch für sinnvoll erachtet, einen anderen Wert als den der Gehorsamsbezeugung gegenüber Gott. Borowitz schwenkt hier eher in die seit dem Mittelalter übliche und im 19. Jahrhundert wieder verstärkt eingesetzte Tradition der Taʽame ha-Mizwot ein.41 Das heißt er sucht die noch einzuhaltenden Gebote durch rationale Argumente zu erklären und sie so als sinnvoll erscheinen zu lassen. Natürlich greift er hier gegenüber den früheren Deutungen zu neueren Einsichten, welche gerade mit dem persönlichen Erleben des Menschen zu tun haben. Er verweist auf die Liturgie und das Ritual als einer eigenständigen kreativen Sprache, die nicht einfach ein primitives Substitut für philosophische, soziologische oder bewusstseinstheologische Sprechweisen darstellt. Deren Wirkung kann nicht eigentlich erklärt und begründet werden, sondern bestätigt sich alleine im Erleben. Um dies zu erläutern, greift Borowitz auf die urliberale Einführung der Konfirmation zurück, die noch in seinen Tagen das Zentrum der SchavuʽotFeierlichkeiten ausmacht, die zeigt, dass mit ihr eine neue Begehungsform geschaffen wurde, welche den Bedürfnissen der Zeit entsprach und noch entspricht. 39
Borowitz, How Can a Jew Speak of Faith Today?, S. 67.
40
Borowitz, How Can a Jew Speak of Faith Today?, S. 71.
41
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 394; Bd. 2. 23. 471. 472. 597. 604. 611.
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Für die jungen Menschen, die ja schon durch Geburt Mitglieder des Bundes sind, wird in dieser kollektiven Feier eine bewusste Übernahme und Bestätigung des Bundes mit Gott vollzogen, die in ihrer Bedeutung nicht wirklich rational erklärt, sondern in ihrer vollen Tiefe nur erlebt werden kann.
7.
Die Rolle der jüdischen Theologie
Abschließend muss noch ein Wort zum Unternehmen einer jüdischen Theologie angefügt werden. Das Jungfernwerk jüdisch-liberaler Theologie war der 1910 in Leipzig erschienene Grundriss einer systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher Grundlage des aus Fürth stammenden, damals aber schon als Rektor des Hebrew Union College amtierenden Kaufmann Kohler (1843–1926), die 1918 als Jewish Theology, Systematically and Historically Considered in ihrer amerikanischen Fassung erschienen war. Eine solche in diesem Titel sich ausdrückende Sicherheit, die Essenz des Judentums in einer für die Moderne gültigen Form darstellen zu können, kann Borowitz für seine Gegenwart nicht mehr haben. Er glaubt nicht einmal, dass es möglich sei, eine mehr subjektive Note hereinzubringen und nur von »einer jüdischen Theologie« zu sprechen. Das einzige, was er für seine Zeit als möglich erachtet, ist, jüdische Theologie zu leben und sich in der theoretischen Darstellung auf Einzelthemen zu beschränken, ohne die Absicht, sie in den Gesamtrahmen einer jüdischen Theologie einzuordnen. Deshalb sieht er sich außerstande solche Gesamtkonzeptionen vorzutragen wie sie Leo Baeck in seinem Das Wesen des Judentums, Mordecai Kaplan in Judaism as a Civilization vorlegten, was sein übriges Werk prägt – außer seinem Versuch einer Gesamtdarstellung unter dem Titel Liberal Judaism, der aber bewusst eine Darstellung von Entwicklungen und differierender Meinungen und kein System sein will – und seinem Renewing the Covenant: A Theology for the Postmodern Jew, Philadelphia 1991.
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IV. JUDENTUM ALS ZIVILISATION – DIE FRAGE NACH DEM WESEN DES JUDENTUMS UND DESSEN »REKONSTRUKTION« MORDECAI M. KAPLAN (1881–1983) 1.
Vorbemerkung – das Problem des Judentums nach Aufklärung und Emanzipation
Die Entwicklung des jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert war durch die großen geschichtlichen und demographischen Umwälzungen dieses Jahrhunderts bestimmt. Da ist zum einen der Erfolg des Zionismus, der nach der Balfour Declaration (1917) die palästinische Heimstätte der Juden konsolidieren und 1948 schließlich zum krönenden Erfolg der Begründung des Staates Israel führen konnte. Auf der anderen Seite steht der zunehmende Antisemitismus in Europa, der vermehrte jüdische Wanderungs- oder richtiger Fluchtbewegungen verursachte, vor allem nach Amerika und auch nach Palästina/Israel, und schließlich die große Katastrophe des europäischen Judentums, die Schoah. Letzteres war wohl der hauptsächliche Grund dafür, dass die im 19. Jahrhundert in Europa beginnenden geistigen und sozialen Binnendifferenzierungen des Judentums hier keine Zeit mehr fanden, sich zu den heute allgemein wahrgenommenen innerjüdischen Konfessionen zu entwickeln. Diesen Part übernahm nun zunehmend das neue jüdische Sammelbecken der USA, wo die aus der alten Welt mitgebrachten Neuanfänge sich voranschreitend zu eigenen jüdischen Konfessionen oder zumindest Richtungen entwickelten, die nun erst in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts von dort wieder nach Europa importiert werden. Hinzu kommt die Entwicklung in Palästina und hernach im Staat Israel, wo sich zunächst eine ausgesprochen säkulare Weltanschauung durchsetzte, welche die dort vorhandenen altgläubigen, orthodoxen Juden, zunächst als Traditionselement der eigenen Vergangenheit, neben sich duldete oder verehrte. Es waren dann die politisch bedingten zionistischen Bestrebungen – unter Ben Gurion –, die dem orthodoxen Judentum ein Monopol im Staat zubilligten, aus dem schließlich, vor allem nach dem Sechstagekrieg von 1967, eine neue nationalreligiöse Bewegung hervorwuchs. Es ist diese in früheren Jahrhunderten so nicht gekannte, nun auch sozial spürbare innere Differenzierung des Judentums, welche mehr und mehr die Frage brennend werden ließ, was denn angesichts all dieser divergierenden Richtungen das verbindende Band sei, das es gerechtfertigt erscheinen ließ, noch von dem Judentum zu sprechen oder es möglich erscheinen ließ, diese verschiedenen Judentümer noch zu einem gemeinsamen Handeln und Denken zu bewegen. In © Campus Verlag
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Mordecai M. Kaplan
den USA war es vor allem Mordecai Menachem Kaplan, der diese Fragen bewusst machte und versuchte, daraus ideologische Folgerungen zu ziehen. Kaplan war es, der die aus seiner Sicht bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts denkerisch und formal deutlich unterscheidbaren Richtungen als klar definierbare jüdische Konfessionen benennt, wo vorher nur einseitige Selbstdefinitionen einzelner Gruppen gestanden haben mögen. Kaplan gebührt daher ein besonderes Augenmerk, weil bei ihm die entstandenen Binnendifferenzierungen klar und deutlich ins Bewusstsein erhoben und als solche beschrieben wurden, wiewohl die aus seinem Denken hervorgegangenen Reconstructionists eher eine Minderheitenbewegung blieben.
2.
Kaplans Buch Judaism as A Civilization – Ein Vorschlag zur Rekonstruktion des Judentums
2.1
Das Neue an Kaplan – ein Schlaglicht
Mordecai Kaplan, der geistige Vater und Begründer des ab 1922 entstehenden jüdischen Reconstructionist Movement, schlug mit dem ihm eigenen »jüdischen Denken« eine völlig neue Seite in der langen Geschichte dieser Disziplin auf. Abweichend von fast allem, was in den bisherigen Bänden des Jüdischen Denkens vorgestellt wurde, hat Kaplan nicht das jüdische Denken, das heißt die bisher erörterten Kernfragen jüdischer Theologie und Philosophie neu erörtert und durchdacht, sondern er hat die grundsätzlich neue Frage nach dem Was des Judentums gestellt. War bisher die jüdische Religion selbstverständlich als das Wesen und Eigentliche des Judentums betrachtet worden, fasst Kaplan erheblich weiter und sucht nach einer Bestimmung von Judentum, in welchem die Religion nur noch eine unter durchaus vielfältigen und andersartigen Ausdrucksweisen des Phänomens Judentum darstellt, wenn Kaplan auch der Religion eine durchaus zentrale Rolle zuweist. Gewiss, diese von der Religion als Zentrum wegführende Wendung in der Definition des Jüdischen wurde schon durch die Bewegung der Ḥoveve Zijon, der osteuropäischen Zionsfreunde, und den national denkenden Zionismus insgesamt vorbereitet, der im vierten Band des Jüdischen Denkens dargestellt wurde. Zentrale Bedeutung dieses zionistischen Denkens hatte für Kaplan, zugestandenermaßen,1 vor allem der von Achad Haam konzipierte Kulturzionismus,2 der unter Judentum die Kultur des jüdischen Volkes in ihrem weitesten Sinn verstand und die Aufgabe des Zionismus darin sah, eine 1
Vgl. Preface von Judaism as a Civilization, S. XIV (Erstausgabe, S. XII).
2
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 175–213; u. s. Steven J. Zipperstein, »On Reading Ahad Ha’am as Mordecai Kaplan Read Him«, Jewish Social Studies: History, Culture, Society n. s. 12, no. 2 (Winter 2006), pp. 30–38.
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Kulturerneuerung des Judentums zu erarbeiten und zwar für die beiden bestehenden geographischen Pole des jüdischen Volkes, des wiedergewonnenen Mutterlandes im damaligen Palästina und der weiterhin fortbestehenden Diaspora. Der wesentliche Unterschied zwischen Kaplan und Achad Haam bestand allerdings darin, dass Letzterer in der Religion ein jüdisches Kulturerzeugnis sah, auf das man nach der Aufklärung und angesichts des modernen westlichen Denkens neben den übrigen jüdischen Kulturerzeugnissen ganz verzichten könne. Für Kaplan war hingegen die Religion nicht einfach verzichtbar – was bei einem ausgebildeten und zeitweilig auch amtierenden Rabbiner, der auf Einladung des Direktors des noch jungen Jewish Theological Seminary, Solomon Schechter, Begründer des dortigen »Teachers Institute« und später zugleich Professors für rabbinische Homiletik geworden war, nicht verwunderlich ist. Für Kaplan sollte die Religion einen zentralen Stellenwert in der jüdischen Kultur behalten, aber sie musste neu definiert, neu verstanden werden und dies nicht zuletzt wegen des verbreiteten Agnostizismus unter den Juden, sondern vor allem wegen der auch von ihm gesehenen definitiven Unmöglichkeit eines Glaubens an einen transzendenten Gott angesichts der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Das Judentum, mitsamt seiner Religion, sollte nunmehr gemäß dem Titel von seinem erst in vorgerücktem Alter entstandenen Hauptwerkes3 als Zivilisation, das heißt als umfassende Lebenskultur des Judentums begriffen und rekonstruiert werden.
2.2
Biographisches
Mordecai Menachem Kaplan wurde 1881 in Swenziany in der Nähe des litauischen Wilna in eine strikt traditionelle Familie geboren.4 Der Vater Israel studierte an mehreren Jeschivot, darunter der von Woloschyn,5 wo er seine rabbinische Ordination erhielt. 1888 emigrierte der Vater Israel nach New York, wo er zunächst am rabbinischen Gericht der Stadt tätig und nach einem Jahr Maschgi-
3
M. M. Kaplan, Judaism as a Civilization. Toward a Reconstruction of American-Jewish Life,
4
Ich folge hier im Wesentlichen M. Scult, Mordecai M. Kaplan: His Life, in: E. S. Goldsmith &
New York 1934: Hier zitiert nach der seitenspiegelgleichen Ausgabe New York-London 1957. M. Scult (Hgg.), Dynamic Judaism. The Essential Writings of Mordecai M. Kaplan, New York1985 (hier ausführliche Bibliographie); u. R. Libowitz, Mordecai M. Kaplan and the Development of Reconstructionism, NY & Toronto1983; M. Scult, The Radical American Judaism of Mordecai M. Kaplan, Bloomington 2014; E.S. Goldsmith, M. Scult, R. M. Seltzer, The American Judaism of Mordecai M. Kaplan, NY 1990; M. Scult, Judaism Faces the Twentieth Century: A Biography of Mordecai M. Kaplan Detroit 1993; M. Scult (Hg.), Communings of the Spirit: The Journals of Mordecai M. Kaplan, 1913–1934, Detroit 2001; M. Scult, Judaism Faces the Twentieth Century- A Biography of Mordecai M. Kaplan, Detroit 1993. 5
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 313–342.
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ach, rabbinischer Kontrolleur an verschiedenen Schlachthöfen, wurde, während die Frau mit den zwei Kindern, nach einem einjährigen Parisaufenthalt schließlich 1889 nachzog und in der legendären Lower East Side Wohnung nahm. Zunächst lernte Mordecai bei seinem Vater sowie an einer Jeschiva Rabbinica und besuchte schließlich auch eine öffentliche Schule. Noch vor seiner Bar-Mizwa wurde er am 1887 gegründeten Jewish Theological Seminary, New York, das ein zwar konservatives aber dennoch historisch-kritisches und vielseitiges Curriculum anbot, als Student zugelassen und graduierte dort 1902. Gleichzeitig studierte er an der klassischen Abteilung des New Yorker City College bis zum B.A. und schließlich an der Columbia University zum M.A. – hier vor allem Philosophie und Soziologie. Von 1903–1909 amtierte er – da noch ohne rabbinische Ordination und trotz seiner inneren religiösen Zweifel – als »minister«, das heißt Geistlicher in der orthodoxen Gemeinde Kehillat Jeshurun, was von Seiten orthodoxer Rabbiner heftig kritisiert wurde. Wegen seiner Selbstzweifel auf der Suche nach einem anderen, nicht rabbinischen, Berufsziel, bot ihm der gerade neu ernannte Rektor des Seminary an, das eben erst gegründete Teachers Institute am Seminar zu leiten, was Kaplan bis zu seiner Emeritierung in den 1960iger Jahren tat. Daneben engagierte sich Kaplan in der Organisation der jüdischen Gemeinden New Yorks, im Y.M.H.A (Young Menʼs Hebrew Association – ein jüdisches Pendant zum christlichen CVJM/YMCA), in der School for Jewish Communal Work und weiteren jüdischen Organisationen, die sich jüdische Erziehung zum Ziel gesetzt hatten. Ab 1915 publizierte er eine Reihe von Aufsätzen, in denen er die Auffassung vertrat, dass Religion und insbesondere das Judentum am ehesten mit Hilfe der neuen Wissenschaften, insbesondere der Soziologie zu verstehen wäre – dies im Verein mit Kaplans klarem Bekenntnis zu den historisch-kritischen Ergebnissen der modernen Bibelwissenschaft. Trotz dieser in den Augen der Orthodoxie fast häretischen Ansichten, wies Kaplan – worauf unten noch näher einzugehen sein wird – die Deutungen des Judentums durch das Reform-Judentum zurück, wohingegen er seit frühester Jugend und bis zu seinem Tode eine starke Bindung zum Zionismus hatte. Von 1915–1921 amtete er zugleich als Rabbiner an einem seinen Ideen entsprechenden Jewish Center, das neben einer Synagoge auch alle damals gebräuchlichen Freizeitangebote bereit hielt – »a shul with a pool«, wie es ein sehr griffiger Buchtitel formulierte.6 Am Jewish Theological Seminary wurde Kaplan alsbald auch zum Professor für Homiletik und Midrasch ernannt und unterrichtete als solcher bis 1963. 1920–21 gründete er zusammen mit Gleichgesinnten eine allerdings kurzlebige Society for Jewish Renascence, weil die Gesinnungsgenossen sich doch von dem Neuerungswillen Kaplans überfordert sahen. Sein 1920 veröffentlichter Aufsatz »A 6
D. Kaufman, Shul with a Pool: The »synagogue-center« in American Jewish History, Hanover 1999.
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Program for the Reconstruction of Judaism«7 fand auch bei einem Teil der Mitglieder des Jewish Center so heftigen Widerspruch, dass sich Kaplan mit einigen verbliebenen Gesinnungsgenossen von diesem trennte. Mit ihnen zusammen gründete er 1922 die Society for the Advancement of Judaism, die mehr seinen Ideen entsprach, so dass er hier auch die erste Bat-Mizwa Feier in Amerika für seine Tochter feiern konnte. All das führte zugleich zu heftigen Auseinandersetzungen an dem konservativen Seminary. Erst im relativ fortgeschrittenen Alter von 52 Jahren machte er sich 1933 daran, ein erstes Buch zu schreiben, das er als Rozenwald-Preisschrift (1931) verfasste8 und schließlich 1934 – in seinem 53. Lebensjahr – unter dem programmatischen Titel Judaism as a Civilization publizierte. In ihm fasste er seine bis dahin in Reden und Aufsätzen verbreiteten Ideen zusammen. – Zur weiteren Entwicklung bis zum Entstehen des Reconstructionist Movement siehe oben bei der Darstellung dieser Bewegung.9 Vor und nach der Emeritierung folgten weitere Bücher: Judaism in Transition (1936), The Meaning of God in Modern Jewish Religion (1937), Basic Values in Jewish Religion (1948), Guide to Jewish Ritual (1941), The Future of the American Jew (1948), Know how to answer (1951), A New Zionism (1955), Judaism Without Supernaturalism (1958), The Greater Judaism in the Making (1960), The Purpose and Meaning of Jewish Existence (1964), Not so Random Thoughts (1966), The Religion of Ethical Nationhood (1970).10 1983 starb Kaplan im Alter von 102 Jahren.
2.3
Die Aufgabe
Die hier vorangestellte vergleichsweise detaillierte biographische Notiz zu Mordecai Kaplan zählt nicht von ungefähr die zahlreichen außerakademischen gesellschaftlichen Aktivitäten dieses Mannes auf. Sie bilden gleichsam das Fundament seines gesamten Denkens. Kaplan denkt von der Gesellschaft her, insbesondere von der jüdischen und deren Situation, vornehmlich der amerikanischen aber auch darüber hinaus. Natürlich hat dies auch mit seiner akademischen Aus-
7
M. M. Kaplan, A Program for the Reconstruction of Judaism, in: Menorah Journal 6 (August
8
Siehe R. Libowitz, Mordecai M. Kaplan and the Development of Reconstructionism, S. 133–
9
Jüdisches Denken Bd. 5, Teil II, Kap. Die jüdischen Denominationen, Nr. 6.
10
Weiteres in: G. D. Cohen (Hg.), Mordecai M. Kaplan Jubilee Volume, New York, S. 9–33; u.
1920), S. 181–196. 136.
E. S. Goldsmith & M. Scult (Hgg.), Dynamic Judaism. The Essential Writings of Mordecai M. Kaplan, New York1985 (hier ausführliche Bibliographie), S. 244–246.
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bildung zu tun. Zu Recht wird in der Literatur11 auf die Einflüsse von einer Reihe von Denkern der Zeit auf den jungen Kaplan hingewiesen, voran den Religionssoziologen Emile Durkheim (1858–1917),12 den Philosophen und Psychologen/Religionswissenschaftler William James (1842–1910),13 den Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859–1952),14 den Dichter und Kulturkritiker Mathew Arnold (1822–1888)15 und natürlich den schon genannten Achad Haam. Hinzu kommt der in Kaplans Elternhaus verkehrende Bibelwissenschaftler Arnold B. Ehrlich (1848–1919), dessen Bücher Mikra ki-Fschuto (Der Wortsinn der Bibel, 1899–1901)16 und Randglossen zur hebräischen Bibel (1908–1914),17 Kaplan mit der modernen Bibelwissenschaft bekannt machten, was für den Denker Mordecai Kaplan zu einer grundlegenden Voraussetzung wurde. Es sind die Augen des Soziologen, Psychologen und kritischen Bibelwissenschaftlers nicht die des Theologen, mit denen er auf das Judentum seiner Zeit blickt. Mit diesen Augen nimmt er zunächst die Realität in den Blick, die soziologisch messbare Realität des Verlustes an Kohäsionskraft des Judentums, der das jüdische Leben seiner Gegenwart bestimmte. Gegen diese für einen im aktiven Gemeindeleben stehenden Mann fatalen Erosionserscheinungen setzt Kaplan nun aber nicht die gewöhnlichen Mittel des Theologen ein, nicht die Verkündigung, nicht die Präskription religiöser Verhaltensweisen und neuer theologischer Philosophien, sondern er geht den Weg der Deskription, der Wahrnehmung der soziologischen und mentalen Wirklichkeit. Die Erkenntnis dieser Wirklichkeit führt ihn sodann aber nicht – wie er dies etwa der sogenannten Neoorthodoxie vom Schlage eines Samson Raphael Hirsch18 vorwirft – dazu, diese vorgefundene Realität durch Mahnung und Steuerung zurück zu dem von der geglaubten Offenbarung vorgeschriebenen Ideal hinzuführen. Er geht den umgekehrten Weg. Er will die Ideale der geglaubten Offenbarung, der Tora-Tradition, der sozialen und mentalen Wirklichkeit anpassen, denn er ist der Überzeugung, dass nur eine dieser moder-
11
Vgl. R. Libowitz, Mordecai M. Kaplan and the Development of Reconstructionism, S. 17–53.
12
Grundlegend war dessen Buch Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1912, dt. Die
13
The Varieties of Religious Experience, New York 1904, dt. Die Vielfalt religiöser Erfahrung
14
J. Dewey, How we think, Boston 1910; The School and Society, Chicago 1915; Reconstruc-
15
M. Arnold, Literature and Dogma. An Essay towards a Better Apprehension of the Bible
elementaren Formen religiösen Lebens, Frankfurt a.M.1981/84. Frankfurt a.M. 1979/1997. tion in Philosophy, New York 1920. (1873); God and the Bible. A Review of Objections to »Literature and Dogma« (1875); Last Essays on Church and Religion (1877). 16
Arnold B. Ehrlich, Mikra ki-Fschuto, Leipzig 1899–1901.
17
Arnold B. Ehrlich, Randglossen zur hebräischen Bibel, Leipzig 1908–1914, 4 Bde.
18
Zu ihm siehe Jüdisches Denken Bd. 3, S. 496–537.
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nen Wirklichkeit adäquate Auffassung vom Judentum dessen Zukunft als aktive und kreative Macht sichern könne. Es entspricht dieser Grundeinsicht, dass das Fundament der Aufgabenstellung eine gründliche Analyse der gegenwärtigen Situation, des gegenwärtigen sozialen und mentalen Zustandes des Judentums oder vielmehr der jüdischen Menschen sein müsse. Dieser Einsicht folgt denn auch sein opus magnum. Bevor dieses Buch Folgerungen für die Besserung des Zustandes des zeitgenössischen Judentums erörtert, schreitet es zu einer Analyse der Gegenwart und deren Ursachen in den vorangegangenen zweihundert Jahren, sodann lässt es die von verschiedenen Richtungen des modernen Judentums eingeschlagenen Wege und Lösungsversuche Revue passieren. Erst nach dieser vorangehenden Bilanz der Zustände des Judentums schreitet das Buch zu seinen eigenen Folgerungen, zu denen schließlich die Neudeutungen der zentralen Konzepte des Judentums gehören: Was ist das Judentum, welche Bedeutung hat das »Land Israel«, was ist das Wesen von Religion, was bedeutet Gott und was die Tora mit ihren Geboten. Manche seiner Analysen und Folgerungen hat Kaplan später modifiziert, wie er dies selbst schon im, »Forword« zur dritten Auflage von 1956 andeutete, weshalb er das Buch eigentlich nicht unverändert hinausgehen lassen wollte. Aber hier soll zunächst die ursprüngliche Position von 1933/34 wiedergegeben werden, welche die klassische Neusetzung seiner Sicht des Judentums erstmals umfassend vortrug. Spätere Modifikationen sollen dann, wo dies erhellend oder symptomatisch erscheint, vermerkt werden.
3.
Die Analyse der Krise des Judentums
Das erste Kapitel von Judaism as a Civilization, das den Titel »The Present Crisis in Judaism« trägt, beschreibt zunächst das, was Kaplan als die Hauptursache dieser Krise betrachtete, nämlich den Verlust der traditionellen Kohäsionskraft des Judentums durch ein verändertes Menschenbild seit der Aufklärung, das im Wesentlichen durch den Verlust der Transzendenz geprägt ist, das heißt durch den Verlust des Glaubens an einen transzendenten Gott und eine jenseitige Erlösung des Menschen. Nachdem er im ersten Kapitel die entstandene Verlust-Situation beschrieben hat, fragt Kaplan nach den Faktoren, die in dieser neuen mentalen und sozialen Situation als Kräfte der Desintegration oder Zersetzung des Judentums wirken, um sodann nach noch vorhandenen Kräften der Konservierung des Zusammenhalts zu suchen, also nach Gründen, welche einer möglichen Auflösung des Judentums entgegenstehen. Dies soll im Folgenden entsprechend nachgezeichnet werden.
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3.1
Die Ursachen der Krise – der Verlust der Transzendenz und ein neues Menschenbild
Das eigentliche Problem des zeitgenössischen Judentums sieht Kaplan, wie gesagt, im Verlust der Kohäsionskraft des Judentums, und das heißt dessen mangelnde Attraktivität vor allem bei den modernen und fortschrittlich denkenden Menschen. Fast aphoristisch eröffnet er dieses Kapitel mit dem Satz: »Vor dem neunzehnten Jahrhundert betrachteten alle Juden ihr Judentum als Privileg; seit dieser Zeit aber halten es die meisten Juden für eine Last.«19 Dieser Glaube der Juden an ihre Privilegierung und des Stolzes darauf, Jude zu sein, hatte Bestand, obwohl sie während der vielen Jahrhunderte vor dem neunzehnten unsägliche Leiden, Verfolgungen, Diskriminierungen und Benachteiligungen erdulden mussten. Trotz all dieser offensichtlichen Nachteile sprachen die Juden, so Kaplan, täglich den Segen: »Gesegnet seist du Herr, unser Gott, König der Welt, dass du mich nicht zu einem Nichtjuden gemacht hast.«20 Für diesen angesichts der unterprivilegierten Situation der Juden recht eigentlich verwunderlichen Stolz der Juden führt Kaplan eine kleine Szene aus Salomon Maimons Autobiographie an: Als der junge Salomon über den herrlichen Reichtum und die Schönheit der jungen Fürstin Radziwiłł erstaunt war, raunte ihm sein Großvater zu: »Närrchen! In jener Welt wird die Duksel bei uns die Pezsure heizen, d.h., im zukünftigen Leben wird die Fürstin bei uns den Ofen heizen.«21 Hinter diesen Worten verbirgt sich, so Kaplan, das bis zum 19. Jahrhundert noch gültige, aber seit der Aufklärung zusammenbrechende allgemein europäische – von Juden, Christen und Muslimen geteilte – Menschenbild, nach dem das Leben in dieser Welt nur der Korridor für das eigentliche Leben des Menschen in jener, der jenseitigen Welt sei. Das Heil und damit die Erfüllung des Menschseins erwarteten alle drei Religionen vom Eingang des Menschen in die Transzendenz nach dessen irdischem Leben: »Vor der Aufklärung galt die Hauptsorge der Menschen ihrem Ergehen im jenseitigen Leben. Erlösung (salvation) bedeutete ihnen die Erfüllung ihres Schicksals im Leben jenseits des Grabes. Männer wie Frauen waren mit ihrem Leben, mit der irdischen Ordnung und der menschlichen Natur in einem Maße unzufrieden, dass sie keine Hoffnung hatten, Erlösung (salvation) in dieser Welt zu erlangen. […] Kein Wunder also, dass die Juden, die noch mehr Grund hatten mit ihrem Leben in dieser Welt unzufrieden zu sein als
19
Judaism as a Civilization, S. 3.
20
Siddur Safa Berura, S. 5; Judaism as a Civilization, S. 4.
21
Salomon Maimons Lebensgeschichte, hg. J. Fromer, München 1911, S. 90; Judaism as a Civilization, S. 14.
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die übrige Menschheit, dass sie also ihre ganzen Gedanken auf ihr Schicksal im Jenseits ausgerichtet hatten. Die Aussicht in der kommenden Welt Glückseligkeit zu erlangen, worin die jüdische Erlösungs-Konzeption bestand, entsprach mithin der in der jüdischen Umwelt vorherrschenden Erlösungsvorstellung.«22 In einer Vorstellungswelt, in der die Jenseitshoffnung der zentrale Motor zum Erwerb der Glückseligkeit war, musste es entscheidend sein, zu derjenigen Gemeinschaft zu gehören, welche die Garantie für den Zugang zu diesem Glück versicherte. Dies galt demnach aus Sicht der Christen für die Kirche, aus Sicht der Muslime für die Zugehörigkeit zur islamischen Umma und aus Sicht des Juden für die Zugehörigkeit zum »auserwählten Volk Israel«. Für die Juden erschien ihr Glaube an die eigene Auserwähltheit umso mehr berechtigt, als die beiden anderen Religionen die jüdische Tora als die ältere Offenbarung ausdrücklich anerkannten. Dieser Jenseits-Glaube war mithin, so Kaplan, die ausschlaggebende Bindekraft, welche das Judentum auf den einzelnen Juden ausübte. »So trug also der Jenseitsglaube die Solidarität innerhalb des jüdischen Volkes.«23 Mit der Aufklärung – Kaplan nennt John Locke, die Deisten, Rousseau, Voltaire und die Enzyklopädisten und dann vor allen Lessings Ringparabel und Mendelssohns Jerusalem24 – habe sich das Blatt gewendet und eine neue Vorstellung von Erlösung (salvation) Raum gegriffen, die auf die menschliche Erfahrung und Vernunft gegründet wurde. Dies bedeutete natürlich eine Universalisierung des Erlösungsbegriffes und damit eine Relativierung der religiösen Erwählungs- und ausschließlichen Heilsansprüche der einzelnen Religionsgemeinschaften. Die neue Vorstellung von menschlicher Erlösung und Heilserwerb seien seit der Aufklärung vom Jenseits abgekoppelt worden, hätten sich auf das irdische Diesseits gerichtet und somit einen neuen Erlösungsbegriff entstehen lassen: »Die Ableugnung der traditionellen Annahmen hinsichtlich der Natur und der Wege zum Heil bahnte den Weg dazu, was man gemeinhin ›Aufklärung‹ nennt, welche die Erlösung des Menschen mit dessen Selbstverwirklichung in dieser Welt gleichsetzte.«25
22
Judaism as a Civilization, S. 6.
23
Judaism as a Civilization, S. 10.
24
Zu Mendelssohn siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 380–416.
25
Judaism as a Civilization, S. 12.
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Wie immer man diese Deutung der Aufklärung durch Kaplan – etwa hinsichtlich Mendelssohns – beurteilen mag, in ihr liegt der zentrale Wendepunkt seines Denkens, das natürlich seine orthodoxen Widersacher zum Widerspruch reizen musste. Erlösung (salvation) heißt für Kaplan nunmehr die innerweltliche »Selbstverwirklichung« des Menschen auf dieser Erde.26 In ihrer doppelten Funktion als individuelle und kollektive Erlösung erläutert er seinen neuen Erlösungsbegriff einmal in seinem The Meaning of God wie folgt: Für die individuelle Erlösung: »Wenn immer unser Denken in einer solchen Weise funktioniert, dass wir fühlen, alle unsere Kräfte sind in die Erreichung der erwünschten Ziele aktiv eingespannt, dann haben wir die persönliche Erlösung (salvation) erlangt.«27 Und für die kollektive Erlösung: »In ihrem sozialen Aspekt bedeutet Erlösung (salvation) die endgültige Erlangung einer sozialen Ordnung, in der alle Menschen im Verfolgen gemeinsamer Ziele in einer Weise zusammenarbeiten, die jedem Einzelnen das Maximum an Möglichkeiten zur kreativen Selbstverwirklichung verschafft.«28 Es ist diese Neuformulierung des Menschenbildes, seine Abkoppelung von der jenseitigen Erfüllung, und seine Konzentration auf das irdische Diesseits, welche die unvermeidliche Grundursache der gegenwärtigen Misere des Judentums darstelle. Denn wo die Selbstverwirklichung (die Erlösung, salvation) des Menschen hier auf Erden stattfinden muss, bedeutet dies für den Juden, dass dafür seine Bindung an das Judentum als Heilsanstalt für eine jenseitige Erlösung geringer, niedrigrangiger wird, hingegen die wirtschaftlichen, künstlerischen und vor allem die sozialen Faktoren als Heilsmittel, als Mittel menschlicher Selbstverwirklichung, bedeutsamer wurden. Und was noch gravierender ist, die sozialen Bedingungen, die zu dieser Selbstverwirklichung vonnöten sind, werden laut dieser Analyse naturgemäß und in erster Linie durch die wirtschaftlich und kulturell dominierende Mehrheitskultur bereitgestellt. Und das bedeutet: »Nun, da die Glorie der göttlichen Erwählung von seinem Volk gewichen und seine jüdische Herkunft nichts als ökonomische Nachteile und gesell-
26
Zur Frage des menschlichen Glücks nach jüdischen Vorstellungen s. K. E. Grözinger, Glück im Judentum. Menschenbild als Ebenbild Gottes, in: D. Thomä, C. Henning, O. MitscherlichSchönherr (Hg.), Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart-Weimar 2011, S. 346–350.
27
The Meaning of God, S. 53.
28
The Meaning of God, S. 53–54.
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schaftliche Minderwertigkeit mit sich bringt, beginnt der Jude gegen sein Schicksal zu rebellieren. Dies ist die grundlegende Ursache für seine Einstellung gegenüber dem Judentum. Es ist jedoch nicht nur so, dass das Judentum als Weltanschauung oder Lebensweise in Gefahr ist, ausgelöscht zu werden, sondern dass der Jude, weil er sein traditionelles Konzept von Erlösung verloren hat, moralisch und geistig schlecht [für dieses Leben] vorbereitet ist. Er muss als Jude irgendeinen neuen Lebenszweck finden, ein Ziel, das seine Energien zu solcher Kreativität führt, die ihm einen geistigen Ausgleich (redemption) verschafft. Dieses Ziel wird sodann seine Erlösung (salvation) sein. Nur dann kann er sich freudig mit einem jüdischen Leben identifizieren.«29 Dieses Ergebnis, die Konstatierung des Verlustes der einst wirksamen Bindekraft des Judentums, die in früheren Jahrhunderten selbst für den in dieser Welt benachteiligten Juden wirksam war, führt Kaplan allerdings nicht dazu, nun gegen die mentale und soziale Wirklichkeit seiner Gegenwart zu protestieren, um die alten theologischen Topoi der Erlösung und Erwählung zu re-installieren.30 Im Gegenteil, er ist der Auffassung, dass der altjüdische Erwählungsglaube nicht mehr der modernen Wirklichkeit, nicht mehr dem neuen Menschenbild und nicht mehr der einzig akzeptablen innerweltlichen Erlösungshoffnung entspricht und dass er deshalb aufgegeben werden müsse und neue Deutungen und Konzepte an seine Stelle zu setzen seien. Trotz dieser ernüchternden Bestandsaufnahme sieht er jedoch, und weiß dies aus seiner aktiven Gemeindeerfahrung, dass die Juden in Amerika dennoch an ihrem Judentum festhalten und es nicht zugunsten einer Assimilation an die ame29
Judaism as a Civilization, S. 15; u. vgl. M. Scult, Mordecai Kaplan and Ralph Waldo Emerson, A Theology of the Individual, Jewish Social Studies, Volume 12, Number 2, Winter 2006 (New Series), pp. 99–114: »Let us return for a moment to Kaplan’s seminal work The Meaning of God. This work is built around the central theological formulation of ›God as the power that makes for Salvation.‹ Kaplan has always been much more interested in salvation than in God. […] Kaplan is continually searching for a proper formulation. Salvation, he says, as if to quote Dewey (his other rebbe who serves as a corrective to Emerson), means growth. Salvation, Kaplan often states, means to become fully human. It means in a very pragmatic way to become fully effective. This is again to assert the ideal of individual perfection […] In a manuscript from the 1950s, Kaplan summed up his ideology of the self this way: ›Salvation is redemption from those evils within and outside man which hinder man from becoming fully human, or which obstruct his urge to self-metamorphosis [self-transcendence]. Salvation is unhampered freedom in living and helping others to live a courageous, intelligent, righteous and purposeful life.‹«
30
Dies war zum Beispiel die Reaktion eines Samson Raphael Hirsch, den Kaplan darum mehrfach angreift, insbesondere S. 133–159; zu Hirsch Konzeption vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 497; u. das gesamte Kapitel, S. 496–537.
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rikanische Mehrheitsgesellschaft aufgeben wollen. Die Gründe für dieses anscheinend widersprüchliche Verhalten gilt es aufzudecken. Kaplan tut dies indem er zunächst nach den Kräften der Desintegration des Judentums fragt und welche Kräfte der Konservierung ihnen gegenüberstehen.
3.2
Die Kräfte der Desintegration des Judentums als eigenständiger sozialer Größe
Durch den Verlust der transzendentalen Erlösungshoffnung ganz auf die soziale irdische Realität zurückgeworfen, stellte sich dem Juden nun das zusätzliche Problem, dass die in der Vormoderne gültige Auffassung vom Judentum als einer festen sozialen Größe, nämlich als Volk, durch die Maßnahmen der absolutistischen wie auch die Nationalstaaten abgeschafft worden war. In den vormodernen Staaten besaß das Judentum zur Darstellung und zum Vollzug seines eigenen Volksbewusstseins eine zum Teil sehr weitgehende politische und soziale Autonomie, bis hin zur eigenen Gerichtsbarkeit, die im Zuge der Emanzipation jedoch abgeschafft wurde. Die Juden traten den modernen Staaten nun nicht mehr als Körperschaft, als Volk, gegenüber, sondern als Individuen in unmittelbarer Beziehung zu den staatlichen Organen. Die jüdische Gemeinschaft verlor ihre eigene Gerichtsbarkeit und darum auch die Rabbiner ihre rechtlichen Befugnisse – sie wurden zu Geistlichen »degradiert« – all das hatte entsprechende Auswirkungen auf das Selbstverständnis des einzelnen Juden. Es erhob sich nun die Frage, ob das Judentum wie bis dato noch als ein Volk, eine Nation, oder nur als eine religiöse Konfession verstanden werden müsse. Letzteres ist der Weg, den die Reform gegangen ist, was Kaplan wiederholt heftig kritisierte. Diese Alternative von »Volk« oder nur »Religion«, beziehungsweise Konfession, wurde indessen, so Kaplan, nur deshalb als ausschließliche Möglichkeit gesehen, weil man ein falsches Verständnis von Religion hatte. Erst wenn man – im Anschluss an die Einsichten von Emile Durkheim31 – das soziale Wesen von Religion erkenne, wird man die im 19. Jahrhundert erhobene Alternative, Volk oder Konfession, als Fehldeutung erkennen. Es fehlte der moderne soziologische Zugriff, der Religion nicht als dogmatisches Glaubenssystem verstand, sondern als gelebte Gesellschaft, als menschliche Lebensgemeinschaft im aktuellen Vollzug.32
31
Kaplan verweist mehrfach ausdrücklich auf die Einsichten von Emile Durkheim, z. B. S. 307. 333, vor allem in dessen Buch »Die elementaren Formen des religiösen Lebens«. Kaplan nennt die amerikanische Version: Elementary Forms of the Religious Life, London 1915.
32
Judaism as a Civilization, S. 19–21.
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Zunächst stellte sich die Krise des Judentums also so dar, dass die Religion durch den Fortfall der transzendenten Erlösungshoffnung ihre Bindekraft verloren hatte, mit der sie den einzelnen Juden an das Judentum fesselte. Daraus ergab sich für viele Juden die Frage, ob es noch gerechtfertigt oder tunlich sei, das Judentum als eine eigenständige soziale Größe zu betrachten oder gar zu erhalten. Diesen zweifelnden Fragen nach der Tunlichkeit und der Sinnhaftigkeit einer Erhaltung des Judentums traten nun, so Kaplan, eine Reihe von destruktiven Kräften zur Seite, welche gegen eine Option der Bewahrung des Judentums sprachen, nämlich zum einen die moderne politische wie auch die ökonomische Ordnung und vor allem die moderne Ideologie.
3.2.1 Die moderne Staatsauffassung als desintegrativer Faktor für das Judentum Die folgenden Überlegungen Kaplans gelten zunächst der jüdischen Bevölkerung im Rahmen eines einzelnen Staates, nicht dem Phänomen der internationalen jüdischen Diaspora, die in unterschiedlichen Staaten lebt. Diese Frage wird zu einem späteren Zeitpunkt erörtert. Eine Staatsordnung, welche unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu einer politischen Einheit zusammenfügt, nennt er einen »democratic nationalism«. Für einen solchen »demokratischen Nationalismus« zählt er vier grundlegende Kriterien auf und fragt, inwieweit diese sich mit dem traditionellen Selbstverständnis des Judentums in Einklang bringen ließen. Diese Kriterien, die auf die USA und Europa gleicherweise zuträfen, sind die folgenden: 1. Die Herrschaftseinheit eines solchen Staates sollte eine geographisch definierte Gruppe umfassen, keine rassisch, historisch oder religiös definierte. 2. Die Staatsgewalt einer solchen geographischen Gruppe sollte allen Erwachsenen dieser Gruppe zugesprochen werden. 3. Die Interessen dieser gesamten geographisch definierten Gruppe sollten den Interessen jeglicher anderen Gruppe, sei sie innerhalb oder außerhalb, voranstehen. 4. Das Wohl der geographisch bestimmten Gruppe erfordert den uneingeschränkten gesellschaftlichen Austausch zwischen seinen Mitgliedern. Wird eine »demokratische Nation« so definiert, stellt sich die Frage, inwieweit sie eine Binnenseparierung verträgt, wie dies das traditionelle Judentum als Religion und von Gott erwähltes Volk für sich in Anspruch nimmt. Die Punkte eins und zwei ließen sich nach Kaplans Auffassung ohne weiteres mit einem solchen jüdischen Selbstverständnis vereinbaren. Problematisch sind hingegen die Punkte drei und vier, die mit dem traditionellen gesellschaftlichen Selbstverständnis des Judentums in Konflikt geraten. Dieser Konflikt betrifft nicht den jüdischen Gottesglauben, denn die modernen Staaten definieren sich nicht mehr über die Religion, sie besitzen keine Staatsreligion, also kann es in einem solchen Staat unterschiedliche Religionen geben. Konfliktstoff bietet hingegen die © Campus Verlag
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jüdische Vorstellung vom jüdischen Volk als dem von Gott erwählten Volk – ein Selbstanspruch, den er mutatis mutandis auch bei der katholischen Kirche sieht. »Wenn das eigene Volk das von Gott erwählte ist, dann müssen seine Interessen gewiss den Vorrang vor den Interessen jeglichen säkularen Staates haben.«33 Seit der Emanzipation haben viele Juden diesen Konflikt gesehen und deshalb die Erwählung metaphorisch umgedeutet, insbesondere mit dem Hinweis – den auch das Reformjudentum betont34 –, dass man keine Rückführung der Juden nach Palästina erhoffe,35 mithin kein Fremder sei, nicht im Exil lebe. Eine solche Veränderung des Erwählungskonzeptes muss zwangsläufig das Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsbewusstsein unter den Juden schwächen. Noch gravierender ist die Abneigung oder gar das Verbot von Mischehen, eine Beschränkung der Sozialkontakte, welche der Forderung nach einer unbeschränkten sozialen Beziehung des Staatsvolkes untereinander widerspricht. Noch schwerer wiegend ist, dass im Rahmen eines solchen Staatsverständnisses die Gültigkeit der Tora eingeschränkt werden muss, da sie in vielerlei Weise staatliche Belange betrifft, insbesondere im Rechtswesen. Die Tora wird darum von den nachaufklärerischen und nachemanzipatorischen Juden meist auf das Ritualrecht beschränkt, ohne dass man sich eingesteht, was dies für die umfängliche Einschätzung der Tora bedeutet. Die Tora kann angesichts dieser Entwicklung nicht mehr dieselbe zentrale Stellung im jüdischen Leben einnehmen, die sie zuvor besessen hatte. Auch die Erziehung der Jugend muss in einem solchen demokratischen Staat die Prioritäten von einer jüdischen hin zur einer gesamtstaatlich erforderlichen Gemeinschaftserziehung verschieben. Kurz, nach der Emanzipation ist nach dem traditionellen Verständnis von Judentum als Volk und Religion ein Einbruch zu verzeichnen, der die Aufrechterhaltung der Sonderexistenz des Judentums ernsthaft in Frage stellt. Will man, aus Gründen, die im Folgenden sogleich zu nennen sind, am Judentum als gesonderter Gruppe innerhalb eines solchen Staatsverbandes festhalten, so bedarf es nach Auffassung Kaplans einer Neukonzeption des Jüdischen, welches den veränderten Bedingungen entspricht.
33
Judaism as a Civilization, S. 23.
34
Vgl. z. B. Abraham Geiger, Jüdisches Denken, Bd. 3. S. 612; man beachte aber die hier in diesem Band nachgezeichnete Entwicklung des Reformjudentums, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil, II, Die jüdischen Denominationen, Nr. 4.
35
Judaism as a Civilization, S. 23–24.
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3.2.2 Die moderne Wirtschaftsordnung als desintegrativer Faktor des Judentums Die soziologische Zugangsweise Kaplans in seiner Beschreibung des Judentums wird insbesondere bei der Frage der Bedeutung des modernen Wirtschaftslebens für den Bestand des Judentums deutlich. Er will in diesem analytischen Teil seiner Überlegungen nicht vorschreiben, was man als Jude zu tun hat, sondern wie sich die Lebensweisen seit der industriellen Revolution entwickelt haben und zwangsläufig entwickeln mussten, denen Juden wie Nichtjuden gleichermaßen unterworfen sind. Kaplan weist darauf hin, dass der Übergang von der »Ghettowirtschaft« zur Teilhabe an der allgemeinen Wirtschaftstätigkeit mit ihren völlig anderen Rhythmen und Verflechtungen das Leben der Menschen zwangsläufig veränderte und damit ihre Möglichkeiten, traditionell-jüdisch zu leben – eine Tatsache, welche die Denker des Judentums kaum zur Kenntnis genommen und Folgerungen daraus gezogen hätten.36 Das erste Resümee aus dem Übergang vom alten kleingewerblichen Wirtschaften zum neuen städtischen Menschen, dem Angestellten, Händler und Produzenten, lautet bei ihm so: »Die offenbarsten Hinderungsgründe an der Führung eines jüdischen Lebens unter den neuen wirtschaftlichen Umständen sind die Beanspruchung durch die Hauptbeschäftigung eines Menschen und deren kräftezehrende Beanspruchung. Es bleibt keine Zeit und keine freie Kraft für das Judentum. Die Hauptbeschäftigung des Arbeiters ist nicht nur ein physischer Angriff auf sein Zeitreservoir, das er dem Judentum widmen könnte, sondern bedeutet zugleich eine aktive Ersetzung durch nichtjüdische oder gar unjüdische anstelle von jüdischen Interessen.«37 Das neue ökonomische Leben erfordert eine Dichte der Kooperation mit Nichtjuden, die sich zwangsläufig auf das Verhalten des Juden auswirkt, man denke an den wirtschaftlichen Rhythmus, den die Feiertage wie Weihnachten und Ostern erzwingen, oder die Nachteile, die eine Sabbatobservanz nach sich ziehen. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer können ihre von diesen Umständen abhängige Situation nicht mehr als gottgegeben verstehen. Und in dem Maße, in welchem sich die modernen Menschen von der jenseitigen Heilshoffnung gelöst haben, sehen sie nun auch die Fülle der innerweltlichen »Heilsmöglichkeiten«, nämlich Erholungs- und Vergnügungsmöglichkeiten, die eine höhere Attraktivität besitzen als die ehemaligen religiösen Rekreationsangebote. Außerdem hat die verbreitete Auffassung, dass die ehemaligen wirtschaftlichen »Ausbeuter« nicht selten die Religion zur Stützung ihrer Privilegien nutzten, eine Religionsfeindlichkeit erzeugt, welche auch das Judentum nicht verschonte.
36
Judaism as a Civilization, S. 34.
37
Judaism as a Civilization, S. 29.
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Hinzu kommt, dass der Wunsch, innerhalb eines freien säkularen Staates ein jüdisches Leben zu führen, zugleich mit doppelten Kosten verbunden ist, weil die Beteiligung an den jüdischen Erziehungs- und Kultur-Angeboten keine Befreiung von den Lasten der staatlichen Besteuerung beinhaltet. Die neue Ökonomie mit ihren engen Verflechtungen greift nun überdies in einen jüdischen Bereich ein, der vom staatlichen verschont war, nämlich den Bereich des sogenannten Ritualgesetzes. Hatte die neue staatliche Ordnung »nur« das jüdische staatliche oder öffentliche Recht betroffen, so fordert das neue Wirtschaftsleben auch im rituellen Bereich seinen Tribut. An erster Stelle ist die Schabbatobservanz zu nennen, welche erhebliche geschäftliche Konkurrenzprobleme schafft. Unter diesen Druck geraten schließlich auch die Speisegesetze, die zunächst im Hause einen gewissen Schutz genossen hatten. Aber die allgemeine Wirklichkeit spricht da eine andere Sprache und greift auch auf die jüdische Küche über. Kaplans Schluss: »So viel zum wirtschaftlichen Angriff auf das Judentum. Was hat das Judentum gegenüber dieser Attacke unternommen? Was hat das Judentum getan, um den riesigen Nachteil, in dem es sich gegenüber den Realitäten der modernen wirtschaftlichen Situation befindet, auszugleichen? Wir finden, dass das Judentum bis heute praktisch nichts unternommen und folglich den Nachteil zementiert hat. Weder das jüdische Leben noch das jüdische Gesetzt hat auf diese Situation reagiert, so dass es scheint, das Judentum habe sich mit der Situation abgefunden, dass es zunehmend schwerer wird, ein Jude zu sein. […] Wenn aber weder das jüdische Leben noch das jüdische Recht dem Arbeiter in dieser schwierigen Situation zu Hilfe kommt, werden sie beide für ihn irrelevant.«38
3.2.3 Modernes Denken und moderne Gesellschaftsformen als desintegrative Faktoren des Judentums Kaplans dritte Gruppe exogener Faktoren der Desintegration des Judentums ist die am schwersten wiegende. Bei ihnen liegt die gesamte Bürde der Verantwortung auf dem Individuum, auf dem einzelnen Juden. Bei ihnen kann er nicht auf den externen Zwang der Staatsgewalt oder der von ihm unabhängigen ökonomischen Notwendigkeiten verweisen. Wenn es darum geht, die Quellen der menschlichen Erkenntnis zu wählen, die Autoritäten der Ethik zu benennen oder die Ergebnisse der modernen Geschichtswissenschaft anzuerkennen, kann der Einzelne leichter und ohne unmittelbare negative Folgen für sein rechtliches und
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wirtschaftliches Wohlergehen sich gegen die Moderne entscheiden, was, worauf er eigens hinweist, tatsächlich bei den nicht denkenden Massen aus Bequemlichkeit tatsächlich so geschieht.39 Zur Darstellung dessen, welche grundstürzenden neuen Einstellungen die Moderne im Vergleich mit jener Zeit brachte, in welcher das überkommene Judentum geformt wurde, greift Kaplan zu den drei klassischen philosophischen Kategorien des Wahren, Guten und Schönen. Bei der Suche nach all diesen drei Zielen menschlichen Strebens hat sich in der Moderne im Vergleich zum traditionellen Judentum ein grundlegender Paradigmenwechsel vollzogen. So bei der: 1. Suche nach der Wahrheit: Hier brachte die Moderne die Neigung, die Wissenschaft als den verlässlichsten Weg zur Erlangung der Wahrheit in allen den Menschen interessierenden Belangen anzuerkennen. 2. Suche nach dem Guten: Hier setzte sich die Neigung durch, das menschliche Wohlergehen im gesellschaftlichen Sinn als das entscheidende Kriterium für das Gute anzuerkennen, nicht etwa den Willen einer höheren Autorität, vor allem Gottes. 3. Suche nach dem Schönen: Hierbei zeigt sich die Neigung ästhetische Erfahrungen und Kreativität als grundlegend für das geistige Leben des Menschen zu betrachten, weniger etwa die Angebote der Religionen. In allen drei Wissensbereichen hat die Moderne, so Kaplan, Veränderungen mit sich gebracht, welche dem überkommenen Judentum diametral entgegenstehen.40 Hinsichtlich des ersten Punktes, der Suche nach dem Wahren, erörtert er die drei Fundamente des traditionellen Judentums, nämlich den Glauben an Gott, an das Volk Israel als dem erwählten Volk und an die Tora als der Offenbarung des Gotteswillens. 3.2.3.1 Der Glaube an Gott Solange die Naturwissenschaft sich den weltlichen Phänomenen zuwendet, gibt es laut Kaplan keinen Konflikt mit dem Gottesglauben, der nicht von naturwissenschaftlichen Details abhängig ist. Und auch wenn die Philosophie den Schritt über die Details hinaus macht, um das Ganze in den Blick zu nehmen, gerät sie nicht unbedingt mit dem Gottesglauben in Konflikt, da ja auch die klassischen Philosophen, zum Beispiel Plato, Aristoteles, Spinoza und Kant bei dieser Fragestellung nicht davor zurückschreckten, eine Gottheit anzunehmen. Die entscheidende Klippe für den Gottesglauben ist laut Kaplan die Geschichtswissenschaft, hier insbesondere die vergleichende Religionswissenschaft. Und zwar aus folgendem Grund: 39
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»Die Naturwissenschaften wie Physik und Chemie können die Möglichkeit, dass Wunder geschehen, nicht widerlegen, wiewohl sie deren Unwahrscheinlichkeit behaupten können. Aber die objektive Geschichtswissenschaft konnte beweisen, dass die Wunderberichte nicht verlässlich sind und die Wundergeschichten nichts als das Produkt der volkstümlichen Phantasie darstellen. Die traditionelle Gottesvorstellung wird durch die Geschichtswissenschaft, die Anthropologie und Psychologie in Frage gestellt. Diese beweisen nämlich, dass Glaubensvorstellungen wie jene in der Bibel bei allen Völkern zu einer gewissen Zeit ihrer mentalen und gesellschaftlichen Entwicklung entstehen und einen Entwicklungsprozess durchlaufen, der gänzlich von der Entwicklung der übrigen Elemente ihrer Kultur (civilization) bedingt ist.«41 Es ist diese Parallelität der Entstehung von Gottesvorstellungen, vom Glauben an Theophanien und Offenbarungen, welche den Einzigartigkeitsanspruch der jüdischen Gotteslehre umstoßen und auch diese als »Deutungen von natürlichen Ereignissen durch Menschen mit beschränkter Erfahrung und beschränktem Wissen betrachtet werden müssen und nicht als verlässliche Berichte von übernatürlichem Geschehen.«42 Das Faktum solcher Ereignisse wird also durch die Geschichtswissenschaft, insbesondere von der vergleichenden Religions-Geschichte erschüttert. Aber es ist nicht nur die reine Faktizität solcher Ereignisse, die von der Geschichtswissenschaft umgestoßen wird. Auch von einer anderen Seite wird die Glaubhaftigkeit solcher übernatürlicher Offenbarungen erschüttert, nämlich von deren Logik her. Hätte es solche göttlichen Offenbarungen und Willensbekundungen wirklich gegeben, wäre dadurch festgeschrieben, was die Menschen als das Gute zu erachten hätten, nämlich den Willen Gottes. Dies aber widerspricht der modernen Wertefindung bei ihrer Suche nach dem Guten. Danach gilt das als »gut«, was dem Wohle des Menschen dient. Dies gilt der Moderne als das einzige Kriterium für das Gute, nicht der Wille eines Gottes. Dass diese Auffassung der rabbinischen Ansicht von den Geboten diametral zuwiderläuft, wurde in der vorliegenden Darstellung mehrfach herausgestellt. Nach rabbinischer Auffassung gibt es keinen Unterschied in der Werteskala der Gebote, hier gelten alle Gebote als gleich bedeutend, seien sie rituell, sozial oder alleine auf Gott bezogen – eben weil sie alle der ungeteilte Wille Gottes sind.43 Dies gilt auch noch für die mittelalterlichen Konzeptionen, die allenfalls erste Schritte in die Richtung der Moderne getan haben, indem sie die Vernunft als ein erstes menschlich einsehbares 41
Judaism as a Civilization, S. 39; vgl. schon Achad Haam, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 164–
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Judaism as a Civilization, S. 40; u. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 252. 393–394.
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Wertekriterium anerkennen.44 Das Kriterium für die Beurteilung der Ethik wurde schrittweise von Gott auf den Menschen verlagert – dies ist ein entscheidender Stoß gegen das traditionelle Gottesbild. 3.2.3.2 Das Volk Israel als Gottes erwähltes Volk Das überkommene Bild von Israel als dem von Gott erwählten Volk, das von Gott mit Abraham aus den Völkern herausgerufen und während der Exoduszeit durch Theophanien und Wunder als von Gott in besonderer Weise geführtes Volk beglaubigt wurde, kann angesichts der modernen Bibelforschung nicht als historisches Geschehen betrachtet werden. Die genealogischen Linien von den Erzvätern bis zu den zwölf Stämmeeponymen erweisen sich als ideologisches Konstrukt zur Darstellung der »Nation als einer Einheit«. Sie wurde mit Hilfe der urtümlichen Vorstellung konstruiert, dass Völkerbeziehungen und Gruppenverbindungen letztlich in blutsverwandtschaftlichen Beziehungen gründen.45 In Wahrheit bedeutet diese historische Einsicht, dass auch das Volk Israel wie alle anderen Völker dieser Welt aus ursprünglich unterschiedlichen Stämmen entstanden sind und nicht durch den Eingriff einer transzendenten Gottheit. Damit fällt natürlich auch eine so gewagte These wie die des mittelalterlichen Jehuda Ha-Levi, nämlich, »dass Israel eine reine Rasse sei, welche die besondere Gabe der Prophetie von Adam ererbt habe«. Dieser Glaube Ha-Levis kann »als nichts mehr, denn als eine poetische Idealisierung des jüdischen Volkes verstanden werden.«46 Das Volk Israel gehört demnach, entgegen traditionellen Vorstellungen, keiner höheren, übernatürlichen Ordnung an. Diese Auffassungen kann man allenfalls als psychologische Reaktion auf die permanente Unterdrückung verstehen, »aber heutzutage, wo die Neigung besteht, dass ausschließlich gegenwärtige Erfolge den menschlichen Geist befriedigen, kann von der Lehre der Erwählung Israels in ihrer traditionellen Bedeutung kaum irgendwelcher Unterschied im Benehmen und in der Perspektive des Juden erhofft werden. Aus ethischer Sicht ist es außerdem nicht ratsam, um das mindeste zu sagen, Vorstellungen von rassischer oder nationaler Überlegenheit am Leben zu erhal-
44
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 393–399. 421–430. 480–487; hierher gehört die Literatur der Taʽame ha-Mizwot, siehe Jüdisches Denken Bd. 1. S. 393–400, Bd. 2, S. 23. 471. 497. 604; Bd. 3, S. 245. 283. 519.
45
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 37–48.
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Judaism as a Civilization, S. 42; zu Jehuda Ha-Levi, siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 585– 613.
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ten, da sie bekanntlich eine mächtige Wirkung entfalten, indem sie Misstrauen und Hass erzeugen.«47 3.2.3.3 Die Tora als Gottes Offenbarung Im Zentrum der Problematik des Verständnisses der traditionellen Religion sieht Kaplan die Unvereinbarkeit des Offenbarungsanspruchs der Heiligen Schriften einerseits mit der Begründung des menschlichen Wissens alleine auf die natürliche menschliche Erkenntnisfähigkeit und andrerseits: »Die wissenschaftliche Grundausrichtung des menschlichen Denkens verträgt sich nicht mit der Auffassung, dass das Wissen über Gott auf des Menschen Erfahrung von übernatürlichen Gottesoffenbarungen gegründet sein sollte. Der wissenschaftliche Zugang zur modernen Bibelwissenschaft gründet auf der Hypothese, dass die Tora, das heißt die fünf Bücher Mosis, nicht als wortwörtliches Diktat Gottes betrachtet werden kann. Diese Hypothese hat ein vollkommen neues Licht auf die inneren Widersprüche, Wiederholungen und Stilunterschiede in der Tora geworfen. Anstatt sie hinwegzuinterpretieren, um die Unfehlbarkeit der Tora nicht infrage zu stellen, versteht man sie nunmehr als Zeichen für deren disparate Komposition. Die sogenannte höhere Bibelkritik […] hat den traditionellen Glauben, dass der Pentateuch, der ja der autoritative Text des Judentums ist, in seiner vorliegenden Form Moses durch Gott diktiert worden sei.«48 Mordecai Kaplan übernimmt mit solchen Aussagen die in der modernen Bibelwissenschaft allgemein anerkannten Ergebnisse, was allerdings noch nicht das eigentlich Aufregende ist. Das Bedeutsamere ist, dass er gewillt ist, daraus religionspraktische Konsequenzen zu ziehen. Er will sich nicht mit einer metaphorischen oder allegorischen Neudeutung dieser Erkenntnisse abfinden, um damit die Positionen der Tradition neuerlich akzeptabel zu machen. Er geht von grundlegend verschiedenen Voraussetzungen aus, die in den bisher angeführten Einsichten impliziert, aber noch nicht grundsätzlich formuliert sind, nämlich sein grundlegend neues Verständnis vom Wesen der Religion. Dank dieses neuen Religionsbegriffes erscheinen all die ohne Zögern aufgegebenen Positionen der Tradition nicht mehr als notgedrungene Zugeständnisse an eine hereindrängende Moderne, sondern als selbstverständliche Bereinigung im Sinne des neuen Religionsverständnisses. Denn nach diesem Verständnis ist die Religion eben nichts anderes als die Selbstexpression einer sich stets wandelnden Gesellschaft. Und 47
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die Tora ist darum nichts mehr und nichts weniger als die schriftlich niedergelegte Reflektion der moralischen und geistigen Errungenschaften ihrer Autoren, die dabei – wie weltweit üblich – nachweislich von zeitgenössischen Denktraditionen beeinflusst waren. Das Resultat aus alledem ist, dass dadurch der Glaube an die »Unfehlbarkeit der Tora« unterminiert ist.49 Es sind indessen nicht nur die historischen Grundlagen, die Kaplan aufgrund des ersten oben genannten Punktes – nämlich der veränderten Grundlagen für die Suche nach Wahrheit – bereinigt, sondern auch die konkreten ethischen Inhalte dieser Tora. Es sind nämlich diese ethischen Inhalte, die dem zweiten oben genannten Punkt – dem neuen Parameter für die Bewertung des Guten – widersprechen. Danach hat sich das Kriterium für das Gute vom göttlichen Willen zum menschlichen Wohlergehen im Rahmen des irdischen und gesellschaftlichen Lebens verschoben. Als Beispiele für die Konsequenzen dieser Verschiebung führt Kaplan an, dass heute kein zivilisierter Staat die Verletzung ritueller Gebote als Kapitalverbrechen behandeln würde – man denke an die biblische Androhung der Todesstrafe bei Verletzung des sabbatlichen Arbeitsverbotes. Gleichfalls wider die modernen humanistischen Kriterien der Ethik ist der im Schulchan Aruch noch vertretene mindere rechtliche Status der Frau, wie auch dessen Verständnis vom Eigentum längst überholt sei. Auch stehe die Tatsache, dass in der Tora keine Möglichkeit der Abschaffung oder Novellierung von Gesetzen vorgesehen, vielmehr eine ewige Dauer solcher Gesetze vorausgesetzt sei, dem modernen Denken entgegen. Denn heute begreift man, dass »jedes Gesetz, das unveränderlich ist, mehr schadet als Gutes bewirkt.«50 Ein letzter und wichtiger Widerspruch gegen das alte Religionsverständnis des Judentums ist eine Neubewertung des Ästhetischen. Hiermit ist nicht nur die anscheinende Überwindung des oft missverstandenen biblischen Bilderverbotes – das ja nur Gottesbilder verbietet, nicht aber jegliche bildliche Darstellung51 – sondern das viel Grundsätzlichere gemeint, dass nämlich dem modernen Menschen die ästhetischen Werte so essentiell zu einem guten Leben gehören, dass sie offen in Konkurrenz oder gar vor die religiösen Werte treten können. Für viele Menschen bringt der ästhetische Genuss höhere geistige Befriedigung und Erfüllung als der religiöse Kultus oder die religiöse Meditation: »Der moderne Ästhetizismus erfuhr, wiewohl er keine direkte Bedeutung für abstrakte Gotteskonzeptionen hat, eine so große Erweiterung in seinem Ausblick und eine solche Bereicherung an Inhalten, dass er eine größere Vielfalt an Möglichkeiten zur Befriedigung des menschlichen Geistes anbietet als der 49
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Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 136.
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beschränkte Bereich der Glaubensvorstellungen und Praktiken, die man als das traditionelle Judentum betrachtet. All dies scheint die traditionelle Religion überflüssig zu machen […]«52 Diese hier aufgezählten vielfältigen intellektuellen Herausforderungen treten der traditionellen Religion entgegen und Kaplan ist nicht gewillt, sie herabzureden oder als Irrwege zu brandmarken. Im Gegenteil, nach seiner Konzeption von Religion, die ein steter Ausdruck menschlichen Befindens ist und sein soll, kann das Verharren auf längst überholten Ansichten vom menschlichen Leben und Geist nur schädlich sein, denn dies verdrängt die Religion aus ihrem ureigensten Bereich, aus der Mitte des menschlichen Lebens. Dies gilt es wahrzunehmen, um die Religion wieder auf die richtigen Gleise zu setzen. Er spricht in diesem Zusammenhang von nötiger Rekonstruktion, was seiner von ihm inaugurierten jüdischen Richtung schließlich ihren Namen gab. Nachdem Kaplan all diese die traditionelle jüdische Religion aushöhlenden Faktoren vor Augen geführt hat, kommt er auf das erstaunliche Phänomen zu sprechen, dass all diese modernen Herausforderungen die jüdische Religion und jüdisches Leben nicht verdrängen konnten – aber auch hier argumentiert er nicht mit einem anscheinend offenbaren Wahrheitsgehalt dieser Religion, sondern er verweist auf soziologische Gegebenheiten und Tatsachen, die von einer Fülle jüdisch-religiösen Lebens zeugen. Was dieser Gesellschaft demnach fehlt, ist nicht das Bedürfnis nach Religion und Judentum – dies lebt sie aus vollem natürlichem Drang – sondern was ihr fehlt, ist die richtige Einsicht in den wesenhaften Zusammenhang von alltäglichem jüdischem Leben einerseits und jüdischer Religion andrerseits. Doch bevor diese religionsphilosophischen Grundeinsichten Kaplans vorgestellt werden, sollen die soziologischen Signale des jüdischen Lebenswillens, der mächtige Lebenswille dieser Kultur, ins Bewusstsein erhoben werden, um sodann das nötige bewusstseinsfördernde Remedium für dieses fast blinde Weiterdrängen aufzuzeigen.
3.3
Endogene und exogene oft unbewusst wirkende Erhaltungskräfte des Judentums
Die Erhaltungskräfte des Judentums und die Berechtigung für dessen Erhaltung und separate Weiterexistenz innerhalb so offener Gesellschaften wie jene der Vereinigten Staaten von Amerika, sind, wie gesagt, nach Kaplans Auffassung, soziologisch greifbar und zu erfassen. Die soziale jüdische Realität in Amerika zeigt nämlich ein blühendes und kraftstrotzendes jüdisches Leben, und dies, ob-
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wohl dessen primäre Kohäsionskraft, die Hoffnung auf eine transzendentale Erlösung und das damit verbundene Vertrauen auf die Religion, weitgehend eingebrochen ist. Das gemeinsame jüdische Leben der Vergangenheit hat offenbar im Laufe der Zeit eine »sekundäre Kohäsionskraft« entwickelt, die das das jüdische Leben zu einem Wert an sich werden ließ, unabhängig von theologischen Erlösungserwartungen: » […] im Laufe der Jahrhunderte des gemeinsamen Lebens, Denkens und Leidens hat sich eine sekundäre Kohäsionskraft entwickelt, die sich in dem Willen äußert, jüdisches Leben, als einem wünschenswerten Wert an sich, fortzusetzen und zu verstetigen. Es ist ein Gesetz der menschlichen Natur, dass wenn Menschen an einem gemeinsamen Vorhaben für längere Zeit beteiligt sind, sie ein gegenseitiges Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, das unabhängig davon, was aus dem Unternehmen wird, anhält.«53 Es ist einfach der Wille ein jüdisches Leben zu führen, ohne dass damit eine bestimmte Ideologie oder gar Theologie verbunden sein müsste. Dieser Wille äußert sich darum, anders kann dies Kaplan nicht darstellen, nicht in einer Philosophie oder in einer die Gruppe verbindenden Lehre, sondern er äußert sich alleine in einer Vielfalt von gesellschaftlichen Äußerungen, die inhaltlich keinen eindeutigen Nenner haben, außer eben dem, dass dies »jüdisches Leben« sei. Dieser Wille zum jüdischen Leben drückt sich nach Kaplan in einer Reihe von soziologischen Phänomenen aus, in jüdischen Gesellschaftsaktivitäten ganz unterschiedlicher Thematik, von denen jede alleine als einziger Identifikationspunkt und Ausdruck des Jüdischseins dienen kann oder sich mit anderen verbindet. Solche gesellschaftlichen Aktivitäten sind:54 1. Die Tendenz sich in Ansammlungen jüdischer Populationen anzusiedeln, in Städten – nicht auf dem flachen Lande in der Vereinzelung –, und dort in den Städten in speziellen jüdisch geprägten Stadtvierteln. 2. Die Abneigung gegen Mischehen und sei es auch nur in Rücksicht auf die Familie. 3. Jüdische Gemeindezentren (communal centers), die nicht nur den Gottesdiensten, sondern allen möglichen gesellschaftlichen Aktivitäten dienen. 4. Religiöse Aktivitäten, auch und gerade dann, wenn diese nicht eigentlich religiös im traditionellen Sinn sind, sondern zuallererst der Erhaltung eines jüdischen Lebens dienen sollen. Symptome dieser gesellschaftlichen Seite des Religiösen sind gerade auch die großen überregionalen Zusammenschlüsse wie der Union of American Hebrew Congregations (1873), der Union of Orthodox Con53
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gregations of America (1898) oder der United Synagogue of America (1913), die je spezifische jüdische Lebensformen fördern und unterstützen wollen. Charakteristisch für diese Art Religiosität ist die Priorität der sichtbaren und sozial bindenden Bräuche, die Versammlung an den hohen Feiertagen wie Rosch haSchana und Jom Kippur. Besonders wichtig sind hierbei die sogenannten »Übergangsriten«, Beschneidung, Bar Mizwa, Konfirmation, Eheschließung und auch der Scheidebrief bei der Ehetrennung, die Jahrzeitfeiern für die Toten, und auch die Speisegesetze, selbst wenn sie nur sporadisch zur Demonstration der Zugehörigkeit beachtet werden. 5. Auch die jüdische Erziehung spielt eine zunehmende Rolle, selbst wenn deren Wesen nicht einheitlich definiert ist – wesentlich ist, dass das Gefühl oder Bewusstsein des Jüdischen vermittelt wird, nicht Religionslehre und Gottesglaube. 6. Eine der am meisten verbreiteten Aktivitäten sind die Philanthropie, die Wohltätigkeit, die in besonderer Weise die jüdische Solidarität stärken. 7. Kulturarbeit jedweder Art: Jüdische Presse, Literatur in den jüdischen Sprachen, vor allem Jiddisch und darstellende Kunst. 8. Der Aufbau des jüdischen Palästina – wir stehen mit diesem Buch Kaplans noch vor der Staatsgründung, später gilt dies auch für den Staat Israel. Den Zionismus mit seinem Ziel der Gestaltung eines jüdischen Palästina/Staates Israel – erachtet er mit der zionistischen Organisation Amerikas und mit Achad Haam als die entscheidende Möglichkeit für eine umfassende Renaissance des jüdischen Geistes – wozu später noch einiges zu sagen sein wird. Kaplan weist eigens darauf hin, dass es der Zionismus vermochte, Juden, die vollkommen von ihrem Judentum entfremdet waren, sich geistig wieder dem Judentum zuzuwenden, ja dass auch die Reformbewegung beginne, ihre antizionistische Position aufzugeben.55 9. Die Säkulare nationale jüdische Bewegung, deren Anfang er in der Tschernowitzer Sprachkonferenz von 1908 sieht. 10. Jüdische Bruderschaften, wie die Bʼnai Bʼrith Loge (1843), die ausschließlich gesellschaftliche und philanthropische Interessen verfolgen. Schließlich auch jüdische Landsmannschaften, je nach Herkunft der Immigranten. Summa summarum: Die Rechtfertigung, das Judentum zu erhalten und sich um seine Gestaltung zu kümmern hat zum einen seinen Grund darin, dass die Juden nicht willens sind ihr Judentum aufzugeben und sich dafür einer Vielzahl gesellschaftlicher Ausdrucksformen und Aktivitäten bedienen. Der andere Grund ist der von außen kommende, nämlich der nimmer endende Antisemitismus, die Ausgrenzung der Juden aus den Mehrheitsgesellschaften, die dazu führte, dass 55
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die Juden sich auf ihre eigene Kraft besannen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nahmen. – Als Randnotiz soll vermerkt werden, dass für Kaplan die Rolle des amerikanischen Katholizismus als eigener religiöser Kultur und deren internationale Verflechtung und Zentrierung in Rom in den ansonsten von einer pluralistischen protestantischen Kultur geprägten Vereinigten Staaten als Ermutigung dafür angeführt wird, auch für das Judentum als eigener Kultur in diesem Amerika zu plädieren, die als zweite Kultur neben der amerikanischen Kultur gelebt werden könne.56
4.
Die Suche nach der bestandswahrenden Differenz des Judentums
Nach der Darlegung der destruktiven und der bewahrenden Kräfte, von denen das Judentum in seiner Gegenwart geprägt wird, stellt Kaplan die Frage, was die seit der Aufklärung und Emanzipation entstandenen innerjüdischen Richtungen versucht oder geleistet haben, um der drohenden Gefahr der endgültigen Assimilation und Auflösung des Judentums entgegenzusetzen. Er verhandelt und kritisiert dazu die Reformbewegung (Reformist Judaism), die durch Namen wie Samuel Hirsch (1815–1889), Abraham Geiger (1810–1874),57 Samuel Holdheim (1806–1860), David Einhorn (1809–1879) und dann in den USA vor allem durch Isaac M. Wise (1919–1900) und Kaufman Kohler (1843–1926), in England durch C.G. Montefiore (1858–1938) vertreten wird, sodann das Conservative Judaism (Right wing of Reform), vertreten von Männern wie Marcus Jastrow (1829–1903), Benjamin Szold (1829–1902), Morris Joseph ( 1848–1930, in England), außerdem das etwas breitere Spektrum der Neoorthodoxie, vertreten von Gestalten wie Samuel David Luzzato (1800–1865, in Italien), David Hoffman (1843–1921) Zeev Yabetz (1847–1924), Yitzhak Isaak Ha-Levi (1847–1914) und vor allem Samson Raphael Hirsch (1808–1888) dem konservativsten von ihnen,58 und schließlich folgt noch das andere Conservative Judaism (Left Wing of Neo-Orthodoxy), vertreten durch Zacharias Frankel (1801–1875), Solomon Schechter (1847–1915), dem wesentlichen Gestalter des Jewish Theological Seminary in New York und Julius H. Greenstone (1873–1955) durch sein Buch The Jewish Religion (1920). Das zusammenfassende Resultat Kaplans bezüglich all dieser Bestrebungen zur Formulierung des Jüdischen seit der Aufklärung ist eindeutig:
56
Judaism as a Civilization, S. 76–79.
57
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 578–616.
58
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 496–537.
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»Die bisher vorgestellten Versionen des Judentums vertreten allesamt die Auffassung, dass sich die Juden von den Nichtjuden im Wesentlichen durch die Religion unterscheiden. Sie gehen darum das Problem der Bewahrung des Judentums so an, dass sie es für nötig erachten, die religiösen Glaubensvorstellungen und Praktiken entsprechend den Anforderungen der Zeit zu interpretieren oder ihnen anzupassen, um so von der jüdischen Gemeinschaft (Jewry) die Bedrohung des völligen Aufgehens in ihrer Umgebung abzuwehren.«59 Wie im Folgenden noch deutlicher werden wird, liegt in dieser Engführung der Auffassung von Judentum aus der Sicht Kaplans das eigentliche Problem. Die Unfähigkeit der traditionellen oder auch renovierten Auffassungen von der jüdischen Religion, eine Großzahl moderner, insbesondere säkularer Juden, zu erreichen, liegt nach ihm eben gerade darin begründet, dass sie dieses Judentum ausschließlich auf die Religion gründen, was für viele offenbar nicht mehr taugt, ihr jüdisches Bewusstsein zu begründen oder zu tragen. Außerdem zeigt sich auch da, wo man bereit ist, die Religion noch ernst zu nehmen, diese für das jüdische Bewusstsein tatsächlich nur einen Teil und nicht die Gesamtheit der jüdischen Möglichkeiten ansprechen oder gar abdecken kann. Die Darlegung der bewahrenden Elemente im zeitgenössischen Judentum hat gezeigt, dass es eine breite Palette von Motivationen gibt, jüdisch sein und bleiben zu wollen, deren einzelne Möglichkeiten oft nur ein Ausschnitt aus der Gesamtheit der jüdischen Ausdrucks-Möglichkeiten darstellt, aber von deren Vertretern oft verabsolutiert wird und als das Jüdische schlechthin verstanden wird. Dadurch stellt sich das Judentum zunehmend als ein Flickenteppich von Gruppen dar, die in ihrem jeweils vertretenen Judentum das ganze und einzig legitime Judentum sehen wollen. Dies ist so bei den Orthodoxen, welche das Judentum als »offenbarte Religion« betrachten wie auch bei den konservativen, welche hier eine »historisch gewachsene und sich entwickelnde Religion« sehen, die aber doch mehr Wahrheit als andere besitzt. Aber auch für die Reform mit ihrem Anspruch den reineren »ethischen Monotheismus« zu vertreten, stellt sich das Selbstverständnis kaum anders dar. Dies zeigt sich laut Kaplan vor allem darin, dass keine dieser drei Richtungen irgend einen positiven Impuls zu dem gegeben hat, was einzig und alleine als ein künftiges Fundament eines umfassenderen und damit alle jüdische Gruppen und Deutungen umschließenden Judentums sein könnte, nämlich die Konzeption des Judentums als eines Volkes, das seine geographisch und kulturelle Heimat in Palästina (vor der Staatsgründung) oder eben im Staat Israel hat, ohne das ein Weiterleben eines Judentums im vollen umfassenden Sinne, und eben nicht nur als religiöse Konfession, möglich sein wird. Denn: 59
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»Es ist eine Tatsache, dass die zionistische Bewegung eine Renaissance des jüdischen Denkens und Handelns geschaffen hat, und dazu beitrug, jüdisches Leben kreativ zu machen – könnte es eine schwerwiegendere Anklage gegen die vorhandenen Versionen des Judentums geben, als den Vorwurf, dass sie diese Bewegung weder verursachten noch unterstützten?«60 Der Zionismus, an den er hierbei denkt, ist natürlich nicht der schmale StaatsZionismus eines Theodor Herzl,61 sondern ein Kulturzionismus vom Schlage eines Achad Haam, der an ein weltweit verstreutes diasporisches Judentum denkt, das aber um die kulturelle Mitte des Mutterlandes Palästina/Staat Israel gruppiert ist – Kaplan hat diese Version seines Zionismus, in dem natürlich, anders als bei Achad Haam,62 die Religion in ihrer von ihm gesehenen Form eine wichtige Rolle spielt, in einem eigenen Buch nach der Staatsgründung von 1948 nochmals ausführlich dargelegt.63 Gegenüber solchen nur einseitigen Konzeptionen von Judentum gilt es nach Kaplan eine umfassendere Konzeption zu definieren, die alle Spielarten und Definitionsweisen des Jüdischen umfasst. Er wählt dafür den Begriff Civilization, Lebenskultur im umfassendsten Sinn. Denn nur ein Begriff von Judentum, der alle die vielfältigen jüdischen Möglichkeiten mit einschließt und nicht binnenkonfessionelle Ausgrenzungen vornimmt, wird tauglich sein, mit ihm die Frage eines Fortbestandes des Judentums zu diskutieren. Das Judentum braucht darum eine alle seine Erscheinungsformen umgreifende Philosophie und außerdem eine entsprechende politische Organisation (communal organization), die mehr ist und sein muss als die bestehenden Organisationen einzelner religiöser Kongregationen. Zur Findung einer solchen Philosophie gilt es das Anderssein/Alterität (otherness) von jüdischem und nichtjüdischem Leben klarer in den Blick zu nehmen. Es geht dabei nicht nur um Ungleichheiten denn »Otherness is difference in entity, unlikeness is difference in quality« (Anderssein/Alterität meint den Unterschied im Wesen, Ungleichheit ist Unterschied in der Eigenschaft/Qualität)«.64 Daraus folgt, soll jüdisches Leben erhalten werden, ist es nötig das zu bewahren, was es von nichtjüdischem Leben wesenhaft unterscheidet und nicht nur worin es verschieden ist. Die Missachtung dieser unterschiedlichen Bedeutung von otherness und unlikeness führte bei den bisherigen Reformversuchen dazu, dass man an Symptomen und nicht an Ursachen zu kurieren suchte. Deshalb konzentriert man sich gemeinhin irrtümlicherweise auf die Religion als
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61
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 135–158.
62
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 159–213.
63
M. Kaplan, A New Zionism 1955, zweite erweiterte Auflage 1959, New York.
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Reformfeld, »weil sie der am deutlichsten verschiede (unlike) Aspekt ist«. »Aber in Wahrheit ist das, was in unseren Tagen wirklich auf dem Spiel steht, die Erhaltung des jüdischen Lebens als einer deutlich unterschiedlichen gesellschaftlichen Größe. Sein tatsächliches Anderssein/Alterität ist in Gefahr.«65 Aus alledem folgt, die Sorge nur um die Religion greife zu kurz, denn sie ist nur ein Aspekt des jüdischen Lebens, keinesfalls das sie wesenhaft ausmachende Alleinige. Das Anderssein/Alterität des Jüdischen ist demgegenüber in einer Reihe weiterer Faktoren begründet, nämlich in besonderen gesellschaftlichen Beziehungen, kulturellen Interessen und Aktivitäten, in der Zugehörigkeit zu bestimmten Organisationen und Konventionen, sowie in besonderen moralischen und sozialen Standards: »Judentum als Anderssein / Alterität ist darum etwas weit Umfassenderes als die jüdische Religion. Es beinhaltet auch den Zusammenhang und die Kohärenz von Geschichte, Literatur, Sprache, gesellschaftlicher Organisation, für heilig gehaltener Werte des Volkes, bestimmter Verhaltensweisen, sozialer und spiritueller Ideale und ästhetischer Werte – sie alle zusammen machen eine Kultur (civilization) aus. Es ist nicht nur das Judentum als Religion bedroht, sondern das Judentum als Kultur. Was diese Kultur bedroht ist nicht nur die Konzentration auf die Kultur anderer Völker, sondern auch die Irrelevanz, Ferne und Hohlheit des jüdischen Lebens. Gegenwärtig gibt es für die jüdischen Normalbürger beider Geschlechter nur wenig, was zum Ausdruck des eigenen jüdischen Ich taugte, es sei denn man ist als Rabbi oder jüdischer Sozialarbeiter beschäftigt. Wenn man keinen Geschmack an drei Gebetszeiten am Tag findet und am Studium der biblischen und rabbinischen Texte, gibt es in keiner der gegenwärtigen Versionen des Judentums irgendetwas, was einen qua Jude packen könnte.«66 Natürlich sind es nicht alle Elemente einer Kultur, welche das Anderssein/ Alterität begründen. Es sind nur jene, welche die menschlichen Unterschiede der Individuen begründen, die in ihnen erzogen wurden. Und diese Elemente sind vor allem die Sprache, die Literatur, die Kunst, die Religion und die Gesetze. Dies sind die Bestandteile, welche eine Kultur, oder auch eine Nation ausmachen. Und sie können nur durch eigene Institutionen erhalten und weitergetragen werden.67 Voraussetzung dafür ist allerdings der Wille einer Menschengruppe als Nation zu leben.
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Jude ist man demnach, wenn man in diesem »momentum«, aus diesem fast blinden Antrieb, Jude sein zu wollen, lebt. Eine Begründung dafür braucht es nicht, auch keine Rechtfertigung nach innen oder nach außen denn »Als Kultur (civilization), hat das Judentum das Vorrecht ein Wert an sich zu sein.« Damit verliert auch die Frage »warum sollte man ein Jude sein« seine Bedeutung, sie bedarf keiner Begründung. Kaplan nennt diesen Zugang zu dieser Frage einen »intuitiven Zugang«. Nach ihm bedarf das Judentum – nicht wie das in Reform und Neoorthodoxie formuliert wurde68 – einer Aufgabenstellung, einer Mission, etwa um der Welt einen universalen Wert, eine universale Wahrheit, zu vermitteln. Das Judentum ist für den Juden ein Wert an sich, der sich nicht durch einen Nutzen oder eine Aufgabe in der Welt rechtfertigen muss. Die offene Frage bleibt nun natürlich, wie die schon genannten konstitutiven Elemente des jüdischen Andersseins/Alterität zu realisieren sind, dies umso mehr in der Diaspora, wo nicht die geschlossene soziale Kohärenz wie in Palästina/Israel sich unwillkürlich ihre eigenen Bahnen sucht, sondern wo sich das Anderssein in steter Auseinandersetzung mit der staatlichen Einheitskultur oder anderen alternativen Subkulturen seine mehr oder weniger bewussten Wege suchen muss. Diese essentielle Frage behandelt Kaplan im dritten Teil seines Buches, die er mit »The Proposed Version of Judaism« überschrieb.
5.
Judentum als Zivilisation oder umfassende Kultur
Das Anderssein, die Alterität, des Judentums wird, wie schon mehrfach gesagt, von Kaplan mit Hilfe der Kategorie der »civilization« beschrieben. Judentum ist nicht Religion, nicht Ethnie, sondern eine umfassende Lebenskultur. Betrachtet man nun die konstitutiven Elemente für eine solche civilization, die er nennt, so erscheint es gerechtfertigt, an Stelle dieses Begriffs, oder dieser Kategorie, auch den der »Nation« zu gebrauchen, wobei natürlich die Vielfalt der Möglichkeiten des Verstehens dieses Begriffes, wie sie in Band vier des Jüdischen Denkens schon erörtert wurden,69 in Betracht zu ziehen ist. Kaplan zählt die folgenden Elemente als konstitutiv für das Entstehen und Bestehen einer civilization/Nation auf: 1. Ein Land, 2. Sprache und Literatur, 3. Sitte und Lebensart (mores), Gesetze und Brauchtum (folkways), 4. Heilige Werte, Wertvorstellungen und Heilige Sachen (Folk sanctions), 5. Kunst und schließlich 6. Gesellschaftsstrukturen. Es sind demnach diese Bereiche oder Ausdrucksweisen, in denen sich die Andersartigkeit des Judentums ausdrückt und aufgrund derer sie definiert werden muss. Es fällt auf, dass die Religion hier nicht genannt wird oder gar als das kon-
68
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 481. 486. 487. 501. 513. 514. 541. 574. 575. 576. 648. 656.
69
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 22–28.
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stitutive Unterscheidungsmerkmal schlechthin auftritt. Natürlich wird die Religion nicht fehlen, aber sie ist eben nur eines unter anderen Elementen, was die jüdische Kultur ausmacht, des Näheren wird sie, wie sogleich noch deutlich gemacht werden soll, unter die folk sanctions gerechnet. Der Katalog der fünf Grundfundamente des Nationalen, der Zivilisation, gilt für alle Zivilisationen oder Nationen, sie bilden die konstitutive Struktur der Kategorie. Die Andersartigkeit des Judentums als Zivilisation wird folglich in der Andersartigkeit aller dieser Elemente oder doch zumindest in einigen von ihnen zu suchen sein, keinesfalls aber nur in einem einzigen von ihnen, denn davon ist Kaplan zutiefst überzeugt, alle diese Bereiche hängen aufs engste miteinander zusammen, ungeachtet möglicher Ähnlichkeiten mit anderen Zivilisationen.
5.1
Das Land
Das Beharren auf diesem Fundament des Geographischen als Konstitutivum des National-zivilisatorischen ist natürlich auch für Kaplan mit einer gewissen Schwierigkeit behaftet, denn das Judentum war fast zweitausend Jahre ohne eine solche geographische Kohärenz. Aber das Beharren ist zugleich der Schlüssel für seine Einschätzung dieses geographischen Elementes auch für das Judentum im Altertum, im Mittelalter und in der modernen Gegenwart. Der modernen Bibelwissenschaft folgend, stellt er gegen die fundamentalistisch-orthodoxe Sichtweise fest, dass es das »Land Israel« war, das die disparaten Stämme und Sippen und sonstigen Bevölkerungsgruppen zu einem »Volk« geformt hat, nicht die Erwählung durch einen transzendenten Gott. »Es ist alleine schon die physische Nähe, die ausreicht, gemeinsame Interessen entstehen zu lassen, die sich in einer gesellschaftlichen Matrix Ausdruck verschaffen, in einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Bräuchen, Gesetzen, Kultformen (forms of worship), ethischen Normen und sozialen Bestrebungen. Was der Erdboden für das Leben eines Baumes, ist ein Land für die Kultur (civilization) eines Volkes.«70 Alle andersartigen Darstellungen der Bibel sind Idealisierungen vom späteren Standpunkt der schon geformten Nation aus. Das Problem musste nun natürlich die lange Zeit der Landlosigkeit Israels bilden, denn sie steht offenbar im Widerspruch zur Grundthese. Hier kommt Kaplan die bekannte Tatsache zu Hilfe, dass die Juden bis zur Emanzipation gleichsam stets ein »Staat im Staate« waren, mit eigener kultureller und auch rechtlicher Autonomie, wie dies auch die Gastvölker gesehen haben. Dieser Zustand hat die einmal im Lande Israel gestaltete Uniformität durch die lange Exilszeit getragen. Hinzu kommt das stete Exilsbewusstsein und die kultisch-religiöse Er-
70
Judaism as a Civilization, S. 186.
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innerung an das eigene Land, in das man dereinst zurückzukehren hofft. – Natürlich ist es diese Landbezogenheit, die nach dem Fall des virtuellen Landes hinter den Ghettomauern, nach einer neuen Konkretisierung schreit, und diese sieht er eben im Zionismus, der den verstreuten Juden nun neuerlich wieder das nationprägende Land zurückgibt.71 In einem eigens eingefügten ausführlichen Kapitel72 hebt Kaplan hervor, dass wie für den Pentateuch, so auch für die Propheten und die spätere rabbinische Literatur, bis herein in die häuslichen Gebetsformeln, das von Gott dem Volk, der Nation, Israel zugesagte Land in der Vergangenheit und in der erwarteten messianischen Zukunft eine zentrale Rolle spielte, was auch von den beiden Tochterreligionen, Christentum und Islam, ebenfalls anerkannt wurde und schließlich durch die Balfour Declaration sowie die Mandatsübertragung auf Großbritannien durch die Vereinten Nationen seine weltweite politische Anerkennung fand. Es ist diese Sicht, welche eine Trennung von israelischem Staatsvolk und jüdischer Diaspora als unzulässig erachtet, vielmehr in der Rückkehr ins Land der Väter und dessen Wiederaufbau, sei es auch nur durch einen Teil des Volkes, auch und gerade für die Diaspora ein unverzichtbares Element der Bestandswahrung der jüdischen Zivilisation erkennt. Eine Trennung von Staat Israel und Diasporajudentum erscheint dieser Sicht als völlig illegitim. Die politische Realität der jüdischen »Heimstätte« in Palästina – umso mehr natürlich der ins Leben getretene Staat Israel – hat, so Kaplan, unübersehbare Auswirkungen auf das jüdische Selbstbewusstsein weltweit. So schreibt er 1934: »Der Beitrag Palästinas zum Judentum ist keine ferne Hoffnung, sondern eine gegenwärtige Realität. Palästina wurde für die Juden überall ›das Symbol einer korporativen Existenz‹. Sämtliche jüdischen Aktivitäten quer durch die Diaspora, die eine konstruktive Natur und die Aussicht auf Dauer haben, leben aus der Inspiration durch Palästina. Palästina strahlt einen verbindenden Einfluss auf die verschiedenen Judenschaften der Welt untereinander aus wie auch auf die unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb dieser Judenschaften. Der Jude kann jetzt Jude bleiben, ohne genötigt zu sein, einem uniformen Verhaltensmodell zu folgen. Er kann nun seine Überzeugungen und Vorlieben pflegen, ohne seinen Status als Jude zu gefährden, oder die jüdische Einheit zu schwächen.«73
71
Judaism as a Civilization, S. 186–190. 264–279.
72
Judaism as a Civilization, S. 264–279.
73
Judaism as a Civilization, S. 278.
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5.2.
Die Sprache
Sieht Kaplan im eigenen Land die unverzichtbare Bedingung für das Entstehen und die Bewahrung einer nationalen Kultur, einer Zivilisation, so ist ihm die Sprache das unverzichtbare »vehicle«, Instrument, dafür. Denn die Sprache ist ja nicht nur Kommunikationsmittel, sondern »ein Schatzhaus einer spezifischen Ansammlung von Ideen und Erfahrungen, welche der Gemeinbesitz der Gruppe sind, und sie von anderen Gruppen unterscheidet.«74 Auch hier hat es das Exil nicht vermocht, die ursprünglich gemeinsame Sprache zu verdrängen, wiewohl sie schon früh als Alltagssprache im Rückzug war oder ganz verschwand. Denn wo immer die Juden in der Diaspora lebten, hat das Hebräische in Schrift, in Semantik und im Lexikon die jeweils neu aufgenommene Exilssprache geprägt und zu jüdischen Sprachen umgeformt, das Jiddische, das Ladino etc.75 Von großem Gewicht war dabei natürlich die Funktion des Hebräischen als Religionsund Literatursprache. Darum begrüßt er natürlich nicht nur die Wiederbelebung der alten Nationalsprache, des Hebräischen, sondern fordert auch deren Kenntnis durch jeden Juden, gerade auch in der Diaspora.76
5.3.
Sitte, Gesetz und Brauchtum
In Sitte, Gesetz und Brauchtum sieht Kaplan die wesentlichsten Inhalte einer Zivilisation. Sie bestimmen in erster Linie die Gleichheit – nach innen – und die Andersartigkeit – nach draußen. Natürlich sieht er in diesen Normen des individuellen und kollektiven Verhaltens keinen transzendenten Gotteswillen. Es sind im vollen Sinne gesellschaftliche Bräuche und Normen. Zu ihnen gehören Volksbräuche, die gesellschaftliche Etikette, Moralstandards, Zivil- und Kriminalrecht wie auch religiöse Praktiken.77 All dies findet der Jude in der schriftlichen und mündlichen Tora. Dass in dieser Tora sich auch religiöse Gebote finden, darf nach Kaplan allerdings nicht zu der irrigen Auffassung führen, das Judentum sei nur eine Religion und nicht darüber hinaus eine umfassende gleichsam säkulare Zivilisation. Dies gilt auch dann, wenn in dieser Tora, wie es in der Vergangenheit üblich war, alle Elemente des jüdischen Lebens mit der GottesIdee in Verbindung gebracht werden. Denn ebensowenig wie ein Mensch nur darum isst, um einen Mahlsegen sprechen zu können, eben so wenig ist die Gottes-
74
Judaism as a Civilization, S. 190.
75
Vgl. dazu auch, K. E. Grözinger, Sprache und Identität – Das Hebräische und die Juden, in:
76
Judaism as a Civilization, S. 190–194. 452–453.
77
Judaism as a Civilization, S. 194.
Ders. (Hg.), Sprache und Identität im Judentum, Wiesbaden 1998, S. 75–90.
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idee der Grund für die biblische Gesetzgebung. Es gilt die umgekehrte Rangfolge, erst das Leben, dann die abgeleitete Idee.78
5.4
Heilige Werte, Wertvorstellungen, heilige Sachen und Religion
Unter der Rubrik des Heiligen oder der Wertvorstellungen versteht Kaplan in erster Linie die verbale oder denkerische Begründung des Handelns der Gruppe. Jedes Volk hat seine spezifischen Sancta, das heißt Dinge, die für sie von besonderer Wichtigkeit, sprich Heiligkeit, sind. Diese Sancta machen das Selbstbewusstsein der Gruppe aus. Sie sind es, die einer Handlung Gültigkeit, Rechtsverbindlichkeit, verleihen (validation). Im Laufe der Menschheitsgeschichte – so auch im Judentum – sieht er drei Quellen der Validierung von Handlung. Im Altertum war dies in der Regel der Gottesbezug. Er ist es, der dem menschlichen Tun und den irdischen Dingen und Personen Gültigkeit, Bedeutung oder Heiligkeit verleiht. Erst im Mittelalter trat neben die göttliche Validierung die durch die menschliche Vernunft, in der Moderne besteht bei vielen die Tendenz, die menschliche Vernunft als die einzige Validierungsquelle gelten zu lassen. In der Moderne trat außerdem die Nation, das Volk, als weitere Validierungsquelle auf. Nach Auffassung Kaplans vermögen indessen beide neuere Validierungsquellen die religiöse Validierung nicht zu verdrängen – was wesentlich in seinem Religionsverständnis begründet ist, wovon später gehandelt werden muss. Es ist dies nicht, das sei schon vorweggenommen, nicht ein Verständnis, des Bezuges zur Transzendenz, sondern ein durchaus soziales Verständnis von Religion. Dies gilt umso mehr für das Judentum, weil in ihm »die religiösen und nationalen Zuschreibungen von Heiligkeit zusammenfallen.«79 Die religiöse, rationale und soziale Validierung des menschlichen Handelns und Lebensraumes sind als vollkommen anthropologische und nicht theologische Kategorien jeweils abhängig von der menschlichen Befindlichkeit. Es ist die Verkennung dieser Tatsache, welche eines der Hauptprobleme der modernen Religionen ist, denn: »In der Gegenwart, sind die Glaubensvorstellungen, Riten und Zeremonien der verschiedenen historischen Religionen nicht einmal für die Mehrheit derer, die sie befolgen, existentiell bedeutsam. Und dies nicht nur weil sie nicht mehr mit der weiter gewordenen modernen menschlichen Erfahrung übereinstimmen, sondern weil sie in keinem Zusammenhang mehr mit den grundlegenden Lebens-Interessen des Einzelnen stehen. Anstatt in den Dingen, wel-
78
Judaism as a Civilization, S. 196.
79
Judaism as a Civilization, S. 199.
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Mordecai M. Kaplan
che die Arbeit und das Spiel des modernen Menschen ausmachen, verwurzelt zu sein, gründen sie auf der Arbeit und dem Spiel des antiken Menschen. Während der letzten zwanzig Jahrhunderte suchte die Religion die Aufmerksamkeit des Menschen von den vergänglichen Interessen dieser Welt abzulenken und lehrte ihn stattdessen auf Gott zu schauen, weg von seinen alltäglichen Sorgen und Freuden. Deshalb begnügte sich der Mensch damit, über die religiösen Erfahrungen seiner Vorfahren nachzusinnen und sie in Schmerz und Wunschdenken zu übertragen, die auf eine jenseitige Welt gerichtet waren. Heutzutage hingegen blickt der Mensch auf die gegenwärtigen Realitäten als Beweis für das Göttliche in der Welt. Wenn diese Wirklichkeiten enttäuschend oder desillusionierend sind, wird er zum Atheisten.«80 Es ist dieser notwendige Realitätsbezug der Validierung des menschlichen Tuns und Lebens, der Kaplan zu einem weiteren folgenschweren Schluss führt, nämlich, dass auch die Religion sich dieser nahen existentiellen Lebenswirklichkeit nicht entziehen kann. Und das bedeutet, dass die Religion nicht eine »universale abstrakte Wahrheit sein kann, sondern eine lokale und konkrete Erfahrung.« Religion und Gesellschaft, das heißt die partikulare Gesellschaft, sind unauflösbar miteinander verknüpft. Religion kann nicht von einer konkreten Zivilisation getrennt und einfach auf eine andere übertragen werden: »Die Wahrheit ist, die Religion ist eine Qualität, die in der Substanz einer jeden Zivilisation inhärent ist. Man kann eine Religion nicht von einer Zivilisation / Kultur trennen sowenig man das Weiß vom Schnee und das Rot vom Blut trennen kann. Wünscht man eine Religion, die für das Leben relevant ist, muss man notwendigerweise akzeptieren, dass die Zivilisation Schritt für Schritt an ihrer Seite geht. […] Ob man dies erkennt oder nicht, seine wahre Religion findet man nur in der eigenen Kultur (civilization). Wenn aber die Religion eine Eigenschaft ist, die untrennbar mit einer Kultur verbunden ist, folgt daraus, dass die Existenz und die Entwicklung einer Religion wie die der Zivilisation vollkommen von einem Volk abhängt, das ein gemeinsames Leben führt, weil sie sich nahestehen und dieselben Grundinteressen haben.«81 »Eine Religion«, so formuliert er an anderer Stelle nochmals knapp und prägnant, »ist ein natürlicher sozialer Prozess, der einem dem Menschen innewohnenden Bedürfnis nach Erlösung und Selbstverwirklichung entspringt.«82 Aus al80
Judaism as a Civilization, S. 200.
81
Judaism as a Civilization, S. 201–202.
82
The Greater Judaism in the Making, S. 457. 460.
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ledem folgt zugleich, dass eine Religion nur im Verbund einer Gesellschaft gelebt und geübt werden kann. Wie eine Kultur auf dem gesellschaftlichen Leben aufruht und aus ihm lebt, so auch die Religion.
5.5
Kunst
Die Kunst ist trotz der individuellen Schöpferkraft zuallererst im Leben der Gesellschaft verwurzelt. Sie bringt die Empfindungen der Gesellschaft zum Ausdruck und schafft eine emotionale Kommunikationsbasis in der Gesellschaft. Sie ist Teil des gesellschaftlichen Erbes, das der Gesellschaft Kraft verleiht und seine Gefühle evoziert. »Kurz gefasst, die Auffassung, das Judentum hätte keine beachtenswerte Kunst hervorgebracht und brauche eine solche auch nicht, ist eine Illusion. Dies bestätigen die Tatsachen der jüdischen Vergangenheit, und die Logik der Kultur (civilization) im Allgemeinen macht es klar, dass eine solche Illusion gefährlich für die Erhaltung des Judentums ist. […] Die Kunst verleiht jedem Gegenstand des geistigen Lebens dieses Volkes einen einzigartigen expressiven Wert. Die Schöpfer dieser Kunst statten die Landschaft der Kultur mit einer wertvollen Farbe aus, seine Sprache mit einer ursprünglichen und einzigartigen Schönheit und die Personen ihrer Vergangenheit mit einer heroischen Gestalt.«83 Mit diesen Worten widerspricht er der verbreiteten Meinung, im Judentum habe sich die gesamte Kultur auf die Sprache, speziell die Sprache der Tora konzentriert, weshalb das Judentum keine wirkliche Kunst entwickelt habe, und die Kunst auch kein für den Menschen relevantes Erkenntnismedium sei.
5.6
Die Gesellschaftsstruktur
Grundlage für all die vorgenannten Elemente einer Zivilisation ist das kollektive Leben einer Gesellschaft, die durch einen gemeinsamen allgemeinen Willen (general will) zusammengehalten wird. Dieser Wille wird entweder durch die meist vom Staat ausgeübte physische Gewalt (physical coercion) – etwa auch in der Schulpflicht – und sodann durch die soziale Erwartung (social expectation) durchgesetzt. Ohne solch eine von einem allgemeinen Willen gelenkte soziale Struktur, »ohne Lehrer und Beamte, die dank ihrer anerkannten Autorität anzei-
83
Judaism as a Civilization, S. 205.
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Mordecai M. Kaplan
gen, was wichtig und heilig ist, kann die Aufrechterhaltung der der Sancta des Volkes nicht bewerkstelligt werden.«84 Auch für die Gesellschaftsordnung gilt, dass sie in früheren Zeiten sowohl durch den Bezug zur Gottes-Idee wie auch durch die physische Gewalt gesichert wurde. Dies war auch so als die Juden noch in ihrem eigenen Land lebten. Danach in der Diaspora konnte die jüdische Gemeinschaft durch die Tora als dem offenbarten Gotteswillen zusammengehalten werden, nicht zuletzt durch das Instrument des Synagogen-Bannes (excommunication) meist aber durch das Instrument der sozialen Erwartung. Nachdem mit der Emanzipation das politisch wirksame Instrument des Synagogen-Bannes abgeschafft war, blieb – in der Diaspora – nur noch die gesellschaftliche Erwartung, welche die kulturelle Einheit bewahren konnte. Nachdem die Elemente beschrieben sind, die zu dem gehören, was Kaplan eine civilization nennt, kann auch die Aufgabe klarer formuliert werden, was zu tun ist, um das Judentum als solche Zivilisation zu erhalten – es reicht nicht, eines dieser Elemente als ausschließliches Fundament zu erwählen, es gilt vielmehr eine Gesellschaftsstruktur zu bilden, welche über den verschiedenen Gesellschaften steht, in welche die jüdischen Gemeinschaften in der Diaspora ja zugleich eingebunden sind: »Das Problem des jüdischen Lebens in der Gegenwart ist demnach ein doppeltes: es gilt die angemessene Gesellschaftsstruktur zu finden, welche Form und Inhalt der jüdischen Zivilisation beleben kann und diese Struktur im Leben der verschiedenen Nationen zu integrieren, mit denen sich die Juden gleichfalls identifizieren.«85 Die Juden in der Diaspora müssen eine Formel finden, zugleich zwei unterschiedlichen Nationen anzugehören, ähnlich wie sie seit Jahrhunderten meist auch nicht einsprachig sondern zweisprachig lebten.86 Erst wenn dies gelingt, nämlich möglichst alle diese Elemente zu realisieren, kann Judentum als Zivilisation weiter bestehen, sich nur auf die Religion zu reduzieren wäre demnach der falsche Weg. Auch hinsichtlich der zu findenden gesellschaftlichen Strukturen macht er konkrete Vorschläge in seinem Kapitel »Jewish Communal Organization«.87 Diese Überlegungen, die zunächst nur auf die US-Amerikanische Situation zugeschnitten sind, gehen indessen von dem das ganze Buch tragenden Grundsatz aus, dass nach Wegfall der transzendenten Erwartungshoffnungen die jüdische Gemeinschaft noch mehr als zuvor sich eine Gestalt geben muss, die dem individuellen Juden eine unverzichtbare Lebensgrundlage als Jude bietet, das heißt, sie muss ihm Angebote auf allen für sein tägliches Leben relevanten Fragen machen. 84
Judaism as a Civilization, S. 206.
85
Judaism as a Civilization, S. 208.
86
Judaism as a Civilization, S. 193.
87
Judaism as a Civilization, S. 280–299.
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Mit dieser Verpflichtung der Gemeinschaft, dem Individuum nützlich und hilfreich sein zu müssen, stellt sich Kaplan ausdrücklich in Opposition zu Achad Haam, der die Interessen des Individuums ganz den Interessen des Kollektivs, den nationalen Interessen unterordnen wollte.88 Demgegenüber ist er der festen Überzeugung, dass das Verpflichtungsverhältnis von Nation/Kollektiv und Individuum ein reziprokes sein müsse. Wenn die jüdische nationale Zugehörigkeit dem Juden nicht hilft, das Ziel seiner innerweltlichen irdischen Selbstverwirklichung (sprich Erlösung, salvation) zu erlangen, wird sie für ihn obsolet und ohne Interesse bleiben, was aus seiner Sicht eine durchaus legitime Einstellung ist, wie er aber umgekehrt auch die Auffassung vertritt, dass eine solche »Erlösung« ohne eine solche Gemeinschaft unmöglich ist. Einer solch umfassenden Aufgabenstellung kann des Weiteren nach Kaplans Meinung die kongregationalistische Verfassung des amerikanischen Judentums, das heißt der Organisation in religiösen »congregations«, getrennt nach den unterschiedlichen innerjüdischen Konfessionen, nicht gerecht werden. Was demgegenüber vonnöten sei, ist eine kommunale Organisation, sprich einer Art staatlicher Organisation in bürgerlichen Kommunen und Regionen und schließlich überregionalen und internationalen Zusammenschlüssen aller Juden, die sich aller Fragen des gegenwärtigen Judentums annehmen, wovon die Religion nur ein Teil ist – aber eben dahingehend, dass auch die Rabbiner der verschiedenen Ausrichtungen vom kommunalen Verband angestellt werden. Um all dies mit seiner gleichnishaften Formulierung zusammenzufassen: »Die Gemeinde (community), als Kirche verstanden, konnte die die Loyalität der Individuen vor allem deshalb erhalten, weil sie sich verantwortlich erklärte, ihm einen Platz in der kommenden Welt zu sichern. Das war die Aufgabe, die Israel ebenso wie eine Kirchen-Gemeinde nach bestem Vermögen zu erfüllen suchte. Um ein rabbinisches Gleichnis zu verwenden: Israel ermöglichte es dem Juden einen Platz über der Sonne zu gewinnen. Nun aber, nachdem das Problem, sich einen Platz über der Sonne zu sichern irrelevant geworden ist, muss das jüdische Volk all seine Energien dafür einsetzen, um dem Individuum zu helfen, sich einen Platz unter der Sonne zu sichern.«89
88
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 193–198.
89
Judaism as a Civilization, S. 286.
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6.
Mordecai M. Kaplan
Judentum als gesellschaftlicher Prozess – eine neue »Tora«
Das Resultat aus diesen Definitionsgrundlagen des Judentums als Zivilisation schlägt ein weiteres Mal den traditionellen Auffassungen vom Judentum als einer ewigen, unveränderlichen und von der Gottheit gestifteten Größe, ins Gesicht. Dieses von Kaplan beschriebene Judentum ist »kein statisches System von Glaubenslehren und Praktiken, sondern ein lebendiger dynamischer Prozess«. Kaplans Judentum nimmt die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse ernst, dass das Judentum des Maimonides verschieden ist vom Judentum des biblischen Esra und dieses wieder von dem des Königs David, so verschieden wie auch die Welt dieser drei Männer voneinander war.90 Daraus folgt, dass nunmehr, in einer veränderten Welt sich auch ein völlig verändertes Judentum präsentieren muss. Zum Aufweis dieser tatsächlich erfolgten und nunmehr neuen erforderlichen Veränderung des Judentums greift er als Indikator dieser Veränderungen auf den nachweisbaren Wandel der jüdischen Religion in der Vergangenheit zurück. Die jüdische Religion sei in ihrer ersten Phase eine henotheistische Religion gewesen, die ihre Gottesverehrung auf eine aus einer Vielzahl von Gottheiten beschränkte.91 Dieser Phase folgte die theokratische Phase, in der das unveränderliche Gesetz, die Tora, des einen Gottes die Regeln des menschlichen Lebens bestimmte und unabhängig von priesterlichen Orakeln oder prophetischer Offenbarungen war.92 Dieser Phase folgte die »überweltliche Phase«, das heißt die Hoffnung auf die Erschaffung einer neuen Welt, des Olam ha-ba.93 Nun aber, nachdem sich, wie oben dargelegt, die menschlichen Selbsterfüllungsparameter von der Jenseitigkeit in das Diesseits verlagert haben, steht das Judentum an der Schwelle einer vierten Phase, die humanistisch und spirituell sein müsse. Dies wird in gewisser Weise eine Rückkehr zur ersten biblischen Phase sein, wenn auch auf höherem Niveau, insofern als das Zentrum der geistigen Interessen sich wiederum hier auf Erden findet und »die Gemeinschaft mit Gott wieder in der normalen [irdischen] Erfahrung möglich sein wird.«94 Diesen Paradigmenwechsel macht Kaplan auch einmal an dem in den verschiedenen Bänden des Jüdischen Denkens schon mehrfach herangezogenen Parameter der Lehre vom Menschen als imago dei deutlich: »Die moderne jüdische Zivilisation wird mehr als nur eine einfache Rückkehr sein. Es wird eine Abenteuerreise in die unerforschten Möglichkeiten des 90
Judaism as a Civilization, S. 209.
91
Zu dieser Phase der jüdischen Religionsgeschichte s. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 49–83.
92
Zu dieser Phase s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 119. 153. 382.
93
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 198–208. 263–272. 292–293. 472–479.
94
Judaism as a Civilization, S. 214.
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kreativen Lebens sein. Es wird alle bisher latenten Implikationen der eigenen Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes ausschöpfen. Es wird den Theozentrismus in den Kategorien eines Anthropozentrismus neu deuten und das Streben nach Gerechtigkeit, die Erforschung der Wahrheit und die Entdeckung des Schönen als Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes verstehen.«95 Damit sind die oben schon genannten Quellen für die drei Grundstrebungen des Menschen nach dem Guten, dem Wahren und dem Schönen auf eine neue, anthropologische Grundlage gestellt, welche die ehemals jenseitige göttliche Erkenntnisquelle ersetzt. Diese menschfundierte Erkenntnisquelle hat zugleich zur Folge, dass fortan auf eine Uniformität in Glaubens- und Handlungsfragen verzichtet werden muss und dies betrifft das jüdische Individuum gerade so wie die in verschiedenen gesellschaftlichen Situationen lebenden jüdischen Gemeinschaften, die gemäß dieser unterschiedlichen Situation sich ganz unterschiedlich orientieren müssen. Die ideale Situation ist demnach die in Palästina / Israel, wo »die Juden, die Möglichkeit haben ihre eigene Kultur (civilization) zu denselben Bedingungen entwickeln zu können wie andere Nationen.«96 Anders ist die Situation in Ländern, in denen die Juden innerhalb der Mehrheitskultur wenigsten als Minderheiten korporative kulturelle Rechte genießen und solchen Ländern, in denen die Juden nur als Individuen ihr Judentum frei gestalten können. In beiden letzteren Fällen kann das eigene Judentum demnach nur ein »BindestrichJudentum« sein, amerikanisch-jüdisch, französisch-jüdisch etc. – gemeint ist dies, darauf sei nochmals hingewiesen, in kulturellem Sinne, nicht nur im Sinne einer religiösen Konfession. Denn, auch bezüglich der Religion gilt, dass keine jüdische Ausdrucksform oder kein jüdisches Interesse alleine für sich beanspruchen kann, das Judentum als Ganzes darzustellen. Die Religion, die auch künftig unverzichtbar ist, entfaltet eben ihre Macht in den tieferen Schichten des Seins, die nur schwer oder nicht in Worte zu fassen sind und in den ihrer selbst nicht bewussten Gewohnheiten des Menschen. Ziel muss es sein, jenseits aller möglicher, verschiedener und auch gegensätzlicher Ausdrucksformen des Judeseins eine Konzeption zu finden, welche all diese Differenzen umfasst und jedem gerecht wird, der Jude sein und bleiben will aus welchen Motivationen auch immer, seien sie orthodox, reformerisch oder atheistisch. Die Konzeption, die Kaplan vorschlägt, die »civilization« nennt er auch »Nation«, wohl wissend, dass dieser Begriff und dessen historische Realität sehr belastet ist. Er aber weist diese Belastung zurück mit dem Argument, dass Gleiches auch für die Religion gilt, es vielmehr darauf ankomme diese Konzeption 95
Judaism as a Civilization, S. 214.
96
Judaism as a Civilization, S. 215.
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menschlicher Gemeinschaft zum Wohle des Individuums und der Völkergemeinschaft zu entwickeln. Er glaubt an den Nutzen der Aufteilung der Menschheit in Nationen und sieht in der Turmbaugeschichte der Bibel einen ersten Hinweis auf diese Einsicht im alten Israel.97 Angesichts der Besonderheit der »jüdischen Nation«, die neben dem wiedergewonnenen Mutterland von einer weltweiten und wohl für immer bestehenbleibenden Diaspora gebildet wird, fordert Kaplan einen »new nationalism« – nicht nur für das Judentum –, der weniger politisch und ökonomisch, sondern ethisch ausgerichtet, humaner und liberaler ist. Vor allem soll dieser Nationalismus der einer »international nation« sein. Die Juden sollen mit dieser Konzeption eines internationalen Nationalismus beweisen, dass es möglich ist, »mit gleicher Integrität die beiden Pole dieses Widerspruchs des gegenwärtigen Lebens zusammenzuhalten, den Widerspruch zwischen der Loyalität gegenüber der eigenen Nation und zugleich gegenüber der ganzen Menschheit.«98 Dies bedeutet, eine solche Nation soll nun nur nach innen wirken, nicht nach außen gegenüber anderen Nationen,99 und dies in erster Linie als kulturelle Kraft des Zusammenhaltes. Hierin stimmt er ausdrücklich Renans Definition einer Nation zu. »Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, das aus zweierlei besteht – das eine in der Gegenwart, das andere in der Vergangenheit: Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, und das andere ein gegenwärtiges Bewusstsein an Übereinstimmung, dem Wunsch zusammenzuleben, und dem Willen das überkommene Erbe als ungeteilte Einheit wirksam sein zu lassen.«100 Es ist diese Betonung des Geistigen, die Kaplan schließlich zu einer gewissen Verengung der Basis des Nationalen gegenüber den zuvor aufgestellten Elementen einer Zivilisation, nämlich auf die Tora, leitet. Die altjüdische Lehre von der Erwählung Israels, ist für ihn ein Indiz dafür, dass man mit ihr zum Ausdruck bringen wollte, dass der jüdische Mensch sein Leben als solcher nur im Kontext dieser Zivilisation, nur in diesem Kollektiv, in dieser Kultur leben kann. Und ebenso wie die alte Erlösungslehre den jüdischen Menschen auf die eigene kollektive Kultur als den für ihn notwendigen Lebensraum verwies, so galt der alt-
97
Judaism as a Civilization, S. 233.
98
Judaism as a Civilization, S. 241.
99
Kaplan wendet sich hier nachdrücklich gegen Oswald Spengler, der die Nation vor allem in
100
Ernest Renan, Quʼest-ce quʼune nation? Discours et Conferences, Paris 1887, S. 306–307;
die Auseinandersetzung mit anderen Nationen gestellt sieht; Judaism as a Civilization, S. 242. nach Judaism as a Civilization, S. 244; siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 83. 177. 179.
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jüdischen Tradition die Tora als das Instrument, das dieser Menschengruppe die Struktur und das Wesen einer Nation verliehen hatte. Diese altjüdische Nation war darum als Theokratie konzipiert. Beide Konzepte, das von der Erwählung wie das der Tora-gegründeten Theokratie, sind in der Moderne so nicht mehr verstehbar und müssen analog neu konzipiert werden. Darum: »Für den Juden der Gegenwart kann die Tora nur eine geschichtlich gewachsene Kultur (civilization) darstellen, und die Nationalität die dadurch beglaubigt wird, muss ihren Ausdruck im Ideal der Demokratie finden.«101 Dass diese Neudeutung des Tora-Konzeptes legitim ist, scheint Kaplan dadurch bestätigt, dass die Tora als Bund verstanden wird, der zwei Mal vom jüdischen Kollektiv geschlossen wurde, unter Josia102 und später unter Esra.103 Daraus folgt: »Als Bundeschluss ist die Tora ein Symbol für die Wahrheit, dass eine Nation nicht durch eine zufällige gemeinsame Vorfahrenschaft oder physische Nähe entsteht, sondern durch die Übereinstimmung (consent) derjenigen, die sie bilden, um zusammenzuleben und ihre gemeinsame Vergangenheit als Inspirationsquelle für ihre gemeinsame Zukunft zu betrachten.«104 Die Tora muss daher auch für ihn das Zentrum der kulturellen Aktivitäten dieser Nation sein, sie ist die Mitte der nationalen Erziehung, der alles andere unterzuordnen ist.105
7.
Gesellschaft – Religion – Gott
Die Reihenfolge der Begriffe der voranstehenden Überschrift ist mit Bedacht gewählt. Denn es ist diese Reihenfolge, welche in Kaplans Denken, die Grundlage des erlösungsfähigen menschlichen Seins und dessen Ausdrucksformen beschreibt. Mit anderen Worten, es ist das Leben der Gesellschaft, sei sie Gruppe, Stamm oder Nation, welche die Religion als Ausdrucksmedium ihres Selbstbewusstseins schafft, als Form des kollektiven Bewusstseins. Und zu dieser Art Selbstexpression gehört, wie die Religionen-Geschichte weltweit zeigt, stets auch die Gottes-Idee »god-idea«. Ja, es ist dieser Begriff der Gottes-Idee, den er am häufigsten gebraucht, wenn er vom Divinum spricht. Einfach von »Gott« spricht Kaplan nur, um seinen Lesern einen vertrauten Begriff anzubieten und zu 101
Judaism as a Civilization, S. 258.
102
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 117–122. 63–65. 75. 83.
103
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 73. 144–145. 163.
104
Judaism as a Civilization, S. 258.
105
Judaism as a Civilization, S. 259.
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betonen, dass er letztlich, auch wenn er selbst präzise von der »Gottes-Idee« spricht, mit dem Rest der jüdischen Gemeinschaft ebenso unbefangen das Wort »Gott« in den Mund nehmen kann. Dem Kenner der modernen Religionswissenschaft wird es schon aufgefallen sein, in wessen Spuren er sich mit solchen Auffassungen bewegt. Es ist der französische Rabbinersohn und Professor der Soziologie Emile Durkheim, dessen einschlägiges Standardwerk »Die elementaren Formen des religiösen Lebens«106 Kaplan eigens mehrfach zitiert und überaus lobt.107 Es ist diese enge und nach Kaplans Auffassung unverzichtbare Verbindung von Gesellschaft oder Nation und Religion die ihn von Achad Haam trennt, der mit seinem Kultur-Zionismus die Auffassung vertrat, das Judentum sei in erster Linie eine Kultur im weitesten Sinne, zu der die Religion zwar auch gehört, aber ab einem gewissen modernen Entwicklungsstand der Menschheit und dies umso mehr bei vielen modernen Juden108 verzichtbar sei.109 Demgegenüber glaubt Kaplan, dass Religion für eine menschliche Gesellschaft unverzichtbar ist. Das Zurückgehen der Religionen in der Moderne sei demgegenüber nur ein vorübergehendes Phänomen. Über kurz oder lang würden sich all diese »Zivilisationen«, die glauben auf Religion verzichten zu können, neue Religionen schaffen, mit denen sie sich identifizieren könnten, wenn dies auch Religionen eines neuen Typs sein würden.110 Er weist auch Achad Haams Auffassung zurück, der Mensch könne unter Hintanstellung oder gar Verzicht auf seine individuellen Bedürfnisse und seinen eigenen Selbstverwirklichungswillen all dies ganz aus dem Kollektiv seiner Kultur gewinnen.111 Aus diesem Grund setzt Kaplan an die Stelle von Achad Haams Kultur, die das Individuum lenkt, die Religion, ohne die eine Gesellschaft nach seiner Auffassung nicht auf Dauer existieren kann. Die Religion ist für ihn – wie dies schon Moses Hess sah,112 eine wesentliche Funktion der Nation. Was für alle Kulturen/Zivilisationen gelte, müsse umso mehr für das Judentum gelten, dessen Beitrag zur Weltkultur – seit den Thesen von Herder und Hegel113 – vor allem in seiner Leistung auf dem Gebiet der Religion bestanden habe. Darum:
106
Emile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1912 (dt. L. Schmidts,
107
Z. B. Judaism as a Civilization, S. 307. 333. 336.
108
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 185.
Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1981/1984 (3. Aufl.).
109
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 4, S. 164–169. 185–188. 198–204.
110
Judaism as a Civilization, S. 305.
111
Judaism as a Civilization, S. 282; siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 188–198.
112
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 78–80.
113
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3. S. 34. 467. 481. 486. 501. 513.
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»Alleine schon die Tatsache, dass die Juden sich gezwungen sehen, ihren Status als Nation erneut zu betonen, erlegt ihnen die Verpflichtung auf, eine religiöse Nation zu sein, denn die Juden können alleine durch die Religion die Vorstellung einer Welt-Einheit und eines geistigen Einsseins der Menschheit wiedererlangen.«114 Mit deutlicher Verschiebung seiner an anderer Stelle vorgetragenen Sichtweise von der jüdischen Zivilisation, in welcher die Religion nur eine unter anderen Ausdrucksweisen sei,115 rückt Kaplan also hier die Religion ins Zentrum der jüdischen Kultur, macht sie zu deren Eckstein. Dies betont er mit allem Nachdruck nochmals in seiner Zusammenfassung des Buches: »Die jüdische Religion als Religion des Volkes (folk religion) sollte ihren Ausdruck in der Ausübung eines Maximums an religiösen jüdischen Bräuchen, und an jüdischen Volksgebräuchen finden, die sich mit den eigenen Lebensumständen in Übereinstimmung bringen lassen. Es kann im Hause kein jüdisches Leben ohne jüdische Symbole und ohne die Feier/Observanz des Schabbat, der Feiertage und ohne die mit Geburt, Heirat und anderen Ereignissen des Lebens verbundenen Bräuche geben.«116 Entscheidend an dieser Festlegung Kaplans ist jedoch der Begriff der »VolkesReligion« (folk religion), womit nicht die niedere Religion der unteren Volksschichten gemeint ist, sondern die Religion des Volkes, in welcher dieses sich selbst feiert und zum Ausdruck bringt. Entscheidend für seine Analyse und Programm ist die Unterscheidung zwischen »persönlicher Religion« und »Volkes-Religion« (folk religion), also der Religion, die jeder Einzelne für sich hegt, seine persönliche Weltanschauung, und der Religion, die sich als öffentlicher Kultus der gesamten Volksgemeinschaft äußert: »Die jüdische Volkes-Religion besteht in all jenen Ausdrucksformen des jüdischen Lebens und in all jenen Formen der Bräuche und Gesetze, durch welche der Einzelne sich mit dem Leben und den Bestrebungen seines Volkes identifiziert. Es ist demnach zu erwarten, dass die Juden in der VolkesReligion einen gemeinsamen geistigen Nenner finden. Die persönliche Religion ist hingegen im Wesentlichen die Weltanschauung die jeder für sich selbst erlangen sollte und von jedem erwartet wird. Eine solche Weltan114
Judaism as a Civilization, S. 306.
115
Judaism as a Civilization, z. B. S. 194. 209. 219.
116
Judaism as a Civilization, S. 521.
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schauung hinsichtlich des Lebens und des Universums sollte jeder Jude in völliger Freiheit gemäß seinen eigenen persönlichen Überzeugungen und Anschauungen entwickeln können.«117 Diese klare Unterscheidung, welche in der Religion des Volkes eine SelbstZelebrierung der Nation sieht, in der persönlichen Religion hingegen die eigene Lebens- und Weltphilosophie, kann Kaplan nicht immer in dieser Reinheit auseinanderhalten, da er ja der Überzeugung ist, dass die Gruppe wesentlich das Denken des Individuums prägt und ein jüdisches Individuum keinen antijüdischen Theologien, wie etwa den christlichen, anhängen darf. Auch hinsichtlich der Gottes-Idee sind die Grenzen zwischen individueller und kollektiver Religion nicht immer scharf zu vollziehen gewesen.
7.1
Die neue Form des Gottesglaubens – die persönliche Religion
Kaplan erkennt den Widerspruch zwischen seiner Forderung, die Religion wieder in die Mitte der nationalen jüdischen Kultur zu stellen und seiner Überzeugung, dass die überkommene auf die Transzendenz ausgerichtete Religion für einen modernen Menschen nicht mehr annehmbar sei, sehr wohl. Die einzig logische Konsequenz, um diesen Widerspruch aufzulösen ist für ihn darum, die Religion neu zu konzipieren, damit sie wieder in die Mitte des modernen menschlichen Bewusstseins treten kann: »Es ist ebenso notwendig, für diejenigen, welche mit den bislang vorgeschlagenen Religions-Konzepten unzufrieden sind, eine [passende] Konzeption von Religion zu formulieren.«118 Er geht daher den gerade umgekehrten Weg als seine von ihm immer wieder bekämpften Anhänger der Neo-Orthodoxie vom Schlage eines Samson Raphael Hirsch, der gefordert hatte, der Mensch müsse sich der Tora anpassen und nicht die Tora dem Menschen.119 Worin diese von Kaplan geforderte Neuformulierung der Religion bestehen müsste, ist nach dem bisherigen Duktus seiner Aussagen unzweifelhaft, es muss eine neue Form der Religion ohne deren obsolete Begründung und Verbindung zu einer Transzendenz geben. »Der erste und schwierigste Schritt im Prozess der religiösen Anpassung ist gegenwärtig, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass es möglich ist Religion zu haben, ohne dem supranaturalen Charakter ihrer ursprünglichen Entstehung verpflichtet zu sein.«120 Die Tatsache, dass er ohne Skrupel derartige Forderungen und Notwendigkeiten formulieren kann, liegt natürlich in seiner Auffassung vom Wesen der Religion, die ihren Ursprung nicht 117
Judaism as a Civilization, S. 520–521.
118
Judaism as a Civilization, S. 306.
119
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 498–502.
120
Judaism as a Civilization, S. 306.
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aus der Transzendenz, nicht in einer göttlichen Offenbarung hat, sondern im Menschen: »Um sich von einem rigiden Traditionalismus ebenso wie von der Religionslosigkeit gleichermaßen fernzuhalten, muss der Jude zur Kenntnis nehmen, dass die Religion in der menschlichen Natur wurzelt, und dass der Glaube an die Existenz Gottes, wie an die ihm zugeschriebenen Attribute, aus der Erfahrung der gewöhnlichen Männer und Frauen abgeleitet werden muss, wie er sich auch auf ihre Erfahrungen beziehen muss. Die Fähigkeit, mit dem Übergang von einer divinitorischen (theurgic) zu einer rationalen Religionsauffassung zurechtzukommen, ist nur eine Phase des umfassenderen geistigen Anpassungsprozesses, der seit Kopernikus vorherrschte und mit der Annahme des Darwinismus neu verschärft wurde. Wie immer eine Sicht des physischen Universums aussehen mag, und vorausgesetzt, dass der Mensch sein Leben und seine geistigen Bestrebungen in den Griff bekommen muss, muss es möglich sein, eine bejahende (affirmative) Anpassung des jüdischen Lebens im Sinne einer Vorstellung von einer sich in ihrer Entwicklung voranschreitenden Religion auszuarbeiten.«121 Die Vorstellung von einer einmal offenbarten unveränderlichen Religion und einer absoluten und endgültigen Wahrheit muss zurückgewiesen werden. Die Wahrheit der Religion muss sich wie auch die wissenschaftliche Wahrheit stets weiterentwickeln, so dass es auch keinen Konflikt zwischen der naturwissenschaftlichen und der religiösen Wahrheit geben kann, denn beide, und dies ist entscheidend, beide beruhen auf der menschlichen Erfahrung.122 Aus diesem Grund muss sich auch die Vorstellung von Gott mit der Erfahrung des Menschen verändern. Ja die Religion muss, wie alle Gegenstände unserer Erkenntnis, der wissenschaftlichen Erforschung unterworfen werden. Denn es ist die Wissenschaft von den Religionen, die uns lehren kann »jene fundamentalen Bedürfnisse der menschlichen Natur zu entdecken, auf welche die Gottes-Idee eine Antwort geben will.« Die Religionswissenschaft kann uns lehren »wie die Gottes-Idee in der Geschichte funktionierte.«123 Als Resultat solcher Forschungen nach der Funktion der Gottes-Idee in der Menschheitsgeschichte sagt Kaplan, die Formulierung der Gottes-Idee sei »der Ausdruck des menschlichen Willens zum Leben«:
121
Judaism as a Civilization, S. 306–307.
122
Judaism as a Civilization, S. 307.
123
Judaism as a Civilization, S. 308.
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»Die Idee als solche mag eine falsche Vorstellung von Gott erzeugen, aber die Realität, auf die sie hinweisen oder sich mit ihr identifizieren will, ist keine Illusion. Gott mag in keiner Weise der Vorstellung, die wir hegen, entsprechen oder ihr auch nur ähneln, aber er ist in dem einfachen Willen, leben zu wollen, präsent, also der Realität, die wir mit jeder Faser unseres Seins erfahren.«124 Man fühlt sich an den kantianischen Gottes-Begriff, an die Gottes-Idee, eines Hermann Cohen erinnert, der gleichfalls keine ontologische Wahrheit konstatieren wollte, sondern einen denknotwendigen Begriff, einen gedanklichen Urgrund für das Verstehen des Seienden.125 Die Gottesvorstellung ist demnach eine Funktion des menschlichen Lebens, eine hypostasierende Formulierung des menschlichen Lebenswillens. Salopp ausgedrückt, bedeutet der Glaube an einen Gott: »ich will leben, trotz aller Anfechtung leben«: »Gottes-Idee heißt nicht, dem Chaos, der Grausamkeit, dem Schmerz und dem Tod in einem irgendwie netten logischen System einen Platz zuzuweisen. Sie bedeutet vielmehr die vollkommene und von jeder Faser des Menschen getragene leidenschaftliche Zurückweisung, durch diese Schrecken je geängstigt zu werden. Die Gottes-Idee ist keine Idee [Vorstellung], sondern die Reaktion des gesamten Organismus auf das Leben, die Reaktion dank derer der menschliche Wille zu leben die Ängste und das Elend überwindet, die nur ein Wesen von seiner geistigen Fähigkeit kennen kann.«126 Kaplan hielt es für angezeigt, die eher kurzen Aussagen zur Gottes-Idee in Judaism as a Civilization in seinem 1937 erschienenen Buch The Meaning of God in Modern Jewish Religion nochmals zu präzisieren.127 Und eben dort spricht er in aller Deutlichkeit von der »Funktion« des Gottesglaubens, das heißt, was mit seiner Hilfe für das menschliche und insbesondere gesellschaftliche Leben erreicht wird.128 In diesem Buch sagt er unter anderem, dass es der Glaube an den dem Leben innewohnenden Wert und dessen Heiligkeit ist, den man braucht, um dem Zynismus entgegenzutreten, der überall dem Leben spottet. Es ist der Glaube an eine kosmische Bedeutung des Lebens, welcher der alten sarkastischhedonistischen Weisheit »Lasset und essen, trinken und fröhlich sein, den mor-
124
Judaism as a Civilization, S. 310.
125
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 635–640.
126
Judaism as a Civilization, S. 330.
127
M. Kaplan, The Meaning of God in Modern Jewish Religion, New York 1937.
128
Vgl. Z. B. The Meaning of God, S. 19; Judaism as a Civilization, S. 381–82. 399. 397. 402.
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gen werden wir sterben!«129 widerspricht. Das Resultat aus solchen Einsichten hinsichtlich des Gottesglaubens ist somit: »Der Glaube an Gott, wie er hier verstanden wird, kann in unseren Tagen funktionieren, wie der Gottesglaube seit je funktionierte: Er kann als eine Bestätigung dafür dienen (function), dass das Leben einen Wert hat. Er beinhaltet, wie dies die Gottes-Idee immer tat, eine bestimmte Annahme bezüglich der Wirklichkeit der Dinge, die Annahme, dass die Wirklichkeit so eingerichtet ist, um dem Menschen die Verwirklichung dessen zu bescheinigen und zu garantieren, was für ihn von größtem Wert ist. Wenn wir diese Annahme, die keines Beweises fähig ist, für wahr halten, glauben wir an Gott. Darüber hinaus ist für das religiöse Leben keine metaphysische Spekulation vonnöten.«130 Gott ist keine metaphysische Existenz, er »lebt« nur im Glauben des Menschen. Es ist eine bestimmte, optimistische, Einstellung des Menschen, sein Glaube, dass sein Heil in dieser Welt zu verwirklichen ist, trotz aller anscheinenden und wirklichen Widerstände, dies ist es, das als Glaube an Gott verstanden wird. Gott wird dadurch nicht zu einer Substanz jenseits dieses Lebens. Auch wenn Kaplan sagt, dass Gott die Summe des gesamten Alls, die Zusammenfassung des Seins ist, dann doch nur sofern dies in dem besagten Sinn betrachtet und angenommen wird. Nicht das All als solches ist Gott, sondern die Wahrnehmung des Alls als sinnstiftendes Ganzes, das dem menschlichen Leben Bedeutung und Sinn verleihen kann und soll, lässt dies als Gottesglaube erscheinen. Der Glaube an eine bestimmte Konstitution des Alls ist der Glaube an Gott: »Nach der Entwicklung wissenschaftlicher Techniken zur Nutzanwendung der natürlichen Kräfte und der Veränderung unserer Weltanschauung (worldoutlook), welche die Unterscheidung von Natürlichem und Übernatürlichem außer Kraft setzt, können all die Dinge in der Welt nur als Summe betrachtet das Leben bedeutungsvoll und lebenswert – oder heilig – erscheinen lassen und dem Menschen eine Gottesverehrung ermöglichen. Die Gottheit kann abgesehen von den menschlichen Idealen von Wahrheit, Güte und Schönheit, die in ein Muster von Heiligkeit verwoben sind, keine Bedeutung für uns haben. An Gott zu glauben bedeutet, die kreativen Mächte, Strömungen und Möglichkeiten des Lebens als eine einzige organische Einheit zu betrachten, die dem Leben dank dieser Einheit Sinn verleihen. Das Leben hat dann Sinn für 129
Siehe Jesaja 22, 13.
130
The Meaning of God, S. 29.
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uns, wenn es das Beste, zu dem wir fähig sind, aus uns hervorholt, und uns gegen das Übelste, das uns treffen kann, stärkt. Dieser Sinn offenbart sich in unserer Erfahrung der Einheit, von Kreativität und von Wert. In der Erfahrung dieser Einheit, die uns befähigt die Interaktion und Interdependenz aller Phasen und Elemente des Seins wahrzunehmen, sind vor allem unsere kognitiven Kräfte gefragt; in der Erfahrung der Kreativität, die wir zuallererst spüren, wenn wir auch nur den geringsten Beitrag zu diesen Mächten leisten, die dem Leben Sinn verleihen, kommen unsere Bestrebungskräfte zum Vorschein; und in der Erfahrung von Wert, in der Sinn-Wahrnehmung trotz dem Anschein von Chaos und Sinnlosigkeit, kommen unsere emotionalen Kräfte zum Ausdruck. Auf diese Weise, gerade im Prozess der menschlichen Selbsterfüllung, in diesem Streben nach der Erlösung, identifizieren wir uns mit Gott, und Gott wirkt (functions) in uns. Diese Tatsache führt zu der Schlussfolgerung, dass wenn wir an Gott glauben, wir des Glaubens sind, dass die Wirklichkeit – die Welt des äußeren und inneren Seins, die Welt der Gesellschaft und der Natur – so verfasst sind, dass sie es dem Menschen möglich machen, die Erlösung zu erlangen. Und wenn die menschlichen Wesen gescheitert/enttäuscht (frustrated) sind, dann nicht, weil es keinen Gott gäbe, sondern weil sie mit der Wirklichkeit nicht umgehen wie sie aktuell und möglicherweise ist.«131 In diesen Formulierungen begegnet uns mutatis mutandis eine epistemologisch begründete Wertewahrnehmung wie sie im osteuropäischen Ḥasidismus für das Böse und Gute in der Welt formuliert wurde.132 Danach ist die Existenz von Gut oder Böse alleine in der menschlichen Sicht, in des Menschen Erkenntnis begründet. Wer falsch sieht, sieht Böses, wer richtig, sieht Gutes – unabhängig von dem Geschehen, das sich in der Realität abspielt. Kaplan hat diese Sichtweise auf die Gottesfrage übertragen. Wer die Welt richtig sieht, sieht Gott, wer falsch, der sieht keinen Gott. Auch bei ihm ist damit keine ontologische Aussage über die Existenz Gottes gemacht, sondern es wird eine Haltung des Menschen beschrieben, ist sie positiv, so ist dies Gottesglaube, wenn aber negativ, dann nicht. Glaube an Gott heißt, die Welt richtig sehen, mit Lebenswillen, trotz aller möglichen Anfechtungen. So gesehen ist es nicht vermessen zu sagen, dass sich dann der Mensch mit Gott selbst identifiziert, »we identify ourselves with God.« Gott ist aus der Transzendenz geholt, ganz hinein in die Erkenntnis und Emotion des Menschen. Kaplan sieht diese wertstiftente All-Sicht des Glaubens auch durch die Entwicklungen des »modernen Denkens« bestätigt, in dem er ein Abrücken von ei131
The Meaning of God, S. 26–27.
132
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 789. 830–835. 822.
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ner mechanistischen Welterklärung konstatiert. Demgegenüber diagnostiziert er Tendenzen, den Begriff der Natur dahingehend auszuweiten, dass auch das mit einbezogen wird, was die alte religiöse Tradition zwar fühlte aber noch nicht verstand. Dies führt zu einer Weltsicht, die in diesem Buch schon mehrfach begegnete,133 nämlich zur Sicht des gesamten Alls als einer organischen Einheit in welcher, »der kleinste Teil der Wirklichkeit von der Gesamtwirklichkeit bestimmt wird und dass jeder lebendige Organismus als Ganzes zugleich das Verhalten jedes seiner einzelnen Teile bestimmt« mit der Folge, dass dadurch »das ganze Konglomerat an Werten, die das geistige Leben ausmachen mit eingebracht ist.«134 Das bedeutet, dass der Mensch auch sich selbst als Teil dieses reziprok wirkenden Einheitsorganismus verstehen muss. Damit hat Kaplan den Punkt erreicht, an welchem er die alte Formel vom Menschen als Ebenbild Gottes – dem wiederholt genannten Maßstab für das Denken der hier vorgestellten Autoren 135- in seinem Sinne neu deuten kann: »Als dem Menschen diese umfassende Verbundenheit als Ahnung aufkam, aus welcher er seine verschiedenen Konzepte einer Gottheit gewann, verfiel er noch nicht darauf, dieselbe Art der Sinnhaftigkeit in seiner eigenen Personhaftigkeit zu suchen. Es gab nur gelegentlich einen Schimmer dieser Wahrheit, nämlich dass der Mensch mehr als alle anderen Wesen seiner Umgebung an dieser Gottheit Teil hat, als er zum Beispiel den Gedanken fasste, er sei im Ebenbild Gottes erschaffen. Aber dieser Schimmer währte nur einen Augenblick. Der Mensch musste es durch wachsende Selbsterkenntnis erst wiedergewinnen, dass er selbst innerhalb dieser Realität steht, die als Ganzes sein Leben bestimmt«.136 Das alte Kriterium für das Zentrum einer jüdischen Lehre – die vom Menschen als imago dei – bedeutet bei Kaplan also, dass es die Erkenntnis ist, dass der Mensch ein Teil des gesamten reziprok wirkenden kosmischen Organismus ist, der, wenn er als solcher wahrgenommen wird, als das Wirken des Göttlichen bezeichnet werden soll. Ebenbild Gottes sein bedeutet, die richtige Weltsicht zu haben. In dieser Weltsicht erkennt der Mensch, dass das göttliche Wirken in allem stattfindet, so auch im Menschen, der daran größeren Anteil als die übrigen Glieder dieses Organismus hat. Darum wird er zurecht als imago dei bezeichnet, was mutatis mutandis, in abgeschwächter Form, für alle Teile dieses Organismus
133
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 85–91. 262–267.
134
Judaism as a Civilization, S. 315.
135
Vgl. Jüdisches Denken, z. B. Bd. 1. 129 ff. 209 ff. 280 ff. 384 ff. 414 ff. 462 ff. 500 ff. 546 ff.
136
Judaism as a Civilization, S. 315–316.
561 ff; Bd. 2, S. 281 ff. 579 ff; Bd. 3, S. 261 ff. 298 ff. 591 ff.
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gilt.137 Er kann dies schließlich mit Worten ausdrücken, die Spinozas deus sive natura ganz nahe stehen: »Der Mensch hat verstanden, dass das Nachdenken über die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit ihn selbst nicht außerhalb dieser Wirklichkeit verortet. Er erkennt nun, dass die Allverbundenheit (inter-relatedness), welche die Quelle für sein Bewusstsein des Göttlichen ist, in ihm selbst nicht weniger wirkt als außerhalb seiner. Dadurch ist die Notwendigkeit, eine Dichotomie zwischen der Welt des Menschen und der Welt Gottes, oder zwischen Natürlichem und Übernatürlichem zu konstatieren, obsolet. Es gibt nur eine einzige Welt innerhalb derer sowohl der Mensch wie auch Gott existieren. Die sogenannten Naturgesetze sind die Weise von Gottes immanentem Wirken. Das Element der Kreativität, das man den sogenannten Naturgesetzen nicht zuzuschreiben pflegt, das aber auf den organischen Charakter der Welt/des Universums oder seines Alllebens hinweist, gibt uns einen Hinweis auf Gottes transzendentes Wirken. Gott ist das Leben des Universums, es ist immanent insofern jeder Teil auf den anderen einwirkt, und transzendent insofern als das gesamte auf jeden einzelnen Teil wirkt.«138 Sein 1960 erschienenes Buch The Greater Judaism in the Making139 enthält Kaplans kleinen Katechismus mit Formulierungen dessen, was man in der Moderne sich unter Gott vorstellen könne, wobei die hier aufgezählten »Kraftentfaltungen« allesamt als immanente, individuell anthropologische, soziale und naturhafte Kräfte gedacht werden müssen, die der Mensch als solche wahrnimmt und auf sie vertraut: 1. Gott als Kraft (power), die Erlösung ermöglicht. 2. Gott als Kraft, die gesellschaftliche Regeneration ermöglicht. 3. Gott als die Kraft, welche die Regeneration der menschlichen Natur ermöglicht. 4. Gott [als Wirkkraft] in der Natur und in der Geschichte. 5. Gott als die Kraft, die Kooperation ermöglicht. 6. Gott als die Kraft, die Freiheit ermöglicht. 7. Gott, nicht wir selbst, als die Kraft, die Gerechtigkeit ermöglicht.
137
Vgl. die entsprechende Auffassung vom Kosmos als Makroanthropos, insbesondere in dem soharischen Midrasch ha-Neʽelam, s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 490–496. 161; Bd. 1, S. 558 ff.
138
Judaism as a Civilization, S. 316.
139
The Greater Judaism in the Making, S. 470–473.
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Und kurz danach: »Gottheit (Divinity) ist jener kosmische Geist, Kraft oder Prozess, der dem Individuum ermöglicht, seine Erlösung (salvation) durch das Medium jenes Volkes zu erlangen, dem er angehört. Der Glaube an eine Gottheit ist der Glaube, dass das Universum gegenüber dem menschlichen Verhalten nicht indifferent ist, sondern auf es in der einen oder anderen Weise reagiert.«140 Will man diese Gotteskonzeption mit einem Begriff belegen, so kann man sie mit Sheila Greeve Davaney »naturalistisch« nennen oder wie es Kaplan dann selbst will, als »transnaturalistisch«, in dem Sinne dass das Naturalistische einbezogen ist, aber man nicht auf dieses im engeren Sinn begrenzt bleibt, sondern Bereiche einbezieht, die nicht Natur, sondern Kultur, Psychologie, Werte, Meinungen sind.141 Greeve Davaney verweist auf ähnliche Positionen bei der sogenannten Chicago School of Theology, bei den sogenannten »process thinkers«
140
The Greater Judaism in the Making, S. 479.
141
Sheila Greeve Davaney, Beyond Supernaturalism: Mordecai Kaplan and the Turn to Religious Naturalism, in: Jewish Social Studies, Volume 12, Number 2, Winter 2006 (New Series), pp. 73–87. Sie sagt unter anderem: »Influenced by those who would come to be called ›process thinkers,‹ such as Alfred North Whitehead, Henri Bergson, and Henry Nelson Wieman, as well as pragmatists and historicists such as John Dewey and William James, Kaplan proposed an idea of God not as a supernatural being outside of finite history and nature but as the creative power or process within finite reality that impels humankind as well as the rest of nature toward ever greater development and fulfillment—including greater human responsibility and freedom.«, ebda. S. 78–79; und vgl. http://www.religion-online.org/article/mordecai-mkaplan-and-process-theology-metaphysical-and-pragmatic-perspectives/, (Zugriff 7.6.2019); W. E. Kaufman, Mordecai M. Kaplan and Process Theology: Metaphysical and Pragmatic Perspectives: »Let us now examine Kaplan’s transnaturalism and determine its divergence from strict naturalism. To begin with, let us look at Kaplan’s definition of ›transnaturalism‹: ›Transnaturalism is that extension of naturalism which takes into account much that mechanistic or materialistic or positivistic science is incapable of dealing with. Transnaturalism reaches out into the domain where mind, personality, purpose, ideals, values and meanings dwell. It treats of the good and the true. Whether or not it has a distinct logic of its own is problematic. But it certainly has a language of its own, the language of simile, metaphor and poetry. That is the language of symbol, myth and drama. In that universe of discourse, belief in God spells trust in life and man, as capable of transcending the potentialities of evil that inhere in his animal heredity, in his social heritage, and in the conditions of his environment. Transnaturalist religion beholds God in the fulfillment of human nature and not in the suspension of the natural order. Its function is not to help man overcome the hazards of nature, but to enable him to bring under control his inhumanity to his fellow man.‹ (M. Kaplan, Judaism Without Supernaturalism, NY 1958, p. 10). We can see from his definition of transnaturalism that Kaplan finds strict naturalism inadequate because it is incapable of ›dealing with‹ the phenomena of mind, personality, purpose, ideals, values, and meanings.«
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vom Schlage eines Henri Bergson142 und dem Pragmatisten John Dewey, über den sie schreibt: »Dewey […] war ein Naturalist, ein Historizist und Pragmatist, für den die Naturwissenschaft und die historisch-wissenschaftliche Methode wichtige Komponenten des Lebens im 20ten Jahrhundert waren.«143 Auch er hielt den Supranaturalismus der religiösen Tradition für obsolet und sah in ihm ein Element eines Autoritätsanspruches, der sich nicht mit den Demokratien der Moderne vereinbaren ließ – Gedanken, die auch bei Kaplan anklingen. Kaplan weiß sehr wohl, dass bei einer solchen neuen Gottesvorstellung nicht nur der öffentliche Gottesdienst – zu ihm siehe weiter unten – sondern auch das Gebet einen völlig veränderten Sinn bekommen muss. Zurecht weist er darauf hin, dass dies schon für die rationalistischen Gottesdefinitionen der mittelalterlichen Philosophen gilt, aber von deren Autoren nicht thematisiert wurde. Dies geschah aber sehr wohl, dies sei an dieser Stelle eingefügt, für die kabbalistischtheurgische Gebetsauffassung und die meditativen Gebetformen der ḥasidischen Mystik, nach denen das Gebet gleichermaßen keine Anrede an ein personales Gegenüber mehr bedeutete. 144 Entsprechend will auch Kaplan, nach Verlust jeglicher Transzendenz, das Gebet neu bestimmen, das er nach wie vor für unentbehrlich hält. Das Gebet beschreibt er deshalb so: »Das religiöse Gebet ist die Äußerung jener Gedanken, die entweder ein aktuelles Gottesbewusstsein, oder den Wunsch ein solches zu erlangen, implizieren. […] Das Bedürfnis nach Gebeten, die das Sehnen nach jenen Fähigkeiten des Gemütes (mind) und Leibes, oder nach einem Gesinnungs- und Charakterwandel aussprechen, die uns befähigen würden, solche Seiten des Lebens zu gewinnen, die wir in ihrer Gesamtheit Gott nennen, dieses Bedürfnis wird immer bestehen.«145
7.2
Die neue Form des Gottesglaubens in der Volks-/National-Religion
Mit den Darlegungen zum neuen Gottesglauben des einzelnen Menschen im vorangehenden Kapitel ist Kaplan noch nicht bei seinem eigentlichen Thema, sprich der Religion der jüdischen Zivilisation, der »Religion der Gruppe«, der National-Religion, oder wie er sie auch nachdrücklich nennt, Volks-Religion im Sinne einer Religion des Volkes.146 Seine bislang gezeichneten Erörterungen zur 142
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 234–235. 329–334; Bd. 5, Einführung, Kap. Systematische
143
Greeve Davaney, Beyond Supernaturalism, S. 84.
Theologie. 144
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2. S. 290–293. 295. 407. 795.796. 841. 842.
145
Kaplan, The meaning of God, S. 33.
146
Folk religion, so nachdrücklich in Kap. XXIV, S. 332–349 von Judaism as a Civilization.
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Individualreligion, in welcher er letztlich nur einen Ableger der Gruppenreligion sieht, dienten ihm recht betrachtet nur dazu, den einzelnen Juden davon zu überzeugen, dass seine moderne transzendenzlose wissenschaftliche Ideologie einer Religion und einer Gottesidee nicht im Wege stehen muss. Kaplan will seinen jüdischen Zeitgenossen deutlich machen, dass auch eine von der alten religiösen Tradition abgewandte Einstellung eine Möglichkeit bietet, von Gott zu sprechen und dass somit von dieser Seite auch der Gruppen-Religion der jüdischen Zivilisation nicht wirklich etwas im Wege stehen muss. Er legt Wert darauf, zu betonen, dass die von ihm formulierte »naturalistische« Gottes-Idee nicht weniger auf Erfahrung gegründet ist als die modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse.147 Zu solchen Erfahrungen des Menschen gehört, wie schon angeklungen war, auch die Erfahrung der Gesellschaft in der man aufwächst und lebt. Und ähnlich wie dies Emile Durkheim hinsichtlich der »Muttersprache« eines Menschen formuliert, dass sie durch ihre Begrifflichkeit das Denken eines Menschen und damit seine Weltwahrnehmung prägt,148 so sieht auch Kaplan eine Prägung des einzelnen Menschen durch die kollektive Wahrnehmung und Erfahrung seiner Gruppe.149 Ein in der jüdischen Zivilisation aufgewachsener Mensch nimmt die Welt anders wahr, als ein in der französischen oder englischen Kultur erzogener. Und so entwickelt jede dieser Kulturen gemäß der eigenen Weltwahrnehmung und Erfahrungen ihre eigene Gottes-Idee. Allerdings ist eine solche Gottes-Idee von Gruppen-Religionen laut Kaplan nicht ein intellektuell philosophisches Lehrgebäude, sondern ein Schatz gesammelter Erfahrung: »Die Gottes-Idee aller kollektiven Religionen besteht nicht in einer intellektuellen Zustimmung zu irgendwelchen Lehrsätzen, sondern in der organischen Akzeptanz bestimmter Elemente des Lebens und der Umgebung der Gruppe oder der Wirklichkeit als Ganzer in ihrer Beziehung zur Gruppe insoweit sie zur eigenen Selbstverwirklichung oder Erlösung relevant ist. Eine solche organische Akzeptanz wird durch das Attribut ›heilig‹ ausgedrückt, das allen Gegenständen zugeschrieben wird, die in diesem Sinne aufgenommen werden.« 150 Das Attribut »heilig«, das er hier verwendet ist für sein Verständnis von Gruppenreligion zentral, denn es gilt ihm als Movens und Ausgangspunkt für die Bil-
147
Judaism as a Civilization, S. 317.
148
E. Durkheim, Die elementaren Formen des Religiösen Lebens, S. 581.
149
Judaism as a Civilization, S. 318. 342.
150
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dung der Gottes-Idee. Wo es heilige Dinge gibt, wird aus ihnen letztlich eine Gottes-Idee abgeleitet. »Heilig« übersetzt er mehrfach mit dem Begriff des für das menschliche Leben »Unverzichtbaren«. Es bezeichnet etwas, das für den Menschen einen besonderen Wert besitzt.151 Wenn auch die Menschen in der Gegenwart den Begriff der Heiligkeit weniger benutzen, meint Kaplan, so gilt doch, dass »Psychologisch betrachtet, Begriffe wie ›Wert‹ und ›Bedeutsamkeit‹ zum selben Typus der Bezugnahme wie der Begriff der Heiligkeit gehören. […] Die Menschen sprechen heutzutage lieber von Gegenständen oder Personen, die sie für das menschliche Leben als unverzichtbar erachten oder denen sie einen hohen Wert beimessen. […] Aber es gibt in jedermanns Leben Dinge […], bezüglich derer das Attribut ›heilig‹ das einzige Wort ist, das adäquat auszudrücken vermag, was man bezüglich bestimmter Dinge, Personen oder Ideale fühlt.«152 Während nun die Entstehung der Gottes-Idee aus der Deklaration von heiligen Dingen, Personen, Ereignissen, Orten etc. ein universelles Phänomen der Religionsgeschichte sei, worin sich alle Religionen gleichen, entstehe der Unterschied zwischen den einzelnen Gruppen-Religionen dadurch, dass jede Gruppe ihr eigenes Repertoire an sancta, eigene heilige Gegenstände und Personen hat.153 Im Gegensatz zu den individuellen religiösen Erfahrungen bedarf aber die Gruppen-Religion des öffentlichen Ausdrucks, einer öffentlichen Zelebrierung dieser kollektiven Erfahrungsschätze. Die Folge ist, dass in der GruppenReligion das Ideelle, Philosophische, einen geringeren Anteil an der religiösen Ausdrucksweise einnimmt, als beim Individuum, wohingegen die Emotion und dann vor allem das begehrliche Streben, der Trieb (conation), einen größeren Stellenwert besitzen. Dieser emotionale und strebende Charakter der Gruppenreligion hat nun vor allem die Funktion, spezifische Gegenstände, Personen, Orte, Ereignisse, Tage, Rechtssatzungen, Bräuche und Moralvorstellungen mit Heiligkeit auszustatten. Es ist das je spezifische Repertoire an heiligen Objekten, welches der Gruppe ihr geistiges Profil, ihr Selbstbewusstsein wie ihre Rechtfertigung gibt: »Kollektive Religionen […], die für die Gruppe dasselbe bedeuten wie für das Individuum dessen Selbstbewusstsein, gewinnen ihre Rechtfertigung von ihrer Fähigkeit, die Existenz der Gruppe zu fördern und ihre geistigen Möglichkeiten zu entwickeln.«154 Von dieser Definition der Gruppen-Religion aus beurteilt Kaplan durchgehend die bestehenden jüdischen Religionsformen seiner Tage. So ist zum Bei151
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spiel der Hauptfehler der Reformbewegung der, dass sie glaubt die nationalen Sancta von der jüdischen Religion trennen und sich auf abstrakte Wahrheiten beschränken zu können: »Der grundlegende Trugschluss der Position des Reformjudentums ist es, dass sie ›Religionsphilosophie‹ mit ›historischer [Gruppen-]Religion‹ verwechselt. Eine Religionsphilosophie ist eine Weltanschauung, gewonnen aufgrund von Reflexionen. Sie ist wesentlich eine Sache der persönlichen Vorliebe (choice) und ist im Allgemeinen auf die Auswahl bestimmter Wahrheiten, Ideale oder Verhaltensprinzipien beschränkt. […] Sie ist in der Regel von kosmopolitischem Ursprung und entsprechend kosmopolitisch in ihrer Anwendung. Ganz anders ist dies bei einer historischen Religion. Eine historische Religion ist eine Gruppenreligion. Sie besteht aus Verhaltensweisen einer Gruppe, bevor sie klar umschriebene Ideen entwickelt. Man erwirbt eine solche Gruppenreligion durch eine Zivilisation/Kultur, in die man hineingeboren wird. Sie wird von den Eltern an die Kinder weitergegeben wie eine Sprache. Das Kind kann die Gruppen-Religion so wenig wählen wie seine Sprache. Eine Gruppenreligion wirkt (functions) hauptsächlich als ein Prozess der Heiligung bestimmter konkreter Elemente der partikularen Zivilisation, zu der sie gehört. Der Prozess der Heiligung besteht darin, dass gewisse Tatsachen, Ereignisse, Orte, Dinge, Zeiten und Menschen, die in der Gruppe besondere Bedeutung haben, als unverzichtbar für die Selbstverwirklichung oder Erlösung der Gruppe behandelt werden.«155 Aus alledem folgt, dass die Gruppenreligion stets partikular ist, einem partikularen Milieu angehört und nicht universal sein will noch kann.156 All das gilt, so Kaplan, auch und gerade für die jüdische Religion. Da die Gruppen-Religion, von der hier die Rede ist, von der Gruppe aus ihrem generationenübergreifenden kulturellen Leben erschaffen wurde, folgt zugleich, dass eine solche Religion nicht ohne die Gruppe gelebt werden kann. Sprich, ein Jude kann seine jüdische Religion nicht im Rückzug auf sich selbst leben, sondern stets nur im Vollzug des Gruppenlebens, »eine historische Religion ohne das Gruppenleben ist ohne jeglichen Inhalt, ist nur ein Parlando.«157 Zwischen Religion und Nationalität besteht demnach eine »integrale Beziehung«. Kaplan glaubt, dass wenn immer
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Judaism as a Civilization, S. 325; u. vgl. Pierre Birnbaum, »The Missing Link: The State in Mordecai Kaplan’s Vision of Jewish History,« Jewish Social Studies: History, Culture, Society n. s. 12, no. 2 (Winter 2006), pp. 64–72.
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Menschen für längere Zeit zusammenleben, sie gemeinsame Interessen entwickeln und darin schließlich die Bedingung für ihre Erlösung (salvation), sprich Selbstverwirklichung sehen. Diese Interessen würden sich, wie schon mehrfach gesagt worden war, um bestimmte Dinge, Personen, Orte und Ereignisse kristallisieren, die dann als Heiliges benannt werden, was sich letztlich als irgendeine Art Gottes-Idee artikuliert. Das Leben einer Gesellschaft, so glaubt demnach Kaplan, wird sich früher oder später in einer Gruppen-Religion mit ihrem eigenen Repertoire an Sancta kristallisieren. Das heißt, nationales Leben wird am Ende immer eine nationale Religion herausbilden. Darum hält Kaplan auch die zionistische Konzeption der »Säkularen-Kulturalisten« eines Achad Haam für einen Irrtum, denn nationales Leben, Leben einer Zivilisation, braucht neben all seinen anderen kulturellen Äußerungen eben auch unbedingt die Religion: »Bedenkt man, dass eine historische Religion sich als die Heiligung spezifischer Elemente des Gruppen-Lebens realisiert und umgekehrt, dass das Gruppen-Leben natürlicherweise Anlass zur Heiligung solcher spezieller Elemente gibt, kann man nicht umhin als zu dem Schluss zu kommen, dass eine historische Religion ohne das Leben der Gruppe inhaltsleer ist und nur eine Weise des Parlando bleibt. Ein Gruppen-Leben, das nicht nur eine Ameisenkolonie sein will, muss sich in einer kollektiven Religion Ausdruck verschaffen.«158 Es ist dieser Gruppenbezug, der es auch als dringendes Gebot erscheinen lässt, die nationalen Güter nicht nur in der Erinnerung zu pflegen, sondern sie wieder zu beleben, in erster Linie gehört dazu die Wiederbelebung des Landes Israel als nationaler Heimstatt des jüdischen Volkes, ein Grund, weshalb der »religious culturalist« im Sinne Kaplans, ein Zionist von ganzem Herzen sein muss, aber einer, der nicht nur das Land Israel als Mutterland der jüdischen Zivilisation wieder erbauen will, sondern auch das gesellschaftliche und kulturelle Leben in den Kolonien der Diaspora. In den Sog dieser national-kulturell bedeutenden Dinge geraten nun auch all die anderen, etwa von der Reform bestrittenen, Elemente des jüdischen Brauchtums. So fordert er das Hebräische als der ausschließlichen Gottesdienstsprache, eine deutliche hebräische Architektur, eine hebräische Kunst und Ästhetik des jüdischen Gottesdienstes, alles im Dienste der Förderung der nationalen Kultur, die den Juden anziehen und prägen, ihm das kollektive jüdische Bewusstsein vermitteln und seine Identifikation mit der Gruppe stärken soll.159
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Der Weg zur neuen Religion – funktionale Deutung der Tradition
Nachdem die alten transzendentalen Theologumena für das moderne Denken obsolet sind, eine Zivilisation aber dennoch immer auf eine Religion angewiesen sein wird, die das Selbstbewusstsein einer Gesellschaft und damit auch des in ihr geborenen und lebenden Menschen darstellt, stellt sich die Frage, wie dieser anscheinende Widerspruch zwischen Überholtheit und weiterer Notwendigkeit zu überwinden sein wird. Der Weg, der sich dafür nach Kaplans Auffassung bietet, ist eine Folgerung aus der oben schon formulierten Bedeutung der Gottesidee. Danach ist die Gottes-Idee eine Funktion der Gesellschaft, das heißt in ihr drückt die Gesellschaft ihr Selbstbewusstsein aus, ihre Bestrebungen (conation), ihre Emotionen wie auch ihre intellektuellen Bedürfnisse. Da sie dies auch künftig tun muss, kann das nur bedeuten, dass die Juden ihre überkommenen Gottesvorstellungen den Bedürfnissen ihrer eigenen Zeit, ihrer eigenen Situation und Welterkenntnis anpassen müssen. Und das heißt des weiteren, dass es für die so zu erlangenden Ausdrucksweisen keine ein für allemale festgelegten Vorstellungen geben kann, sondern dass die Entwicklungen abgewartet werden müssen, die sich aus den verändernden Umständen jeweils ergeben. »Die Besonderheit der jüdischen Religion oder Zivilisation kann nicht im Voraus beschrieben werden. Erst nachdem ein jüdisches Leben oder eine jüdische Zivilisation gewonnen ist, wird eine Religionsform hervortreten, die so einzigartig ist, wie jene die aus der jüdischen Zivilisation der Vergangenheit sich entwickelte.«160 Allerdings glaubt auch Kaplan nicht, dass eine solche veränderte jüdische Religion und Zivilisation ab ovo neu kreiert werden müsse. Vielmehr liege es in der Natur der Menschen, auf bewährte Lebensformen zurückzugreifen und aus ihnen heraus die nötigen Novellierungen zu entwickeln. Dies ist ein Vorgang, der sich in der jüdischen wie in der allgemeinen Religionsgeschichte auf Schritt und Tritt nachzeigen lasse. Die Aufnahme solcher Traditionen kann indessen nach all dem, was über den Verlust der Transzendenz gesagt worden ist, keine ungebrochene eins zu eins Übernahme bedeuten. Vielmehr muss die Tradition fortentwickelt werden. Das heißt, auch die religiöse Sprache und das zugehörige Gebaren müssen weiterentwickelt werden. Für eine solche Neudeutung der altjüdischen Traditionen bietet sich allerdings nicht die schon in der rabbinischen Literatur angelegte und im Mittelalter bewusst ausgebaute allegorischen Deutung der Tradition an. Denn diese ging von der Fiktion aus, dass das je eigene Denken und Gebaren schon in den alten Texten und Gebräuchen angelegt war und durch die allegorische Auslegung nur wieder aufgedeckt werden müsse. Die Einsichten der modernen Geschichts- und Religionswissenschaft, so Kaplan, lassen solche Fiktionen jedoch nicht zu, sie müssen die stattgehabten Entwicklungen, die Evo-
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lution der Religion, der Gesellschaft und der Lebensaussichten überaus ernst nehmen. An Stelle der ausgedienten allegorischen Deutung der Tradition schlägt er eine »funktionale Deutung« der Tradition vor. Diese Methode versucht mit Hilfe historischer, soziologischer und psychologischer Methoden zu erkennen, welche gesellschaftlichen und auch individuellen Funktionen bestimmte theologische und religiöse Aussagen, etwa der Glaube an einen Gott, oder eine Erlösung, hatten. Das heißt, man muss erkunden, welche menschlichen Bedürfnisse mit Hilfe der alten religiösen und theologischen Aussagen erfüllt werden sollten und tatsächlich wurden. Man muss also die Funktionen und auch die Implikationen, erforschen, welche die alten Lehrstücke besaßen. Es muss gefragt werden, welche Auswirkungen auf die Denk- und Verhaltensweisen der Einzelnen und der Gesellschaft sie haben sollten und auch wirklich hatten. Und gerade darin, in diesen Funktionen, Implikationen und längerfristigen Folgen liegt der eigentlicher Wert der alten Lehrstücke, weniger in den verbalen Aussagen und Inhalten, die sie vordergründig vorstellen, wozu im Folgenden noch einige konkrete Beispiele angeführt werden sollen. Doch zunächst ist es wert, darauf hinzuweisen, dass sich Kaplan mit diesem methodischen Ansatz in der Fußspuren der jüdischen »Historischen Schule« und der Wissenschaft des Judentums des neunzehnten Jahrhunderts sieht, wie sie von Männern wie Zacharias Frankel, Leopold Zunz oder Nachman Krochmal161 und Solomon Schechter vertreten wurde.162 Allerdings weist er sogleich auf den entscheidenden Mangel dieser Schule hin. Sie erstreckte ihre historisch-kritischen Forschungen nur auf die nachbiblische rabbinische Literatur und hielt sich von jeglicher kritischen Untersuchung der Bibel selbst ferne, die ihnen als Basis des Judentums, als »Tora vom Himmel« sakrosankt und unantastbar war.163 Aber erst wenn man auch die Bibel in die kritische Erforschung einbezieht, kann man die wirklichen Motive und funktionalen Intentionen der überkommenen jüdischen Religion erkennen und eine entsprechende auch für die Gegenwart bedeutsame Auswahl aus ihnen treffen: »Die Aufgabe der Neuinterpretation besteht zunächst darin, aus den lehrhaften und praktischen Folgen, welche den traditionellen Werten entsprangen, jene auszuwählen, die für unsere Gegenwart geistig relevant und bedeutsam sind, um anschließend diese Folgen in Denk- und Handlungs-Motive umzuwandeln. Die funktionale Deutung erfordert darum die Kenntnis des Hintergrundes der Lehren und Einrichtungen, die gedeutet werden sollen, eine Kenntnis der unterschiedlichen Kontexte, in welchen die besagten Lehren 161
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 444–476.
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oder Einrichtungen vorkommen, und mehr noch eine Kenntnis der menschlichen Natur, wie sie in der Gesellschaft und im Individuum funktioniert. Diese Reinterpretation ist ein Prozess, um für die Werte vergangener Stufen der eigenen oder einer anderen Kultur/Zivilisation Äquivalente in unserer gegenwärtigen modernen Zivilisation zu finden.«164 Hat man die Werte erkannt, welche bestimmte Einrichtungen oder Lehren in der Vergangenheit vertreten sollten oder unausgesprochenermaßen vertraten, dann kann man die Frage stellen, ob diese Werte in der eigenen Gegenwart noch von Bedeutung sein können und wie, durch welche Lehren oder Handlungen, sie erneut wirksam gemacht werden können. Hinsichtlich der Gottesidee bedeutet das dann etwa, dass man nicht nach den metaphysischen Beschreibungen solcher Lehren fragt, ob sie abstrakt oder anthropomorph konzipiert sind, sondern das Interesse des Interpreten ist darauf ausgerichtet, zu erkennen, wie und wozu die Gottesvorstellung einst wirkte oder diente. Dadurch wird man die menschlichen Bedürfnisse aufdecken, die durch solche Vorstellungen befriedigt worden sind, um nach modernen Äquivalenten zur Befriedigung solcher Bedürfnisse suchen zu können. Zu welcher Art Ergebnissen eine solche Auslegungsweise führen kann, illustriert Kaplan dankenswerterweise am Beispiel einiger aus der jüdischen Tradition vertrauter Gottesattribute. Wenn die Tradition etwa sagte, Gott sei der Schöpfer dieser Welt, wird der funktionale Interpret dies nicht im Sinne der mittelalterlichen Philosophie dadurch übersetzen, dass er sagt Gott sei die prima causa, die Ursache aller Ursachen, aus der die Welten hervorgingen. Die funktionale Deutung der Lehre von Gott als dem Weltenschöpfer kommt zu anderen Ergebnissen: »Wenn wir zur funktionalen Auslegungsmethode greifen, dann können wir in dem Glauben, dass Gott die Welt erschaffen habe, die Absicht erkennen, das kreative Prinzip in der Welt mit dem manifest-werden Gottes zu identifizieren. Dieser Zugang zur Frage der Schöpfung entspricht dem Trend der modernen religiösen Metaphysik. In gewisser Weise ist dies die absolute Antithese zur traditionellen Theologie, jedoch hinsichtlich der menschlichen Emotion und des menschlichen Wollens, können wir aus beiden Zugängen die selben praktischen und soziologisch-bedeutsamen Ergebnisse ableiten – das heißt aus der Vorstellung von Gott als dem kreativen Prinzip des Universums wie aus der alten Vorstellung von Gott als dem Schöpfer der Welt. Denn das kreative Prinzip kann im menschlichen Leben nur mit Intelligenz,
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Mut und gutem Willen in Übereinklang gebracht werden, wird hingegen durch die Arroganz, Gier und unkontrolliertes Sexualbegehren behindert.«165 Entsprechend deutet Kaplan weitere traditionelle Gottesattribute. So versteht er das traditionelle Attribut Gottes als Helfer und Beschützer als Hinweis auf die Naturkräfte, die das Leben erhalten und auf die Intelligenz, welche die Umwelt verändert indem sie die Naturkräfte zum allgemeinen Wohl der Menschheit sich unterwirft und kontrolliert. »In jeglichem Akt gesellschaftlicher Zusammenarbeit, im guten Willen, im Streben nach besseren menschlichen Beziehungen, in des Menschen Mut und moralischer Beweglichkeit, in seiner Besiegung von Furcht und Tod, kann man das Wirken des göttlichen Prinzips erkennen, – die Sichtbarwerdung Gottes. Wenn immer wir inmitten der universellen Veränderungen das Gefühl von Stabilität und Dauer empfinden, erfahren wir die Wirklichkeit Gottes als Helfer.«166 Um nur noch ein für die traditionelle jüdische Religion besonders zentrales Lehrstück als Beispiel anzuführen, den Glauben an den Olam ha-ba, die kommende neue Welt. Auch hier gilt es, sich nicht mit der wörtlichen Bedeutung abzumühen, sondern die Funktion dieses Glaubens für die menschliche Psyche, für seine Hoffnungen und sein Streben zu erkennen und dies in einen modernen Kontext zu übertragen. Eine funktionale Deutung des Glaubens an den Olam haba lässt in diesem die Unzufriedenheit des Menschen mit den Dingen dieser Welt, wie sie tatsächlich sind, erkennen und sein Sehnen nach den Dingen wie sie eigentlich sein sollten. »Von diesem Standpunkt aus gesehen, ist das wichtige Moment dieses Glaubens nicht das phantastische Bild einer idealen Welt, sondern der innere Drang, den dieser Glaube zum Ausdruck bringt, nämlich die Notwendigkeit, auf einen Zustand der menschlichen Lebensbedingungen zu hoffen, die ohne die physischen, geistigen und sozialen Schwächen und Krankheiten sein werden, die von der Lebenswürdigkeit des menschlichen Lebens ablenken.«167 »Die kommende Welt ist keine andere als diese Welt, aber sie ist erlöst von der Sklaverei und vom Krieg, vom Mangel und Leiden, von Krankheit und Verbrechen.«168 Die neue Religion ist demnach eine positive Weltsicht, in welcher die Bestrebungen, die positiven Ziele und Möglichkeiten des Einzelnen wie der Gesellschaft sowie die Ereignisse in dieser Welt einer neuen Sichtweise und Bewertung zugeführt werden, um sie als kreative und fördernde kosmische Kräfte und
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menschliche Befähigungen zu erkennen, die nun in sprachlicher und denkerische Überhöhung als das Göttliche gesehen werden. Es ist dieses Resultat, welches Kaplans Umgang mit dem Bösen und dann vor allem mit der Schoah verstehen lässt. Bei einer solchen Form der Religion wie Kaplan sie vertritt, kann es natürlich keine Frage nach einer Theodizee geben. Das Böse in der Welt ist gerade das, was den bislang formulierten Zielen eines menschlichen Glaubens entgegensteht, ist eine falsche Einstellung und Sicht der Welt. Angesichts seiner Anerkennung der darwinistischen Evolutionslehre, stellte sich ihm – und dies insbesondere nach der Schoah – die Frage, ob das Prinzip des »survival of the fittest«, wie dies die Nationalsozialisten vertraten als Sozialdarwinismus zu verstehen sei.169 Demgegenüber sieht er eine diametral verschiedene Zielsetzung beider »Darwinismen«: »Die natürliche Selektion preist die Ungleichheit als ein kreatives Prinzip im menschlichen Leben, während die Lehre von der geistigen Selektion in dem Bemühen, unter den Menschen durch gerechte Gesetze und durch Mitleid und Freundlichkeit Gleichheit zu erreichen, das Aufscheinen der göttlichen Kreativität erkennt. Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist, dass seine Natur nicht einfach für das Überleben des Besseren (survival of the fittest) kämpft, sondern darauf aus ist, die größtmögliche Zahl für das Überleben fit zu machen.«170 Das Gute ist nach Kaplans Vorstellung demnach, was »sein sollte«, während das Böse dasjenige ist, »was nicht sein sollte«. Das Böse ist also eine Ungeordnetheit und Ziellosigkeit im menschlichen Leben, die durch wollendes Handeln und Denken beseitigt werden muss – eine ausgesprochen optimistische Weltsicht und dies trotz und nach der Schoah.
8.
Judentum als Lebensweise – »Way of Life«
Nach all den mehr theoretischen Darlegungen will Kaplan auch die praktischen Konsequenzen seines neuen Denkens vor Augen führen, was es also für die jüdische Lebens-Praxis zu bedeuten habe, das Judentum nicht als offenbarte Religion, im Sinne der Neo-Orthodoxie, oder als sich in Jahrtausenden entfaltete Theologie eines ethischen-Monotheismus, im Sinne der Reform, sondern als »Civilization«, als umfassende Lebens-Kultur zu verstehen. Der entscheidende Satz 169
So Daniel R. Langton, Jewish Religious Thought, The Holocaust, and Darwinism: A Comparison of Hans Jonas and Mordecai Kaplan, in: Aleph. Historical Studies in Science and Judaism, 13, 2 (2013), S. 311–348.
170
Kaplan, The Future of the American Jew, New York 1948), S. 251.
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zum Verständnis dieser Darlegungen findet sich in seiner Zusammenfassung: »Es ist nötig sich daran zu erinnern, dass das Judentum als Zivilisation nicht eine Wahrheit darstellt, sondern eine Lebensweise (Judaism as a civilization is not a form of truth, but a form of life).«171 Eine Form des Lebens bezeichnet des Näheren sodann eine Form des Lebens in einer bestimmten Gesellschaft, hier im Rahmen der jüdischen Nation. Diese grundsätzliche Definition für das Judentum führt im letzten Teil des Kaplanschen Buches mit der Überschrift »Torah. Judaism as a Way of Life for the American Jew« zu der konsequenten soziologischen Deutung aller hier angezogenen und neu interpretierten jüdischen Symbole. Dies wird besonders augenscheinlich in dem Kapitel, welches die altbekannten Traditionselemente des Judentums, Sabbat, Fest und Feiertage deutet. Es ist das Kapitel, das sich in die seit dem Mittelalter aufgekommene Literaturgattung der Taʽame Mizwot, also der Sinndeutung der Gebote, einreiht,172 worauf er eigens hinweist. Seine Deutungen sind, das soll im Folgenden deutlich werden, allermeist in diesem Sinn gedeutet, allerdings auch im Sinne von Kaplans Kategorie der »persönlichen Religion«, die ja, wie gerade hier deutlich wird, mit der kollektiven Religion meist eng verflochten ist. Insgesamt verraten die von Kaplan vorgetragenen Deutungen zuweilen noch ein gerüttelt Maß an regulieren wollender rabbinischer Vorsorglichkeit im Sinne der alten eingebürgerten Verhaltensvorschriften – ein Hinweis darauf, dass die neue Religion noch nicht wirklich sicht- und greifbar ist, was er selbst mehrfachvermerkt.
9.
Die unverzichtbaren Requisiten oder Sancta des Judentums
Kaplan wiederholt es mehrfach in seinem Buch, dass das entscheidende an seiner Sicht des Judentums nicht die intellektuellen Lehren, nicht die Theologie oder Philosophie, sondern die sichtbaren Requisiten oder Symbole des Judentums sind. Die Symbole blieben, die Deutungen haben sich verändert.173 Unter diesen bleibenden Symbolen oder Sancta figuriert natürlich an erster Stelle die Tora, um die das jüdische Leben seit Esra kreiste.174 Sie galt den Juden bis zur Aufklärung und vielen jüdischen Gruppierungen darüber hinaus als die aus der Transzendenz gekommene Offenbarung, welche das herausragende Privileg Israels sei. Dass
171
Judaism as a Civilization, S. 521.
172
Zu ihr vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 394 ff.; Bd. 2, S. 23. 679. 828. Bd. 3, S. 516 ff.
173
Vgl. Judaism as a Civilization, S. 409–410.
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Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 141ff.
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dieser Transzendenzbezug seiner Meinung nach in der Moderne nicht mehr nachvollziehbar ist, war schon mehrfach gesagt worden. Er muss darum die Tora, will er an ihr festhalten, natürlich anders verstehen. Das neue Verständnis von Tora ist ihm so wichtig, dass er darüber die Perspektive der historischen Betrachtungsweise aus den Augen verliert, wenn er sagt: »Die vorherrschende Lehre [der traditionellen jüdischen Gelehrten] war die, dass das jüdische Volk den Vorzug der Erlösung alleine durch einen besonderen way of life (Lebensweise) erwarb, dem es sich widmete. In der jüdischen Tradition wurde diese besondere Lebensweise als die in der Tora vorgetragene betrachtet.«175 Noch nachdrücklicher trägt Kaplan dieses neue Verständnis in die Bedeutung des Begriffes Tora, schon bei den Alten, hinein, wenn er sagt: »die Tora war für sie, de facto, die Hypostase/die Verkörperung der Zivilisation des jüdischen Volkes. Die Schriften, als sichtbare Objekte, waren vor allem als Symbole dieser Zivilisation von Bedeutung«.176 Hier projiziert er das eigene Tora-Verständnis schon auf die Gelehrten der Voraufklärung. Was für Kaplan beständig war und auch bleiben sollte, ist das stete Lernen der Tora. Darin aber, was als Inhalte der Tora zu gelten habe, unterscheidet sich Kaplan nachdrücklich etwa von der Orthodoxie. Die Tora soll nun ja der Gemeinschaft der jüdischen Nation, dem Volksbewusstsein dienen, deshalb ist es nicht erstaunlich, dass Kaplan an erster Stelle die Historiographie, die mit der Wissenschaft des Judentums aufgekommen war, als Tora verstehen will. Den rabbinischen Satz, Gott habe um der Tora willen die Welt erschaffen,177 hat für Kaplan nun die Bedeutung »dass die Zivilisation/die Kultur der Wirklichkeit Sinn (meaning) verleiht.«178 Tora ist da, wo die Symbole des Judentum dem Juden salvation verschaffen, das zur heißt Selbstverwirklichung helfen: »Schließlich gibt es in der Tora selbst den entscheidenden Test für den Wert einer Zivilisation. Eine Zivilisation erfüllt ihre Aufgabe (function) erst dann, wenn das Volk das diese Zivilisation lebt, den einzelnen Männern und Frauen hilft, ein erfülltes Leben, sprich Erlösung zu erlangen. Alle Gesetze, Bräuche, Institutionen und gesellschaftlichen Einrichtungen, welche eine solche Selbstentfaltung des Einzelnen behindern, sind nicht Zivilisation, sondern Barbarei.«179
175
Judaism as a Civilization, S. 409.
176
Judaism as a Civilization, S. 411.
177
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 262.
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Judaism as a Civilization, S. 412.
179
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Kaplan betont indessen, dass all dies nicht von der traditionellen Tora geleistet werden kann, sondern dass es einer Rekonstruktion der Tora gemäß den Bedürfnissen des modernen Menschen bedarf, im Sinne einer modernen umfassenden Kultur, die ganz nur in Palästina/Israel und nur zum Teil in der Diaspora gelebt werden kann. Ganz im Sinne seiner soziologischen Konzeption von Judentum spielt natürlich die Familie eine zentrale Rolle in Kaplans Denken. Sie muss in erster Linie jüdische Werte vermitteln und eine jüdische Atmosphäre im Haus schaffen. Dass hierbei die Mischehen nicht gerade förderlich sind, erscheint nur als selbstverständlich. Allerdings hält er in einer offenen Gesellschaft, in welcher sich das Judentum nicht nach den altjüdischen Auflagen abkapseln darf, ein völliges Verbot von Mischehen nicht für durchführbar; was in solchen Fällen nottut, ist, dass der jüdische Partner kulturell stark genug ist, um die jüdische Kultur im Hause dominant zu machen – auch dies drückt sich vor allem durch die sichtbaren Symbole aus.180 Die Hochzeiten und Ehescheidungen dürfen in einer sozialen Matrix natürlich gleichfalls nicht als individuelle Ereignisse betrachtet werden, sondern sollen durch die Zeremonien und zugehörige jüdische Standesregister als eine Angelegenheit der Nation und nicht nur der Individuen bewusst gemacht werden.181 Dies soll auch rechtlich so gestaltet werden, so dass trotz der Dominanz des nichtjüdischen staatlichen Standesrechtes versucht werden soll, die Autorität des jüdischen Rechtes dennoch spürbar zu machen. Die Synagoge, seit je der Mittelpunkt des öffentlichen jüdischen Lebens, darf nicht auf seine Funktion als Betsaal reduziert werden, sondern sie muss der Ort für alle kulturellen Funktionen des Volkes, zum Bet Ha-ʽAm, Volkshaus, werden und über den verschiedenen innerjüdischen Glaubensrichtungen stehen. Die einzelnen konfessionellen jüdischen Kongregationen sollten vielmehr unter einer gemeinsamen zivilen jüdischen Kommunalverwaltung stehen, innerhalb derer sie sich allenfalls als einzelne Kongregationen zu Untergruppen organisieren können.182 Über der Betergemeinschaft steht die Gesamtnation. Die jüdische Gesamtnation sollte in regionalen Untergliederungen in der Form von jüdischen Kommunen mit ziviler Verwaltungsmacht den Beterzirkeln und anderen Ortsgruppierungen gegenüber repräsentiert werden. Die kulturelle Zivilisation ist der Hauptakteur dieser Zivilisation, nicht das Bethaus und seine Kongregation. Darum sollen über der Synagoge neighborhood centers, also regionale jüdische Kulturhäuser, entstehen in denen die Juden als Kulturgemeinschaft im weitesten Sinne zusammenkommt, inklusive Sport und Bowling, Musik und Theater. Die 180
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allgemeine Kultur und Freizeitbeschäftigung sollen in einer »jüdischen Atmosphäre« gestaltet und gelebt werden. Die jüdische Kommune muss nun auch für jüdische Schulen und wo möglich für jüdische Gerichte zuständig sein, denn wo ein Volk nicht Recht setzt und durchsetzt, ist es nach Kaplans Auffassung auf dem absteigenden Ast.183 Was Kaplan vorschwebt ist demnach dies: In der Diaspora sollte das Judentum als eine von den Wohn-Staaten der Juden anerkannte Körperschaft eigenen Rechtes und eigener Kultur, gleich einer Volksminderheit, anerkannt werden, welche in weitest gehendem Maße jüdische Interessen vertritt – soweit dies die Doppelidentifikation der Diasporajuden mit ihren »Wohn-Nationen« verträgt.
10.
Die Gebote der Tora
Die Bewertung der Gebote, der Mizwot, ist schon immer das Schibbolet für die Art der Frömmigkeit eines jüdischen Autors. Spätestens seit der mittelalterlichen Philosophie und dann sehr intensiv in der Kabbala machte man sich Gedanken über den Sinn der biblischen Gebote, nachdem die rabbinischen Gelehrten der talmudischen Zeit mehrheitlich die Auffassung vertreten hatten, dass es nur eine einzige Begründung für die Gebote geben kann, nämlich den fraglosen Gehorsam des Menschen gegenüber Gottes Geboten. Allerdings haben die Meister der Mischna184 bereits zwischen Geboten die zwischen Mensch und Mensch und solchen die zwischen Mensch und Gott gelten, unterschieden, wiewohl auch die erstere Gruppe letztlich Gebote sind, die Gott vom Menschen einfordert. Es war Saʽadja Gaʼon, der initiale jüdische Philosoph des Mittelalters,185 der als erster eine philosophisch-rationale Unterscheidung innerhalb der Gebote einführte, nämlich in rationale Gebote, die der Mensch auch ohne Gottes Offenbarung für nötig erachtet hätte, und Gehorsamsgebote, deren rationaler Sinn – wenigstens vorläufig – noch nicht erkannt worden ist. Spätere Autoren haben die Gebote sodann nach unterschiedlichen Gesichtspunkten sortiert, seien sie soziale Gebote, Gebote der moralischen Erziehung für den Menschen, hygienische Gebote etc. Ganz anders die Kabbalisten, die theosophisch-theurgische Begründungen für die Gebote fanden – was an früheren Stellen dieses Werkes ausführlicher schon beschrieben wurde.186 So wurde in Band drei das innovative System des neoorthodoxen Samson Raphael Hirsch vorgestellt, der die traditionelle Zahl von 613 Geboten gemäß seinem neuen theologischen System ordnete und als Symbole für Wirkungen auf die Protagonisten seines Systems deutete. Kaplan fühlt sich 183
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184
Mischna, Joma, 8, 9.
185
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 362–400.
186
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 518–537; Bd. 2, S. 112 f. 451 ff. 596 ff.
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diesem Vorgehen von Hirsch nahe, wiewohl er ansonsten dessen »fundamentalistische« Haltung kategorisch ablehnt. Auch Kaplan zeichnet die Gebote in sein eigenes »theologisches« System ein, sprich in die Deutung des Judentums als »transzendenzlose« Zivilisation, also eine kulturell soziologische Größe. Er muss den Geboten mithin im Rahmen der Vorstellung vom Judentum als einer durch Kultur verbundenen Gruppe, in der es zugleich individuelle Bedürfnisse gibt, einen Sinn abgewinnen. Auf beide, die individuellen wie die sozialen Bedürfnisse der Gemeinschaft, sollen nach Kaplans Deutungen die verschiedenen Gebote in unterschiedlicher Weise antworten und Sinn stiften. Auch bei diesem Zugang zu den Geboten, der in gewisser Weise die mittelalterliche Kategorie der rationalen Gebote fortsetzt, von denen die einen auf die Gesellschaft, die anderen auf das Individuum einwirken, gilt das von ihm verschiedentlich betonte Prinzip, möglichst viel von der Tradition beizubehalten, sofern dies noch nützlich, verantwortbar und nicht schädlich erscheint. In jedem Falle müsse den beibehaltenen sichtbaren Symbolen der Tradition ein neuer Sinn unterlegt werden, der helfen soll, das ideelle Ziel der vollzogenen sichtbaren Handlung zu erreichen. Die Frage stellt sich vor allem hinsichtlich der Gebote, die zwischen Mensch und Gott gelten, denn die andern, welche die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch regeln, sind eo ipso soziale Gebote, die im Rahmen des neuen Verständnisses des Judentums als Zivilisation keiner eigenen Begründung mehr bedürfen. Anders verhält es sich wie gesagt mit jenen Geboten, die zwischen Mensch und Gott gelten, nach dem das personale Gegenüber, »Gott«, abhandengekommen ist. Auch diese Gebote müssen, will man sie nicht abschaffen, einen innerweltlichen, innersozialen oder individuell salvatorischen Sinn bekommen. Kaplans erster Schritt zu einem solchen neuen Verständnis der ehemals göttlichen Gebote ist die Übersetzung des theologischen Begriffs Mizwot (Gebote) als »folkways«, das heißt Brauchtum des Volkes, Volksgebräuche. Er sieht sich zu dieser Übersetzung des hebräischen Begriffs durch den anderen hebräischen Terminus »Minhag«, Brauch, berechtigt, der in der älteren rabbinischen Literatur eben solche rituellen Gebräuche bezeichnete. Mit dieser Übersetzung werden die Gebote aus ihrem rechtlich-legalistischen Kontext genommen, werden also nicht länger als rabbinisch justitiable Gesetze verstanden. Mit dieser Übersetzung des Begriffs Mizwot kann nun Kaplan zu seiner funktionalen Definition solcher Mizwot-Volksgebräuche schreiten, nämlich: »Volksbräuche sind soziale Praktiken, mit deren Hilfe ein Volk die Wirklichkeit seines kollektiven Seins nach außen sichtbar macht (externalizes).«187
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Diese Volksbräuche sind also, wie viele Juden sie auch seit der Aufklärung schon benannten, Zeremonien. Und solche Zeremonien werden aus einem Bedürfnis der Menschen heraus zelebriert, also zum Wohle des Menschen, nicht etwa im Interesse Gottes. Die Mizwot haben ihre Funktion demnach im Rahmen der oben gezeichneten Volks-Religion. Daneben wirken sie außerdem, dies ergibt sich aus Kaplans Detail-Beschreibungen, im Rahmen der persönlichen Religion, als sichtbare Akte, die auf die psychische Verfassung des Menschen wirken. Um nun innerhalb der zahlreichen überlieferten Mizwot unterscheiden zu können, und zu sehen, welche auch für die moderne Gegenwart als unabdingbar und welche als obsolet oder gar schädlich erachtet werden können, führt er eine weitere Untergliederung dieser »Bräuche« ein, nämlich in religiöse Bräuche und in kulturelle Bräuche. Den Unterschied zwischen den beiden Gruppen deutet er nach deren Funktion: »Die religiösen Volksbräuche haben den Hauptzweck darin, den kosmischen Bezug herzustellen, der in der religiösen Erfahrung zum Ausdruck kommt. Institutionen wie der Schabbat, die Feiertage und der Gottesdienst dienen diesem Ziel. Die kulturellen Bräuche hingegen sind Bräuche, welche das gemeinsame Leben und die gemeinsamen Interessen der Gruppe unterstreichen: So die hebräische Sprache, der jüdische Kalender, das Tragen des Tallit (Gebetsschal) beim Gottesdienst insofern sie den Geist des Volkes zum Ausdruck bringen.«188 Diese klare Aufteilung der Wirkungsbereiche auf das Individuum oder die Gruppe wird von Kaplan indessen nicht konsequent durchgeführt, sondern häufig als Mischwirkung beschrieben. Dies ist darin begründet, dass das Individuum einer Gruppe auch in seiner Individualität von der Gruppe geprägt ist. Darum sagt er selbst einmal: »Ein gewachsenes Verständnis der menschlichen Natur und des Stellenwertes der Religion im menschlichen Leben hat […] erkennen lassen, dass man Bräuche als essentiell für eine emotionale Identifikation mit dem inneren Leben eines Volkes und als Mittel zum Ausdruck der Gefühle hinsichtlich der Bedeutung des Lebens in der spezifischen Weise dieses Volkes annehmen muss.«189
10.1 Die religiösen Volksbräuche Den religiösen Volksbräuchen schreibt Kaplan die Macht zu, den Menschen auf eine Reihe von Situationen hinzuweisen, die aus dem alltäglichen Leben heraus-
188
Judaism as a Civilization, S. 433.
189
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ragen, nämlich Situationen die, nach seiner Meinung, gleichsam Gott, sprich etwas Göttliches, manifest machen. Dies sind Situationen, »welche die Macht haben unsere Sympathien zu vergrößern, unsere Denkperspektiven zu erweitern, unsere Sinne zu beruhigen, unsere Befindlichkeit zu verbessern und unseren Willen zu stärken.«190 Zu solchen Situationen zählt er die Eheschließung und die Übergangssituationen des Lebens, wie von der Kindheit zum Erwachsensein führen, (Bar Mizwa) etc.191 Einen besonderen Stellenwert haben hierbei natürlich die Speisegesetze. Sie haben, so argumentiert Kaplan, das Ziel, den Vorgang der Nahrungsaufnahme von einem rein animalischen Akt in einen mit spirituellen Aspekten zu transformieren. Sie sind es auch, die dem jüdischen Haus seine spezielle »jüdische Atmosphäre« verleihen. Aus dieser Betonung der Förderung der besonderen Atmosphäre des jüdischen Hauses folgt andrerseits für ihn zugleich, dass dies draußen im Geschäfts- und Gesellschaftsleben der allgemeinen Gesellschaft natürlich nicht zutrifft, weshalb man sich dort sehr wohl die Freiheit nehmen kann, die Kaschrut-Regeln zu missachten. Hingegen wird im Haus der Speisevorgang, begleitet von den zugehörigen Benediktionen, die der Mahlzeit eine »soziale und kosmische Orientierung«, eine spirituelle Note verleihen, die für den im hektischen Alltag lebenden Menschen erholsam wirkt.192 Auch Schabbat und Feiertage sollen dieser »jüdischen Atmosphäre« des Hauses dienen. Der Schabbat soll vor allem der familiären Hausgemeinschaft dienen, den Austausch zwischen Eltern und Kindern fördern.193 Die SchabbatRegeln dienen in erster Linie der Bewahrung der Schabbat-Atmosphäre, dazu gehört, wenigstens gelegentlicher Gottesdienstbesuch, Unterlassung von Sportaktivitäten während der Gottesdienstzeiten nicht aber danach, vielmehr soll sich nach dem Gottesdienst die Synagoge als Erfrischungs- Unterhaltungs- und Lehrort anbieten, schlicht als Ort der »social gatherings«. Autofahren zur Synagoge soll vermieden werden wo es geht, entsprechend sollen die anderen Arbeitsverbote den Umständen angepasst werden, nach der Maßgabe, was Freude macht, dient dem herausgehobenen Tag. Für die Sinngebung der Feiertage soll aus deren legendär-historischem Kern eine bleibende Bewusstseinsebene gehoben werden: Pesach als das Fest der »Konzeption eines Gottes als Erlöser«, das Offenbarungsfest Schavuʽot, soll des Menschen höchste spirituelle Potenzen aktualisieren, Sukkot, das Fest der Wüstenwanderung, soll des seltsamen Schicksals Israels eingedenk machen, als Wanderer unter den Völkern und nun als Nation in der Verstreuung. Rosch ha190
Judaism as a Civilization, S. 436.
191
Judaism as a Civilization, S. 436–437.
192
Judaism as a Civilization, S. 440–443.
193
Judaism as a Civilization, S. 445.
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Schana wird zum Fest der »Königsherrschaft des Geistes«, wo vorher Gottes Königtum stand, Jom Kippur ist das Fest der »moralischen Verantwortung«, etc.194
10.2 Die kulturellen Volksbräuche Wie schon oben angedeutet, steht bei den unter dieser Rubrik versammelten Mizwot, sprich Volksgebräuchen, die Bedeutsamkeit für das Volk, die jüdische Nation, deutlich im Vordergrund. Als klarste Abgrenzung gegenüber der biblisch-rabbinischen Vergangenheit steht hier die Ablehnung jenes Gebotes, das traditionell als Begründung einer großen Zahl von Geboten diente, nämlich das Verbot: »Ihr sollt nicht nach ihren Bräuchen [das heißt der nichtjüdischen Völkerschaften] wandeln!« (Lev 18, 3). Dieses Gebot hält Kaplan als für völlig überholt und nicht am Platze für ein künftiges Judentum. Denn dieses soll so viel als möglich aus den anderen Kulturen übernehmen, das dem jüdischen Geist kongenial ist. Die Hauptaufgabe dieser kulturellen Gebote ist, »das jüdische Bewusstsein zu vertiefen und das Gefühl der Einheit mit den übrigen Juden der Welt zu befördern.«195 Unter diese Kultur-Gebote zählt Kaplan die Kenntnis der modernen hebräischen Sprache, das Verwenden von jüdischen Namen, und des jüdischen Kalenders und schließlich die Beförderung und Schaffung einer jüdischen Kunst der verschiedenen Disziplinen. An dieser Stelle nennt er dann ausdrücklich noch einmal den jüdischen Gottesdienst als »public worship«, der unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung von Kunst für das gute menschliche Leben vollkommen neue Wege gehen muss: »Bedenkt man den Wert des Gottesdienstes, muss eine völlig neue Einstellung ihm gegenüber erworben werden. Wenn man öffentliche Gottesdienste organisiert, sollte das Ziel sein, so viel wie möglich an Dichtung, Musik, Gesang, Drama und Tanz einzubeziehen. Wenn diese Kunstformen mit dem jüdischen Geist übereinstimmen, werden sie eine Bereicherung für die jüdischen Werte sein, was allerdings die alten liturgischen Formeln nicht ausschließen muss. Sobald diese Formeln von jeglicher Bezugnahme zur einer transzendental-göttlichen Einstellung befreit sind, werden sie dank ihrer geschichtlichen Verbindung mit der Freude, den Sehnsüchten und Leiden eines Volkes an ästhetischer Attraktivität gewinnen.«196
194
Judaism as a Civilization, S. 448–450.
195
Judaism as a Civilization, S. 452.
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Judaism as a Civilization, S. 458.
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Diese Worte bilden einen angemessenen Abschluss der Charakterisierung des Anliegens von Kaplan, der die Juden zu einem Volk wie alle Völker dieser Erde machen will, aber einem Volk, das wie all jene anderen seine spezifischen geschichtlichen, emotionalen, intellektuellen religiösen, kulinarischen und habituellen Eigenheiten hat und in Freiheit leben kann und soll und zwar als eine internationale Nation, die ihre geographische Heimat und ihr wirklich kulturelles Zentrum da hat, von wo sie ausgegangen war, das Land Israel.
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V.
JUDAISM BEYOND GOD – HUMANISTISCHES JUDENTUM SHERWIN T. WINE (1928–2007)
1.
Biographisches
Sherwin T. Wine (1928–2007), geboren in Detroit, war ein am Hebrew Union College ausgebildeter Reformrabbiner, der 1963 einen ersten humanistischen »temple« in Birmingham/Detroit (Michigan) und 1969 die Society for Humanistic Judaism begründete. Stets als atheistischer Rabbiner in Detroit amtierend, lehrte er an dem von ihm 1985 begründeten International Institute for Secular Judaism und 2004 als Dekan am säkularen Tmura Institute in Israel. Er gilt als der Begründer der Bewegung des Humanistic Judaism. Er verstarb bei einer verunglückten Taxifahrt in Marokko, sein Lebenspartner Richard McMains überlebte schwer verletzt.
2.
Vorausbemerkung
Das 1995 erschienene Buch Judaism Beyond God von Sherwin Wine ist aus doppeltem Grund wert, hier aufgenommen zu werden. Zum ersten beschreibt es die Situation von vielen Juden beiderlei Geschlechts, die sich zu ihrem Judentum bekennen, es bewusst leben wollen, die aber nicht religiös sind, zumindest nicht in der rabbinischen Lesart, und denen es deshalb schwer fällt, ihr Judentum zu beschreiben oder zu definieren. Diese »gott-lose« jüdische Lebensweise wird gewiss millionenfach gelebt, auch wenn viele dieser Menschen aus Anhänglichkeit, aus Romantik, oder aus Alternativlosigkeit in traditionellen jüdischen Gemeinden jeglicher Denominationen verkehren, deren Feste und Gemeinschaft mitleben und feiern, ohne aber an Gott zu glauben und ohne die jüdischen Gebote in ihrem täglichen Leben einzuhalten, weder die Speisegebote noch die Schabbatruhe, geschweige denn weiter gehendes. Wo die Lebenssituation dies erlaubt, weicht man in den so heiklen, weil tief in das alltägliche Leben eingreifenden Standesgesetzen, vor allem Heirat und Ehescheidung, auf zivile Möglichkeiten aus, die in den USA leicht zur Hand, aber für reale oder potentielle israelische Bürger nicht unproblematisch sind. Solchen Menschen will dieses Buch unter die Arme greifen: »Ein Judentum ohne Gott ist weltweit eine bedeutsame tatsächlich bestehende Alternative unter jüdischen Menschen. Die meisten säkularen und humanistischen Juden haben sich nie die Mühe gemacht, sich mit den philosophischen und historischen Fundamenten ihrer Einstellung zu befassen. Viele von © Campus Verlag
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ihnen leiden unter dem Unvermögen, sich nicht wirklich und legitim als Juden fühlen zu können. Andere wissen nicht einmal, dass es eine solche Option gibt. Dieses Buch wurde geschrieben, um den Bedürfnissen dieser Menschen zu dienen und die humanistische Option einem weiteren jüdischen wie nichtjüdischen Publikum, vorzustellen.«1 Das hier angekündigte Programm bestimmt auch den Charakter des Buches, es ist ein eher populäres Buch, bietet vieles aus Geschichte und Philosophie, was einem gebildeten Bürger nicht neu ist – dennoch, auch dies nimmt dem Buch nicht seinen Wert als Stimme für ein »Gott-loses« Judentum. Der zweite Grund, weshalb dieses Buch von Bedeutung ist, ist der, dass es vor Augen führt, wie schwierig es ist, ein solches atheistisches Judentum zu beschreiben oder zu begründen – dies umso mehr als der Autor die gängige und weithin akzeptierte Alternative, das Judentum als »Nation« zu begreifen, verwirft und nach einer anderen Möglichkeit sucht. Die Schwierigkeit zeigt sich auch darin, dass ein humanistischer Jude zunächst ein Mensch ist, der sich hinsichtlich seiner Philosophie und Weltanschauung recht eigentlich nicht von Humanisten aus anderen Völkern und Kulturen unterscheidet. Der Humanismus wird auch von Wine in diesem universalen Sinn verstanden. Wenn er dann dennoch nicht nur »humanistische Juden«, sondern ein »humanistisches Judentum«, also eine partikulare weltanschauliche Größe beschreiben will, fallen die Rechtfertigungen dafür schon schwerer. Wie schwer, zeigt sich letztlich daran, dass die von Wine begründete Bewegung ein konstitutives Element des rabbinischen Judentums, das Wine mehrfach bissig attackiert, übernimmt, nämlich den Rabbiner, männlichen wie weiblichen Geschlechts, und mit ihm die humanistische Gemeinde, der diese Rabbinerin und Rabbiner vorstehen. Aber wie ich schon sagte, gerade auch das partielle Scheitern dieses Versuches eines humanistischen Judentums ist wichtig, wahrgenommen zu werden. Nicht aus Häme, sondern weil gerade darin die Eigenart des Jüdischen sicht- ja greifbar wird. Moses Hess und Achad Haam, auch Mordecai Kaplan, hatten diese Besonderheit als Nationalreligion und Nationalkultus bezeichnet, etwas, das laut ihrer Sichtweise allen Nationen eignet,2 der Jerusalemer Philosoph Eliezer Schweid spricht von einer untrennbaren Verquickung von Volk und Religion, das Judentum als Nationalreligion und als religiöse Nation.3
1
S. T. Wine, Judaism Beyond God: A Radical New Way to Be Jewish, New York 1995, S. IX.
2
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4. 103. 173. 446; Jüdisches Denken, Bd. 5, das voranstehende
3
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 103. 173. 446.
Kapitel über Kaplan.
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Jüdisch-Amerikanische Denker
3.
Die Grundlagen
3.1
Vernunft und Menschenwürde
501
Das Programm des humanistischen Judentums stellt dem traditionellen Zwillingspaar »Glaube und Gehorsam« als den Tugenden des Menschen das Paar »Vernunft und Menschenwürde« gegenüber. Damit soll gesagt sein, dass unser Wissen von der Welt nicht den Überlieferungen der Tradition, nicht der Offenbarung, entspringt, sondern der menschlichen Vernunft. Gemeint ist damit nicht die theoretische Vernunft der Logik, die ohne die empirischen Realitäten auskommen mag – und im Mittelalter ja auch dazu diente, die Offenbarung und die Metaphysik zu unterstützen –, sondern gemeint ist die »praktische Vernunft« welche sich an den Fakten und Gegebenheiten der irdischen Realität orientiert. Diese Vernunft, so Wine, schon seit Urzeiten im vernünftigen Handeln der Menschen präsent,4 hat sich vor allem seit der »säkularen Revolution«, im von Descartes,5 Spinoza,6 Newton,7 Locke8 und Kant9 eröffneten »Zeitalter der Vernunft« als das grundlegende Erkenntnisprinzip durchgesetzt, als wissenschaftlicher Empirismus – Francis Bacon, John Locke und John Stuart Mill10 werden als Protagonisten genannt. Dies ist ein Erkenntnisprinzip des Humanismus, das sich auch nicht von der romantischen Opposition und der Vernunftkritik eines Friedrich Nietzsche11 und der nachfolgenden Existenzialisten verdrängen lassen dürfe.
3.2
Gott – nicht mehr denkbar
Natürlich ist auch Gott diesem wissenschaftlichen Rationalismus zum Opfer gefallen. Schon der Gott des Maimonides, so Wine, war letztlich eine leere Hülse. Die Weiterung des menschlichen Blicks in das Universum hat den Menschen zu klein werden lassen, als dass ein Gott sich noch um ihn scherte und Gott ist zu groß geworden, um ihn noch erreichen zu können. Dies können auch solch abstrakte Formeln wie die Identifikation Gottes mit dem All, dem Einen oder dem Grund des Seins nicht verschleiern. Was für die Gottesvorstellung gilt, trifft auch 4
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Die jüdischen Denominationen, Nr. 9.
5
Zu Descartes siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 159–205. 368. 389. 585.
6
Zu Spinoza siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 158–228.
7
Zu Newton, siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 351. 357–359. 396.
8
Zu Locke siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 343. 351–353. 359. 371. 375f. 387.
9
Zu Kant siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 33. 344. 381. 386. 387. 444. 486. 502. 508. 573.
10
Zu Mill siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 26. 164. 165. 166. 177. 179.
11
Zu Nietzsche siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 48. 218. 221. 222. 223. 224. 225. 226. 227.
591. 606. 613. 614f. 617. 619–621.
228. 229. 230. 231. 237. 242. 249. 250. 263. 266. 274. 411. 482. 484. 485.
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auf die Schöpfungsvorstellung zu, die von der Evolutionslehre vom Tisch gefegt wurde. Die Theologie hat sich auf diese Einsicht einstellen wollen und an Stelle der Frage »Existiert Gott wirklich?« ist die andere getreten »Braucht der Mensch Gott?« »So wurde die Theologie zu einer Abteilung der Psychologie […] Der Glaube an Gott wurde eine neue Form der Psychotherapie.«12 Kurz: »Das Zeitalter der Vernunft ist ein Zeitalter ohne Gott. Während die Nostalgie ihn in einem Vokabular des Mächtigen konservieren will, hat er seine Substanz verloren. Der furchterregende himmlische Übervater wurde durch eine entbehrliche philosophische Abstraktion ersetzt. Er hat seine Fähigkeit, einzuschüchtern und anziehend zu sein, verloren. Die Welt, die er vorgeblich erschaffen hat, ist jetzt interessanter als er selbst. Die Wissenschaft hat die Theologie in Gestalt der intellektuellen Interessen ersetzt. Wenn Wissenschaft und moderne Theologie als vereinbar erscheinen, ist dies kaum das Verdienst der Religion. Die liberale Religion hat einen Gott produziert, der zu hohl ist, um noch ernst genommen zu werden.«13 Zurückgewiesen werden auch die postmodernen Kritiker der Vernunft, die behaupten, die Vernunft könne nur zusammenhanglose Details und keine Gesamtkonzepte erkennen oder formulieren. Zurückgewiesen wird außerdem die Behauptung, die Vernunft erzeuge ein moralisches Chaos und bereite der Tyrannei den Weg. Dagegen wird daran erinnert, dass die Geschichte der Menschheit ein gegenseitiges Morden religiöser Menschen war, die sich einander die göttliche Wahrheit streitig machten. Auch ist die Tyrannei keine Frucht der Vernunft, sondern des Dogmas, das nicht im freien vernünftigen Meinungsaustausch gewonnen wird.
3.3
Ethik – menschlich autonom
Natürlich ist das Kapitel »Ethics and Dignity« eine Abrechnung mit einer »Autoritäts-Ethik« sofern sie sich auf eine Gottheit beruft. In dem gesamten Kapitel ist keine Rede von »jüdischer« Ethik, geschweige denn von der Halacha. Die gesamte Ethik, die Wine als die akzeptable verhandelt, ist eine universelle Ethik, wie sie vor allem von nichtjüdischen Philosophen vertreten wurde. Der deontologischen Autoritätsethik stellt Wine eine Resultats-Ethik (Konsequentialismus) entgegen – wobei letztere auch schon in religiösen Systemen als Lohn- und Straf-Ethik bekannt war und praktiziert wurde. Eine solche theologische Ethik
12
Wine, Beyond God, S. 31.
13
Wine, Beyond God, S. 32.
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kommt natürlich für den Humanisten nicht in Betracht. An Stelle der Verheißungen oder Strafen Gottes kommen nach der säkularen Revolution natürlich nur menschliche Bezugsebenen, sprich menschliche Bedürfnisse der ethischen Werteskala in Frage, nämlich das Überleben (Thomas Hobbes14 und Ayn Rand15), das Vergnügen (Jeremy Bentham,16 John Stuart Mill17) und schließlich die Würde (Friedrich Nietzsche18 und Albert Camus19), während Bertrand Russel20 alle unter den Begriff des »Glücks« (happiness) zusammenfassen wollte. Im Blick auf die sozialen Veränderungen im Großen wie im Kleinen glaubt Wine, das zentrale Konzept der rationalen moralischen Revolution sei eindeutig das der menschlichen Würde. Ursprünglich ein aristokratisches Privileg sei es im Zuge der sozialen, politischen und individuellen Entwicklungen – wenigstens der Theorie nach – zu einem allgemein zugänglichen Prinzip der Menschen geworden, welche jegliche illegitime Autorität – insbesondere eine göttliche unhinterfragbare – ablehnt. Die Würde ist der Inbegriff menschlicher Autonomie, sie schützt das Individuum wie auch dessen Gegenüber. Sie ist aber zugleich kein Kanon mit festen Regeln, sondern bedarf stets des Interessenausgleichs. »Die Ethik der säkularen Revolution ist ein revolutionärer Abschied vom Stil traditioneller Moralität. Die Vision einer starken, selbstständigen, vertrauenswürdigen, großzügigen Person, die bemüht ist, angesichts eines indifferenten Universums widerspruchsfrei zu bleiben, ist ziemlich verschieden vom Ideal eines demütigen, gehorsamen Dieners, der auf die Gerechtigkeit des Schicksals vertraut. Diese Vision menschlicher Würde ist das letztgültige Kriterium für die Entscheidungen im Rahmen der neuen Moralität.«21 Dies ist ein konsequenter Abschied von jeder spezifisch jüdisch geprägten Ethik! Das Leben nach diesen Grundsätzen, der Vernunft und der Menschenwürde, ist der Humanismus: »Der Humanismus unterminierte die alten Begründungen für die Hochschätzung und das Bewahren jüdischer Identität. Gott war nicht mehr eine Person, 14
Thomas Hobbes, 1588–1679: Das Recht auf Selbsterhaltung.
15
Ayn Rand, das ist Alissa Sinowjewna Rosenbaum, 1905–1982: Der Mensch als sich selbst er-
16
Jeremy Bentham, 1748–1832: Utilitarist; das größte Glück für möglichst viele als Ziel.
17
John Stuart Mill, 1806–1873: Utilitarist, Beförderung des Glücks und der Freude.
18
Friedrich Nietzsche, 1844–1900: Herrenmoral statt Sklavenmoral.
haltendes Wesen.
19
Albert Camus, 1913–1960: Existentialistischer französischer Schriftsteller.
20
Bertrand Russel, 1872–1970: Britisch-amerikanischer Philosoph, Logiker und Mathematiker,
21
Wine, Beyond God, S. 50.
politischer tätiger Pazifist und Friedensaktivist.
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noch interessant. Das menschliche Leben nach dem Tod war fraglich geworden. Eine übernatürliche Macht stellte sich als peinliches Produkt des Aberglaubens dar. Die Lehre von der Erwählung Israels erschien als sektiererische Arroganz. Die Rabbis wussten weniger über die Welt als die neuen gelehrten Wissenschaftler und Akademiker. Und alle neuen Ideen wurden von nun an in den Dienst ökonomischer Vorteile und politischer Gleichberechtigung gestellt.«22
4.
Jüdische Reaktionen auf die säkulare Revolution aus Sicht der Humanisten
Die jüdischen Reaktionen auf diese revolutionierenden Umwälzungen sieht Wine in dreierlei Gestalt. Da sind zum einen diejenigen, die alle Neuerungen ablehnen, und das rabbinische Judentum kompromisslos zu verteidigen suchen, die »rejectionists« (Verweigerer). Die Reaktion der zweiten Gruppe war »ambivalent«, sie wollten das Alte mit dem Neuen verbinden und schließlich die »enthusiasts«, welche die Neuerungen begeistert aufnahmen und vom Judentum erwarteten sich entsprechend zu verändern. Zu den Rejectionists gehören natürlich alle orthodoxen Richtungen, Fundamentalisten, Ḥasidim und deren ehemalige Gegner, die Mitnagdim, mit denen sie sich 1912 in der Agudat Jisrael versöhnt haben. Dies gilt, auch wenn die neue Orthodoxie sich doch in vieler Hinsicht den technischen Vorteilen der Moderne gegenüber aufgeschlossen zeigt. Dennoch, so Wine, muss man anerkennen, dass es der Orthodoxie gelingt, mit ihrer Verweigerung, trotz zahlreicher interner Rivalitäten, die jüdische Identität leichter und stolz zu verteidigen. Im Vergleich zu den Rejectionists, deren Position zugleich mit Ablehnung und Neid betrachtet werden muss, schneiden die »Ambivalenten« tatsächlich schlechter ab. Zu ihnen zählt Wine die Conservatives und die Reform. Sie tanzen gleichsam auf zwei Hochzeiten. »Während sie die säkulare Revolution in den meisten ihrer alltäglichen Unternehmungen begrüßen, weisen sie deren Folgerungen für die jüdische Identität ab.«23 Diese Zusammengruppierung von Konservativen und Reformern gilt nach Wines Auffassung, obwohl die Conservatives, zu denen er auch die moderne Orthodoxie und die Reconstructionists zählt, an der Gültigkeit der Halacha festhalten, oder auch nur vorgeben dies zu tun, während die Reform die Halacha ganz ablehnte, wiewohl es neuerlich auch hier Kompromisse gebe. Das durchaus polemisch formulierte Resultat lautet:
22
Wine, Beyond God, S. 52.
23
Wine, Beyond God, S. 59.
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»Keine der ambivalenten Richtungen brachte eine Lehre zur jüdischen Identität zustande, welche die Macht des Narrativs der Rejectionisten erlangen konnte. Da sie ihre Autorität in der Literatur der Rejectionisten [sprich der traditionell rabbinischen Literatur] suchten, sowie bei deren Helden, kam im Ende nicht mehr heraus als blasse Variationen der Themen der Traditionalisten. Die moderne Orthodoxie hat zwar formal das alte Narrativ anerkannt, war aber zu sehr säkularisiert, um es anzuwenden. Die Conservatives betrachteten sich selbst als die Verteidiger der Tradition, fühlten sich aber mit deren traditionellen Begründungen nicht wohl. Die Reform klammerte sich an die Moral der Propheten, wollte aber mit deren Religion nichts zu tun haben. Die Reconstructionists sprachen viel über den Primat des jüdischen Volkes, stellten sich sodann aber gegen ihr Recht, Gott und die Tora loszuwerden.«24 Natürlich sind die Enthusiasten der Moderne, die Humanisten, seine Wahl. Aber auch hier sieht Wine Probleme. Natürlich, so meint er, sei die nationale Definition des Judentums die erste Wahl für alle jüdischen Humanisten. Sie aber erwies sich als problematisch, weil schon in den europäischen Nationalstaaten sich die Problematik des Vorwurfs der doppelten Loyalität einstellte, weshalb die Reformer ihr Judentum entnationalisiert und konfessionalisiert hatten. Da nach Wines Auffassung zu einer lebensfähigen Nation zwei Erfordernisse gehören, eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Territorium, konnte auch der jiddische Nationalismus in Osteuropa nicht wirklich gedeihen und hat ohnehin durch »Hitler« seinen Todesstoß erfahren. Der säkulare Zionismus ist, so Wine, in dieser Hinsicht ein wirklicher Erfolg, allerdings musste er im Laufe der Zeit Kompromisse mit den beiden anderen Gruppierungen, den Verweigerern und den Ambivalenten eingehen, hinzu kamen die Orientalen, welche noch keinerlei Säkularismus kannten, so dass die Säkularität des jüdischen Staates nicht mehr dem humanistischen Ideal entsprach. Das Ideal sind wirklich die israelischen Humanisten, denn »Israelische Humanisten können Humanisten sein wie es die englischen sind. Wenn sie dies in Hebräisch verwirklichen, müssen sie sich keine Sorge um ihr Jüdischsein machen. Sie können sich einfach darauf konzentrieren humanistisch zu sein.«25 – Es scheint, dass das wirkliche Leben sich auch nicht den Idealvorstellungen eines jüdischen Humanisten beugt. Dies zeigt sich dann um so dringlicher im Falle der in der Diaspora lebenden jüdischen Humanisten, die ihr Judentum bewahren wollen. Sie müssen nach Strategien suchen, das Judentum zu leben – enden dabei allerdings oft im Lager der Ambivalenten.
24
Wine, Beyond God, S. 67.
25
Wine, Beyond God, S. 81.
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5.
Lösungsvorschläge
5.1
Jüdische Identität – was ist sie?
Ein erster Schritt in Richtung positiver Vorschläge wie ein universaler Humanismus sich mit einem partikularen jüdischen Humanismus vereinbaren lässt, ist die Klärung dessen, was man unter jüdischer Identität versteht. Als die gängigen Kategorien nennt Wine: Religion, Rasse, Kultur, Nation. Die Religion wird abgewiesen, weil diese Definition natürlich nicht die areligiösen Juden einbezieht und auch nicht die Begründung der Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Staates zu tragen vermöchte. Den Begriff der Nation weist Wine gleichfalls ab, wiewohl er weiß, dass alle Zionisten wie die Autoren der Bibel und die rabbinische Tradition dieser Definition zustimmen. Er lehnt diesen Begriff ab, weil die Juden zwar einst aus einer Nation hervorgegangen seien, sich aber in der Diaspora in mehrere jüdische Subnationen aufspalteten. Diese – wiewohl sie kein eigenes Territorium besaßen – zeichneten sich wenigstens durch eine gemeinsame Sprache aus, Jiddisch, Ladino, jüdisch Arabisch und persisch Arabisch. Diese Sichtweise hängt natürlich von Wines Definition von Nation ab, die wenigstens eines der beiden oben genannten Kriterien erfüllen müsse, hier eben das der Sprache. Israel läuft innerhalb dieses Konzepts der Subnation als Neugründung einer hebräischsprachigen Nation. Also auch der Begriff der Nation taugt nach dieser Auffassung nicht, alle Juden unter einer Rubrik zu erfassen. Die nächste Alternative wäre, die Juden als Kulturgemeinschaft zu definieren. Für eine solche Kulturgemeinschaft reichen allerdings die traditionellen Versatzstücke wie Feiertage, Musik, Speisen, Literatur und jüdische Wortfetzen und jüdische Symbole nicht aus. Zu einer wirklichen Kulturgemeinschaft gehören laut Wine eine Verschmelzung von Sprache und Lebensweise und alltäglichen Aktivitäten. Solche Kulturen haben ihren genuin eigenen Raum und grenzen andere davon aus. Es gab demnach keine einzige einheitliche jüdische Nationalkultur, sondern nur ein Nebeneinander verschiedener jüdischer Kulturen, aschkenasisch, sefardisch etc. Er akzeptiert allenfalls den Begriff einer »civilization«, der eine Sammlung von Nationen bezeichnet, die durch Symbole und Lebensstil miteinander verbunden sind – ein Beispiel einer solchen Zivilisation ist ihm der »westliche Kapitalismus«. Nach all diesen abzulehnenden Definitionen jüdischer Identität sieht Wine nur noch in der Verwandtschaft (kinship) einen Ausweg – auch die Beschreibung als »Mitglieder eines Stammes« (member oft the tribe) erscheint ihm adäquat. Zu einer solchen Verwandtschaft oder verwandtschaftlichen Identität gehört zunächst das Gefühl, gemeinsame Vorfahren zu haben – seien sie nun real oder imaginiert. Hinzu kommen gemeinsame Erinnerungen und eine Familiengeschichte. Außerdem gehört – im Falle der jüdischen Verwandtschaft – die gemeinsame Bedrohung hinzu, durch Judenhass und Antisemitismus. © Campus Verlag
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All diese Elemente fasst Wine in die Definition der »vulnerable kinship«, verletzliche Verwandtschaft zusammen. Als Vergleich bietet er die »Zigeuner« an, »sie sind weniger als eine Nation und mehr als ein wirtschaftlich funktionierender Verband. Und sie wissen, dass sie in Gefahr sind, wenn sie sich zu erkennen geben.«26
5.2
Der Wert der jüdischen Identität
Die zentrale Frage, die sich nun stellen muss, der Wine auch nicht ausweichen will, ist die, weshalb es wert ist, die jüdische Identität als separate partikulare Identität zu bewahren. Nach all dem schon Gesagten kann die Theologie hier als Antwortgeberin nicht mehr infrage kommen. Wine macht sich mit eloquenter Beredsamkeit die Mühe, die rabbinischen Gründe zu wiederholen, welche den Wert des Judentums, des jüdischen Volkes, des von Gott erwählten Volkes ausmachen, dieses Volk im Bild der Fackelträger Gottes in der Welt. Auch zählt Wine die traditionellen Argumente auf, welche zur Erklärung der Diskrepanz zwischen dem Ergehen dieses Volkes und den göttlichen Verheißungen der Fürsorge und Bewahrung seines Volkes dienen sollen: Dieser Gott erwählte sein Volk, um es zu belohnen und zu bestrafen, je nach Maß des Gehorsams oder Ungehorsams seinen Geboten gegenüber, Argumente die selbst vor der größten jüdischen Katastrophe, der Schoah nicht zurückschrecken – wie im Band vier des Jüdischen Denkens ausdrücklich vor Augen geführt wurde.27 Wine macht sich lustig darüber, dass ein solches Volk von »losern« (Verlierertypen) die Macht und Herrlichkeit seines Gottes in der Welt darstellen sollte. Nein, die Erfahrungen der Juden stehen der rabbinischen Ideologie diametral entgegen. Und so vertritt Wine die Auffassung dass es entgegen dieser illusionären, einer Selbsttäuschung unterliegenden jüdisch-rabbinischen Ideologie in der jüdischen Geschichte schon immer ein Untergrundjudentum gegeben habe, das gegen solche Auffassungen protestierte und seine Identität nicht aus einer fadenscheinigen Theologie, sondern aus den realen Erlebnissen dieses Volkes ableitete. Nur sei die Erinnerung an diese unterirdische jüdische Tradition dank der Zensur der rabbinischen Historiographie nie wirklich sichtbar gemacht worden. Alleine durch die säkulare Revolution seien diese unterirdischen Kräfte sichtbarer geworden und ans Licht der Öffentlichkeit getreten. Sie hätten sich gewiss vollkommen mit einem internationalen Humanismus vereint, wenn sie da nicht der wiederaufkeimende Antisemitismus zurückgeworfen und eines Besseren belehrt hätte und dies in eminentem Maße in der Schoah. Und was bleibt da, so
26
Wine, Beyond God, S. 91.
27
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 35–51. 469–479.
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fragt Wine, als Motivation und als Wert, gerade diese stets bedrohte »verletzliche Verwandtschaft« als eigene separate Lebensgemeinschaft zu erhalten und zu stärken? Seine Antwort leitet sich aus dem oben Gesagten ab, sie zeigt aber zugleich wie »verletzlich« auch gerade diese Argumentation ist. Sie erscheint vielleicht nicht weniger illusionär als die rabbinische Ansicht, als nicht mehr denn ein Griff nach einem Strohhalm. Die hoffnungsfroh trotzige Vision von Wine lautet daher: »Die jüdische Identität hat humanistischen Wert, weil die jüdische Erfahrung ein Zeugnis dafür ist, wie nötig man der Vernunft und Menschenwürde bedarf. Jüdisch-sein bedeutet, die Gleichgültigkeit des Universums und den Terror der Eigenständigkeit (self reliance) zu empfinden. Aber angesichts der Möglichkeiten des Schicksals gibt es keine Alternative zur Eigenständigkeit. Die jüdische Identität ist fest mit dem jüdischen Gedächtnis verbunden. Und das jüdische Erinnern ist eine Enzyklopädie der Gründe für den Agnostizismus, die Skepsis und den menschlichen Kampf. Die theistische Tradition des jüdischen Establishments, die so sehr im Widerspruch zur jüdischen Erfahrung steht, macht die humanistische Botschaft umso eindringlicher. Jüdisch sein – mit einer authentischen und realistischen Verbundenheit mit der jüdischen Geschichte – bestärkt die humanistische Zugangsweise zum Leben und stärkt unser Bewusstsein für die Wichtigkeit der Vernunft und Menschenwürde. In der modernen Welt ergibt sich der theologische Jude dem ›historischen Juden‹. Das Judentum […] ist eine Lehre über den Wert der jüdischen Identität. Das alte Judentum findet einen theologischen Wert in der jüdischen Identität. Das neue Judentum findet einen humanistischen Wert in der jüdischen Identität.«28 Natürlich fordert diese neue Grundeinstellung zur jüdischen Identität, wie man dies auch bei der unten beschriebenen feministischen Verschiebung des grundlegenden Fadenkreuzes sehen kann, eine neue Sicht auf die jüdische Geschichte. Bisher völlig vernachlässigte oder verdrängte Quellen jüdischer Geschichte – der unterirdischen jüdischen Geschichte – müssen erschlossen werden und die alten vorhandenen Quellen müssen gegen den Strich, gegen die in ihnen vorherrschende rabbinische und priesterliche Ideologie gelesen werden, die – wie Wine einmal sagt – nur der Herrschaft dieser klerikalen Stände dienen sollte.
28
Wine, Beyond God, S. 99.
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5.3
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Die Revision der Historiographie
Die Veränderung der Geschichtsschreibung, sprich die Neubetrachtung der jüdischen Geschichte, die völlig neue Fragestellungen und Akzentsetzungen verlangt beschreibt Wine wie folgt: »Ein humanistisches Judentum erfordert eine neue Sicht der jüdischen Geschichte. Es erfordert eine radikale Abwendung von der traditionellen Weise zu beschreiben, was Juden fühlen und glauben. Es erfordert die Fähigkeit zwischen Erfahrung und Propaganda zu unterscheiden, zwischen Wirklichkeit und offizieller Ideologie. Es bedarf einer Fokussierung weniger auf theologische Gedanken und Gottesdienstpraktiken und mehr auf die Fähigkeiten, welche die Juden für ihr Überleben entwickelten.«29 Das Kapitel über die jüdische Geschichte ist das glänzende Herzstück seines Buches. In ihm stellt er das »ist« und das »soll« jüdischer Historiographie einander gegenüber. Aus dieser Diskrepanz wird das Anliegen eines humanistischen Judentums plastischer vor Augen geführt als in allen übrigen Kapiteln des Buches. Wine arbeitet hier heraus, inwiefern eine multilaterale Historiographie zentral für das neue andere jüdische Selbstverständnis ist. Erst das Gegenüber von traditioneller in der »Tora« gründender Historiographie und den vernachlässigten Seiten jüdischer Geschichte führt vor Augen, in welchem Maße jüdisches Selbstverständnis von einer bestimmten Sichtweise jüdischer Geschichtsschreibung abhängig ist – das beste Argument dafür, das Studium der Geschichte als erste Pflicht eines neuen humanistischen Judentums zu deklarieren. Wines zentraler Kritik-Punkt ist, dass die traditionelle jüdische Historiographie vor allem eine Geschichte der Religion und Theologie ist. Die Einseitigkeit oder gar Ausschließlichkeit der traditionellen Historiographie zeigt sich zuallererst daran, dass die Helden dieser Geschichte Propheten und Priester sind, auch die »heiligen« Könige der Bibel wie die rabbinischen Gelehrten – alles Gestalten einer fernen Vergangenheit, die als solche hervorgehoben werden, wenn sie eine bestimmte religiöse Ideologie vertreten. Deren Widersacher, etwa die Gegner des Propheten Jeremia, oder des Samuel erscheinen in einem weniger günstigen Licht. Die Helden der weniger weit zurückliegenden Geschichte, etwa eines Einstein, oder die von jüdischen Bankiers und Geschäftsleuten, welche Fähigkeiten für die Überlebensstrategien der jüdischen Gemeinschaft und Familien entwickelten, kommen hier kaum oder gar nicht vor. Die biblischen prophetischen Helden verkämpfen sich für ein pastorales Landleben auf der Scholle, das Hüten der Schafe und Führen des Pfluges – man denke an den Propheten Amos. Die
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diesbezüglichen Quellen zeigen nicht jene Seiten des jüdischen Lebens, welche dieses Leben seit der Antike bestimmte, nämlich das verfeinerte Leben in der Stadt, das Leben des Handels und des Geldes, den Kampf mit Worten und Argumenten, welche die jüdische Realität seit langem prägten. In der rabbinisch bestimmten Historiographie spielten die ideologischen Träume nur einer Schicht die Hauptrolle, die mit dieser Historiographie ihre Interessen vertritt. In der rabbinischen Geschichtsschreibung sind die Helden die Männer des Lehrhauses, so wie in den biblischen Texten die Propheten und manche Könige, welche jeweils die Interessen ihrer Klassen vertreten. Die rabbinisch hegemoniale Geschichtsschreibung persifliert Wine mit Spott: »Warst du ein Rabbi und hattest eine Meinung dazu, ob man Hühnchen mit Milch zusammen essen sollte, bekamst du eine attraktive Zitierung im Talmud. Warst du ein Dichter und sangest das Loblied Yahves, dann hat das Gebetbuch deinen Beitrag gewürdigt. Warst du aber der erste jüdische Bankier oder der beste jüdische Humorist, dann hat die Geschichte deinen Namen vergessen. Die Rabbis waren, wie die meisten religiösen Eliten, nicht daran interessiert, eine solche Erinnerung zu bewahren.«30 Selbst auch in dem, was die religiöse Historiographie als die Gipfelleistung des Judentums zu beschreiben pflegt, das als jüdische Mission für die Welt schlechthin propagiert wird, nämlich im Monotheismus, sieht er nur eine politische Strategie, keine weise Offenbarung. Zunächst meint er, dass der Monotheismus nicht »logischer« sei als der Polytheismus. Einem Teufel könne man ja eher Vorwürfe wegen des Übels in der Welt machen als einem gerechten Gott. Zur Ursache des Monotheismus selbst sagt Wine: »Der Ursprung des Monotheismus ist keine spirituelle Genialität. Es ist vielmehr eine politische Struktur, die man Imperialismus nennt. Weltgötter sind eine Widerspiegelung von Weltherrschaft. So wie Stammesherrschaften Stammesgötter erzeugen und Nationalherrschaften Nationalgötter, so unterstützen Großreiche die Geburt von Übergöttern. Der Monotheismus war keine jüdische Erfindung. Die Ägypter, die Perser und die Griechen hatten alle ihre Neigung dafür. Aton, Mazda und Zeus wurden göttliche Superstars wie Yahve – und dies mit weit mehr Berechtigung. Yahve der Weltherrscher trifft mit der Ankunft der assyrischen, der chaldäischen und persischen Großreiche zusammen. Er ist eine politische Erklärung keine geistige Revolution.«31
30
Wine, Beyond God, S. 103.
31
Wine, Beyond God, S. 107.
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Der jüdische Monotheismus, so Wine, war von allem Anfang an recht eigentlich untauglich, denn er konnte niemals adäquat die Niederlagen und Demütigungen der frommen Juden erklären. Dies ermöglichten erst die Hinzufügung von künftigen – jenseitigen – Belohnungen und Strafen. Der Monotheismus im Judentum entstand aus dem unausweichlichen Bedürfnis der Yaveh-Propheten und Priester, so Wine, die Reputation ihres Gottes aus der Verlegenheit ihrer Niederlage zu retten. »Die Verehrung nur eines Gottes rührte nicht aus der jüdischen Erfahrung her, sie war vielmehr der Versuch, sie zu verleugnen.«32 Im übrigen zeigen die biblischen Quellen ja auch, so Wine, dass der Monotheismus nur die Ideologie einer kleinen Elite war, während die Massen ihre Dämonen, Geister und Götter verehrten, welche die Unordnung und Disharmonie ihrer Lebenswelt getreuer widerspiegelten als der Glaube an nur einen Gott. Jüdische Historiographie muss ohne religiöse Ideologie betrieben werden. Das Geschehen in dieser Welt muss als das begriffen werden, was es wirklich ist, nämlich das Ergebnis von Auseinandersetzungen und Rivalitäten der Menschen und Gruppen untereinander, nicht als die weisen Ratschlüsse eines jenseitigen Gottes. Die Berufung auf die religiösen Helden der Bibel und der altjüdischen Literatur zum Kaschern der eigenen Ideologien und Interessen darf nicht die Historiographie und die Bildung des jüdischen Selbstbewusstseins bestimmen, sondern, das, was jüdische Denker, Geschäftsleute und Akteure sich ausdachten und vor allem taten, um das verletzliche jüdische Leben zu sichern und möglich zu machen – und dazu gehört ganz eminent das Bewusstsein, dass jüdisches Leben seit Jahrhunderten das raffiniertere reichere urbane Leben war und ist, das nicht in den Ruch des Negativen gezerrt werden darf. Das jüdische Bewusstsein muss von der jüdischen Lebensrealität der Geschichte, nicht von heiligen Büchern bestimmt werden! Denn »Ohne Kenntnis der Tora, kann es kein seriöses rabbinisches Judentum geben. Und ohne Kenntnis der wirklichen Geschichte der Juden, kann es kein seriöses humanistisches Judentum geben.«33 Die wahre jüdische Personalität rührt nicht aus dem demütigen Glauben, den die rabbinische Historiographie propagiert. Sie rührt aus der wirklichen jüdischen Erfahrung. Und zu dieser gehört auch ganz wesentlich der Antisemitismus. Diese Erfahrung erzeugte eine ohnmächtige Wut und diese hat zu der skeptischen Grundeinstellung der Juden geführt, die sich dann nach der Emanzipation voll entfalten konnte, in Gestalten wie Marx (sic!), Freud und Einstein. Sie hat auch zu dem sarkastischen selbstironischen Humor geführt und vor allem zu dem Wissen, dass man sich nur auf sich selbst – nicht auf Gott – verlassen kann. 32
Wine, Beyond God, S. 123; zur Rolle des Monotheismus im Judentum siehe auch K. E. Grözinger, Wozu dient der Monotheismus in der jüdischen Religion angesichts der Zehnfaltigkeitslehre der Kabbala, in, Aschkenas 26,1 (2016), S. 17–36.
33
Wine, Beyond God, S. 114.
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6.
Was ist zu tun?
6.1
Lehren aus der Vergangenheit
Sherwin Wine weiß, dass das traditionelle Judentum seine Stärke im Volk dadurch erhalten hatte und noch erhält, dass es Symbole, Texte, Lieder, Begehungen, Feiertage, ja auch Kleidungsstücke hat, welche die Botschaften und Empfindungen übermitteln, welche den Zusammenhalt fördern. Er weiß auch, dass vielen säkularen Juden derartige nichtreligiöse »Bindemittel« fehlen, weshalb sie sich der traditionellen Formen bedienen, ohne an deren Inhalte noch zu glauben. Wine ist deshalb der Auffassung, dass auch das humanistische Judentum derartige Kohärenz bildende Formen braucht – wohl wissend, dass es auch säkulare Individualisten gibt, die solche Gemeinschaftserlebnisse nicht brauchen. Für die Mehrzahl trifft dies jedoch zu, weshalb er nun nach Mitteln und Wegen sucht, welche die »heuchlerische« Rezeption religiöser Formeln und Begehungen durch die meisten nicht mehr religiösen Juden zu ersetzen vermögen, um stattdessen Neudeutungen der alten Riten oder gar ganz neue anzubieten, welche der mentalen Befindlichkeit nichtreligiöser Juden entsprechen.
6.2
Die neue und die alte jüdische Literatur
Als Angehöriger des Volkes der Bücher und studierter Rabbi weiß Wine um die Macht der Literatur und ihre grundlegende Bedeutung als Fundament auch und gerade eines neuen, humanistischen Judentums. So wie das rabbinische Judentum, welches das Judentum zweitausend Jahre beherrschte und jegliche nichttheistische Literatur zensierte und unterdrückte, seine Herrschaft im Judentum bis heute auf die reiche und ausufernde Literatur der Tora im weitesten Sinne gründete, so müsse nun die nicht-theistische, weitestgehend erst noch zu schaffende Literatur zum Fundament des neuen humanistischen Judentums werden. Wichtig für diese neue Literatur ist, dass sie nicht auf der Autorität des Alters besteht, nicht die Auffassungen der Großeltern wiederholt, sondern innovativ die Erfahrung der Juden aufnimmt und ihre Vergangenheit und Gegenwart gemäß den beiden neuen Maximen der Vernunft und Menschenwürde aufnimmt und als Bausteine der jüdischen Identität heranzieht. Da der jüdische Humanismus zunächst auch universeller Humanismus ist, kann man dennoch schon einen Lesekanon für den humanistischen Juden erstellen, der zunächst die nichtjüdischen Säulen der säkularen Identität darlegt. Danach gibt es auch schon eine Reihe von jüdischen Autoren, welchen diesen neuen Bau grundlegten – einige von ihnen wurden auch schon hier im Jüdischen Denken vorgestellt. Die von Wine ausdrücklich empfohlenen Humanisten sind: Epikur (in den Augen der rabbinischen Literatur der Erzhäretiker), Demokrit, © Campus Verlag
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August Comte, John Stuart Mill, Bertrand Russel, John Dewey,34 Jean-Paul Sartre und George Santayana. Dies seien nichtjüdische Autoren, deren Denken eine säkulare jüdische Identität erst möglich machten. Jüdischer Humanismus als Lebensphilosophie muss sein Verstehen des Menschseins in einen universellen Kontext einfügen können. Dieser Liste nichtjüdischer Humanisten folgt die Reihe von jüdischen Vertretern einer humanistischen Philosophie, Albert Einstein, Sigmund Freud, Erich Fromm, Walter Lippmann, Walter Kaufmann, Isaiah Berlin und Hanna Arendt. Sie, so glaubt Wine, seien zu ihrer humanistischen Auffassung aus ihrer jüdischen Lebenserfahrung heraus gekommen und seien, auch ohne dies zu wissen, bedeutend für die neue jüdische Identität geworden. An Autoren, die sich – ob jüdisch oder nicht – mit der wirklichen jüdischen Geschichte befasst haben und damit als jüdisch-humanistische Historiker auf dem neuen Weg vorangegangen seinen, sind Baruch Spinoza,35 Julius Wellhausen,36 Emile Durkheim,37 Max Weber, Simon Dubnow,38 Salo Baron39 und Theodor Gaster zu nennen.40 Sie sind die Historiker, welche die jüdische Geschichte jenseits der dogmatischen rabbinische Historiographie eruiert hätten. Schließlich werden auch jüdische Nationalisten genannt – sofern sie eine übernatürliche Autorität abgelehnt hätten – nämlich Jizchak Lejb Peretz, Scholem Aleichem, Chaim Zhitlowsky,41 Achad Haam,42 Micha Berdichevsky,43 Theodor Herzl,44 Max Nordau,45 A. D. Gordon,46 Ber Borochov,47 Shaul
34
Zu John Dewey, siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Die Kapitel IV, zu Kaplan, und zu I,
35
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 158–228.
36
Der protestantische Schöpfer der Quellentheorie zum Pentateuch, siehe Jüdisches Denken,
37
Er wurde für Mordechai Kaplan wichtig, siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, das voranstehende
38
Simon Dubnow,1860–1941, jüdischer Historiker und Jiddisch-National-Politiker.
zu Soloveitchik.
Bd. 1, S. 84. 44–48. Kapitel zu Kaplan. 39
Salo Baron, 1895–1889, jüdischer Historiker und Sozialgeschichtler.
40
Theodor Gaster, 1904–1992, jüd. Bibelgelehrter und Judaist.
41
Chaim Zhitlowsky, 1865–1943, Jidd. Schriftsteller, Jiddischist und sozialistischer Theoretiker.
42
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 159–213.
43
Micha Berdichevsky alias Micha Josef Bin-Gorion, 1865–1921, Hebräischer und jiddischer
44
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 135–158.
45
Max Nordau, 1849–1923, Arzt, Schriftsteller und Zionistenführer neben Theodor Herzl.
Autor, Erzählungs-Anthologist, Vertreter des jiddischen Nationalismus.
46
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 214–286.
47
Ber Borochov, 1881–1917, Mitbegründer der zionistischen Poʽale Zion (Arbeiterbewegung), Schriftsteller, jidd. Sprachwissenschaftler.
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Tchernikhovsky,48 Vladimir Jabotinsky,49 David Ben Gurion50 und Joseph Brenner.51 Als Schrittmacher für die neue humanistische Bewegung nennt Wine außerdem Horace Kallen,52 Yehuda Bauer,53 Haim Cohn,54 Albert Memmi55 und Gregorio Klimovsky.56 Als Literaten gehören in diesen humanistischen Olymp George Steiner,57 Yehuda Amichai,58 Amos Oz,59 A. B. Yehoshua60 und Primo Levi.61 Natürlich hat Wine, trotz dieses neuen humanistischen Kanons Not, gegen die allseits im Judentum verbreitete Verherrlichung und auch Heilighaltung der Tora, selbst bei nichtgläubigen Juden, anzukommen. Dies bleibt für ihn ein Dilemma. »Die Tora ist gewiss ein Problem für humanistische Juden.«62 Das Dilemma zeigt sich daran, dass er die Tora zunächst als theologisches, autoritäres, verwirrendes und reaktionäres, chauvinistisches Dokument brandmarkt und dann deren Heiligung beklagt, deren Inhalt von den meisten Juden nicht mehr geglaubt, aber als Objekt der kultischen Verehrung und als jüdisches Idol von allen hochgehalten wird. Diese Verehrung auch durch nichtreligiöse Juden ist meist von der Furcht getragen, dass ohne das Symbol der Tora das Judentum ein bedeutendes Integrationsinstrument verlöre. Angesichts dieser Situation, so meint Wine, muss der Tora im humanistischen Bildungskanon ein entsprechender ihr nunmehr noch zukommender Platz zugewiesen werden – als Buch unter Büchern, das historisch und kritisch bearbeitet werden muss, als Zeugnis einer bestimmten Seite der jüdischen Geschichte – aber eben nicht der für Humanisten entscheidenden –, das aber unter der be-
48
Shaul Tchernikhovsky, 1875–1943, hebr. Dichter und Arzt.
49
Vladimir Jabotinsky, 1880–1940, Zionist und Schriftsteller, Begründer des revisionistischen
50
David Ben-Gurion, 1886–1979, Zionist und erster Ministerpräsident Israels, Verkünder der is-
51
Joseph Chaim Brenner, 1881–1921, hebr. Schriftsteller, Journalist, Mitglied der Poʽale Zion,
52
Horace Kallen, 1882–1974, jüd.-amerikanischer Philosoph.
53
Yehuda Bauer, geb. 1926, israelischer Historiker, ehem. Leiter des International Centre for
54
Haim Cohn, 1911–2002, israelischer Jurist und Justizminister.
Zionismus. raelischen Staatsgründung. Gymnasiallehrer.
Holocaust Studies (Yad wa-Shem). 55
Albert Memmi, geb. 1920, tunesisch-jüd. Schriftsteller und Soziologe.
56
Gregorio Klimovsky, 1922–2009, argentinischer Mathematiker und Philosoph.
57
George Steiner, geb. 1929, jüd.-amerikanischer Philosoph, Professor für Literaturwissenschaft.
58
Yehuda Amichai, 1924–2000, israelischer Schriftsteller.
59
Amos Oz, 1939–2018, israelischer Schriftsteller, Mitbegründer von Peace Now.
60
A. B. Yehoshua, geb. 1936, isr. Schriftsteller und Hochschulprofessor.
61
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 52–58.
62
Wine, Beyond God, S. 137.
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stimmten Voraussetzung der Irrelevanz Gottes und der Gründung der Ethik auf die Vernunft und des Glaubens an einen natürlichen, nicht aus der Transzendenz gesteuerten, Geschichtsverlauf bearbeitet werden müsse. Dabei ist es nicht »unsere Aufgabe diese unsere Auffassungen in die Tora hineinzudeuten. Vielmehr ist es unsere Aufgabe die Tora in unsere Überzeugungen einzupassen.«63 Wine glaubt demzufolge, dass es nicht Aufgabe der modernen humanistischen Wissenschaft sei, die Tora zu retten und ihre Anschauungen und Ansichten zu verteidigen, sondern sie solle als historisches Zeugnis vergangener – und aus heutiger Sicht falscher – Weltanschauungen und Wissensbestände zur Kenntnis genommen werden. Man dürfe sich jedoch auch nicht über sie lustig machen, sondern müsse ihr ihre eigene Würde belassen: »Die Tora ist auch ein Buch mit vergangenen und gegenwärtigen Glaubensauffassungen. Selbst wenn alle historischen Behauptungen der Tora falsch und all ihre ethischen Gesetze hinfällig wären, so sind sie dennoch Auffassungen, an die viele unserer Vorfahren inbrünstig glaubten und die ihr Verhalten leiteten. Es mag wahr sein, dass die Erde nicht flach ist. Aber dennoch ist es wahr, dass unsere Reiseplanungen und unsere Verortung in der Welt in dem Glauben geschehen, als sei sie flach. Es mag wahr sein, dass Yahve die Tora nicht geschrieben hat. Aber es ist wahr, dass der Glaube an ihn auf die Art und Weise einwirkte, wie man neuen Ideen begegnete und neue Gesetzte rechtfertigte. So bei den Rabbinen des Midrasch und des Talmud, die es für nötig hielten, ihre eigenen Glaubensvorstellungen mit den Auffassungen der Tora in Verbindung zu bringen, selbst wenn diese tatsächlich verschieden waren.«64 Nicht besser als der Tora geht es den Propheten. Gewiss, haben sie einige Gedanken geäußert, welche auch für Humanisten Gültigkeit haben, dies insbesondere im ethischen Bereich, im Verhältnis von Arm und Reich. Es sind diese wenigen, verstreuten Gedankenfetzen, auf welche sich die »Ambivalenten«, sprich Reformer und Konservative, stürzen, um die Propheten für sich zu reklamieren. Diese wenigen akzeptablen Gedanken sind es auch, welche die Nicht-Theisten durchaus verführen können, an den Propheten festzuhalten. Aber dennoch sind gerade auch die Propheten für einen Humanisten problematisch, denn »sie sind selbstgerecht und autoritär und beachteten die Meinungen ihrer Gegner nicht. Sie verkünden stets und diskutieren nie. Als die Stimme Yahves beanspruchten sie die unhumanistische Eigenart der Unfehlbarkeit. Eini63
Wine, Beyond God, S. 138.
64
Wine, Beyond God, S. 140–141.
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ge ihrer ethischen Äußerungen waren menschlich-humanitär. Aber sie waren keine Humanisten. Sie glaubten fest an eine übernatürliche Autorität und an übernatürlichen Lohn und Strafen.«65
6.3
Jüdische Identität aus der Geschichte zelebrieren – die Feste
Die Stärkung der jüdischen Identität – ohne Gott – kann natürlich nur aus dem Bewusstsein der jüdischen Geschichte gewonnen werden. Das naheliegendste Medium dafür ist darum das Studium der jüdischen Geschichte, was allerdings nicht von jedermann erwartet werden kann. Als nächstes Band zu dieser Geschichte bietet sich die Kenntnis einer der grundlegenden jüdischen Sprachen an, Hebräisch und Jiddisch, deren Beherrschung allerdings in der Diaspora ohne wirklich aktive Sprachgemeinschaft nicht leicht zu gewinnen ist. Deshalb kommen in erster Linie die alle Juden in der Welt verbindenden jüdischen Feste und Feiertage in Frage, die zwar nur Teile und allenfalls Häppchen von jüdischer Geschichte vermitteln, aber immerhin so zentrale, wie den Exodus und die makkabäischen Siege zu Ḥanukka. Sie sind es, welche die Juden immerhin weltweit zu bestimmten Zeiten in der Woche und im Jahr verbinden. Es bleibt für den humanistischen Juden allerdings das Problem, dass die jüdischen Feste allesamt »von den rabbinischen Führern zwar nicht erfunden, aber von ihnen usurpiert und zu rabbinischen Zwecken eingesetzt wurden. Die religiöse Autorität machte sie zu bequemen Vehikeln für die rabbinische Propaganda und die rabbinische Geschichtsschau. Im ›orthodoxen‹ Judentum wurden die Feste zu Zeugnissen der göttlichen Macht und übernatürlicher Eingriffe in die Geschichte. Man kann sie nicht feiern, ohne auf Gott zu stoßen.«66 Dies ist jedoch kein unüberwindliches Problem. Der Kulturhistoriker weiß sehr wohl, dass schon die biblischen Feste nicht »vom Himmel gefallen sind«, sondern Schöpfungen menschlicher Gesellschaften waren, so schon der Schabbat, der ein vorisraelitischer Tabutag des Vollmondes war, der erst später mit der Weltschöpfung Gottes in Verbindung und damit, wenn auch in einem universalistischen Rahmen, »judaisiert« wurde. Die zentralen Feiertage Pesach, Schavuʽot und Sukkot waren ursprünglich Hirten- und oder Erntefeste, die später mit der israelitischen Geschichte des Exodus in Verbindung gebracht wurden und zwar als göttliche Rettungstaten, nicht wie sich dies dem humanistischen Historiker eher darstellen würde, als Befreiungstat aus eigener menschlicher Kraft. Das nationale Siegesfest der Makkabäer wurde rabbinisch zum Fest des Lichtwunders und nahm damit ein altes vorisraelitisches Sonnwendfest in judaisierter Form wieder
65
Wine, Beyond God, S. 142.
66
Wine. Beyond God, S, 150.
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auf. Angesichts solch richtiger religionsgeschichtlicher Erkenntnisse, sieht sich Wine berechtigt, wie dies auch die nichtreligiöse Kibbuzbewegung im jungen Israel machte, die Feste neu und ohne Gottesbezug zu deuten. Darum: »Humanistische Juden bestehen darauf, dass ihre Feiertage ihnen Integrität schenken. Die Gebete und Geschichten, welche die Ereignisse zu einem Zeugnis übernatürlicher Verlässlichkeit verwandeln, haben keinen Platz in den Feiern der Feste. Sie zerstören die wahre Bedeutung der Geschehnisse und hindern die Juden daran, ihre eigene Geschichte zu verstehen. Eine Sache auszusprechen und dabei eine andere zu glauben ist keine Poesie, sondern Feigheit. Zu Pesach Yahve zu preisen, erniedrigt die menschliche Leistung und Erfindungsgabe. Es muss einen Weg geben, die Geschichte in einer Weise zu erzählen, welche die menschliche Vernunft und Würde festigt. Kein göttlicher Plan kann die Sklaverei akzeptabel machen. Die Mazza kann ebenso als Symbol für menschliches Vertrauen auf sich selbst wie für die göttliche Vorsehung dienen.«67 Die restliche Aufgabe des Buches von Wine muss es deshalb sein, für die jüdischen Feiertage nicht theistische, sondern humanistische Deutungen zu geben, aber auch neue oder später entstandene historische Feier- oder Gedenktage wie den »Holocaust-Tag« zu empfehlen, welche zentrale Ereignisse für die jüdische Identität darstellen. Diese Neudeutungen stehen bei Wine unter der Überschrift »Celebrating Judaism«, also Feiern des Judentums, beziehungsweise Feiern zur Stärkung der jüdischen Identität. In einem weiteren Block, das soll hier nur gestreift werden, werden die Begehungen für »Celebrating Life«, also Riten zum persönlichen Leben der Individuen aufgezählt. Die dort aufgeführten Themen sind vor allem für das, was sie nicht nennen, auffällig. Aufgezählt werden Riten zur Geburt, Pubertät, Heirat und zum Tod – also durchweg universelle menschliche Ereignisse. Es fehlen natürlich die spezifisch jüdisch-religiösen Ereignisse für den Einzelnen wie die Brit-Mila, der Bar-Mizwa und die modernere BatMizwa. Der Schabbat, von allen rabbinischen und theologischen »Lasten« befreit, wird nun zu einem wöchentlichen Tag, um sein Judentum zu feiern und zwar in frei gewählter Weise, durch Familienessen mit jüdischen Symbolen, durch die Feier persönlicher Ereignisse, Bar Mizwa, Hochzeit etc., indem man ein jüdisches Buch liest, oder über jüdische Themen diskutiert und dergleichen mehr. Die hohen Herbstfeiertage, Rosch ha-Schana und Jom Kippur »sind eine notwendige Zeit, um über die Beziehung der menschlichen Bedürfnisse zum Universum nachzudenken – man erinnere sich an die Nennung von A. D. Gordon als 67
Wine, Beyond God, S. 151.
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hierher passendes Vorbild68 – aber auch das Motiv der Versöhnung mit den Mitmenschen kann als humanistischer Gestus beibehalten werden. Unter Aufnahme der alten biblischen Bedeutung von Pesach als Fest der Frühjahrsernte und in Verbindung mit dem Exodus-Motiv meint Wine, Pesach sei »das große Frühjahrsfest des jüdischen Volkes. Es feiert die Befreiung der Welt aus der Sklaverei des Winters.«69 Die biblisch-rabbinische Deutung von Pesach auf den Exodus überträgt er auf die »vielen Exodus-Ereignisse in der jüdischen Geschichte,« als Ereignisse der Befreiung. Als solche nennt er insbesondere den Exodus der Juden aus Russland – an dem seine eigenen Eltern beteiligt waren: »Der Exodus von drei Millionen aschkenasischer Juden aus Osteuropa war der größte und der traumatischste Exodus in der Geschichte des jüdischen Volkes. Und anders als der Aufbruch aus dem alten Ägypten betraf er Juden, die noch heute leben.« Wine meint, das Feiern der eigenen Erfahrung sei dem Fest viel angemessener. Dieser Exodus habe das Angesicht des Welt-Judentums mehr verändert als der klitzekleine levitische Auszug aus Ägypten. Der Exodus aus Osteuropa hat das feudalistische fromme Judentum Osteuropas in ein urbanes, kapitalistisches und säkulares nordamerikanisches verwandelt: »Dieser Exodus hat die aschkenasischen Juden aus einem wirtschaftlichen und sozialen System der Armut und Härte in eine bürgerliche Umgebung des Wohlstandes, des technischen Luxus und sozialer Mobilität versetzt. Nie waren so viele Juden so reich, so gebildet und intellektuell mächtig wie im gegenwärtigen Amerika. Damit ist der Auszug aus der ägyptischen Sklaverei in eine beduinische Armut kaum vergleichbar.«70 Kurz, diese jüngere Vergangenheit war für die Juden eine größere und sie direkter betreffende Befreiung, so dass es angebracht ist, an Pesach eher sie zu feiern als den in mythologischer Ferne liegenden biblischen Exodus. Entsprechendes gilt für die orientalischen Juden, die durch ihre Überführung in den Staat Israel – man denke an den »fliegenden Teppich«, der die jemenitischen Juden aus dem Jemen befreite und nach Israel brachte – sie können nun in gleicher Weise wie ihre aschkenasischen Brüder an den westlichen Gütern teilhaben.71 »Eine wirklich relevante, ehrliche und humanistische Haggada sollte nicht nur die Geschichte der hebräischen Schäfer einbeziehen, sondern die kühne Geschichte der revolutionären Migration des zwanzigsten Jahrhunderts.«
68
Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 214–286.
69
Wine, Beyond God, S. 176.
70
Wine, Beyond God, S. 178.
71
Wine, Beyond God, S. 179.
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So ungefähr ist der Duktus der auf die neuere und für die Gegenwart relevantere Geschichte ausgerichtete Neudeutung der klassischen jüdischen Feste. Sie hat Wine später eigens in einer praktischen humanistischen Agenda für die jüdischen Feiertage und den konkreten Gebrauch unter dem Titel Celebration. A Ceremonial Guide for Humanists and Humanistic Jews folgen lassen (Buffalo/New York, 1988). Diese humanistische Agenda ist angereichert mit Liedern und Meditationstexten zu allerlei moralischen, sozialen und philosophischen Fragen des gegenwärtigen Lebens.
7.
Gemischte Ehen und Konversion
Das von Sherwin T. Wine geschaffene humanistische Judentum will keine Philosophie für Einzelgänger sein, sondern die Ideologie für eine soziologisch sichtbare Größe innerhalb des Judentums, vergleichbar den religiösen jüdischen Denominationen in Amerika. Dieses Judentum soll selbst Gemeinden bilden und hat sich deshalb die Aufgabe gesetzt, auch a-religiöse Rabbiner und andere Führungskräfte in einer eigens geschaffenen Institution auszubilden. Natürlich musste für ein solches korporatives atheistisches Judentum dann auch die Frage der Zugehörigkeit erörtert werden. Dies umso mehr als auch diese jüdische Strömung sich wie die anderen als die Repräsentantin des aus ihrer Sicht eigentlichen Judentums versteht. Denn wer in diese Gemeinschaft aufgenommen wurde, darf sich zumindest in deren Rahmen als Jude oder Jüdin im Vollsinn betrachten. Der größte Teil von Wines Erörterung der hierzu gehörigen Problematik von Mischehen befasst sich mit den verwerflichen Seiten der Sache. Da wird zunächst die Endogamie als eine Maßnahme von Minderheitenstämmen dargestellt, die auf diese Weise den Erhalt der Gruppe sichern wollen – ein Phänomen, das sich weltweit bei Minderheitengruppen zeigt, deren oberstes Ziel die Selbsterhaltung der Gruppe sei. Das Verbot der Exogamie ist, so Wine, im babylonischen Exil entstanden, als die jüdische Minderheit ihre Minderheitenidentität bewahren wollte: »Zu snobistisch sich zu assimilieren und zu wohlhabend, um auf den neuen Luxus Babylons zugunsten der ländlichen Armut von Judäa zu verzichten, wandten sie sich einer rigiden Innenvermehrung zu als dem Weg das Beste von den beiden Welten zu genießen. Unter der Führung von fanatischen Priestern, erhoben sie den neuen Brauch zu einem göttlichen Gesetz. Die
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zadokitischen Priester schrieben dieses Verbot in den Text der Tora, die sie gerade verfassten, und gaben ihm so eine göttliche Aura.«72 Der Priester und Schriftgelehrte Esra hat nach seiner Rückkehr nach Jerusalem die dortigen Juden gezwungen, die Autorität der mitgebrachten Tora und damit das Exogamie-Verbot zu akzeptieren und sich von ihren nichtjüdischen Frauen zu trennen. Ein Gesetz das mutatis mutandis bis heute Bestand hat. In der Moderne, als der Gruppenerhalt als oberste Maxime nicht mehr respektabel erschien, wurde er durch edlere Argumente ersetzt, zum Beispiel dass die Welt ohne Judentum in mancher Hinsicht ärmer werde. Wie immer, Wine sieht, dass das Exogamieverbot auch bei nichtreligiösen Juden eine bleibende Macht besitzt und bei dessen irrationalen Verteidigern geradezu zur Verhinderung einer »Fortführung des Holocaust mit anderen Mitteln« als höchste Priorität besitzend dargestellt wird. Den geschichtlichen und soziologischen Rückblicken fügt er indessen noch einen philosophisch-anthropologischen Gesichtspunkt an, der den Konflikt des Humanismus mit der Tradition klarer in den Vordergrund treten lässt. Zwischen den beiden Positionen, zugunsten des Individuums oder des Kollektivs, sei nämlich bestritten, was der höhere Wert in der Gestaltung des menschlichen Lebens ist, ob das Kollektiv oder das Individuum. Auf der traditionellen Seite sei der oberste Wert die Förderung einer kollektiven jüdischen Identität. Das heißt »Wenn das wichtigste für einen Juden ist, jüdisch zu sein, dann ist die Brandmarkung der Exogamie als unmoralisch logisch konsequent.«73 Wenn aber, wie für die Humanisten, das oberste Lebensziel für alle Juden es ist, die persönliche Würde und soziale Gerechtigkeit zu fördern, »dann ist der Bann der Mischehe eine unethische Einmischung.« »Wenn der Zweck einer Gruppe, sei sie eine verwandtschaftliche, ethnische, religiöse oder berufliche, es ist, das Wohlergehen seiner einzelnen Mitglieder zu fördern und das Gelingen der menschlichen Solidarität, dann ist die Weigerung der Rabbiner, die persönliche Liebe über der jüdischen Identität einzuordnen, eine Form moralischen Verschuldens.« 74 Aus alledem folgt: Kinder von zwei jüdischen Partnern sind natürlich nolens volens Juden, aber ebenso die Kinder nur eines jüdischen Ehepartners. Außerdem steht es den säkular gestimmten Nichtjuden jüdischer Ehepartner zu, unbehindert eine säkulare jüdische Identität für sich zu wählen. Dabei müssen sie nicht – wie es das rabbinische Recht vorsieht, alte Auffassungen ablegen, sondern die neue jüdische Sichtweise kommt als Bereicherung hinzu. Problematisch 72
Wine, Beyond God, S. 210.
73
Entsprechend dachte schon Achad Haam, siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 188–192. 193–
74
Wine, Beyond God, S. 212.
198.
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Jüdisch-Amerikanische Denker
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ist es allerdings, wenn ein jüdischer Humanist einen christlichen Fundamentalisten heiratet – dasselbe gilt allerdings auch im Fall eines jüdischen Fundamentalisten.75 Die Konsequenz aus dieser gelockerten Identitätsregel wird sein: »Das jüdische Volk der Zukunft wird vom jüdischen Volk der Vergangenheit verschieden sein. Außer einer kleinen Minderheit wird es offener sein in einer offenen Gesellschaft. Die Mischehen werden die jüdische Identität weniger intensiv werden lassen. Sie werden diese Identität aber zugleich verbreiteter und bedeutsamer für säkulare Menschen in einer säkularen Welt werden lassen.«76 Der Wunsch, Jude zu werden, so Wine, ist meist nicht durch den Glauben oder eine Glaubenserkenntnis bestimmt, sondern hat überwiegend soziale Faktoren, etwa die Heirat mit einem jüdischen Partner, Freunde oder die Faszination über die historische Erfahrung der Juden. Die jüdische Identität ist nicht theologisch oder dogmatisch bestimmt, sondern ist, wie schon gesagt, eine Identität, die auf Verwandtschaft (kinship) beruht. Darum sei auch der Begriff der Konversion unangemessen, weil es hier nicht in erster Linie um eine Änderung der Glaubensüberzeugungen geht. Angemessener wäre Naturalisierung, Erwerb einer Mitgliedschaft oder Adoption. Das bedeutet, der Vorgang der Aufnahme in das Judentum ist die Aufnahme in und die Akzeptanz durch eine Gruppe. Solche Gruppen pflegen für diesen Akt der Aufnahme neuer Mitglieder Aufnahmeriten durchzuführen, in denen weniger ein Bekenntnis als vielmehr die sichtbare Akzeptanz des Novizen durch die Gruppe dargestellt wird. Derartige Riten könnten etwa dem Bar-Mizwa-Ritus nachgebildet sein. Da es aber im Judentum keine zentrale Instanz für eine solche »Naturalisierung« gibt, muss die Aufnahme lokal geschehen und unterliegt der Problematik, dass die verschiedenen jüdischen Strömungen die »Konversion« der je andern nicht oder nur zum Teil anerkennen. Man ist als Neuling darum eher nicht in »das Judentum« aufgenommen, sondern in eine der bestehenden Richtungen oder Gemeinden. Für den Novizen gilt es dabei zu wissen: »Humanistische Juden teilen mit den anderen Juden eine gemeinsame jüdische Agenda: Feiertage, Israel, Antisemitismus und das Studium der jüdischen Geschichte, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie haben aber auch eine gemeinsame humanistische Agenda mit anderen Humanisten: Die humanistische Philosophie, eine ethische Erziehung und die Verteidigung eines 75
Nach einer Verlautbarung vom April 2004 werden auch gleichgeschlechtliche Ehen anerkannt:
76
Wine, Beyond God, S. 213.
http://www.shj.org/humanistic-jewish-life/issues-and-resolutions/marriage-equality/
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Sherwin T. Wine
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säkularen Staates sind Beispiele für diese zweite Liste. Keine schließt die andere aus. Beide sind nötig.«77 Abschließend soll nochmals vermerkt werden, dass sich das Humanistische Judentum, das in der Society for Humanistic Judaism organisiert ist, sich als Gemeinschaft und Organisation durchaus selbst als Religionsgemeinschaft ohne Gott versteht. In diesem Sinn schließt auch Wine sein Buch ab und betont: »Gewiss der Begriff ›säkulare Religion‹ ist eine dramatische Form, um die Wahrheit zu vermitteln, dass das Humanistische Judentum im Leben der humanistischen Juden dieselbe Rolle spielt wie das traditionelle Judentum im Leben seiner Anhänger. Es bietet eine Weltanschauung und eine Grundlage für Entscheidungen. Wenn wir ›Religion‹ als eine Lebensphilosophie definieren, dann sind die Humanisten religiös.«78 Aber auch diese säkulare Religion kennt eine Transzendenz, sie ist jedoch innerweltlich, nämlich in Gestalt der menschlichen Gesellschaft, von der jeder Mensch seit seiner Zeugung im Mutterleib abhängig ist. Diese Transzendenz ist auch die Grundlage der Ethik, welche außer den eigenen auch die Bedürfnisse der anderen sieht.79 Sie ist das Bewusstsein, etwas anzugehören, das unser eigenes Selbst übersteigt, nämlich die menschliche Gemeinschaft. Sie wird ergänzt durch das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem weiteren Zusammenhang, dem der Natur. Dies ist die Natur-Transzendenz, welche die GesellschaftsTranszendenz komplementiert. Sie beide bestimmen das menschliche Leben als Faktum und als Imperativ.
77
Wine, Beyond God, S. 217.
78
Wine, Beyond God, S. 219.
79
Vgl. Achad Haam, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 188–192. 193–198.
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TEIL IV – RELIGION, TRADITION UND POLITIK IN ISRAEL
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I.
THEOZENTRIK STATT HUMANISMUS – HALACHA STATT ATHEISTISCHER ETHIK – RELIGION UND STAAT JESCHAJAHU LEIBOWITZ (1903–1994)
1.
Biographisches
Jeschajahu (Yeshayahu) Leibowitz wurde 1903 in Riga geboren und wuchs in einem religiösen, doch der europäischen Moderne aufgeschlossenen Haus auf. Die religiöse Erziehung erhielt er zu Hause. Während der russischen Revolution floh die Familie 1919 nach Berlin. Hier studierte Leibowitz Chemie und Philosophie und erlangte 1924 den Doktorgrad. Danach arbeitete er am Berliner Kaiser Wilhelm Institut, um 1929 in Köln und Heidelberg ein Medizin-Studium aufzunehmen. Weil er 1933 als Jude nicht mehr zur Promotion zugelassen wurde, ging er nach Basel, um dort den medizinischen Doktor zu machen. 1935 – als Reaktion auf die Nürnberger Gesetze – emigrierte er nach Palästina und begann an der Hebräischen Universität als Professor für organische Chemie, danach für biologische Chemie bei den Naturwissenschaften sowie für Neurophysiologie an der medizinischen Fakultät zu lehren und arbeitete insbesondere über die physiologischen Grundlagen mentaler Prozesse. Zugleich war Leibowitz Gastprofessor in Haifa in der Abteilung für Jüdische Studien. Nach seiner Emeritierung 1970 wurde er Mitglied der philosophischen Fakultät an der Jerusalemer Universität. An der Universität gewann Leibowitz alsbald viele Hörer, auch aus der Öffentlichkeit im Rahmen der Erwachsenenbildung sowie im Rundfunk und Fernsehen. Von 1956–1972 war Leibowitz Chefredakteur der umfassenden Encyclopaedia Hebraica. Zugleich leitete er in Jerusalem kleine Studiengruppen, in denen klassische jüdische Texte gelesen wurden. In den sechziger und siebziger Jahren war er mehrfach an verschiedenen amerikanischen Universitäten Gastprofessor und hielt Vorlesungen zu Themen aus Philosophie und Wissenschaften. Während seines ganzen Lebens blieb er ein observanter Jude. Leibowitz war stets an den öffentlichen Debatten interessiert und erhob seine kritische Stimme zu den brennenden Fragen von Politik und Religion, wobei er oft nicht auf Gegenliebe stieß, da er meist einen unverblümten Rigorismus vertrat und schale Kompromisse ablehnte. Die meisten seiner Publikationen, aufgrund derer auch hier sein geistiges Profil gezeichnet wird, gehen aus solchen aktuellen Debatten hervor, wurden nie in ein Gesamtkonzept gegossen, – aller-
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J. Leibowitz
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dings in Sammelbänden1 vereint, in denen dann natürlich zahlreiche, oft wörtliche Wiederholungen begegnen, aber auch Widersprüche die sich aus den sich ändernden Situationen ergaben, in denen Leibowitz seine Stimme erhob. Bezeichnend für seine öffentliche Wirkung sind seine zuweilen im Rahmen der genannten Bände, aber auch in eigenen Büchern veröffentlichte Interviews, in denen seine oft provokanten Thesen abgefragt wurden.2 Die zentralen Themen seiner öffentlichen Wortmeldungen galten dem Verhältnis von Religion und Staat, der Bestimmung dessen, was er für das Zentrum des Judentums hielt, nämlich die Halacha. Er kritisierte die Unfähigkeit des offiziellen Rabbinats, die Halacha den veränderten Bedingungen anzupassen, und sich stattdessen an den Staat zu verkaufen. Auch meldete er sich zu so rein politischen Fragen wie der nuklearen Bewaffnung, zum Gebaren der jüdischen Selbstverteidigung (Hagana) und der späteren israelischen Armee, und nach 1967 insbesondere zur Frage der besetzten Gebiete und der moralischen Folgen für Gesellschaft und Staat. Bei all diesen sehr unterschiedlichen Themenbereichen kann man dennoch sagen, dass sie in ihrer Ausrichtung bei Leibowitz letztlich doch alle auf eine fast solitäre, sogleich zu schildernde Grundauffassung zurückgehen. Treffend scheint die Charakterisierung des jüdisch-britischen Philosophen Sir Isaiah Berlin (1909–1997) aus Anlass des achtzigsten Geburtstages von Jeschajahu Leibowitz, die Eliezer Goldmann in seiner Einleitung zu einer englischen Aufsatzsammlung von Leibowitz anführt:
1
Die wichtigsten davon sind: Y. Leibowitz, Tora u-Mizwa ba-Seman ha-se, Tel Aviv 1954; wiederaufgenommen und erweitert in; Y. Leibowitz, Jahadut, ʽAm Jisraʼel u-Medinat Jisraʼel, Jerusalem-Tel-Aviv 1979; vierzehn (von 62) Artikeln dieser Sammlung erschienen in Englisch als: Y. Leibowitz, Judaism, Human Values, and the Jewish State, ed. E. Goldman, Cambridge (Mass.)/London 1992; Y. Leibowitz, ʼEmuna, Historia we-ʽArachim, Jerusalem 1982; Y. Leibowitz, ʼAviʽeser Ravitzki, Wikkuchim ʽal ʼEmuna we-Filosofija, Tel Aviv 2006; Jeshajahu Leibowitz mit Michael Shashar, Gespräche über Gott und die Welt, Frankfurt a. M. 1990; Y. Leibowitz, Accepting the Yoke of Heaven: Commentary on the Weekly Torah Portion, Shmuel Himelstein (trans.), New York, 2002; zur Biographie und einigen deutschen Aufsätzen von Leibowitz s. auch: Israel & Palästina. Zeitschrift für Dialog 18 (Sonderheft), Yeshayahu Leibowitz. Jüdischer Philosoph und politischer Querdenker, Frankfurt a. M. April 1989, Hg. Deutsch-israelischer Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten e. V.; A. Sagi (Hg.), Yeshayahu Leibowitz. ʽOlamo we-Haguto, Jerusalem 1995; A. Kasher u. J. Levinger (Hg.), Sefer Yeshayahu Leibowitz. Kobez Maʼamarim ʽal Haguto u-lichwodo, Tel Aviv 1977; M. Urban, Credo quia absurdum est? Das ›Wesen‹ des Judentums nach Yeshayahu Leibowitz, MA-Arbeit, Berlin
1993;
weitere
Informationen
zu
Leibowitz
http://www.leibowitz.co.il/ der Leibowitz-Gesellschaft. 2
Vgl. Die entsprechenden Titel in FN 1.
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siehe
die
Internetseite
Israelische Denker
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»Es waren nicht so sehr seine intellektuellen Errungenschaften und Leistungen als Denker und Lehrer, die einen so tiefgreifenden Eindruck auf mich machten […] als vielmehr die unerschütterliche moralische und politische Haltung, die er so viele Jahre eingenommen hatte, angesichts des so großen Drucks, doch sensibel und realistisch zu sein, nicht die Seite zu wechseln, es dem Gegner nicht leichter zu machen, nicht gegen den allgemeinen Strom anzukämpfen […] Professor Leibowitz hat nie die Ideale und Auffassungen verraten, die ihn in dieses Land (Israel) brachten. Er war und ist ein Zionist. Er glaubt, so scheint mir, dass es möglich und richtig ist, einen freien, demokratischen, toleranten und sozial harmonischen souveränen jüdischen Staat zu schaffen, der sich selbst regiert, eine unabhängige Gemeinschaft gesellschaftlich und politisch gleichberechtigter Bürger, die alle die vollen bürgerlichen Freiheiten genießen, frei von Ausbeutung der einen Gruppe durch eine andere, und die vor allem von der Herrschaft der Majorität über die Minderheiten frei ist, worunter wir Juden so lange und grausam als wehrlose Fremde in jedem Land gelitten haben. […] Über ihn kann man, so glaube ich, mehr als über irgend jemand anderen sagen, dass er das Gewissen Israels ist: der stärkste und ehrenhafteste Verteidiger jener Grundsätze, welche die Hervorbringung einer Bewegung und eines souveränen Staates zu einem so hohen menschlichen Preis für das jüdische Volk wie seine Nachbarn rechtfertigen.«3 Avi Sagi, der im nächsten Kapitel vorgestellte israelische Philosoph, wies darauf hin, dass das Gespräch mit Leibowitz – gemäß einer Beobachtung von Richard Rorty4 – zwar einem normalen Gespräch glich, aber doch nicht wirklich ein solches war, weil die Voraussetzungen von Leibowitz nicht für jedermann zugänglich waren. Denn solchen Gesprächen legte Leibowitz Wertsetzungen zugrunde, die nicht mit rationalen Argumenten erörtert werden können. Er verhielt sich dabei, und seine Texte zeigen dies auf Schritt und Tritt, wie ein biblischer Prophet. Und tatsächlich berichtet Sagi von einem Gespräch mit Leibowitz, in welchem er Leibowitz fragte, woher dieser die Energie für die Propagierung seiner Positionen habe. Leibowitzens Antwort war: »Ich sage, was ich zu sagen habe, nicht um zu überzeugen, sondern einfach, weil ich dies sagen muss.« Und er fügte hinzu: »Auch die Propheten Israels, sprachen ihre Worte, weil es das war, was sie zu sagen hatten.«5 Er sprach tatsächlich wie ein Prophet, wenn auch ein wissenschaftlich gebildeter. Dabei widersprach Leibowitz seinem Gegenüber oft in einer sehr brüsken und geradezu aufbrausenden und alle Angesprochenen vor den 3
Y. Leibowitz, Judaism, Human Values, And the Jewish State, ed. By Eliezer Goldman, Cam-
4
R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, New Jersey 1979.
5
Avi Sagi (Hg.), Jeschajahu Leibowitz, ʽOlamo we-Haguto, Vorwort, S. 12.
bridge (Mass.), London,1992, S. VII-VIII.
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Kopf stoßenden Weise, ohne Rücksicht auf deren Gefühle, wie dies Elieser Ravitzki berichtet.6 Leibowitz ist 1994 in Jerusalem gestorben.
2.
Grundlinien des Denkens
Will man einen Denker wie Leibowitz verstehen, der nie ein geschlossenes Denksystem vorgetragen hat, sondern meist ad hoc in die gerade auch öffentlichen Debatten eingriff, erscheint es umso notwendiger, nach einem zentralen Schlüssel zu suchen, der diese disparaten aber doch immer wieder Gleiches anstrebenden Stellungnamen auf einen gemeinsamen Nenner bringt. Einer solcher Versuche findet sich in dem sehr lesenswerten Artikel zu Leibowitz in der Stanford Encyclopaedia of Philosophy aus der Hand von Daniel Rynhold. Rynhold verweist dabei zu Recht auf den von Leibowitz unzählige Male angeführten und hoch gelobten Moses Maimonides und dessen Lehre von der absoluten Transzendenz Gottes, die allenfalls eine negative Theologie erlaubt, also Aussagen darüber, was Gott nicht ist.7 Rynhold unterstreicht indessen zugleich, dass das damit herausgestellte maimonidische Zentrum des Denkens bei Leibowitz einer zusätzlichen Differenzierung bedarf.8 Nach der Bemerkung, er habe seine Auffassungen zwar nie geschlossen dargestellt, sondern nur zahlreiche kurze Äußerungen zu spezifischen Themen vorgetragen, fährt Rynhold fort: »Es ist dennoch fair zu sagen, dass es eine zentrale Achse gibt, um die sich sein Denken dreht und auf die viele seiner Auffassungen letztlich zurückgeführt werden können, nämlich die radikale Transzendenz Gottes.«9 Das bedeutet, wieder mit Rynhold: »Der negativen Theologie des Maimonides folgend, meint Leibowitz, dass wir schlechterdings unfähig sind, irgendwelche sinnvolle Beschreibung von Gott vorzutragen. Jeder Versuch, von Attributen oder Gottes Eigenschaften zu sprechen, überschreitet die Grenzen des menschlichen Denkens und der menschlichen Sprache.«10 Und tatsächlich zitiert Leibowitz in einer Zeitungsdebatte der Tageszeitung Ha-Arez vom Juli 1972 die ein6
A. Ravitzki, ʽArachim u-Reschamim: ʽAl Yeshayahu Leibowitz, in, Sagi, Leibowitz, ʽOlamo
7
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 438–449.
8
Rynhold, Daniel, »Yeshayahu Leibowitz«, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer
we-Haguto, S. 16.
2011 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = http://plato.stanford.edu/archives/sum2011/entries/leibowitz-yeshayahu/ 9
Rynhold. Leibowitz, S. 2 (§ 1.2).
10
Rynhold, Leibowitz, S. 2 (§ 2).
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schlägigen maimonidischen Floskeln von der Andersartigkeit, von der Unerkennbarkeit und Unerfassbarkeit Gottes: »Gott ist kein Gegenstand des religiösen Denkens – denn gemäß dem religiösen Glauben ›ist er kein Körper und die Erkenntniskräfte für das Körperliche können ihn nicht erfassen, und es gibt nichts, das ihm in irgendeiner Weise ähnelte‹11; auch die Welt (sprich die Natur) ist kein Gegenstand des religiösen Denkens, sondern des wissenschaftlichen Denkens; selbst der Mensch – als Gebilde, das zur Welt hinzugehört – ist kein Gegenstand dieses Denkens, und als Gebilde, das die Fähigkeit hat, über die Welt nachzudenken und das sinnliches Wahrnehmen und Wollen bezüglich der Welt besitzt, ist er der Gegenstand des philosophischen Denkens. Der Gegenstand des religiösen Denkens ist ausschließlich die Stellung des Menschen vor Gott.«12 Es sind die aus den dreizehn Glaubensartikeln des Maimonides zitierten Worte hinsichtlich der Unerkennbarkeit und absoluten Unähnlichkeit Gottes gegenüber Allem,13 welche die Grundlage dafür bilden, dass es keine positiv formulierte Theologie geben kann, sondern nur eine negative, das heißt, dass nur solche theologische Formulierungen legitim sind, die sagen, was Gott nicht ist. Dieser Übereinstimmung von Leibowitz mit der negativen Theologie des Maimonides scheinen auch eine ganze Reihe weiterer Äußerungen von Leibowitz zu entsprechen, in welchen er sagt, dass Gott nicht Herr der Geschichte ist, dass er nicht in die Geschichte eingreift und man von ihm auch solches nicht erwarten könne. Aus alledem könnte man tatsächlich folgern, dass die zentrale Schlussfolgerung aus der Transzendenz Gottes für Leibowitz Gottes Unerkennbarkeit und Unbeschreibbarkeit sei. Mit anderen Worten, die Mitte dieses Denkens sei ein kognitives Problem, also die Begrenztheit des menschlichen Intellekts, der die Gottheit niemals wird erkennen können. Aber dies ist ein Trugschluss. Die Mitte des Denkens von Leibowitz sind nicht die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Der Fokus seines Denkens ist ein völlig anderer, der sich schon an dem oben angeführten Zitat aus dem Zeitungstext andeutet. In dieser Zeitungsdebatte, in welcher es um das Verhältnis von Religion, Wissenschaft und Werten ging,14 stellt Leibowitz klar, dass es im religiösen Denken – nach seiner Auffassung – überhaupt nicht um Erkenntnisse bezüglich Gottes noch der Welt und des Menschen geht. Nach Leibowitzʼ Auffassung hat
11
Dies ist der dritte Grundsatz aus den dreizehn Grundsätzen (Glaubensartikeln) des Maimoni-
12
Y. Leibowitz, Jahadut, S. 362.
des wie sie in allen Gebetsbüchern zu finden sind; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437. 13
Zu ihnen vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437.
14
Siehe Leibowitz, Jahadut, S. 362.
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das religiöse Denken in keiner Weise ein Erkenntnisziel und muss sich aus diesem Grund auch nicht mit den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen. Religion, sprich der religiöse Glaube, hat kein Erkenntnisziel, sondern er ist einem bestimmten Wollen verpflichtet. Kurz formuliert dies Leibowitz so: »Der Glaube gehört nicht zu den kognitiven Inhalten des menschlichen Bewusstseins, sondern zu seinen konativen [sprich triebhaften, voluntativen].«15 Aus dem Gesagten folgt, dass in der Mitte seines Denkens nicht das intellektuell-kognitive Thema der negativen Theologie steht, sondern die Frage des menschlichen Willens oder Wollens. Der Glaube ist nicht ein Erkenntnisstreben, sondern eine Entscheidung für bestimmte Ziele, die er als »Werte« bezeichnet. Dieser Einschätzung scheinen indessen die zahlreichen Äußerungen von Leibowitz zu widersprechen, in denen er sehr wortreich darüber spricht, was Gott nicht ist. Aber gerade auch hier zeigt sich die Richtigkeit meiner Einschätzung. Denn alles was der Mensch über Gott zu sagen hat, rührt nach Leibowitz nicht von seiner Erkenntnis her, sondern von seinem Wollen, oder Streben. Es ist das Wollen des Menschen, das seine »Gottesbilder« erzeugt, nicht sein Erkennen. Deswegen, und das betont der Naturwissenschaftler Leibowitz mehrfach, gibt es keinerlei Kollision zwischen den biblischen und rabbinischen Aussagen über das Wesen von Welt und Mensch, denn diese religiösen Texte wollen kein Wissen vermitteln, sondern alleine den Willen des Menschen lenken, wollen ihn dazu auffordern, sich für den Dienst an Gott zu entscheiden.16 Von dieser Mitte des Leibowitzschen Denkens ausgehend, sollen im Folgenden die wesentlichen Gedanken von Leibowitz dargestellt werden.
3.
Gott
Wie oben schon angedeutet spricht Leibowitz sehr oft und wortreich darüber, was Gott nicht ist, womit er anscheinend in die Fußstapfen der negativen Theo15
Leibowitz, Emuna, S. 11.
16
Vgl. z. B. Leibowitz, Ha-Dat we-ha-Maddaʽ bi-Jeme-ha Benajim u-wa-Et ha-ḥadascha (Die Religion und die Wissenschaft im Mittelalter und in der Neuzeit), in: ders., Jahadut, S. 376– 384; ders., Ha-Maddaʽ we Dat Jisraʼel, in: ders. Jahadut, S. 337–346, hier: S. 339: »Das Judentum in seiner Kontinuität von 3.000 Jahren kann man nur als die Übernahme des Jochs der Himmelsherrschaft verstehen, das heißt als Annahme des Jochs der Tora und der Gebote. Wenn es dies ist, als was wir den ›jüdischen Aspekt‹ der Religion verstehen, nämlich als Dienst an Gott – dann ist es von vorneherein ausgeschlossen, dass die Religion als Informationsquelle über den Menschen und die Welt oder die Natur und sich selbst dient, oder dass sie als Mittel dazu dient, dem Menschen die Welt, die Natur und sich selbst zu erklären.« Und vgl. noch Leibowitz, Emuna, S. 169. 144.
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logie des Maimonides tritt. Die klassische negative Theologie ist jedoch der Kampf gegen eine Theologie von Aussagen über Gott, die sich auf vorgängige menschliche Erkenntnisse beruft, wie dies zum Beispiel die mittelalterlichen Gottesbeweise taten. Der Gegner, gegen den sich Leibowitz mit seinen anscheinend negativ-theologischen Aussagen wendet, ist jedoch nicht der philosophische, erkenntnisstrebende Theologe, sondern der von der Gottheit Hilfe und Beistand erwartende Mensch. Es ist der Mensch, der von Gott etwas will und erwartet, der sich in seinem Begehren, wenn auch unbewusst, ein entsprechendes Gottesbild zimmert, gegen den sich Leibowitz wendet. Dieser Mensch will einen Gott, der zu seinen Gunsten in die Geschichte eingreift, der ihm aus seinen Nöten hilft, ihm in allen möglichen Lebenslagen beisteht, der die Geschicke der Völker lenkt, insbesondere das seines Volkes Israel, kurz, der der Helfer der Menschen ist. Mit solchem Ansinnen macht der Mensch Gott zum Funktionär der Welt und zu seinem Diener. Damit wird der Mensch selbst zu Gott und Gott zu seinem Knecht. Gegen dieses Streben des irregeleiteten religiösen Menschen polemisiert Leibowitz, nicht gegen den nach Erkenntnis strebenden TheologoPhilosophen. In diesem Sinn bekämpft er die alte jüdische Tradition, Gott den Herrn der Geschichte zu nennen:17 »In dem Begriff ›Gott der Geschichte‹, der bei bestimmten Gläubigen üblich ist, die in den Ereignissen der menschlichen Geschichte ›den Finger Gottes‹ sehen wollen, liegt eine Form schrecklicher Erniedrigung (Verringerung) des religiösen Glaubens. Diese Gläubigen dienen Gott nicht wegen seiner Gottheit an sich, die sich jenseits der sich verändernden, kontingenten, Wirklichkeit der Welt und der Menschheit befindet […], sondern sie glauben an ihn hinsichtlich seiner ihm zugeschriebenen Funktionen für die Menschheit. Dieser Gott ist nicht Gott um seiner selbst willen, sondern um des willen, dass er der Manager der menschlichen Geschäfte ist – eine Art Gottheit für die Bedürfnisse des Menschen. Das ist ein Glaube, der nicht um seiner selbst willen geglaubt wird. Er gleicht dem des Christentums, dessen Gott sich als Mensch verwirklichte und sein Leben für die Erlösung des Menschen hingab.«18 Mit diesen Worten teilt Leibowitz sogleich nach mehreren Seiten aus. Entscheidend ist, dass jegliche Gottesvorstellung, die von den Hilfs- und Erlösungswünschen oder irgendwelchen Bedürfnissen der Menschen geleitet und gestaltet wurde, eine Funktionalisierung Gottes und damit seine Entthronung bedeutet, zugunsten des Menschen, welcher als Herr seine Wünsche an diesen Funktionär 17
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 48. 106. 479. 482–486. 498. 513–514. 519. 494–600. 601.
18
Leibowitz, Emuna, S. 166–167.
631.
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richtet. Jegliche Form von Erlösungsreligion, wie das Christentum, und damit auch das traditionelle Judentum, wird von Leibowitz als Götzendienst gebrandmarkt. In welch abschätziger und verletzender Weise Leibowitz dies formulieren konnte mag das folgende Beispiel zeigen: »Ich weiß nicht, ob ich die Auffassung von Gott als dem Manipulator der menschlichen Geschichte mehr als Torheit oder Frechheit betrachten soll. Aus den Worten von unterschiedlichen jüdischen Gläubigen verlautet […], dass ihnen Gott, Er sei gesegnet, eine Art oberster Regierungschef ist, oder oberster Außenminister, oder oberster Wirtschaftsminister; das heißt eine Art Funktionär für die Welt, oder der Menschheit, oder des Volkes Israel; ein Beamter, der über die natürliche, die allgemeinmenschliche, oder gar die jüdische Wirklichkeit gesetzt ist, um hier administrative oder polizeiliche Aufgaben zu erfüllen, wodurch er sich ›offenbart‹, zu deren Gunsten und zur Friedenssicherung (Weltfrieden, Frieden der Menschheit oder Friede Israels). Aus alledem folgt, dass ein Unglück in der Geschichte ein Versagen Gottes bedeutet.«19 Die Transzendenz Gottes – darin folgt Leibowitz seinem verehrten Maimonides – ist so absolut, dass der Mensch sich nicht in die frevelhafte Illusion begeben darf, von diesem Gott irgendwelche Eingriffe in die Natur und Geschichte zu erwarten, selbst nicht in der Form einer Offenbarung, was im Folgenden noch zu besprechen sein wird. Von Gott im Sinne einer Theologie zu sprechen, sei diese nun positiv oder negativ, ist für Leibowitz grundsätzlich ausgeschlossen, er erlaubt darum nicht einmal die sogenannten Wirkattribute, die Maimonides immerhin zulässt, also Wirkungen Gottes in der Welt zu bennen, die man mit Metaphern wie starker Gott, König, Vater etc. ausdrückt.20 Denn Gott ist so transzendent, dass er in der Welt überhaupt nicht wirkt. Bei einem zionistischen Kongress des Jahres 1957 sagte Leibowitz dies einmal in seiner schroffen und unversöhnlichen Weise einmal so: »In dieser Debatte äußerten sich einige Vertreter des religiösen Judentums – Rabbiner, und Führergestalten der religiösen Öffentlichkeit. Es gibt zwischen ihnen und mir hinsichtlich der Grundlagen des Glaubens und der Annahme des Jochs der Tora und der Gebote keinerlei Meinungsverschiedenheit. Aber angesichts ihrer Hervorhebung der religiösen Bedeutsamkeit der politischen Ereignisse unserer Tage, muss ich meine Leugnung dieser Bedeutsamkeit unterstreichen. Gott hat sich weder in der Natur noch in der Geschichte offen19
Leibowitz, Emuna, S. 143.
20
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 438–449.
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bart – er offenbarte sich in der Tora. Man darf ein politisches Ereignis wie die Gründung des Staates Israel nicht mit einem Heiligenschein umgeben.«21 Leibowitz spricht hier nicht eigentlich von Gott, im Sinne einer Theologie, sondern vor allem von den Menschen, die den Ereignissen der Welt religiöse Bedeutung und damit göttliches Handeln zuschreiben, das es nach Leibowitzens Auffassung eben nicht gibt. Von Gott kann man nur reden – so könnte man in Abwandlung der neokantianischen Figur von Hermann Cohen sagen22 – wenn man vom Menschen spricht. Es ist alleine die Haltung des Menschen, in welcher Gott positiv vorkommt oder missbraucht wird. Es ist darum nun höchste Zeit, von dem zu handeln, was des Menschen Gottesrealisierung bewirkt, nämlich vom Glauben.
4.
Der Glaube – Inbegriff der Religion
Mit dem Begriff »Glaube« bezeichnet Jeschajahu Leibowitz nicht einen geglaubten Inhalt, also eine Reihe von Dogmen und Glaubensinhalten, die geglaubt werden müssen, sondern Glaube ist für ihn eine Grundeinstellung des Menschen, die er in praktischem Handeln, das heißt im Erfüllen der jüdischen Gebote unter Beweis stellt.23 Glaube ist also – um nochmals jene protestantische Formel zu zitieren – eine fides qua creditur nicht eine fides quae creditur, eine Haltung und Performanz des menschlichen Lebens, nicht ein dogmatischer Glaubensinhalt. Dieser ›Glaube mit dem man glaubt‹ hat laut Leibowitz eine innere, bewusstseinsmäßige und eine äußere, performative Seite.
4.1
Die Innenseite des Glaubens – das Bewusstsein
Nach Leibowitzens Auffassung ist es allein der Glaube der Menschen, der Gott einen Raum in der Welt schafft.24 Dieser Raum hat nach seiner Auffassung zwei unbedingt zusammengehörige Seiten, eine innerliche und eine äußerliche. Die Innenseite des Glaubens ist das Bewusstsein des Menschen. Dass dieses Bewusstsein kein kognitives sein kann, ist aus dem bislang Dargelegten schon deutlich geworden. Es ist das Bewusstsein des Menschen, vor Gott zu stehen. Dieses Bewusstsein ist also nicht eine Erkenntnis, nicht ein Wissen um Gott. Weder ein 21
Leibowitz, Jahadut, S. 240.
22
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 630–635.
23
Neʽomi Kasher hat dem Glaubensbegriff von Leibowitz ein ganzes Buch gewidmet: N.
24
Siehe dazu oben, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II, zu A. J. Heschel.
Kasher, ʼEmunato schel Jeschajahu Leibowitz, Tel Aviv 2000.
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Wissen um seine transzendente Wesenheit, noch ein Wissen, das aus der Natur, der Geschichte oder gar einer Heilsgeschichte gewonnen werden könnte. Denn, wie Leibowitz dies in einem Symposionsvortrag mit dem Titel Die Krise als Wesen des Judentums25 einmal unmissverständlich sagte: »es gibt keinerlei Korrelation zwischen dem Glauben und der objektiven historischen Wirklichkeit«,26 wie dies auch bezüglich der Natur gilt, denn »so wie sich Gott nicht in der Natur offenbart, sowenig offenbart er sich in der Geschichte.«27 Der Glaube hat kein anderes Fundament, keine andere Ursache als die Entscheidung des Menschen, dessen Willen, sein Dasein als ein Stehen vor Gott zu sehen, und dies trotz der aller guten göttlichen Lenkung widersprechenden Wirklichkeit dieser Welt.28 Der Glaube ist ein Entschluss, trotz der oft schrecklichen Ereignisse in Natur und Geschichte, in die Gott nie durch spontanes oder wunderhaftes Tun eingreift, ihn als den Herrn der Welt zu sehen, vor dem der Mensch in der Pflicht steht. Auch dies ist ein entscheidendes Grundkriterium für den Glauben: Er fordert und erwartet nichts von Gott, kein Gehör und keine Hilfe, es ist vielmehr umgekehrt, dass Gott etwas vom Menschen fordert.29 Dies ist das Zentrum des Glaubens, die Bereitschaft, Gottes Willen zu gehorchen und jegliche eigene Wünsche und Bedürfnisse fahren zu lassen. Für diese Haltung, für diesen Glauben ist der Vater des Glaubens, Abraham, das einzig wahrhafte Paradigma und wurde in höchster Form in der ʽAkeda, der Opferbindung Isaaks erfüllt, in welcher Abraham alle eigenen Gefühle, alle Erwartungen in das Gottes-Geschenk des einzigen Sohnes und in eine Erwartung in die Geschichte seiner Nachkommen als eines Volkes aufgibt und fraglos dem Willen Gottes gehorcht: »Abraham ist der Mann, über den es ausdrücklich gesagt wird, dass er an Gott glaubte. Der Glaube unseres Vaters Abraham kam in der ʽAkeda zu [ihrem höchsten] Ausdruck: ebenso im historisch-religiösen Bewusstsein des jüdischen Volkes – diese Tatsache ist wichtiger als ausformulierte Glaubensgrundsätze – die ʽAkeda wurde zum höchsten Symbol (Kennzeichen) des Glaubens.«30 Dieses absolute Missachten der eigenen Wünsche und eigener Bedürfnisse bezieht sich auch auf die Geschichte. Auch von ihr soll und darf man als Glauben-
25
Leibowitz, Ha-Maschber ke-Mahutah schel ha-Jahadut, in: Leibowitz, Emuna S. 56–64.
26
Leibowitz, Emuna, S. 62.
27
Leibowitz, Emuna, S. 61, u. vgl. Leibowitz, Jahadut, S. 240. 300. 358–359; Emuna, S. 143.
28
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, das Kapitel III, zu E. B. Borowitz.
29
Vgl. unten Nr. 4.4.4, Religion um ihrer selbst willen.
30
Leibowitz, Emuna, S. 57–58.
161. 169. 143. 61.
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der nichts erwarten. Die Geschichte hat für den Gläubigen keinerlei Bedeutung, ist indifferent. Um diese Abgelöstheit und Unabhängigkeit des Glaubens von allem irdischen Geschehenen zu untermauern, argumentiert Leibowitz mit der biblischen Geschichte. Nach den Berichten der Bibel vermochten es all die Wunder, die Israel widerfahren sind, nicht, den Glauben der Israeliten zu begründen oder zu befestigen: »Dem Menschen, der glaubt, erscheinen alle Ereignisse der Geschichte von ein und derselben Bedeutung. Auch wird kein historisches Ereignis einen Menschen, der nicht glaubt, dem Glauben näher bringen. So haben ja all die Zeichen und herrlichen Wunder, die vor den Augen der Israeliten beim Auszug aus Ägypten geschehen sind, die, welche das gesehen haben, nicht zum Glauben gebracht. Nicht einmal die Gottesoffenbarung (Gilluj ha-Schechina) am Sinai hat etwas genutzt. Denn alle, die das erlebten und gerufen haben ›wir wollen es tun und hören‹, haben vierzig Tage später das [goldene] Kalb gemacht, so, als wäre nichts geschehen. Alle Propheten Israels […] haben nicht eine einzige Seele zum Guten bekehrt, wiewohl Gott aus ihrem Mund geredet hat. Was anders ist denn die ganze biblische Geschichte als ein Bericht vom Scheitern der Propheten. Hingegen gab es Duzende von Generationen Israels […], in denen viele Juden ihr Leben zur Heiligung des Gottesnamens hingegeben haben, Generationen, denen sich Gott nie offenbarte, denen keine Wunder geschahen […].«31 Der Glaube ist eine Entscheidung des Menschen wider die irdische Wirklichkeit. Die Ereignisse der Geschichte sind, wie Leibowitz dies unzählige Mal wiederholt, für den Glauben indifferent.32 Das irdische Geschehen ist für den Glauben bedeutungslos, es sei denn, etwas geschieht oder wird erlitten um Gottes willen, so wie der Krieg der Makkabäer, der ein Krieg für die Erhaltung der Tora war, oder die Leiden der Kreuzzüge oder das Chmielnizki-Massaker, in welchen die Juden im Kiddusch ha-Schem mit dem Bekenntnis zu Gott starben.33 Religiös bedeutungslos sind dagegen die Siege zur oder nach der Begründung des Staates Israel und auch nicht – und dies muss gerade für die im vorangegangenen vierten
31
Leibowitz, Emuna, S. 62.
32
Z. B. Leibowitz, Emuna, S. 61. 141. 56–57. 158; Jahadut, S. 92.
33
Zum Kiddusch ha-Schem vgl. K. E. Grözinger, Gründe und Grenzen des Kiddusch ha-Schem – Heiligung des Gottesnamens, in: Martyriumsvorstellungen in Antike und Mittelalter. Leben oder sterben für Gott?, hrsg. S. Fuhrmann & R. Grundmann, Leiden, Boston 2012, S. 241– 254; Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 37. 39. 40. 51. 478–479. 504. 547. 591–594; u. siehe die Berichte aus dem Rheinland in K.E. Grözinger, Jerusalem am Rhein. Jüdische Geschichten aus Speyer, Worms und Mainz, Worms 2018.
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Band vorgestellten Denker zur Schoah besonders schmerzlich klingen – die schrecklichen Ereignisse der Schoah. »Gegenüber diesen [jenen positiv genannten Ereignissen, die um Gottes willen geschahen] kann ich der Schoah unserer Generation keinerlei religiöse Bedeutung beimessen, denn sie zeigt nur, was den Hilflosen in den Händen der Frevler dieser Welt geschieht; dies ist nur ein Teil dessen wie die Geschichte in dieser Welt zu verlaufen pflegt.«34 Das bedeutet jedoch nicht, dass Leibowitz nicht um die psychische Bedeutung solcher Ereignisse für die jüdischen Menschen dieser Welt weiß, sowenig wie er die Berechtigung, ja auch Notwendigkeit, der Kriege um den Staat Israel bestreitet – Leibowitz war, wie er mehrfach betont, seit seiner Jugend und bis ins Alter ein treuer Zionist – nur, diese Berechtigung und dieser Schmerz sind individueller und nationaler Natur, nicht hingegen von religiöser Bedeutung. Religiöse Bedeutung hat für Leibowitz nur, was direkt im Dienste Gottes steht. Was dies im Einzelnen ist, soll hernach noch gezeigt werden. Aus alledem wird deutlich, was ein zentrales Element dieses Glaubensbewusstseins darstellt: Dem Glauben gelten die historischen Umstände gleich nichts, sie sind ohne Bedeutung für den Glauben. Der Glaube wird von den irdischen Ereignissen so wenig tangiert, wie er von ihnen begründet wird. Dies ist der Grund, weshalb Leibowitz vom Glauben als Krise, als wesenhafte Krise sprechen kann. Es gibt für den Glauben keine durch die weltlichen Ereignisse entstehenden Krisen. Vielmehr ist die Entscheidung des Glaubens selbst die Krise schlechthin. Denn der Glaube ist ein Absehen von der Welt, von allem, was den Menschen in dieser Welt wichtig ist. Das zentrale Beispiel hierfür ist – wie schon oben gesagt – die biblische Erzählung von der ʽAkeda, der Opferbindung Isaaks: »Was ist die ʽAkeda? Die ʽAkeda ist die religiöse Krise schlechthin. Hier erscheint Gott, Er sei gesegnet, dem Menschen nicht um des Menschen willen, sondern als fordernder Gott, der vom Menschen alles fordert: Nicht als Gott der natürlichen menschlichen Wirklichkeit, zu der die natürlichen menschlichen Gefühle gehören, die legitimen menschlichen Bestrebungen, auch die menschlichen Visionen und Ziele der Menschheit, sondern als Gott, der vom Menschen den Dienst an Gott (Gottesdienst) fordert, auch wenn dies den Verzicht auf sämtliche menschlichen Werte bedeutet. Die Versuchung, in die unser Vater Abraham hier geführt wurde, ist nicht nur der Verzicht auf die natürlichen menschlichen Gefühle, sondern auch auf die Werte der Menschheit insgesamt. […] Alle Seiten des menschlichen Bewusstseins, seien es individuelle oder die gesamte Menschheit betreffende Probleme – alles wird vor dem Dienst an Gott verdrängt. Es gibt keine größere Krise als diesen 34
Leibowitz, Emuna, S. 61.
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Konflikt zwischen der menschlichen Realität, sowohl der materiellen wie der psychischen, und der Stellung des Menschen vor Gott. […] Das heißt: Die Krise rührt von keinem besonderen Ereignis oder Zustand her, welche den Glauben problematisch werden lassen, sondern sie macht den religiösen Glauben selbst aus, sie ist das Wesen der Gottesfurcht. Sie verneint den Aberglauben von der Harmonie der menschlichen Existenz. Sie deckt den Gegensatz zwischen der Stellung des Menschen in der Natur – der physischen wie psychischen – und der Stellung des Menschen vor Gott auf.«35 Der Glaube hat nur ein einziges Gegenüber, das ist Gott, alles andere berührt ihn nicht. Und es ist dieses Bewusstsein des Glaubens, vor Gott zu stehen, und alleine von ihm gefragt und in die Pflicht genommen zu sein, das den Menschen über die Tierwelt hinaus hebt und ihn zum Menschen macht.36
4.2
Die sichtbare Außenseite des Glaubens – das Handeln
Die Mitte und das Erkennungsmerkmal für das Denken von Leibowitz ist seine Gleichsetzung von Judentum und jüdischer Religion und des Weiteren von jüdischer Religion und Halacha, sprich der Gebotserfüllung. Man hat deshalb zur Charakterisierung seines Judentums zu Recht von einer Orthopraxie anstatt von einer Orthodoxie gesprochen. Leibowitz nennt dieses sein Judentum darum häufig schlechtweg das Halacha-Judentum, das er als die einzig legitime Form des Judentums, das heißt der jüdischen Religion, erachtet – eine säkulare Definition von Judentum gibt es für ihn nicht – damit steht er in bewusstem und schroffem Gegensatz zu all jenen zionistischen Denkern, die im vierten Band des Jüdischen Denkens gezeichnet wurden und die versuchten, Judentum als historische, nationale oder religiöse Kategorie unter Absehung der traditionellen jüdischen Religion zu begreifen. Für ihn ist es alleine das Leben nach der Halacha, das er als die einzig wirkliche und legitime Form der Verwirklichung des jüdischen Glaubens und damit des Judentums insgesamt gelten lässt – der Grund für diese dezidierte Einseitigkeit muss später noch erörtert werden. Zur Definition des Judentums sagt Leibowitz: »Was das Judentum anbelangt, vertrete ich die Auffassung, dass sein Glaube, das System der Gebote darstellt, in denen es sich verwirklichte. Mit anderen Worten: Die Annahme des Joches der Himmelsherrschaft ist nichts anderes,
35
Leibowitz, Emuna, S. 58.
36
Vgl. dagegen die rationalistischen Definitionen des Menschseins im Mittelalter, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 442. 463. 554.
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als das Joch der Tora und der Gebote anzunehmen. Der Glaube ist nichts anderes als die Religion der Gebote, und außerhalb dieser Religion existiert kein jüdischer Glaube.«37 Diese Form des Gottesglaubens ist für Leibowitz zugleich auch identisch mit der »Gottesliebe«. Diese Liebe zu Gott ist eine gebotene Liebe, gleich der gebotenen »Gottesfurcht«, wie Leibowitz dies im zentralen Gebet der Synagoge, dem Schmaʽ Jisrael ausgesprochen sieht: »›Du sollst den Herrn, deinen Gott von ganzem Herzen und mit deinem ganzen Wesen und mit all deiner Kraft lieben.‹ Die hier genannte Liebe ist der Glaube.«38 Diese Liebe zu Gott ist demnach vor allem eine gebotene Liebe, zu der man sich entschieden hat und die sich sodann im Erfüllen der Gebote, im Leben nach der Halacha, erweisen muss – diese Liebe ist keine den Menschen überfallende Emotion, wie man dies von Mystikern kennt. »Die Annahme des Joches der Tora und Gebote ist die Liebe zu Gott, dies ist der Glaube an Gott.«39 »Das Gebot der Gottesliebe wird im ersten Abschnitt [des Schmaʽ Jisrael] als absoluter Befehl an den Menschen vorgetragen, als kategorischer Imperativ (zaw kategori)« ohne Versprechen von Lohn oder Strafe. »Dieser Befehl gilt aus sich selbst.«40 Der Glaube ist begründungsloser und absichtsloser Gehorsam gegenüber der Halacha. Er ist eine freie Entscheidung des Menschen, die vollkommen unbegründbar ist, auch nicht durch geschehene Erlebnisse oder historische Ereignisse. Diese Entscheidung ist, so Leibowitz, eine von jeglichem Nützlichkeitsdenken freie Werte-Entscheidung, die dem Menschen auch von nichts aufgezwungen wird, nicht von den natürlichen und historischen Gegebenheiten, auch nicht von den Bedürfnissen des Menschen wie Essen, Trinken und das Ausscheiden seines Urins – wie der Arzt Leibowitz dies einmal drastisch formuliert41 –, sowenig wie von wissenschaftlichen Erkenntnissen. In all den genannten Bereichen handelt der Mensch unter einem natürlichen Zwang, dies aber auch bei der wissenschaftlichen Erkenntnis, die unausweichlich ist und den Menschen zwingt. Alles, was der Mensch unter Zwang akzeptieren muss, auch unter dem Zwang der wissenschaftlichen Erkenntnis und Wahrheit, kann keine Wertentscheidung sein und eine solche muss der frei gewählte Glaube sein. Das soll im Folgenden noch etwas vertieft werden.
37
Leibowitz, Emuna, S. 12.
38
Leibowitz, Emuna, S. 13.
39
Leibowitz, Emuna, S. 17.
40
Leibowitz, Emuna, S. 13.
41
Leibowitz, Emuna, S. 63.
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4.3
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Halacha statt Sittengesetz – im Schatten von Kant
Jeschajahu Leibowitz nennt Immanuel Kant mehrfach abschätzig einen Atheisten,42 dennoch scheint er nicht wirklich aus dessen Schatten getreten zu sein, was in der Literatur schon mehrfach angesprochen wurde, worauf auch die zahlreichen Nennungen Kants durch ihn deutlich hinweisen.43 Der Angelpunkt des Vergleiches der beiden, Kant und Leibowitz, ist der Begriff der menschlichen Freiheit oder der Autonomie im sittlichen Handeln. Mehrfach trägt er die zunächst befremdlich erscheinende Auffassung vor, dass man die größte menschliche Freiheit in der Übernahme des Joches der Gebote, sprich der Halacha, erlange. Die Freiheit besteht demnach im Gehorsam gegenüber einem kollektiven Regelsystem. Dies ist für Leibowitz kein Mangel des Religiösen, das ja oft als höchst individuelle und private Kategorie verstanden wird. Er weist darum eigens die Auffassung zurück, dass die Akzentverschiebung vom Individuellen zum Kollektiven, also vom persönlichen Empfinden zu einem allgemein verbindlichen Regulativ die Religion entwürdige und sie zu einem angelernten Routinegebot mache: »Und manche gehen noch weiter, indem sie in der Herrschaft der Tora, die ihre Autorität in allen Bereichen des Lebens durchsetzen will, den Geruch des Totalitarismus wahrnehmen und erschaudern. Es gibt jedoch keinen größeren Irrtum als diesen. Natürlich entspricht die Herrschaft der Tora nicht der willkürlichen Freiheit eines fälschlichen Liberalismus, der die Auffassung vertritt ›jeder möge das ihm als richtig erscheinende tun‹, während die Herrschaft der Tora sich sogar auf den intimsten Bereich und die Gedanken des Herzens erstrecke. […] Aber schon sagten die Weisen, seligen Angedenkens: ›Nur der ist wirklich frei, der die Gebote hält‹, wohingegen es niemanden mehr versklavten gibt, als jenen, der sich vom ganzen Joch der Gesetze frei sieht, denn ein solcher ist den gesamten Strukturen des Lebens versklavt, den biologischen und den unbewussten psychischen und unwillentlichen Faktoren, die in seinem Innern wirken. Ein solcher ist absolut versklavt, in der Sklaverei der Natur – wie ein ›freies‹ Tier, das doch von physiologischen und natürlichen Stoffwechselvorgängen beschränkt ist. Dagegen ist die Übernahme des Joches der Tora und der Gebote die wirkliche Befreiung des Menschen und der Ausdruck seiner Herrschaft über die natürlichen triebhaften Kräfte die in ihm wirken.«44
42
Leibowitz, Jahadut, S. 27.
43
Z. B. Leibowitz, Jahadut, S. 364. 21. 27.
44
Leibowitz, Jahadut, S. 48–49.
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Leibowitz sieht den Menschen in seinem gesamten Handeln den natürlichen Gesetzmäßigkeiten und Zwängen ausgesetzt, die folglich auch sein Handeln und seine Entscheidungen erzwingen. Das heißt, der Mensch lebt im Kontext der natürlichen Welt in absoluter Unfreiheit. »Wenn die Welt ihren natürlichen Verlauf und ihre Gesetzmäßigkeit hat, dann ist der Mensch ein Teil von ihr. Er ist der gesamten Struktur der natürlichen Wirklichkeit unterworfen, die nicht nur seinen Leib, sondern auch seine Seele umfasst. Er ist ihr in physiologischer wie in psychologischer Hinsicht unterworfen. Worin also besteht die Freiheit des Menschen?«45 So weit geht Leibowitz mit Kant, nach Klaus Düsing: »Auf dem Gebiet der Erscheinungen in Raum und Zeit gilt [laut Kant] lückenlose Naturkausalität, diese mag mechanisch, dynamisch, organisch oder psychisch spezifiziert sein; jedem zeitlichen Ereignis geht eine zeitlich eintretende, von ihm unterschiedene Ursache voraus; in der Natur gibt es daher keine Freiheit.«46 Dies ist die reine Heteronomie des menschlichen Handelns. Um nun das Panier möglicher menschlicher Freiheit im sittlichen Handeln aufzurichten greift Kant bekanntlich zur menschlichen Vernunft, die es vermag, aus eigener Reflexion zu Handlungsmaximen zu kommen, die nicht von den durch die Natur erzeugten Zwecken des menschlichen Handelns bestimmt sind. Für Kant ist das Prinzip der Sittlichkeit »ein Prinzip der reinen, genuin praktischen Vernunft«. Dieses Prinzip ist ein Prinzip der Pflichten und des Gebotes, das in dem berühmten kategorischen Imperativ formuliert wird: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«47 Es ist das vom Menschen selbst aufgrund dieser Maxime mit Hilfe seiner praktischen Vernunft selbst formulierte jeweilige Handlungsgebot, das dem Menschen Freiheit und Autonomie verschafft. Und Kants Erläuterung dazu: »Denn reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend. Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht, und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen. […] Folgerung [:] Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt
45
Leibowitz, Jahadut, S. 29.
46
K. Düsing, Immanuel Kant. Aufklärung und Kritik, in: L. Kreimendahl (Hg.), Philosophen des
47
Bei Düsing, S. 203; I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: I. Kant, Schriften zur Ethik
18. Jahrhunderts, Darmstadt 2000, S. 201. und Religionsphilosophie, Ed. W. Weischedel (Kant, Werke, Band 6), Wiesbaden 1956, S. 140.
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(dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.«48 Leibowitz geht in diesem Punkt des vom Menschen zu befolgenden Gesetzes zunächst im Gleichschritt mit Kant insofern er anscheinend paradoxerweise in der Übernahme eines Pflichtgesetzes die einzige Möglichkeit zu menschlicher Freiheit sieht. Aber es ist gerade an dieser entscheidenden Stelle, an der er zugleich wieder von Kant abweicht. Ist es bei Kant die menschliche Vernunft, die den Menschen über die Abhängigkeiten und Zweckbestimmtheiten seines Handelns hinaushebt, so glaubt Leibowitz dass eben auch die menschliche Vernunft nur eine Naturbegabung des Menschen ist,49 die ihrerseits dem Zwangssystem alles Natürlichen unterliegt: »Die menschliche Intelligenz ist eine natürliche Gegebenheit des Menschen, sie ist eine biologische Befähigung gerade so wie sein Blutkreislauf und sein Atemrhythmus und die Weiterleitung der Anregungen durch die Nerven und der Stoffwechsel.«50 Diese natürliche Gegebenheit zwingt den Menschen, laut Leibowitz, ebenso wie es die anderen menschlichen Ingredienzien tun. So ist es die menschliche Erkenntnis, die den Menschen zwingt, und bezüglich derer er keine Wahlfreiheit und Entscheidungsbefugnis hat. Das menschliche Erkennen führe zu Schlussfolgerungen, die ihn schließlich zwingen, ihnen zu folgen.51 Dennoch beruft sich auch Leibowitz, wie Kant, auf ein Gesetz höherer Ordnung, das den Menschen von der Knechtschaft der Natur befreit. Und dieses Gesetz ist die Halacha, die mit ihren Bestimmungen jenseits von allen menschlichen und irdischen Zwecken steht. Er ist daher ein vehementer Gegner aller Versuche, die biblischen und rabbinischen Gebote rational zu erklären, wie dies im jüdischen Mittelalter – in der Literatur der Taʽame ha-Mizwot52 – und in der Neuzeit53 sowie bis heute geschieht. Leibowitz delektiert sich darum geradezu daran, darauf hinzuweisen, dass die halachischen Gebote keinerlei innerweltlichen, physischen, sozialen, hygienischen oder auch psychischen oder soteriologischen Zweck und Nutzen haben – man denke an die Schabbatgebote, an das Tefillingebot, an das Verbot des Mischgewebes und dergleichen mehr:54
48
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Ed. Weischedel, S. 141–142.
49
Hier zeigt sich ein schwacher Nachklang von Maimonides, siehe Jüdisches Denken, Bd. 1,
50
Leibowitz, Jahadut, S. 368.
51
Vgl. Leibowitz, Jahadut, S. 346. 364.
52
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 394. 429, Bd. 2, S. 23. 471. 597. 604. 606.
S. 468–471.
53
Zum 19. Jh. siehe Jüdisches Denken Bd. 3, S. 245. 283. 519.
54
Vgl. Leibowitz, Jahadut, S. 28.
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»Der Schabbat hat keine andere Bedeutung als die Heiligung, nämlich um einem Siebtel des menschlichen Lebens eine besondere Lebensweise aufzunötigen, die nicht von seiner Natur, seinen Neigungen und Bedürfnissen herrührt, sondern alleine von seiner Entscheidung, das Joch des Himmels auf sich zu nehmen, einen Lebenswandel, der von dem natürlichen Lebenswandel getrennt und von ihm verschieden ist, und die halachischen Bestimmungen heben dies hervor und betonen diese Verschiedenheit. Darum verliert der Schabbat seine gesamte religiöse Bedeutung, wenn seine halachischen Bestimmungen den Neigungen oder der Bequemlichkeit des Menschen angepasst werden.«55 Man könnte fast sagen, je irrationaler und vom natürlichen Lebensbedarf abweichender die Gebote sind, desto höheren religiösen Wert besitzen sie, weil sie dann über jeden Verdacht erhaben sind, um des Menschen willen erfüllt zu werden und nicht ausschließlich um des Gehorsams gegenüber Gottes Willen. Was bei Kant den Menschen aus der Unfreiheit befreit, ist seine Entscheidung, nur nach der Vernunft, nicht nach eigenen Zwecken zu handeln. Demgegenüber ist es bei Leibowitz die Entscheidung, nach der Halacha zu handeln, die ein Tun jenseits aller menschlicher Zwecke, allein um der Reinheit des Gottdienstes willen, ermöglicht. Dem Vorwurf, sich so einer Heteronomie auszuliefern, begegnet Leibowitz mit dem Hinweis, dass man sich ja aus freiem Willen für den Dienst an Gott entscheidet, also – wie bei Kant – aus freien Stücken sich diesem höheren Gesetz unterwirft. Schon frühere jüdische Kantianer mussten sich bemühen, vom jüdischen Religionsgesetz den Makel der Heteronomie (im Sinne der Theonomie) abzuwenden, wie dies etwa Moritz Lazarus in seiner durch und durch kantianischen Ethik des Judentums tut, wenn er sagt: »Wenn also auch unzweifelhaft innerhalb des Judenthums immer und in der rabbinischen Welt ganz besonders jede moralische Vorschrift zugleich als eine religiöse erkannt, die Bestimmung des Menschen zugleich in seiner Beziehung zu Gott gesucht, ihr Ziel in der Gottähnlichkeit und ihr Mittel im Gehorsam gegen Gott und der willigen Hingebung an denselben, als dem Urbild und dem Urquell aller Sittlichkeit gefunden wird, so hebt doch diese Verbindung mit der Religion die Selbständigkeit des Ethischen nicht auf; nicht zur Begründung des Sittlichen, sondern zur Einschärfung desselben gehört die Beziehung zu Gott.«56
55
Leibowitz, Jahadut, S. 28.
56
M. Lazarus, Die Ethik des Judentums, Frankfurt am Main 1901, § 89, S. 94.
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Leibowitz steht hier deutlich noch in der jüdisch-kantianischen Tradition.57
4.4
Werte
Die Position von Leibowitz in seiner Frontstellung gegenüber den Säkularen wie den Orthodoxen wird nur verständlich, wenn man die seinen Polemiken zugrundeliegende Kategorie der »Werte« betrachtet, die für ihn eine zentrale Rolle spielen.
4.4.1 Bewertung des menschlichen Tuns – Halacha versus Ethik Der Glaube, so wurde schon gesagt, ist eine Wertentscheidung. Werte sind, so Leibowitz, niemals Dinge, die man besitzt oder schon erreicht hat, sie sind auch nicht Dinge, welche notwendig sind wie Essen, Trinken, Arbeiten oder ein Staat. Werte sind keine Notwendigkeiten, sondern Werte sind frei gewählte Zielvorgaben, die man erreichen will, aber nie wirklich ganz erreicht. »Alles was notwendig und dessen Beschaffung für den Menschen zwangsnotwendig ist, hat nicht die Bedeutung eines Wertes. Werte sind nichts anderes als Dinge, die der Mensch aus freiem Willen und aus freier Entscheidung auf sich nimmt, oder denen er sich widmet.«58 Wenn sich aber ein Mensch für ein solches frei zu wählendes Ziel entschieden hat, ist dies normativ für ihn:59 »Alles für einen Menschen Notwendige ist in axiologischer (wertemäßiger) Hinsicht indifferent: Wenn der Mensch etwas braucht, dann bedarf es für ihn dafür keiner Wahl, keines Beschlusses und keiner Entscheidung. Demgegenüber sind Werte Dinge, welche der Mensch aufgrund eines Beschlusses und
57
Vgl. zu dieser Tradition auch C. Wilke, Den Talmud und den Kant: Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne, Hildesheim 2003; ders., Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den böhmischen und großpolnischen Ländern, 1781–1871, München 2004; Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 508. 573. 591. 606. 613. 617–657; K. Seeskin, Jewish Neo-Kantianism: Hermann Cohen, S. 786–798; H. M. Graupe, Die Entstehung des modernen Judentums, S. 142–152; Ch. Schulte, Die jüdische Aufklärung, Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002, S. 157– 171.
58
Leibowitz, Jahadut, S. 78.
59
Leibowitz, Emuna, S. 199
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einer Entscheidung festlegt, die für den Menschen, welcher sie festlegt, somit normative Bedeutung erlangen.«60 Natürlich ist die Frage, welche Dinge für einen Menschen notwendig sind, nicht so eindeutig zu beantworten, wie dies sich in dieser Definition von Leibowitz darstellt. Diese Schwierigkeit zeigt sich paradigmatisch an der Frage, ob die Menschen, oder noch konkreter, die Juden, einen eigenen Staat brauchen, ob ein solcher für sie eine Notwendigkeit darstellt. Leibowitz als Zionist ist dieser Auffassung. Die Juden brauchen den Staat, um sich von der nichtjüdischen Bevormundung zu befreien. Darum lobt Leibowitz mehrfach das zionistische Unternehmen und stimmt ihm zu, weil es legitim sei, dass die Juden genug davon hätten, noch länger fremder Herrschaft zu unterliegen.61 So sehr der Staat Israel für die Juden zur Befreiung von der Fremdherrschaft nötig ist, so wenig braucht das Judentum, sprich die jüdische Religion, einen Staat. Demnach kann für ihn der Staat keinen Wert im Sinne einer religiös-axiologischen Werteskala darstellen.62 Folglich polemisiert er gegen die nationale oder gar nationalistische Einstellung vieler seiner israelischen Zeitgenossen, für die der Staat einen solchen axiologischen Wert besitzt. Indessen ist – wie schon erwähnt – die Frage, was eine Notwendigkeit für das menschliche Leben sei, hinsichtlich von Speise, Schlaf und Ausscheidungen63 leicht zu beantworten. Sie ist aber in vielerlei anderer Hinsicht weniger leicht zu beantworten, denn ein jeder kann und mag da etwas anderes wählen, wie dies viele der Zeitgenossen von Leibowitz in Israel gerade im Blick auf den jüdischen Staat ebenfalls tun. Er sieht diese Schwierigkeit und sieht sich deshalb genötigt, selbst einen hierarchisch geordneten Kanon der »Dinge« aufzustellen, die er für die einzig legitimen Werte-Träger erachtet – er nimmt sich hier das Recht heraus, für alle zu entscheiden, was sie als höchsten oder gar ausschließlichen Wert für sich zu betrachten haben – und dies ist gemäß seiner rigoristischen, fast prophetischen, Haltung ausschließlich die Religion im Sinne der Befolgung der Halacha. Und diese von Leibowitz gewählte Wertehierarchie bestimmt seine Haltung in allen Fragen, zu denen er Stellung nimmt. Neben der Religion anerkennt er nur noch den – aus seiner Sicht natürlich geringer einzuschätzenden – atheistischen Humanismus als Vertreter legitimer Werte:
60
Leibowitz, Emuna, S. 199.
61
Z. B. Leibowitz, Emuna, S. 128. 130. 134. 135. 209; Jahadut, S. 248. 298.
62
Leibowitz, Emuna, S. 129. 134. 135. 200; Jahadut, S. 181. 298. 241. 242. 244. 272. 173; vgl. dazu z. B. Theodor Herzl, der von einer Vernunftnotwendigkeit eines Staates spricht, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 142–145.
63
Der Mediziner Leibowitz nennt das Urinieren als Notwendigkeit mehrfach, z. B. Leibowitz, Emuna, S. 63.
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»Es gibt zwei legitime Werte-Bereiche: Der eine ist die religiöse WerteSkala, nach der alles festgelegt, gemessen, bewertet und der kritischen Beurteilung unterworfen wird, nämlich im Blick auf die Stellung des Menschen vor Gott – alles, das heißt die Probleme des Menschen und dessen Angelegenheiten, die Beziehungen zwischen den Menschen untereinander und das Problem der Regelung der menschlichen Angelegenheiten. Auf der anderen Seite steht die humanistische beziehungsweise atheistische Werteskala (Humanismus und Atheismus sind dasselbe), gemäß derer alles, die Angelegenheiten der Menschen, deren Probleme und Beziehungen untereinander sowie das Problem der Lösung dieser Probleme wie die Regelung der menschlichen Angelegenheiten festgelegt, bewertet, gemessen und der kritischen Beurteilung ausgesetzt werden wie sie im Blick auf die Stellung des Menschen vor dem Menschen beziehungsweise der Menschheit zu beurteilen sind. Diese beiden Werteskalen stehen im Gegensatz zueinander und es gibt zwischen ihnen keine Möglichkeit eines Kompromisses oder einer Synthese.«64 Es ist diese rigorose Einengung und Hierarchisierung der Wertehorizonte, die wie gesagt sämtliche Stellungnahmen von Leibowitz prägt, denen deshalb nicht leichthin und nicht von jedermann zugestimmt werden kann, es sei denn man akzeptiert seine vorgetragene Doppelhierarchie. Da die religiöse Werteskala von Leibowitz außerdem auf die rigorose Formel gebracht ist, dass nur, was unmittelbar um Gottes willen geschieht, als religiös zu betrachten ist und dieser Gotteswille in der Halacha seinen konkreten und einzig legitimen Ausdruck findet, ist klar, dass für ihn nichts in dieser Welt, was sich außerhalb dieser »vier Ellen der Halacha« bewegt, eine religiöse Valenz beanspruchen kann. Das heißt, weder der Staat,65 noch die Geschichte, noch eine solche religiöse Institution wie das Bittgebet,66 das ja dem Menschen dienen soll, noch die Besiedelung des Heiligen Landes67 oder dessen Eroberung, können religiöse Bedeutung beanspruchen. Deshalb kann Leibowitz keine religiösen Argumente für die Beibehaltung der im Sechstagekrieg besetzten Gebiete anerkennen und fordert darum deren Rückgabe mit aller Vehemenz, flankiert von dem zusätzlichen Argument, dass diese wegen ihrer zahlenmäßig so großen nichtjüdischen Bevölkerung den Charakter Israels als jüdischer Staat gefährdet, und damit dessen wichtige Aufgabe, als innerjüdi-
64
Leibowitz, Emuna, S. 200.
65
Dazu siehe unten Kap. 5 und 5.1, Staat und Religion: Der Staat.
66
Leibowitz, siehe unten Kap. 4.4.1, Bewertung des menschlichen Tuns; Leibowitz, Jahadut,
67
Dazu vgl. unten Kap. 4.4.4 Keduscha (Heiligkeit) und 5.2, Die besetzten Gebiete.
S. 25–26. 299. 386; Leibowitz, Emuna, S. 63.
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scher Kampfplatz um die Stellung der Tora wider den Säkularismus zu dienen, gefährdet.68 Diese rigorose theozentrische Position der Religion wird besonders da deutlich, wo sich Leibowitz mit seiner Kritik nach innen, gegen die eigenen Religionsgenossen richtet, auch wenn er dabei im Judentum schon lange und weit verbreitete traditionelle Positionen attackiert. Auch die religiöse Praxis darf nur dem Dienst an Gott gewidmet sein, alles Handeln und Leiden ist nur um Gottes willen legitim. Wo immer innerhalb der Religion, sich eine andere Absicht einmischt, etwa beim Gebet, sofern dies als Bittgebet gesprochen wird, wird nach seiner Sicht das einzig legitime religiöse Ziel des Gottesdienstes verraten, denn im Bittgebet sucht der Beter ein menschliches Ziel zu erreichen, Wohlergehen, Gesundheit und sonstige positive Güter, seien sie auch rein spiritueller Art. In all solchen Fällen ist dieses Tun kein wirklich religiöses, denn ein solches kann ausschließlich zugunsten Gottes geschehen. Nur der Dienst an Gott, die Gottesfurcht und -liebe sind die Insignien des wahren Glaubens: »Wenn die Gebote oder das Gebet auch nur irgendeiner Erfüllung von Bedürfnissen dienen, das heißt, wenn sie das Mittel wären, um etwas zu erreichen, hätten sie keine religiöse Bedeutung mehr. Ihre Bedeutung liegt ausschließlich darin, Gottesdienst zu sein, worin der gläubige Mensch deren Wert erkennt.«69 Deshalb geht ein so gesinnter Jude nicht zur Synagoge, um von Gott etwas zu erbitten, sondern ausschließlich »um das Gebot des Gebets in der Gemeinde zu erfüllen. Dies ist der religiöse Glaube!«70 Dieses strenge Urteil gilt auch für die Ethik und die Moral, die nach Leibowitzens Urteil humanistisch-atheistische Systeme sind, die sich nach dem humanistischen Wertmaßstab der Stellung des Menschen vor dem Menschen richten und nicht nach der Pflicht zum Gottesdienst. Es muss daher nicht verwundern, wenn Leibowitz der biblischen Tradition und dem »echten Judentum« seiner Auffassung jegliche Ethik abspricht – eine »jüdische Ethik« oder »prophetische Ethik« als feste Bezugsgrößen kann es demnach nicht geben.71 Die Halacha als Verkörperung der jüdischen Religion, als Formulierung des Dienstes an Gott, kennt kein ethisches System, welches das Tun der Menschen an dessen Bedeutsamkeit für den Mitmenschen misst. Entscheidend ist allein, ob eine Tat um Gottes willen geschieht, mit der Absicht ihm zu dienen. Die humanistische Ethik 68
Leibowitz, Jahadut, S. 270–271.
69
Leibowitz, Emuna, S. 63.
70
Leibowitz, Emuna, S. 63.
71
Leibowitz, Jahadut, S. 21. 26. 27. 294. 313; Emuna, S. 126–127.
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bietet demgegenüber einen Maßstab, nach welchem das Tun des Menschen an seiner Bedeutung für den Mitmenschen gemessen wird, nicht so die Halacha: »Die Halacha – welche der Dienst an Gott ist – ist kein bestimmtes staatliches, gesellschaftliches oder, wirtschaftliches Programm, sie ist auch kein ethisches System (im Sinne einer Tugendlehre).«72 Um diesen Unterschied zwischen humanistischen und religiösen Handlungsbewertungen deutlich zu machen, unternimmt Leibowitz gelegentlich einen Gang durch die Philosophie. Zunächst stellt er zurecht fest, dass eine Tat an sich noch keine ethische Bedeutung hat, sondern diese erst durch die Handlungsmotivation des Täters gewinnt. So ist zum Beispiel die Tötung eines Menschen an sich moralisch neutral und gewinnt ihre ethische Bewertung erst durch die Zielsetzung und Absicht der Tat durch den Täter, so kann sie einmal als niederer Mord und ein andermal als heroische Tat zum Schutz des Vaterlandes bewertet werden.73 Hier verweist er darauf, dass es in der abendländischen Philosophie zwei grundsätzlich unterschiedliche Bezugsgrößen für die ethische Bewertung des menschlichen Tuns gegeben habe. Da ist zum einen die Bezugsgröße der Erkenntnis (in der Tradition des Sokrates) und zum anderen die Bezugsgröße der Pflicht (in der Tradition von Kant). Nach der sokratischen Tradition wird der »Wille des Menschen durch seine Erkenntnis der Wahrheit der Wirklichkeit gezwungen«, während nach der kantischen Tradition der »Wille des Menschen durch die Erkenntnis seiner Pflicht unter Absehung von der Qualität der Wirklichkeit gezwungen« wird. Beide Handlungsmotivationen beruhen laut Leibowitz auf keiner freien Entscheidung des Menschen, sondern sind als Zwang durch Erkenntnis oder eines menschlich formulierten Befehls, als Zwangstat zu verstehen. Diese beiden Alternativen der Handlungsmotivation sieht Leibowitz durch die Formulierungen des Schmaʽ Jisrael – Gebetes abgewiesen: »›Geht nicht euren Herzen noch euren Augen nach‹. ›Geht nicht euren Herzen nach‹, dies ist die Ablehnung der Maxime von Kant; ›Geht nicht euren Augen nach‹ – das ist die Ablehnung der Maxime von Sokrates. Und die Begründung der beiden Ablehnungen lautet: ›ich, der Herr, bin euer Gott.«74 Selbst das Gebot der Nächstenliebe, Lev 19, 18, das Rabbi Akiva zu einem großen Grundsatz in der Tora erklärt hatte,75 kann nicht als ethische Maxime erklärt 72
Leibowitz, Jahadut, S. 312–313.
73
Leibowitz, Jahadut, S. 294.
74
Leibowitz, Jahadut, S. 314.
75
Jalkut Schimʽoni Bereschit, Perek 5, § 40.
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werden, denn die Begründung des Gebotes, so glaubt Leibowitz, sind ja die sogleich folgenden Worte: »Ich bin der Herr«, also Gott ist der Bezugspunkt des geforderten Tuns, nicht der Mensch. Folglich sagt Leibowitz pointiert: »Es ist nicht dasselbe, wenn einer etwas um des Menschen willen tut oder wenn um des Himmels willen.«76 Es ist die freie Entscheidung, eine Handlung um Gottes willen zu vollbringen, ohne auf deren innerweltliche oder menschliche Nützlichkeit oder Wertigkeit zu achten. Solches Handeln nur um Gottes willen fordert die Halacha, welche demnach alleine die echte Freiheit des Menschen verbürgt. Ausschließlich das Handeln nach der Halacha befreit den Menschen von den schon genannten beiden Zwängen wie auch von den Zwängen der Natur, denen der Mensch in seinem sonstigen Tun ausgeliefert ist.77 Diese Sicht der religiösen Handlung als höchstem Wert bedeutet zugleich, dass im religiösen Handlungskonzept der Mensch an sich keinen eigenen Wert besitzt wie im Humanismus, wo das Handeln des Menschen an dem höchsten Wert des Menschseins ausgerichtet ist. Nach der religiösen Auffassung von Leibowitz hat der Mensch seinen ausschließlichen, ihn über die Natur erhebenden, Wert in seiner Stellung vor Gott. Allein das von Gott gerufen und von ihm befohlen sein, macht den menschlichen Wert aus. Nur diese seine Stellung vor Gott soll sein religiöses Handeln bestimmen. Wenn dies, wie das Gebot der Nächstenliebe, zugleich einen anthropologischen Wert besitzt, ist dies eher eine nicht unerwünschte Nebenwirkung. Seinen eigentlichen »Wert« besitzt es aber nur, weil es von Gott so befohlen, nicht weil es vom Mitmenschen gefordert ist. Also nicht eine anthropologisch bezogene Ethik und Moral sind vom Menschen gefordert, sondern freie Unterwerfung unter das Gebot Gottes – dies ist der einzig gültige Wertmaßstab für religiöses Handeln.78
76
Leibowitz, Jahadut, S. 314; u. vgl. ebenda, S. 27: »Die Pflicht der Nächstenliebe hat ihren Grund nicht in der Stellung des Menschen qua Mensch, sondern in der Stellung des Menschen vor Gott. ›Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹ ohne die Schlussworte ›Ich bin der Herr‹ – ist die große Maxime des Atheisten Kant. Das neue und die Bedeutung dieses großen Grundsatzes der Tora liegt an seiner Stellung und seinem Rahmen unter den Mizwot [Tora-Geboten].« Leibowitz, Jahadut, S. 27.
77
Leibowitz, Jahadut, S. 29–30. 49. 345; u. vgl. J. J. Ros, ʽAvodat H‘ ka-Bittuj schel Ḥerut, in:
78
Leibowitz, Jahadut, S. 313, und ebenda S. 32: Keinerlei menschliche Werte haben einen axio-
Sagi, Yeshayahu Leibowitz. ʽOlamo we-Haguto, S. 130–147. logischen Wert, außer den Geboten, darum: »Wenn die Gesamtheit der Gebote der Halacha eine Sphäre der Heiligkeit im Leben schaffen, dann ist alles außerhalb dieser Sphäre profan, das heißt, es kann keinen höchsten Wert besitzen und kann keine absolute Pflicht oder Forderung darstellen.«
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4.4.2 Nochmals Kant – Deontologie und Teleologie An dieser Stelle muss noch einmal auf Immanuel Kant verwiesen werden, auf dessen Begründung der Ethik Leibowitz ja eigens einging, um sie zugleich abzulehnen. Dennoch steht er auch bei der Begründung seiner eigenen Wertepräferenz noch völlig im Schatten von Kant. Denn recht besehen hat Leibowitz nolens volens die Begründungsstruktur der Werte von Kant beibehalten, allerdings hat er innerhalb dieser Struktur einen zentralen Faktor verschoben, um sich von Kant abzusetzen.79 In der philosophischen Literatur zur Ethik werden wohl seit Jeremy Benthon im 18. Jh. zwei Grundformen der Ethik unterschieden,80 nämlich zwischen einer deontologischen und einer teleologischen Ethik.81 Die deontologische Ethik (von griechisch deon die Schuldigkeit, die Pflicht) ist eine Ethik, die, nach Kant, den Wert des ethisch guten Handelns in der Erfüllung der menschlichen Pflicht gegenüber einem Sittengesetz sieht, das als utopisches Ziel gleichsam einer höheren, über der menschlichen Trieb- und Bedürfnis-Natur stehenden, Ordnung angehört. Bei Kant ist diese höhere Ordnung die menschliche Vernunft, welche dem stets gültigen und von den menschlichen Bedürfnissen unabhängigen kategorischen Imperativ folgt. Die teleologische Ethik (von griechisch telos, das Ziel, der Zweck) hingegen bewertet das ethisch Gute nach dem dadurch zu erreichenden Ziel, was allerdings sehr unterschiedlich sein kann. Da gibt es zum einen bewertete Qualitäten also Wertungsgegenstände, und zum anderen verschiedene Wertungsantriebe.82 Zu den Wertungsgegenständen können ökonomische, soziale und intellektuelle Werte gehören, zu den Wertantrieben etwa biologische und hedonistische, neben moralisch-ethischen, oder auch religiösen, wie das ewige Heil, die Erlösung etc. Das bedeutet, es gibt phänomenologisch betrachtet eine große Variationsbreite an Werten und Wertmaßstäben, aus denen einzelne Individuen oder ganze Gruppen je das ihnen entsprechend erscheinende auswählen.
79
Ähnlich Yonatan Brafman, Yeshayahu Leibowitz’s Axiology. A »Polytheism of Values« and
80
Jeremy Bentham, Deontology, or the science of morality. In which the harmony and co-
the »Most Valuable Value«, in: Journal of Religious Ethics 43.1, S. 146–168. incidence of duty and self-interest, virtue and felicity, prudence and benevolence, are explained and exemplified, London u. a. 1834; u. C. D. Broad: Five Types of Ethical Theory, London 1930. 81
Dazu vergleiche N. Kasher, Tefisat ha-Dat schel Leibowitz leʽumat Tefisat ha-Musar schel Kant in: A. Kasher & J. Levinger (Hg.), The Yeshayahu Leibowitz Book, Tel Aviv 1977; online: Leibowitz’s View of Judaism Compared to Kant’s View of Ethics, http://www.leibo witz.co.il/about.asp?id=66
82
Vgl. dazu Robert Reiniger, Wertphilosophie und Ethik. Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung, Wien-Leipzig, 1939, § 17. Die Rangordnung und Einteilung der Werte, S. 56ff; online: http://www.gleichsatz.de/b-u-t/spdk/wk/rore-wt1b.html
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Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Leibowitz mit Kant das Modell der deontologischen Ethik, also der Pflichtenethik wählte. Allerdings ersetzte Leibowitz die transzendentale Utopie des Sittengesetzes, welches nach der Maßgabe der menschlichen Vernunft je und dann realisiert wird. Bei ihm trat an die Stelle des »Sittengesetzes« das transzendentale Tora-Gesetz, das heißt ein von Menschen zwar formuliertes, aber einem utopischen Ursprung verpflichtetes Gesetz, dessen Maxime nicht die allgemeingültige Vernünftigkeit (Kant), sondern die allgemein gültige Maxime »um des Himmels willen«, als Dienst an Gott, ist (Leibowitz). Zur weiteren Charakterisierung der beiden unterschiedlichen Ethiksysteme, als konstitutiv (das deontologische) und regulativ (das teleologische), verweise ich auf das nachfolgende Kapitel zu Avi Sagi.83 Um den diesbezüglichen Hauptpunkt vorwegzunehmen: Das regulative Gesetz reguliert eine schon vorfindliche Wirklichkeit mit dem Ziel von deren optimaler Organisation (wie zum Beispiel die Verkehrsregeln), während das konstitutive Gesetz der Wirklichkeit vorangeht und eine solche erst neu erschafft, nach der zu Handeln ist (zum Beispiel die Regeln des Schachspiels). Die Halacha im Sinne von Leibowitz ist ein konstitutives Gesetz, welches Regeln vorgibt, die erst eine entsprechende Wirklichkeit schaffen sollen, nämlich das heilige Leben vor Gott, das jenseits der physischen und zweckhaften Realität steht.
4.4.3 Religiös neutrale Handlungsgebiete und religiöses Interesse Alle Handlungsfelder des Menschen, die keinen unmittelbaren Bezug zum Dienst an Gott haben, können als religiös neutral betrachtet werden. Das soll aber nicht bedeuten, dass der religiöse Mensch sich jeglichen Tuns in solchen Bereichen enthalten soll. Nur eben ist sein Tun in diesem Feld, wie zum Beispiel in der Politik und im Staat nicht mit religiösem Wert behaftet. Das Agieren in solchen neutralen Bereichen bleibt indessen nicht völlig ohne Berührungspunkte zur religiösen Aufgabe, weshalb eine Abwägung des Handelns in solch neutralen Bereichen in seiner Auswirkung auf die religiöse Aufgabe stets zu bedenken ist. Da das Handeln im neutralen Bereich keine unmittelbare religiöse Bedeutung hat, bietet die Halacha dafür keine grundsätzliche Handlungsanweisung. Vielmehr bedarf es beim Handeln im neutralen Bereich einer vorgängigen Prüfung und Erwägung, welches Tun oder Verhalten dem religiösen Ziel des Gottesdienstes am ehesten dienlich ist, oder ihm womöglich widerspricht, um dann zu einer Handlungsentscheidung zu gelangen. Ein solches Verfahren nennt Leibowitz –
83
S. unten, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap II, Nr. 5.3, Die Halacha – konstitutives oder regulatives Rechtssystem.
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sehr wohl im positiven Sinne – »religiösen Opportunismus« oder »religiöses Interesse«. Den genannten Bereichen gegenüber ist die Halacha – wie gesagt – zunächst neutral, und bietet für sie dementsprechend keine grundsätzliche Haltung – zum Beispiel bezüglich einer idealen Staatsform, ob monarchisch oder republikanisch. Die Halacha hat keine grundsätzliche Position in Fragen politischer Entscheidung – wie sich schon aus den gegensätzlichen Positionen der biblischen Propheten Jesaja und Jeremia hinsichtlich der Verteidigungsfähigkeit Jerusalems ergibt.84 Deswegen muss in allen solchen Bereichen und Fragen jeweils zuvor erwogen werden, welche Handlung letztlich der eigentlichen menschlichen Aufgabe, nämlich dem Dienst an Gott dient, und welche weniger oder ihm gar widerspricht.85
4.4.4 Religion um ihrer selbst willen – menschliche und göttliche Ziele Das strenge Kriterium, dass nur, was um Gottes willen geschieht, religiösen Wert besitzt, wird, wie schon mehrfach angedeutet, auch auf die religiösen Institutionen der eigenen jüdischen Religion angewandt, weshalb Leibowitz nicht nur als Kritiker des politischen Handelns im Staat Israel gilt, sondern zugleich als ein unbestechlicher Kritiker nach innen, gegenüber dem religiösen orthodoxen Establishment in Israel, wie er gleichermaßen weltweit gegenüber verschiedenen religiösen Richtungen innerhalb des Judentums polemisierte. So warf er zum Beispiel dem Reformjudentum vor, dass es die beiden »legitimen« aber unvereinbaren Wertesysteme, Religion und Humanismus, miteinander zu verschmelzen sucht. Entsprechend kritisiert er die Kabbala mit ihrer theurgischen und mystischen Eigenmächtigkeit, und dergleichen mehr.86 Für die Legitimität seiner auch innerreligiösen Kritik greift Leibowitz auf die alte rabbinische Formel vom Lernen der Tora li-Schmah u-sche-lo-li-Schmah, das heißt dem »Studium um seiner selbst willen« oder dem Studium, das die Absicht verfolgt, davon einen persönlichen Gewinn zu haben, und sei es auch nur das Wohlwollen Gottes, dessen Hilfe, oder die dereinstige Erlösung – also »nicht um ihrer selbst willen«.87 Den Gegensatz der beiden Motivationsfaktoren, die eben gerade auch im religiösen Alltag wie in der jüdischen Tradition insgesamt oft miteinander verbunden wurden und werden, bringt er auf die Formel vom Gegensatz von Anthropozentrik (Humanismus) und Theozentrik (die »echte«-leibowitzianische jüdische Religion). In einer Polemik gegen die Philosophin, Literaturkritikerin und Dich-
84
Leibowitz, Jahadut, S. 312–313. 103. 309; Emuna, S. 159.
85
Leibowitz, Jahadut, S. 313.
86
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2 und Bd. 3.
87
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 288; Bd. 2, S. 149. 796; Bd. 3, S. 335–342. 346.
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terin Rachel Schklovski in der Tageszeitung Ha-Arez sagt er dies einmal pointiert mit folgenden Worten: »Rachel Schklovski kann es nicht begreifen, dass ein Mensch, der nicht zu den ›Dunkelmännern‹ gehört, das Judentum als einen theozentrischen religiösen Glauben sieht, in dem der Dienst an Gott das Ziel an sich ist und nicht das Mittel zur Verwirklichung menschlicher Werte. In der traditionellen Formulierung der denkerischen Tradition des Judentums kann man sagen, dass Rachel Schklovski nicht in der Lage ist, den Begriff der Tora li-Schmah (Tora im Sinne des gesamten religiösen Denkens und Handelns) und dessen Bedeutung für den Glauben zu verstehen. Sie kennt nur die Tora sche-lo-liSchmah, das heißt die Tora, die als religiöse Verbrämung menschlicher Bestrebungen und humanistischer Ziele dient.«88 Religiös in der wahren, von Leibowitz akzeptierten Form ist nur der reine, ohne menschliche Zwecke verwässerte, Gehorsam gegenüber Gottes Gebot. Nur Gottes Gebot zu gehorchen, ist die reine Religion unter Absehung und Hintanstellung jeglicher menschlicher Bedürfnisse, seien sie materieller oder geistiger Art:89 »Auf dem Gebiet des religiösen Glaubens gibt es die tiefgreifende Unterscheidung zwischen ›nicht um seiner selbst willen‹ (sche-lo li-Schmah) ›und um seiner selbst willen‹ (li-Schmah), das heißt zwischen der Auffassung von der Stellung des Menschen vor Gott als einem, der Erwartungen hinsichtlich der Befriedigung seiner Bedürfnisse und Wünsche oder die Verbesserung der Menschheit und der Welt an seinen Gottesdienst knüpft, und zwischen der Auffassung von dieser Stellung [des Menschen vor Gott] als der Erkenntnis der Pflicht des Menschen, Gott in dieser Welt, wie sie ist, zu dienen, weil dieser Dienst an Gott das Ziel selbst ist.«90 Entsprechend dieser beiden unterschiedlichen Erwartungshaltungen, so Leibowitz, wird auf der einen Seite von den Historiosophen oder Theologen die Erwartung gehegt, dass Gott in die Geschichte der Welt eingreift und sie zu einem vorbestimmten guten Ziel führt, während auf der anderen Seite jene stehen, welche an eine solche göttliche Intervention in der Geschichte nicht glauben und es stattdessen als die Aufgabe des Menschen betrachten, selbst die Geschichte zu einem guten Ende zu führen, auch wenn ein solches nie erreicht werden wird. 88
Leibowitz, Emuna, S. 47.
89
Leibowitz, Jahadut, S. 312.
90
Leibowitz, Emuna S. 165.
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4.4.5 Keduscha (Heiligkeit) – ist nur durch Gebotserfüllung zu erwerben Zur Benennung des höchsten, absoluten91 Wertes im Rahmen seiner religiösen Werteskala verwendet Leibowitz auch den in der Religionsgeschichte, insbesondere der biblisch-jüdischen, dafür vorgesehenen Begriff des »Heiligen«. Da dieser Begriff allgemein92 wie auch in der jüdischen Tradition sehr unterschiedlich verstanden wird, muss er, der auch hier auf klare Verhältnisse drängt, eigens eine Definition dafür vorlegen, was den Anspruch auf Heiligkeit erheben darf. An dieser Stelle mag ein kurzer Blick in die Religionsgeschichte hilfreich sein. Der wesentlichste Differenzpunkt im allgemeinen religionsphänomenologischen Verständnis von Heiligkeit ist die Frage, ob Dingen oder Personen wesenhaft das Attribut der Heiligkeit eignet (weshalb es in der Religionswissenschaft oft mit dem Begriff des Mana zusammengebracht wird), oder ob sie die Heiligkeit erst funktional erwerben, das heißt, dass sie ohne eine solche sakrale Funktion neutral sind. »Funktional« heißt in diesem Kontext: In der Beziehung zu einer Gottheit stehend, wodurch die Dinge oder Personen Heiligkeit erlangen. Schon die Bibel kennt beide Seiten des Besitzes von Heiligkeit. Beide Besitzmodalitäten sind zum Beispiel bei unterschiedlichen »Gegenständen« belegt, nämlich bei heiligen Tagen, heiligen Orten, heiligen Gegenständen, wie Wasser, Brot, Kleidern, Salböl, heiligen Personen, dem heiligen Volk, und dem Heiligen Land, der heiligen Stadt Jerusalem, Bergen, dem Tempel als heiligem Haus. Für sie gibt es in der Bibel Belege für beide Möglichkeiten des Besitzes von Heiligkeit sei es die der intrinsischen dinglichen Heiligkeit aber noch häufiger die der erworbenen Heiligkeit durch ihre Beziehung zum Heiligen schlechthin, nämlich zur Gottheit.93 Erst durch diese Beziehung erlangen sie dann ihre Eigenschaft der Abgesondertheit und Unantastbarkeit. Ein weiterer Gesichtspunkt für den Erwerb der Heiligkeit von Menschen ist, vor allem seit der biblischen Literatur, nicht nur die »passive« Zugehörigkeit
91
Leibowitz, Jahadut, S. 33.
92
C. Colpe, in: H. Cancik, B. Gladigow, K.-H. Kohl (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart Berlin Köln, Bd. 3, S. 74–99, Art. Heilig u. Das Heilige; G. Widengren, Religionsphänomenologie, Berlin 1969, S. 30–45.
93
Vgl. Encyclopaedia Judaica, Bd. 10, Sp. 866; Biblisch–Historisches Handwörterbuch, B. Reicke u. L. Rost (Hg.), Bd. 2, Sp.682; Widengren: »Im Gegensatz zu der Ansicht, daß die Heiligkeit den Ausläufer einer allgemeinen, unpersönlich gefaßten Macht darstellt, hebt eine neuere Auffassung hervor ›heilig‹ sei ursprünglich ein rein religiöser Begriff, der das bezeichnet, was der göttlichen Sphäre angehört und daher unantastbar und abgesondert ist. Diese Definition des Heiligen macht also mit Bestimmtheit geltend, daß das Heilige seinen Charakter ganz und gar von der göttlichen Macht erhält. Eine solche Auffassung des Heiligen nimmt als seinen Ursprung anstelle einer unpersönlich gefaßten Kraft die Gottheit.«, Widengren, Religionsphänomenologie, S. 33.
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zum göttlichen Bereich (wie die der Priester, und im späteren Ḥasidismus die des Zaddik),94 sondern die aktive Arbeit des Menschen am Erwerb der Heiligkeit und zwar durch das von Gott befohlene Tun, das als eine imitatio dei verstanden wird: »Darum sollt ihr euch heiligen und heilig werden, denn ich JHWH bin euer Gott. Und haltet meine Gebote und befolgt sie, denn ich bin JHWH, der euch heiligt.«95 Dieser Gedanke von der aktiven Heiligung durch das Erfüllen der Gebote ist dann in der rabbinischen Literatur verstärkt weitergetragen worden.96 Die Heiligung des Menschen geschieht durch die Gebotserfüllung, wie dies dann in dem standardisierten Segensspruch zur Gebotserfüllung ausgedrückt wurde, zum Beispiel zum Gebot der Schabbatleuchten: »Gelobt seist Du, Herr, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch deine Gebot und uns befohlen, das Sabbatlicht anzuzünden.« Es ist diese halachische Möglichkeit der Heiligung durch die Gebotserfüllung, die Leibowitz ausschließlich für den Erwerb und Besitz von Heiligkeit gelten lassen wollte: »Eine Lebensgestaltung auf den Grundlagen der Halacha heißt: Die Schaffung eines Sektors von Dingen und Taten im Leben, welche Heiligkeit (Keduscha) besitzen. Heiligkeit im religiösen Sinn des Wortes – im Unterschied zu dessen profanem und metaphorischen Gebrauch – heißt nichts anderes als das Erfüllen der Gebote, also von besonderen Taten, die das Ziel und die Absicht haben, Gott zu dienen. Das bedeutet, jegliches anderes Tun – sei es nun als ›gut‹ oder als ›böse‹ erachtet –, das ein Mensch zu seinem eigenen Nutzen oder zur Befriedigung seiner materiellen oder geistigen Bedürfnisse ausübt, sprich zum Dienst an sich selbst, ist profan. Die Unterscheidung zwischen heilig und profan ist eine religiöse Kategorie erster Ordnung, sie gehört zu den Grundfesten des religiösen Gefühls in der Welt der institutionellen Religion, der Religion der Halacha. Demgegenüber ist der Begriff der Heiligkeit als einer immanenten Beschaffenheit gewisser Dinge, wie Menschen, Orte, Institutionen, Substanzen, Ereignisse, ein mystisch-magischer Begriff, dem der Ruch des Götzendienstes anhaftet. Es gibt keine Heiligkeit außer in der
94
Zur Heiligkeit des Zaddik s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 849–852. 870–886. 904–910; S. Galley, Der Gerechte ist das Fundament der Welt. Jüdische Heiligenlegenden aus dem Umfeld des Chassidismus, Wiesbaden 2003, insbes. S. 379ff.
95
Leviticus 20, 7–8.
96
Vgl. Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 30. 242–243. 284. 318. 320. 323. 325. 329. 354. 524; A. Marmorstein, The Imitation of God (Imitatio Dei) in the Haggada, in: ders. Studies in Jewish Theology (ed. J. Rabinowitz & M.S. Lew), London et al. 1950, S. 106–121; S. Schechter, Aspects of Rabbinic Theology. Major Concepts of the Talmud, New York 1965, S. 199–218.
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göttlichen Sphäre, das heißt, niemals in der Sphäre, die von Menschen gemacht ist, außer durch die Gebote Gottes, bei denen das Tun des Menschen ausschließlich um des Himmels willen geschieht: ›Der Heilige, Er sei gesegnet, hat in seiner Welt nichts, außer die vier Ellen der Halacha.‹97 Es gibt nichts, das aus sich selbst heilig wäre. Heilig ist nur, was ›heilig für den Herrn‹ ist. Das heißt dem Herrn geheiligt durch die spezifische Absicht und den spezifischen Gebrauch für den Dienst an Gott. Nur für diesen Gebrauch des Wortes ›Heiligkeit« (Keduscha) gibt es im Rahmen des HalachaJudentums Raum.«98 Jeglicher andere Gebrauch des Begriffes »heilig«, sei es hinsichtlich von Dingen, Orten oder Menschen, Institutionen oder gar der Nation oder des Staates, ist nicht legitim, ist Götzendienst, weil dabei entweder der Mensch oder die besagten Dinge zum Gott werden.99 Es ist keine Frage, dass sich Leibowitz mit dieser Einengung des Begriffs der Heiligkeit weit von der religionsgeschichtlichen Realität des Judentums entfernt. Er weiß dies selbst und scheut sich nicht, solch ehrwürdige Gestalten wie Jehuda ha-Levi, den Verfasser des weit rezipierten Sefer ha–Kusari,100 und den Maharal von Prag101 sowie den hochverehrten Rav Kuk102 des rassistisch-nationalistischen Chauvinismus zu zeihen, weil sie den Juden mit einer inhärenten biologischen Heiligkeit ausgestattet sahen.103 Demgegenüber sagt er, die den Menschen zugesprochene Heiligkeit sei zunächst nur eine Möglichkeit, sei nur in Potentia gegeben und müsse durch den Menschen in der Gebotserfüllung erst realisiert werden. In welchem Maße Leibowitz mit seiner Auffassung vom Wesen der Heiligkeit gerade von den populären und verbreiteten jüdischen Auffassungen abweicht, zeigen die Nachfragen aus dem Publikum anlässlich eines Symposionsvortrages im Jahre 1977.104 Einer der Fragesteller hielt ihm vor, er habe sich völlig vor dem Begriff des Volkes Israel als »erwähltem Volk« und der »Heiligkeit des Volkes Israel« gedrückt,105 und ein anderer wollte wissen, was denn die »Heiligkeit des Landes Israel« bedeute. Beide Fragen beantwortete Leibowitz im
97
Babylonischer Talmud, Berachot 8a.
98
Leibowitz, Jahadut, S. 31–32.
99
Leibowitz, Jahadut, S. 32–33; Emuna, S. 132.
100
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 585–613.
101
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 233–280.
102
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 318–408.
103
Leibowitz, Emuna, S. 19. 132, u. vgl. S. 116. 139.
104
Er trug den Titel: Die religiöse und die traditionelle Bedeutung der Erlösung Israels, Leibo-
105
Leibowitz, Emuna, S. 131.
witz, Emuna, S. 120–133.
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selben Duktus. Die Heiligkeit, von der hier die Rede ist, mache keine wesenhafte Aussage, sondern eine funktionale, die einen Auftrag beinhalte: »Die Bedeutung dieser Attribute [erwählt und heilig] ist als Auftrag, funktional, zu sehen, nicht wesenhaft und essentiell. Sie bezeichnen das, was dem Volk Israel als Aufgabe auferlegt, nicht was von Natur aus in ihm vorhanden ist. Mit anderen Worten: Sie bezeichnen eine Forderung an das Volk Israel und lenken es auf das Ziel, das sie erreichen sollen. Das ist das Hohe und Erhabene an ihnen. Sie bezeichnen keine Eigenschaften, die de facto in ihm vorhanden sind – dies wäre völlig ohne axiologische (werthafte) Bedeutung. Die [einschlägigen traditionellen] Formulierungen sind eindeutig und völlig klar: ›Der uns aus allen Völkern erwählte und uns seine Tora gegeben hat‹, ›der uns geheiligt hat durch seine Gebote und uns erwählte‹, ›ihr sollt heilig sein‹, ›damit ihr all meine Gebote in Erinnerung haltet und tut und heilig sein sollt‹.«106 Entsprechend beziehe sich die Heiligkeit des Landes auf die Gebotserfüllung, nämlich der Gebote, deren Erfüllung an das Land Israel gebunden ist, und deren Erfüllung erst das Land heiligen – nicht etwa umgekehrt.107 Dies ist zugleich eine Breitseite gegen die religiösen Siedler, die es als eine religiöse Pflicht erachten, das Heilige Land zu »befreien«. Kein Flecken dieses Landes, so Leibowitz, ist per se heilig, es wird hingegen erst durch die Gebotserfüllung auf ihm geheiligt, also besteht kein Grund angeblich heilige Landstriche zu befreien, denn ohne auf ihnen geübte Gebote sind sie nicht heilig.108
4.5
Glaube – ohne historische Offenbarung
Es gibt eine Reihe von Bemerkungen von Leibowitz, welche die dringende Frage provozieren müssen, worin er letztlich die Begründung des jüdischen Glaubens, sprich der Halacha, sieht. Schon aus dem Vorangegangenen wurde ja deutlich, dass es laut Leibowitz eine falsche Auffassung vom Glauben wäre, wollte man ihn auf die Geschehnisse der Geschichte gründen und ein Eingreifen Gottes in die Geschichte erwarten. So zum Beispiel im folgenden Passus: »So wie sich Gott nicht in der Natur offenbart, so offenbart er sich auch nicht in der Geschichte. Hätte er sich in der Geschichte offenbart, was wäre dann
106
Leibowitz, Emuna, S. 131–132.
107
Leibowitz, Emuna, S. 132.
108
Leibowitz Jahadut, S. 92; Emuna, S. 117–118. 132.
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am Glauben an Ihn das Besondere? Der Glaube ist ja gerade die Krise im Bewusstsein des Menschen, dass er Gott nicht in der Geschichte entdeckt und er es auf sich nimmt, Gott zu dienen, obwohl Gott sich in der Geschichte nicht offenbart. […] Der Gottesgläubige muss sich vollkommen von jeglicher Abhängigkeit von den Ereignissen der Geschichte befreien.«109 Auch wenn er in der Fortsetzung dieses Textes wieder auf sein ceterum censeo abhebt, dass Gott nicht ein Funktionär der Geschichte und damit Diener der Menschen ist, weshalb man von Ihm in dieser Welt der Geschichte nichts erwarten darf, so trifft diese Äußerung, dass Gott sich in der Geschichte nicht offenbare, doch ins Herz des traditionellen jüdischen Offenbarungsglaubens. Nach diesem traditionellen Glauben hatte sich ja Gott seinem Volk am Sinai während des Exodus offenbart, um ihnen die Tora mit ihren Geboten zu übergeben, also mittels einer Offenbarung in der Geschichte. Trotz seiner eindeutigen Ablehnung einer historischen Offenbarung Gottes, kann Leibowitz die Autorität der Tora anscheinend ganz traditionell begründen: »Der Herr ist es, der die Tora gegeben hat und der Glaube an ihn ist die Anerkennung der Pflicht des Menschen, die Tora zu erfüllen.«110 Wie nun, so mag man fragen, hat Gott die Tora an Israel übergeben, da dies doch offenbar nicht in der Geschichte geschehen sein konnte. Die anscheinend salomonische Antwort auf diese Frage von Leibowitz lautet: »Gott hat sich nicht in der Natur noch in der Geschichte offenbart – sondern er hat sich in der Tora offenbart.«111 Mit dieser Begründung der Autorität der Tora – sprich der Halacha – jenseits der geschichtlichen Realität nimmt Leibowitz eine Formel auf, wie sie mutatis mutandis in der protestantischen dialektischen Theologie seiner Zeit im Schwange war. Der Marburger Theologe Rudolf Bultmann hat entsprechend die Auferstehung Jesu nicht in der Geschichte stattfinden lassen, sondern im Kerygma, das heißt in der Verkündigung der Kirche. Ein leeres Grab brauchte es dafür nicht zu geben, auch keine historischen Nachweise eines solchen.112 Ganz ähnlich ver-
109
Leibowitz, Emuna S. 61.
110
Leibowitz, Emuna, S. 17.
111
Leibowitz, Jahadut, S. 240.
112
R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: R. Bultmann, Exegetica: Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testamentes (ed. E. Dinkler), Tübingen 1967 (ursprünglich in: SAW Heidelberg, phil. hist. Kl. 1960). Dort (S. 469/S. 27)
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fährt Leibowitz in seiner Verortung von Gottes Offenbarung, die nunmehr in der Tora stattfindet und nicht in einem nachweisbaren geschichtlichen Ereignis – wie am Sinai. In einem kleinen Aufsatz unter der Überschrift Die Heiligkeit der Heiligen Schriften113 trägt Leibowitz seine diesbezügliche Sicht der Dinge vor. Er stellt da die Frage nach der Bedeutung der Bibel, beziehungsweise des Pentateuch, das heißt der Schriftlichen Tora (im engeren Sinne)114 für das Judentum. In diesem Essay kehrt er das allgemeine Bewusstsein von der Rangfolge von Schriftlicherund Mündlicher-Tora um, allerdings nicht ohne darin durch die tatsächliche religiös-halachische Praxis gerechtfertigt zu sein. Der entscheidende Punkt, an dem sich Leibowitz von der traditionellen »Dogmatik« entfernt, ist die Frage, welche der beiden Größen, Schriftliche oder Mündliche Tora, der jeweils anderen ihre Bedeutung, oder ihre Heiligkeit verleiht, oder, welche von beiden das wahre Fundament des Judentums sei. Die Entscheidung dieser Fragen hängt von der »richtigen« Bewertungskategorie ab. Für die meisten traditionellen wie auch säkularen Betrachter ist die Schriftliche Tora als die historisch ältere und primäre die Grundlage des Judentums. Die Basis für dieses Urteil der Priorität der Bibel ist ein historiographischer Zugang, eine historische Argumentation. Demgegenüber vertritt Leibowitz – wie der genannte protestantische Theologe – die Auffassung, dass die Beurteilung dieser Frage nach der Priorität der beiden Torot nicht aufgrund historiographischer, sondern nach »fideistischen« Kategorien zu erfolgen hat: »Die Heiligkeit der Bibel (Mikra) ist keine historische oder wissenschaftliche Kategorie, sondern eine religiöse (datit); die Heiligkeit kommt ihr von der besonderen Stellung zu, die ihr im Judentum zugeschrieben wurde, welche sie heiligte.«115 Es ist demnach nicht so, dass die Mündliche Tora geheiligt wurde, weil die Heiligkeit der Schriftlichen Tora auf sie ihre Heiligkeit ausstrahlte. Es ist nach Leibowitz gerade umgekehrt. Es ist die religiöse Tradition des halachischen Judentums, das die Bücher der Schriftlichen Tora für heilig erklärte und sie entsprechend mit sakraler Bedeutung ausstattete. Allein dieser Entschreibt Bultmann: »Mehrfach und meist als Kritik wird gesagt, daß nach meiner Interpretation des Kerygmas Jesus ins Kerygma auferstanden sei. Ich akzeptiere diesen Satz. Er ist völlig richtig, vorausgesetzt daß er richtig verstanden wird. Er setzt voraus, daß das Kerygma selbst eschatologisches Geschehen ist; und er besagt, daß Jesus im Kerygma wirklich gegenwärtig ist, daß es sein Wort ist, das den Hörer im Kerygma trifft. Ist das der Fall, so werden alle Spekulationen über die Seinsweise des Auferstandenen, alle Erzählungen vom leeren Grabe und alle Osterlegenden, welche Momente an historischen Fakten sie auch enthalten mögen, und so wahr sie in ihrem symbolischen Gehalt sein mögen, gleichgültig. An den im Kerygma präsenten Christus glauben, ist der Sinn des Osterglaubens.« 113
Leibowitz, Jahadut, S. 346–350
114
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
115
Leibowitz, Jahadut, S. 350.
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schluss seitens der halachischen Tradition ist es, welcher der Bibel ihre Heiligkeit und ihre Bedeutsamkeit verlieh. Es ist nicht der Inhalt dieser Bücher, weder in poetischer, literarischer, noch in philosophischer oder historischer Hinsicht, welcher eine solche Sonderstellung rechtfertigte – die literarische, philosophische und juristische Welt hat Größeres als die biblischen Schriften hervorgebracht. Es ist alleine der Beschluss der jüdischen Tradition – sei er nun ein einmaliger oder ein sich im Laufe der Zeit erst herauskristallisierender gewesen –, diesen 24 Büchern116 eine Heiligkeit zuzusprechen, welche ihre Ausnahmestellung schuf.117 Der Prozess der Kanonisierung war ein menschlicher, wie auch die biblischen Bücher selbst von Menschenhand gestaltet wurden.118 Leibowitz schreckt bei seiner Darstellung nicht vor drastischen Formulierungen zurück. Allerdings, dies sei schon im Vorhinein gesagt, beschreibt Leibowitz hier Prozesse und Bewertungen, wie sie auch der moderne Religionshistoriker sieht. Im Gegensatz zu diesem Letzteren leitet Leibowitz aus diesem religionsgeschichtlichen Befund jedoch eine religiöse Begründung für sein Halacha-Judentum ab, wie im Folgenden noch deutlich werden soll. Zunächst zu seinen Festlegungen: »In religiöser Hinsicht wird die richtige Beziehung zur Bibel (Tanach), zu ihrer Stellung und Bedeutung im Judentum und zu ihrer Heiligkeit, durch das Verhältnis von Schriftlicher und Mündlicher Tora festgelegt. Diese beiden Seiten der Tora genießen nicht dieselbe Stellung. Die Beziehung zwischen ihnen ist nicht die einer Ko-ordination, sondern die einer Sub-ordination. Hinsichtlich der empirisch-historischen Realität des Judentums ist der Begriff der Mündlichen Tora der umfassendere und grundlegendere, denn er enthält in sich die Schriftliche Tora, während die Schriftliche Tora für sich gesehen die Mündliche Tora nicht enthält. Das historische Israel hat in religiöser Hinsicht niemals aufgrund der Bibel (Mikra) gelebt und es war auch nicht gedacht, dies je zu tun. Es hat de facto aufgrund der Halacha der Mündlichen Tora gelebt.«119 Leibowitz spricht hier das aus, was in der jüdischen Religionsgeschichte tatsächlich die Regel war und durch zahlreiche Äußerungen der rabbinischen Literatur
116
Dies ist die Zahl der Bücher in der hebräischen Bibel, dem jüdischen Tanach oder Mikra. Die christlichen Bibeln zählen noch eine Reihe sogenannter Apokryphen hinzu, vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 155. 221.
117
Man vergleiche dazu die entsprechenden Debatten in Mischna und Talmud, welche Bücher heilig sind und darum die Hände »verunreinigen«: Mischna Edujot 5,3; Kelim 15,6; Tosefta Edujot 2, 7; Jadajim 2, 5; Babylonischer Talmud, Megilla 7a.
118
Leibowitz, Jahadut, S. 349. 21. 350. 338.
119
Leibowitz, Jahadut, S. 348.
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auch bewusst gemacht wurde, nämlich dass in Sachen von Rechtsentscheiden, die Halacha vor dem biblischen Text rangierte. Immerhin war dieser Praxis durch die rabbinische Lehre, dass die Mündliche Tora sehr wohl schon in der Schriftlichen enthalten war, dogmatisch ein umgekehrtes Korrektiv beigegeben. Er geht in seinen Schlussfolgerungen noch weiter, nicht aber um die alten rabbinischen Positionen zu schleifen, sondern um an ihre Stelle eine neue religiöse Sichtweise und Begründung der Religion, des Glaubens und damit der Halacha, zu stellen. Diese neuartige Begründung der religiösen Werteskala, entspringt einem »empirischen« Blick auf die jüdische Religionsgeschichte – selbst, wenn Leibowitz hierbei einen für ihn bezeichnenden einseitigen Blickwinkel einnimmt, wie noch gezeigt werden soll. Hier die klaren Schlussfolgerungen von Leibowitz für die Werte-Hierarchie seines Judentums: »Die Religion Israels in ihrer Gestalt von Halacha und Mündlicher Tora wurde nicht durch die Heiligen Schriften [der Bibel] geschaffen. Vielmehr sind diese Heiligen Schriften nur eine der Institutionen der jüdischen Religion. Ebenso wie die Halacha aufgrund des von ihr selbst bearbeiteten und aufgrund menschlicher Überlegungen in Kraft gesetzten Kalenders festsetzte, welcher Tag des Jahres heilig ist, um [die Sünden] zu sühnen und der dies an seinem Höhepunkt dann auch tatsächlich tut, so legte sie, gemäß ihren Überlegungen, auch fest, welchen Schriften das Attribut der Heiligkeit zukommt. Und so wie der gläubige Jude den Jom-Kippur akzeptiert, den die Vertreter der Halacha – Juden wie er – in einer Mehrheitsentscheidung als heiligen Tag festlegten, so akzeptiert er auch die Heiligkeit der Bibel aufgrund eines Beschlusses, den das Volk Israel aus der Absicht, die Tora zu halten, gefasst hatte. In gedanklich-religiöser Hinsicht, aber auch in logisch-ursächlicher, geht die Mündliche Tora, sprich die Halacha, der Schriftlichen Tora voran, und zwar hinsichtlich ihrer Sichtweisen und ihres Wertes. Die institutionalisierte Religion schafft den Glauben auf dem sie gegründet ist. Daraus folgt, dass die Heiligkeit der Bibel eben nur die Heiligkeit ist, welche ihr die Halacha zuschrieb. Sie geht nicht aus dem Inhalt dieser heiligen Schriften hervor noch von einer Wertschätzung dieser Inhalte. Die Mündliche Tora hat die Schriftliche Tora nicht als historisches Zeugnis, als literarisches Zeugnis, oder als Lehrbuch der Wissenschaften oder der Moralunterweisung, noch auch als Gesetzesbuch geheiligt – denn die Halacha umgeht oder setzt die Bibel überall außer Kraft, wo sie dies für nötig erachtet. Nein, all das nicht, vielmehr hat sie die Schriftliche Tora als Gottesoffenbarung geheiligt.«120
120
Leibowitz, Jahadut, S. 349.
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Damit ist es klar: Das Zentrum der jüdischen Religion ist die Mündliche Tora in Gestalt der Halacha, die alles, was heilig und was Teil des Glaubens ist, festlegt, so auch das, was die göttliche Offenbarung sei und dass es überhaupt eine solche gibt, beziehungsweise irgendwelche Texte als Offenbarung anerkannt werden. Die oben angesprochene Analogie zum protestantischen Umgang mit der Auferstehung Jesu ist die, dass in beiden Fällen, bei Bultmann wie bei Leibowitz, die religiöse Realität, die religiöse Praxis, der Ort ist, in dem sich das entscheidende religiöse Fundament realisiert und verwirklicht, dort die Auferstehung Jesu in der kirchlichen Verkündigung, hier die Offenbarung Gottes in der praktisch geübten und gelebten Tora der jüdischen Gemeinde. Die Tora, von der Leibowitz spricht, ist für ihn nicht die Hebräische Bibel oder die fünf Bücher des Moses, sondern das Tandem von Mündlicher und Schriftlicher Tora,121 was an sich noch nichts wirklich Neues im Rahmen des jüdischen Denkens darstellte, wie in dieser Darstellung schon deutlich beschrieben wurde.122 Der gläubige Jude, so betont er abermals am Ende dieses Artikels, stützt seine Bewertung der Heiligkeit der Bibel nicht auf die Achtung und die Auffassung von der Qualität dessen, was in diesen Büchern geschrieben steht oder auf deren historischen Wert. Der religiöse Wert dieser biblischen Schriften wird für den frommen Juden alleine durch deren Heiligung als Tora durch die jüdische Tradition und die religiöse Praxis für ihn gewährleistet. Einen historischen Nachweis für deren Inhalt bedarf es für diese religiöse Hochschätzung nicht und ist, nicht zufällig, auch kaum zu erbringen. »Für den gläubigen Juden sind die Bewertungen, Beschlüsse, Verordnungen und Anordnungen der Mündlichen Tora diejenige Tora, die uns geboten ist – obwohl sie absolut menschlichen Ursprungs sind.« Nicht hingegen ist die zu befolgende Tora die Schriftliche Tora, also nicht das, was die Bibel an Materialien bietet, denn »dieses Material ist durch die Heiligkeit der Tora – sprich der Mündlichen Tora – geheiligt – und dadurch ist ihre religiöse Bedeutung festgelegt.«123 Mit derartigen Begründung des jüdischen Glaubens, sprich der Gehorsamspflicht gegenüber der Halacha, beruft sich Leibowitz doch nun selbst wieder auf die von ihm ansonsten so heftig bekämpfte Geschichte als Fundament des Glaubens. Hier ist allerdings das Glaubens-Fundament nicht in den Wechselfällen und wunderhaften Ereignissen der Geschichte zu sehen, sondern in dem historischen Befund der Frömmigkeitsgeschichte Israels. Diese beharrliche halachische Religiosität Israels gilt als Beleg für den als unveränderlich und unverrückbar erachteten Befehl zum Dienst an Gott. Dieser abstrakte Befehl musste sich jedoch in der Geschichte seinen je adäquaten Weg, in entsprechenden halachischen Entscheidungen und Anordnun121
Ausdrücklich festgestellt in Leibowitz, Jahadut, S. 13.
122
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
123
Leibowitz, Jahadut, S. 350.
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gen suchen – individuelle Ausbrüche kann es hierbei allerdings nicht geben, denn der Garant für die Unveränderlichkeit ist die Gemeinschaft des halachischen Judentums und nur als solche kann sie den Pfad des Gottesdienstes festlegen. Dies ist ein Anspruch analog zum Lehramtsanspruch der katholischen Kirche, die hier allerdings auf das römische Pontifikat beschränkt ist, während das Judentum als Gemeindekollektiv diese Befugnis hat.
4.5.1 Das Wesen des »historischen« Glaubens als Wesen des Judentums Nachdem deutlich geworden ist, dass für Leibowitz die Offenbarung Gottes im realisierten Leben des Judentums stattfand und stattfindet, ist es verständlich, weshalb er das Wesen des Judentums, will sagen das Wesen der jüdischen Religion, nicht wie etwa das maimonidische Glaubensbekenntnis,124 in einer Reihe von dogmatischen Glaubenssätzen suchte, auch nicht in umfassenden Darstellungen des jüdischen Denkens, wie es die meisten der hier vorgestellten Autoren taten, sondern in dem in der Geschichte real gelebten Judentum. Es wird dann des Weiteren nicht verwunderlich erscheinen, wenn er bei diesem Blick auf die religionssoziologische Realität des Judentums in den Jahrhunderten von dessen rabbinischen Anfängen bis zur Emanzipation zuallererst – und für ihn ausschließlich – auf das nach der Halacha gelebte Leben des Judentums abhebt. Dabei ist für ihn entscheidend, worin und dass sich dieses jüdische Leben vom Leben der jeweiligen Zeitgenossen unterscheidet. Denn da wo die Juden ein Leben wie alle anderen führen – wie dies nach der Emanzipation weltweit und – so Leibowitz – beklagenswerterweise im Staat Israel überwiegend geschieht, da fehlt ihm das jüdische Spezifikum, das nach seiner Auffassung die ausschließliche Berechtigung für den Erhalt des Judentums insgesamt gilt: »Wir müssen den Begriff ›Judentum‹ in seiner empirisch-historischen objektiven Bedeutung verstehen, das heißt die tatsächliche Realisierung der jüdischen Wirklichkeit während der Generationen. Will sagen, wir müssen gerade diejenige ›jüdische Realität‹ in ihrem Vollsinne verstehen wie sie sich Generationen übergreifendend darstellt und nicht nur in einer speziellen Epoche, indem man episodische, zufällige, oder einmalige sich abwechselnde persönliche Teilverwirklichungen herausstellt. Worin hat sich das Judentum de facto verwirklicht? Was war sein grundlegendes Fundament, also dasjenige, welches seine kontinuierliche Existenz verbürgte, seine fortdauernde Identität in all den Veränderungen während tausenden von Jahren? Sprechen wir von Judentum, dann nur als einer Ge-
124
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437.
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samtheit der Erkennungsmerkmale, welche die kontinuierliche Identität des Volkes Israel in der Geschichte bestimmten, die es im Blick auf seine Realität – und nicht gerade auf sein Denken – als bestimmte einheitliche Größe definierten, die sich von anderen geschichtlichen Größen unterscheidet. Dieses ›Judentum‹ war nichts anderes als die jüdische Religion in ihrer tatsächlichen Realisierung in der Tora und den Geboten, deren systematische Zusammenfassung die Halacha darstellt.«125 Diese Definition des Judentums ist eine eindeutig religionssoziologische Definition im Sinne einer vollziehenden Halacha-Gemeinschaft, in welcher Theologie, Philosophie, Literatur und andere Parameter nicht vorkommen. »Das Volk Israel hat weder eine Philosophie, eine Ethik, noch Glaubensvorstellungen oder gesellschaftliche und staatliche Institutionen hervorgebracht, die nur ihm eignen oder es einzigartig machen oder dessen historisch kontinuierliche Existenz und Identität prägten« auch keine Sprache, kein Heimatland oder einheitliche Glaubensvorstellungen. Das einzig feste und kontinuierliche sei eben die Halacha.126 In einer ähnlichen Ausführung an anderer Stelle präzisiert Leibowitz diese soziologische Definition durch einen weiteren Aspekt, dann aber vor allem durch eine Reihe von Ausgrenzungen. Er setzt dort an die Stelle der Halacha als Verwirklichungsfaktor des Judentums den Begriff »Gottesdienst« im Sinne des Dienstes an Gott, womit folglich nicht nur der synagogale Gottesdienst – der nun aber wesentlich hinzugehört – gemeint ist, sondern eben der Dienst an Gott in der Befolgung der halachischen Gebote, die keinen anderen Sinn und keinen anderen Zweck haben, als den Gehorsam des Menschen in seiner Stellung vor Gott auszudrücken. Zu den genannten Umgrenzungen dieser »historischen Mitte« gehört vor allem, dass Leibowitz den Glauben als kognitive, emotionale und dogmatisch bestimmte Aktivität ablehnt und als für das Judentum nicht konstitutiv erklärt – worin er sich natürlich von seinem verehrten Vorbild Maimonides und der ihm folgenden Tradition deutlich abgrenzt. Glaube heißt für ihn eben Gehorsam laut den Regeln der Halacha. Nach einer abermaligen Herausstellung der Halacha als dem unverrückbaren und wahrhaft einzig konstanten Element jüdischer Identität, betont an anderer Stelle: »Nicht der Glaube definierte und erhielt das Judentum. Man kann sagen, dass der [dogmatisch-kognitive] Glaube ein Überbau über den Geboten darstellt, nicht sind hingegen die Gebote ein den Glauben überwölbender Überbau.«127 Zum Beweis dieser Auffassung nennt er die vielen Individuen und ganze Gemeinschaften, welche jüdische Glaubenselemente angenommen haben – gemeint 125
Leibowitz, Jahadut, S. 235–236; vgl. entsprechend Leibowitz, Jahadut, S. 72–73.
126
Leibowitz, Jahadut, S. 73.
127
Leibowitz, Jahadut, S. 16.
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sind natürlich Christentum und Islam – die dennoch nicht zum Judentum kamen und keinen Kontakt mit ihm hatten. Entscheidend für diesen Rekurs ausschließlich auf die Halacha ist außerdem – und dies ist ein Gesichtspunkt, den Leibowitz für die Halacha anscheinend ausklammert – die Fluktuation und Veränderlichkeit des jüdischen Denkens und Glaubens, wovon die vorliegende Darstellung im Jüdischen Denken ja wahrlich reichlich Beispiele gibt. Leibowitz meint: »Gerade die glaubensmäßigen Inhalte des Judentums waren ja im Judentum selbst stets umstritten, auf alle Fälle wurden in den verschiedenen Generationen wie auch in ein und derselben Generation unterschiedliche und sich widersprechende Interpretationen vorgetragen. Das heißt, das Judentum als einheitliche historische Größe hat sich nicht im Glauben verwirklicht. Das Judentum hat sich nicht in einem bestimmten Regierungssystem realisiert, monarchisch oder speziell soziologisch. Das Judentum hat sich in keiner Tugendlehre realisiert, der Begriff ›Jüdische Ethik (Moral)‹ macht keinerlei Sinn – trotz Samuel David Luzzato, Achad Ha-Am, Hermann Cohen und all ihren Nachfolgern. Eine Ethik kann nicht jüdisch oder unjüdisch sein, religiös oder nicht-religiös – Ethik (Moral) ist Ethik. […] Ethik ist eine atheistische Kategorie, die nichts mit der religiösen Erkenntnis oder religiösem Gefühl zu tun hat. Im Judentum ist der Mensch kein Wert an sich, er ist ›Ebenbild Gottes‹, der seine Bedeutung ausschließlich durch diesen Dienst [an Gott] erhält. […] Das Judentum hat als spezifisch definierte Größe in seiner dreitausendjährigen Kontinuität sich nicht durch die Philosophie verwirklicht, nicht durch Literatur, durch Glauben und sonst etwas anderes – sondern nur durch das Leben gemäß den praktischen Geboten, in einem Leben gemäß der Halacha.«128 Mit solchen Auffassungen grenzt Leibowitz nicht nur die genannten Personen, sondern mit ihnen weite Teile der jüdischen Wirklichkeit als nicht wesenhaft für ein jüdisches Selbstverständnis aus – eigens benannt wird auch Gershom Scholem, der – so Leibowitz – irrtümlich glaube, die Mystik beziehungsweise Kabbala sei ein Beweis für eine auch nichthalachische Basis des Judentums.129 Die vielfältigen Meinungen über das Judentum von Seiten der zahlreichen jüdischen Denker seien, im Gegensatz zu den Geboten, niemals verpflichtend, und damit nicht ausschlaggebend für das Wesen des Judentums gewesen.130 Dies umso mehr, als bei all solchen Interpretationen, insbesondere durch die jüdischen Philosophie, humanistische Deutungsmuster in das jüdische Denken einbezogen 128
Leibowitz, Jahadut, S. 16; vgl. Leibowitz, Emuna, S. 156.
129
Leibowitz, Jahadut, S. 18.
130
Leibowitz, Emuna, S. 156.
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worden seien, die aus einem anthropozentrischen Denken stammten. Leibowitz beharrt demgegenüber auf einer Theozentrik der Religion, aus der alle Verwebungen mit universellen humanistischen Deutungen und Auffassungen als illegitim ausgeschlossen werden müssen, weil in deren Mitte der Mensch und nicht die Gottheit steht – und nur ein solches »reines« Judentum verdient den Titel »Judentum«, alles andere ist nur jüdisches Volk oder die Vielzahl jüdischer Menschen. Leibowitz huldigt hier einer seklusionistischen Religionstheorie, nach welcher es eine Religion geben könne, die einen völlig von anderem Denken unberührbaren Kern, eine ursprüngliche Religionsform bewahren könne. Dies ist allerdings eine Hypothese die es real in der menschlichen Wirklichkeit und schon gar nicht in der jüdischen Religionsgeschichte je gegeben hat – was Leibowitz zwar sieht, aber eben bekämpft. Der zentrale Gesichtspunkt von Leibowitzʼ Berufung auf die Halacha als der Grundsäule des empirisch-historischen Judentums ist das Argument der Beständigkeit, der Unveränderlichkeit. Leibowitz sagt darum: »Der Gottesdienst, der sich in der Halacha verwirklicht, ist eine un-historische Realität.«131 Unhistorisch bedeutet hier, die Halacha sei ein Element, das von den geschichtlichen Veränderungen nicht beeinflusst wird. Die Halacha erscheint hier als eine Größe, die zwar in der Geschichte gelebt, aber jenseits von ihr ihr eigenes unveränderliches Fundament hat. Es ist gerade diese Auffassung, welche der im folgenden Kapitel behandelte Denker, Avi Sagi, zum Zentrum seiner Polemik gegen Leibowitz macht. So einfach wie es beim jetzigen Stand der Erörterung scheint, sind die Dinge dann allerdings doch wieder nicht. Denn Leibowitz spricht neben der Un-Historizität der Halacha andererseits zugleich von deren notwendigen und auch tatsächlich gegebenen Dynamik und Anpassungsfähigkeit, ja Anpassungsnotwendigkeit! Das Argument von der Un-Historizität und unveränderlichen Kontinuität, das von Leibowitz zugunsten der Halacha und gegen das »Denken« als dem entscheidenden Fundament des Judentums angeführt wird, wird jedoch in dem Augenblick zusammenfallen, wenn auch für die Halacha eine Geschichtsverbundenheit und Veränderlichkeit erkennbar wird, wie das beim »Denken« unbestritten ist. Wäre auch bei der Halacha wie beim »Denken« – gegen Leibowitz – eine tatsächliche dynamische Historizität anzunehmen, dann müsste das Fundament des Judentums anders als von Leibowitz beschrieben werden. Etwa so: Das beständige am Judentum ist dessen Bemühen sowohl im Bereich der Halacha wie im Bereich des Denkens stets neue jüdische Antworten auf die sich unentwegt verändernden Bedingungen der jüdischen Existenz in einer sich verändernden Welt zu finden. Einer solchen Konsequenz will sich Leibowitz entziehen, wie im Folgenden gezeigt werden wird. 131
Leibowitz, Emuna, S. 158.
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4.5.2 Ewige Konstanz und zeitliche Veränderlichkeit der Halacha Die Äußerungen von Leibowitz zum Wesen der Halacha, das heißt zum einen, dass sie ein un-historisches Gebäude sei, das den Angriffen der geschichtlichen Umstände unverändert getrotzt habe, und zum andern, dass sie angesichts der sich wandelnden historischen Umstände Änderungen erfuhr oder gar stets erfahren müsse, erscheinen auf den ersten Blick absolut widersprüchlich, weshalb man sich in der Forschungsliteratur genötigt sah, von einer gedanklichen Entwicklung und Positionsänderung Leibowitzens zu sprechen. Ob diese Annahme tatsächlich nötig ist, soll sich im Folgenden zeigen. Von ihm gibt es auf der einen Seite Äußerungen, welche die Halacha von jeder Veränderung durch die Geschichte ausnehmen, wie etwa die folgende: »Das kollektive Fundament, das in der Geschichte des Judentums existiert und Bestand hat, ist die Halacha. Die Halacha ist ihrem Wesen nach unhistorisch; sie drückt keine Auffassung irgendeiner historischen Wirklichkeit aus und auch die Veränderungen und Wandlungen, die sich in ihr im Laufe der Generationen vollzogen, sind nicht das Spiegelbild der sich verändernden historischen Wirklichkeiten. Die Halacha ist das einzige Fundament, die einzige Basis ihrer selbst, und ihre im Laufe der Generationen eingetretenen Veränderungen widerspiegeln ausschließlich die immanenten Beweggründe des halachischen Denkens.«132 Auch wenn Leibowitz von der A-Historizität der Halacha spricht, so waren ihm, wie er hier deutlich sagt, die in der Halacha tatsächlich eingetretenen Veränderungen nicht verborgen geblieben. Um diese nicht zu bestreitenden Änderungen in der halachischen Gesetzgebung zu erklären, nimmt er Zuflucht zu der Auffassung, dass diese halachischen Wandlungen nicht von den historischen Umständen verursacht wurden, sondern rechtsimmanente Weiterentwicklungen des halachischen Denkens seien, die gleichsam im geschichtslosen Raum vom halachischen Rechtsdenken, einer inneren Logik folgend, entwickelt wurden, also auch ohne alle geschichtliche Veränderungen vorgenommen worden wären.133 Manche dieser Veränderungen waren aber offenbar auch für Leibowitz zu dramatisch, als dass ihm diese Erklärung als ausreichend erschien. Deshalb fügt er in einem anderen Zusammenhang noch einen weiteren Gedanken hinzu, der die his132
Leibowitz, Emuna, S. 157; u. vgl. Leibowitz, Jahadut, S. 284: » […] die Tora und die Gebote, welche die Erkennungsmerkmale des Volkes Israel von dessen Beginn bis zum Beginn seines Zusammenbruchs als Volk im 18. – 19. Jahrhundert waren, waren kein ›historisches Gebilde‹ (das heißt Frucht historischer Umstände) […].« Vgl. J. D. Soloveitchik, Jüdisches Denken Bd. 5, Teil III, Kapitel I, zu Soloveitchik, Nr. 4.3.3.
133
Vgl. dazu oben, Teil III, Kap. I, Soloveitchik, Nr. 4.
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torischen Geschehnisse zwar in Rechnung stellt, ihnen aber keine konstitutive Bedeutung für die Rechtsentwicklung zumisst, sondern diese als flexibles Umgehen von geschichtlichen Hindernissen und als Ausweichen vor historischen Zwängen darstellt: »Das Judentum in seiner tatsächlichen Verwirklichung im Dienst an Gott, welcher in der Halacha geschieht (mit ihm gleich ist), ist a-historisch. Die ahistorische Natur der Halacha wird durch die Wandlungen und Veränderungen, die in ihr mit den Wandlungen und Veränderungen der historischen Wirklichkeit im Laufe der Zeiten eintraten, nicht beschädigt. Wenn einzelne Gesetze und halachische Anordnungen in Anpassung an die Veränderungen und Neuerungen der historischen Wirklichkeit sich veränderten oder absichtlich verändert wurden, bedeutete dies keinesfalls eine Anerkennung der Geschichte als konstitutivem Faktor der Halacha, sondern eine erzwungene Unterwerfung unter einen äußeren Zwang, dem man sich nicht widersetzen konnte. Wenn mit der Zerstörung des Tempels und dem Exil de facto die Mehrheit der Gebote aufgehoben wurden – fast die gesamte talmudische Ordnung [mit Gesetzen zu] den Saaten (Seraʽim) (außer den Segenssprüchen), zu den heiligen Dingen (Kodaschim) (außer den profanen), der Reinheiten (Toharot) (außer der Menstruationsunreinheit) und sogar ein zentraler Teil der [Gesetze zu ] den Schädigungen (Nesikin), und wenn mit der ungewollten Veränderung der wirtschaftlichen Umstände in der jeweiligen Lebenswelt der Juden neue Regelungen der Gesetze zur Geldwirtschaft erarbeitet wurden – brachten diese Tatsachen keine Veränderung hinsichtlich der Bedeutung und des Zieles der ursprünglichen Halacha, sondern nur hinsichtlich des Bemühens, die neue Wirklichkeit zu umschiffen. Mit anderen Worten, es trat dabei keinerlei Veränderung der Ziele und Werte in der Verwirklichung des Glaubens in der Halacha ein.«134 Diese zunächst etwas verwunderlich erscheinende Argumentation dient genau betrachtet einer Präzisierung des Leibowitzschen Begriffes der »A-Historizität«. Er will mit diesem Begriff sagen, dass die Halacha zwar Veränderungen unterworfen war und auch weiteren Veränderungen unterworfen werden kann, dass aber solche Veränderungen einem unveränderten und unveränderlichen Ziel dienen: dem Dienst an Gott. Mit anderen Worten, die halachischen Veränderungen werden nicht im Interesse der Menschen vorgenommen, nicht um deren Leben zu erleichtern oder zu verbessern, sondern alleine darum, um auch unter den veränderten Umständen der Aufgabe des Gottesdienstes vollumfänglich nachkommen zu können. Es bleibt also bei der theozentrischen Ausrichtung des halachi134
Leibowitz, Emuna, S. 163–164.
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schen Handelns und der Abwehr jeglicher anthropologischer Bestrebungen. Also a-historisch sind das Ziel und die Intention der Halacha, nicht aber die erzwungenen Veränderungen, um diese ursprüngliche Intention zu sichern. Das bedeutet: Weder die Geschichte noch der Mensch sind die Maßgabe der Veränderungen der Halacha. Das Gesetz ist nicht für den Menschen da, sondern der Mensch für das Gesetz, durch welches er seine Pflicht, den Dienst an Gott, erfüllt.135 Diese Differenzierung zwischen Intention und praktischer Ausführung der Halacha bringt Leibowitz – im Jahre 1951 – auf die Zwillings-Formel von einer praktisch realisierten (Halacha le-Maʽase) und einer ewigen Halacha (Halacha nizchit), wobei die Letztere als unveränderlicher Kompass für die irdische Realisierung dient, die ausschließlich in den Händen der Menschen liegt. Leibowitz bezieht sich bezüglich der Festlegung der praktischen Halacha durch den Menschen eigens auf die alte und berühmte Geschichte im Talmud, nach welcher ausdrücklich gesagt wird, dass in Sachen der Halacha-Entscheidung ausschließlich die menschlichen Gelehrten und nicht himmlische Wunder oder gar eine Himmelsstimme das Sagen haben, denn, wie es schon in der Bibel heißt: Die Tora ist nicht im Himmel, sondern den Menschen auf der Erde übergeben.136 Und er tut noch einen weiteren Schritt: Jede solchermaßen von den Menschen realisierte Halacha ist immer nur – auch dies ein alter rabbinischer Begriff – Horaʼat Schaʽa, das heißt eine zeitbedingte Verordnung. Zwei Jahre später verdeutlicht er: »Unsere gesamte Mündliche Tora – seit den ersten Schriftgelehrten (Sofrim) und Tannaiten aus der Zeit des Zweiten Tempels bis hin zu den allerjüngsten Rechtsentscheidern (Poskim) und Rechtslehrern (More Horaʼa) – ist das Werk von Menschen, welche die Halacha gemäß ihrem Verständnis festsetzten, zu Fragen, welche die Halacha bis dahin nicht behandelt hatte und bezüglich der sich von Epoche zu Epoche verändernden und erneuernden Wirklichkeit. Darum findet man im Talmud auch nicht die [Zitations-]Formel ›die heilige Schechina (Gottesgegenwart) sagte‹, sondern ›Abajje sagte‹, ›Rabba sagte‹ – also Juden wie wir. So wurde die Halacha zu allen Zeiten festgelegt, und so muss es auch heute geschehen.«137 Natürlich werden solche menschlichen Entscheidungen gemäß der menschlichen Vernunft festgelegt, was im Nachgang dieses Zitates eigens festgestellt wird.
135
Vgl. Leibowitz, Jahadut, S. 142.
136
Leibowitz, Jahadut, S. 143; zur talmudischen Geschichte siehe Jüdisches Denken Bd. 1,
137
Leibowitz, Jahadut, S. 145.
S. 231–232.
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Angesichts dieser unzweideutigen Auffassungen kann es nicht wirklich mehr als Widerspruch erscheinen, wenn Leibowitz die Rechtsgelehrten seiner Tage mit allem Nachdruck aufforderte, die Halacha gemäß den neuen, vor allem staatlichen und gesellschaftlichen, Gegebenheiten zu novellieren. Dies ist nötig, weil auch Leibowitz bezüglich der überkommenen traditionellen Halacha, wie schon die im vierten Band ders Jüdischen Denkens dargestellten amerikanischen »Holocaust-Theologen«,138 von einer »Exils-Halacha«, spricht, die das jüdische Leben für völlig andere Umstände als die gegenwärtigen gestaltete.139 In der Zeit vor der israelischen Staatsgründung konnte sich die Halacha nicht um allgemein öffentlich-gesellschaftliche und schon gar nicht um staatliche Fragen kümmern. Dies lag nicht in ihrem Befugnisbereich und diese politisch-allgemeingesellschaftliche Abstinenz der Halachisten war im Laufe der Jahrhunderte gar zur geheiligten, halachischen Routine geworden. Diese Situation hat sich seit der Staatsgründung Israels geändert. Dies ist eine Tatsache, welche selbst das offizielle Rabbinat in Israel offenbar noch nicht begriffen habe und auch nicht willens sei, dies zu begreifen, weshalb dessen Vertreter die alte Exils-Halacha unter den völlig veränderten Umständen konservieren wollten – so die Analyse von Leibowitz.140 Angesichts dieser umstürzenden Veränderungen müsse die Halacha nun nach neuen Festlegungen suchen, welche sich der im Exil vernachlässigten Bereiche annehmen. Da müssen staatliche und gesellschaftliche halachische Regeln gefunden werden, die es auch den observanten Juden ohne Nachteile gegenüber den nicht Observanten ermöglicht, voll am öffentlichen, am politischen und wirtschaftlichen Arbeitsleben teilzunehmen. Diese Probleme dürfen nun nicht mehr, wie es die mit der »Exilshalacha« verwachsenen modernen Halachisten noch immer tun, durch individuelle Regelungen gelöst werden, sondern müssen als gesellschaftliche und politische Konzepte in den Blick genommen werden. Aber auch dabei ist der alte theozentrische Kompass zu beachten. Es geht nicht darum, das Leben des Individuums zu erleichtern, seinen Bedürfnissen nachzukommen. Es muss darum gehen, den Gottesdienst, in seiner von Leibowitz verstandenen Form, im Rahmen von gesellschaftlichen und politischen Regelungen zu ermöglichen. Solche Regelungen zu formulieren ist aber, darauf muss nach-
138
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 582. 589. 606.
139
Leibowitz, Jahadut, S. 128: »Die Halacha in ihrer in der Geschichte herausgebildeten Gestalt […] geht davon aus, dass das Exil unter den Völkern oder die Herrschaft einer fremden Regierung in unserem Land Tatsachen sind, an denen nicht gerüttelt werden kann. Sie macht das Fehlen der national-staatlichen Unabhängigkeit des Volkes Israel und das Fehlen von Bürgerpflichten und bürgerlichen Dienstleistungen für die Juden zur Bedingung und Voraussetzung der Möglichkeit ihrer eigenen Existenz und besonderen Gestalt.«; vgl. ebenda, S. 129.
140
Leibowitz, Jahadut, S. 76. 85.
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drücklich hingewiesen werden, nicht eine Aufgabe des Staates, sondern eine Aufgabe der Religion. In diesem Sinne sagt Leibowitz: »Die Aufgabe einer neuen halachischen Gesetzgebung, der Festsetzung einer Halacha für eine im staatlichen Rahmen organisierten Gesellschaft unserer Tage, ist eine Aufgabe für die gesamte religiöse Öffentlichkeit. Aus historisch-psychologisch sehr wohl verständlichen Gründen sind die rabbinischen Lehr-Institutionen nicht in der Lage, dies zu leisten. Die religiöse Autorität der [gesamten] Öffentlichkeit, die Halacha zu gestalten – auch gegen die bestehende Halacha – ist über jeden Zweifel erhaben, allerdings unter der Bedingung, dass diese Öffentlichkeit dies nach ihrem besten Verständnis der Tora tut und aus dem aufrichtigen Bestreben, diese zu erfüllen. Das heißt, dass die Veränderungen [der Halacha] aus der Notwendigkeit und dem Zwang der Erfüllung der Tora geschehen, und nicht im Blick auf die Bequemlichkeit der Menschen und der Erfüllung ihrer Triebe. Der wesenhafte Unterschied zwischen diesem Zugang und dem des Reformjudentums und des religiösen Liberalismus ist der, dass die Letzteren die Religion gemäß den seelischen oder gesellschaftlichen Bedürfnissen gestalten, während die Bewegung der halachischen Novellierung die Religion gemäß den Bedürfnissen der Religion gestalten will. Diese Handlungsbefugnis [zur HalachaNovellierung] und deren Ausmaß können nicht durch die derzeit gültige Halacha beschränkt werden, allerdings muss die Novellierung das Material und die Leitlinien für ihre Veränderungen aus den Grundlagen und den Voraussetzungen der Halacha und ihren Quellen schöpfen.«141 Die Forderung von Leibowitz, eine neue, den modernen Verhältnissen im Staat Israel angepasste Halacha zu erarbeiten, wird hier, wie noch mehrfach bei ihm, mit heftigen Attacken gegen das rabbinische Establishment in Israel verbunden. Dieses Establishment, so Leibowitz, vertritt eine exilische Halacha, in der es darum ging, wie das Individuum, trotz der nichtjüdischen Gesellschaft sein halachisches Judentum lebte. Die Fortführung dieses Individualprinzips führe dazu, dass das israelische rabbinische Establishment de facto einen Kampf für eine jüdische Sekte, eben der orthodoxen und ultra-orthodoxen Juden, führe, indem sie für diese Observanten die Befreiung von – auch für sie notwendigen – Arbeiten forderten. Er nennt dies ein parasitäres142 Verhalten. Denn wenn es zum Beispiel um den Schabbat in diesem Staat geht, so genießen diese orthodoxen Führer samt ihrer Gemeinde auch am Schabbat all die Vorteile, die der öffentliche Dienst bereitstellt, die Wasser- und Stromversorgung, den Polizei- und Sicher141
Leibowitz, Jahadut, S. 55; vgl. ebenda, S. 106.
142
Leibowitz, Jahadut, S. 112.
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heitsdienst, die ohne Arbeit am Schabbat natürlich nicht aufrechterhalten werden können. Die Lösung der gegenwärtig etablierten Halachalehrer sei nun die, dass sie die Auffassung vertreten, dass diese Arbeiten von nichtreligiösen Juden verrichtet werden könnten, während die observant-Religiösen am Schabbat von solchen Diensten befreit werden müssten. Sprich, die einen Juden sollen am Schabbat die verbotenen Arbeiten leisten, von denen auch die sogenannten Frommen profitieren, womit sie sich aber nicht die Hände beschmutzen wollen. Diese Situation trifft auch für weitere staatliche Dienste zu, den diplomatischen Dienst, das Militär wie auch Industrien, deren Produktionsstrukturen nicht für einen Tag angehalten werden können, wie etwa die Öfen der Zementproduktion, die doch für die Errichtung von Häusern für alle Juden unverzichtbar sind. In dieser Situation, die keine Veränderungen staatlicherseits und von Seiten der Industrie erlauben, fordert Leibowitz eine Neuformulierung der defizitären bestehenden Halacha, welche solche Gemeinschaftsaufgaben vom Arbeitsverbot des Schabbat ausnehmen und ihnen damit die Halachawidrigkeit und das Sündhafte nehmen. Die beim derzeitigen Stand der Halacha einzige halachisch saubere Alternative wäre, so Leibowitz, dass die gesamte halachisch-religiöse Bevölkerung auf diese Dienste am Schabbat verzichtet, denn die exilische Lösung, einen Schabbesgoj anzustellen – der einst am Schabbat zum Beispiel die Öfen heizte – geht bei so großen Gemeinschaftsaufgaben für das gesamte jüdische Volk nicht. Es ist demnach eine Frage der moralischen Aufrichtigkeit entweder auf solche Dienste am Schabbat zu verzichten, oder die Schabbat-Halacha entsprechend neu zu formulieren, damit auch der Religiöse seine öffentliche Pflicht erfüllen kann: »Eine solche moralische Aufrichtigkeit muss man auch von den geistigen Führern des religiösen Judentums fordern […] Wenn sie wahrhaftig und in Unschuld glauben, dass die Zivilisation, welche auf der modernen Technik gegründet ist, sich nicht mit der Schabbat-Halacha vereinen lässt, dann müssen sie diese Zivilisation und deren Früchte, die nur durch eine Übertretung zu haben sind, verbieten; dann ist es ihnen nicht erlaubt diese Früchte zu genießen, es sei denn, sie erkennen, dass eine Arbeit, die zu deren Beschaffung notwendig ist, keine Schabbat-Übertretung bedeutet.«143 Leibowitz fordert demnach ein grundlegendes Umdenken in der HalachaFestsetzung. Der entscheidende Paradigmenwechsel muss darin stattfinden, dass die einst für das Individuum erarbeiteten sabbatlichen Arbeitsverbote und Ausnahmen auch für das gesamte Volkskollektiv formuliert werden, auf das gesamte Volk als Kollektiv wie auf den Staat übertragen werden. Dabei gilt es zu beachten, dass das Kollektiv nicht einfach die Ansammlung der Individuen darstellt, so 143
Leibowitz, Jahadut, S. 117.
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dass man die Probleme auf der Ebene der Individualgesetzgebung regeln kann. Denn: »Die öffentliche Gesamtheit – das Volk, der Staat, die Gesellschaft – ist nicht gleich der Summe der einzelnen Individuen, aus denen es zusammengesetzt ist, darum kann man die Gesamtheit nicht mit dem selben Maßstab wie seine Individuen messen. Schon das rabbinische Recht unterscheidet ja sehr wohl zwischen dem Einzelnen und der Gruppe (Rabbim). Darum gibt es Raum für eine ernsthafte halachische Klärung, ob die Bedeutung der Schabbat-Observanz durch das Volk und den Staat und ihre Einrichtungen dieselbe ist wie für das Individuum und sein Handeln. Vielleicht ist das Arbeitsverbot am Schabbat dem schwerwiegendsten Verbot zu vergleichen – nämlich dem Tötungsverbot –, das für jedes Individuum in all seinem persönlichen Tun ein Leben lang bedingungs- und ausnahmslos gilt. Dieses Verbot hat jedoch für eben dasselbe Individuum keine Geltung, wenn es als Soldat im Auftrag der staatlichen Gesellschaft handelt. Noch mehr, dem Staat obliegt es sogar seitens der Tora, Blut zu vergießen, zum Zweck der Bewahrung der Gemeinschaft, deren Individuen das Tötungsverbot einhalten. […] Bezüglich des Schabbat selbst sieht man ja, dass das Arbeitsverbot nicht für den Tempel und seine Arbeiten gilt, die doch eine Arbeit für Israel sind, und nicht die Arbeit eines Israeliten für seine eigenen persönlichen Bedürfnisse und Genüsse. Man muss daher mit allem Ernst darüber nachdenken, ob nicht den Arbeiten für Israel, das heißt allen nötigen Aufgaben und Dienstleistungen des Staates in unseren Tagen in der Halacha nicht derselbe Stellenwert zuzuschreiben ist, die einst, als der Tempel noch stand, den Opfer-Arbeiten zugeschrieben wurde.«144 Leibowitz weiß demnach sehr wohl, dass diese soziologisch-politische Erkenntnis vom Unterschied der sozialen Gesamtheit von der bloßen Addition seiner Mitglieder, die er sogar auf die alte Halacha zu beziehen weiß, halachische Veränderungen erzeugen kann, die von der geheiligten Tradition nicht unerheblich abweichen.145 Seine Aussage, die Halacha sei a-historisch, das hat die obige Darlegung gezeigt, bedeutet demnach nicht, dass sie unveränderlich sei. Das A-historische hat sich als die ideale Richtschnur der Halacha entpuppt, die bei der jeweiligen Neuformulierung der Gebote zu beachten ist. Allerdings gibt Leibowitz ja auch zu, dass diese novellierenden Entscheidungen von den Halacha-Gelehrten oder von der religiösen Öffentlichkeit jeweils nach deren bestem Wissen und Gewissen 144
Leibowitz, Jahadut, S. 119.
145
Leibowitz, Jahadut, S. 120.
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vorgenommen werden. Und gerade dies, so scheint es, ist das Schlupfloch der Historie in die angebliche A-historizität der Halacha. Wie dies der Jerusalemer Philosoph Hugo Bergmann in einem Brief an Leibowitz einmal formulierte: »Die Halacha verändert sich, unsere moralischen Auffassungen verändern sich. So stellt sich die schwierige Frage: Was ist der fixe Angelpunkt in den sich ständig verändernden Erscheinungen. Ich muss bekennen, dass ich dafür keine Antwort weiß.«146 Auch wenn es Bergmann für möglich hält, dass es in der Religion einen solchen Fixpunkt gibt, so bleibt doch die Tatsache, dass sich eben auch bei den Halachisten die Moralauffassungen und die menschliche Vernunft verändern, wodurch der Geschichtlichkeit eine »humanistische« Pforte in die Halacha geöffnet bleibt – wider das Vermischungsverbot von Leibowitz. In einem längeren Artikel aus dem Jahre 1952 fasst Leibowitz die These vom metaphysischen Fixpunkt und der historischen Gegebenheit der Halacha nochmals so zusammen: »Die Gestaltung der Tora in ihrer halachischen Gestalt, die Kristallisation dieser Halacha als Struktur von bestimmten festgelegten Gesetzen – dies ist ein Prozess, der sich in der Geschichte abspielte, der sich an jedem Ort und zu jeder Zeit auf dem Hintergrund bestimmter Voraussetzungen vollzog, die von den Lebensbedingungen des jeweiligen Ortes und der jeweiligen Zeit herrührten. Die letzte Ausformung der Halacha in der Gestalt, die alleine als Formung des Judentums auf uns kam, als Lebensweise und traditionelles Brauchtum, das die Heiligung der Generationen trägt, geschah auf der Grundlage einer Voraussetzung, welche die notwendige Bedingung für ihre Existenz als ›Tora-Herrschaft‹ bildete, nämlich […] das Fehlen einer staatlichen Unabhängigkeit und staatlicher Funktionen des Volkes Israel sowie das Fehlen von Bürgerpflichten und bürgerlichen Diensten für die Juden. Die Anerkennung dieser grundlegenden Tatsache hängt jedoch in keiner Weise von den metaphysischen Annahmen über die Quelle der Tora ab.«147 Mit anderen Worten, wie dies Leibowitz anschließend nochmals selbst formuliert: Auch wenn man an die Ewigkeit der himmlischen Tora glaubt, darf man deren Entwicklung, diese »historischen Prozesse«, die sich unter bestimmten zeitbedingten Bedingungen vollzogen, nicht ableugnen. Denn: »Die Halacha ist die göttliche Tora in menschlicher Handhabung (Manipulazia), einer legitimen Handhabung.«148
146
Zitiert bei Leibowitz, Jahadut, S. 282.
147
Leibowitz, Jahadut, S. 128–129.
148
Leibowitz, Jahadut, S. 149.
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5.
Staat und Religion – unterschiedliche Elemente der jüdischen Identität
Jeschajahu Leibowitz ist in der Gesellschaft Israels wie gesagt als enfant terrible wahrgenommen worden, das sowohl nach Seiten des Staates wie nach Seiten des orthodoxen rabbinischen Establishments nicht zimperlich austeilte wie er auch den Ḥaredim harsche Kritik entgegenschleuderte. Diese Unangepasstheit nach allen Seiten hat mit seinen rigoristischen Grenzziehungen zu tun, die keine Überlappungen von Staat und Religion dulden wollen. Das bedeutet allerdings nicht, dass er eine der beiden Institutionen ablehnte, im Gegenteil, Staat und Religion sind für ihn gleichermaßen unverzichtbare Größen im Leben der Menschen und insbesondere der Juden. Allerdings haben beide eine für ihn klar definierte Rolle im Leben des Individuums wie des Volks-Kollektivs.149
5.1
Der Staat
Der Staat ist für das Leben der Menschen eine Notwendigkeit, weil er für die Menschen in zweierlei Hinsicht deren Bedürfnisse bedienen und sichern muss, zunächst die Bedürfnisse der Individuen und zum andern die des Volkes als Ganzem. Auf der individuellen Ebene muss der Staat das Leben der Menschen untereinander mithilfe seiner Machtmittel regulieren, weil wegen der boshaften Natur der Menschen, der eine den andern verschlingen würde, wie dies schon der Talmud sagt: »Wäre nicht die Furcht vor dem Staat (Malchut, Königsherrschaft), würde der eine den andern lebendig verschlingen«.150 Auf der anderen Seite muss der Staat die Existenz des Volkes als Ganzem sichern – wofür Leibowitz auch eine Armee als erforderlich hält.151 Beides ist eine Notwendigkeit. Und weil diese Aufgaben des Staates Notwendigkeiten sind, kann der Staat – nach dem oben zu den Werten schon Gesagten – kein Wert an sich sein.152 »Da der Staat eine Sache der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ist, kann er ohnehin nicht dem Bereich der Werte zugehören. Alles, was der Mensch nötig hat – ist ihm aufgezwungen; bezüglich dieser besteht keine Situation der Bewertung, Entscheidung oder Wahl. Werte sind Dinge, welche von der Entscheidung und Wahl des Menschen abhängen, die er auf sich 149
Zum Verhältnis beider bei Leibowitz siehe M. Halinger, Jeschajahu Leibowitz ka-Hoge datimedini (J. Leibowitz als religiöser und politischer Denker), in: Sagi, A. (Hg.), Jeschajahu Leibowitz. ʽOlamo we-Haguto, S. 187–208.
150
Babylonischer Talmud, Avoda Sara 4a; u. vgl. Mischna, Avot 3, 2.
151
Leibowitz, Jahadut, S. 70; Emuna, S. 226.
152
Leibowitz, Emuna, S. 137.
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nimmt und sie als Ziel und Zweck darstellt, als etwas, nach dem zu streben ist, das heißt dieses Bestreben ist nicht durch die Natur des Menschen gegeben.«153 Wo hingegen der Staat als Wert an sich gesehen wird, eine Einstellung, die sich etwa im Bereich der Erziehung und im Verhältnis des Einzelnen zum Staat zeigt, da spricht Leibowitz wiederholt von einer faschistischen Einstellung: »Die Auffassung vom Staat als einem Wert, ist das Wesen des Faschismus«.154 Schon oben wurde in einem ausführlichen Zitat darauf hingewiesen, dass der Staat zu keiner der beiden für Leibowitz legitimen Werteskalen – das heißt zu Dingen, die für den Menschen nicht notwendig sind – gehört, weder zu der religiösen, noch zu der humanistisch-atheistischen, aber: »Ihnen gegenüber gibt es allerdings auch die Sichtweise des Staates als einem Wert. Das heißt, dass sämtliche Angelegenheiten des Menschen, dessen Probleme, die Bedürfnisse des Menschen sowie deren Beziehungen untereinander und das Problem der Lösung dieser Probleme, allesamt nach dem Kriterium der Stellung des Menschen vor seinem Staat festgelegt werden. Diese Sichtweise nennt man Faschismus. Das Wesen des Faschismus ist die Betrachtung des Staates als Wert [an sich]. Das ist eine der Quellen des Frevels und des Bösen.«155 Leibowitz spricht indessen nicht nur generell vom Faschismus als politischer Erscheinung. Das Aufwühlende ist vielmehr, dass er diesen Stachel gegen seine eigenen Landsleute im Staat Israel richtet. An solchen Israel-kritischen Stellen konkretisiert er seine Vorwürfe gegen eine Auffassung vom Staat als Wert an sich, das heißt, worin er diese faschistischen Elemente sieht. So zum Beispiel in einem Passus, in welchem er beklagt, dass im heutigen Staat Israel die alte Definition des jüdischen Volkes verloren gegangen ist, die für ihn natürlich nur in der Auffassung vom jüdischen Volk als dem Träger des Judentums, sprich der jüdischen Religion in ihrer Halacha-bestimmten Form besteht, und an die Stelle der Religion nun der Staat als absoluter Wert getreten sei: »Gewiss gibt es Juden im Staat Israel, für die das Volk ihr Gott ist, der Staat ist die Religion, und die Nationalität ist die Tora und der oberste Wert. Es gibt Faschisten unter uns, manchen ist dies bewusst, viele sind es jedoch un153
Leibowitz, Emuna, S. 137–138.
154
Leibowitz, Emuna, S. 138, u. vgl. Emuna, S. 138. 194. 200. 210. 221; Jahadut, S. 242. 244.
155
Leibowitz, Emuna, S. 200; Leibowitz, Jahadut, S. 242.
250. 267.
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bewusst und sie halten sich mit Begeisterung an den Gedanken, dass das jüdische Volk durch seinen Staat definiert ist, so dass als ›Jude‹ gilt, wer in seiner Tasche einen Personalausweis (Identitätsausweis) trägt, der von einem Beamten des Innenministeriums der Regierung Israels ausgestellt ist.«156 Dieses so durch einen israelischen Staatsstempel identifizierte Volk ist nach Auffassung von Leibowitz ein neues, ein anderes Volk, auch wenn es den nichtgeschützten Titel »jüdisch« trägt – angemessener wäre stattdessen die Bezeichnung ›israelisches Volk«. All dies kann er natürlich nur sagen, weil er ein statisches Identitätsverständnis vom »Judentum« hat, welches nach seiner Auffassung das unverzichtbare Spezifikum des jüdischen Volkes im Staat Israel wie in der Diaspora sein müsse, eben die halachische Seite der Religion des rabbinischen Judentums.157 Da dieses traditionelle Judentum aber in Israel wie in der Diaspora im Untergang begriffen sei, sieht er an seiner Stelle die folgende neue Identität entstehen: »Die Gesellschaft dieses neuen Volkes, das sich zunehmend über den Staat darstellt, ermangelt jeglichen spezifischen nationalen Inhaltes. Der Inhalt dieses Volkes ist nichts als ein Abklatsch oder die Nachahmung des Inhaltes der gesamten westlichen Welt. Was wird seine Besonderheit sein? Wodurch wird sich seine nationale Identität ausdrücken? Durch nichts als seinen Staat, das heißt die Souveränität, die Herrschaft, durch eine Fahne, eine Armee, durch den Kampf, die Eroberung, den Sieg, sprich das gesamte Geflecht der faschistischen Werte. Der Staat, gedacht, der Rahmen für ein spezielles nationales Leben zu sein, wird zu einer Größe an sich. Das ist ein Prozess dessen stufenweise Entfaltung wir vor unseren Augen beobachten. Bewusste Faschisten gibt es wenige unter uns, aber die unbewussten sind sehr verbreitet. Aber diejenigen, welche den unbewussten Faschismus hassen, beginnen sich und den anderen die Frage zu stellen: Wozu diesen Staat erhalten, ihn verteidigen, für ihn zu sterben, wenn es hier kein Volk mit einem spezifischen Inhalt gibt, für den man diesen Staat erhalten muss?«158 Das staatliche Leben, so betont Leibowitz in diesem Zusammenhang, habe für die jüdische Tradition – sprich die rabbinisch-jüdische Tradition – keine Bedeutung. Paradigmatisch hierfür ist ihm das Ḥanukka-Fest, das nicht die nationalen Siege der Makkabäer feiert, sondern eben nur das Religiöse, das Lichtwunder 156
Leibowitz, Emuna, S. 209. 194; Leibowitz, Jahadut, S. 244.
157
Vgl. Leibowitz, Emuna, S. 210; Leibowitz, Jahadut, S. 266.
158
Leibowitz, Emuna, S. 210; vgl. entsprechend, ebenda, S. 221; u. vgl. Leibowitz, Jahadut, S. 250. 267.
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und die Wiederherstellung des legitimen Tempelkultes. Dieses staatsneutrale Judentum kenne darum auch keine Gedenkfeiern für die großen Eroberungen der biblischen Könige. Folglich kann er auch in der zionistischen Einsammlung der Exile keinen religiösen Wert, keinen »Beginn der Erlösung« erkennen, wie dies viele religiöse Juden in der Gegenwart sehen, die auch in dieser Darstellung schon genannt wurden.159 Man vergleiche diese Auffassung gegenüber der Ansicht des Jerusalemer Philosophen Eliezer Schweid, der es aus historischnationalen (zionistischen) Gründen für unabdingbar hält, etwa den Unabhängigkeitstag des Staates Israel (Jom ha-ʼAzmaʽut) als gesamtjüdischen Feiertag zu begehen, wie es inzwischen sogar das Conservative Judaism tut.160 Man mag sich nun fragen, wie Leibowitz dazu kam, einen großen Teil seiner Mitbürger in Israel des Faschismus zu zeihen? Die Antwort kann nur lauten: Es ist seine einseitige, ja fast eigenwillige Definition von Faschismus. Wo die Existenz des jüdischen Volkes nur über die halachische Religion anerkannt wird und alle anderen kulturellen – ja auch ethnischen – Faktoren nicht zählen, verfällt Leibowitz selbst einem fast faschistoiden, alle Juden gleichschalten wollenden, Absolutheitsanspruch in der Definition des »wahren« Judentums. Wer nur ein einziges, nicht einmal von allen religiösen Juden anerkanntes, Kriterium für das Recht auf separate Existenz des Judentums als Volk und Staat proklamiert, kann zu solchen wie der folgenden Schlussfolgerung kommen: »Die Behauptung der Existenz eines Volkes, das keinen spezifischen kulturell-geistigen Inhalt hat, und keinen spezifischen Lebenswandel – abgesehen vom Staat, das heißt abgesehen vom Apparat der Herrschaft – huldigt dem Kern der faschistischen Ideologie.«161 Die Definition des Faschismus von Leibowitz ist eine direkte Folge seines Werte-Begriffs, bei dem es letztlich nur die Alternative zwischen religiöshalachisch und atheistisch gibt, wobei für das Judentum nur der religiöse Wert gelten dürfe. So wie für weitere kulturelle und Bewusstseinsfaktoren hier kein Raum gegeben sein darf, so auch nicht für den Staat. Hinzu gilt es weiteres zu bedenken: Abgesehen von der überaus schwierigen Unterscheidungsmöglichkeit zwischen dem Staat als Notwendigkeit für das menschliche Zusammenleben, die Leibowitz ja anerkennt, und dessen Sicht als Wert, die er ablehnt – eine Frage in welcher Leibowitz ja gewiss auch gegen Theodor Herzl geht162 – steht er im Rahmen der wissenschaftlichen Versuche, den Faschismus zu definieren ziemlich einsam da. In den wissenschaftlichen Definitionsversuchen von Faschismus ist es, soweit ich sehe, nicht der Staat als solcher, der infrage gestellt wird, sondern eine bestimmte Qualität des Staates, die 159
Leibowitz, Emuna, S. 13. 194; und vgl. Jüdisches Denken Bd. 4, S. 287–317. 318–408.
160
Siehe oben, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Die jüdischen Denominationen, Nr. 5.2.3.2.
161
Leibowitz, Jahadut, S. 266–267.
162
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 142–145.
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ihn faschistisch macht. Meist ist dies de facto eine ganze Gruppe von Phänomenen und Haltungen, die den faschistischen Staat prägen – dazu gehören zum Beispiel einzelne Phänomene wie die Führerpersönlichkeit, die nationale Besonderheit, die kulturelle Gleichschaltung etc. Der Staat als solcher wird dabei nicht genannt – es gibt ja anerkennungswürdige demokratische Staaten, die man nicht als faschistisch bezeichnen kann. Das heißt zum Faschismus gehört nicht nur das Faktum des Staatlichen – wenn überhaupt –, sondern eine ganze Reihe von Qualifikationen, welche den Staat erst zum faschistischen machen, Ideologien, Bünde, politische Konstellationen, etwa gegen den Marxismus, gegen verschiedene soziale Gruppierungen und dergleichen. Im übrigen gibt es Faschismus auch ohne Staat in den verschiedenen Bewegungen. Dass Staatlichkeit als solche nicht ein Zeichen des Faschismus ist, scheint Konsens zu sein. Das heißt dann wohl, dass der Staat als notwendige Form menschlichen Zusammenlebens sehr wohl als ein Wert aufgefasst werden kann, ohne dass dies als faschistisch zu bezeichnen wäre.163 Eine gewisse Nähe zu der Auffassung von Leibowitz zeigt sich indessen bei der Definition des Faschismus als politischer Religion wie sie zum Beispiel in dem Sammelband von Roger Griffin, Fascism, Totalitarianism and Political Religion164 beschrieben wird. Besonders eindrücklich ist dies bei Emilio Gentile, der in diesem Band seine voranschreitende Definitionstätigkeit zum Begriff des Faschismus dokumentiert. Da Leibowitz den Faschismus als Gegensatz zum für ihn letztlich einzig legitimen Wert, das heißt der Religion, darstellt, und dagegen polemisiert, dass die Wert-Ausstattung des Staates diesen zur Gottheit ernennt, sei aus den verschiedenen hier passenden Definitionen Gentiles die folgende herausgegriffen: »Nachdem der Faschismus zur Macht gekommen war, richtete er eine Laienreligion ein, indem er den Staat sakralisierte und einen politischen Kult der Massen verbreitete, im Bestreben eine männliche und tugendhafte Bürgerschaft zu schaffen, welche Leib und Seele der Nation widmet. Um seine Doktrin zu verbreiten und die Massen zum Glauben an seine Dogmen und zum Gehorsam gegenüber seinen Geboten, und die Implantierung seiner Ethik und Lebensstils anzuregen, hat der Faschismus ein beachtliches Maß an Kapital und Energie aufgewendet, um diese Energien von anderen Feldern
163
Zu den modernen Faschismusdefinitionen vgl. z. B. R. Kühnl, Faschismustheorien. Ein Leitfaden. Aktualisierte Neuauflage, Heilbronn 1990; W. Wippermann, Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion, Darmstadt 1975; B. Weil, Faschismustheorien. Eine vergleichende Übersicht mit Bibliographie, Frankfurt a. M. 1984.
164
Roger Griffin, Fascism, Totalitarianism and Political Religion, Abingdon 2005.
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umzulenken, welche vielleicht für das Interesse von Regime und Volk wichtiger gewesen wären.«165 Gentile beschreibt mit solchen Darlegungen den Faschismus als politische Religion und kommt damit tatsächlich Leibowitz nahe, der ja auch das Hauptelement des Faschismus darin sieht, dass er den Staat zu Gott macht. Aber eine solche Auffassung erscheint nur aus der Sicht einer behaupteten »wahren«, rivalisierenden Religion gerechtfertigt, denn nur dann, wenn in der Religion ein »Wert«, gar der einzig legitime Wert, gesehen wird, erscheint der als Wert gesehene Staat als faschistischer Anti-Gott. Wo der Staat nicht unter dem Gesichtspunkt der »Wahrheit«, sondern als anthropologisches kulturelles Phänomen gesehen wird, kann man nicht von einer Sakralisierung sprechen, auch wenn man im Staat einen Wert sieht – was aber nach Leibowitzens Religionsverständnis ausgeschlossen sein muss und deshalb als Sakralisierung, sprich faschistisch betrachtet wird. Aus dem Gesagten folgt, dass die Denunzierung der israelischen Bürger als Faschisten aus dem kaum weniger religions-faschistischen einseitigen Rigorismus von Leibowitz folgt und einer wissenschaftlichen Verifizierung kaum standhalten wird und darum auch nicht zu Globalangriffen gegen diesen Staat und seine Bevölkerung taugt.
5.2
Die besetzten Gebiete und das Überleben des Judentums
Die im vorangegangenen Kapitel skizzierte Sicht des Staates durch Leibowitz bestimmte natürlich auch seine Meinung hinsichtlich der im Sechstagekrieg von 1967 eroberten Gebiete jenseits der sogenannten »grünen Grenze«. Seine vehemente Forderung nach bedingungsloser Rückgabe dieser Gebiete des biblischen Samaria und Judäa, hat er, wider die damals herrschende Euphorie, schon zwei Jahre nach diesem Krieg erhoben.166 Ich verwende hier bewusst die biblischen Namen der besetzten Gebiete, wie sie im offiziellen israelischen Sprachgebrauch üblich sind, um anzuzeigen, dass für Leibowitz diese historischen und biblischen Bezugnahmen außerhalb seiner oben beschriebenen Werte- und Heiligkeitshierarchie stehen und er deshalb mit diesen Gebieten unter Absehung jeglicher von ihm differierender Wertsetzungen durch seine Mitbürger umgehen konnte. Das 165
E. Gentile, Fascism, Totalitarianism and Political Religion: Definitions and Critical Reflec-
166
So zum Beispiel in einer Rede vor Studenten in Jerusalem unter dem Titel Über die Gebiete,
tions on Criticism of an Interpretation, in: Griffin, Fascism, S. 55. den Frieden und die Sicherheit, nun in: Leibowitz, Emuna, S. 225–226, wieder in einem öffentlichen Dialog-Gespräch mit Ehud Ben ʽEser von 1970, publiziert in: Leibowitz, Jahadut, S. 270–274; und nochmals in einem Vortrag von 1980, Juden und Araber in Israel, in: Leibowitz, Emuna, S. 227–233.
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heißt, seine klare und eindeutige Forderungen zur Rückgabe dieser Gebiete, auch ohne sie eventuell als Faustpfand für Sicherheit und Friedensverhandlungen in der Hand zu behalten, müssen vor dieser seiner prophetisch-rigoristischen Wertehierarchie gesehen werden, nach der es für einen Juden nur den Ober-Wert »um Gottes willen« und die daraus abgeleiteten Konkretisierungen der Halacha geben konnte. Hinzu kommt, dass Leibowitz auch innerhalb der HalachistenZunft seine eigenen Wege bezüglich dieser Fragen geht. Man vergleiche dazu etwa die Auffassungen von Zwi Hirsch Kalischer (1795–1874),167 mit seiner halachischen Forderung zur Besiedelung des Landes Israel, was natürlich die traditionellen Grenzziehungen einschließt. Ihm gleich können sich die »Siedler« auf ihnen genehme Halachisten berufen. Das bedeutet, dass auch die Maxime »um Gottes willen« sehr kontrovers ausgelegt werden kann und wird. Für seine Forderung der Rückgabe der besetzten Gebiete führt Leibowitz, gemäß seiner Werteskala zunächst vor allem Argumente an, welche nach seiner Auffassung die Auswirkungen dieser Besatzung auf das Judentum (als Religion) und das es zu tragen verpflichtete jüdische Volk, im Mutterland wie in der Diaspora sind. Beispielhaft für diese Sorgen ist die folgende Antwort auf die Frage von Ehud Ben-ʽEser, was denn den Juden angesichts einer so hoffnungslosen Konfliktsituation die Kraft geben könne, eine so düstere Zukunft ohne Hoffnung auf einen Frieden auf sich zu nehmen. Die Antwort von Leibowitz lautet: »Die Antwort, die es uns ermöglicht, uns mit dieser Zukunft abzufinden, ist, dass wir dies um unseres jüdischen Staates willen tun, das heißt um unserer Unabhängigkeit willen, in deren Rahmen die Probleme der historischen Kontinuität des jüdischen Volkes und des Judentums entschieden werden wird. Wenn der Staat nicht als Rahmen für dieses Bestreben dient, – das heißt, wenn dieser Staat kein jüdischer Staat sein wird –, besteht kein Grund ihn am Leben zu erhalten. Der Staat repräsentiert keinen Wert, sondern er ist nur ein Instrument – das für die Verwirklichung und Erhaltung von Dingen nötig ist, die einen Wert ausmachen: Und was uns betrifft, ist dieser Wert das jüdische Volk und sein Judentum.«168 Um es pointiert zu sagen, der jüdische Staat hat die Aufgabe, das jüdische Volk zu erhalten, damit dieses das Judentum in seiner überkommenen traditionellen Form weitertragen und erhalten werden kann. Dafür muss dieser Staat ein »jüdischer« sein, kein binationaler und auch kein solcher, dessen Jüdischkeit durch eine demographische Mehrheit von nichtjüdischen Bürgern an dieser Aufgabe gehindert wird – gerade Letzteres ist ein wesentliches Argument für Leibowitz, 167
Vgl. zu ihm Jüdisches Denken Band 4, S. 34. 60. 74. 76. 112–117. 289.
168
Leibowitz, Jahadut, S. 270.
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die Rückgabe der besetzten Gebiete zu fordern, weil sie mit ihren – damals – 1,5 Millionen Muslimen binnen kürzester Zeit dank der natürlichen Geburtenraten aus diesem Staat, diesem »Großisrael«, einen nicht mehr jüdischen Staat machen würden.169 Es ist also das Ziel der Erhaltung der jüdischen Religion – im Format von Leibowitz –, die ihn umtreibt, weniger die Sicherung eines Lebensraumes von Menschen, die sich Juden nennen, ohne aber – nach seinem Maßstab – wirklich solche zu sein. Die Problematik der besetzten Gebiete hat aber, so Leibowitz, nicht nur Auswirkungen im Innern, sondern auch auf die Beziehungen zwischen den Juden in Israel und denen in der Diaspora. Da die Hauptsorge des Staates Israel wegen der Besatzung vor allem der Sicherung der Herrschaft der Juden über die Araber gelten müsse und demgegenüber die Pflege der jüdischen Fragen in den Hintergrund träten, würden die Juden in der Diaspora ihre psychischen Bande zu diesem israelischen Staat lockern, der nicht mehr wirklich ihre, die jüdischen Probleme beachte. Das Problem der Beherrschung der arabischen Frage sei folglich – vergleichbar dem Libanon – im Fokus der israelischen Politik. Deshalb: »Dieses Problem wird das spezifische Problem des Staates Israel sein, ohne einen Bezug zu den Problemen des jüdischen Volkes in seiner Gesamtheit und den Problemen des Judentums [als Religion] innerhalb des jüdischen Volkes selbst. Darum wird auch das psychische Band zwischen diesem Staat und dem jüdischen Volk der weiten Welt abgeschnitten, so dass dem Staat das Bewusstsein verloren geht, ein jüdischer Staat zu sein. Er wird, ähnlich dem Libanon, ein levantinischer Staat sein, der nichts als ein Herrschaftsund Verwaltungsapparat sein wird, ohne jeglichen spezifischen geistigen und kulturellen Inhalt. Die Juden in der Diaspora, die ein bleibendes jüdisches Bewusstsein haben, werden an diesem Staat kein Interesse haben, weshalb auch die Hoffnung auf eine größere jüdische Einwanderung aus der Diaspora auf null zustrebt.«170 Es zeigt sich auch in diesem Votum, dass Leibowitz ein bestimmtes – statisches – Bild vom Judentum zum Angelpunkt seines Denkens und seiner Kritik und seiner politischen Agenda macht. Unabhängig von der Frage der jüdischen Kultur, beziehungsweise Religion, die in diesem jüdischen Staat eine sichere Heimstatt haben sollte, macht sich Leibowitz auch allgemeine soziale und sozialpsychologische Sorgen, die ein Besatzungsregime auf beiden Seiten erzeugt, Ungleichbehandlungen, Bestechlichkeit, polizeistaatliche Entwicklungen, Widerstandsbewegung und Terror, Min169
Dazu siehe unten, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. III, zu Goodman, Nr. 3.2.
170
Leibowitz, Emuna, S. 226.
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derwertigkeits- und Überheblichkeitsgefühle – hier argumentiert er unabhängig von seiner jüdischen Kulturpolitik und benennt Gefahren, die sich aus einer solchen Situation fast zwangsläufig ergeben.171 Dies sind zutreffende Analysen für den sozialpsychologischen und innenpolitischen Bereich, die als berechtigte und ernst zu nehmende Mahnungen für die gesellschaftlichen Entwicklungen innerhalb Israels beachtenswert sind. Dass damit allerdings noch nicht die viel komplexeren Probleme und Wirkfaktoren für einen nahöstlichen Frieden wirklich ausgelotet sind, zeigen nicht zuletzt die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten, die bis Europa herüberschwappen. Leibowitz bleibt hier wie seine biblischen Vorbilder ein Prophet mit wichtigen Teilwahrheiten. Als Teil der Probleme sieht er allerdings auch die im Laufe der Geschichte entstandenen historischen Rechte und Ansprüche auf beiden Seiten der Konfliktlinie, die nur durch eine klare Separierung der beiden Völker einen endlosen Vernichtungskampf verhüten könnten.
171
Leibowitz, Emuna, S. 225–233.
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II.
JÜDISCHE IDENTITÄT ALS MULTIKULTURELLER HERMENEUTISCHER PROZESS – EINE BRÜCKE ZWISCHEN VERGANGENHEIT UND GEGENWART UND ZWISCHEN DEN PARTEIUNGEN – AVI SAGI (GEB. 1953)
1.
Biographisches
Avi Sagi wurde 1953 als Abraham Schweizer geboren. Er wuchs in der ultraorthodoxen Gemeinde im israelischen Bat Jam auf und war Zögling der zionistisch-religiösen Jugend-Bewegung Bne Akiva. Nach dem Militärdienst lebte er mehrere Jahre in der gleichfalls orthodoxen Stadt Bne Brak. Neben weiteren Jeschivot besuchte er die Netiv-Meʼir Jeschiva in Jerusalem, um 1975 an die BarIlan Universität zu wechseln, wo er 1980 einen MA in Philosophie erlangte und 1987 seine Dissertation über Søren Kierkegaard vorlegte. 1999 wurde er ordentlicher Professor für Philosophie ebenda. Zugleich ist Sagi seit 1982 Senior Research Fellow und Fakultätsmitglied am Jerusalemer Shalom-HartmanInstitut, an dem er ein Projekt zur militärischen Ethik leitet, das einen MoralKodex für die Armee erarbeitet. An der Bar Ilan Universität gründete er 1999 ein Programm für Hermeneutik und Kulturwissenschaften und war Mitbegründer der Forschungen zur Philosophie der Halacha.
2.
Grundlinien des Denkens
2.1
Europäische und analytische Philosophie
Es ist nicht einfach, einen Denker wie Avi Sagi einzuordnen oder gar zu rubrizieren, denn er vertritt nicht ein mehr oder weniger geschlossenes Denksystem, das gleichsam das gesamte Sein von Gott bis auf die Erde umschließt. Außerdem ist er kein jüdischer Philosoph, der sein Denken stets von den vorhandenen jüdischen Quellen her aufbaut, um so gleichsam einen alten Bau mit neuen Stockwerken zu versehen. In einem 2013 gegebenen Interview mit der israelischamerikanischen Philosophin Hava Tirosh-Samuelson nach einer philosophischen Selbstdefinition befragt, sagte er: »Das einzige was ich über mich selbst sagen kann ist, dass ich eine neugierige Person bin und dass die Philosophie für mich ein Werkzeug ist, um die Wirklichkeit und die menschliche Existenz zu verstehen. Dabei meine ich nicht die menschliche Existenz allgemein, sondern meine eigene tatsächliche © Campus Verlag
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Existenz, als eine Person an einem bestimmten Ort, Zeit und Kultur. So kann ich die Frage, was für ein Philosoph ich bin, nicht wirklich beantworten, weil mir in der Philosophie fast nichts fremd ist. Das einzige, das ich sagen kann betrifft die Beziehung zwischen meiner eigenen philosophischen Arbeit und meiner Arbeit in der jüdischen Philosophie. Meine philosophische Grundausbildung hat beides betont, die kontinentale [d. h. europäische, deutsch-französische] und die analytische Tradition.«1 Von den europäischen Philosophen, mit denen er sich regelmäßig auseinandersetzt nennt er selbst Hegel, Marx, Heidegger, Nietzsche, Camus und Ricoeur, wozu man außerdem Søren Kierkegaard nennen muss, über den er seine Doktorarbeit schrieb und dem seine große Liebe gilt.2 Diese europäischen Namen, die durch eine große Vielfalt weiterer Denker und auch Literaten aus der neuen und alten Welt verlängert werden kann, sind in allen seinen Werken präsent, wie auch das unerlässliche Instrumentarium der analytischen Philosophie. Die ethisch-moralische Befleckung Heideggers, die er sehr wohl sieht, wird für ihn durch dessen Schüler Hans-Georg Gadamer ausgeglichen, der für ihn in einem doppelten Sinn steter Gesprächspartner ist: »Zunächst als Philosoph, und sodann als Person, welche die tiefe Bedeutung des menschlichen Wesens als homo hermeneuticus, als deutendes Wesen versteht. Gadamer begriff, dass das Deuten (Interpretieren) ein Akt ist, der sowohl Rezeption wie auch Kreativität umschließt. Die meisten meiner Werke, und gewiss jene über jüdische Themen […] haben einen Gadamerschen Ausgangspunkt. Im Allgemeinen fühle ich mich den Phänomenologen und Existentialisten näher. Mit ihnen führe ich meine Kämpfe und Kriege, sei es als beharrlicher intellektueller Kampf mit Lévinas, oder […] mit Nietzsche und Heidegger über andere Gegenstände, aber dies ist mein kulturelles Milieu.«3 Diese Selbstverortung ist umso verwunderlicher, als sich Sagi als einen observanten frommen Juden bezeichnet4 – ich selbst habe ihn nie ohne Kippa gesehen – und er selbst war wesentlich mit daran beteiligt, eine Fachrichtung Philosophie der Halacha zu begründen. Bei alledem hält er die ältere jüdische Philosophie, die sich um Fragen der Metaphysik und der Verortung des Menschen in
1
Avi Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, in: Library of Contemporary Jewish Philosophers, ed. H. Tirosh-Samuelson, A.W. Hughes, Vol. 10, 2015, S. 151.
2
A. Sagi, Kirkegor. Dat we-Eksitenzia. Ha-Massaʽ schel ha-ʼAni, Jerusalem 1991, Englisch: Religion, and Existence: The Voyage of the Self, Rodopi 2000 und Amsterdam-Atlanta 2000
3
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 155.
4
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 177.
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einer von der Metaphysik gekrönten Welt kümmerte, als nicht mehr relevant, weil sie Fragen stellte, welche keine Fragen der Gegenwart, und eben auch nicht die Fragen einer modernen jüdischen Gegenwart seien.
2.2
Religiöser und kultureller Pluralismus
Was alle Publikationen Sagis verbindet, ist das konsequente analytische Procedere, der Versuch rationale Argumente für oder wider eine bestimmte Aussage oder Auffassung zu finden. So etwa beispielhaft in seinem Aufsatz Justifying Interreligious Pluralism5 an dessen Beginn sogleich der Modus des Verfahrens angekündigt wird: »Meine Hauptthese ist, dass religiöser Exklusivismus nur sehr schwer zu verteidigen ist, wohingegen eine pluralistische Auffassung, welche den inneren Wert unterschiedlicher Religionen verteidigt, aufgrund der Logik vorzuziehen ist.«6 Am Ende seiner Ausführungen kommt Sagi jedoch zu der ernüchternden Feststellung, dass seine Argumente einen religiösen Exklusivisten kaum dazu bewegen werden, seine Position zu verlassen, hingegen ein Pluralist sie als hilfreich empfinden wird: »Ein Glaubender, der in seinem traditionellen Rahmen verbleiben möchte, wird kaum Argumente akzeptieren, welche zu dessen Erosion führen, und wird keinen Grund sehen, eine pluralistische Position anzunehmen. Die Frage ist nur für einen Gläubigen relevant, der ohnehin zum Pluralismus neigt, und sich fragen mag, ob es dafür rationale Begründungen gibt. Die Argumente, welche die Vorzüge eines pluralistischen Glaubens untermauern, werden keinen traditionellen Gläubigen dazu bewegen, seine Meinung zu ändern, doch sind sie für den Pluralisten höchst wertvoll. Sie sind eine bewusste Untermauerung der Welt des pluralistischen Gläubigen und die Darlegung der Grundlage im Bewusstsein des Pluralisten.«7 Dieses Urteil hinsichtlich des Zielpublikums derartiger analytisch-philosophischer Bearbeitungen wird wohl für die ganze Fülle unterschiedlicher Themen, die Sagi bearbeitet, gelten. Darum sagt er in dem schon genannten Interview: »Menschen und Kulturen zu respektieren erfordert, dass wir sie verstehen, wie sie sich selbst sehen. In dieser Hinsicht folge ich Wittgenstein […] in seiner Auffassung, dass die Rolle der Philosophie nicht ist, Theorien zu ent-
5
In: Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 123–150.
6
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 123.
7
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 150.
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werfen, welche die Ansichten der Menschen bestreiten, sondern deren Sprachspiele zu erklären, zu analysieren und zu beschreiben.«8 Philosophie ist eine Weise, über die sich stets ändernden Verhältnisse des menschlichen Lebens kritisch nachzudenken, nicht Verhaltensweisen vorzuschreiben. Ist die Philosophie also nur Handwerkszeug, so gilt doch nicht, dass sie für alles dienlich sein darf. Und an dieser Stelle kommt das zum Zuge, was man als die Gesinnung, die eigene Position des philosophischen Handwerkers bezeichnen mag. Und in diesem Punkt lässt Avi Sagi keinen Zweifel und dies ist auch der Grund, weshalb er im Rahmen dieser Darstellung genannt werden muss. In seinem Essay zur Beurteilung von religiösem Exklusivismus und Pluralismus kommt Sagi, nach einer Aufzählung vieler Argumente pro und contra beider Einstellungen zu dem Resultat: »Einen interreligiösen Pluralismus zu unterstützen, scheint demnach einem Exklusivismus vorzuziehen zu sein. Diese Schlussfolgerung entspricht den vorherrschenden Trends unserer Kultur, die dazu neigt, einen normativen Monismus zurückzuweisen und wird auch von vielen Gläubigen vertreten. Meine Auffassung ist, dass ein interreligiöser Pluralismus vorzuziehen ist, nicht nur weil dies den vorherrschenden Trends entspricht, sondern weil das von Hume formulierte Dilemma eine solide Grundlage für dessen Annahme bereitstellt.«9 Dieses Dilemma, welches Hume – so Sagi – als Argument für einen religiösen Skeptizismus anführt, wird von Sagi indessen zum Argument zugunsten eines religiösen Pluralismus herangezogen. Hume sagt da10 »In Sachen der Religion gilt: Was immer anders ist, steht im Gegensatz. Und so ist es unmöglich, dass die Religionen des antiken Rom, der Türkei, von Siam und China allesamt auf soliden Fundamenten begründet werden könnten.« Den religiösen Pluralismus sieht er angesichts dieses Dilemmas dadurch gestärkt, als er es mit Jesaja Berlin für einen unreifen Kindertraum erachtet, dass die eigenen Werte ewig und sicher seien: »›Zu erkennen, dass unsere Überzeugungen nur eine relative Gültigkeit besitzen und dennoch unerschrocken zu ihnen zu stehen, ist es, was einen zivili8
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 157.
9
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 146.
10
D. Hume, Enquiries Concerning the Human Understanding and Concerning the principles of Morals, Oxford 1975, S. 121, hier nach Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 127.
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sierten Menschen von einem Barbaren unterscheidet.‹ Mehr als dies zu fordern, ist vielleicht ein tiefes und unheilbares Bedürfnis nach Metaphysik; aber zuzulassen, dass dies unsere Praxis bestimmt, ist das Symptom für eine ebenso tiefe und noch gefährlichere moralische und politische Unreife.«11 Sagi sagt dies, wiewohl er es für das jüdisch-religiöse Denken als eine »konzeptionelle Revolution« erachtet, weil er sehr wohl weiß, dass gerade die Halacha einer solchen Auffassung von der relativen und begrenzten Gültigkeit der eigenen Überzeugungen anscheinend diametral entgegensteht und sich allenfalls zu einer Haltung des Tolerierens anderer, als falsch erachteter, Positionen bereit sein würde. Dennoch ist er auch auf diesem Feld bemüht, eine rationale Untersuchung von weitergehenden Möglichkeiten zu unternehmen, wie er dies in einem seiner neuesten, unten noch zu besprechenden Bücher über die Halakhic Loyality. Between Openness and Closure (Hebr.)12 versucht. Bevor ich diesen Gedanken der Pluralität für andere Bereiche der Religion wieder aufnehme, muss wenigstens mit einigen wenigen Strichen vermerkt werden, was Sagi unter religiösem Pluralismus versteht.
2.2.1 Stufen des religiösen Pluralismus Ein exklusives Verständnis von Religion, welches eine irgend nötige oder mögliche Rechtfertigung der eigenen »Glaubenswahrheit« für unmöglich und nicht erforderlich hält, kann das Humesche Dilemma der sich widersprechenden Religionen nicht lösen, sondern führt direkt auf es hin. Es kann hier also als mögliche Lösung des Dilemmas ausgeschlossen bleiben. Anders verhält es sich mit den sogenannten pluralistischen ReligionsAuffassungen, von denen Sagi – mit anderen Autoren – drei unterschiedliche Stufen sieht, den moderaten Pluralismus, den radikalen Pluralismus und schließlich den expressiven Pluralismus. Der moderate Pluralismus geht davon aus, dass alle Religionen letztlich dieselbe eine wahre Gottheit verehren, dies aber in kulturell unterschiedlichen Weisen, je nach ihren verschiedenen Gotteserfahrungen, zum Ausdruck bringen. Gegenüber einer derartigen Sicht muss jedoch gesagt werden, dass eine solche Beschreibung der Religion nicht dem Selbstverständnis der meisten Religionen entspricht – sie glauben vielmehr an die einzige Richtigkeit ihrer eigenen Gottesverehrung und können darum angesichts dieser Unterschiede nicht akzeptieren,
11
Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty, in: ders, Four Essays on Liberty, Oxford 1969, S. 172,
12
A. Sagi, Neʼemanut halachtit. Ben Petichut la-Segirut, Ramat-Gan 2012.
nach Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 146.
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dass die je anderen dieselbe Gottheit wie sie selbst verehren. Dies wird auch von einer phänomenologischen Betrachtung gestützt, die es nicht erlaubt, als Ursache von unterschiedlichen Religionsformen eine einzige und identische Gottheit anzunehmen, da verschiedene Gottesverehrungen auch unterschiedliche Gotteskonzepte involvieren – mit Marc Heim:13 »der Gott, an den wir [Christen] glauben, ist nicht derselbe wie jener der Juden oder der Muslime, weil bei ihnen Gottes Eigenschaften nach grundlegend verschiedenen Standards definiert werden.«14 Daraus folgt, dass die unterschiedlichen Religionen je einen anderen Gott verehren. Der radikale Pluralismus bestreitet jeden gemeinsamen Nenner der Religionen. »Nach dieser Auffassung bietet jede Religion eine geschlossene und versiegelte Welt von Glaubensvorstellungen, die sich von allen anderen abheben.«15 Gegenüber dem moderaten und radikalen Religions-Pluralismus verzichtet der expressive Pluralismus – den Sagi wohl favorisiert – darauf, hinsichtlich des Glaubens an eine transzendente Gottheit jeglichen Wahrheitsanspruch zu erheben. Nach Auffassung des expressiven Religionspluralismus ist »Gott ein Konzept, das ausschließlich innerhalb der religiösen Sprache und Praxis verständlich und bedeutungsvoll ist. […] Religion ist [nach dieser Auffassung] nicht eine Beziehung zwischen einem Individuum und Gott, sondern eine Lebensweise, deren Quelle und Bedeutsamkeit [ausschließlich] innerhalb der menschlichen Aktivität liegt.«16 Die Religion erhebt demnach keinen den menschlichen Bereich überschreitenden Wahrheitsanspruch. Die Gottheit ist ein Symbol, eine Ausdrucksform, für eine bestimmte Lebensweise und einen je eigenen Lebenskontext, ein Symbol, das der menschlichen Imagination entsprang.17 Angesichts solcher Beschreibungen der zu favorisierenden Religionsdefinition ist es programmatisch für seine Weltauffassung, wenn er in dem schon mehrfach genannten Interview sagt: »Unglücklicherweise hat das orthodoxe jüdische Denken keine pluralistische Weltsicht entwickelt. Zuweilen entwickelte es eine tolerante Weltsicht, das 13
Mark Heim, Is Christ The Only Way, Valley Forge 1985; zu einem gleichen Resultat kam ich (KEG) in meinem Exkurs zu Abraham in den drei »abrahamitischen« Religionen, unter dem Titel: Exkurs: Religionen im Bildungsauftrag der Schule: Elemente einer religionswissenschaftlichen Hermeneutik, in: Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfaches, Analysen und Empfehlungen, v. Wolfgang Edelstein/Karl E. Grözinger, Sabine Gruehn/Imma Hillerich, Bärbel Kirsch/Achim Leschinsky, Jürgen Lott/Fritz Oser, Weinheim und Basel 2001, S. 112–142.
14
Bei Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 140.
15
Sagi, Existentialism, S. 139.
16
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 142.
17
Vgl. M. Kaplan, Jüdisches Denken Bd. 5, Teil III, Kap IV zu Kaplan, Nr.7.
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heißt die Tolerierung oder gar Resorption von an sich als falsch betrachteten Alternativen, aber die pluralistische Anerkennung des inneren Wertes der Welt des oder der Anderen ist fast inexistent. Alle jüdischen Denker, Lévinas eingeschlossen, wollen nicht verstehen, dass die Menschen in ihren je eigenen Kulturen leben, Kulturen, die man nicht anders erklären kann, als es deren Vertreter selbst tun. Etwas forscher formuliert, würde ich sagen, dass ein humanistischer Diskurs hier noch nicht zum Vorschein gekommen ist, denn wahrer Humanismus bedeutet, die anderen so zu akzeptieren wie sie sind, anstatt Märchen über sie zu erzählen. Wir dürfen nicht für die anderen sprechen, sondern müssen mit ihnen sprechen, auf sie hören und ihrer Stimme Raum geben.«18
2.2.2 Kultureller Pluralismus für den Staat Israel Um das vorläufige Bild dieses Denkers abzurunden, muss noch angefügt werden, dass Sagi diesen »Pluralismus« nicht nur im Gebiet der Religionen einfordert, sondern gerade auch im Zusammenleben der verschiedenen Kulturen im Staat Israel. Hier gilt nach seiner Auffassung die Frage »nicht wie man einen gemeinsamen Raum schaffen kann, sondern einen widersprüchlichen gemeinsamen Raum, in dem ich als Jude die ›Hatikwa‹ singe und dabei nicht den Palästinenser zum Verstummen bringe, der eine andere Hymne singt, sowenig wie ich die Ḥaredim (Ultraorthodoxe), welche die ›Hatikwa‹ aus anderen Gründen nicht singen können, zum Verstummen bringe. Was in diesem Raum entstehen muss, ist eine Polyphonie, in welcher man im Frieden mit dem anderen lebt.«19 Es ist dieser pluralistische Raum, in welchem zur Feststellung des Jude-Seins die Frage nach der jüdischen Identität, die gemeinhin fälschlich halachisch beantwortet wird – das heißt durch Geburt oder Konversion –, durch die andere Frage ersetzt werden musste, nämlich durch die Frage nach der Identifikation. Identität drückt ein persönliches Bewusstsein aus, das nicht objektiv mess- und bewertbar ist, die Identifikation ist hingegen ein von außen angelegter Maßstab – und hierfür taugt die halachische Definition: »Meine Antwort, die allerdings nur für Israel gilt, ist die, dass der Umgang mit der Frage nach der jüdischen Identität im öffentlichen Raum extrem komplex ist und darum in die andere Frage umformuliert wurde, nämlich zu einer nach der jüdischen Identifikation [der Identifikation mit dem Juden-
18
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 172.
19
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 176; u. vgl. A. Sagi & Ohad Nachtomy (Hg.), The Multicultural Challenge in Israel, Boston 2009.
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tum]. Der Wechsel geschah von der ›Identität‹ hin zur ›Identifikation‹, mit dem die Behörden leichter umgehen konnten. In einem tiefen Sinn hat dieser Wechsel sie von der Frage nach der jüdischen Identität vollkommen entlastet. Wenn man die Identität durch die Identifikation ersetzt, findet man schnell heraus, wer einer von uns ist, und gerade hier in Israel haben wir das dringende Bedürfnis, den zu identifizieren, der drinnen, und wer draußen ist.«20 Dieser liberale pluralistische Zugang führt Sagi auch zu der ihm von vielen heftig vorgeworfenen Frage, was es denn bedeute, Israel sei ein jüdischer Staat. Auch hier soll nach seiner Auffassung nicht ein staatlicher Gesetzesparagraph das entscheidende Wort haben, sondern die tatsächliche demographische und kulturelle Situation und deren Entwicklung. Die Definition des Staates ist für ihn – rechtlich gesehen – eine liberale Demokratie, welche den Rahmen für Rechte und Verpflichtungen ihrer Bürger setzt. Und: »Die Hauptfrage in diesem Zusammenhang, nämlich in welcher Hinsicht dieses Land ein jüdisches sei, ist einfach so zu beantworten: Israel wird so lange jüdisch sein, solange die Mehrheit seiner Bürger Juden sind und sein Diskurs jüdisch ist. Wenn wir Hebräisch sprechen und wenn die Mehrheit eine Reihe von Ritualen bewahrt, wird das Land jüdisch sein, aber mein Judentum darf nicht die anderen negieren. Das ist es, was ich mit dem widersprüchlichen gemeinsamen Raum meine.«21 Die Frage, was denn jüdische Identität im Gegensatz zur jüdischen Identifikation bedeutet, muss weiter unten nochmals aufgenommen werden.
2.3
Der Philosoph als »Gesellschaftskritiker« – nach Michael Walzer
Befragt nach der Rolle des Philosophen in der Gesellschaft, antwortet Avi Sagi: »Ich würde nicht sagen die Rolle. Aber eine der Rollen des Philosophen in der Gesellschaft, der er oder sie verpflichtet ist, ist es, Möglichkeiten zu eröffnen, mögliche Optionen, und in dieser Hinsicht stehe ich dem Werk von Michael Walzer über den »Gesellschaftskritiker« nahe.22 Mit diesem Hinweis ist der Schlüssel für viele von Sagis Arbeiten gegeben, vor allem für den Arbeitsbereich, welchen er die »Philosophie der Halacha« nennt. Er bezieht sich auf das Büchlein des jüdisch-amerikanischen Sozial- und Politik-Philosophen Interpre-
20
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 175.
21
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 176–177.
22
Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 177.
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tation and Social Criticism,23 das unter dem deutschen Titel Kritik und Gemeinsinn erschien. Der englische Originaltitel kommt dem, was für Sagi wichtig ist, näher als der deutsche, nämlich dass Gesellschaftskritik – und darum geht es in diesem Buch – in weitem Maße die Interpretation der Traditionen und gemeinsamen Werteskala der Gesellschaft ist, welche der Kritiker kritisiert. Ein solcher Gesellschaftskritiker, und dies zeigt Walzer an dem biblischen Propheten Amos, findet in seiner Gesellschaft nur dann wirklich Gehör, wenn er sich in seiner Kritik der eigenen Gegenwart auf die gemeinsamen Traditionen und Werte der Gesellschaft beruft – seien diese fiktiv oder real – und so die Gesellschaft recht eigentlich in das Ihrige zurückruft, das sie in der Gegenwart, nach seiner Auffassung, sträflich verlässt. Erst wer diese Walzersche Aufgabenbestimmung sieht, wird begreifen, warum so viele von Sagis Arbeiten sich die Mühe machen, in detailreichen Einzelauslegungen die Aussagen und Entscheidungen zahlloser Halacha-Autoritäten aus der langen jüdischen Geschichte vorzutragen und vor allem zu analysieren. Er will in ihnen Sinnschichten aufdecken, die man oft nicht wahrgenommen hat und welche von den gegenwärtigen Dezisoren nicht wahrgenommen werden, weshalb sie zu kritisieren sind, und zwar mit eben der Tradition, in welcher sie stehen und die sie mit dem Kritiker teilen. Es ist ein wichtiger Grundsatz der Analysen von Walzer, dass einer Gesellschaftskritik von außen kaum Wirkung beschieden ist, hingegen die Kritik von innen, welche in der Sprache und Denkweisen der Kritisierten vorgetragen wird, eher gehört wird – auch wenn sie den Kritiker als Außenseiter erscheinen lässt, wie dies ja schon das Schicksal der biblischen Propheten war. Doch was befähigt einen Insider zur Kritik an einem Werte- und Gesellschaftskanon, an dem er selbst Teil hat? »Kritik verlangt kritische Distanz.«, ist Walzers Antwort.24 Diese Distanz darf aber nicht absolut sein. Der ganz Fremde findet kaum Gehör, wiewohl er nicht ganz zu verschmähen ist. Idealer erscheint Walzer aber eine Figur, die in weitem Maße der von Sagi entspricht, nämlich die »Figur des örtlichen Richters, des mit seiner Gesellschaft verbundenen Kritikers, der seine Autorität aus den Auseinandersetzungen mit seinen Gesellschaftsgenossen gewinnt (oder auch nicht gewinnt) – der mit Leidenschaft und ohne Unterlaß, manchmal mit hohem persönlichen Risiko (auch er kann ein Held sein) Einspruch erhebt, protestiert und Einwendungen macht. Dieser Kritiker ist einer von uns. Vielleicht hat er Reisen gemacht und im Ausland studiert, doch er beruft sich auf örtliche und vor Ort geltende Grundsätze; wenn er auf Reisen neue Ideen gewonnen hat, so versucht er, diese mit der 23
M. Walzer, Interpretation and Social Criticism, Cambridge (Mass.) – London 1987, dt. Kritik
24
Walzer, Kritik und Gemeinsinn, S. 46.
und Gemeinsinn, Berlin 1990.
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heimischen Kultur zu verknüpfen, wobei er sich auf seine ureigene Kenntnis stützen kann; er steht seiner Gesellschaft nicht mit intellektuellem Abstand gegenüber. Ebensowenig steht er im emotionalen Abstand zu ihr; er will nicht das Beste für die Einheimischen, sondern bemüht sich, ihr gemeinsames Unternehmen zum Erfolg zu führen.«25 Übertragen auf Sagi bedeutet dies: Er ist für eine Zeit aus seiner Heimat der halachagetreuen observanten Gemeinschaft einer Jeschiva an die philosophische Abteilung von Universitäten ausgewandert und hat von dort neue Einsichten mitgebracht, die er nun seinen traditionsverbundenen Brüdern in deren Sprache und in deren Denkstrukturen mitzuteilen gedenkt, in der Hoffnung, so als kritischer Beobachter gehört zu werden. Viele seiner diesbezüglichen Erörterungen werden deshalb einen Nicht-Halachisten einen Nicht-Halacha-Treuen weniger ansprechen. Diese Argumentationen sind, wie dies auch Walzer sieht, durchaus partikulare Erörterungen. Sie werden in der Form einer Interpretation der alten Traditionen vorgetragen und »So entstehen neue Ideologien aus alten durch Interpretation und Revision.«26 Genau dies ist es, was er in seinen Arbeiten zur Philosophie der Halacha versucht, dabei gerade das zu unternehmen, was auch Walzer schon sieht, nämlich dass ein wichtiges Element dieser Methode ist, in der herrschenden Tradition Widersprüche aufzudecken, wodurch die Kritik immer einen Ausgangspunkt innerhalb der herrschenden Kultur findet. Denn »Die Ideologie der Oberklassen birgt in sich selbst gefährliche Kritikmöglichkeiten.«27 Sagi wird nicht müde, solche Ansatzpunkte in der halachischen Tradition auszumachen.
3.
Hermeneutik und Phänomenologie – der Ansatz mit Gadamer
3.1
Plurale Tradition und Gegenwart
In dem oben schon zitierten Interview weist Sagi darauf hin, dass seine Überlegungen meist einen Gadamerschen Ausgangspunkt haben. Was er damit meint, muss zum Verständnis seines gesamten Ansatzes in Fragen der jüdischen Tradition, der rechtlichen wie der theologisch-philosophischen, der jüdischen Identität und deren Bedeutsamkeit vor allem für das israelische Judentum hier kurz dargestellt werden. Es ist vor allem die Situation im heutigen Israel mit seinen Konflikten zwischen Orthodoxie und Säkularen, die sich oft weit oder ganz von der 25
Walzer, Kritik und Gemeinsinn, S. 49.
26
Walzer, Kritik und Gemeinsinn, S. 53.
27
Walzer, Kritik und Gemeinsinn, S. 52.
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jüdischen Tradition abwenden oder sie einfach vernachlässigen, die nicht spannungsfreie Beziehung zwischen der langen, gerade auch in der Diaspora gepflegten, jüdischen Tradition und der noch jungen Kultur Israels in welche hinein er und seine Kollegen des Jerusalemer Shalom Hartman Instituts sprechen wollen. Symptomatisch für dieses Anliegen ist die Buchreihe mit dem Titel Israelisches Judentum, die sich dieser Problematik stellen will. Und ein wichtiges, von Sagi selbst verfasstes Buch dieser Reihe, trägt den programmatischen Titel Die Herausforderung der Rückkehr zur Tradition.28 Es ist die problematische Beziehung zur langen jüdischen Tradition, die Frage nach der jüdischen Identität in einer Zeit, in welcher die alten Identifikationsmuster der ethnische-religiös verfassten jüdischen Gemeinde im Zuge der Emanzipation zerbrochen waren und im modernen Israel sich eine israelische Identität an die Stelle einer jüdischen zu schieben versucht, deren Verhältnis zur überkommenen unklar oder fraglich ist, weshalb neue Erklärungsmuster drängend gefragt sind. In dieser Situation, in welcher ein Bruch zwischen der Tradition der jüdischen Vergangenheit und der israelischen Moderne konstatiert werden muss, ist es vor allem die Gadamersche Hermeneutik, die sich als Interpretationshilfe anbietet. Gadamers Hermeneutik will ja nicht nur ein Modell des Textverstehens sein, sondern eine umfassende Philosophie des menschlichen Daseins, die Sagi als das geeignete Modell zur Überbrückung der Kluft zwischen Tradition und Moderne erscheint. Er kann darum den auch von ihm selbst neu konzipierten Menschen mit Gadamer als homo hermeneuticus bezeichnen.29 Der springende Punkt dieser hermeneutischen Philosophie ist für Sagi das Verständnis von »Tradition« (Masoret), was ihr Wesen ist, ihre Umgrenzung und ihr Verhältnis zur Geschichte und schließlich zur Moderne mit ihren von der Tradition anscheinend abgenabelten Menschen. Eine erste hilfreiche Qualifizierung besteht in der Abgrenzung der »Tradition« vom »Traditionalismus« (Mesortiut), zwei Begriffe, die im hier verhandelten Zusammenhang meist verwechselt werden und deshalb ein falsches Bild vom Wesen der Tradition vermitteln. Erst wenn diese Verwechslung ausgeschlossen ist, kann das Wesen von Tradition – im Sinne von Gadamer – entwickelt werden. Was Traditionalismus ist, erklärt er mit wenigen Worten: »Kurz zusammengefasst erzeugt der Begriff Traditionalismus unser [irrtümliches] Bild von der Tradition. Laut diesem Bild ist die traditionelle Kultur eine Kultur, welche von fest geschlossenen zementierten und festgelegten Rahmen beherrscht wird. Diese Rahmen sind die Grundlage aller gesell28
A. Sagi, ʼEtgar ha-Schiva ʼel ha-Masoret, Jerusalem/Ramat Gan 2006.
29
A. Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, Scheʼelot schel Tarbut we-schel Sehut, Jerusalem 2006, S. 198. (Engl. Nebentitel: The Jewish-Israeli Voyage. Culture and Identity).
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schaftlichen Einrichtungen, Institutionen und Normen, der Verhaltensweisen (Ethos), Erinnerungen und Hoffnungen der Mitglieder einer solchen Gemeinschaft. Der Mensch ist durch diese Tradition vollkommen festgelegt: Sie formt die legitimen Fragen samt deren Antworten. Sie legt das Erlaubte und das Nichterlaubte für alle Lebensbereiche fest: Die angemessenen Verhaltensweisen, Auffassungen und Ziele. Die Tradition ist die Metaphysik, die Ethik, und ausschließliche Praxis. Nach dieser Vorstellung wird die Tradition als absolut feststehend erachtet, ohne einen Raum für Rückfragen an irgendeines ihrer Fundamente.«30 Ein solches Bild der Tradition, gesehen mit den Augen des Traditionalismus, verneint weitestgehend jegliche Individualität und Autonomie des Menschen und jedwede persönliche individuelle Lebensgestaltung, und Reflexivität. Dieses Bild von der Tradition zeichnet natürlich eine tiefe Kluft zwischen dem traditionellen und dem modernen Leben. Solchen Vorstellungen von Tradition wie sie der Traditionalismus verbreitet, stellt Sagi eine Realität von Tradition entgegen, wie sie dem Leser dieser Geschichte des Jüdischen Denkens von Seite zu Seite vor Augen gestellt wurde, nämlich eine jüdische Tradition, die unablässig, zuweilen gar revolutionären Veränderungen unterworfen war und ist, durch welche alle der vorausgegangenen Komponenten dieser Tradition oft tiefgreifenden Wandlungsprozessen unterworfen wurden. An dieser Stelle seiner Darlegungen beschränkt sich Sagi indessen nicht auf die empirischen Feststellungen des Geistesgeschichtlers, sondern greift zu den ontologischen Aussagen der Gadamerschen Hermeneutik, nach der sich in diesen Wandlungsprozessen das Wesen der Sache selbst kundtut, das Wesen des Menschseins schlechthin, das nicht nur die Tradition und das Textverstehen betrifft, sondern das Menschsein als Ganzes.31 Grundlage für die von Gadamer übernommenen Einsichten ist das opus magnum Gadamers über die Hermeneutik Wahrheit und Methode.32 Die für Sagi wesentliche Aussage aus Gadamers Werk ist die Grundstruktur des menschlichen Verstehens oder Verstehen-Könnens, das nicht nur das Entschlüsseln von Texten, sondern alle auf den Menschen treffende Wissensbestände betrifft seien sie Texte, alltägliche Verhaltensweisen, Riten, Kunstobjekte und Gebaren – kurz alles was menschliche Kultur hervorbringt und vor allem als Tradition von Generation zu Generation bewusst oder unbewusst weitergetragen wird. Das Ent-
30
Sagi, ʼEtgar, S. 19–20; u. vgl. Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 104.
31
Vgl. dazu Hans-Helmuth Ganders, Charakterisierung des Gadamerschen Denkens, unten Nr.
32
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneu-
3.2, Identität und Selbstbewusstsein. tik, (hier vierte Aufl.) Tübingen 1975.
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scheidende bei dem Prozess des Verstehenwollens ist die Erkenntnis, dass der rezipierende Mensch bei einem solchen Erkenntnisvorgang nicht nur ein passiv Aufnehmender ist, sondern an diesem Geschehen aktiv, ja geradezu kreativ beteiligt ist. Die Wahrheit, die ihm von einem Text oder der Tradition angeboten wird, ist niemals eine fertig vorgegebene, sondern wird zu einer solchen erst durch einen dialogischen Interaktionsprozess des Aufnehmenden und des Gebenden. Wenn zwei Personen denselben Text lesen, nimmt jeder eine eigene Wahrheit auf. Der Grund dafür ist, weil jeder der beiden Rezipienten ein je eigenes Vorverständnis, oder wie Gadamer sagt, ein eigenes »Vor-Urteil« an den Text heranbringt. Das heißt die gegenwärtige Befindlichkeit des Lesers ist aktiv daran beteiligt, die zu lernende Botschaft zu erzeugen. Für das Verständnis von Tradition heißt das: »Die Tradition ist ein steter Dialog zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, dessen Ausgangspunkt aber die Gegenwart und nicht die Vergangenheit ist. Die Vergangenheit ist das ›Material‹, das in die Gegenwart getragen wird, aber die Tradition ist ein sich in-Beziehung-Setzen mit der Vergangenheit […]«33 Was dies bedeutet, zeigt Sagi an einem eindrücklichen Beispiel von zwei unterschiedlichen Menschen, die sich mit ihrer jüdischen Tradition auseinandersetzen: »Ein religiöser und ein säkularistischer Mensch führen einen Dialog mit der Vergangenheit – kann man hier sagen, sie beide hätten an derselben Tradition teil? Trotz des Dialogs mit den vorausgegangenen Generationen, den diese beiden gleichermaßen führen, erscheinen die Ausgangspositionen und gesamten Weltauffassungen beider Standpunkte vollkommen verschieden: Der eine gestaltet seine Welt als religiöse Welt, während der andere dieser Welt jegliche religiöse Heiligkeit abspricht und als menschliche Schöpfung betrachtet. Das bedeutet, dass der identische Text noch keine Garantie dafür ist, dass alle Teilnehmer an diesem textbasierten Diskurs diesen im Rahmen derselben Vorverständnisse führen. Und da die Bedeutung von Texten wie auch der gesamten Tradition durch eine ›Verschmelzung von Horizonten‹ entsteht, bedeutet dies, dass der religiöse und der säkularistische Mensch in verschiedenen Traditionen leben.«34 Der von Gadamer übernommene und von Sagi oft und gerne angeführte Begriff der »Horizontverschmelzung«35 will besagen, dass der Interpret von Texten zunächst mit zwei Weltverstehenshorizonten zu tun hat. Da ist zum ersten sein eigenes Verstehen der Welt und die jeweils darauf bezogenen Dinge und da ist 33
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 105.
34
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 105–106.
35
Siehe Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 286–290.
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zum zweiten jenes andere Verstehen, das von dem womöglich auch zeitlich entfernten Text oder der zurückliegenden Kulturtradition dem Rezipienten entgegentritt. Solche Verstehenshorizonte waren aber weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart konstante Größen, sondern sie sind stets im Wandel begriffen.36 Bei der Auseinandersetzung mit einer solchen Vergangenheit treffen demnach zwei durchaus instabile Horizonte aufeinander in deren Interaktion dann die jeweilige »Wahrheit« entsteht, die natürlich ihrerseits keine absolute sein kann. Mit Gadamer: »In Wahrheit ist der Horizont der Gegenwart in steter Bildung begriffen, sofern wir alle unsere Vorurteile ständig erproben müssen. Zu solcher Erprobung gehört nicht zuletzt die Begegnung mit der Vergangenheit und das Verstehen der Überlieferung, aus der wir kommen. Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte. Wir kennen die Kraft solcher Verschmelzungen vor allem aus älteren Zeiten und ihrem naiven Verhalten zu sich selbst und zu ihrer Herkunft. Im Walten der Tradition findet ständig solche Verschmelzung statt. Denn dort wächst Altes und Neues immer wieder zu lebendiger Geltung zusammen, ohne daß sich überhaupt das eine oder andere ausdrücklich voneinander abheben.«37 Beschreibt der Begriff der Horizontverschmelzung den interaktiven Prozess des Verstehens, das immer auf den eigenen Vor-Urteilen aufruht und folglich auch die Botschaft des rezipierten Textes bestimmt, so spricht Gadamer hier noch ein weiteres Element an, das für Sagi zentrale Wichtigkeit besitzt, nämlich die Aussage, dass »der Horizont der Gegenwart sich also gar nicht ohne die Vergangenheit« bildet.38 Das bedeutet zum Beispiel für die beiden zuvor angenommenen Leser, dass sie trotz ihres verschiedenen Vor-Verständnisses in mancher Hinsicht von einer gemeinsamen Vergangenheit geprägt sind: Der Konflikt eines entsprechenden christlichen Leser-Paares würde sich von dem eines jüdischen sehr wohl unterscheiden. Sagi spricht hier mit Wittgenstein von einer »FamilienÄhnlichkeit«.39 Das heißt, trotz der Differenz von religiösem und säkularem Weltverständnis sind zwei entsprechende Juden von zwei entsprechenden Christen wegen ihrer jeweiligen ererbten Vergangenheit verschieden. Ein jüdischer 36
Vgl. Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 104.
37
Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 289–290; u. Sagi Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 104.
38
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 104.
39
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 106.
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Gläubiger und Atheist sind miteinander familienverwandt so wie dies entsprechend ihr christliches Pendant ist. Diese »Familienähnlichkeit« bürgt wenigstens für einen Zusammenhang der Tradition auf der jüdischen wie auf der christlichen Seite, wenn auch nicht für deren völlige Identität. Deshalb muss auch festgestellt werden, dass die Horizontverschmelzung durch den säkularistischen Rezipienten eine Transformation der Bedeutung der religiösen Tradition in Vergangenheit und Gegenwart bedeutet.40 Mit diesen hermeneutisch-ontologischen Grundpositionen hat man den Schlüssel für viele der philosophischen Themen und Erörterungen Sagis in der Hand. Es ist die Offenheit und Dialogik der Tradition in Ihrem Entstehen wie auch in ihrer späteren Rezeption, die den Umgang mit der Frage nach der jüdischen Tradition im heutigen säkularen wie orthodoxen Israel bestimmen sollten, dies hinsichtlich der Halacha wie auch der theologisch-philosophischen Themen. Mit dem hermeneutischen Wesen des Menschseins wird auch eine Antwort auf die Frage nach der jüdischen Identität, die zwischen der beweglichen Vergangenheit und der individuellen Gegenwart aufgespannt ist, gegeben. Bei allen Themen, die er analysiert, ist die Gadamersche Grundformel der Wegweiser, der zu deren Lösung weist. Einige wenige Beispiele dafür sollen im Folgenden dargelegt werden.
3.2
Identität und Selbstbewusstsein
Aus dem dialogischen Verhältnis des Menschen zu der ihm vorgegebenen Tradition und zu der ihn umgebenden Lebenswelt mit ihren anderen Menschen, wie dies Gadamer zeichnet, ergibt sich zugleich eine Antwort auf die Frage nach der menschlichen Identität – wie dies Hans-Helmuth Gander in seiner Charakterisierung des Denkens von Gadamer formulierte: »Das heißt: Er [der Mensch] ist im Sinne einer unerschöpflichen Aufgabe existenziell dazu herausgefordert, in seinem Weltverständnis sein Selbstverständnis auszubilden. Damit folgt Gadamer in Abkehr von den als Kunstlehre bzw. Methodologie begriffenen Hermeneutik-Konzeptionen, wie sie sich mit Namen wie Wolff, Ast, Schleiermacher […] verbinden lassen, Heideggers existenzialontologischer Hermeneutik des menschlichen In-der-Welt-Seins. Hier ist Verstehen jene ausgezeichnete Seinsweise des Menschen, die in einem ontologischen Sinne sein Selbst- und Weltverhältnis im Ganzen charak-
40
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 106.
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terisiert, sodass der Mensch apriori verstehend aufgeschlossen ist für sich und in eins offen für die Welt.«41 Das bedeutet, das menschliche Selbstverstehen, sein Ichbewusstsein oder seine selbst empfundene Identität wird durch das Verstehen seiner Welt begründet. Diese Auseinandersetzung, oder besser dieser Dialog mit der Welt hat, nach dem oben schon Beschriebenen, zwei Pole, nämlich zum einen die vorgegebene Vergangenheit oder Tradition, in die der Mensch – Sagi zitiert hier mehrfach Heidegger –»geworfen« ist und zum anderen das ihm persönlich täglich Widerfahrende und ihm Begegnende. Der Mensch bildet im Verstehen, sprich Deuten dieser beiden Faktoren seine Identität, weshalb er ein homo hermeneuticus genannt werden kann.42 Der eine Faktor ist der diachronische, historische, der andere der synchronische, mehr gesellschaftliche.43 Das hiermit konzipierte Menschenbild nennt Sagi das »multikulturelle«, es ist ein prozessuales, konstruktionistisches,44 Menschenbild und nicht ein statisch in sich abgeschlossenes: »Nach dieser Auffassung ist der Mensch ein historisches, kulturelles und gesellschaftliches Gebilde. Dies ist keine zufällige Tatsache, sondern das Fundament, welches das Wesen seines Seins ausmacht. Der Mensch schafft seine Identität über gesellschaftliche Prozesse, sie ist das Resultat seiner Verbindung mit kulturellen und bestimmten geschichtlichen Kontexten. Diese Position, deren Wurzeln […] bei Hegel und in der existenzialistischen und hermeneutischen Tradition liegen, wurde insbesondere von Charles Taylor ausgebildet. Die Tradition des Existenzialismus und der Hermeneutik, die Taylor vorausging, betonte die Tatsache, dass der Mensch sich angesichts der historischen Wirklichkeit und angesichts der Tradition selbst formt. […] Er erschafft sich nicht aus dem Nichts – er ist ein Wesen, das von den grundlegenden Kontexten, angefangen von den biologischen bis hin zu den kulturellen, gebildet wird, die ihm aufgezwängt sind, mit Heidegger: Der Mensch ist in die menschliche Wirklichkeit geworfen.«45 41
Hans-Helmuth Gander, Hans-Georg Gadamer. In der Spur des Verstehens, in: J. Hennigfeld u.
42
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 198.
43
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 186.
H. Jansohn, Philosophen der Gegenwart, Darmstadt 2005, S. 33–34.
44
Vgl. Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 215ff.
45
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 19; zu Taylor siehe: Charles Taylor, Hegel and Modern Society, Cambridge 1991; ders., Human Agency and Language, Cambridge 1992; ders., Multiculturalism and The Politics of Recognition, Princeton 1992; ders., The Politics of Recognition, in: Amy Guttman, (ed.), Multiculturalism, Princeton 1994, S. 25–73; ders., The Ethics of Authenticity, Cambridge 1995.
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Eine aus diesen verschiedenen, durch ihre Vorgeschichten auch wieder miteinander verbundenen, Elementen sich gestaltende Identität des Menschen nennt Sagi wie gesagt »multi-kulturell«, das ist eine Identität mit offenen Verstehenshorizonten, eine dynamische Identität. Gerade ein solches Identitäts-Modell ist für Sagi speziell im Blick auf das moderne Israel wichtig, weil sie die geschlossenen Burgen der Orthodoxen und Säkularisten aufzubrechen vermag, in dem Bewusstsein, dass weder die Tradition aus der Vergangenheit noch die eigene gegenwärtige Identität in sich geschlossene Größen sind, sondern eher kommunizierenden Röhren gleichen. Angesichts dieser pluralen Offenheit des diachronen wie synchronen Angebots, in welcher anscheinend alles möglich erscheint, sieht er nun gerade in der Tradition gleichsam die Kern-Identität des Menschen, welche die Wahl aus den multikulturellen Angeboten steuert und sie mit einer Bedeutungshierarchie ausstattet. Die Aufgabe der Tradition, oder des dem Menschen Vorgegebenen, ist demnach die: »Sie stellt zum ersten die Materialien der persönlichen Identitätsbildung bereit, nämlich die Auffassungen, die geglaubten Vorstellungen (ʼEmunot), die Normen, Mythen, das Ethos (Verhaltensweisen), die allesamt das begründen, das wir immer schon sind, wie auch die Grund-Sprache unserer Identität. Mit Gadamer ›Alle Selbsterkenntnis beginnt mit dem geschichtlich Vorgegebenen […], denn es ist die Grundlage aller subjektiven Bewertung (Intention) und Zugänge.‹46 Die Tradition stellt zum zweiten die vorausgehende Bedingung für die menschliche Freiheit bereit. Denn […] sie stellt die verschiedenen Möglichkeiten bereit mit Bezug auf welche der Begriff der Wahl Sinn und Bedeutsamkeit erhält. Die dialektische existenzialistische Spannung zwischen dem Zwang des Gegebenen und der Freiheit wird durch den Prozess des Dialoges ausgeglichen, mit dessen Hilfe die persönliche Identität als freiwillige Rückkehr zum Gegebenen geformt wird. Was also zunächst als Gegebenes aufgezwungen war, wird nun zum Geschöpf der menschlichen Wahl. Die persönli-
46
Ich übersetze das hier eingefügte Gadamer-Zitat aus Sagis hebräischer Version, da sie wichtig für sein Verstehen ist. Sagi übersetzte offenbar aus folgender englischen Version: »All selfknowledge arises from what is historically pregiven, […] because it underlies all subjective intentions and actions, [and hence both prescribes and limits every possibility for understanding any tradition whatsoever in its historical alterity.], H.-G. Gadamer, Truth and Method, New York 2006, S. 301. Das deutsche Original lautet so: »Alles Sichwissen erhebt sich aus geschichtlicher Vorgegebenheit […] weil sie alles subjektive Meinen und Verhalten trägt [und damit auch alle Möglichkeit, eine Überlieferung in ihrer geschichtlichen Andersheit zu verstehen, vorzeichnet und begrenzt.]«, Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 285–286.
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che Identität ist darum keine einfache Rückkehr zur Vergangenheit, sondern sie ist eine freiwillige Rückkehr zum dialogischen Prozess des Diskurses mit der Tradition, als eines Prozesses, der die Identität schafft.«47 Die authentische Identität, die sich aus diesem anhaltenden Prozess erhebt, ist diejenige, die sich freiwillig zu den je eigenen Vorgaben bekennt – für den nachemanzipatorischen Juden heißt dies, dass er sich seiner eigenen jüdischen Tradition stellt, sie bejaht, sie dann aber im Sinne der oben schon beschriebenen Offenheit neu für sich deutet und annimmt, und zugleich akzeptiert, dass es noch andere legitime Rezeptionsformen dieser Tradition gibt.48 Als schlagendes Beispiel für seine vielleicht eher zögerlichen Leser nennt Sagi den Fall des Maimonides, der inzwischen ja eigentlich von allen Juden als Teil der guten jüdischen Tradition anerkannt wird, aber, – das brauche ich dem Leser dieser Darstellung nicht eigens mehr zu beweisen49 – im Dialog mit der griechische-arabischen Philosophie ein völlig neues Judentum konzipiert hat. Das heißt, auch schon die Tradition ist aus dem Dialog entstanden und hat sich nicht nur an der Peripherie, sondern auch in ihrem Kern nicht unwesentlich verändert.50 Das Entscheidende ist dabei stets, das Fremde zu Inkorporieren, zu judaisieren.51 Sagi ist überzeugt, dass diese anthropologische Konzeption des Multikulturalismus, die zunächst einer allgemeinmenschlichen Analyse entspringt, gerade auch für die Situation im heutigen Israel nutzbringend angewandt werden kann, um »die heilige Dreifaltigkeit von Säkularisten (Ḥilonijim), Religiösen (Datijim) und Traditionalisten (Mesortijim) in Frage zu stellen«.52 Der Grund für diese Hoffnung liegt darin, dass, gemäß den vorausgegangenen Feststellungen, solche festgezurrten Identitäten als wirklichkeitsfremd und falsch erachtet werden müssen, sie vielmehr als offene Horizonte zu betrachten sind, deren Überschneidungen und Interferenzen zu einem Wandel führen sollten. Das Modell einer konstruktionistischen und nicht ein für alle Male fertigen statischen jüdischen Identität sieht Sagi auch im Blick auf das Gesamtjudentum weltweit für das richtigere:
47
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 199; zum Ganzen nochmals ebenda S. 228–235.
48
Die Notwendigkeit der freien Bejahung der Tradition beschreibt wiederum schon Gadamer als
49
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–487.
50
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 187.
51
In diesem Zusammenhang ist es wert auf das Buch von Avi Sagi & Zvi Zohar, Transforming
Wesensmerkmal von Tradition an sich, siehe Wahrheit und Methode, S. 265–266.
Identity. The Ritual Transition from Gentile to Jew – Structure and meaning, London 2007, hinzuweisen, in welchem die Frage des Identitätswechsels vom Nichtjuden zum Juden und dessen Deutungen in der jüdischen Tradition dargestellt wird. 52
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 202.
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»Die Analyse der jüdischen Wirklichkeit zeigt, dass die Juden in unterschiedlichen Kulturen und Nationen, Sprachen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verstreut sind. Die jüdische Existenz war schon immer multikulturell. Zu dieser Charakteristik kommt in unseren Tagen das kritische Bewusstsein hinzu, dem diese vielfältige Wirklichkeit deutlich vor Augen steht. Das Ensemble der Kontexte, welches die Unterschiede zwischen den Juden hervorbringt, spricht eben nicht für ein essentielles [starres] jüdisches Identitätskonzept. Im Gegenteil, diese Unterschiede sind ein klares Zeichen einer konstruktionistischen und darum kontingenten und lokalen Eigenart [der jüdischen Identität].«53 Die jüdische Identität ist niemals eine abgeschlossene, sie lässt sich auch nicht ein für alle Male definieren. Entscheidend ist nicht die Einheit der Identität, sondern dass die Vielfalt der jüdischen Identitäten in einem historischen Zusammenhang verbleiben: »Auf alle Fälle, die [durch die gemeinsame Tradition verbürgte] Familienähnlichkeit sichert eine Kontinuität der Identität, nicht aber eine völlige Gleichheit. Will man von Zugehörigkeit zur ›selben Identität‹ sprechen, ist diese Kontinuität ausreichend.«54 Sagi kommt hier aufgrund seiner hermeneutisch-philosophischen Analysen zu demselben Ergebnis, wie ich hinsichtlich der Einheit des jüdischen Denkens aufgrund des geistesgeschichtlichen Vergleichs. Mein Aufsatz Was ist das Jüdische am »jüdischen Denken?«, der am Ende dieses Buches in erweiterter Form als Epilog aufgenommen ist, kam nämlich zu folgendem Ergebnis: »Das bedeutet, das Jüdische am jüdischen Denken ist die formale Einfügung der radikalsten und widersprüchlichsten Gedanken in die Fiktion von der Mündlichen Tora. Wo die Form der Auslegung zur Schriftlichen Tora eingehalten wird, kann die neueste und radikalste Lehre als Mündliche Tora vom Sinai deklariert werden. Religionswissenschaftlich gesprochen: Die Fiktion, dass die eigenwillige individuelle Auslegung der Bibel und der nachfolgenden Tradition als sinaitische Offenbarung gelten darf, ist das wahrhafte Spezifikum des jüdischen Denkens. Es ist diese hermeneutische Form, nicht der philosophische oder theologische Inhalt, worin sich alle Autoren dieser langen Tradition gleichen. Das Jüdische am jüdischen Denken ist die Einfügung allen Denkens in die formale Struktur der Tora-Auslegung. Die hermeneutische Struktur des ToraBezuges, zu dem auch die Mündliche Tora gehört, ist das Jüdische am jüdi-
53
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 227.
54
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 233.
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schen Denken. Oder anders gesprochen, der formale Traditionsbezug – weniger der inhaltliche – ist das gesuchte Spezifikum.«55 Sagi macht mithin aus einer geistesgeschichtlichen Erkenntnis eine ontologische Aussage zur jüdischen Identität. Seine Schlussfolgerung aus dieser Einsicht ist radikal und den innerjüdischen Streitparteien gewiss nicht leicht zu vermitteln: »Die Schlussfolgerung aus dieser Analyse muss sein: Der konstruktionistische Identitäts-Diskurs muss auf Wahrheitsansprüche verzichten und darauf, die anderen jüdischen Identitäten beherrschen zu wollen und sie in eine hierarchische Ordnung einzupassen. [… das heißt,] ein konstruktionistischer Identitäts-Diskurs ist, will er wirklich authentisch sein, pluralistisch.«56 Abschließend und im Nachgang zu dem oben schon angesprochenen Unterschied von Identität und Identifikation muss noch vermerkt werden, dass er eine Hürde vor dem von ihm erhofften Wandel zu einem konstruktionistischen IdentitätsModell und einem damit erhofften möglichen Wandel in der Durchlässigkeit und der gegenseitigen Toleranz der unterschiedlichen jüdischen Gruppen untereinander darin sieht, dass die Begriffe »Identifikation« (Sihuj) und »Identität« (Sehut) häufig miteinander verwechselt werden. Die Identifikation ist eine von außen herangetragene Unterscheidung von Einzelnen oder Gruppen, die aber nur bedingt bis wenig mit der Identität im Sinne des Selbstbewusstseins zu tun hat, also auch mit dem Bewusstsein der eigenen Identifikation mit einer Gruppe. So verwenden die staatlichen Behörden in Israel zur Identifizierung eines Juden das Verfahren des Sihuj, also der formalen Identifikation, die aber nicht mit dem jüdischen Selbstbewusstsein des Individuums oder der Gruppe verwechselt werden darf. So auch haben die verschiedenen jüdischen Gruppierungen nach der Emanzipation Grenzen gezogen, um durch die Ausgrenzung der nicht Konformen die eigenen internen Zugehörigkeitserwartungen zu beschreiben57 – also zur Unterscheidung von Orthodoxie, Reform, Neoorthodoxie und Ḥasidismus. Für eine derartige Identifikation taugt kein konstruktionistisches Identitätsmodell, sondern dies bedarf eines essenziellen Identitätsmodells, wie es auch im gängigen Halachagebrauch verwendet wird, nach dem rein formale Kategorien zur Identifikation als Jude verwendet werden, also die Geburt von einer jüdischen Mutter oder
55
K. E. Grözinger, Was ist das Jüdische am »Jüdischen Denken«? Auf der Suche nach dem Kontinuum in der Vielfalt jüdischer Theologien und Philosophien, in: G. Botsch, K. Bürger, I. A. Diekmann et al. (Hg.), »… und handle mit Vernunft« Festschrift zum 20-jährigen Bestehen des Moses Mendelssohn Zentrums, Hildesheim, Zürich, New York, 2012, S. 21–35.
56
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 241.
57
Siehe oben Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Die jüdischen Denominationen.
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die rite vollzogene Konversion.58 »Die halachische Objektivierung hat nur die Aufgabe einen bestimmten Menschen als Juden zu identifizieren. […] sie hat keine notwendige Verbindung mit der jüdischen Identität im kulturellen konstruktionistischen Sinn.«59
4.
Religiosität und Religion
4.1
Das Anliegen
Avi Sagi ist ein dialogischer Denker und verhandelt seine eigenen Themen überwiegend in der Darstellung und der Auseinandersetzung mit den Auffassungen anderer Denker, so dass zuweilen der Eindruck entstehen mag, er sei mehr Philosophie-Historiker als Philosoph. Diese Zuwendung zur Geschichte hat aber, was schon Hans Gadamer für die Geisteswissenschaften klar formuliert hat, auch bei Sagi einen vorrangigen Gegenwartsbezug. Wie bei den vorangegangenen Erörterungen geht es ihm auch bei den folgenden Themen darum, aus der Geschichte und den überkommenen Traditionen Gegenstände herauszugreifen, mit deren Deutung er hofft, die Kluft zwischen den Religiösen und den Säkularen in Israel zu überbrücken. Wenn er zum Thema Gebet zu dem Ergebnis kommt, das Gebet sei eine grundlegende menschliche Wesensanlage, unabhängig davon, ob der Mensch an einen Gott glaubt oder nicht, so ist damit zumindest ein Brückenschlag zwischen den frommen Betern und den gelegentlichen Gebetsschreien der Atheisten versucht. Dass Sagi bei seiner historischen Themenwahl meist oder immer von seinen gegenwärtigen Interessen und Fragestellungen geleitet wird, ist ein Phänomen, das der von ihm hoch verehrte Hans-Georg Gadamer in seinem klassischen Buch zur Hermeneutik schon beschrieben hat: »Bei den Geisteswissenschaften ist vielmehr das Forschungsinteresse, das sich der Überlieferung zuwendet, durch die jeweilige Gegenwart und ihre Interessen in besonderer Weise motiviert. Erst durch die Motivation der Fragestellung konstituiert sich überhaupt Thema und Gegenstand der Forschung. Die geschichtliche Forschung ist mithin getragen von der geschichtlichen Bewegung, in der das Leben selbst steht […].«60 Diese Einsicht gilt, wie gesagt, auch für das dem Gebet und Gebetsverhalten der Menschen gewidmeten Buch von Sagi. Den hebräischen Titel dieses Buches, Pe58
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 209–212. 220–245.
59
Sagi, Ha-Massaʽ ha-jehudi-jisraeli, S. 226.
60
Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 269.
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zuʽe Tefilla – Tefilla leʼachar »Mot ha-ʼEl«, kann man wohl so übersetzen: Die im Gebet Verletzten. Das Gebet nach dem »Tod Gottes«. Alles in allem will die Studie eine phänomenologische Studie der hebräischen Literatur sein. Er will hier zunächst keine Theorie des Gebets entfalten, sondern sucht nach Äußerungen in der Literatur dazu, warum, wann, weshalb und zu Wem oder Was die Menschen beten. Am Ende stellt sich dann doch heraus, dass sich aus all den Recherchen eine Gebets-Philosophie ergibt, die allerdings ganz auf das alltägliche, irdisch-immanente, Phänomen des Gebetsaktes beschränkt bleiben will, um daraus entsprechende Einsichten abzuleiten. Um den zentralen Punkt dieser Einsichten vorwegzunehmen: Das Gebet stellt sich als eine menschliche Aktivität dar, die unabhängig von einem Glauben an Gott oder an eine jenseitige Transzendenz sein kann wie sie auch ohne Theologie auskommt, ja die sogar als primäre menschliche Eigenschaft vor jeglicher theologischer oder philosophischer Explikation steht. Die Wahrheit der hier vorangestellten Gadamerschen Bemerkungen wird erst am Ende des Buches explizit, wo sich zeigt, dass das erlangte Ergebnis sich in eine philosophische Gesamttendenz von Sagis Denken einfügt, nämlich wider jegliche Art von Dichotomien in der Sicht von Religion und Säkularismus, von religiös und atheistisch, von den Beurteilungen der verschiedenen menschlichen Gruppierungen und Gemeinschaften in der Gesellschaft und so weiter anzukämpfen. Dieses Ziel will er durch Analysen der entsprechenden Phänomene erreichen, die allesamt unter dem Gadamerschen Motto der »Verschmelzung der Horizonte« stehen, sprich der Offenheit aller menschlichen Kultur und ihrer Möglichkeit und Wirklichkeit der dialogischen Überlappung und Beeinflussung. Das so Erreichte umschreibt Sagi am Ende des Gebets-Buches wie folgt: »Aus der Phänomenologie des Gebetes kann man lernen, dass die klassische Dichotomie zwischen Religion und Säkularismus, oder zwischen Religiösen und Säkularisten zerbröckelt und an ihre Stelle die vermittelnde Position dessen aufscheint, was man mit dem Begriff ›Religiosität‹ bezeichnet. Dieser Begriff beschreibt die menschliche Existenz als eine Existenz, die in unablässiger Weise aus ihrem gegebenen Sein ausbricht. Die Religiosität ist die Verweigerung der aufgezwungenen Gegebenheiten, die Unzufriedenheit des Menschen mit der ihn umgebenden realen Wirklichkeit und seine Sehnsucht nach etwas, was jenseits von ihr liegt.«61 Was er unter Religiosität versteht – er verwendet hierfür im übrigen meist das Fremdwort »Religiosijut« – muss später nochmals aufgenommen werden. Hier ging es nur darum, darauf hinzuweisen, dass die Zuwendung zu diesem For61
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 191.
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schungsthema zugleich einem höchst persönlichen Anliegen und den gesellschaftlichen Umständen gerade in Israel entspringt – die Forschung ist ein Teil der Wirkungsgeschichte, wie Gadamer sagt. Sagi will demnach mit seinen Untersuchungen zum Gebet darauf hinarbeiten, dass auch das Gebet kein Faktor ist, mit dem man die bestehende Kluft zwischen Religiösen und Säkularisten begründen kann, vielmehr gerade das Gebet ein weitergreifendes allgemeinmenschliches Bedürfnis ist, in dem sich beide Parteien letztlich treffen können und sollten – was natürlich auch für die unterschiedlichen Religionen in dieser Welt gilt.
4.2
Die Phänomenologie des Gebets
Sagi will bei seiner Untersuchung des Gebets strikt phänomenologisch vorgehen. Das heißt er will seine Daten nur aus vor Augen liegenden Fakten gewinnen, in diesem Fall aus einer Reihe vorliegender Texte aus der hebräischen Literatur – mit einigen Seitenblicken auf andere Religionen – und will dabei die gängigen religiösen – und auch philosophischen – Theorien zum Gebet beiseitelassen, also solche theologische Theorien, die zum Beispiel das Gebet als Gnade Gottes betrachten, als Geschenk, das in den Menschen aus der Transzendenz einströmt, oder als Gebot Gottes, welches das Beten zur menschlichen Pflicht macht, wie es das jüdische Gesetz, die Halacha, versteht. Demgegenüber zieht er literarische Texte heran, in denen vom Gebet die Rede ist, oder in denen gebetet wird und versucht, die dabei explizit beschriebenen oder implizit angenommenen oder vorausgesetzten Faktoren zu erfassen, zum Beispiel die Rolle des Menschen beim Gebet, das gegenüber oder Ziel des Gebetes, also etwas Göttliches, oder auch die Ermangelung eines Angesprochenen, den Gebetsgestus et cetera. Das Resultat dieser ausladenden Untersuchung ist zusammengefasst dieses: »Eine phänomenologische Beschreibung des Gebetes nötigt dazu, dass man sich von religiösen Theorien oder Positionen zum Gebet befreit. Eine solche Beschreibung erfordert, dass man von den Fakten ausgeht, nämlich den Praktiken, den Texten und den Diskursen der Beter über das Gebet. Für dieses vorliegende Buch waren die phänomenologischen Fakten literarische Texte. Der Ausgangspunkt dieser Skizze ist die Grundtatsache, dass der Mensch ein betendes Wesen ist. Dieses Phänomen erfordert nicht unbedingt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder das Gebot einer bestimmten Religion. Dass der Mensch ein betendes Wesen ist, ist eine primäre phänomenologische Tatsache, vor aller Religion, Theologie und Metaphysik. Die Aussage, dass der Mensch ein betendes Wesen ist, bedeutet, dass das Gebet eine dem Menschen ureigene Aktivität ist, die man als Tun des Menschen verste© Campus Verlag
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hen muss. Abraham Joschua Heschel hat diese Einsicht in extremer Form einmal so ausgedrückt: ›Das Gebet ist kein Bedürfnis, sondern eine ontologische Notwendigkeit, ein Tun, das den Kern des menschlichen Wesens zum Ausdruck bringt. […] Wer niemals in seinem Leben gebetet hat, war nie im Vollsinne ein Mensch. Es ist die Ontologie, welche das Gebet eingerichtet hat, nicht die Psychologie oder die Soziologie‹.«62 Das bedeutet, dass das Gebet zunächst ein rein menschliches immanentes Geschehen, eine ausschließlich menschliche Aktivität ist, ohne jeglichen Transzendenzbezug. Das immanente Geschehen ist das Grundlegende des Gebets und bedarf keines Transzendenzbezuges – diese Einsicht steht im Gegensatz zu allen religiösen Deutungen des Gebetes. Allerdings ist ein sekundärer Transzendenzbezug damit nicht ausgeschlossen, vielmehr kann man sehen, dass die Religionen diese menschliche Grundbefindlichkeit nutzen und sie steuern. Um die Bedeutung des Gebets als ontologische Grundmöglichkeit des Menschen zu verdeutlichen, vergleicht er das Gebet mit einer anderen, von Martin Heidegger als solcher dargestellten Grundbefindlichkeit des Menschen, nämlich mit dem menschlichen Gewissen. Er bezieht sich dabei auf Heideggers Sein und Zeit, wo Heidegger über mehrere Kapitel hin das menschlichen Gewissen als existenziale Grundtatsache für die die Erschlossenheit des menschlichen Seins, sprich für die Möglichkeit eines eigentlichen oder authentischen menschlichen Lebens erörtert.63 Sagi führt den Vergleich über nur wenige skizzenhafte Striche durch. Um diesen seinen nur kurz ausgeführten Vergleich besser zu verstehen, ist es dienlich, zunächst sein Resultat dieses Vergleichs zwischen dem Heideggerschen Gewissen und dem Gebet in seiner eigenen Deutung voranzustellen: »Das Gewissen und das Gebet haben gleiche Eigenschaften: Zunächst decken sie beide in ontologischer Hinsicht die Tatsache auf, dass der Mensch ein Wesen ist, das aus seinem konkreten Dasein ausbricht (es überschreitet). Die Geschehnisse seines alltäglichen Lebens erschöpfen nicht sein ganzes Sein. Das Gebet weist, wie das Gewissen, auf eine andere, tieferliegende, Schicht des menschlichen Lebens hin. Sodann: Das Gebet wird, wie das Gewissen, dem Menschen zuweilen aufgenötigt. Diese Nötigung wird in zwei [der im Buch besprochenen] Fällen als Ausdruck der Wirkung eines transzendenten Wesens gedeutet, was aber nicht richtig ist, denn aus phänomenologischer Sicht kann man die immanenten Gegebenheiten nicht überschreiten. Der Mensch ist ein Wesen mit immanentem Sein, darum müssen sämtliche Phä62
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 175; Heschel-Zitat aus A. J. Heschel, Moral Grandeur and Spiritual
63
M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979 (15. Aufl.), §§ 54–60, S. 301–267.
Audacity, New York 1996, S. 116.
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nomene seines Lebens entsprechend gedeutet werden. Der Zwang zum Gebet ist darum nichts anderes als die Stimme aus der Tiefe, die jenseits des routinemäßigen Alltagslebens des Menschen liegen. Das Gebet ist wie das Gewissen ein Einbruch dieses Tiefen-Grundes in den Alltag des Menschen.«64 Von diesem Resümee her wird der Vergleich mit Heideggers Gewissensanalyse deutlicher. Das erste, was Sagi hervorhebt, ist Heideggers Deutung des Gewissens als Ruf. Heidegger sagt da unter anderem: »Die eindringlichere Analyse des Gewissens enthüllt es als Ruf«, auch spricht Heidegger von »Gewissensruf«, oder »Der Rufcharakter des Gewissens« und dergleichen.65 Wichtig ist Heidegger, so Sagi, dass das Gewissen dem Menschen aufgenötigt wird, dem Schein nach von außen her. Nach Heidegger: »Gerufen wird aus der Ferne in die Ferne.«66 Und weiter: »Der Ruf wird ja gerade nicht und nie von uns selbst weder geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen. ›Es ruft‹, wider Erwarten und gar wider Willen. Andrerseits kommt der Ruf zweifellos nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist. Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.«67 Wichtig am Vergleich mit dem Gewissen ist Sagi zunächst, wie in dem angeführten Resümee gesagt, dass das Gewissen zeigt, dass die menschliche Existenz unterschiedliche Schichten besitzt. Das Gewissen ruft aus den Tiefenschichten des Ich, aus dem eigenen Selbst, und hat das Ziel, den Menschen zu sich selbst zurückzurufen, ihn aufzurufen, zu sich selbst zurückzukehren – mit Heidegger: »Dem angerufenen Selbst wird ›nichts‹ zu-gerufen, sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigensten Seinkönnen.«68 Und zwar wird dabei das vom Alltagsleben verschüttete Selbst durch den Aufruf erst wieder aufgedeckt, von den Bedeckungen des Alltags, in dem der Mensch nur das Leben eines unpersönlichen »man« führt. Mit Sagi: »Dieser phänomenologischen Analyse liegt die Auffassung zugrunde, dass das Ich in seiner alltäglichen Existenz sein mögliches authentisches Sein vergisst oder vernachlässigt und in steter Ent-Individualisierung lebt, in deren Rahmen er ein unbestimmtes charakterloses Wesen wird, das Heidegger ›Das man‹ nennt. Das Gewissen ist zugleich die Bestätigung einer anderen Exis-
64
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S 178.
65
Heidegger, Sein und Zeit, S. 269. 272; insgesamt S. 267– 280.
66
Heidegger, Sein und Zeit, S. 271; Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 177.
67
Heidegger, Sein und Zeit, S. 275; Sagi Pezuʽe Tefilla, S. 177.
68
Heidegger, Sein und Zeit, S. 273; Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 177.
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tenz-Möglichkeit, einer ursprünglicheren und wahreren, wie auch die Vermittlung zwischen dieser und der Alltagsexistenz.«69 In diesen Feststellungen sieht Sagi die Vergleichsparameter zum Gebet. Das Gebet, das dem Menschen wie der Ruf des Gewissens aufgedrängt werden kann, ist eine Aufrüttelung aus der Tiefe des menschlichen Ich, das ihn seinen gewöhnlichen Alltag transzendieren, überschreiten, lässt und ihm die Möglichkeit zu einem authentischeren Leben eröffnet. Das Gebet ist ein innermenschliches Geschehen, mit dessen Hilfe der Mensch aus den Gegebenheiten seines Lebens ausbricht, ihm neue Aussichten eröffnet und diese zugleich wieder an das gegebene Leben zurückbindet: »Die Auffassung vom Menschen als betendes Wesen bedeutet, dass der Mensch ein Wesen ist, das aus seiner vorgegebenen Existenz ausbricht (sie überschreitet). Das Gebet ist ein Phänomen der Selbst-Transzendierung, das aber seiner Natur nach immanent ist, denn sein Ursprung liegt im Menschen als betendem Wesen. Heiler hat dies erkannt und das Gebet deshalb so definiert: ›Das Gebet ist der Ausdruck eines elementaren Dranges nach höherem, reicherem, gesteigerten Leben […] immer ist es ein mächtiges Verlangen nach Leben, nach einem stärkeren, reineren, wertvolleren, seligeren Leben.«70 Die Elemente solcher Selbsttranszendierung im Gebet findet Sagi in der Möglichkeit, sich im Gebet mit früheren Generationen zu verbinden, oder im Fürbittgebet für den Anderen, aber nachdrücklich darin, dass das Gebet Ausdruck dafür ist, dass der Mensch sich nicht den Zwängen der konkreten Wirklichkeit ausgeliefert sein lassen will, ein Ausdruck der Freiheit als Kultur-Mensch und Mensch mit Geschichte gegenüber den unveränderlichen Zwängen der natürlichen Gegebenheit.71 Es stellt sich nun natürlich die Frage, wie das Gebet als Äußerung einer ontologisch verankerten Tiefenschicht des Menschen zu verstehen ist. Hierbei muss zunächst die psychologische Deutung, zu der auch Friedrich Heiler in seinem Buch über das Gebet greift, abgewiesen werden. Nach einer solchen psychologischen Interpretation entspringt das Gebet einem seelischen oder überhaupt
69
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 177–178.
70
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 178; das Zitat nach Friedrich Heiler, Prayer – A Study in the History and Psychology of Religion, London, 1937, S. 355; hier nach dem dt. Original: Das Gebet: Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung München 1919 (1921, 3. Aufl.), S. 489.
71
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 178.
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menschlichen Bedürfnis (Hebräisch: Zorech). Ein solches Bedürfnis kann, so Sagi, nicht als Existenzial des menschlichen Daseins verstanden werden, weil solche Bedürfnisse keine feste Konstante der menschlichen Existenz darstellen. Bedürfnisse kommen und gehen. Sind sie da, versucht der Mensch mit dem Gebet den vorhandenen oder gefühlten Mangel zu beseitigen. Ist dies gelungen, so ist das Bedürfnis erfüllt und zu Ende gekommen. Das so verstandene Gebet gleicht dem Gehen, das zu einem bestimmten Ziel gelangen will, ist der Gehende dort angekommen, ist das Ziel erreicht und das Gehen kommt zuende. Ein solcher Mangel kann außer dem Gebet zum Beispiel auch durch andere Mittel behoben werden »zum Beispiel kann der Beter wegen einer Not auch eine nicht weniger gute Antwort bei einem anderen Menschen finden, oder durch Meditationsübungen etc. Das heißt das Gebet ist so gesehen nur ein momentanes Geschehen, das außerdem Alternativen hat.«72 Will man allerdings den Menschen als betendes Wesen verstehen, zu dessen Existenz das Beten als Existenzial, als stete und unaustauschbare Grundbefindlichkeit, hinzugehört, muss man nach einer anderen Deutung suchen. Sagi findet sie im »Begehren« oder »Sehnen« (Teschuka). Das Begehren ist – mit Alexandre Kojève73 – ein stetes Streben des Menschen, die bestehende Wirklichkeit zu verändern, oder sie zu verneinen, das ihn antreibt. Es ist, und hier beruft er sich auf Jean-Paul Sartre, eine stete Bewegung des Menschen »darauf hin, was er sein könnte.«74 In dieser steten Bewegung will der Mensch die grundlegende Unvollkommenheit des Menschseins überwinden, ein stetes weg vom derzeitigen Zustand zu einem nie erreichbaren Ziel der Vollendung des Menschseins. Der Unterschied zwischen Bedürfnis und Begehren ist demnach: »Das Bedürfnis entspricht nicht der menschlichen Existenz selbst, sondern einem eingeschränkten vorübergehenden Zustand. Demgegenüber entspricht das Begehren der menschlichen Existenz, der Tatsache, dass der Mensch ein Wesen ist, das über sein Sein hinausgreift. Mit der bekannten Formulierung von Sartre75 bezüglich des Begehrens, nämlich dass es das Sein des Menschen ausmacht ohne Ende (Ziel).«76 Das Gebet ist demnach keine momentane Aktivität zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern ein Kontinuum des menschlichen Daseins. Mit dem Gebet schreitet der Mensch stets und unablässig über sich selbst hinaus. »Die
72
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 185.
73
Alexandre Kojève, Introduction to the Reading of Hegel, Ithaca 1980, S. 3.
74
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 185.
75
Sartre, Jean-Paul, Das Sein und das Nichts, Reinbek 1994.
76
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 186.
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Selbsttranzendierung im Gebet liegt im Begehren begründet, das jenseits des bloßen Bedürfnisses liegt. […] Das Gebet ist eine stete Bewegung der SelbstÜberwindung, ein Begehren, das nicht gestillt werden kann, ein endloser Eros.«77 Das Gebet findet seine Erfüllung in manchen Kulturen darum nicht zufällig im Tanz, denn auch der Tanz, der das reine Begehren ausdrückt und seinen Sinn in sich selbst findet, ist ein Tun, das nicht nach einem benennbaren Ziel strebt. Das Gebet ist neben dem Gewissen allerdings nicht das einzige Element, mit dem der Mensch seine Gegebenheit transzendiert, daneben ist der Wille zur Freiheit zu nennen, dann die Fähigkeit zu deuten, die Geschehnisse zu interpretieren oder sich in Kunstwerken auszudrücken. Aber das Gebet hat seine eigenen Besonderheiten. Sagi bringt dafür Berichte und Ereignisse, die solches belegen. Da ist zum Beispiel der Bericht eines weiblichen Kibbuzmitgliedes aus einer Gebetssituation am Jom Kippur, einem Tag, an dem der Kibbuz zahlreiche Gefallene im Rahmen des Jom-Kippur-Krieges zu beklagen hatte, und ein Tag zu dem der Komponist Jaʼir Rosenblum für das alte Jom Kippur-Gebet U-Netane Tokef, das den Menschen vor Gottes Gericht zeichnet, eine neue Melodie komponiert hat. Alle diese Elemente führten die Frau zum so verstandenen Gebet: »Ich öffnete mich zum Gebet (nicht für Gott), und fand meinen Frieden darin, dass ich ein Mensch bin, der von Vielerlei abhängig ist. Dieses sich der Tiefe Öffnen gibt Kraft für Hoffnung. Früher wollte ich die Welt verändern, heute gebe ich mich mit der Hoffnung zufrieden, dass das Leben Leben bleibt und nicht eine plötzliche Katastrophe eintritt.«78 Das Gebet, so fasst Sagi diesen Bericht zusammen, ist ein Augenblick der Reflexion, in welchem das Sein des Menschen offenbar wird, das Gebet führt den Menschen zu sich selbst, nicht unbedingt zu Gott. Ähnliche Deutungen des Gebets findet man auch bei anderen Autoren, so bei dem auch in diesem Band des Jüdischen Denkens vorgestellten Josef Dov Soloveitchik: »Das Gebet lässt erfahren, dass der Mensch ein endliches Gebilde ist, aber nicht ohne Kraft, es lehrt, dass der Mensch nicht allmächtig ist, aber nicht notwendigerweise von Gott abhängt.«79 Andere Elemente des Gebets sind der Wunsch des Menschen, sich selbst zu beherrschen, wie dies nach einer talmudischen Haggada80 auch Gott selbst tut, wenn er betet, in der Hoffnung sein Erbarmen mit den Menschen werde über seinen Zorn siegen. Auch ist das Gebet eine Verwirklichung des Menschseins als sprechendes Wesen, das mit der Sprache das nötigend Vorgege77
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 186.
78
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 187.
79
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 187.
80
Babylonischer Talmud, Berachot, 7a.
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bene überschreiten kann. Wichtig ist auch die Bedeutung des Gebets als Selbstgespräch. Aus all diesen Formen und Bestrebungen des Gebets, deren sich natürlich auch der religiöse Mensch bedienen kann, um damit seine Hinwendung zu Gott zu vollziehen, schließt Sagi, dass das Gebet nicht ein Erbe der Religionen ist, sondern ein Existenzial, eine Grundbefindlichkeit des Menschseins, die schon vor der Religion zur menschlichen Existenz gehörte, weshalb auch noch in unserer Gegenwart Menschen ohne Glauben und ohne Religion beten können. Es ist nun der Punkt erreicht, an welchem auf seine oben schon zitierte Meinung zurückzukommen ist, was Religiosität im Gegensatz zur Religion ist. Zur Religiosität sagte Sagi dort: »Dieser Begriff beschreibt die menschliche Existenz als eine Existenz, die in unablässiger Weise aus ihrem gegebenen Sein ausbricht. Die Religiosität ist die Verweigerung der aufgezwungenen Gegebenheiten, die Unzufriedenheit des Menschen mit der ihn umgebenden realen Wirklichkeit und seine Sehnsucht nach etwas, was jenseits von ihr liegt.« Die Religiosität, so erklärt er an etwas späterer Stelle, »ist ein steter Eros der Bewegung«, die in der Immanenz beginnt und sich zur Transzendenz wandelt. Letzteres ist nicht etwas außerhalb des immanenten Raumes, sondern eine Überschreitung der Immanenz im menschlichen Bewusstsein. »Die Religiosität ist die Erkenntnis, dass das Leben des Menschen ein unlösbares Mysterium in sich birgt.«81 Zur Erläuterung dessen, was unter Religiosität zu verstehen ist, zitiert Sagi den folgenden Passus aus Martin Bubers Aufsatz Jüdische Religiosität, der auf eine seiner Prager Reden über das Judentum zurückgeht. Buber sagt da: »Ich sage und meine: Religiosität. Ich sage und meine nicht: Religion. Religiosität ist das stets neu werdende, stets neu sich aussprechende und ausformende, das staunende und anbetende Gefühl des Menschen, daß über seine Bedingtheit hinaus und doch mitten aus ihr hervorbrechend ein Unbedingtes besteht, sein Verlangen, mit ihm lebendige Gemeinschaft zu stiften, und sein Wille, es durch sein Tun zu verwirklichen und in die Menschenwelt einzusetzen. Religion ist die Summe der Bräuche und Lehren, in denen sich die Religiosität einer bestimmten Epoche eines Volkstums ausgesprochen und ausgeformt hat, in Vorschriften und Glaubenssätzen festgelegt, allen künftigen Geschlechtern ohne Rücksicht auf deren neu gewordene, nach neuer Gestalt begehrende Religiosität als für sie unverrückbar verbindlich überliefert.«82
81
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 192.
82
M. Buber, Jüdische Religiosität, in: ders. Der Jude und sein Judentum, (hg. von R. Weltsch) Köln 1963, S. 66; bei Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 193; siehe oben Teil I, Kap. II, Nr. 2.3.1.1.
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Sagi übernimmt diese Unterscheidung von Buber, mit der einzigen, aber wichtigen Abweichung, nämlich dass das religiöse Erleben nicht unbedingt sich in einer Religion verwirklichen und fixieren müsse, wohl aber könne. Er führt noch das Glaubensverständnis des deutsch-amerikanischen protestantischen Theologen Paul Tillich an, das gleichfalls den Glaubensakt auch schon außerhalb jeder institutionellen Religion sieht, als »Einstellung des Menschen zum Sein«, als »Vertrauen in die Existenz, die Erkenntnis, dass das Leben ein Mysterium ist, das weder von der ratio, noch vom Gefühl oder der Religion völlig erklärt werden kann.«83 Die so skizzierte Religiosität, oder der außerinstitutionelle Glaube sind – vergleichbar dem schon genannten Begehren – als die Basis für die Auffassung vom Menschen als einem betenden Wesen zu verstehen. Der so verstandene immanente Glaube und die Religiosität sind das, was sich im Gebet als menschlichem Existenzial verwirklicht und Ausdruck verschafft. Das Gebet ist eine primäre ursprüngliche Ausdrucksform des Menschen, die erst im Nachhinein theologisch oder philosophische erklärende Bilder oder gar Metaphysiken erstellt.84 Abschließend muss für die gesamte hier vorgetragene These vom Menschen als betendem Wesen die von Sagi selbst formulierte Einschränkung angefügt werden: »Die hier vorgelegte Erörterung maßt sich nicht an, etwas über das Wesen des Menschen auszusagen, auch wenn sie in einer solchen Sprache vorgetragen wird. Die Grenzen meiner Darlegungen sind die literarischen Texte, die darin verhandelt werden.«85 Aber trotz dieser Beschränkung auf eine klar definierte Textgrundlage, wird hier doch eine Sicht vom Menschen vorgetragen, die – um seinen Sprachgebrauch zu verwenden – sich selbst transzendiert und als mögliche Auffassung für ein umfassendes Menschenbild zu verstehen ist, das dem irenischen, die Klüfte und Dichotomien überbrückenden Anliegen von Sagi voll83
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 194.
84
Die Trennung von Theologie und Frömmigkeit bzw. Religion dient Avi Sagi auch dazu, die Frage der Theodizee neu zu beantworten. Sie darf nicht als eine metaphysische Frage nach der Gerechtigkeit Gottes behandelt werden, sondern muss als Fähigkeit des religiösen Menschen gesehen werden, inwieweit er angesichts des Bösen, das ein Teil der einzigen dem Menschen zur Verfügung stehenden Welt ist, zu einem Weiterleben im Glauben an Gott befähigt wird; A. Sagi, The Critique of Theodicy: From Metaphysics to Praxis, in: ders., Jewish Religion after Theology, Boston 2009, S. 141–184; ders., The Holocaust: A Theological or a ReligiousExistentialist Problem?, in: ders., Jewish Religion after Theology, S. 185–204; Sagi bringt als Beispiel einer solchen von der Metaphysik zur existentiell-religiösen Bewältigung hin gewendeten Theodizeefrage, zum Beispiel den im Band 4 des Jüdischen Denkens behandelten Emil Fackenheim, der aus dem Holocaust nicht die Folgerung der Verkündung des Todes Gottes zieht, sondern den Ruf des sogenannten 614ten Gebotes, also das Böse als ethische Aufforderung an den Menschen versteht, Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 512–518.
85
Sagi, Pezuʽe Tefilla, S. 170.
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ständig entspricht. Man mag dies also eine teleologische These nennen, die dem Frieden und Verstehen zwischen Religiösen und Säkularen dienen soll.
5.
Die Halacha zwischen Offenheit und Verschlossenheit
5.1
Tradition als Freiheit und Geschichte
Angesichts der oben beschriebenen Grundlinien von Sagis Denkens und seiner Heranziehung der hermeneutischen Erkenntnisse von Gadamer über die Rolle und Wandelbarkeit von Tradition, wird man natürlich die Frage stellen, wie sich dies auf die Sicht der Halacha, das heißt des jüdischen Religionsgesetzes, auswirkt, gilt dieses doch im allgemeinen Bewusstsein und laut der ausdrücklichen Lehre vieler Halacha-Gelehrten als unveränderlich.86 In seinem Interview mit Ḥava Tirosh-Samuelson gibt Sagi eine fast anekdotische Passage zu Protokoll, welche als symptomatisch für die etwas dilemmatisch erscheinende Situation eines religiös-observanten Phänomenologen gelten kann. Befragt, welche Rolle für ihn die moderne und speziell jüdische Gender-Frage habe, antwortet er: »Der Feminismus ist doppelt wichtig. Vor allem, weil er endlich jenen ermöglicht, präsent zu sein, denen bisher eine Stimme verweigert worden, wobei ich nicht nur von den Frauen spreche. Wenn ich beim Morgengebet die Worte sprach ›Gesegnet seist Du, dass Du mich nicht als einen Heiden, einen Sklaven oder eine Frau geschaffen hast‹ – geordnet in dieser hierarchisch [absteigenden] Folge, so machte mich dies wahnsinnig. Später, als ich verstand, dass die Halacha mit Alternativen arbeitet, stellte ich mir die Frage, ob es gerade diese Alternative sei, mit der wir leben müssen. Ich glaube, dass meine [persönliche] Entwicklung einen Prozess der Rückkehr zu den Quellen brachte, nämlich um Optionen zu prüfen und zu verstehen, dass wir mit Konflikten leben müssen, wenn die Quellen etwas verbieten, womit wir [selbst durchaus] leben können. Konflikt und Spannung mit und zu den Quellen ist ein Zeichen der Treue zur Realität.«87 Diese Haltung gegenüber der Tradition, insbesondere der halachischen, ist es, was den Grundton des im Folgenden noch zu besprechenden Buches HalachaTreue. Zwischen Offenheit und Verschlossenheit am besten beschreibt.88 Dort 86
Siehe dazu in diesem Band die Kapitel zu Soloveitchik und Leibowitz.
87
Avi Sagi, Existentialism, Pluralism, and Identity, S. 178.
88
A. Sagi, Neʼemanut halachtit. Ben Petichut la-Segirut, Ramat Gan 2012. Entsprechendes gilt für A. Sagi, ʼEtgar ha-Schiva ʼel ha-Masoret (Die Herausforderung, zur Tradition umzukehren), Ramat Gan, Jerusalem 2006.
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sucht Sagi nach den Grenzen und den Öffnungen der Halacha, wie sie durch das System und durch Einzelmeinungen von Halacha-Dezisoren sich darstellen und was es angesichts dessen bedeutet »halachatreu« zu sein. Gerade bei diesem Unternehmen kommt der hermeneutische Ansatz von Gadamer zum Tragen, insofern die hier geforderte »Treue« keine sich objektiv gebende Akzeptanz alter Regeln sein kann, weil nach dieser hermeneutischen Theorie Verstehen und Interpretation alter Texte und Rechtstraditionen allemale nur unter einer aktiven und kreativen Aufnahme und Einbeziehung in die eigene Lebenswelt des Interpreten wirklich möglich ist. Gadamer sagt dazu zum Beispiel: »In Wahrheit ist Tradition stets ein Moment der Freiheit und der Geschichte selber. Auch die echteste, gediegenste Tradition vollzieht sich nicht naturhaft dank der Beharrungskraft dessen, was einmal da ist, sondern bedarf der Bejahung, der Ergreifung und der Pflege. Sie ist ihrem Wesen nach Bewahrung, wie solche in allem geschichtlichen Wandel mit tätig ist. Bewahrung ist eine Tat der Vernunft, freilich eine solche, die durch Unauffälligkeit ausgezeichnet ist. Darauf beruht es, daß die Neuerung, das Geplante, sich als die alleinige Handlung und Tat der Vernunft ausgibt. Aber das ist ein Schein. Selbst wo das Leben sich sturmgleich verändert, wie in revolutionären Zeiten, bewahrt sich im vermeintlichen Wandel aller Dinge weit mehr vom Alten, als irgendeiner weiß, und schließt sich mit dem neuen zu neuer Gestaltung zusammen. Jedenfalls ist Bewahrung nicht minder ein Verhalten aus Freiheit, wie Umsturz und Neuerung es sind. Sowohl die aufklärerische Kritik an der Tradition als auch ihre romantische Rehabilitierung bleiben darum hinter ihrem geschichtlichen Sein zurück.«89 Hier bewahrheitet sich auch die andere Einsicht Gadamers, dass »wer verstehen will, mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden ist und an die Tradition Anschluß hat oder Anschluß gewinnt, aus der die Überlieferung spricht.«90 Jeder, der der Welt der Halacha fremd ist, wird mit dem sehr wohl kreativen und doch zugleich konservativ erscheinenden Zugang Sagis zur halachischen Tradition darum zunächst vielleicht Schwierigkeiten haben. Aber gerade diese Verbundenheit, diese Gemeinsamkeit mit der kreativ kritisierten Tradition des Interpreten und Neuerers, ist ein Signum der Gadamerschen Hermeneutik, auf die sich Avi Sagi beruft.91 »Standortgebundenheit des Interpreten«
89
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 1975
90
Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 279.
91
Vgl. noch Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 280.
(4. Aufl.), S. 265–266.
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erscheint hier nicht als Blindheit gegenüber dem auszulegenden Gegenstand, sondern ist ein »integrierendes Moment der hermeneutischen Wahrheit.«92
5.2
Archetypische Deutungen der ʽAkeda und deren Relevanz für die Haggada
In dem Kapitel Treue und Verpflichtung zur Halacha – zwischen der ʽAkeda und dem Mythus von Ödipus seines genannten Buches zur Halachatreue versucht Sagi die nach vorne geöffnete Treue zur Halacha in einer Gegenüberstellung von Freuds Ödipus-Mythus und der biblischen Geschichte von der Opferbindung Isaaks (ʽAkeda) als den schlechthinnigen Archetypus des biblisch-jüdischen Verhaltens zur Tradition darzustellen. Er ist sich dabei sehr wohl bewusst, dass andere Juden diese seine archetypische Deutung der ʽAkeda ganz anders, nämlich in Freuds Spuren des Ödipuskomplexes, lesen – so der von ihm notorisch bekämpfte Jeschajahu Leibowitz. Leibowitz sieht in der ʽAkeda-Erzählung eine ontologische Aussage über die Existenz des Glaubenden schlechthin – es ist sein Glaube, der ihn in eine Krise führt, in einen unausweichlichen Konflikt zwischen der Forderung Gottes und den eigenen Bedürfnissen und menschlichen Wünschen. In diesem Sinne sagt Leibowitz: »Das heißt: Diese Krise ist kein einmaliges Geschehen oder eine einzigartige Situation, die den Glauben zum Problem macht, sondern sie ist das schlechthinnige Wesen des Glaubens, das Wesen der Gottesfurcht. Sie weist den Aberglauben von der Harmonie der menschlichen Existenz zurück und deckt den Widerspruch zwischen der Stellung des natürlichen Menschen auf – seiner physischen wie psychischen Natur – und seiner Stellung vor Gott.«93 Der im Glauben offenbarte Gott ist, so Leibowitz, kein Gott, der für den Menschen da ist, sondern, der vom Menschen alles fordert, den Verzicht auf alle menschlichen Werte, materieller wie geistiger Art. Gegenüber dieser nach Sagi ödipalen Deutung der ʽAkeda trägt er selbst eine Deutung im Sinne seiner Gadamerschen philosophischen Hermeneutik vor, deren Herzstück die Verschmelzung der Horizonte94 von Vergangenheit und Tradition mit der Gegenwart des Rezipienten ist. Der Konflikt zwischen den Generationen – der nach Freud über den Vatermord und nachherige Schuldgefühle der 92
Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 482.
93
Y. Leibowitz, ʼEmuna, Historia we-ʽArachim (Glaube, Geschichte und Werte), Jerusalem 1982, S. 58, nach Sagi, Neʼemanut, S. 43; und siehe oben Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. I, Leibowitz, Nr. 4.1; 4.5.
94
Nach Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 289f. 356f. 375; u. vgl. Sagi, Neʼemanut, S. 51.
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Söhne verläuft – wird im ʽAkeda-Mythos laut Sagi zum Verzicht des Vaters gegenüber dem Sohn. Bei dieser Deutung »vertritt das Symbol des Vaters das, was aus der Vergangenheit kommt, das, was als Zwang und Verpflichtung auftritt, wohingegen die Gestalt des Sohnes, das zum Ausdruck bringt, was jenseits des Vaters ist, die Gegenwart, das Verlangen, sich von dem Zwang zu befreien und in die Freiheit hinauszutreten.«95 Tradition und menschliche Gegenwart – Vater und Sohn – gehen nach dem archetypischen ʽAkeda-Mythos nun miteinander, nicht mehr als sich bekämpfende Gegner. Für Sagi ist die Geschichte von der ʽAkeda also eine archetypische und für sein Judentum typischer Vorgang der Verschmelzung der Horizonte von Tradition und Gegenwart des Rezipienten. Viel überzeugender als diese psychoanalytische Deutung der ʽAkeda-Geschichte ist die Anführung jener von Sagi herangezogenen talmudischen Geschichte, die auch hier im ersten Band des Jüdischen Denkens96 schon zitiert wurde, nach der Gott selbst schon vor der Toraoffenbarung die Ansatzpunkte für die fortlaufende Novellierung der Tora durch die kommenden Generationen geschaffen habe. Im Talmud wird erzählt: »Als Moses in die Höhe stieg [um die Tora zu empfangen], traf er den Heiligen, Er sei gesegnet, dasitzen und Kronen für die Buchstaben winden. Da sprach er vor Ihm: Herr der Welt, wer hält dich zurück? [Das heißt: Warum begnügst du dich nicht mit den Buchstaben, wie sie sind, so dass du ihnen noch Kronen, das heißt Häkchen, die sich auf gewissen Buchstaben der Torarollen befinden, zufügst?] Er erwiderte ihm: Es gibt einen Mann, der nach vielen Generationen aufstehen wird, namens Akiva Ben Josef; er wird dereinst über jedes Häkchen Haufen von Lehren vortragen. Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, zeige ihn mir. Er erwiderte: Wende dich um. Da ging er und setzte sich hinter die achte Reihe [der Schüler Akivas]. Er verstand aber nicht, was vorgetragen wurde. Da verließ ihn seine Kraft [d.h. er geriet in Bestürzung, weil er den Vorträgen über die von ihm selbst gegebene Tora nicht folgen vermochte]. Als jener zu einer Sache gelangte, bei der seine Schüler ihn fragten, woher er das wisse, sagte er zu ihnen: Es ist eine Lehre, die dem Moses am Sinai überliefert wurde. Da beruhigte sich sein Sinn.«97 Sagi kommentiert diese Geschichte wie folgt: »Diese dichte Erzählung […] zeichnet offenbar eine Spannung zwischen den Generationen, zwischen Moses – dem Vertreter der Vergangenheit und Quel95
Sagi, Neʼemanut, S. 45.
96
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 25.
97
Babylonischer Talmud, Menachot 29b.
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le der Autorität, und Rabbi Akiva – dem Vertreter der Gegenwart und der Zukunft. Aber diese Spannung wird im Text der Geschichte selbst wieder abgeschwächt: Die ursprüngliche Vergangenheit lädt zum Blick auf die Zukunft ein. Gott selbst bereitet die Bedingungen für die novellierenden Aktivitäten von Rabbi Akiva vor. Will sagen, die Gegenwart wird nicht als Gegensatz zur Vergangenheit aufgestellt, sondern zu deren Vervollkommnung. Und noch mehr: Moses selbst setzt sich nicht als Autorität ein, er fordert nicht die Autorität der Vergangenheit ein, im Gegenteil, er schließt sich dem Lehrhaus von Rabbi Akiva in Demut und Bescheidenheit an. Und nicht nur dies, er ist sogar bereit, seinen Platz für Rabbi Akiva zu räumen. Anstelle eines grenzenlosen Kampfes zwischen den Generationen, tritt der Vater, Moses, mit einer offenen Haltung auf. [… Und] Gott selbst denkt an das komplexe dialektische Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Vergangenheit hat Gewicht und ist im Dialog präsent, aber sie unterjocht die Gegenwart nicht.«98 Präziser könnte man Sagis eigenes Verhältnis zur jüdischen Tradition nicht umschreiben. Er lässt sich in seinen Deutungen der Tradition nicht zwingen, gibt ihr aber stets die Ehre – nicht zuletzt, um seine traditionsgebundenen Leser und Hörer zu gewinnen. Er gibt hier seine Auffassung kund, dass die rabbinische Tradition in ihrem Kommentieren schon immer um die entscheidende Bedeutung der Gegenwart wusste und deren Einfluss auf die Deutung der Tradition. Was er hier im Gewande des Traditionskommentars ausgibt, ist eben das, was der Leser meiner umfassenden Darstellung des Jüdischen Denkens schon lange wahrnehmen konnte, nämlich dass alle Deuter die Traditionsvorgaben in die eigene Gegenwart holten. Sagi verhält sich hier tatsächlich wie Gadamer, der seinen Lesern einen seit je geübten Brauch der Hermeneutik nur bewusst machen, nicht aber neue Methoden verkünden will, damit aber das Tor zur bewussten Novellierung aufstoßen will. Dass diese Novellierung zumindest in zahllosen Kommentartiteln und paränetischen Homilien auch in der rabbinischen Tradition mit einem deutlichen Grad an Bewusstsein geübt wurde bezeugt eben die lange Tradition solcher Buchtitel: »Ḥiddusche N.N.« (Novellen des N.N.).99 Aus alledem resultiert die Antwort auf die Frage, was denn »Toratreue« bedeute: »Der Ausdruck der Toratreue realisiert sich nicht in der Abstinenz vom Leben, in der Beseitigung der körperlichen Freuden und der Bejahung der vol98
Sagi, Neʼemanut, S. 60–61.
99
Vgl. Sagi, Neʼemanut, S. 59.
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len menschlichen Existenz. Im Gegenteil, alle stimmen zu, dass die Bestätigung der Toraübernahme sich in der vollkommenen Lebensfreude verwirklicht, die auch den körperlichen Anteil einschließt. Der Mensch ist nicht gefordert, auf diese Existenz zu verzichten.«100 Da dies in seiner Sicht das wahre Grundprinzip der Tora ist, kritisiert er deutlich jene Teile der jüdischen Orthodoxie, die sich vom modernen Leben verschließen und sich in halachischen Details der Vergangenheit verbeißen. Ganz im Gadamerschen Stil unternimmt Sagi sodann den bedeutsamen Versuch, die Realität der Halacha-Tradition und der entsprechenden Rechtspraxis zu analysieren, wie im Folgenden gezeigt werden wird.
5.3
Die Halacha – konstitutives oder regulatives Rechtssystem
5.3.1 Definition Die entscheidende Erörterung zu Art und Weise des verpflichtenden Charakters der Halacha und die daraus folgende Bedeutung von Halachatreue legt Sagi in dem Kapitel Halachaentscheid und Halacha-Dezisoren – zwischen Formalismus und Erwägung dar. In diesem Kapitel zeigt er, dass es in der langen religiösen Rechtstradition des Judentums zwei miteinander rivalisierende und auch ineinander verschlungene Auffassungen gibt. Die eine Auffassung, welche im Gesetz ein unveränderliches, außerhalb der Zeitläufte stehendes System erblickt, welches das Handeln des Menschen unabhängig von den historischen Umständen festlegt und die andere, welche eine pragmatische Bindung des Rechts an die historischen und räumlichen Umstände sieht.101 Angelehnt an John Searle102 sowie John Rawls103 unterscheidet Sagi zwischen einem »konstitutiven Rechtssystem« und einem »regulativen Rechtssystem«. Ein konstitutives Rechtssystem – auch formalistisches System genannt – stellen zum Beispiel die Regeln des Schachspiels dar, welches seine eigene innere Logik besitzt und nicht von den Befindlichkeiten der Spieler abhängig ist – es trägt seinen Sinn in sich selbst. Ein regulatives Rechtssystem hingegen sind zum Beispiel die Gesetze des Straßenverkehrs, die ihren Sinn ausschließlich von der reibungslosen Funktion des Verkehrs und seinen Bedingungen her gewinnen – von da bekommen sie ihren Sinn
100
Sagi, Neʼemanut, S. 62.
101
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Die jüdischen Denominationen, Nr. 5.2.2.3 Die Ha-
102
Searle, John, Speech Acts, Cambridge 1969 (und 1994).
103
Rawls, John, Two Concepts of Rules, in: W. Th. Jones et al., Approaches to Ethics, New York,
lacha; und Teil IV, Kap. I, Leibowitz, Nr. 5.3.
1969, S. 609–624.
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und dies bestimmt ihre »Logik«, von daher werden sie beeinflusst und geschaffen. Sagi ist der Auffassung, die Halacha sei ein solches regulatives, offenes System, das von der Lebensrealität der Menschen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten abhängt, trotz ihres Offenbarungsanspruchs. Es ist aber gerade dieser Offenbarungsanspruch, der für die Vertreter einer formalistischen Auffassung von der Halacha das entscheidende Argument für deren Unveränderbarkeit ist. Beispiele von Vertretern einer solchen konstitutiven HalachaAuffassung, die er unablässig kritisiert, sind zum Beispiel die in diesem Band vorgestellten orthodoxen Autoren Jeschajahu Leibowitz und Josef Dov Soloveitchik und natürlich die ganze Gruppe der sogenannten Ḥaredim, der »Gottesfürchtigen«.104 Sagi, der phänomenologische Denker, begründet seine eigene Auffassung mit einer langen Reihe von aus der halachischen Literatur geschöpften Argumenten und Präzedenzien, die zugleich zeigen, dass die »formalistisch-konstitutive« Auffassung im Grunde eine Selbsttäuschung und reine dogmatische Fiktion ist. Als Auftakt seiner Darlegungen beginnt Sagi mit einer »formalistischen« Definition der Halacha von Jeschajahu Leibowitz, die dieser sogar als das Herz und Wesen des ganzen Judentums ausgibt. Leibowitz definiert die Halacha wie folgt: »Die Halacha ist ihrem Wesen nach unhistorisch; sie drückt keine Auffassung irgendeiner historischen Wirklichkeit aus und auch die Veränderungen und Wandlungen, die sich in ihr im Laufe der Generationen vollzogen, sind nicht das Spiegelbild der sich verändernden historischen Wirklichkeiten. Die Halacha ist das einzige Fundament, die einzige Basis ihrer selbst, und ihre im Laufe der Generationen eingetretenen Veränderungen widerspiegeln ausschließlich die immanenten Beweggründe des halachischen Denkens.«105 Leibowitz sieht laut dieser Äußerung von 1982 zwar, dass die Halacha sich entwickelt hat, sie also kein statischer Block von Gesetzen ist, aber er ist wie dies oben schon dargestellt wurde, dennoch der Überzeugung, dass dies innerhalachische Entwicklungen sind, die alleine der innerhalachischen Logik folgen und nicht von historischen Gegebenheiten und Bedürfnissen gestaltet oder beeinflusst wurden. Er folgt damit recht besehen der altrabbinischen Auffassung, dass alles, was in der Toraauslegung als neu erscheinen mag, schon immer in ihr enthalten war und direkt am Sinai als noch unentfaltete Mündliche Tora offenbart wur-
104
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. I, Soloveitchik Nr. 4.3.3; und Teil IV, Kap. I,
105
Y. Leibowitz, ʼEmuna historit we-ʽArachim, Jerusalem 1982, S. 157, nach Sagi, Neʼemanut,
Leibowitz Nr. 4.5.1. S. 120; vgl. oben Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. I, Leibowitz, Nr.4.5.2
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de106 – eine Auffassung die mutatis mutandis auch von dem in diesem Band dargestellten Soloveitchik vertreten wurde. Es muss an dieser Stelle allerdings angemerkt werden, dass Leibowitz an anderen Stellen seiner Aufsätze mehrfach davon spricht, dass die Halacha gemäß der historischen Notwendigkeiten verändert wurde und verändert werden muss, wie dies im Kapitel zu Leibowitz ja ausführlich dargestellt wurde und wie er auch in dem hier zitierten Aufsatz an späterer Stelle sagt – allerdings beträfe das nicht ihre unveränderliche Zielsetzung.107 Wie immer es mit der inneren Stimmigkeit der Aussagen von Leibowitz stehen mag, für den hiesigen Zusammenhang ist es eben diese Aussage, gegen welche Sagi polemisiert, nämlich die Auffassung von der hermetischen Autarkie der Halacha und ihrer Entfaltung, die nichts mit den menschlichen und historischen Umständen und Wechselfällen zu tun habe und ausschließlich ihren internen Regeln folge. Sagi trägt seinen Widerspruch jedoch ganz in der von Hans-Georg Gadamer vorgegebenen Weise vor, indem er nicht neue Theorien entwickelt, sondern mittels historischer Untersuchungen die Befunde in der vorhandenen Halacha-Literatur und der halachischen Rechtspraxis darstellt und ins Bewusstsein ruft. Will sagen, er zeigt, dass die historischen Befunde der Vorstellung von einer Ungeschichtlichkeit der Halacha widersprechen. Er zeigt dies anhand der von der halachischen Tradition selbst herausgestellten Fundamente ihrer Rechtsautorität. Nach der formalistischen Halacha-Theorie sind es drei Säulen auf welchen diese als autark gesehene Halacha ruht, nämlich die institutionelle Autorität (der Rabbiner und Richter), zweitens der Text der Tora und der autoritativen Schriften und schließlich Grundsätze, mit deren Hilfe die noch eingefaltete Halacha im Laufe der Zeit entfaltet wird – diese Grundsätze der Auslegung sind etwa die berühmten sieben oder dreizehn Regeln mit denen die Tora ausgelegt wird.108 Die Strategie von Sagi ist nun, zu zeigen, dass alle drei Säulen nur fiktiv abgeschlossene Größen sind, während die gelebte Halacha-Wirklichkeit vielmehr von kontingenten, das heißt zeit- und ortsbedingten Größen abhängt und damit ein regulatives System ist, das sich auf die geschichtlichen, sozialen, kulturellen, moralischen und persönlichen Gegebenheiten einstellt, auf sie reagiert und entsprechend verändert und umkonzipiert wird. Wo dies nicht wahrgenommen und nicht anerkannt wird, ist ein rückschrittlicher Fundamentalismus zu beklagen.
106
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
107
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. I, zu Leibowitz, Nr. 4.5.2.
108
Vgl. zu ihnen Jüdisches Denken Bd. 1, S. 172; G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch München 1982 (7. Aufl.), S. 25–40.
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5.3.2 Die institutionelle Autorität – Text und Auslegung in der halachischen Realität und im Verständnis mancher Toragelehrten Nach der formalistischen Auffassung von der Halacha ist der Jude gebunden, der autoritativen Halacha-Institution, das heißt den rabbinischen Gerichten und Dezisoren, mit fraglosem Kadavergehorsam zu folgen, auch wenn sie »links« für »rechts« und »rechts« für »links« ausgeben. Nach diesem Prinzip sind die Vertreter der Halacha die einzig Befugten zur Auslegung der Tora und so gleichsam der Inbegriff der Mündlichen Tora,109 als autoritativer Toraauslegung schlechthin. Diese institutionelle Autorität, die zuweilen auf den antiken obersten Gerichtshof am Tempel zu Jerusalem zurückgeführt wird, erfährt aber schon an manchen Stellen der talmudischen Literatur eine Einschränkung. So wird im palästinischen Talmud gesagt, der Gehorsam werde nur gefordert, wenn die Gelehrten rechts für rechts und links für links erklären.110 Damit wird die Autorität der Rechtsinstitution nicht in sich selbst begründet, sondern alleine auf das richtige Wissen. Die Institution habe demnach ihre Machbefugnis nur dank ihres Wissens und ihrer Expertise in den Rechtstexten. Diese Beschränkung der Machtbefugnis der Rechtsinstitution zeigt sich auch da, wo ein Gelehrter, der einer Fehlentscheidung des Gerichts wider besseres Wissen folgt, für schuldig erachtet wird.111 Nach dieser Auffassung steht demnach das Wissen, das heißt das richtige Verstehen des Rechts-Textes über der halachischen Institution als solcher – der überlieferte Rechtstext und sein richtiges Verständnis ist oberste Autorität. Auch diese Machtverschiebung von der Institution zum Text kann jedoch keine formalistisch-konstitutive Rechtsauffassung begründen, weil die RechtsTexte nicht unabhängig als normative Autorität dastehen, sondern allemale der Auslegung bedürfen, wie dies ja die rabbinische Lehre von der Mündlichen Tora bestätigt, die zum Verständnis der Schriftlichen Tora für unabdingbar gehalten wurde.112 Dies gilt umso mehr für die Mündliche Tora selbst. Und so wie alle Auslegung von Texten – dies ist die Lehre der philosophischen Hermeneutik – durch Faktoren bestimmt wird, die nicht alleine im Text, sondern ebenso im Ausleger und seiner historisch bedingten Situation zu finden sind, gilt dies auch von allen Texten der Tora wie für die späteren Texte der sogenannten Mündlichen Tora, das heißt der rabbinischen Traditionsliteratur. Das bedeutet, die Toraund Halacha-Auslegung und die auf ihr gegründete Rechtsprechung, sind kein geschlossenes System, sondern das ganze System wird von externen, histori109
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 161–169. 229. 231–232; und Bd. 5, Teil II, Die jüdischen
110
Talmud Jeruschalmi, Horajot 1,5; Sagi, Neʼemanut, S. 124.
111
Mischna, Horajot 1, 1; Sagi, Neʼemanut, S. 124.
112
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
Denominationen, Nr. 2.
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schen kulturellen und anderen Faktoren beeinflusst. Dass diese Einsicht auch schon älteren Halachisten bewusst oder unbewusstermaßen bekannt war, wird im Folgenden noch gezeigt werden. Derartige externe, die Rechtsprechung beeinflussende, Faktoren sind, dies ergibt eine historische Untersuchung der vorliegenden rabbinischen Literatur, sehr unterschiedlicher Natur. Es beginnt damit, dass ein Halacha-Entscheider aus der Vielzahl ihm vorliegender Rechtsbücher und Kommentare auswählen muss, und dabei solche wählt, die seinen Anliegen am ehesten entsprechen. Diese Anliegen sind zum einen teleologischer Natur, dienen also dem Ziel, das ein Richter mit seinen Entscheidungen erreichen will, als da sind das Vermeiden von Streitigkeiten und von Verlusten, der Wunsch, Frieden zu stiften oder einer anstehenden Notsituation zu steuern. Außerdem gibt es von der rabbinischen Literatur selbst genannte Grundsatz-Anliegen, die als Intentionen der Tora schlechthin zu verstehen sind, etwa, dass die Tora stets Frieden verfolgt, dass sie moralischen Grundsätzen verpflichtet sei, wie dies zum Beispiel Radbas113 sagte: »Es steht geschrieben, ihre [der Tora] Wege sind Wege der Milde, das bedeutet, dass die Gerichtsurteile unserer Tora einleuchtend und vernünftig sind.«114Damit wird gesagt, dass solche hier als Grundsatz bezeichnete Ziele der Tora den Maßstab für die Textauslegung geben und darum sogar dem Wortsinn entgegen gedeutet werden können. Sagi bringt dafür das Beispiel des sogenannten Pikuach Nefesch, das heißt, dass zur Lebensrettung das Arbeitsverbot des Schabbat übertreten werden dürfe. Mithilfe der traditionellen Auslegungsregeln, leiten manche Halachisten aus dieser Regel ab, diese Ausnahme vom Gebot gelte nur für Menschen, welche hernach wieder den Schabbat halten, was für Gojim (Nichtjuden) natürlich nicht zuträfe, weshalb man zur Rettung eines Goj den Schabbat nicht übertrete. Demgegenüber gibt es jedoch andere Ausleger, welche auch den in der Nachbarschaft lebenden Nichtjuden als »Bruder« bezeichnen, wodurch ein ethischer Gesichtspunkt zur Halacha-Deutung herangezogen wird. Aus diesem ersten Schritt zu einer Deutung des Pikuach-Nefesch-Gesetzes mit Hilfe der Moral, die nicht Teil des Gesetzes ist, zieht der Rabbiner Jakob Avigdor115 den weitergehenden Schluss: »Wer glaubt, dass ein Jude einen Goj nicht retten müsse, ist im Irrtum. Die Rettung eines Fremdstämmigen erfolgt nicht aufgrund des Rechtes und Ge-
113
Rabbi David Ben Schlomo Ibn Simra, 1479–1573, Führer des ägyptischen Judentums.
114
Scheʼelot u-Teschuvot ha- RDBS § 627, bei Sagi, Neʼemanut, S. 129.
115
Dr. J. Avigdor (1896–1967), geb. in Galizien, überlebte die Schoah, 1920 Rabbiner in Drohobyz-Borislav, nach dem Krieg als polnischer Militärkaplan im Dienste der Rettung Überlebender. 1946 Emigration in die USA, Rabbiner in Brooklyn und Jeschivaoberhaupt, 1952 Oberrabbiner von Mexiko, Promotion 1931 an der Universität Lvov.
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setzes, sondern von Seiten der menschlichen Tugend, die den Menschen eignet […] Darum, wenn der Fall der Lebensrettung am Schabbat eintritt, ist es hinsichtlich eines bedrohten Israeliten von Seiten der Tora Pflicht, ihn zu retten, deshalb muss ein Israelit den Schabbat entweihen, um ihn zu retten. Aber wenn ein Nichtisraelit bedroht ist, besteht keine Pflicht und Gesetz [seitens der Tora], die ihn zwingt, ihn zu retten, sondern er muss dies aus Gründen der Barmherzigkeit tun.«116 Sagi bringt diesen Passus als einen der Belege dafür, dass es nicht eigentlich der Text ist, welcher über die Halacha, das heißt das gültige Recht, entscheidet – denn nach diesem könnte man das nichtjüdische Opfer aus der Befreiungsregel ausschließen –, sondern es ist der Richter oder Dezisor, welcher entscheidet, was die gültige und jeweils anzuwendende Halacha ist. Und hierfür zieht der Dezisor extra-halachische Gründe an, hier das Mitleid mit jedem Menschen. Mit Sagi: »Die Entscheidung der Halacha geschieht auf der Grundlage von außerhalachischen Grundsätzen; Grundsätze, die nicht aufgrund der Halacha selbst erschlossen werden, sondern aufgrund der Weltanschauung des Richters oder Dezisors.«117 Zu solchen außerhalachischen Grundsätzen gehören nach manchen halachischen Autoritäten auch eine Übereinstimmung der Halacha mit der Vernunft, wofür man auch die schon genannte Regel von Radbas anführen kann.118 Der halachische Richter oder Dezisor, kann also – eine Tatsache die jedem staatlichen Richter und Anwalt selbstverständlich ist – nicht einfach einen Gesetzestext ablesen und anwenden, sondern er muss Überlegungen anstellen, welches Gesetz für den vorliegenden Kasus herangezogen werden kann, wie dieser entsprechend der vorliegenden Umstände, entsprechend der vorherrschenden Moralvorstellungen, der sozialer Werte und Gegebenheiten, der menschlichen Bedürfnisse und anderes mehr, zu deuten ist, was so weit gehen kann, dass man den Richter und Dezisor geradezu als Rechtsschöpfer bezeichnen darf. All solche notwendigen Überlegungen des Richters und Dezisoren, die nicht aus den halachischen Texten selbst abzulesen sind, hat Sagis von ihm viel zitierter Lehrer Eliʽeser Goldmann metahalachische Normen genannt und diese wie folgt definiert: »Es sind Normen, die keine Verhaltensnormen sind, sondern Normen oder Grundsätze für die Auslegung der Halacha und deren Realisierung. Das heißt, Gegenstand dieser Grundsätze ist nicht die Wirklichkeit, auf welche ein bestimmtes Gesetz anzuwenden ist, sondern ihr Gegenstand ist die Halacha 116
Nach Sagi, Neʼemanut, S. 131.
117
Sagi, Neʼemanut, S. 132.
118
Sagi, Neʼemanut, S. 134.
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selbst, es sind Grundsätze, mit deren Hilfe man die Halacha selbst verstehen soll. […] Mit dem Begriff Meta-Halacha meine ich nicht alle außerhalachischen Normen, wie etwa moralische Normen, deren der Richter oder Lehrer bedarf. Die typische Aufgabe der metahalachischen Normen ist die Vermittlung zwischen solchen Normen und der halachischen Urteilssprechung.«119 Die Metahalacha enthält also solche Normen, die dem Halachisten als Leitschnur für seine Halacha-Interpretation dienen. Sie sind Übersetzungen der extrahalachischen Werte in die Sprache des Rechts, der Halacha selbst. So werden zum Beispiel die vielfältigen moralischen Werte in die schon genannte metahalachische Norm gegossen: »Ihre [der Tora] Wege sind Wege der Milde«. Eine politisch-soziale Metahalacha ist zum Beispiel der Grundsatz »Das Gesetz des Staates ist gültiges Gesetz« (Dina de-Malchuta Dina),120 schwierige notvolle historische Umstände werden zum Beispiel zur metahalachischen Formel »Zeit der Not«, menschliche Bedürfnisse zu »Die Tora erbarmt sich des Besitzes von Israel«.121 Metahalachische Normen sind also Auslegungsleitfäden, die wir in der modernen Sprache als den Geist des Gesetzes, die Intention eines Gesetzes, bezeichnen würden, die den Gesetzestext in einer Weise auslegen helfen, die den Sinn und nicht den Wortlaut des Gesetzes zu verwirklichen suchen. Diese metahalachischen Normen, die für die Rechtssetzung unentbehrlich sind, und ja auch von den traditionellen Halachisten (zwar nicht unter dem Begriff Metahalacha) anerkannt werden, führen bei der Behauptung, die Halacha sei ein konstitutives Rechtssystem zu fundamentalen Widersprüchen: »Das prinzipielle Ziel der Metahalacha ist es, die Halacha der Wirklichkeit anzupassen. Wenn dies tatsächlich die Schlussfolgerung aus der Untersuchung der Halacha selbst ist, bedeutet dies, dass die Halacha selbst die Grundlage für ihre eigene Abschaffung legt, nämlich in Fällen, in denen die Kluft zwischen der menschlichen, der gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen oder den Werten und der Halacha ins unerträgliche wächst.«122 Eine solcher interner Widerspruch, dass also ein konstitutiv-formalistisches Rechtssystem zugleich Auslegungskriterien formuliert, die ihm selbst den Boden entziehen, muss natürlich zu Recht für absurd gelten, woraus Sagi den Schluss zieht, dass die konstitutiv-formalistische Geltung der Halacha eine Fiktion ist, sie darum in Wirklichkeit als regulatives Rechtssystem zu betrachten ist. 119
Nach Sagi, Neʼemanut, S. 140.
120
Sagi, Neʼemanut, S. 154.
121
Sagi, Neʼemanut, S. 159.
122
Sagi, Neʼemanut, S. 160.
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Wo hingegen keine solche Dichotomie zwischen Realität und Gesetz angenommen wird, das heißt bei einer regulativen Gesetzesauffassung, wird durch diesen Anpassungsprozess die Halacha nicht aufgehoben, sondern reformiert und für ihre regulative Aufgabe stets neu fähig gemacht, und mithin bestätigt. Das bedeutet, die auch von der Orthodoxie anerkannte Praxis solcher metahalachischer Prinzipien würde für ein formalistisches Gesetzesverständnis eine Selbstaufhebung des Gesetzes bedeuten, nicht aber für ein regulatives Gesetzesverständnis, bei dem solche Veränderungen systemimmanent sind, als nötige Anpassung an die Wirklichkeit und damit für die weitere Handhabbarkeit des Gesetzes. Das Ziel dieser ganzen Analysen der halachischen Rechtspraxis – gegenüber der vor allem im ḥaredischen (ultraorthodoxen) Lager verbreiteten Auffassung von der abgeschiedenen Autarkie der Halacha und im Blick auf Goldmanns Einführung des Begriffs der Meta-Halacha – formuliert Sagi einmal so: »Goldmanns Auffassung, die sich aus den Tiefen der Halachatradition speist, bereitet das Tableau für eine jüdische Verpflichtung gegenüber der Halacha in einem multikulturellen Lebenskontext. Das heißt, in einem Lebenskontext, in welchem auch Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und normativen Strukturen leben. Sie sind nicht mehr in einem einzigen Lebenskontext gefangen, der ihre gesamte Erlebniswelt bestimmt. Im Gegenteil, die Lebenskontexte, in denen sie wirken, sind miteinander verschlungen und bereichern einander. Goldmann hat darauf hingewiesen, dass die halachische jüdische Tradition ein Tableau bereitstellt, das einem multikulturellen Leben entspricht, und die jüdische Verpflichtung auf die Halacha nicht verneint. Das heißt, die Treue zur Halacha verlangt keine Verneinung aller menschlichen Bereiche, in denen der Gläubige lebt und wirkt. Im Gegensatz zu der Formel, die Leibowitz für das religiöse Leben vorschlägt, in dessen Mitte die Forderung nach einer dauernden Opferbindung der menschlichen Existenz steht, weist Goldmann aus der tiefen Einsicht in die halachische Tradition auf ein Modell von tiefgreifenden Grundsätzen der Halacha, welche die Verflechtung der Halacha mit dem Geflecht des menschlichen Lebens zulassen. Nach dieser Auffassung ist die Halacha keine Mauer, welche den Gläubigen einschließt und in sich gefangen nimmt, und eine Trennung zwischen ihm und der menschlichen Existent schafft. Im Gegenteil, danach existiert die Halacha inmitten der menschlichen Existenz mit dem ganzen Reichtum ihrer Entdeckungen.«123
123
Sagi, Neʼemanut, S. 167.
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Das Ergebnis dieser Untersuchung zur Halacha ist ein weiteres Mal dazu angetan, bei Nichtreligiösen zumindest ein nachsichtigeres Verständnis für den Sinn und die Bedeutung der Halacha als religiöses Regulativ zu wecken – und gerade dies ist ja das mehrfach genannte Anliegen von Sagi. Die in diesem Buch gewonnenen Ergebnisse einer dynamischen, die Lebensverhältnisse und kulturellen und persönlichen Eigenheiten respektierenden Halacha erweitert Sagi in einem weiteren Buch zu der grundsätzlichen Prüfung des Verhältnisses von Religion und Moral im Judentum, was im Folgenden noch kurz darzustellen ist.
5.4
Das Judentum zwischen Religion und Moral
In seinem 1998 erschienenen Buch Das Judentum: Zischen Religion und Moral124 hat Sagi die Frage nach der Stellung der Halacha auf eine grundsätzlichere Basis gestellt. Hier wird die Frage nach dem Verhältnis von Religion, deren Realisierung die Halacha ist, und der Ethik, beziehungsweise der Sittlichkeit (Moral), gestellt. Seine Grundthese ist die, dass in der jüdischen Tradition, sprich in der Halacha-Realisierung, vorwiegend das Prinzip der menschlichen ethischen Autonomie behauptet wurde, »die Hauptströmung der jüdischen Tradition bejaht die ethische Autonomie, während die Positionen, welche eine nachhaltige Abhängigkeit der Ethik [von der Religion] behaupten nur gelegentlich vertreten werden.«125 Und: »Die häufigsten Antworten aus der jüdischen Tradition auf die beiden Fragen [also auf die Abhängigkeit der Moral von Religion und Halacha sowie den Umgang der jüdischen Tradition mit dem normativen Konflikt zwischen Religion und Moral] lehren, dass die Annahme der Unabhängigkeit der Moral von der Religion, die allgemein akzeptierte ist.«126 Das heißt, die Ethik ist nicht der Halacha unterworfen, sondern umgekehrt die Halacha der autonomen menschlichen Ethik. Schon die hier gewählten Formulierungen zeigen, dass Sagi wiederum nicht nur Historiker sein will, sondern mit seinen Recherchen ein religionspolitisches Ziel verfolgt, nämlich der Wirkung auf die jüdische Öffentlichkeit – insbesondere Israels –, mit deren Hilfe eine gemeinsame Plattform für Religiöse und Säkulare angeboten werden soll. Deutlichstes Indiz für die Auffassung einer autonomen Moral in der Halacha muss sein, dass es bei einer solchen Dualität von Gottesgebot und Moralautonomie zwangsläufig Konflikte zwischen der religiösen und der ethischen Forderung 124
Sagi, Avi, (be-Hischtatfut Dani Statman), Jahadut: Ben Dat le-Musar, Jerusalem 1998 (1999,
125
Sagi, Jahadut, S. 13; u. siehe oben, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. I, zu Leibowitz, die
126
Sagi, Jahadut, S. 350.
2. Aufl.). schroffe Trennung von Ethik und Halacha durch Leibowitz.
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geben muss. Und in der Tat ist die jüdische Traditionsliteratur voller Erörterungen solcher Wertekonflikte. Auch hier ist Sagis paradigmatischer Widerpart Jeschajahu Leibowitz, der der religiösen Forderung absolute Priorität einräumt, vor der die moralische Forderung zurückzustehen hat. Leibowitz zeichnet darum die menschliche Situation – ähnlich wie Kierkegaard – als die eines steten Konflikts zweier Forderungen, bei der nach Leibowitz der Mensch sich für die Religion zu entscheiden habe. Demgegenüber geht Sagi einen dialektischen Weg, der zum einen die Autonomie der Moral gegenüber dem Gottesgebot unterstreicht, zugleich aber betont, dass dieser autonomen Ethik in der jüdischen Tradition ein religiöser Wert beigemessen wird. Er meint, dass sich das paradigmatisch schon in der hebräischen Bibel an der bekannten Debatte Abrahams mit Gott zeigt, der im Begriff war, die Sodomiter wegen ihrer notorischen Frevelhaftigkeit zu vernichten. Abraham argumentiert da mit einer ethischen Maxime gegen Gott: »Ferne sei es von Dir, dergleichen zu tun, den Gerechten mitsamt dem Frevler zu töten, so dass der Gerechte dem Frevler gleich wäre. Ferne sei es von Dir. Sollte der Richter aller Welt nicht Gerechtigkeit üben?«127 Schon hier zeigt sich, dass Gott offenbar selbst in einem solchen Wertekonflikt steht, er aber wie der Mensch gehalten ist, der ethischen Forderung die Priorität zu geben. Mensch und Gott sind also gleichermaßen an die Ethik gebunden. Dies entspricht auch der alten rabbinischen Auffassung, dass der Mensch erst Ebenbild Gottes wird, wenn er dem ethischen Handeln Gottes folgt, wozu schon im ersten Band dieser Darstellung das Wesentliche gesagt wurde.128 Gott und Mensch unterliegen demnach derselben ethischen Forderung. Die Frage stellt sich aber nun, ob das ethische Gebot ethisch ist, weil es von Gott geboten wurde, also Religion und Ethik identisch sind, oder ob die Ethik ihre eigene Quelle und Rechtfertigung gegenüber dem religiösen Gebot besitzt. Auch in dieser Hinsicht glaubt Sagi eine klare Antwort in der Tradition gefunden zu haben, die für eine Trennung und Konstatierung unterschiedlicher Quellen von autonomer Ethik und des religiösen Rechts, das heißt der Halacha, spricht. Sagi kann sich dazu zu Recht schon auf die mittelalterlichen Philosophen berufen, wie sie hier im ersten Band des Jüdischen Denkens dargestellt wurden, die ja für die Begründung schon der biblischen Gebote eine ganze Reihe außerreligiöser Begründungsmuster gefunden haben, rationale, hygienische, soziale etc.129 Er fasst seine diesbezüglichen Untersuchungen so zusammen: »Das Judentum anerkannte mehrere Gesetzes-Systeme, deren Ursprung nicht der Befehl Gottes ist. Die Halacha umfasst zwar sämtliche Lebensbereiche, 127
Gen 18, 25, Sagi, Jahadut, S. 14.
128
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 280–288.
129
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 393–400. 424–230. 480–487. 540.
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aber sie anerkennt zugleich, dass nicht auf allen Gebieten die halachische Norm aufgrund eines göttlichen Befehls oder aufgrund der Auslegungen der autoritativen Interpreten geboten ist. Das göttliche Gesetz legt nicht die Bereiche des Guten fest. Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen den das Gesellschaftsleben betreffenden Gesetzen, welche die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen ordnen und den Ritualgesetzen, welche die Gebetszeiten und die Opferordnungen bestimmen. Die Rechtfertigung und die Quelle der Ersteren liegen in den Zielen, welche sie erreichen wollen; die hauptsächlichen, doch nicht ausschließlichen, Begründungen der Letzteren liegen meist im Gebot Gottes.«130 Um diese seine Sicht abzusichern, beton Sagi mit allem Nachdruck, dass sie aus der phänomenologischen Aufarbeitung der langen Halacha-Praxis gewonnen wurde und nicht aus grundsätzlichen geradezu dogmatischen Sichtweisen. Und aus dieser empirischen Durchsicht durch die Halacha-Tradition ergibt sich: Die Aussage, dass die Halacha alle Lebensbereiche des Menschen umfasst, sagt noch nichts darüber aus, wie die einzelnen Gesetze begründet und gerechtfertigt werden. Es gab dazu schon den aus der Bibel abgeleiteten talmudischen Grundsatz, dass die Tora nicht im Himmel ist, sondern auf Erden bei den Menschen, und sie alleine die Macht der Auslegung und Anwendung haben, wie es in jener schönen – auch hier im ersten Band zitierten131 – Geschichte dargestellt wird, in welcher der Natur, den Lehrhauswänden und selbst einer Himmelsstimme untersagt wird, sich in die Rechtsdebatte der Gelehrten einzumischen.132 Das heißt, die menschlichen Rechtsgelehrten entscheiden, entwickeln und kreieren das geltende Recht aufgrund nicht religiöser Gebotsbestimmungen. Und zu solchen Einflussfaktoren auf die Rechtsentscheidungen gehört auch die autonome Moral der jeweiligen Zeit und Gesellschaft. Zur Frage der Anerkennung von Rechtsbereichen innerhalb der Halacha, die nicht direkt dem Gebot Gottes entspringen, führt Sagi zwei dezidiert halachisch denkende Autoren aus der neueren Zeit an, welche die alte Tradition der Unterscheidung von Vernunftgeboten und Gehorsamsgeboten, wie sie schon der erste jüdische Rationalist des Mittelalters, Saʽadja Gaʼon formuliert hatte,133 weiterentwickelten.
130
Sagi, Jahadut, S. 357.
131
Jüdisches Denken, Band 1, S. 231–232.
132
Nach Babylonischer Talmud, Baba Mezia 59a; Sagi, Jahadut, S. 358.
133
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 394.
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Der erste von ihnen ist der Rabbiner Israel Mosche Ḥasan (Ismir 1808 – Sidon/Libanon 1863)134 und der zweite Rabbi Schimʽon Jehuda Schkop (Litauen 1860 – Grodno 1940/1).135 Sie beide entwickelten Theorien zum Verhältnis von Gottesgebot und Gesellschaftsrecht innerhalb der Halacha. Israel Ḥasan differenzierte innerhalb der Halacha nach »Tora-Rechtssatzungen, welche Staatliches betreffen« (Mischpatim toratijim medinijim) und »Göttliche Gesetze« (Ḥukkim ʼelohijim). Die erstere Gruppe sind »gesellschaftlich-politische« Rechtssachen und die letzteren »religiöse Gebote«. Die politisch-gesellschaftlichen Rechte sind rational und auf ein menschlich-gesellschaftliches Rechtsziel ausgerichtet. Die rationale Grundlage dieser Gesetze ist nach Ḥasan so klar, »dass man für sie fast nicht die [Sinai-Offenbarung] gebraucht hätte, denn sie hätten wir auch aus unserem Verstand angeordnet.«136 Diese Verstandeseinsicht erlaubt es dem Richter, oder fordert ihn geradezu dazu auf, gelegentlich von einer gültigen Halacha abzuweichen, um das Ziel »Gerechtigkeit« zu erlangen.137 Wichtig ist hier noch festzustellen, dass die positive oder negative Bewertung einer Handlung nicht damit gegeben ist, dass Gott sie befohlen hat, sondern umgekehrt, Gott hat etwas befohlen weil es »in den Augen Gottes und der Menschen gut ist«.138 Es ist also die Ethik, die Gottes Befehlshandeln bestimmte und nicht umgekehrt, dass etwas moralisch gut wäre, weil Gott es befohlen hat. Demgegenüber sind die religiösen Gebote, wie die Speisegebote, das Schatnes- (Mischgewebe)Verbot, die Opfergebote etc., dem menschlichen Verstand verschlossen und beruhen einzig auf Gottes Ratschluss.139 Aber wie schon Saʽadja Gaʼon glaubt auch Ḥasan an einen letztlichen Sinn und ein Ziel dieser Gebote, selbst wenn sie unserem Verstand (noch) nicht einsichtig sind.140 Schimʽon Schkop nimmt gleichfalls die alte Trennung in Mischpatim und Ḥukkim auf141 unterscheidet allerdings in Mischpatim, das heißt gesellschaftlichpolitische Gesetze und Mizwot. Beides sind zwei voneinander zu unterscheidende Rechtsbereiche, auch wenn sie sich überlappen können. Dies ist besonders eindrücklich an der Frage des religiösen Verbotes, Zins zu nehmen, zu dem 134
1811 mit den Eltern Umzug nach Palästina, hier Mitglied des großen Gerichts in Jerusalem ab 1842. Auslandsreisen und europäische Rabbinatsposten ab1843/44, 1848–1852 Oberrabbiner in Rom, dann auf Korfu, bis 1847.
135
Jeschiva-Studium in Mir, Woloschyn (bei Ḥajjim Soloveitchik), 1902 Jeschivavorsteher in Telz, 1906–1919 Jeschivavorsteher in Moltsch, 1920 Berufung zum Jeschivavorsteher in Grodno.
136
Nach Sagi, Jahadut, S. 97. 318.
137
Sagi, Jahadut, S. 319.
138
Sagi, Jahadut, S. 321.
139
Sagi, Jahadut, S. 319.
140
Sagi, Jahadut, S. 320.
141
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 524. 532–535.
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Schkop sagt: Selbst wenn es das religiöse Verbot gibt, so hat doch nach den besitzrechtlichen Mischpatim das religiöse Verbot keinen Einfluss auf das Besitzrecht, die eingenommenen Zinsen gehören dennoch dem Kreditgeber: »Auch wenn es von Seiten des Gottesgebotes (Mizwat Adonaj) ein Verbot für den Zinsgeber gibt, den Zins zu geben, wie auch für den Nehmer, ihn anzunehmen, gibt es nach unserer Auffassung dennoch eine Schuld, weil sowohl das Soll (die Schuldverpflichtung) wie auch das Haben (Haben-Recht) des Zivilrechts (Din mischpati) überhaupt nicht zu den Regelungen der Gebote (Mizwot) und Verbote gehört.«142 Im Gegensatz zu den Bestimmungen der religiösen Gottesgebote gehören die zivilrechtlichen Angelegenheiten nach Schkops Definition der »Wirklichkeit« an und nicht der religiösen Gebotserfüllung. Sagis Resümee lautet entsprechend: »Rav Schkop unterscheidet demnach zwischen zwei Schichten, aus welchen die Halacha zusammengesetzt ist: Die zivilrechtliche Schicht (mischpatiʼesrachi) und die religiös-verbietende (ʼisuri-dati). Die erstere Schicht ist universal und nicht von Gottes Befehl abhängig, während die zweite Schicht nur für das Volk Israel Gültigkeit besitzt und vom Befehl Gottes abhängt. Der Jude gehört mithin zwei normativen Gemeinschaften an: der allgemeinmenschlichen (universalen) Gemeinschaft, die den Mischpat-Gesetzen unterliegt, und der partikularen jüdischen Gemeinschaft, die den speziellen Anweisungen für das Volk Israel unterliegt.«143 Abschließend formuliert Schkop noch eine weitreichende Auffassung, nämlich, dass der anscheinende Widerspruch zwischen diesen beiden Rechtsbereichen dadurch letztlich aufgehoben wird, dass nämlich auch der religiöse Bereich letztlich ein Auftrag des zivilrechtlichen ist, will sagen, auch der religiöse Gebotsbereich wird letztlich von der menschlichen Vernunft geboten.144 Mit andern Worten: Der der menschlichen Vernunft unterliegende bürgerliche Rechtsbereich fordert recht betrachtet auch die Gottesverehrung und damit den Gehorsam gegenüber dem Gottesgebot. Diese Auffassung kann mutatis mutandis natürlich auch zur Forderung einer Staatsreligion führen. Diese mögliche, so ganz anders ausgerichtete Deutung, zeigt, dass Sagi in dieser Sache nicht einfach ein unbeteiligter Beobachter oder Historiker ist, sondern Kämpfer für eine Deutung oder sagen wir Schlussfolgerung ist, welche die menschliche Autonomie in Sachen der 142
Sagi, Jahadut, S. 98.
143
Sagi, Jahadut, S. 99.
144
Bei Sagi, Jahadut, S. 99.
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Halacha und Ethik stärkt. Mit dem solchermaßen sehr persönlich verfolgten Anliegen bleibt Sagi seinen Auffassungen treu, die er in dem hier unten besprochenen Sammelband zur jüdischen Philosophie im 21. Jahrhundert formulierte,145 wo er einer individuellen und damit pluralistischen Palette jüdischer Philosophien das Wort redet. Es ist keine Frage, mit solchen Überlegungen, welche die menschliche Autonomie auch in Sachen der Halacha stärkt, ist zumindest für liberale Halachisten und tolerante Säkularisten ein Gesprächsforum geschaffen. Mit Vertretern der der Sichtweise von einer konstitutiven Halacha wird ein solches Gespräch aber wohl weiterhin unmöglich bleiben.
145
Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil VI, Themen und Strukturen für eine Philosophie im 21. Jahrhundert, Nr. 4.1.
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III. POLITIK DER VERNUNFT AUS DEN QUELLEN DES JUDENTUMS – MODUS VIVENDI STATT FRIEDENSUTOPIEN MICAH GOODMAN (GEB. 1974) 1.
Biographisches
Micah (Micha) Goodman, geboren 1974, nach dem Studium an der Jeschiva eines religiösen Kibbuz studierte er an der Hebräischen Universität in Jerusalem und beschloss diese 2005 mit einer Promotion in der Abteilung »Jewish Thought« über die Historiosophie von Maimonides und Nachmanides. Neben der Leitung des Bet Midrasch Jisraeli-Ein Prat für junge Erwachsene lehrt er auch an seiner Alma Mater in Jerusalem und ist Fellow am renommierten Shalom-Hartman-Institute in Jerusalem. Er schrieb mehrere mit Preisen ausgezeichnete Bestseller zur jüdischen Geistesgeschichte, zu Maimonides, Jehuda ha-Levi und biblischen Texten.
2.
Der politische Diskurs in Israel um die besetzten Gebiete
2.1
Die Zielsetzung des Buches »Die Falle von 1967«
Malkod 67 lautet der hebräische Titel des 2017 erschienenen Buches von Micah (Micha) Goodman,1 den man als »Die Falle von 1967« übersetzen könnte. Gemeint ist damit natürlich die politische Situation in Israel seit der Besetzung der Westbank im Sechstagekrieg von 1967. Will man den Charakter und die Zielsetzung dieses in Israel viel diskutierten Buches beschreiben, so passt am besten die an Hermann Cohens »jüdischen Klassiker« angelehnte Beschreibung »Die Politik der Vernunft aus den Quellen des Judentums«. Mit diesem Buch will Goodman in die Debatte um die heiß umstrittene Politik hinsichtlich der besetzten Gebiete einen Faden der Vernunft einziehen und dies in einer Weise, die er in den klassischen Quellen des Judentums, der Bibel und des Talmud, vorgezeichnet sieht. Natürlich ist auch dies eine individuelle Auswahl aus der vielseitigen und oft widersprüchlichen jüdischen Tradition, die wie jeder Bezug auf diese Tradition dazu dient, die eigene Sicht der Dinge in den jüdischen Diskurs einzustellen, um ihr Gehör zu verschaffen. Dabei geht es vor allem darum, wie dies der Untertitel des Buches sagt, »die Gedanken hinter der Auseinandersetzung, welche Israel spaltet« aufzuzeigen, und sie gegeneinander abzuwägen – meist aber mit 1
Micha Goodman, Malkod 67. Ha-Raʽajonot me-ʾachore ha-Machaloket sche-koraʽat ʾet Jisrael, Modiʽin 2017 (Die Falle von 67. Die Ideen hinter der Auseinandersetzung, welche Israel spaltet).
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dem Resultat, dass unparteiisch betrachtet beide Seite der Kontroverse recht haben, man folglich in einem echten Dilemma steckt, aus dem man nur mit einer neuen Form des Denkens herausfinden könne. Den Titel seines Buches schöpfte Goodman aus dem bekannten Buch des amerikanisch jüdischen Schriftstellers Joseph Heller, das den Titel Catch 22 trägt. Im Zentrum des Romans von Heller steht eine absurde Regel des amerikanischen Militärs für die Möglichkeit, aus dem Dienst als Kriegspilot befreit zu werden. Laut dieser Regel kann man als Kriegspilot nur dann entlassen werden, wenn man geisteskrank ist und um die Entlassung selbst nachsucht. Wer aber einen solchen Entlassungs-Antrag stellt, kann nicht geisteskrank sein und darf darum nicht entlassen werden.2 Es ist eine solche Absurdität der Möglichkeiten, die sich gegenseitig widersprechen und aufheben, welche Goodman um die Frage des Rückzuges oder Bleibens in den seit 1967 besetzten Gebieten der Westbank diagnostiziert. Um nochmals den Anklang an Hermann Cohen aufzunehmen, kann man wohl sagen, dass so wie in Cohens Zeit die Religion offenbar ein brennendes Problem der gespaltenen Gesellschaft war, dessen man nur durch einen Entwurf der Vernunft Herr zu werden hoffen konnte, so scheint das zentrale Problem im heutigen Israel, wie zum Teil auch im weltweiten Judentum darüber hinaus, die Politik zu sein – und hier natürlich, insbesondere das mit dem an ein Wunder grenzenden Sieg des siebenundsechziger Krieges entstandene Dilemma, zwischen dem Sicherheitsbedürfnis des Staates Israel auf der einen und dem ethischen Problem der Herrschaft über eine nichtjüdische Bevölkerung auf der anderen Seite. Goodman stellt in seinem Buch zunächst die politischen Ideologien der zionistischen Gründerväter einander gegenüber und danach, nachdem er deren Zusammenbruch konstatiert, die Argumentationen auf der linken wie der rechten politischen Seite, um deren Motivationen und Anliegen sichtbar zu machen. Zu den Stärken des Buches gehört, dass es keine der beiden Seiten verurteilt, sondern deren berechtigte Anliegen würdigt und so die ganze Debatte als ein echtes Dilemma sichtbar werden lässt. Erst nachdem dies Schritt für Schritt geschehen ist, plädiert Goodman für einen neuen Politikansatz, der nicht eine utopisch erscheinenden Lösung dieses wahrhaften Problems anstrebt, sondern stattdessen den bescheideneren Weg der Handhabung des Problems vorschlägt, um dessen lebensbedrohliche Gefahren zu minimieren – dies ist der vernünftige Realismus, den der Autor vorschlägt. Auf die beiden am Ende des Buches vorgetragenen konkreten Handlungsvorschläge soll hier indessen nur kurz eingegangen werden 2
Goodman gibt diese seine Quelle erst im dritten Teil seines Buches an, S. 131. Der Originaltitel: J. Heller, Catch-22, Simon & Schuster 1961; deutsch: Catch 22 (Fischer) Frankfurt am Main 1971 und 1994 mit einem Nachwort des Autors.
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– auch sie können leicht dem Verdikt der politischen Einseitigkeit verfallen – Goodman nennt den einen Vorschlag selbst »gemäßigt links« und den anderen »gemäßigt rechts«. Entscheidender ist im Rahmen des Jüdischen Denkens, wie der Autor im Rückgriff auf biblische und altjüdische Präzedenzen versucht, aus einer politischen Sackgasse, oder eben der »Falle« herauszuführen. Grund für Goodmans Versuch, nach einer neuen politischen Auseinandersetzung im israelischen politischen Diskurs zu suchen, ist die Beobachtung, dass die Auseinandersetzung über die besetzten Gebiete keine wirkliche Sachauseinandersetzung mehr ist, sondern eine Auseinandersetzung um Identitäten. Werden bestimmte Argumente vorgetragen, wird man sogleich als »links« oder als »rechts« kategorisiert, ein differenzierendes Dazwischen gibt es nicht mehr. Der Kampf um die Politik hinsichtlich der besetzten Gebiete ist ein Kampf um Identitäten geworden, der es nicht mehr erlaubt, die Argumente der anderen Seite anzuhören oder gar zu erwägen. Die Auffassung der je anderen Seite wird nicht nur als falsch, sondern als gefährlich und bedrohlich von vorneherein als indiskutabel abgewiesen. So glauben die Rechten, dass ein Rückzug aus den besetzten Gebieten den Staat Israel in seiner Verteidigungsfähigkeit schwächen und darum letztlich zum Zusammenbruch führen würde, während die Linken glauben, die weitere Besetzung der Gebiete würde Israel moralisch aufreiben, es in der Welt politisch vereinsamen und schließlich wegen des demographischen Damoklesschwertes einer arabischen Mehrheit gleichfalls zum Einsturz – vor allem als jüdischem Staat – führen. Dieses Lagerdenken aufzubrechen ist das Ziel des Buches. Die besondere Erschwernis für die Debatte um die besetzten Gebiete ist laut Goodman die, dass die Debatte auf israelischer, sprich jüdischer, Seite von Furcht vor den Palästinensern und auf Seiten der Palästinenser durch das Gefühl der Demütigung durch Israel bestimmt werde. Auf israelischer Seite beruhe diese Furcht auf der der seit Jahrzehnten andauernden Auseinandersetzung, die in den letzten drei Generationen durch den palästinensischen Terror verstärkt wurde, der sein geplantes Ziel, die Verängstigung der Israelis, auch tatsächlich erreicht habe. Das palästinensische Gefühl der Demütigung habe seine Ursache in der jahrzehntelangen Beherrschung der palästinensischen Zivilbevölkerung durch die israelische Armee. Allerdings, so meint Goodman, seien diese Gefühle, welche die Auseinandersetzung auf beiden Seiten prägten, nicht alleine durch die seit 1967 eingetretene Situation begründet, sondern reichten auf beiden Seiten archetypisch viel tiefer in die Geschichte hinab. Auf der jüdischen Seite war diese Geschichte eine Geschichte von Verfolgungen. »In der kollektiven jüdischen Erinnerung wird diese Vergangenheit als eine Reihe von Vertreibungen und Pogromen begriffen.« Wie
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dies ja auch die Pesach-Haggada formuliert: »In jeder Generation sind sie gegen uns aufgestanden, um uns zu vernichten.«3 Die Schmach auf der palästinensischen Seite sei genährt durch die muslimische Scham, darüber, dass die hochstehende muslimische Kultur des Mittelalters, welche die europäische Zivilisation in vielen Wissenschaften geprägt und beflügelt hatte, seit der aufbrechenden Renaissance stagnierte und weit hinter die europäische Zivilisation zurückgefallen und darnieder gegangen sei. Im Gefolge hätten die europäischen Zivilisationen ihren wissenschaftlich-technologischen und durch kritisches Denken beflügelten Vorsprung auch im Bereich der Machtpolitik eingesetzt und sich im muslimischen Bereich ausgebreitet: »Diese schmerzhafte Wendung des Islam liegt an der Wurzel des Gefühls der Demütigung vieler Muslime. […] Die Last dieses Bewusstseins wirkt im Kampf der Palästinenser gegen die Israelis nach. Die Israelis werden als westliche Eindringlinge betrachtet, die in den arabischen Bereich eindrangen. Der Erfolg des Zionismus ist eine lebendige schmerzhafte Erinnerung an die muslimische Erniedrigung durch die westliche Zivilisation.«4 Der israelisch-palästinensische Konflikt ist mithin nicht nur ein militärischer und territorialer, sondern ist tief in der Psyche auf beiden Seiten verankert, was seine bewegungslose Verkrampfung wesentlich bestimmt: »Die existentiellen jüdischen Gefühle prallen auf die existentiellen Gefühle der Muslime und lassen die Möglichkeiten, den Konflikt zu beenden, scheitern. Der Konflikt hat eine psychologische Tiefe und diese wiederum hat einen historischen Grund. Die gesamte jüdische und muslimische Geschichte wirkt in dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nach. Sie prallen hier aufeinander.«5 Die Verknüpfung all seiner Argumente mit der jüdischen Tradition zeigt Goodman sogleich zu Anfang, wenn er den Anlass für seine Intervention mit der biblischen Tradition des Jobeljahres, dem jeweils fünfzigsten Jahr, verbindet, das alle wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen wieder auf ihren Ursprung zurückstellt, um mit allem einen neuen Anfang zu setzen. Das Motto für seine Argumentation bezieht Goodman aus jener sagenhaften Episode im Talmud, nach der eine Stimme vom Himmel beiden sich widersprechenden Auffassungen der Schulen Hillels und Schammais ihre himmlisch sank3
Goodman, S. 16–17.
4
Goodman, S. 18.
5
Goodman, S. 18.
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tionierte Richtigkeit bescheinigt und dann dennoch die Halacha nach der Schule Hillels festlegt – und dies, weil die Hilleliten, im Gegensatz zu den Schammaiten bereit sind, auf die Argumente der andern Seite zu hören: »Drei Jahre stritten die Schule Schammais und die Schule Hillels: Eine sagte, die Halacha sei nach ihr zu entscheiden und die andere sagte, die Halacha sei nach ihr zu entscheiden. Da ertönte eine Himmelsstimme und sprach: Die Worte der einen und der anderen sind Worte des lebendigen Gottes, jedoch ist die Halacha nach der Schule Hillels zu entscheiden. Wenn aber die Worte der Einen und der Anderen Worte des lebendigen Gottes sind, weshalb war es der Schule Hillels beschieden, dass die Halacha nach ihr entschieden wurde? Weil sie verträglich und bescheiden war und sowohl ihre eigene Ansicht als auch die der Schule Schammais studierte; noch mehr, sie stellte sogar die Worte der Schule Schammais vor ihre eigenen.«6 Es ist das, was Goodman beklagt, dass die ursprünglichen, von den Vätern des Zionismus vorgetragenen kontroversen Argumente inzwischen den Status von Ideologien angenommen hätten, die aus Argumenten Parteiidentitäten machten, welche den tiefen Riss in der israelischen – auch gesamtjüdischen – Gesellschaft verursachten, in dem man nicht mehr Argumente austauscht, sondern sich als links oder rechts, als Verräter oder moralloser Besatzer verunglimpft. Dieses binarische Denken gelte es darum aufzubrechen, dahingehend, dass man nicht mehr nur die Alternative von Friede hier und totaler Auseinandersetzung dort sieht, sondern wie es schon der Talmud formuliert, Aufgabe der Gelehrten sei es, »den Frieden zu mehren«, nicht etwas absolut Abwesendes erst bringen zu müssen.7 Sprich, in der innerjüdischen wie in der israelisch-palästinensischen Auseinandersetzung gelte es, Schritte zu unternehmen, die zu einer Beruhigung und einer auch nur leidlichen Stabilisierung führen und nicht dem utopischen Hoffen auf einen wunderbar ausbrechenden Frieden nachzuhängen.
2.2
Die zionistischen Ideologien seit der Staatsgründung
2.2.1 Links und Rechts in der politischen Auseinandersetzung Israels Um die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen und Positionen in der Debatte um Frieden und besetzte Gebiete verstehen zu können, skizziert Goodman die Ursprünge im rechten und linken Lager innerhalb der zionistischen Be6
Babylonischer Talmud, Eruvin 13b; Goodman, S. 13
7
Babylonischer Talmud, Berachot, Fol. 64a; Goodman, S. 20.
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wegung und deren Transformation bis in die Gegenwart. Kurz gesagt wandelte sich die Rechte von einer liberalen Rechten zu einer messianischen Rechten und die Linke von einer sozialistischen Linken zu einer staatspolitischen Linken.8
2.2.2 Die politische Rechte Der Vater der nationalistisch gesonnenen politischen Rechten innerhalb der zionistischen Bewegung, dessen Erbe von Männern wie Ariel Sharon, Menachem Begin und wohl auch Benjamin Netanjahu und anderen, allerdings mit erheblichen Veränderungen, bis in die Gegenwart getragen wird, war der Begründer des zionistischen »Revisionismus«, der Schriftsteller Vladimir Zeʼev Jabotinski (1880–1940). Der Begriff des Revisionismus leitet sich davon ab, dass die Partei von Jabotinski die von der britischen Mandatsmacht vorgenommenen Abtrennung Trans-Jordaniens, also der östlich des Jordan gelegenen Gebiete des Mandatsgebiets »Palästina«, revidieren wollte. Dies aus dem Grund, weil die vom Völkerbund den Briten in der Konferenz von San Remo übertragene Aufgabe des Mandats vorsah, dass ein Ziel des Mandatsträgers sein müsse, die Balfour Declaration zu realisieren, also die »Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina«,9 wobei das damit gemeinte Palästina das Land beiderseits des Jordan umfasste. Jabotinski vertrat deshalb die Auffassung, so Goodman, dass das zu errichtende jüdische Nationalheim ganz Palästina umfassen müsse – nicht also Moses habe aufgrund von Gottes Anweisung die Grenzen von Erez Jisrael festgelegt, sondern der Völkerbund im Beschluss von San Remo, er habe den Juden dieses Land zugesprochen nicht Gott im Bund mit Abraham.10 Diese gewiss mögliche, aber nicht notwendige Deutung des Mandats von San Remo ist eine der drei Grundpositionen des politischen Denkens von Jabotinski,
8
Goodman, S. 43.
9
Der diesbezügliche Wortlaut des Palästina-Mandats laut des Avalon Projects (Documents in Law, History and Diplomacy) der Yale Law School: »Whereas the Principal Allied Powers have also agreed that the Mandatory should be responsible for putting into effect the declaration originally made on November 2nd, 1917, by the Government of His Britannic Majesty, and adopted by the said Powers, in favor of the establishment in Palestine of a national home for the Jewish people, it being clearly understood that nothing should be done which might prejudice the civil and religious rights of existing nonJewish communities in Palestine, or the rights and political status enjoyed by Jews in any other country; and whereas recognition has thereby been given to the historical connection of the Jewish people with Palestine and to the grounds for reconstituting their national home in that country; […]«, online: http://avalon.law.yale.edu/20th_century/palmanda.asp
10
Goodman, S. 34.
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ein geographischer Maximalismus eines Groß-Israel. Mit dieser geographischen Maximalforderung hat Jabotinski die weitere verbunden, dass die Juden in diesem Land eine demographische Mehrheit besitzen müssten. Dies weil, so Goodman, Jabotinskis Menschenbild von einem grundsätzlichen Verdacht gegen alle Menschen geprägt war – er hat diese Haltung gegenüber der Treue der Briten zur Balfour Declaration geäußert, gegenüber Deutschland dessen Judenvernichtungspolitik Jabotinski vorhersagte und deshalb entsprechende Evakuierungsmaßnahmen der europäischen Juden nach Palästina vorschlug, und schließlich gegenüber den Arabern, von denen er, abweichend von der Auffassung anderer Zionisten, nicht glaubte, dass sie dank eines zu erwartenden wirtschaftlichen Gewinnes durch den Zionismus, ihre Gegnerschaft gegen das Judenprojekt aufgeben würden. In allen drei Punkten hatte Jabotinski recht behalten. Darum wird bis heute seine Auffassung weiter vertreten, dass allein eine jüdische Mehrheit in Palästina die jüdische Existenz in diesem Land sichern werde und nur aufgrund einer solchen Mehrheit könne dann den nichtjüdischen Minderheiten im Land durch die Mehrheit volle Bürgerrechte gewährt werden. Weil die Geschichte die Skepsis von Jabotinski bestätigte, blieb gerade dieser letzte demographische Punkt ein wichtiges Argument bis in die Gegenwart. Die Offenheit Jabotinskis den verbleibenden Minderheiten gegenüber war, so Goodman, in einer liberalen politischen Grundhaltung begründet, welche dem Individuum den Primat vor der Kollektivität des Staates einräumte. Der letzte zu nennende Punkt war, dass Jabotinski ein areligiöser säkular eingestellter Denker war. Zusammenfassend charakterisiert er Jabotinski so: »Die Ambition Jabotinskis war dreifach, demographisch, geographisch und liberal,«11 wobei Letzteres in seiner säkularen Grundhaltung begründet war. Diese rechten Grundpositionen wurden von den politischen Erben Jabotinskis durch den Lauf der Ereignisse erheblich verändert. Nachdem im Sechstagekrieg die geographische Zielsetzung Jabotinskis – unter Ausschluss Transjordaniens – immerhin eine reale Möglichkeit geworden war, habe die erste sogenannte Intifada, der sogenannte »Krieg der Steine« seit 1987 bei der politisch Rechten eine Wende gebracht. Der politische Liberalismus Jabotinskis, der bereit war, den Minderheiten gleiche Bürgerrechte einzuräumen, kam mit dem geographischen Maximalismus in Konflikt, denn angesichts des Aufruhrs der Intifada musste die Gleichberechtigung der arabischen Minderheit in den besetzten Gebieten als ein Sicherheitsproblem erscheinen, weshalb die Rechte dieser Minderheit beschränkt werden mussten. Hinzu trat außerdem das Bewusstsein um das demographische Problem, das sich mit den besetzten Gebieten verschärfte, dass also die jüdische Mehrheit in dem so erweiterten Staat in absehbarer Zeit in Gefahr geraten müsste. Am politi11
Goodman, S. 38.
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schen Horizont tauchte nun die Notwendigkeit auf, sich zwischen der geographischen Maximalforderung und der demographischen Gefahr zu entscheiden. Während Jabotinski vor der Schoah noch hoffen konnte, die jüdische Mehrheit durch eine massenhafte Einwanderung aus Europa zu sichern, erscheint dies nun nicht mehr möglich, so dass zur Sicherung dieser Mehrheit nur noch der Rückzug aus den besetzten Gebieten in Frage kommt, also durch den Verzicht auf die ursprünglich rechte geographische Vision – eine Konsequenz die Ariel Sharon durch den Rückzug aus Gaza als ersten Schritt gezogen hat und die nunmehr auch bezüglich der Westbank von Vertretern der Rechten als Option erwogen wurde. Allerdings, meint Goodman, wurde die Bereitschaft zum Teilverzicht der säkularen Rechten vom Schlage Jabotinskis seit dem Sechstagekrieg von einer anderen Seite aufgefangen, wodurch die alte säkulare Rechte zu einer neuen wurde: »Eine andere ideologische Gruppe wurde in der Rechten dominierend und beflügelte sie mit neuer Begeisterung, nämlich die messianisch-religiöse Rechte. Die neue Rechte redete nicht länger von dem durch die internationale Völkergemeinschaft zugesagten Land, sondern begann von dem durch Gott zugesprochenen Land zu reden. Unser Recht auf das ganze Land kommt nicht von der Versammlung in San Remo, sondern von Abrahams Bund mit Gott zwischen den geteilten Tierhälften (Gen 15). Die ideologische Krise, welche die säkulare Rechte geschwächt hatte, hat durch die Verschmelzung mit der Ideologie der religiösen Rechten den denkerischen Spielraum der Rechten verändert. Das Pathos der neuen Rechten ist nicht mehr liberal, sondern messianisch.«12 Wie sich diese Veränderung der politisch Rechten in der Gegenwartsdebatte auswirkt, soll weiter unten besprochen werden, Zunächst muss gezeigt werden, dass sich auf der Linken eine analoge Veränderung vollzogen hatte.
2.2.3 Die politische Linke Die linken Zionisten, die sich vor allem aus Einwanderern aus Russland rekrutierten, waren in den Gründerjahren die bestimmende Kraft des jungen Staates. Ihr Ziel war es vor allem, in Palästina eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, die zugleich ein Modell auch für andere Staaten werden könnte. Diese – fast messianische – Zukunftshoffnung wich aber Schritt für Schritt einer Ernüchterung. Die ursprüngliche Unterstützung durch die Sowjetunion bei der Abstim-
12
Goodman, S. 38–39.
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mung zur Errichtung eines jüdischen Staates im Jahre 1947, die auch Waffenbeschaffungen einschloss, änderte sich in den fünfziger Jahren als die Sowjetunion begann, die Feinde Israels zu unterstützen. Angesichts der Erkenntnisse über die Verbrechen Stalins (1956) wurde deutlich, dass die Sowjetunion nicht nur antiisraelisch, sondern auch antisemitisch ist. Demgegenüber traten nun die kapitalistischen USA an die Seite Israels. All dies führte zu einem Erlahmen des zionistischen Sozialismus, auch die sozialistische Kibbuzbewegung fand sich auf dem Niedergang – in Israel erstarkte der kapitalistische Gedanke gegenüber dem alten sozialistischen. Den Verlust der Idee einer sozialistischen Solidarität fing ab den siebziger Jahren in der Linken ein Gedanke auf, der zuvor nicht auf deren Agenda gestanden hatte, nämlich die Solidarität nicht mehr der Klassen, sondern der Völker, insbesondere des jüdischen mit dem arabischen: »Die große Wende des ideologischen Fokus der Linken trat in den siebziger Jahren ein. Die Linke begann sich von dem Traum der sozialistischen Mustergesellschaft zu verabschieden und setzte an seine Stelle den Traum vom Frieden. An die Stelle der Solidarität der Arbeiter sollte die Solidarität der Völker treten. Der Traum vom Frieden, der den Sozialismus beerbte, erbte zugleich dessen Optimismus. Auch der Traum vom Frieden ist ein klarer Ausdruck seiner Zeit. Laut der Theorie der neu verorteten Linken ist die Geschichte des Staates Israel zweigeteilt: Bis zum Sechstagekrieg war der Staat demokratisch und moralisch und strebte nach einer Mustergesellschaft und seit diesem Krieg ist er ein Eroberer-Staat und darum verderbt. Die für die Zukunft wünschenswerte und notwendige Zielsetzung müsse darum eine Friedensregelung zwischen dem Staat Israel und der arabischen Welt sein.«13 Nach dem Urteil Goodmans wurde allerdings die den Sozialisten eigene messianische Zeitauffassung von einer sündigen Vergangenheit, der eine Zukunft der Erlösung folge, nicht aufgegeben. An die Stelle der Unterdrückung der Arbeiter ist im Denken der Linken nun die Okkupation der Palästinenser getreten und an die Stelle einer Zukunft der Solidarität unter den Arbeitern, die Zukunft des Friedens unter den Völkern. An die Stelle der früheren gesellschaftlichen Aufgabe ist nun eine staatliche getreten. Will sagen, das Geschichtsbild der Linken ist wie zuvor ein utopistisches, von Ideologie geprägtes, das nach Idealen strebt und nichts von kleinteiligem Pragmatismus hält. Allerdings wurde dieser idealistische Optimismus durch den Friedensschluss mit Ägypten befeuert, was zu umgehenden Räumungsforderungen der Westbank auf Seiten der Linken führte. Dem entgegen standen die Ablehnung des israelischen Friedensangebotes im Austausch mit den besetzten Gebieten – Friede gegen Land (Karthum 1967), wie 13
Goodman, S. 42–43.
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auch die Ablehnung der Teilungsangebote durch Ehud Barak in Camp David (2000) und die folgende zweite Intifada. All das führte auf Seiten der Linken letztlich zu einem Zerbrechen der optimistischen Friedensideologie, welche die zerbrochene optimistische Sozialutopie ersetzt hatte, was in der Gegenwart zu einer ideologischen Leere auf Seiten der Linken führte. Es waren die beiden Intifadas, durch welche die Ideologien der Rechten (nämlich durch die erste) wie die der Linken (durch die zweite) in die Brüche gingen. Die Visionen haben getrogen und sind für das weitere politische Denken diskreditiert. Die Tatsache ist, so Goodman, dass in der Gegenwart (2017) mehr als 70% der Israelis nicht länger über die Palästinenser herrschen wollen, aber fast dieselbe Zahl nicht mehr daran glaubt, dass man mit ihnen zu einem Frieden kommen könne. Dies ist die Falle der Gegenwart, ihr zu entkommen sollen die weiteren Gedanken des Buches dienen. Angesichts des Zerbrechens der alten Ideologien bleibt indessen festzustellen, dass alleine der rechte religiöse Zionismus gerade in dieser Zeit der Krise mit neuer frischer ideologischer Kraft aufgetreten war, was im Folgenden noch zu skizzieren sein wird.
2.2.4 Der religiöse Zionismus und seine messianische Wende Die religiösen Zionisten, die nicht generell politisch rechts standen, wurden dies allerdings in eminentem Maße unter dem Eindruck des fast wundergleichen Erfolges im Sechstagekrieg. Es war vor allem der Sohn des ehemaligen ersten palästinischen Oberrabbiners Avraham Jizchak Kuk, Rabbi Zwi Jehuda Kuk, der die Theologie seines Vaters auf die politische Situation nach dem Sechstagekrieg deutete und dadurch zum ideologischen Vater der religiösen Siedlerbewegung wurde.14 Zwi Jehuda Kuk verstand die Erfolge der Landeroberung dieses Krieges als Teil des konkreten messianischen Prozesses, als den »Anfang der Erlösung«, und hielt folglich die Rückgabe der besetzten Gebiete für eine Störung dieses Erlösungsprozesses. Die Politik wurde zur messianischen Politik. Die Besiedlung des ganzen Landes Israel ist demnach ein Teil der Vollendung dieses messianischen Geschehens, welches dieses sogar vorantreibt. Dieser Prozess, so Kuk, wird auch unbewusst von den säkularen Siedlern beschleunigt wie auch von der Armee, welche diese Siedlungstätigkeit verteidigt und beschützt. Die messianischen Höhenflüge der religiösen Rechten kamen mit der Trennung von Gaza und dem Norden »Samarias« im Jahr 2005 in die Krise und es trat Ernüchterung ein, so dass aus den Schülerkreisen Kuks selbst die Vermutung
14
Zur Neudeutung der Theologie seines Vaters durch Zwi Jehuda Kuk siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 397–403.
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geäußert wurde, Kuk habe sich geirrt.15 Damit geriet auch die schon vom Vater Kuk vertretene Auffassung in die Krise, dass die Säkularen im Grunde das Geschäft der Religiösen, wenn auch unbewusst, betrieben. Der Bruch zwischen Religiösen und Säkularen trat wieder auf. So formulierte es der Rabbiner Salman Melammed (geb. 1937), der Vorsteher der Jeschiva Bet El: »Vielleicht hatte sich der religiöse Zionismus geirrt, als er glaubte, es sei möglich, sich mit dem säkularen Zionismus zu verbünden […] Der ganze Traum der Vereinigung und einen Weg zu finden auf dem sich auch die Fernen nähern würden, war ein Irrtum. Es haben diejenigen recht, die sagen, dass es keinen Sinn habe, sich den Säkularen zu nähern, denn ihr Weg ist der umgekehrte und der uns entgegenlaufende.«16 Das Zurücktreten des messianischen Elementes der religiös-zionistischen Rechten bedeutete indessen nicht ihre grundsätzliche Schwächung. Die Akzente wurden nur verlagert. An die Stelle der Erlösungszuversicht trat nun das Einfordern der Sicherheit für das Volk und das Land Israel. Die Weigerung, die besetzten Gebiete zurückzugeben wurde nunmehr nicht mehr heilsgeschichtlichmessianisch begründet, sondern mit Argumenten der Sicherheit. Aber auch mit dieser Verlagerung der Begründung war die Kluft zwischen Rechts und Links nicht kleiner geworden. Im Gegenteil, sie wurde nur noch gegensätzlicher, denn: »Die neue Linke, glaubt schon nicht mehr, dass der Rückzug den Frieden bringt, vielmehr umgekehrt, dass die Präsenz in den besetzten Gebieten in die Katastrophe führen werde. Demgegenüber glaubt die neue Rechte nicht mehr daran, dass das Besiedeln der Gebiete die Erlösung bringen werde, sondern, dass der Rückzug aus ihnen in die Katastrophe führt. Beide Seiten haben ihre Hoffnungen durch Ängste ersetzt.«17 Diese vollkommen gegensätzlichen Ursachen für die Existenzängste in den beiden veränderten Lagern sind es, nach Goodmans Meinung, welche den fast aussichtslosen derzeitigen politischen Diskurs in Israel bestimmen. Wege aus dieser Falle, will er mit einem neuen Diskussionsansatz weisen.
15
Goodman, S. 57.
16
Bei Goodman, S. 58.
17
Goodman, S. 60.
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3.
Die Argumentationen der Gegenwart
3.1
Die geographische Situierung Israels in der arabisch-muslimischen Umwelt – eine Sicherheitsfrage
Wiewohl die alten Ideologien zerbrochen sind, gibt es laut Goodman in der Gegenwart politische Argumente für und wider das Festhalten an den besetzten Gebieten, die objektiv betrachtet allesamt berechtigt sind. Dies sind sicherheitspolitische, demographische, strukturell-soziologische sowie ethische Argumente. Im zweiten Teil seines Buches führt Goodman diese berechtigten Argumente der verschiedenen Seiten an, um das Dilemma – selbst ohne ideologische Verkrampfung – als auch logisches Dilemma darzustellen. Vor all diesen Argumenten stehen indessen zwei Grundsatzerkenntnisse, in welche die einzelnen Argumentationen von allem Anfang eingebettet sind und die deren Brisanz umso mehr verschärfen. Die erste Erkenntnis ist die, dass Israel ein demokratisches und liberales Land westlichen Zuschnitts ist, das von lauter antiwestlichen Kulturen umringt ist, welche in der Präsenz Israels ein westliches Vordringen in den arabischen Raum sehen. Hinzu kommt, dass Israel, ein jüdischer Staat, von antijüdischen Kräften umzingelt ist, die eine nichtmuslimische Präsenz im muslimischen Gebiet als eine Entweihung von etwas Heiligem verstehen. Beide Kräfte, die antiwestliche wie die antijüdische, haben die Tendenz, diesen für sie doppelten Anstoß zu beseitigen. Diese zweifache Bedrohung Israels leidet unter dem weiteren Problem, dass die Fläche des Staates Israel zu klein ist, um sich diesen Kräften militärisch nachhaltig zu widersetzen, der Staat Israel darum grundsätzlich in seinem Bestand bedroht ist. Diese militärische Sichtweise hat ihren berechtigten Grund darin, dass ca. 70% der jüdischen Bevölkerung Israels in der Küstenebene lebt, die von dem östlich davon liegenden Gebirgskamm aus gesehen gleichsam auf dem militärischen Präsentierteller liegt. Wer den Gebirgskamm beherrscht, hat auch die Herrschaft über die schmale Küstenebene. Wird sich die israelische Armee von diesem Schutzgürtel der Küstenebene zurückziehen, wird ein militärisches Vakuum entstehen in welches sich das vorderorientalische »Chaos« alsbald ausbreiten wird. Die Sicherung dieses Gebirgszuges zusammen mit dem östlich davon liegenden Jordantal ist militärisch gesprochen der einzig adäquate Schutz vor dieser angesprochenen Bedrohung.
3.2
Das demographische Problem
Als im Jahre 1948 die Kämpfe des Unabhängigkeitskrieges sich zugunsten des jungen Israel wendeten, schlugen die Offiziere der israelischen Armee dem Ministerpräsidenten Ben Gurion vor, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und © Campus Verlag
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die gesamte Westbank zu erobern. Ben Gurion lehnte dieses Vorhaben ab, mit den folgenden Gründen, die er in eine Rede vor der Kneset am 4. April 1949 hielt. Er sagte damals unter anderem: »Die israelische Verteidigungsarmee kann das gesamte Gebiet zwischen dem Jordan und dem Meer besetzen. Aber was für einen Staat hätten wir dann? […] Wir hätten dann ein Parlament mit einer arabischen Mehrheit. Von der Alternative ›vollständiges Land Israel‹ oder ›jüdischer Staat‹ wählten wir den ›jüdischen Staat.«18 Ben Gurion sah das demographische Problem, vor dem Israel seit dem Sechstagekrieg tatsächlich steht, voraus. Ben Gurion entschied sich für den jüdischen Staat auf einem nur begrenzten Teil des Landes Israel, wohl wissend, dass gerade die auf den samarischen und judäischen Bergen liegenden Landesteile das Kernland des biblischen Israel waren. Die Frage der nichtjüdischen Mehrheit wäre zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht Realität, würde es aber angesichts des ungleichen Vermehrungsverhaltens der beiden Bevölkerungsteile alsbald werden. Selbst der vor kurzem verstorbene linke Autor Amos Oz sah diese Problematik, wenn er in einem Zeitungsartikel in der gleichfalls linken Zeitung Ha-Arez vom 10.3.2015 schrieb: »Wenn es hier nicht zwei Staaten geben wird, wird es nur einen einzigen geben. Und wenn es ein einziger Staat sein wird – dann werden wir verschwinden.« Entsprechend formuliert es Goodman selbst: »Dies ist das Problem: Weil sich die Palästinenser schneller als die Juden vermehren, werden sie uns im Laufe der Zeit zahlenmäßig überholen. […] Gemäß dieser Prognose – die allerdings nicht von allen Demographen geteilt wird – ist der Staat der Juden in Gefahr. Die Demographie bedroht den Staat Israel in seinem Wesen als Nationalstaat des jüdischen Volkes. Der Tag, an welchem die Juden eine Minderheit in ihrem Land sein werden, wird auch der Tag sein, an dem sie nicht mehr Herr ihres eigenen Schicksals sein werden.«19 Noch drastischer formulierte dies der Demograph Arnon Sofer von der Universität Haifa schon 1988: »Das demographische Problem ist der Schlüssel für die Zukunft Israels, da es eines der grundlegenden Faktoren für unsere nationale Sicherheit darstellt. […] Ich habe eine kühle Berechnung angestellt: Wir verlieren unseren zionis18
Bei Goodman, S. 71.
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Goodman, S. 69.
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tisch-demokratischen jüdischen Staat. Mit anderen Worten, wir stehen vor dem Ende des Staates Israel.«20 Das Resultat aus den beiden voranstehenden Kapiteln ist, dass aus Gründen der Sicherheit Israels sich ein Rückzug den besetzten Gebieten verbietet, es jedoch aus demographischen Gründen verboten ist, dort zu bleiben. Wenn sich Israel aus den besetzten Gebieten zurückzieht, hat es Grenzen, die nicht zu verteidigen sind, bleib es aber dort, ist die jüdische Mehrheit in Gefahr. »Die beiden Schlussfolgerungen stehen einander diametral entgegen, und das Ergebnis ist ein Widerspruch, der nur Verlegenheit schafft: Es ist Israel verboten, die Gebiete zu räumen, es muss sich aber andrerseits aus ihnen zurückziehen.«21 Ein perfektes, aus den tatsächlichen Gegebenheiten sich ergebendes, logisches Dilemma.
3.3
Kann das Sicherheitsproblem durch einen Rückzug und zwei Staaten gelöst werden?
Die Frage der Sicherheit des Staates Israel erscheint bei der politisch Linken in Israel eine Frage Land für Frieden zu sein, will sagen, dass durch einen Rückzug aus den 1967 besetzten Gebieten ein Friedensabkommen mit den Palästinensern zu erreichen sei. Eine solche Friedensregelung würde das oben beschriebene geographische Sicherheitsproblem ein für allemale lösen, weil der geographische Sicherheitsfaktor, die strategische Bedeutung des Gebirgszuges, durch einen noch viel größeren politisch-diplomatischen Sicherheitsfaktor ersetzt werde, nämlich weil die Sicherheit des kleinen Israel durch internationale Garantien, auch seitens der arabischen Staaten, gesichert werde. Diese Einschätzung, sagt Goodman, ist ein Irrtum, weil sie die Ursachen des Konfliktes auf die 1967 besetzten Gebiete beschränkt. Tatsächlich sind die Ursachen des Konfliktes noch viel tiefer liegend und können durch den Rückzug und eine Zweistaatenlösung nicht gelöst werden. Die besetzten Gebiete sind nur eine von drei Ursachen des Konflikts. Die erste Ursache sei das oben schon beschriebene Gefühl der Demütigung der Kultur des Islam durch den Erfolg der westlichen Zivilisation, die sich nun mit Israel gar im islamischen Bereich eingenistet hat. Die zweite noch viel brennendere Ursache, deren viele Israelis sich offenbar nicht bewusst sein wollen, sei die national-palästinensische Problematik, die bis 1948 zurückreicht und von den Palästinensern Nakba, Katastrophe, genannt 20
A. Sofer, ʽAl ha-Mazaw ha-demografi we-ha-geografi be-Erez Jisrael: ha-ʼumnam Sof haḤason ha-zijoni, (Zur demographischen Situation in Erez Jisrael: Ist dies das Ende der zionistischen Vision?), Haifa 1988; bei U. Abulof, ʽAl Pi-ha-Tehom (Am Rande des Abgrunds), Tel Aviv 2015, S. 82; bei Goodman, S. 70.
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Goodman, S. 72.
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wird. Diese Geschehnisse, die zu einer Flucht und auch Vertreibung von etwa 700.000 Palästinensern aus dem Gebiet des heutigen Staates Israel führte, ist zum nationalen Narrativ der Palästinenser schlechthin geworden. Symptomatisch für die Bedeutung dieser Identifikations-Erinnerung ist, dass die Nachkommen der einst geflohenen Palästinenser, einmalig in der Welt, nach mehreren Generationen sich noch als Flüchtlinge betrachten und von der sie betreuenden UNRWA22 auch offiziell als solche anerkannt werden – heute etwa fünf bis sechs Millionen Menschen. Ein Rückzug aus den besetzten Gebieten, würde demnach nur eines der drei Probleme beheben können, die beiden anderen als Sicherheitsrisiko für den Staat Israel bestehen lassen. Denn die Auffassung des Rechtes auf Rückkehr aller dieser Millionen von »Flüchtlingen« in das heutige Staatgebiet Israels ist für die Palästinenser ein bestimmendes Zentrum ihrer »nationalen Identität«. Die Zustimmung zu einer Zweistaatenlösung würde für sie demnach die Aufgabe oder doch Beschädigung ihrer nationalen Identität und den Verrat an den im Orient zerstreuten Volksgenossen bedeuten. Eine Rückkehr all dieser Palästinenser würde aber das Ende des Staates Israel zur Folge haben. Das alles bedeutet, die Eroberung der Gebiete im Sechstagekrieg sei nicht die Ursache des Konflikts, sondern eine Folge des Konflikts. Darum wird auch ein Rückzug aus diesen Gebieten den Konflikt nicht lösen und somit nicht die erträumte Sicherheit durch einen Friedensschluss erbringen. Israel kann durch kein Angebot, das nicht einer Selbstzerstörung gleichkäme, einen Friedensschluss erkaufen. Der einfache Rückzug und die mit so vielen Illusionen beladene Zweistaatenlösung wird den Konflikt aus Sicht der Palästinenser nicht lösen können. Im Gegenteil, der Rückzug würde die Sicherheitslage für Israel wieder verschärfen, verbietet sich also.
3.4
Kann das Sicherheitsproblem durch Annexion und einen binationalen Staat gelöst werden?
Es gibt in der israelischen Rechten Stimmen, die für eine Annexion der besetzten Gebiete plädieren, welche die Palästinenser zu israelischen Staatsbürgern machte, was, so die Meinung, der politischen Vereinsamung Israels in der Welt entgegenwirken und der durch die Besatzung verursachten Auflösung des demokratischen Charakter des Staates Israel entgegenwirken würde. Diese Option ist aber darauf angewiesen, die demographische Gefahr für diesen Staat als einem Nationalstaat des jüdischen Volkes herunterzuspielen. Aber selbst bei einer Herunterrechnung der arabischen Bevölkerungszahl und des gegenwärtigen natürlichen Vermehrungsfaktors, würde die arabische »Min-
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derheit« in wenigen Jahren wenigstens 40% der Bevölkerung dieses Staates ausmachen, welche die entsprechenden politischen Mitbestimmungsrechte einfordern würde. Goodman fragt angesichts dieser Aussicht: »Ist es denn schwer, sich vorzustellen, dass dann eine Verbindung zwischen einer großen antizionistischen muslimischen Minderheit und einer kleinen postzionistischen jüdischen Minderheit zustande käme, um das Rückkehrgesetz23 außer Kraft zu setzen oder die Staatshymne zu ändern?«24 Kurz, diese Option würde über kurz oder lang die Definition Israels als Nationalstaat des jüdischen Volkes infrage stellen. Der jüdische Bevölkerungsteil dieses Staates wäre damit seiner vom Zionismus errungenen Selbstbestimmung wieder verlustig. Ein rationaler innerisraelischer politischer Diskurs muss anerkennen, dass es zwei reale Gefahren für den Bestand Israels gibt, nämlich die durch die physische wie auch soziologische Geographie bedingte Sicherheitslage und den demographischen Faktor. Die derzeitige Auseinandersetzung hat ihren Grund darin, dass jede Seite einem anderen der beiden Gefahrenpotentiale das größere Gewicht zumisst. Dies hat seinen Grund darin, dass die Linke universalistischer denkt und ihre Lehren aus der universalen – westlichen – Geschichte zieht, die zeigte, dass jegliche westliche Gebietseroberung und -beherrschung am Ende als Fiasko ausging. Die Rechte hingegen denkt national-jüdisch und lernt aus dieser Vergangenheit, dass es stets ein Fiasko war, wenn die Sicherheit der Juden in nichtjüdischen Händen lag, weshalb diese Seite kein Vertrauen in internationale Grenzsicherungen und Sicherheitsgarantien setzt. Das Resultat ist: »Wenn der Staat Israel sich gegen die ihn umgebende muslimische Mehrheit verteidigen will, darf er sich nicht aus den Gebieten Judäa und Samaria zurückziehen, will sich der Staat Israel aber gegen die Möglichkeit einer muslimischen Mehrheit in den eigenen Grenzen absichern, muss er sich aus ihnen zurückziehen. Dieser Gegensatz hat seinen Grund darin, dass in einem tieferen Sinn beide Seiten recht haben. Die Rechte hat recht, wenn sie erkennt, dass ein Rückzug aus den Gebieten Israel gefährdet; und die Linke hat recht, wenn sie erkennt, dass die Fortdauer der israelischen Präsenz in ihnen Israel in Gefahr bringt. Das Problem ist, dass weil sie beide recht haben, alle zugleich im Irrtum sind – der Staat Israel steckt in der Falle.«25
23
Ḥok ha-Schevut. Dieses Gesetzt gibt jeder jüdischen Person und deren Ehepartner das Recht,
24
Goodman, S. 82.
25
Goodman, S. 89.
nach Israel einzuwandern und eingebürgert zu werden.
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3.5
Die Besatzung, ethische und historische Werte – eine Klarstellung
3.5.1 Das ethische Problem Die Frage der Besetzung der Westbank wird in Israel nicht nur unter sicherheitspolitischen sowie bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten, sondern auch unter Geltendmachung ethischer und historisch-kultureller Werte geführt. Kurz und plakativ: »Nach Auffassung der Rechten wäre der Rückzug aus Judäa und Samaria nicht nur aus Gründen der Sicherheit gefährlich, sondern dies wäre hinsichtlich des Judentums eine Bankrotterklärung. Nach Auffassung der Linken ist die Präsenz in den ›Gebieten‹ nicht nur aus Gründen der Demographie gefährlich, sondern ist auch in moralischer Hinsicht eine Bankrotterklärung.«26 Die Position der Rechten ist, unabhängig von der noch folgenden rechtlichen Klarstellung, für sie eine Bankrotterklärung, weil mit Judäa und Samaria – so sind die besetzten Gebiete in biblischer Diktion zu benennen – das eigentliche biblische Kernland Israels wieder preisgegeben würde. Die Position der Linken wird rechts-soziologisch und historisch begründet. Die israelische Besatzung nimmt den Palästinensern das Recht auf die Freiheit der Selbstgestaltung und ist somit einer Diktatur, hier eines Volkes über ein anders, vergleichbar, was mit den demokratischen Grundsätzen des Staates Israel nicht vereinbar ist. Entsprechend solchen demokratischen Grundsätzen verlaufe die Geschichte in Europa gerade umgekehrt, das sich aus der kolonialen Beherrschung der Völker in Asien und Afrika zurückgezogen hat. Israel handle mithin gegen die Tendenz der modernen demokratischen Geschichte. Ein weiteres Argument auf der linken politischen Seite ist psychologischer Natur. So sagt es die klassische Parole der Linken: »Die Besatzung verdirbt«, das heißt, die den israelischen Soldaten aufgebürdeten Aufgaben verdürben den Charakter. Das polizeiliche Auftreten, das oft von Hochmut und Grausamkeit geprägt sei, werde durch die vom Dienst zurückkehrenden Soldaten auch in den heimischen Alltag übertragen. Noch mehr, die Besatzung, die einem Volk die Selbstbestimmung raubt, sei selbst schon eine Verderbtheit, Besatzung als solche ist Verderbtheit. Als Gegenargumente gegen diese moralischen Bedenken auf der Linken hört man dann von der anderen Seite die Antwort zur Rechtfertigung: »sie wollen uns doch töten«. Die Beendigung der Besatzung, so geht dieses Argument weiter, ist vielleicht moralisch gut, aber dann werden wir nicht am Leben bleiben.
26
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Allerdings, so kommentiert Goodman: »Diese Begründungen sind sicherheitspolitischer Natur, sie sind wichtige, ja sogar moralische Argumente« – nämlich angesichts dessen, was oben schon über die Bedeutung der Sicherheit für Israel gesagt wurde.
3.5.2 Liegt hier tatsächlich eine Besatzung vor? – eine Klarstellung Die Argumentationen auf beiden politischen Seiten verwenden den Begriff der »Besatzung« gleichsam nur aus der spontanen Sicht der Gegenwart heraus. Um in dieser Debatte zu einer Versachlichung zu kommen, müssen jedoch die rechtlichen und historischen Voraussetzungen des gegenwärtigen Standes geklärt und in Erinnerung gerufen werden. Das Ergebnis dieses Rückblicks wird ein weiteres Mal sein, dass beide Seiten recht und zugleich unrecht haben. Jede Seite verwendet denselben Begriff, meint damit letztlich aber etwas anderes. Die Rechte versteht den Begriff der Besatzung oder Eroberung (Kibbusch) als territorialrechtlichen Begriff und vertritt dabei – wie sich sogleich zeigen wird – die richtige Auffassung, nämlich dass hier staatsrechtlich keine Besatzung fremden staatlichen Territoriums vorliegt. Die Linken hingegen verwenden den Begriff als soziologischen in dem Sinne, dass hier eine Volksgruppe ihrer Selbstbestimmungsrechte verlustig gemacht ist. In der Debatte zwischen den beiden politischen Lagern, die mit dem nur einen Begriff geführt wird, reden die Parteien mithin aneinander vorbei. Es ist deshalb nötig, eine historische und rechtliche Klärung des bestehenden Zustandes herbeizuführen, bevor man weitere konkrete politische Überlegungen anstellen kann.
3.5.3 Die rechtliche Geschichte der Westbank als Territorium seit 1947 Die Westbank war, wie das spätere Staatsgebiet Israels, ein Teil des unter britischem Mandat stehenden Palästina. Nach den anhaltenden Unruhen hatte im Jahre 1937 die im Auftrag der britischen Regierung arbeitende Peel-Kommission eine Teilung Palästinas in zwei Staaten vorgeschlagen. Laut diesem Plan sollte den Arabern etwa 75% des Territoriums und den Juden 25% zugeteilt werden. Die Juden unter der Führung von David Ben-Gurion und Chaim Weizmann nahmen den Vorschlag an. Die Araber unter dem Mufti von Jerusalem Amin alḤuseini lehnten den Plan ab. 1947, als die Briten das Mandat an die UNO zurückgaben, wurde ein neuer Teilungsplan von der UNSCOP27-Kommission vorgeschlagen. Dieser für die Juden günstigere Teilungsplan wollte ihnen ca. 55% des Mandatsgebietes zuteilen und 45% für die Araber. Dieser Plan lag dem am 27
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29.11.1947 von der UN-Vollversammlung verabschiedeten Teilungsplan zugrunde. Wieder haben die Juden den Teilungsplan akzeptiert, nicht aber die Araber. Die Juden proklamierten nun im folgenden Jahr den Staat Israel, die Palästinenser unterließen eine Staatsgründung. Dies ist die eigentliche Ursache, weshalb die Palästinenser bis heute keinen eigenen Staat besitzen. Die Palästinenser schlugen auch in der Folgezeit mehrere Angebote Israels aus, die zu einer eigenen palästinensischen Staatsgründung führen sollten – doch dazu später. Zunächst muss hier die rechtliche Stellung der Westbank weiterverfolgt werden. Nachdem die arabischen Staaten – zu denen kein Staat Palästina gehörte – den neu gegründeten Staat Israel angriffen, hat der Staat Jordanien im Laufe dieses Angriffskrieges die Westbank besetzt und seinem Staatsgebiet – illegalerweise – eingegliedert, was auch die Mehrheit der Staaten nicht anerkannt hatte. Als im Jahre 1967 zunächst zwei arabische Staaten (Ägypten und Syrien) Israel angriffen – und hernach auch Jordanien trotz vorheriger israelischer Aufforderung, nicht einzugreifen –, hat Israel die Westbank eingenommen. Dies bedeutete, notabene, nicht die Eroberung eines palästinensischen Staates, den es noch nie gegeben hat, sondern die Einnahme eines zuvor von Jordanien durch Aggression annektierten Teiles des früheren Mandatsgebietes. Alsbald nach dem Sechstagekrieg hat die israelische Regierung im Juni des Jahres 1967 den arabischen Staaten angeboten, fast das gesamte besetze Gebiet gegen einen umfassenden Friedensvertrag zurückzugeben. Die Antwort kam nicht von den betroffenen Staaten, sondern von der Versammlung der Arabischen Liga in Khartum als dreifaches Nein: Nein zum Frieden mit Israel, Nein zu Verhandlungen mit Israel, und Nein zur Anerkennung Israels. Die besetzten palästinensischen Gebiete sind also Gebiete, die Jordanien in seinem Angriffskrieg im Jahre 1948 erobert hat und wiederum Gebiete, welche Jordanien in einem Angriffskrieg gegen Israel wieder verloren hat. Alleine diese beiden Tatsachen sind aus politisch-rechtlicher Perspektive kein Grund, das besetzte Territorium zurückzugeben, denn, so Goodman: »Sollte ein Angreifer, der einen Teil seines Besitzes im Laufe seines Angriffs verliert, berechtigt sein, diesen Besitz zurückzufordern? Ich glaube, die Antwort auf diese Frage musss klar sein. Eine Welt, in der es keinen Preis für Aggression gibt, ist eine gefährliche Welt, weil er für Gewalttäter ohne Gefahren ist. Eine feindliche Macht, die in einem von ihr selbst angezettelten Krieg besiegt wurde, hat kein Recht, die Ergebnisse umzukehren.«28 Trotz dieser rechtlich eindeutigen Situation hat Israel den Palästinensern Angebote gemacht, die zu einem palästinischen Staat führen sollten: So hat der israeli28
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sche Ministerpräsident Ehud Barak im Jahre 2000 der palästinischen Autonomiebehörde die Errichtung eines Staates Palästina vorgeschlagen, Jassir Arafat lehnte ab. Im Laufe der zweiten Intifada hat der amerikanische Präsident Bill Clinton einen noch weitergehenden Plan vorgeschlagen, wieder hat die Regierung Barak zugestimmt und die Palästinenser haben abgelehnt. Schließlich hat der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert im Jahre 2007 Abu Masen (Maḥmud Abbas, dem Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde) einen nochmals weitergehenden Vorschlag angeboten, doch er blieb ohne Antwort. Goodman: »Die tragische Wirklichkeit ist, dass die staatenlosen Palästinenser das Opfer ihrer eigenen Verweigerungshaltung sind.«29 Aus alledem folgt: Diese Gebiete sind keine eroberten, besetzten, Gebiete. Richtiger wäre es, zu sagen, diese Gebiete sind »umstrittene Gebiete«. Man muss bei der Erörterung dieser Fragen darum unterscheiden und klar differenzieren. Auf der einen Seite sind diese Gebiete territorial- und staatspolitisch keine eroberten, keine gestohlenen besetzten Gebiete. Folglich besteht in dieser Hinsicht auch kein moralisches Problem für Israel. Auf der anderen Seite muss man jedoch sagen, wie oben schon dargestellt, dass Israel über das palästinische Volk eine Militärherrschaft ausübt, ein Volk, das keinen Einfluss auf die israelischen Entscheidungen nehmen kann. Man kann als Resultat demnach festhalten: »Die Gebiete sind nicht besetzt, aber das palästinensische Volk ist ein Volk unter Besatzung.«30 Das bedeutet, dass beide Seiten der israelischen Streitpartner recht haben. Die Linke hat recht hinsichtlich der Menschen und die Rechte hat recht bezüglich des Territoriums. Dies drückt sich auch in der Wortwahl der beiden Seiten aus: Die Linken sprechen meist über die Palästinenser, die unter der israelischen Besatzung leben, während die Rechten über ein Territorium reden, das nie erobert wurde. Beide Seiten meinen indessen mit ihrer einseitigen Verwendung der Begrifflichkeit jeweils das gesamte Problem, weshalb man aneinander vorbeiredet. Erst die sorgsame Differenzierung wird hier weiterführen können.
4.
Die ›Gebiete‹ als halachisches und religiöses Dilemma
Die besetzten Gebiete sind natürlich auch aus halachischer und religiöser Sicht ein unausweichliches Thema, dies umso mehr als ein großer Teil der am politischen Diskurs Beteiligten traditionell religiös und vor allem auch Teil der religiösen Siedlerbewegung ist. Aber auch im Rahmen dieses religiösen Diskurses ge-
29
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raten die Argumentationen in ein Dilemma, weil es sowohl aus Sicht der Halacha wie auch aus religiös-denkerischer Sicht Antworten gibt, welche den Rückzug verbieten und solche die ihn unter gewissen Umständen gebieten. Und beide Richtungen, die aus der Tiefe der jüdischen Tradition schöpfen, werden von den aktuellen Kombattanten vorgebracht. Am Ende, das ist die Schlussfolgerung von Micah Goodman, müssen sich die beiden halachisch-religiösen Argumente auf die Frage der Sicherheit berufen, um mit diesem Argument ihren Kasus zu entscheiden. Will sagen, die halachisch-religiöse Argumentation kann nur mit einem Argument zu Entscheidungen gelangen, das im strengen Sinn nicht religiös, sondern militärisch-sicherheitspolitisch ist, also sie selbst kann keine wirkliche zusätzliche Wegweisung bieten. Die beiden Argumentationsstränge sollen im Folgenden kurz skizziert werden.
4.1
Die halachische Argumentation
Laut der halachischen Argumentation ist die Besiedlung des Landes Israel durch die Juden ein göttliches Gebot (Mizwa), weshalb ein Rückzug aus den besetzten Gebieten eine Sünde, eine Übertretung der Tora ist. Diese Auffassung beruft sich auf den mittelalterlichen Denker und Rabbiner Moses Ben Nachman (RaMBaN) (13. Jh. Katalonien).31 Moses Ben Nachman zählt das Gebot der Besiedelung des Landes Israel zu den klassischen 613 Geboten der Tora. In seinem Kommentar zu Moses Ben Maimons (Maimonides)32 Sefer ha-Mizwot zählt Nachmanides eine Reihe von Geboten, auf, die Maimonides vergessen habe, die aber in die Zahl der 613 aufzunehmen seien. An vierter Stelle dieser Reihe nennt Nachmanides das Gebot: »Das vierte Gebot ist, dass uns geboten ist, das Land in Besitz zu nehmen (erobern), hat Gott, Er sei gesegnet und erhoben, unseren Vätern gegeben, dem Abraham, Isaak und Jakob, und dass wir es nicht den Händen anderer aus den Völkern oder der Verödung überlassen dürfen. Dies geht hervor aus den Schriftworten ›und ihr sollt das Land in Besitz nehmen (erobern) und darin wohnen, denn euch habe ich das Land gegeben, es in Besitz zu nehmen und ihr sollt das Land zum Erbbesitz nehmen‹ (Num 33, 53–54). […] Das ist es, was die Weisen einen Pflichtkrieg nennen.«33
31
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, Register s. v. Nachmanides.
32
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–487.
33
Mizwot ʽase ke-Daʽat ha Ramban, in: Sefer ha-Mizwot […] Rabbenu Mosche Ben Maimon, Jerusalem 1968, S. 42c; bei Goodman, S. 102.
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Nachmanides beschreibt an dieser Stelle zugleich die traditionellen Grenzen des großen verheißenen Landes, auf die sich die modernen Siedler natürlich berufen können. Auch der Frühzionist Zwi Hirsch Kalischer hat dieses Gebot zur Besiedelung des Landes zur Grundlage seines zionistischen Programms gemacht.34 So weit wäre die halachische Entscheidungsgrundlage eindeutig, wenn dem nicht ein anderes Gebot entgegenstünde, nämlich das Gebot der Lebenserhaltung, Pikkuach Nefesch. Das bedeutet, wenn die Erfüllung eines Gebotes den Menschen in Lebensgefahr bringt, ist es verboten, das Gebot zu erfüllen, weil die Lebenserhaltung das höhere Gebot ist. Moses Maimonides sagt dies in seinem Rechtskodex klar und eindeutig: »Es ist verboten bei der Entweihung des Schabbat zu zögern, wenn Lebensgefahr besteht, denn es heißt [in der Schrift], ›dass der Mensch sie [die Gebote] erfülle, um durch sie zu leben‹ (Lev 18,5) – und nicht, dass er durch sie sterbe!«35 Maimonides geht noch weiter und dekretiert, dass ein Mensch, der aus freiem Willen in einer solchen Situation dennoch ein Gebot erfüllen möchte, sündigt und rebellisch ist, »sein Blut kommt über sein Haupt und er ist des Todes schuldig.« Man darf also um der Tora willen nicht sein Leben aufs Spiel setzen, dies ist eine Übertretung der Tora. Bezieht man diesen Gebotskonflikt auf die besetzten Gebiete, wird alles davon abhängen, ob man durch den Abzug oder das Bleiben jüdisches Leben gefährdet. Damit ist die halachische Entscheidung auf das oben schon beschriebene Sicherheits-Dilemma zurückgeworfen. Und je nach Beurteilung der Sicherheitslage urteilen auch die gegenwärtigen Tora-Autoritäten, also ob in einer Gefährdungslage das Gebot der Landbesiedlung zurücktreten müsse. Der ehemalige sefardische Oberrabbiner Israels, Ovadja Josef (1920–2013), urteilte demgemäß, dass wenn der Rückzug Leben rette, dieser sogar Pflicht sei. Das Urteil über diese Gefahr müsse man den dafür ausgebildeten Fachleuten überlassen, so wie man im Falle von körperlicher Krankheit dem Arzt die Entscheidung über die Situation des Kranken zu überlassen habe, ob er am Fastentag essen darf oder Fasten muss. Die Fachleute in Sachen Landbesiedlung und Lebensgefahr sind, so der Oberrabbiner, die hohen Militärs und die Politiker. Und selbst wenn diese Fachleute darüber uneins sind, gilt wie beim Kranken über dessen Lage die Ärzte uneins sind, dass im Falle wo auch nur ein Zweifel besteht, zugunsten der Lebenserhaltung das andere Gebot zurücktreten müsse. Das heißt, nach Ovadja Josefs
34
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, Register s. v. Kalischer, insbes. S. 112–117.
35
Moses Ben Maimon, Mischne Tora, Hilchot Schabbat, 2,5.
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halachischem Urteil sei, angesichts der oben schon beschriebenen Meinungsunterschiede, ein Rückzug aus den Gebieten erlaubt oder gar erforderlich. Erwartungsgemäß urteilen die rabbinischen Vertreter der Siedlerbewegung gerade umgekehrt.36 Sie verhängten ein absolutes Verbot des Rückzugs aus den besetzten Gebieten. Sie berufen sich hierzu auf Leviticus 19,16 »stehe nicht still bei dem Blut deines Nächsten.« Sie sind der Meinung, dass der Rückzug aus den Gebieten die dort lebenden Juden und die in der Nähe der grünen Linie Lebenden gefährdet. Der Schluss lautet wie folgt: »Die Annahme, dass der Abzug der israelischen Verteidigungsarmee aus den Städten und Lagern in Judäa und Samaria eine Gefahr schafft, wird von Militärfachleuten geteilt und kommt auch in den Worten der Armee-Offiziere zum Ausdruck, die sich dort befinden. […] das bedeutet, der Abzug der Armee aus Judäa und Samaria, aus den Lagern, Posten und anderen Orten ist gegen die Halacha aus den schon genannten Gründen: Dem Verbot Gebiete des Landes Israel einer fremden Herrschaft zu übergeben und dem Verbot ›stehe nicht still bei dem Blut deines Nächsten.‹«37 Beide so gegensätzliche Argumentationen unterscheiden sich mithin alleine darin, wie eine mögliche Gefährdung von jüdischem Leben verhindert werden kann. Für beide ist diese Lebensbewahrung das Hauptargument, alleine wie diese zu erreichen sei, bleibt umstritten. Damit ist man bei der obigen, nichtreligiösen, Sicherheitsdebatte angelangt. Goodman resümiert: Die halachische Diskussion bringt keine wirklich zusätzlichen Argumente, weil beide Positionen letztlich von der Debatte um die Sicherheitsfrage abhängig sind, also dort die wirkliche Entscheidung zu fällen ist.
4.2
Die ineinander verschlungenen theologischen und nationalen Argumente
Die Auffassung, dass im Judentum Religion und Nation untrennbar verbunden sind, wurde im Rahmen dieser Darstellung schon mehrfach hervorgehoben.38 In 36
Dies sind die sogenannten Rabbane
יש''ע
(JaSchaʽ), also die Rabbiner der Jischuvim ha-
jehudim bi-Jehuda, Schomron, we-Ḥevel ʽAza, der jüdischen Siedlungen in Judäa, Samaria und der Region Gaza. Die zugehörige Ratsversammlung, Moʽezet ha-JaSchʽa wurde 1980 gegründet. 37
Zitiert nach Goodman, S. 104.
38
Siehe z. B. Jüdisches Denken Bd. 4; S. 446. 76–79; Band 5. Teil III, Kap. III, zu Borowitz, Nr. 5 und 6; und Kap. I, zu Soloveitchik, Nr. 7.2.2.3; 7.2.2.4; 7.3; sowie Teil II, Die Jüdischen Denominationen, Nr. 5.3 etc.
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der Argumentation der Rechten, meint Goodman, wird im Geiste europäischer Auffassungen vorgetragen, eine Nation bestehe stets aus Geist und Körper. Der Geist sei die Kultur der Nation, der Körper deren Territorium, deren Heimat. Darum, so wird argumentiert, ist das Land Israel der unverzichtbare Teil jüdischnationaler Identität, wie etwa Schaʼul Tchernichowski – durchaus im Geist antikmittelalterlicher Theorien39 – in seinem emblematischen zum geflügelten Wort gewordenen Gedicht sagte, der »Mensch ist nichts anderes als die Physiognomie seines Heimatlandes«.40 Es folgt daraus natürlich, dass man sich aus dem Herzstück nationaler Identität, in der das Zentrum der biblischen Erzählungen liegt, nicht wieder zurückziehen dürfe. Wo allerdings auf die biblische Tradition verwiesen wird, steht dieser Argumentation die biblische, vor allem prophetische Tradition entgegen, nämlich dass die in diesem Land lebenden Angehörigen anderer Völker vollen Rechtsschutz genießen sollten, in Erinnerung daran, dass ja auch Israel in Ägypten als Minderheit lebte. Auf die Zusammengehörigkeit dieser beiden Gedanken hat schon David Ben Gurion hingewiesen, als er sagte: »Ein jüdischer Staat, sei er klein oder groß, in einem Teil des Landes oder im ganzen Land, wird keinen Bestand haben, wenn in der Heimat der Propheten nicht die großen und ewigen ethischen Ziele der Propheten verwirklicht werden, die wir in all den Generationen in unserem Herzen und in unserer Seele getragen haben, nämlich es gilt dasselbe Gesetz für den Fremdling und den Bürger […]. Der jüdische Staat wird mit seinem Verhalten den Minderheiten und den Menschen anderer Völker gegenüber zum Vorbild für die Welt sein.«41 Angesichts solcher Worte ist die schon Jahrzehnte andauernde Besatzung ein religiöses Versagen, beschädigt das prophetische Ziel, wohingegen der Rückzug die nationale Identität beschädigen würde. Nach Goodman ist dies ein Widerspruch, der schon die Bibel selbst charakterisiert. Auf der einen Seite, das Versprechen an Israel, dass es in diesem Land wohnen werde, wenn es Gott die Treue hält, aber wenn es sündigt aus dem Land exiliert werde. Will sagen, der Landbesitz ist ein Zeichen der Treue zu Gott, aber auf der anderen Seite steht das schon erwähnte Gebot, dem Fremdstämmigen im Lande dieselben Rechte zuzubilligen. Bezogen auf die besetzten Gebiete bedeutet das: »Das Verständnis gegenüber den Fremdstämmigen fordert den Rückzug
39
Siehe z. B. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 612; Bd. 3, S. 423. 575f.
40
In S. Tchernichowski, Reʼi ʼAdamah. Schirim, Schocken Verlag 1940.
41
Rede beim 20. Zionistenkongress in Zürich im August 1937.
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aus den Gebieten, aber die Verpflichtung dem Land Israel gegenüber fordert die Ansiedlung in ihm. Dieser Widerspruch prägt auch die zionistische Bewegung: »Wenn der Zionismus eine nationale Befreiungsbewegung ist, wird sie sich da nicht selbst widersprechen, wenn sie ein anderes Volk unterjocht. Das Problem ist aber, dass man ebenso die umgekehrte Frage stellen kann: Der Zionismus ist eine Bewegung, welche das Volk in sein historisches Heimatland zurückbringt. Wird sie sich dann nicht widersprechen, wenn sie sich aus dem Land der Väter und Mütter zurückzieht? Der Zionismus ist aber auch eine Bewegung zur Befreiung des jüdischen Volkes, die es in sein altes Heimatland zurückführt. Da wird deutlich, dass in der Lage, welche durch den Sechstagekrieg geschaffen wurde, sich zwei Prinzipien widerstreiten, welche das Judentum wie auch den Zionismus ausmachen.«42 Wieder zeigt sich, dass auch unter diesen religiösen wie nationalen Gesichtspunkten Israel in eine Falle geraten ist. »Die Präsenz in den Gebieten erfüllt das zionistische Ziel und widerspricht ihm zugleich, der Rückzug aus ihnen entspricht dem prophetisch-biblischen Judentum, doch fügt er der nationalen Identität Schaden zu. Die Präsenz in den Gebieten verteidigt Israel in geographischer Hinsicht und bedroht es zugleich in demographischer.« Das Fazit ist: »Alle haben recht! Und weil alle recht haben, sitzen alle in der Falle.«43
5.
Der Ausweg – das Vorbild des Talmud
5.1
Zerstörte Gesprächsgrundlagen und ihre Folgen
Nachdem die alten Ideologien ausgedient haben und die nachfolgenden politischen Debatten aus der Sicht des kritischen Beobachters allesamt als Dilemmata enden, weil sie je auf ihre Weise recht haben, führten sie bei den Beteiligten, welche nur die eigene Position anerkennen wollen, zu einem sich verhärtenden Lagerdenken, bei dem nicht die Plausibilität der Argumente, sondern die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Lagern zählt. Dies führte auch dazu, dass man durch den Vortrag von verschiedenen Argumenten sogleich kategorisiert und einem der Lager zugeschrieben wird, ohne dass die Argumente noch als solche in ihrem Wert wahrgenommen werden. Die Verzweiflung an der Möglichkeit eines Friedensprozesses führte im linken Lager dazu, dass man den Zionismus aufgegeben hat. Auf der Rechten hingegen haben manche Gruppierungen – angesichts des von der Mehrheit der Isra42
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43
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elis mitgetragenen Rückzuges aus Gaza und damit des Abrückens von einem Gedanken an Groß-Israel – den Glauben an das Volk als Ganzes aufgegeben. Andere haben diese leidigen und anscheinend unlösbaren Probleme ganz abgeschrieben und sich neuen politischen Themen zugewandt, so in den Demonstrationen von 2011, bei denen es um ein bezahlbares Leben in Israel und die israelische Gesellschaft ging. Alles in allem stehen sich nun in der politischen Debatte Lager gegenüber, in der nicht mehr Argumente, sondern Identitäten eine Rolle spielen. Der innerisraelische politische Diskurs ist schwer angeschlagen. Dies gilt umso mehr für den politischen Diskurs mit den Palästinensern. Im Diskurs mit den Palästinensern wird das Lagerdenken auf beiden Seiten von den den aktuellen Anlass überwölbenden Meinungen und Ängsten geprägt. Die Palästinenser sehen im Zionismus und damit im Staat Israel eine Speerspitze des europäischen oder gar weltweiten Imperialismus und Kolonialismus. So zu lesen in der palästinensischen National-Charta der PLO von 1964: »Der Zionismus ist eine politische Bewegung, die organisch mit dem weltweiten Imperialismus verbunden ist und die jeglicher Bewegung zur Befreiung und des Fortschritts in der Welt feindlich gesonnen ist. Sie ist eine fanatische, rassistische, aggressive, expansionistische, kolonialistische und in ihren Methoden faschistische Bewegung. Israel ist das Instrument der zionistischen Bewegung und die menschliche und geographische Basis für den WeltImperialismus. Es dient als Basis und Sprungbrett, um gegen die Hoffnungen auf Befreiung der arabischen Nation deren Einheit und Fortschritt zu kämpfen.«44
44
Nach J. Harkavy, Ha-ʼAmana ha-palestinit u-Maschmaʽutah, Jerusalem 1971, S. 27; der Text auch: https://www.palwatch.org.il/storage/PLO%20Charter%20-%201968.pdf; englische Version: »Article 22: Zionism is a political movement organically associated with international imperialism and antagonistic to all action for liberation and to progressive movements in the world. It is racist and fanatic in its nature, aggressive, expansionist, and colonial in its aims, and fascist in its methods. Israel is the instrument of the Zionist movement, and geographical base for world imperialism placed strategically in the midst of the Arab homeland to combat the hopes of the Arab nation for liberation, unity, and progress. Israel is a constant source of threat vis-a-vis peace in the Middle East and the whole world. Since the liberation of Palestine will destroy the Zionist and imperialist presence and will contribute to the establishment of peace in the Middle East, the Palestinian people look for the support of all the progressive and peaceful forces and urge them all, irrespective of their affiliations and beliefs, to offer the Palestinian people all aid and support in their just struggle for the liberation of their homeland.«; nach Yale Law School, Avalon Project. Documents in Law, History and Diplomacy, http://avalon.law.yale.edu/20th_century/plocov.asp
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Allerdings muss man dazu einräumen, dass sich frühe Zionisten, wie etwa Herzl in seinem Buch der Judenstaat, durchaus in diesem Sinne ausdrückten, wenn er sagte: »Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.«45 Dies ist allerdings eine spezifisch von Herzl zur Gewinnung der europäischen Staaten für sein Projekt formulierte Auffassung, die dem Staatsdenken Herzls geschuldet war und nicht als das Ziel und die Ausgangsmotivation des Zionismus bezeichnet werden kann.46 Demgegenüber sehen viele Israelis in der palästinensischen Gegnerschaft gegen Israel nicht einen begrenzten politischen Konflikt, sondern eine gleichfalls aus Europa herübergetragene umfassendere Motivation, nämlich den Antisemitismus, der nun bei den Palästinensern wirkt. Und in der Tat kann diese Auffassung ihre Berechtigung erhalten, wenn man zum Beispiel die Charta der Ḥamas liest, welche die alten antisemitischen Mythen verbreitet: »Mit ihrem Geld beherrschen sie die internationalen Kommunikationsmittel, die Nachrichtenagenturen, Zeitungen, Verlagshäuser, Rundfunkstationen und dergleichen. Mit ihrem Geld zettelten sie an verschiedenen Orten in der Welt Revolutionen an, um ihre Interessen durchzusetzen und ihren Profit daraus zu ziehen. Sie standen hinter der Französischen Revolution, hinter der kommunistischen Revolution und den meisten Revolutionen, von denen wir hörten und hier und da vernehmen. […] Sie erlangten die Balfour Declaration, gründeten den Völkerbund mit dessen Hilfe sie die Welt beherrschen konnten. Sie waren es, die hinter dem Zweiten Weltkrieg standen, in dem sie sagenhafte Gewinne machten, im Handel mit Waffen und in dem sie zugleich den Weg zur Begründung ihres Staates pflasterten. Sie betrieben die Errichtung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates anstelle des Völkerbundes, um durch sie die Welt zu beherrschen.« 47
45
Theodor Herzl, Der Judenstaat, Jerusalem 1975 (Wien 1896), S. 28.
46
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 141–158.
47
Hamas Covenant 1988 (ohne Auslassungen) nach http://avalon.law.yale.edu/20th_century/ hamas.asp: § 22 […] »With their money, they took control of the world media, news agencies, the press, publishing houses, broadcasting stations, and others. With their money they stirred revolutions in various parts of the world with the purpose of achieving their interests and reaping the fruit therein. They were behind the French Revolution, the Communist revolution and most of the revolutions we heard and hear about, here and there. With their money they formed secret societies, such as Freemasons, Rotary Clubs, the Lions and others in different parts of the world for the purpose of sabotaging societies and achieving Zionist interests. With their money they were able to control imperialistic countries and instigate them to colonize many countries in order to enable them to exploit their resources and spread corruption there.
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Das Denken auf beiden Seiten, so zeigen die vorausgegangenen Darlegungen wie die palästinensischen Sichtweisen, ist demnach von Bedrohungsszenarien überwölbt, die einen rationalen Diskurs fast unmöglich machen. Beide Seiten sehen sich als Opfer des jeweils anderen, eine Situation die einen tief beschädigten psychologischen Grund für mögliche Gespräche schafft und keinerlei Raum lässt, noch irgend einen Funken Empathie für die Sicht und Position des andern zulässt. – Hier soll am Rande mit Goodman noch vermerkt werden, dass auch ein Dialog der Religionen zwischen Judentum, Christentum und Islam, nicht wirklich helfen kann, denn diese hier involvierten Religionen sind ihrerseits durch den Konflikt so belastet, dass erst die Entschärfung des Konflikts eine religiöse Kooperation möglich erscheinen lässt.
5.2
Der Talmud als Vorbild
Schon eingangs hatte Goodman auf den Talmud verwiesen, der zeigte, dass in einem Fall, wo beide Seiten recht haben, dem der Vorzug gebührt, der dennoch auf den anderen hört. Dies ist indessen nicht nur aus einer Episode des talmudischen Textes zu schließen, Goodman verweist angesichts der doppelten gegenseitigen Sprachlosigkeit noch einmal grundsätzlicher auf den Talmud als Vorbild. Dieses Mal ist es die gesamte Struktur des Talmud als Diskussionsforum, die er als Vorbild für die gegenwärtige Situation sieht. Auf den Talmud, dieses jüdische Dokument schlechthin, gehen letztlich alle halachischen Entscheidungen und Regeln zurück. Aber eigenartigerweise legt der Talmud selbst die gültigen Regeln nicht selbst fest. Dort werden nur die Möglichkeiten für eine Entscheidung erörtert, damit der jeweils geforderte Halacha-Entscheider das ganze
You may speak as much as you want about regional and world wars. They were behind World War I, when they were able to destroy the Islamic Caliphate, making financial gains and controlling resources. They obtained the Balfour Declaration, formed the League of Nations through which they could rule the world. They were behind World War II, through which they made huge financial gains by trading in armaments, and paved the way for the establishment of their state. It was they who instigated the replacement of the League of Nations with the United Nations and the Security Council to enable them to rule the world through them. There is no war going on anywhere, without having their finger in it. ›So often as they shall kindle a fire for war, Allah shall extinguish it; and they shall set their minds to act corruptly in the earth, but Allah loveth not the corrupt doers.‹ (The Table – verse 64). The imperialistic forces in the Capitalist West and Communist East, support the enemy with all their might, in money and in men. These forces take turns in doing that. The day Islam appears, the forces of infidelity would unite to challenge it, for the infidels are of one nation. […]«
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Tableau der Meinungen vor sich hat, um selbst entscheiden zu können. Im Talmud Ḥagiga 3b liest man dazu: »Die einen erklären die Sache für rein und die andern für unrein; die einen verbieten und die andern erlauben sie; die einen erklären sie für untauglich die andern für tauglich. Da sage der Mensch nur nicht: Wie soll ich da Tora lernen?« Die Antwort folgt sogleich auf dem Fuße: »So mache auch Du dein Ohr gleich einer Hörmuschel und erwirb dir ein verständiges Herz, um die Worte der Unreinsprechenden und der Reinsprechenden, die Worte der Verbietenden und der Erlaubenden, die Worte der Untauglich-Erklärenden und der Tauglich-Erklärenden zu hören.« Es geht also darum, nach dem Vorbild des Talmud wieder fähig zu werden, die unterschiedlichen Positionen anzuhören. Das eine ist die Auseinandersetzung mit den palästinensischen Nachbarn, und das andere ist die Art und Weise, wie die Israelis untereinander über diese Auseinandersetzung debattieren. – Wie schon gesagt, dies ist eine psychologische Weisheit, die für jede Auseinandersetzung gilt, die Goodman aber mit dem Verweis auf den Talmud in den jüdischen ToraDiskurs einfügt, um so – das ist die Hoffnung – wenigstens unter Juden mehr Gehör zu finden.
5.3
Die Notwendigkeit des Aufgebens von Träumen
Zur Einstimmung auf das im politischen Diskurs zu Fordernde erinnert Goodman an die von David Ben Gurion eingegangenen Kompromisse, welche die Staatsgründung erst ermöglicht hätten. Um die Bedeutung dieser Kompromisse wirklich zu verstehen, müsse zunächst daran erinnert werden, dass mit der Staatsgründung zwei alte jüdische Träume in Erfüllung gegangen sind, nämlich der Traum von der Befreiung der Juden aus der nichtjüdischen Fremdherrschaft und der Traum eines Lebens im alten Heimatland des Volkes im Land Israel. Diese beiden Träume wurden aber nur möglich, weil Ben Gurion bei der Staatsgründung für ihn, seine Parteigänger und auch rechte Zionisten schmerzhafte Kompromisse schließen musste. Für viele der säkularen Zionisten war der Zionismus zugleich der Versuch aus den Fesseln der Halacha der jüdischen Religion zu entkommen, um in einem säkularen Nationalstaat zu leben. Um in den Wochen vor der Staatsgründung das durchaus noch gefährdete Urteil der UNSCOP bezüglich der Gründung zweier © Campus Verlag
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Nationalstaaten in Palästina abzusichern, musste Ben Gurion die Unterstützung des orthodoxen »Alten Jischuv«, das heißt der meist antizionistischen altfrommen Juden Palästinas gewinnen, von deren Zustimmung oder Ablehnung die Kommissionsentscheidung abhängig schien. Ben Gurion tat dies, indem er auf die Säkularität des zu gründenden Staates verzichtete und den Orthodoxen die Herrschaft über Religionsfragen in dem neuen Judenstaat zusicherte. Der zweite Kompromiss war der Verzicht auf eine sozialistische Grundlage des jungen Staates. Die Mitstreiter von Ben Gurion hatten die Vision eines klassenlosen sozialistischen Staates, in welchem die Arbeiter nicht mehr vom Kapital abhängig wären. Der natürliche Partner für einen solchen Staat wäre natürlich die Sowjetunion gewesen. Ben Gurion entschied sich für die Unterstützung der USA, weil er im Kapitalismus der USA eine bessere Stärkung des jungen Staates sah. Aus diesem Grund hat Ben Gurion die Kampftruppen des PaLMaḤ mit ihrer militärischen Ausbildung sowie die »Arbeiterbewegung« der Gewerkschaften mit ihren sozialistischen Schulen aufgelöst und sie in staatliche Systeme überführt. Ein Verzicht auf den Staatssozialismus zugunsten des Staates. Der Dritte Kompromiss, der letztlich alle zionistischen Richtungen traf, war die Zustimmung zur Teilung des Landes und damit der Verzicht auf die Kerngebiete des biblischen Israel. Goodman fasst zusammen: »Die Führerschaft Ben Gurions hat Ideen in Tatsachen verwandelt und Träume in Wirklichkeit. Und um diese Tatsachen zu festigen, musste er auf einen Teil der Träume verzichten. Er opferte den Traum der Säkularität, als er einen Bund mit den Ultrafrommen (Ḥaredim) schloss, er ging in Sachen Sozialismus einen Kompromiss ein, als er den PaLMaḤ auflöste und die Arbeiterbewegung schloss und die USA unterstützte; er verzichtete auf die Ganzheit des Landes, als er dem Teilungsplan zustimmte.«48 Ohne diese Kompromisse, so glaubt er, wäre es wohl nie zu einer Staatsgründung und Stabilisierung gekommen. Die Schlussfolgerung aus den oben vorgestellten Dilemmata, den Ideologien und Argumenten, ist die, dass es in der gegenwärtigen Situation nicht darum gehen kann, den Träumen von einem umfassenden Frieden und von allseits gesicherten Grenzen anzuhangen, also das Problem zu lösen, den Konflikt zu beenden, was offenbar angesichts der gezeigten unausweichlich richtigen aber sich widersprechenden Positionen nicht möglich ist. Vielmehr müsse es darum gehen, aus der Falle, aus dem Paradox, zu entrinnen, es zu entschärfen, um mit dem Problem umgehen zu können, ihm seine Gefährlichkeit zu nehmen, ohne den maximalen Traumlösungen anzuhangen. Er vergleicht die Situation mit einer ge48
Goodman, S. 130.
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fährlichen unheilbaren Krankheit, die man zwar nicht beseitigen, aber für die man doch Lösungen finden kann, um mit ihr zu leben wie mit einer chronischen Krankheit, mit der man doch als handhabbarer Behinderung leben kann.
6.
Zwei mögliche Öffnungen der Falle
6.1
Denkanstöße
Den beiden von Micah Goodman am Ende seines Buches vorgeschlagenen Möglichkeiten aus der Falle zu entrinnen, mag man mit allerlei Bedenken widersprechen – und wohl auch zu Recht. Aber nicht in den vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen liegt das Hauptinteresse des Buches, deshalb schlägt es gleich zwei sehr unterschiedliche Wege vor. Entscheidend ist für seinen Autor, das politische Denken aus der Falle zu lösen, nämlich von einem Denken zu befreien, das sich nur in dualistischen Alternativen ergeht. Er will gegen eine Denkweise argumentieren, die sich von Träumen leiten lässt, von Träumen eines absoluten Sieges im Krieg oder von Träumen eines vollkommenen Friedens. Beides gibt es unter den gegebenen Umständen nicht. Darum müsse das politische Denken Abstand von solchen utopischen Zielvorgaben nehmen und sich auf bescheidenere kleine Maßnahmen konzentrieren, welche den Konflikt zwar nicht lösen werden, ihn aber entschärfen können. Also es geht um die Befreiung von denkerischen Ideologien: »Das ideologische Denken neigt dazu in Dichotomien zu denken: Entweder ist Israel eine Besatzer-Gesellschaft oder eine ethisch-moralische Gesellschaft; entweder ist Israel im Konflikt oder im Frieden; entweder besiedelt Israel das [eroberte] Land oder es verrät seine Identität und seine Werte. Das pragmatische Denken neigt demgegenüber zu einem quantitativen Denken.«49 Konkret bedeutet das etwa, dass man nicht fragt, wie man den Terror ausmerzen, sondern wie man ihn auf ein erträgliches Maß verringern könnte, auch nicht wie man den Konflikt beenden, sondern wie man ihn entschärfen kann, nicht wie kann man die Besatzung beenden, sondern wie man sie einschränken kann. Wenn die Auswirkungen des Konfliktes geringer, weniger explosiv werden, so meint Goodman, werde auch die Vereinsamung Israels in der internationalen Staatengemeinschaft nachlassen. In diesem Sinne will er die im Folgenden skizzierten konkreten Maßnahmen verstanden wissen. Sie sollen zeigen, dass man durch ein Abrücken von dicho49
Goodman, S. 154.
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tomischen maximalen Zielsetzungen den Konflikt zwar nicht abschaffen kann, aber doch ein modus vivendi für beide Seiten möglich werden könnte. An die beiden politischen Lager gerichtet sagt er: »Der Ruf der Rechten ›lasst die israelische Armee siegen‹ ist ebenso absurd wie die Forderung der Linken für einen ›Frieden jetzt‹. Die Linke erinnert wieder und wieder daran, dass es heutzutage unmöglich ist, im Krieg zu gewinnen, und die Rechte erinnert wieder und wieder daran, dass es heute unmöglich ist zum Frieden zu kommen – beide haben recht! Und sie irren sich auch! In der neuen Welt muss man die Erwartungen in den Krieg wie in den Frieden senken und von einer Politik, welche die Wirklichkeit verändern will, zu einer Politik übergehen, die sich in die Wirklichkeit hineinbegibt.50«
6.1.1 Denkanstoß Teilregelungen Die im Folgenden vorgeschlagenen Möglichkeiten sollen, so der Autor, nur Wege weisen, wie die vorgeschlagenen Denkweisen im konkreten Fall aussehen könnten, beziehungsweise, was sie zu berücksichtigen haben. Im Falle der Frage, ob sich Israel aus den besetzten Gebieten zurückziehen solle oder nicht, gibt es auf beiden Seiten Gesichtspunkte, welche zu beachten sind und den jeweiligen Seiten abverlangt werden können. Auf Seiten Israels sind es vor allem die beiden Bedingungen, dass die Sicherheit des Staates vor dem Eindringen des derzeitigen orientalischen Chaos, insbesondere seit dem sogenannten »arabischen Frühling« gewährleistet ist und dass eine Bewaffnung der Palästinenser, welche den Staat Israel von den Bergen aus bedrohen könnte, verhindert wird wie auch das Eindringen massenweiser palästinensischer Flüchtlinge, welche auch einen jungen Staat Palästina in die Knie zwingen würde. Hinzu kommt, dass neben der Gewährung der Sicherheit eine Befreiung von der moralischen Last der Besatzung und dem demographischen Damoklesschwert gesichert werden müsste. Für die Palästinenser müsste bei einer Teillösung darauf geachtet werden, dass sie sich nicht auf die Endgültigkeit einer solchen Lösung verpflichten müssten, welche bedeuten würde, dass sie den Anspruch der Rückkehr der Flüchtlinge von 1948 aufgeben müssten, was, wie oben dargestellt, eine Frage der palästinensischen Identität darstellt. Des weiteren würde bei einem definitiven Friedensschluss von ihnen gefordert werden, dass sie von dem muslimischen Gesetz Abstand nehmen müssten, nachdem einmal von Muslimen bewohntes Territorium heiliges Land ist, das nicht in nichtmuslimische Hände übergeben werden
50
Goodman. S. 159.
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dürfe. Solche Endgültigkeitsforderungen würden auch einer Teillösung im Wege stehen. Zur Verwirklichung dieser Bedingungen böte sich der schon 1967 von dem Regierungsmitglied Jigal Allon vorgeschlagene sogenannte Allon Plan an, nach welchem in den dicht von Palästinensern besiedelten Regionen ein palästinensischer Staat zu gründen sei, während neben zwei jüdischen Siedlungsblöcken vor allem das Jordantal als Sicherheitskordon in israelischen Hände bleiben solle. Natürlich müsse man, konzediert Goodman, auch hier mit einer palästinensischen Verweigerung rechnen, aber die neuerlichen Veränderungen im Nahen Osten, vor allem die Spaltung in einen sunnitisch-arabischen und einen schiitischpersischen, könnten hier eine neuerliche Dynamik entfalten, in welcher die Palästinafrage für die arabisch-sunnitische Seite etwas in den Hintergrund tritt. Eine solche Teillösung des Konflikts wird zwar den Konflikt nicht beenden – er spart solche Themen wie die endgültigen Grenzen, die Zukunft Jerusalems, die Frage der Flüchtlinge, die Beziehungen zwischen der Westbank und dem Gaza-Streifen aus –, aber sie wird die Problematik neu definieren. Der Rückzug aus der Westbank bei gleichzeitiger Grenzsicherung im Jordantal würde das Problem von einem Konflikt zwischen Besatzern und Besetzten zu einem Konflikt eines Staates mit seinem Nachbarn verändern und er könnte in Israel zu einem neuen Denken führen, weil die Forderungen der Rechten und der Linken, Sicherheit und Ende der Besatzung, erfüllt wären und so das Denken über die weitere Zukunft durch das Entkommen aus der Falle befreit wäre.
6.1.2 Denkanstoß Separierung Eine andere pragmatische Taktik als Denkanstoß sieht Godman – sich dabei auf Vorschläge von Henry Kissinger und den Schriftsteller A. B. Yehoshua berufend – darin, den Palästinensern, die in den Besatzungszonen A und B leben und der palästinischen Autonomie unterstehen in einem Doppel aus diplomatischen und territorialen Maßnahmen, das Gefühl von mehr Autonomie und weniger Besatzung zu vermitteln, um so zu einer Klimaverbesserung beizutragen. Die diplomatische Seite wäre, den Palästinensern völlige oder teilweise, durch Symbole geförderte, staatliche Anerkennung zu gewähren, ohne diese von einer endgültigen Friedensregelung abhängig zu machen. Dazu könnte sogar gehören, jene nur arabisch bewohnten Teile Jerusalems den Palästinensern als Hauptstadt-Jerusalem abzutreten. Der territoriale Teil dieser Lösung wäre, durch territoriale oder auch durch architektonische Maßnahmen, Umgehungsstraßen und Brücken, den Palästinensern eine unbehinderte Bewegungsfreiheit zwischen ihren zersplitterten Territorien zu verschaffen, ohne totale territoriale Vereinung ihrer Gebiete. Goodman © Campus Verlag
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glaubt, dass durch diese beiden Maßnahmen zum einen das Bewusstsein einer palästinischen Souveränität gestärkt werden könnte und zum anderen das Gefühl des Beherrschtseins geringer würde. Als zusätzliche Maßnahme gehörte zu diesem Paket, dass man den Palästinensern in den Besatzungszone C, die ganz unter israelischer Herrschaft stehen, das israelische Bürgerrecht verleiht, damit die belastenden Ungleichheiten zu den ebenda wohnenden jüdischen Siedlern aufgehoben würden.
7.
Schlussbemerkung
In einem israelischen Buch, das gegen ideologische Verkrustungen in der Politik kämpft, darf natürlich der Hinweis nicht fehlen, dass sein Autor sehr wohl um die Bedeutung von festen Ideologien weiß, denn ohne solche wäre das gesamte zionistische Programm und dessen erstaunliche Erfolge nicht möglich gewesen. Es gibt aber, so Goodmans Auffassung, Verkrustungen solcher Ideologien, die dem eigenen Gelingen im Weg stehen können. Das Beispiel von Ben Gurion bei der Staatsgründung war das eine. Das andere ist, dass die Bibel im Gegensatz zu ihrer Umwelt die Vergöttlichung der Herrscher abgelehnt habe. Im Europa des 19. Jahrhunderts habe man die Ideologien, den Kommunismus, Sozialismus und Liberalismus »vergöttlicht« im Glauben, dass die Verwirklichung der Ideologie eine bessere Welt schaffe. Aber all diese Ideologien sind an der Wirklichkeit zerbrochen. Darum »Die Menschen sind nicht vollkommen und ebenso wenig sind es die Ideen, so wie es auch keine vollkommenen Lösungen gibt. Es gibt keine Idee, welche die gewalttätigen Elemente aus dem Nahen Osten tilgen kann, es gibt kein politisches Programm, welches das Feuer der Feindschaft zwischen den Völkern und Religionen auszulöschen vermag und Harmonie zwischen den Juden und den Völkern stiften kann; es gibt keine politische Idee, welche die Wirklichkeit erlösen kann, es gibt keine heilige, erhabene und vollkommene politische Idee. Es ist offensichtlich, dass eine bescheidene Politik alte Wurzeln hat. Sie verwirklicht eine alte und tiefe jüdische Botschaft.«51 Gemeint ist damit, dass die biblischen Propheten eine menschliche Skepsis gegen die Politik pflegten, während die talmudische Tradition den Zweifel des Menschen an sich selbst hegte. Diese Tradition bevorzugt nicht, wie das eingangs gebrachte Beispiel von Hillel und Schammai zeigte, diejenigen, welche immer recht haben, sondern diejenigen, die wissen, dass sie nicht immer recht
51
Goodman, S. 165.
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haben. »Die jüdische Tradition ist eine Tradition der Debatte, aber auch eine Tradition des Zuhörens – jenes Zuhörens welches die Kultur der Auseinandersetzung in Israel erneuern und emporheben kann!«52
52
Goodman, S. 166.
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TEIL V – DIE FEMINISTISCHE REVOLUTION
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I.
FEMINISTISCHE NEUGESTALTUNG DES JUDENTUMS – DIE KRITIK AN DER TRADITION – EINFÜHRUNG
1.
Zur Einstimmung
Kommt man im heutigen Israel auf den alten Friedhof der Negev-Stadt Beʼer Scheva, so fällt sogleich das Heiligtum, das »Zelt« über dem Grab des dort bestatteten, aus Tunesien, Djerba, 1955 nach Israel eingewanderten, Heiligen Zaddik Ḥajjim Ḥuri (Chouri) auf.1 Neben all den dort verkauften Devotionalien sticht vor allem ein großes an der Wand zum Zugang des Grabes hängendes Gebet für Frauen ins Auge, das als Zeugnis aus der orthodox-jüdischen Realität zur Einstimmung in das Folgende dienen mag: »Mit Hilfe des Schöpfers, Er sei gesegnet. Um dem Schöpfer, sein Name sei gesegnet, Freude zu bereiten. Gebete für Frauen und Mädchen, die sie täglich sprechen sollten, insbesondere beim Zünden der Schabbat-Kerzen. Allerorten, insbesondere am Grab von Rabbi Schimʻon Bar Jochai – Sein Verdienst schütze uns, Amen. I. Herr der Welt, es möge Dir wohlgefallen, mich, deine Dich über Alles liebende Tochter samt allen Deinen teuren Töchtern würdig zu machen, dass ich willens bin, würdig zu sein, das für Frauen allerwichtigste Gebot zu erfüllen, wahrhaft bescheiden und züchtig zu sein, ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, was die Menschen sagen, sondern mir einzig wichtig ist, Deinen Willen, gesegneter Gott, zu tun. Dies möge Deinem Wohlgefallen entsprechen, Amen. 1
Zu ihm siehe A. Weingrod, The Saint of Beersheba, Albany 1990; zu dem entsprechenden Heiligtum des Jisraʼel Abuḥazera alias Baba Sali in Netivot siehe K.E. Grözinger, Tausend Jahre Baʻale Schem, Wiesbaden 2017, S. 272–283.
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Kritik an der Tradition
II. Barmherziger Vater, es möge Dein Wille sein, mir und allen Deinen teuren Töchtern, zu helfen, stets daran zu denken, dass es kein mächtigeres Mittel gibt, gerechte Söhne zu bekommen, die Zaddikim (Gerechte/Heilige) und gelehrte Männer sind, als die demütige Keuschheit. Du hast uns durch Deine Zaddikim gelehrt, dass die künftige Erlösung, durch das Verdienst der gerechten (zadkanijot) Frauen kommen wird. Darum bitte und erflehe ich aus meinem tiefsten Herzen, dass Du mir hilfst, alle Widrigkeiten, die mir begegnen zu überwinden, und in allem meinem Tun bescheiden und keusch zu sein. Und dass ich dadurch vollkommen gerechter Söhne und Töchter gewürdigt werde, unter allen deinen teuren Töchtern, und so das Kommen der vollkommenen Erlösung herbeiführe. Dies möge Deinem Wohlgefallen entsprechen, Amen. III. Barmherziger Vater, es möge Dein Wille sein, mir und allen Deinen teuren Töchtern, zu helfen, stets daran zu denken, dass jegliches auch noch so geringe Bemühen in Demut der Welt große Wohltaten verschafft. Es bringt die Gegenwart der Schechina (Gottesgegenwart), heilt die Kranken, verschafft mit Leichtigkeit und Fülle Einkünfte zum Leben, Frieden Zuhause und bringt die Erlösung herbei. Dies möge mir Freude schenken und Lust geben mich mehr und mehr zu bemühen, wahrhaft keusch und bescheiden zu sein, und zwar mittels der Kopfbedeckung wie sie die Halacha vorschreibt, was die Keuschheit wirklich fördert – und Gott bewahre nicht umgekehrt. (Unverheiratete sagen: Mit hochgebundenem Haar) mit einem geschlossenen Kragen, gemäß der Halacha, mit weiten und nicht durchsichtigen Kleidern, ruhigen Farben, langen Ärmeln, gemäß der Halacha, langem und weitem Rock und nicht durchsichtigen Strümpfen. Bescheidenheit beim Sprechen: In der Gegenwart von Männern leise sprechen. Und hilf mir, dass ich auf der Straße oder im Autobus nicht durch das Mobiltelefon spreche, gemäß der Entscheidung der Großen Männer der Generation. Und hilf mir, dass ich auch nicht einen Augenblick auf unkoschere Schriften oder verbotene Geräte blicke, wie das verfluchte Inter-Ḥet (Inter-Sünde), denn es gab seit der Erschaffung der Welt keinen größeren Stolperstein als diesen. Und hilf mir, bemüht zu sein, so wenig wie möglich mit Männern zu reden. Und hilf mir und allen teuren Frauen, im Benehmen züchtig zu sein, zuhause und insbesondere draußen. Und würdige mich, dass ich mich gemäß den Worten des Königs Salomo benehme, dass nämlich die Anmut Lüge und die Schönheit Nichts sind. Hilf mir zu besonderer Demut wie es meinen Kräften entspricht, um Dir und dem ganzen Volk Israel zu Gefallen, zur Freude und Heiligkeit zu sein – und Gott bewahre, nicht das Gegenteil. Dies möge Deinem Wohlgefallen entsprechen, Amen. IV. Teurer Vater, hilf mir und mache mich und alle Deine teuren Töchter würdig, all diese Gebete täglich aus tiefstem gebrochenen Herzen unter Tränen zu beten, damit wir in diesem Verdienst der vollkommenen, eilends in unseren
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Tagen herbeikommenden, Erlösung teilhaftig werden. Dies möge Deinem Wohlgefallen entsprechen, Amen. Es ist eine verdienstliche Tat, dies zu übersetzen und zu fotografieren und in der ganzen Welt zu verbreiten – um des Himmels und der nahen Erlösung willen. Willkommen sind freiwillige Helfer zur Verbreitung dieser Gebete in der gesamten Welt, sie werden aller Segnungen der Tora teilhaftig werden.« Diese Gebete enthalten fast alle Frauen-Bilder und Erwartungen der traditionellen jüdisch-rabbinischen Gesellschaft an die jüdische Frau und werden, wie dieses Beispiel zeigt, noch heute vertreten. Vieles davon wirkt auch noch im liberalen Judentum nach, wie die im Folgenden dargelegten Äußerungen feministischer Jüdinnen zeigen.
2.
Anfänge und Grundanliegen
Der jüdische Feminismus hat seinen Anfang gegen Ende der sechziger und Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts in den USA genommen und hat bald auch in Israel Fuß gefasst. Es gab allerdings schon im 19. Jahrhundert jüdische Frauenverbände, 1904 wurde in Deutschland der Jüdische Frauenbund gegründet, an dessen Spitze die bekannte Frauenrechtlerin und Autorin Bertha Pappenheim (1859–1936) stand. Diese Vorläuferinnen sollte man indessen vom späteren Feminismus unterscheiden und eher als jüdische Frauenrechtlerinnen bezeichnen, weil sie analog zum allgemeinen Bund deutscher Frauenvereine in erster Linie um die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft und insbesondere der jüdischen Frau in den jüdischen Gemeinden und Strukturen kämpften.2 Immerhin wurde in Deutschland im Jahre 1935 Regina Jonas privat zur ReformRabbinerin ordiniert – sie wurde aber 1944 von den Nazis in Auschwitz ermordet.3 Auch wenn der neuere Feminismus dieselben Gleichstellungsforderungen der Frauen erhebt, gehen seine Zielsetzungen doch erheblich weiter, so dass die Repräsentantinnen dieser Bewegung ganz bewusst dem bisher herrschenden »rabbinischen Judentum« nunmehr ein neues »feministisches Judentum« gegenüber2
Zum Jüdischen Frauenbund und Bertha Pappenheim vgl. Marion A. Kaplan, Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904– 1938, Hamburg 1981; Britta Konz, Bertha Pappenheim (1859–1936). Ein Leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation (= Geschichte und Geschlechter. Band 47), Frankfurt am Main 2005; Marianne Brentzel, Anna O. – Berta Pappenheim. Biographie, (Wallstein) o. D.; Dora Edinger, Bertha Pappenheim. Leben und Schriften, Frankfurt a. M. 1963.
3
E. Klapheck (Hg.), Fräulein Rabbiner Jonas. Kann eine Frau das rabbinische Amt bekleiden? Eine Streitschrift von Regina Jonas, ediert, kommentiert, eingeleitet, Teetz 2000.
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Kritik an der Tradition
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stellen. Damit wird angezeigt, dass es bei den neuen Bestrebungen nicht nur um eine Gleichstellung der Frauen innerhalb des von Männern dominierten, androzentrisch-patriarchalischen, Judentums geht, sondern um eine weitgehende Neukonzeption des gesamten Judentums, vergleichbar der rabbinischen Wende nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, wie sie analog schon im vierten Band des Jüdischen Denkens erörtert wurde.4 Von dieser Neubestimmung sollen nicht nur die Rechtssituation der Frau in der Halacha, insbesondere in Eherechtsfragen und der Zeugnisfähigkeit im Gericht, betroffen werden, sondern auch die Stellung der Frau im Rahmen des jüdischen Gottesdienstes und dessen Ritus, in der Formulierung der Gebete, in der homiletischen und historischen Darstellung der Frau in der Erinnerungsgeschichte, sprich in den Texten von Mündlicher und Schriftlicher Tora. Noch weitere Forderungen betreffen das jüdische Selbstverständnis und vor allem auch die Theologie im engeren Sinne, das heißt die Gottesvorstellung, die ja in der Tradition weitestgehend nur männliche Gottesattribute zuließ. Ein ganz wesentliches Element ist auch der Wunsch, die spirituelle Erlebniswelt und das spirituelle Empfinden der Frauen zur Geltung zu bringen, im Ritus wie in der Geschichtsdarstellung, wobei auch die gynäkologischen wie sexuellen Rhythmen der Frau Berücksichtigung finden sollen – alles Elemente, die in der von Männern verfassten wie konzipierten und nach deren Weltansicht und gestalteten Rechts- und Erbauungs-Literatur nicht vorgekommen waren. Eine wesentliche Motivation für diese neuen Ansätze ging bewusstermaßen von dem Klassiker des modernen Feminismus aus, dem von Simone de Beauvoir 1949 in Paris publizierten Buch Le Deuxième Sexe. Les Faits et les Mythes. L’expérience vécue.5 Eine nicht unbedeutende Rolle spielte die Diskussion und Auseinandersetzung mit dem christlichen Feminismus – nicht zuletzt auch wegen dessen latentem Antijudaismus. Erstaunlicherweise hat dies viele jüdische Feministinnen nicht daran gehindert, in eine neue Form des Antisemitismus einzustimmen, nämlich die sogenannte »Israelkritik«. Das alles bedeutet, dass nach dem Verständnis dieser feministischen Revolution hier nicht nur um die Rechte der Frauen gekämpft werden soll, sondern um ein neues egalitäres Verständnis des Judentums, in dem nicht nur die Privilegien der Männer zugunsten der Frauen eingeschränkt werden sollen. Das Ziel ist vielmehr ein weitgehend neues Verständnis des Judentums, das die Männer im selben Maße wie die Frauen einbezieht, in dem die Asymmetrie zwischen Mann und Frau aufgehoben ist und das Judentum nicht mehr nur über dessen männliche Hälfte definiert wird, sondern über die beiden Teile des tatsächlichen existierenden jüdischen Volkes. Um mit Susannah Heschel zu sprechen: »Die Auswir4
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 563–587. 606–607. 517–519.
5
Deutsch: Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1951.
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Jüdischer Feminismus
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kungen der feministischen Fragestellungen betreffen mehr als nur die Zurechtrückung einzelner Gesetze oder Traditionen […]. Es werden dadurch vielmehr die essentiellen Grundlagen des Judentums in Frage gestellt – von der Halacha zum Gebetbuch bis hin zu der Art und Weise wie wir Gott sehen. Die Herausforderung, die damit am Horizont erscheint, erfordert eine kopernikanische Wende: Eine neue Theologie des Judentums, die ein neues Verständnis von Gott, der Offenbarung, der Halacha und des jüdischen Volkes erfordert, um so den Wandel zu unterstützen und zu ermutigen.«6 Wiewohl die jüdisch-feministische Bewegung keine Einheit darstellt und in verschiedene Richtungen, von orthodox über liberal bis zur Frauenspiritualität zerfällt, sind doch die Ursachen und Ausgangspunkte, die gefühlten und erlebten Zurücksetzungen der Frauen im gelebten sozialen wie religiösen jüdischen Leben weitgehend dieselben, weshalb sie hier zusammenfassend vorangestellt werden, bevor dann die voneinander abweichenden Lösungsvorschläge und Marschrichtungen dargestellt werden.7
3.
Die gemeinsamen Erfahrungen der Zurücksetzung der Frauen im jüdischen Leben und in der jüdischen Religionskultur aus der Sicht der betroffenen Frauen – ein erster Überblick
3.1
Die traditionelle Sichtweise zur Rolle der jüdischen Frau – nach Samson Raphael Hirsch – die Frau als Schatten des Mannes
Wie sehr die Beurteilung der Situation und Achtung der jüdischen Frau schon im 19. Jahrhundert innerhalb und außerhalb des Judentums umstritten war, zeigt die Tatsache, dass der Führer der jüdischen Neoorthodoxie, Samson Raphael Hirsch (1808–1888), diesem Thema einen langen ausführlichen Essay unter dem Thema »Das jüdische Weib. Seine Bestimmung nach dem göttlichen Gesetze«8 widmete, in dem er die üblich gewordene Verherrlichung der jüdischen Ehefrau als Königin des Hauses, die aber draußen nichts zu schaffen hatte, ausbreitete und alle 6
Heschel, On Being a Jewish Feminist, New York 1995, S. XLI.
7
Judith Butler, auch Jüdin und Feministin habe ich hier nicht aufgenommen, weil Sie nicht über die Probleme der jüdischen Frauen handelt, sondern über den Feminismus als Frage menschlicher Identitätsbildung. Sie bietet einen Meta-Diskurs über feministische und »Gender«-Fragen, der nicht die hier verhandelten Fragestellungen betrifft. Insofern ist sie keine Vertreterin des »jüdischen« Feminismus. Als feministische Publikation von Butler nenne ich hier nur ihr hochgelobtes Buch »Das Unbehagen der Geschlechter« (Gender Trouble) 1991 (1990).
8
Wieder abgedruckt in den von N. Hirsch herausgegebenen Gesammelten Schriften, Band 4, Frankfurt a. M. 1908S. 161–208.
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jene Vorurteile bestätigt, gegen welche die modernen jüdischen Feministinnen zu Felde zogen. Hirsch schreibt dort unter anderem: »( זכרsakhar) heißt das männliche Geschlecht, es ist der Depositär der Gottesoffenbarungen und der geistigen Errungenschaften der Menschheit, ihm ist das ( זכרוןSikkaron) die Tradition des Menschengeschlechtes in seinen Entwickelungen überantwortet, in ihm bildet sich die geistige Kette, die den Anfang und das Ende der Menschengeschichte zu einer Einheit verknüpft, das männliche Geschlecht ist זכר, es ist der Träger der Geschichte. Sein Schaffen und Wirken steht nicht unter dem Einfluß des Augenblicks, es hat der von Gott und der Vergangenheit empfangenen Aufgaben und Überlieferungen zu gedenken [sakhar], und aus der Vermählung derselben mit den Erscheinungen und Verhältnissen der Gegenwart seine, die Kette der Geschichtstradition in ewigem Fortschritt weiterspinnende Tätigkeit zu erzeugen. Es ist somit das die Richtung der Zeit bestimmende. Das Weibliche ist ]…[ נקבהdas Bestimmung empfangende. Der Mann wählt sich einen Beruf, schafft sich eine Stellung, das Weib empfängt beides, indem es sich einem Manne anschließt und in seinen Beruf und seine Stellung eingeht. Zum Menschen, zur Jüdin blühet die Jungfrau heran, und erst ihrem Manne zur Seite erhält sie die Besonderheit, den engeren Kreis menschlicher Bestrebungen, in welchem auch sie, mit dem Manne vereint, die allgemeine menschliche und jüdische Aufgabe in einem bestimmten Berufe und einer bestimmten Stellung zu lösen hat. Aber eben darum, weil sich das Weib nicht erst einen Beruf und eine Stellung zu erobern hat, bleibt es die Pflegerin des reinmenschlichen in der Menschheit, und es ist das große Wort, mit welchem der Vater der Menschheit, der Erzieher und Wächter ihrer geschichtlichen Entwickelungen, die einstige Heilung und Sammlung der Menschen aus allen Irrgängen ihrer geschichtlichen Versuche ankündigt: כי נקבה תסובב גבר,ברא ד' חדשה בארץ, Gott schafft das Neue auf Erden, das Weib umgibt den Mann! (Jirmija K. 31, V.22.). […] [Während sich nun der Mann in den Berufskämpfen verwirrt] Da ist es denn gerade das Weib, das ihn zu diesem rein Menschlichen zurückführt, und das Rätsel der Geschichte löst sich mit der Herrschaft des Weiblichen, mit der Umschränkung des Mannes in den unter die Pflege des Weibes gestellten Kreis des rein menschlichen Seins und Waltens. Es ist die Rückkehr des Bürgers zum Menschen!«9 In diesen Ausführungen des berühmten Samson Raphael Hirsch10 sind in »modern« bürgerlichem Sprachgewand des 19. Jahrhunderts all jene Sichtweisen zu9
S. R. Hirsch, Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1908, Bd. 4, S. 162–163.
10
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4. S. 496–537.
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sammengefasst, welche sich auf alle im Folgenden aufgezählten Lebensbereiche der jüdischen Frau auswirken und von den feministischen Frauen aufs Heftigste bekämpft werden. Da ist zunächst der zentrale Gedanke, dass die Frau ausschließlich vom Mann, genauer vom Ehemann her gesehen und mit Sinn ausgestattet wird. Solange die Frau noch nicht verheiratet ist, hat sie die Vollendung zur jüdischen Frau noch nicht erreicht. Diese besteht dann vor allem darin, wie dies die amerikanisch feministische Literatur nennt, »enabler«, also Helferin für den »Herrn der Geschichte«, den Gestalter der Welt, den Träger der Tradition, zu sein, ihm seine weltbewegende und erhaltende Aufgabe zu ermöglichen. Der Ort an dem sie das tut ist der häusliche Raum, wo sie das »Reinmenschliche« zu pflegen hat, wozu natürlich das Kinderkriegen und -betreuen gehört. Es ist diese Sichtweise der Frau, dieses Narrativ, das sodann all die daraus folgenden Kulturund Lebensbereiche der traditionellen jüdischen Gesellschaft und der darin den Frauen zugewiesenen Rolle bestimmt.
3.2
Die passive unterworfene Rolle der Frau nach der Halacha
3.2.a Heirat und Scheidung Das biblische Eherecht sah vor, dass eine Frau durch Bezahlung eines Brautpreises an den Vater durch den Mann erworben wird. Der Erwerb einer Frau glich demnach im Grunde dem Erwerb von Sachen, weshalb der Ehemann bis heute Baʻal, Herr, Besitzer, genannt wird. Dieser Charakter einer reinen kommerziellen Transaktion wurde in mischnisch-talmudischer Zeit dadurch verändert, dass der Vorgang der Eheschließung nun Kidduschin, Heiligung, genannt wird, ein Bedeutung die bis heute in der Trauungsformel gilt, welche der Mann zur Frau spricht, wenn er ihr einen Ring oder etwas, das wenigstens dem Wert der kleinsten Geldmünze entspricht überreicht und sagt: »Siehe du bist mir geheiligt durch dieses (diesen Ring).«11 Die Heiligung bedeutet, dass die Frau sexuell nun ausschließlich diesem Mann gehört und anderen verboten ist. Auch wenn von vielen Rechtsgelehrten diese überkommenen Formeln als rein symbolische Redeweise betrachtet werden, so gilt doch, wie dies Rachel Adler feststellt: »Was all diese rechtlich akzeptierten Transaktionen gemeinsam haben, ist, dass sie einseitige Akte sind. Die Heirat kann nicht von einer Frau initiiert werden (Babylonischer Talmud, Kidduschin 4b), noch kann sie das Ergebnis eines gegenseitigen Austausches sein (Kidduschin 3a; 6b). Der Mann kann nicht mit einem Darlehen oder einer bedingten Gabe erworben werden (Kidduschin 6b). Er kann sich der Frau nicht schenken; er muss erklären ›du gehörst mir‹ und nicht ›ich bin dein‹ (Kidduschin 6b). Verfahren in welchen beide Seiten aktive Teilnehmer sind wer11
Schulchan ʽAruch, ʼEven ha -ʻEser 27,1; M. Elon (Hg.), The Principles of Jewish Law, S. 356.
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den ausdrücklich ausgeschlossen. Der Mann muss sie nehmen/erwerben und die Frau genommen/erworben werden.«12 Die Frau gehört nun ausschließlich diesem Mann, dem Mann werden rechtlich keine entsprechenden Auflagen gemacht – auch wenn durch die Entscheidung von Rabbenu Gershom (Mainz, 960–1028 /40) in den meisten jüdischen Gemeinschaften die Einehe gilt, wodurch das männliche Eherecht eingeschränkt wurde. Trotz der durch die Ketubba (Heiratsurkunde) und anderen Vorsorgemaßnahmen, welche die Rabbinen zugunsten der Frau eingeführt haben, kommt Rachel Adler zu dem Schluss: »Wie Sklaven, Land und Vieh, ist die Frau eines der Güter und Besitztümer des patriarchalischen Haushalts.«13 So sehr diese Formeln heutzutage auch als symbolische Tradition verstanden werden, in einem Punkt bleiben sie dennoch harte Realität, zumindest in orthodoxen Kreisen und in Israel, wo dieses Recht für alle jüdischen Eheschließungen gilt, nämlich im Fall der Ehescheidung, die alleine der Mann vollziehen kann. Und ohne den formellen, alleine vom Mann auszustellenden, Scheidebrief (Get) kann eine jüdische Frau nicht wieder heiraten und ihre eventuell dennoch mit einem anderen Mann gezeugten Kinder werden als Mamserim, Bastarde, das heißt rechtlich nicht als Juden anerkannte Menschen, betrachtet. In der Moderne wird dieses Privileg häufig zur Erpressung von größeren Geldsummen durch den Ehemann missbraucht, wie dies Susanna Heschel beklagt.14 Ansonsten muss eine Frau, deren Mann verschollen ist und ihr folglich keinen Ehebrief ausstellen kann, ihr Leben lang an diese Ehe gekettet bleiben (als Aguna, Angekettete), es sei denn der Tod des Ehemannes kann nachgewiesen werden. Auch im Fall der Aguna ist eine Wiederverheiratung nicht möglich. Judith Plaskow, eine der profiliertesten jüdischen Feministinnen, beschreibt diese ganze Situation der einseitigen Abhängigkeit der Frau vom Mann, zunächst vom Vater, dann vom Ehemann, mit Simone de Beauvoir als die »otherness«, die Situation der »Anderen«, also der Person, die von der gesellschaftlich definierten Norm abweicht – Plaskow tut dies in ihrem Buch mit dem programmatischen Titel Standing Again At Sinai.15 Demnach nimmt die Tora, hier im engeren Sinn als die hebräische Bibel gemeint, eine vollkommen männliche Perspektive ein, in welcher Frauen zwar vorkommen, aber stets aus der Sicht der Männer. Der Mann ist dort der eigentliche Träger des Bundes, der mit den Beschnittenen, sprich mit den Männern, geschlossen wurde. »Die Gemeinschaft des Bundes ist die Gemeinschaft der Beschnittenen (Gen 17, 10), die Gemeinschaft ist definiert als die
12
R. Adler, Engendering Judaism. An Inclusive Theology and Ethics, Boston1999/2005, S. 176.
13
Adler, Engendering, S. 177.
14
Heschel, On Being a Jewish Feminist, S. XV.
15
J. Plaskow, Standing Again At Sinai. Judaism from a Feminist Perspective, San Francisco et. al. 1990.
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der männlichen Haushaltsvorsteher. […] die Frauen werden nicht als die normativen Juden betrachtet.«16 Auch die biblischen Ehegesetze und die Definitionen des Ehebruchs werden nur aus der Sicht der Männer definiert, um sicherzustellen, dass die von einer Frau geborenen Kinder seine eigenen sind, wodurch die patrilineare Vererbung, auch des Bundes mit Gott, der vom Vater auf den Sohn übergeht, gesichert wird. Judith Plaskow beschreibt die biblische Situation so: »Die Frauen betreffenden Gesetze [der Bibel] stellen sie fest unter die Kontrolle zunächst des Vaters, dann der Ehemänner, so dass die Männer männliche Erben haben können, von denen sie gewiss sein können, dass sie die ihrigen sind. Die Gesetzgebung bezüglich des Ehebruchs (Dtn 22, 22, auch Num 5,11–31) und der Jungfräulichkeit (Dtn 22, 13–21) handeln zwar von Frauen, aber nur, um die weibliche Sexualität zum männlichen Vorteil zu kontrollieren. Als Verbrechen des Ehebruchs gilt nur, mit der Ehefrau eines anderen Mannes zu schlafen und ein Ehemann kann seine Frau sogar aufgrund des Verdachts auf Ehebruch vor Gericht ziehen, ein Recht das keine Reziprozität kennt. Das Schlafen mit einer verlobten Jungfrau bedeutet Ehebruch. Ein Mann, der mit einer nichtverlobten Jungfrau schläft, muss diese einfach heiraten. Ein Mädchen, dessen fehlende Jungfräulichkeit ihren Vater in der Hochzeitsnacht in Schande versetzt, kann wegen Hurerei gesteinigt werden. Eine vergewaltigte Jungfrau muss ihren Vergewaltiger heiraten. Der Gegenstand dieser Gesetze sind zwar die Frauen, aber das dahinterstehende Interesse ist die Reinheit der männlichen Linie.«17 Diese Grundlinien sieht Plaskow in der Mischna weitergeführt, auch wenn die Rabbinen, etwa mit Hilfe der Institution der Ketubba (Ehevertrag), hier gewisse Sicherheiten für die Frau einführten. Die Grundhaltung bleibt unangetastet, weshalb Mischna und Talmud zwar einen ganzen Traktat über die Frauen, aber keinen solchen über die Männer aufweisen. Die Frauen haben keinen Anteil, ihr eigenes Wesen, Empfinden und Wollen in die Gesetzgebung einzubringen: »Daher beansprucht die Tora – die jüdischen Quellen, die jüdischen Lehren – zwar jüdische Lehre zu sein, sie spricht aber nur mit der Stimme der einen Hälfte des jüdischen Volkes.«18 Plaskow schreckt nicht davor zurück, von der »Ungerechtigkeit der Tora« zu sprechen.19
16
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 6.
17
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 4
18
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 5.
19
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 6.
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3.2.b Die benachteiligte Stellung der Frau in der Familie Ich will an dieser Stelle die präzis zusammenfassende Sicht der orthodoxen Feministin Tamar Ross wiedergeben: »Obwohl die jüdische Tradition die Rolle der Frau im Hause glorifiziert hat, besitzen sie dort keinerlei höheren halachischen Status. Der Mann ist das offizielle Oberhaupt der Familie, wodurch der Frau weniger unabhängige Rechte oder Privilegien bleiben. Das Gebot ›seid fruchtbar und mehret euch‹ wird paradoxerweise nur als Verpflichtung des Mannes verstanden.20 Nach dem Gesetz liegen alle Verantwortlichkeiten zur Erziehung und Bildung der Kinder ausschließlich beim Vater.21 Es sind die Väter, nicht die Mütter, welche bis zu deren Pubertät das umfassende Sorgerecht für ihre Kinder haben. Das biblische Recht erlaubt einem Vater, seine Tochter als noch Minderjährige (bevor sie zwölf Jahre alt ist) ohne deren Zustimmung zu verheiraten.22 Wiewohl der Talmud diese Praxis verbot und gebot, die Verlobung bis zur Erreichung dieses Alters zu verschieben und ihre Zustimmung einzuholen, haben finanzielle und soziale Zwänge der Juden dazu geführt, diese Bestimmung zu widerrufen.«23 Ross verweist außerdem noch darauf, dass nach den talmudischen Bestimmungen alles Einkommen der Frau in der Regel dem Mann gehört, es sei denn anderweitige Abmachungen sind dem vorausgegangen.24 Auch in Erbschafts- und anderen Vermögensfragen steht die verheiratete Frau ihrem Ehegatten nach.
20
So liest man in der Mischna, Jevamot, VI, 6: »Der Mann ist zur Fortpflanzung verpflichtet, nicht aber die Frau. R. Joḥanan Ben Beroka sagt, von beiden heißt es: der Herr segnete sie und sprach zu ihnen: seid fruchtbar und mehret euch.« Diesen offenbaren Widerspruch löst R. Elʻasar in der Gemara wie folgt auf: »Die Schrift sagt: Füllet die Erde und unterwerfet sie; es ist die Art des Mannes zu unterwerfen, nicht aber ist es die Art der Frau zu unterwerfen.« Babylonischer Talmud, Jevamot 65b.
21
Z. B. Babylonischer Talmud Kidduschin 29a, »Der Vater ist seinem Sohne gegenüber verpflichtet, ihn zu beschneiden, auszulösen, die Tora zu lehren, zu verheiraten und ein Handwerk zu lehren; manche sagen, auch schwimmen zu lehren. […] ›die Tora zu lehren‹ Woher dies? – Es heißt: ›ihr sollt sie eure Söhne lehren.‹ […] Woher, dass sie dazu nicht verpflichtet ist? – Es heißt: ›ihr sollt lehren,‹ [und man lese:] ihr sollt lernen; wer zu lernen verpflichtet ist, ist auch zu lehren verpflichtet […] Woher. Dass sie nicht zu lernen verpflichtet ist? […] Die Schrift sagt: ›ihr sollt sie eure Söhne lehren‹, eure Söhne und nicht eure Töchter.«
22
Maimonides Mischne Tora, Hilchot ʼIschut 3,11.
23
Tosafot Kidduschin 41,1; Schulchan Aruch, ʼEven ha-ʻEser 37,8; T. Ross, Expanding the Pal-
24
Babylonischer Talmud, Nasir 24b; Gittin 77a.
ace of Tora, Waltham (Mass.) 2004, S. 17.
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3.3
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Die rituelle Zurücksetzung der Frauen – der Ausschluss aus der aktiven Teilnahme am Gottesdienst und öffentlichen Ämtern
Frauen können mit Bezugnahme auf die Bibel (Dtn 17, 14), nach der es geboten war einen König (männlich) einzusetzen, keine öffentlichen Ämter bekleiden, nicht als Richter amtieren und sind vor dem rabbinischen Gericht nicht einmal zeugnisfähig.25 Der für die kritischen Frauen zentrale Punkt ist, dass die Frauen bei der Zählung einer vollgültigen Betergemeinde von zehn Männern (Minjan) ausgeschlossen sind und damit nicht wirklich zu den aktiven Teilnehmern am Gottesdienst gerechnet werden. In diesem Zusammenhang spielen die tatsächlich gespürten Zurücksetzungen eine bedeutende Rolle, wie sie zum Beispiel von Judith Plaskow einmal berichtet werden: »Die Sache mit dem Beterquorum habe ich nicht nur als theoretisches Problem wahrgenommen, sondern als eine bedrückende Realität, die eine feministische Reaktion erfordert. In einem Augenblick des Aufscheinens des Problems, standen ich und mein (früherer) Ehemann an einem Schabbatmorgen vor der Yale Synagoge im Gespräch mit einem Freund, bevor wir zum Gottesdienst hineingehen wollten. Während wir so sprachen, kam ein Mitglied der Gemeinde heraus und bat meinen Ehemann sogleich hineinzukommen, weil man einen Minjan brauche. Plötzlich bemerkte ich, dass ich, die ich diese Gottesdienste seit anderthalb Jahren regelmäßig besuchte, mein Ehemann dagegen ein Neuling war, den ganzen Tag draußen bleiben konnte, weil meine Gegenwart für den Zweck unserer Versammlung irrelevant ist.«26 Bestimmte Gebete dürfen nur bei einem vollen Minjan gesprochen werden, weshalb der draußenstehende Mann hereingebeten wurde – nicht aber die Frau. Es ist schmerzlich für die Frauen, dass zum Beispiel ein dreizehnjähriger BarMizwa hierbei vollgültiges Mitglied ist, wohingegen eine womöglich hochgebildete Frau, die Mutter oder Großmutter dieses Jungen, ausgeschlossen bleiben und sich gar hinter einer Abtrennung oder auf einem Balkon unsichtbar machen müssen. Die Einführung einer Bat-Mizwa für Mädchen wird darum als ein wichtiger Schritt erachtet, auch wenn er beklagenswerterweise meist noch nicht zur vollen gottesdienstlichen Gleichberechtigung führt. 25
Ross, Expanding the Palace, S. 16, nach Schulchan ‘Aruch, Ḥoschen Mischpat 7, 4; Maimonides, Mischne Tora, Melachim, 1, 4; Babylonischer Talmud, Schevuʻot 30a: Baba kama 15a; Maimonides Mischne Tora, Hilchot ʻEdut 9,2. Zum Ganzen s. M. Meiselman, Jewish Woman in Jewish Law, New York 1978; E. Berkovits, Jewish Women in Time and Torah, New York 1990.
26
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. IX.
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Die Frauen waren traditionellerweise ebenso von dem zentralen jüdischen Gebot des Torastudiums »befreit« oder gar ausgeschlossen, zumindest wurde darüber kontrovers diskutiert.27 Ausgeschlossen sind oder waren sie auch vom Tragen der Gebetsriemen und des Tallit. Demgegenüber wird die Befreiung der Frau von allen Geboten, die an einen festen Zeitpunkt gebunden sind, von den Männern häufig als Privileg der Frau positiv dargestellt. Diese selbst verstanden diese Regelung jedoch eher als Zurücksetzung mit der dahinterstehenden Absicht, dass sie nicht von den häuslichen Pflichten abgehalten werden. Noch gravierender ist in diesem Zusammenhang die Vorstellung von der gynäkologisch definierten Unreinheit der Frauen während der Menstruation, die als ein zentraler Grund für diese »Befreiung« angeführt wird. Angesichts dieser Situation kommt die orthodoxe israelische Feministin Tamar Ross in ihrem Buch Expanding the Palace of Torah. Orthodoxy and Feminism zu der Auffassung, dass die vielen Ausnahmen von dieser Regel, der Befreiungen der Frauen von den zeitgebundenen Geboten, eher den Schluss nahelegen, dass »die umfangreicheren Gebotsverpflichtungen für Männer […] diesen andere gesetzliche Privilegien vermitteln. […] Denn die geringeren [Gebots-]Verpflichtungen entrechten die Frauen in vielen Bereichen. […] der Unterschied in religiöser Verantwortung dient als Begründung für die geringere Einschätzung der Frauen. […] Denn eine höhere Verpflichtung auf die Gebote wird in der halachischen Begrifflichkeit als höherer Wert übersetzt. So legt die Mischna fest, dass in den meisten lebensbedrohlichen Situationen, des Mannes Recht zum Überleben das der Frau vorangeht. Diese rechtliche Ansicht wird in einigen Quellen als Rechtfertigung dafür angeführt, dass wenn ein Mann und eine Frau am Ertrinken sind, der Mann zuerst gerettet werden sollte.«28 Obwohl die Tosefta im Traktat Megilla 3, 11 ausdrücklich den Aufruf von Frauen zur Toralesung am Schabbat vorsieht, hat die rabbinische Tradition dies mit Verweis auf den Babylonischen Talmud (Megilla 23a) ausgeschlossen und zwar »wegen der Ehre der Beter-Gemeinde (ha-Zibbur).« Dass Frauen demnach auch nicht Rabbiner sein konnten, war dann eher konsequent. Selbst das amerikanische Reformjudentum brauchte noch bis 1972 zur Ordination von Frauen, Reconstructionism und Conservative folgten bis 1983, von der Orthodoxie ganz zu schweigen. Jude im Vollsinn ist also der Mann. In allen traditionellen Gebetbüchern findet sich bis heute unter den morgendlichen Segenssprüchen für die Männer dieser: »Gesegnet seist du Herr, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Frau erschaffen hat.« Dies ist für Frauen gewiss ein täglicher Affront, zumal gerade davor gedankt wird, nicht als Fremd27
Ross, Expanding the Palace, S. 16.255. 261 (EN 21).
28
Ross, Expanding the Palace, S. 16, nach Mischna, Horajot 3, 7; und Mosche Isserles, Schulchan ‘Aruch, Jore Deʻa 252,8 und Kommentar des Taz, Siman katan 6.
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stämmiger oder als Sklave erschaffen worden zu sein. Die Frauen sagen stattdessen: »Gesegnet seist du Herr, unser Gott, König der Welt, der mich nach seinem Willen erschaffen hat.«29 Dass dies nicht nur für moderne Feministinnen ein schmerzliches »Dankgebet« sein musste, berichtet Rabbi Baruch Epstein von seiner hochgebildeten Tante Rajna Batja aus dem 18. Jahrhundert: »Wie bitter war es meiner Tante, wie sie gelegentlich sagte, dass ›jeder hohlköpfige ignorante Mann‹, jeder Unwissende, der kaum die Bedeutung der Worte verstand und der es nicht wagen würde, ihre Schwelle zu überschreiten, ohne unterwürfig und demütig ihre Erlaubnis dazu zu haben, nicht zögern würde, ihr frech und arrogant den Segensspruch ins Gesicht zu sagen der mich nicht als Frau erschaffen hat. Und obendrein musste sie, nachdem sie den Segen gehört hatte, mit Amen respondieren. Wo sie dann unter großer Pein hinzufügte ›Wer kann schon genug Kraft aufbringen, dieses ewige Symbol der Schande und Verlegenheit für Frauen anzuhören?‹«30
3.4
Der Körper der Frau – Unreinheitszone für den »heiligen« Mann
Die biblische Bestimmung, dass sich eine Frau während ihrer Menstruation von ihrem Gatten fernzuhalten habe, ist durch die rabbinische Gesetzgebung erheblich ausgeweitet worden. Da ist zum einen die Hinzufügung sieben weiterer Tage der »Reinheit«, bevor eine Frau nach der Menstruation physischen Kontakt mit ihrem Mann haben darf, und zum anderen die Definition jeglichen Ausflusses außerhalb der eigentlichen Periode als Menstruation. Allerdings darf in all diesen Fällen bei sexueller Not des Mannes darüber hinweggesehen werden. Eine entsprechende Berücksichtigung weiblicher Bedürfnisse ist hingegen nicht vorgesehen.31 All dies führte, so Tamar Ross, »zur Perpetuierung der negativen Einstellung hinsichtlich des weiblichen Körpers; dass er als inhärent unreiner gilt, als der des Mannes. Solche Einstellungen wirken sich schleichend auf das weibliche Selbstbewusstsein aus. Sie wirken sich auch in unangemessener Weise auf das Brauchtum aus, wie in der verbreiteten Auffassung, dass Frauen während der Menstruation keine Torarolle berühren sollten, wiewohl Torarollen laut der halachischen Definition keine Unreinheit aufnehmen können.
29
Z. B. Siddur Safa berura, Basel 1956–1964, S. 5.
30
Ross, Expanding the Palace, S. 38, nach Boruch Epsztejn, Mekor Baruch, Wilna 1928, Tl. 4.
31
Ross, Expanding the Palace, S. 239.
Kap.46, § 3.
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Ein drittes ist die Verweigerung der Autorität [von Frauen], darüber zu entscheiden, ob ein Ausfluss aus dem weiblichen Körper als Menstruation zu betrachten ist oder nicht.«32 Hinzu kommt noch die Peinlichkeit für die Frauen, dass Männer über solche Fragen zu entscheiden haben.
3.5
Die Vernachlässigung der Frau in der Bibel und in der Traditionsliteratur
Jeder Leser der Bibel und der rabbinischen Literatur, weiß, dass dort auch Frauen genannt werden. Dennoch bedarf es eines neu sensibilisierten Hinblicks, um zu erkennen, in welcher Weise die Frauen in dieser Tradition figurieren. Judith Plaskow sieht dies wie folgt: »Die Notwendigkeit eines feministischen Judentums beginnt damit, das Schweigen zu vernehmen. Sie beginnt mit der Feststellung der Abwesenheit der Geschichte und Erfahrungen der Frauen als prägenden Kräften der jüdischen Tradition. Die Hälfte der Juden waren Frauen, aber es waren die Männer, welche als die normativen Juden definiert wurden, während die Stimmen und Erfahrungen der Frauen in der überkommenen Darstellung des jüdischen Glaubens und der jüdischen Erfahrungen weitgehend unsichtbar sind. Die Frauen haben jüdische Geschichte gelebt und deren Bürde getragen, aber die Wahrnehmungen und Fragen der Frauen haben die Schrift nicht gestaltet, dem jüdischen Recht Richtung gegeben, oder Ausdruck in der Liturgie gefunden.«33 Mit diesem Fanal eröffnet Judith Plaskow, die profilierteste feministischjüdische Theologin, ihr Buch Standing Again at Sinai, dessen Titel schon die grundlegende Revision des Judentums einfordert. Mit diesen Worten zeigt sie, dass das Ziel der Erneuerung des Judentums nicht nur in der Gewährung des Zugangs zu bisher männlich besetzten Domänen sein kann, sondern dass das Problem einer weiblichen Hinsicht auf die eigene Tradition viel tiefer greift. Sie setzt da an, wo das Judentum traditionellerweise seine Fundamente hat, in der Bibel und ihren Erzählungen, ihren Gesetzen, in der gebotenen Erinnerung, ohne welche es kein Judentum geben kann. Das Leitwort und hermeneutischer Schlüssel für diese hier eingeforderte Sicht auf das Judentum ist »women’s experience«,
32
Ross, Expanding the Palace, S. 239.
33
J. Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 1.
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also das was die Frauen in dieser Geschichte erlebt, empfunden und aus diesen Erfahrungen heraus zur jüdischen Tradition und Kultur beigetragen haben. Ausdrücklich Bezug nehmend auf den oben erwähnten Klassiker Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir, beklagt Plaskow, dass in einer von männlichen Interessen und männlichem Gestaltungswillen geprägten Welt, die Frau immer nur als das »Andere«, als das der Norm gegenübertretende erscheint. Beauvoir sagt da: »Demnach ist die Menschheit männlich und der Mann definiert die Frau nicht aus ihr selbst, sondern in ihrer Beziehung zu ihm; sie wird nicht als autonomes Wesen betrachtet. […] Sie wird in Bezug auf den Mann definiert und differenziert, nicht aber bezüglich ihrer selbst; sie ist zufällig, unwesentlich gegenüber dem Wesentlichen. Sie ist das Subjekt, er ist das Absolute, sie ist das Andere.«34 Von diesem normativ Männlichen aus wird die Rolle der Frau in allen Lebensbereichen definiert und dies eben auch in der die Tradition bildenden Historiographie. So werden zum Beispiel in der biblischen Vätergeschichte – schon dieser Ausdruck ist verräterisch – zwar starke Frauen gezeichnet, Sara, Hagar, Rebekka, die selbstbewusst in die Familiengeschichte eingreifen, die dann aber in religiöser Hinsicht, als Träger des Bundes nicht in Frage kommen, auch nicht als berichtenswerte Empfängerinnen göttlicher Erfahrungen.35 Die Rolle der Frauen in diesen biblischen Geschichten beschränkt sich darauf, männlichen Interessen zu dienen, das heißt eine patrilineare, sprich männliche Erbfolge zu sichern und die Sexualität entsprechend zu kontrollieren, wie dies in dem oben schon angeführten Zitat von Judith Plaskow beklagt wird. Die für das Judentum grundlegende Rechtssammlung, die Mischna, fügte zwar, wie schon kurz erwähnt, gewisse Erleichterungen für die Frauen ein, aber die ideologische Grundlage, in der die Frauen und deren »Problematik« zu regulieren ist, blieb unangetastet, weshalb es im Talmud eine Ordnung »Frauen« gibt, aber konsequenterweise keine mit dem Thema »Männer«.36 Die Ungerechtigkeit der Tora, von der Plaskow spricht, wirkt sich bis hinein in die metaphorische Rede der Propheten aus, in welchen die Frau als untreue Hure figuriert. In den Erzählungen der Bibel werden zwar oft Frauen genannt, aber ohne dass das eigentliche Interesse auf sie gerichtet ist. »Die weiblichen Erfahrungen werden nicht mitgeteilt oder ernst genommen, weil die Frauen nicht als die normativen Juden wahrgenommen werden.«37
34
S. de Beauvoir, The Second Sex, London 1953, S. 16; Deutsche Ausgabe: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek 1986, S. 10–11; u. vgl. S. Heschel, Feminism, in: Contemporary Jewish Religious Thought, ed. A. A. Cohen & P. Mendes-Flohr, New York/ London 1988, S. 255–259.
35
Plaskow, Standing, S. 4.
36
Plaskow, Standing, S. 5.
37
Plaskow, Standing, S. 6.
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Als besonders gravierendes Beispiel für die Ausblendung der Frauen aus der Geschichte, die bis in die Gegenwart hinein von brennender Aktualität ist, ist die Geschichte von der Offenbarung am Sinai. Zur Vorbereitung der Israeliten auf das zentrale Ereignis der jüdischen Religion heißt es da: »Darauf stieg Moses vom Berg hinab und befahl ihnen, sich rein zu halten, und sie wuschen ihre Kleider. Und er sprach zum Volke: Seid bereit auf übermorgen; keiner nahe sich einem Weibe!« (Ex 19, 14–15). Der kritische Blick der Feministin, Judith Plaskow, erkennt hier, dass sich Moses in diesem entscheidenden Moment der Gottesoffenbarung an das Volk Israel nur in Gestalt der Männer wendet. »Moses sagt nicht, ›Männer und Frauen sollen sich einander nicht nähern.‹ Im zentralen Augenblick der jüdischen Geschichte sind die Frauen unsichtbar. […]. Die Unsichtbarkeit der Frauen im Augenblick des Eintrittes in den Bund spiegelt sich im Inhalt dieses Bundes wider, der in Grammatik und Inhalt die Gemeinde als die männlichen Haushaltsvorstände anspricht.«38 Und wie im Fall des Danksegens, keine Frau zu sein, geht es hier nicht einfach um eine Geschichte oder einen Text aus einer fernen Zeit. Diese Geschichte wird in dem lebendigen Gedächtnis und synagogalen Ritus des jährlichen Tora-Lesezyklus wiederholt, aktualisiert und somit gleichsam immer wieder erneut in Kraft gesetzt. »Wenn die Sinai-Geschichte als Teil des Jahreszyklus und nochmals als besondere Lesung des Schavuʻot Festes gelesen wird, dann hören wir Frauen uns erneut zur Seite geschoben, während wir einem Gespräch zwischen den Männern und Gott lauschen.«39 Ja es wird angesichts dessen von Rachel Adler gar die zweifelnde Frage gestellt: »Sind Frauen Juden?«40
3.6
Das Gottesbild – der Maßstab für das normative Menschenbild
Ein weiterer Punkt für Frustrationen ist die ausschließliche – oder fast ausschließliche – Verwendung männlicher Attribute bei der Rede von Gott. Für eine fundamentalistische Einstellung gibt es hierbei natürlich nichts zu diskutieren. Dagegen ist bei einer Auffassung, dass die Religion ein kulturelles Konstrukt der Menschen sei, natürlich Raum für massive Kritik an einer solchen Privilegierung der Männer. Es gibt da aber noch die dritte Variante, nämlich da, wo der »Fundamentalismus« philosophisch überhöht wird, womit die Widersacher des Feminismus vermeinen, das Beharren auf weiblicher Attributierung Gottes ablehnen zu können. Bei der Vorstellung, dass die Religion kultureller Ausdruck gesellschaftlicher Werte ist, muss eine ausschließlich maskuline Gottesattributierung
38
Plaskow, Standing, S. 25–26.
39
Plaskow, Standing, S. 26.
40
Bei Plaskow, Standing, S. 26.
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natürlich als die Apotheose des Männlichen erscheinen und kann folglich leichter der berechtigten Kritik aus dem feministischen Lager ausgesetzt werden. Bei dieser dritten Variante behaupten die philosophisch argumentierenden Traditionalisten, dass Gott in seiner absoluten Transzendenz ohnehin über allen geschlechtsspezifischen Eigenschaften stehe, mithin auch die männliche Attributierung nichts über das wirkliche Wesen der Gottheit aussagten und deshalb ohne Belang seien. Es regt sich aber häufig gerade von dieser Seite Widerstand gegen eine weibliche Attributierung Gottes, wenn die Feministinnen die Auffassung vertreten, dass dann ja auch eine weibliche Attributierung Gottes erlaubt sein müsse. Dieser Widerstand zeigt, dass es dann doch um andere Interessen geht. Denn wo Gott über aller Attributierung steht und die menschliche Rede von ihm uneigentlich und ohne letztlich theologische Bedeutung ist, verrät ein Beharren auf der maskulinen Attributierung Gottes, dass hier andere, menschliche, patriarchalische Motive, im Spiel sind, also männliche Interessen im Hintergrund stehen. Ist dem so, muss die feministische Kritik als uneingeschränkt berechtigt erscheinen. Die von Susanna Heschel eigens dazu angeführte katholische Theologin Mary Daly beschrieb dieses versteckte Interesse einmal so: »Wenn Gott männlich ist, dann ist das Männliche Gott.«41 Wichtig wurde bei den Feministinnen deshalb die später noch darzustellende Debatte, ob eine geschlechtsneutrale oder geschlechts-inklusive Sprache, etwa in den Gebeten zu verwenden sei, wodurch diese Asymmetrie gelindert oder beseitigt werden könne. Dazu sagt Plaskow: »Die religiösen Erfahrungen werden in einer Wortwahl ausgedrückt, die davon genommen ist, was einer Kultur wertemäßig bedeutsam ist. Von Gott zu sprechen heißt von dem zu sprechen, das wir am höchsten schätzen. Wenn wir Gott bestimmte Eigenschaften zuschreiben, dann verweisen wir damit zugleich auf Gott und stellen Gottes Eigenschaften als nachahmens- und bewunderungswert dar. […] Stellt man Gott als männlich dar, bedeutet dies zugleich, diese Qualität und jene, welche sie besitzen, hochzuschätzen. Es bedeutet, Gott mit dem Bild des Normativen einer Gesellschaft zu definieren und die Männer – nicht aber die Frauen – mit einem zentralen Attribut Gottes zu preisen.«42
41
M. Daly, Beyond God the Father, Boston 1973, nach S. Heschel, On Being a Jewish Feminist,
42
Plaskow, Standing, S. 7.
New York 1983/1995, S. XXI.
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Kritik an der Tradition
3.7
Die Ausblendung weiblicher Spiritualität und Befindlichkeit
Da man von einem unterschiedlichen Religionsgebaren und unterschiedlichen Zugängen zum Religiösen und Spirituellen zwischen Mann und Frau ausgehen muss, halten viele Feministinnen eine einfache Gleichstellung von Mann und Frau nicht für das wirklich zu erstrebende Ziel. Dies würde allenthalben bedeuten, dass die Frauen ehrenhalber zu Männern werden, also einfach zu männlichen Rollen zugelassen werden. Diese Mimikry wird von den Frauen als eine weitere und noch totalere Verleugnung des Weiblichen erachtet. Ziel müsste es darum sein, in das Judentum auch spezifisch weibliche Anliegen hineinzutragen, welche zugleich von den Männern als wesentlicher Teil ihres Judentums anerkannt werden sollten. Viele Feministinnen haben deshalb bereits eine Reihe neuer weiblicher Gebote und Gebete eingeführt, welche die Elemente weiblicher Spiritualität berücksichtigen und feiern, etwa solche, welche wichtige Augenblicke des weiblichen Lebens markieren, Namengebung von weiblichen Säuglingen, Kindsgeburt, Einsetzen und Aufhören der Menstruation, Bat Mizwa, spezielle RoschḤodesch (Neumond)-Bräuche und für den Sederabend zu Pesach.43 Damit sind die wesentlichen Kritikpunkte aufgezählt, in denen die meisten jüdischen Feministinnen übereinstimmen und die deshalb in den folgenden Darstellungen der einzelnen Denkerinnen nicht wiederholt werden sollen.
43
Vgl. Heschel, On Being a Jewish Feminist, S. XXIII.
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II.
KULTUR- UND RECHTSPHILOSOPHISCH BEGRÜNDETE NEUERZÄHLUNG DES JUDENTUMS – RACHEL ADLER (GEB. 1943)
1.
Biographisches
Rachel Adler wurde 1943 (als Ruthelyn Rubin) in Chicago geboren, reformjüdisch erzogen, neigte als Jugendliche einige Zeit zur Orthodoxie, entschied sich aber dann für die Reform. Sie studierte Englische Literatur bis zum Master, 1980, um anschließend am HUCA-California bis zur Promotion (1997) »Religion« zu studieren. Die Dissertation trug den Titel Justice and Peace Have Kissed: A Feminist Theology of Judaism. 1964 heiratete sie den orthodoxen Rabbiner Moshe Adler, mit dem sie einen Sohn hatte – die Ehe wurde 1984 geschieden, ebenso die zweite 1987 geschlossene Ehe, die 2008 in die Brüche ging. 2012 wurde Rachel Adler am Hebrew Union College zur Rabbinerin ordiniert, wo sie eine Professur für modernes jüdisch-religiöses Denken und feministische Studien am Hebrew Union College, Campus Los Angeles, erhielt. Ihr aus der Dissertation hervorgegangenes für das Folgende zugrunde gelegtes Buch hatte den durchaus doppeldeutigen Titel Engendering Judaism: An inclusive Theology and Ethics 1- »engendering« als erzeugen wie auch feminisieren, geschlechtergerecht machen.
2.
Grundlinien des Denkens
Rachel Adler liebt es, Geschichten zu erzählen und fast gewinnt man den Eindruck, sie führt damit einfach eine jüdische Tradition fort, die ihre Botschaft lieber in Erzählungen mitteilt, als in abstrakten philosophischen Formeln. Der Eindruck ist aber trügerisch und wird von Adler selbst korrigiert. Erzählungen sind für sie nicht einfach eine unterhaltsame didaktische Technik, sondern ein unausweichlicher Weg, das feministische Anliegen zu befördern. Dies umso mehr für ein jüdisch feministisches Unternehmen, weil das Judentum in seiner geschriebenen Tradition, begonnen mit der Bibel, schon immer Geschichten erzählte. Darum, so Adler, wird eine Erneuerung des Judentums nicht gelingen, wenn sie nicht an dieser zentralen Stelle der jüdischen Tradition ansetzt. Und, wenn man an dieser Stelle einwenden wird, dass doch die Halacha, das Gesetz eine noch
1
R. Adler, Engendering Judaism: An Inclusive Theology and Ethics, Boston 1999 (hier nach der Ausgabe 2005); zur Biographie siehe: Jewish Womens Archive, Rachel Adler, online: https://jwa.org/encyclopedia/article/adler-rachel
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Rachel Adler
viel zentralere und grundlegendere Bedeutung für das Judentum habe, so wird Adler dem ebenso zustimmen. Denn trotz ihrer jüdisch-liberalen Gesinnung ist sie der Auffassung, dass es ein Judentum ohne Halacha nicht geben kann. Und dies gilt nach ihrer Meinung – erstaunlicherweise – gerade auch für das moderne liberale Judentum: »Die Schwierigkeit, dem progressiven Judentum eine Halacha vorzuschlagen liegt in dessen überheblicher Annahme, dass die mit diesem Begriff benannte Sache, deren Definition und Praxis, der Orthodoxie angehört. Wir müssen aber diese Sache dringend wieder einfordern, weil sie die authentische jüdische Sprache ist, um das Ganze der Verpflichtungen zu beschreiben, die den Inhalt des Bundes ausmachen. Die Halacha gehört zum liberalen Judentum nicht weniger als zum orthodoxen Judentum, weil die Geschichten uns allen gehören. Eine Halacha ist das Handeln der Gemeinschaft, die auf jüdischen Geschichten gegründet ist. Denn Ethiker, Theologen und Rechtsgelehrte, welche auf die Wichtigkeit eines Narrativs hinweisen, würden sagen, dass alle normativen Systeme auf Geschichten gründen.«2 Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass für Adler die Geschichten nicht einfache Bobe-Majses, also Großmutter-Geschichten, sind, sondern die eine Gesellschaft prägenden grundlegenden Erzählungen, etwa der Exodus für das Judentum und die Passions- und Auferstehungsgeschichte für das Christentum. Aber nicht nur diese Gründungserzählungen gehören hier her, vielmehr alles Erzählen, in dem die Gestalten, der Alltag, die Ideale und das Verwerfliche zur Sprache kommen. Für Adler hat das, ganz ähnlich wie einstens für Martin Buber hinsichtlich der ḥasidischen Erzählungen,3 allerdings eine grundsätzliche, philosophisch begründbare Bedeutung, wie im Folgenden zu erörtern sein wird. Zuvor muss allerding noch auf eine für Adlers gesamtes jüdisches Denken zentrale Auffassung zur Bedeutung und Herkunft dieser jüdischen Erzählungen und Gesetze hingewiesen werden, die alleine die besagte philosophische Begründung erst rechtfertigt. Sie stellt fest – und dies gilt für alle nichtorthodoxen Feministinnen und Halachisten gleichermaßen: »Der entscheidende Unterschied zwischen den traditionellen Halachisten und den Modernisten ist der, dass die Modernisten die Voraussetzungen der modernen Historiographie akzeptieren, nämlich: Die Gesellschaften sind menschliche Konstrukte, die in der Zeit existieren und sich mit ihr verändern, 2
R. Adler, Engendering Judaism, S. 25–26.
3
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 683–687.
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Ideen und Institutionen entstehen in spezifischen historischen und kulturellen Kontexten und sie können deshalb nicht adäquat ohne Bezugnahme auf diesen Kontext verstanden werden. Diese Voraussetzungen sind nicht mit dem Glauben vereinbar, die Halacha sei in einem einzigen Akt von Gott offenbart worden und dass sie darum den ewigen unveränderlichen Willen Gottes widerspiegle. Wenn man die übernatürliche Ursache der Halacha zugunsten historischer und natürlicher Erklärungen zurückweist, stellt dies grundlegende theologische Fragen über den Ort der Halacha im Judentum. Hat sich die Halacha geschichtlich entwickelt und spiegelt die Kulturen wider, durch die sie gegangen war, was verleiht ihr dann den Wert der Heiligkeit? Was verpflichtet dann, ihr zu gehorchen? Und was lässt dann ihre Regelungen und Prinzipien für Umstände angemessen erscheinen, die so verschieden von jenen sind unter denen sie formuliert wurden?«4 Dieser methodologische Grundsatz ist es, der die Behandlung all der vielen aus der Tradition aufgenommenen Geschichten bestimmt, welche Adler stets auf deren sozialen und geistesgeschichtlichen Hintergrund befragt, um diesen dann an den gegenwärtig vorherrschenden Meinungen zu messen. Aus dem Ergebnis dieser Messung leitet sich sodann deren bestehender oder vergangener Gültigkeitsanspruch ab. Das Resultat dieser Abwägung führt schließlich zur Neuerzählung solcher Geschichten und Umformulierung von Gebräuchen, Institutionen und Ritualen – dies besonders eindrücklich bei der Neuformulierung des Eheschließungs-Rituals. Dieses heute noch gängige Ritual ist von orientalischen Besitzansprüchen und von antiken Heiligkeitsvorstellungen belastet, die sie in einer neuen Hochzeits-Agenda herausformuliert. Es muss nun die schon genannte philosophische Grundlage angesprochen werden, die alle Argumente und Deutungen Adlers beherrscht – dies wiewohl sie einen Methodenpluralismus einfordert und diesem auch nachkommt, wenn es darum geht, die unterschiedlichen Gattungen der Tradition ins Auge zu fassen und zu verändern. Dennoch ist es eine rechts-philosophische Grundlage, die ihr gesamtes Handeln bestimmt und die sie explizit aufnimmt und zusammenfasst. Es handelt sich hierbei um einen Essay des ehemaligen amerikanischen YaleProfessors für Recht und Rechtsgeschichte, Robert M. Cover. Dieser Essay diente einst als »Vorwort« der Verlautbarung des amerikanischen »Supreme Court« für das Jahr 1982.5 Das Vorwort trägt den Titel Nomos and Narrative. Gleich zu Beginn dieses Essays fasst Cover die Hauptthese des gesamten Aufsatzes zusammen, nach welchen der »nomos« eine normative Welt ist, in der wir leben, die zum einen aus dem in der jeweiligen Gegenwart arbeitenden 4
Adler, Engendering, S. 27.
5
Veröffentlicht in: Harvard Law Review, Nov. 83, Vol. 97, 4, S. 4–68.
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Rechtsapparat besteht aber zum andern ihre Existenz und Lebenskraft einem Geflecht von Narrativen verdankt, ohne das sie nicht denkbar und letztlich nicht arbeitsfähig ist: »Wir leben in einem nomos – einem normativen Universum. Wir schaffen und erhalten ohne Unterlass eine Welt von recht und unrecht, gesetzlich und widergesetzlich, gültig und ungültig. Der Student des Rechts mag die normativen Welten mit den professionellen Paraphernalia der sozialen Kontrolle identifizieren. Die Regeln und Grundsätze der Justiz, die formalen Einrichtungen des Gesetzes und die Konventionen der gesellschaftlichen Ordnung sind zweifellos wichtig für diese Welt; sie sind allerdings nur ein schmaler Ausschnitt des normativen Universums, dem unsere Aufmerksamkeit zu gelten hat. Denn keine Rechtsinstitution und keine Vorschriften existieren abgesondert von den Erzählungen (narratives), die sie einordnen und ihnen ihre Bedeutung (meaning) verleihen. Für jede Verfassung gibt es ein Epos, für jeden Dekalog eine [heilige] Schrift. Wird das Gesetz einmal im Kontext der Erzählungen, die ihm seine Bedeutung verleihen, verstanden, dann ist das Gesetz nicht nur eine Sammlung von zu befolgenden Regeln, sondern eine Welt, in der wir leben. In dieser normativen Welt, sind Gesetz und Erzählung (narrative) untrennbar verbunden.«6 Der 1986 im Alter von nur 42 Jahren verstorbene Robert Cover erklärt den Zusammenhang von Gesetz und Erzählung sehr häufig mit biblischen und rabbinischen (!) Beispielen, weshalb er sich der jüdischen Feministin natürlich besonders empfahl. Die Bibel, mit ihrem Ineinander von Gesetz und Erzählung ist für Covers These natürlich das ideale Beispiel, weil hier der Zusammenhang von Gesetz und erzähltem Leben, erzählten Lebensformen und -regeln besonders anschaulich wird. Die biblisch-rabbinische Literatur ist des weiteren zugleich eine wichtige Quelle für die Beobachtung, dass dann, wenn ein Gesetz nicht mehr verständlich ist, ihm eine neue Erzählung beigegeben wird, wodurch das Gesetz eine neue Bedeutung und damit auch einen neuen Gültigkeitsanspruch erhält. Adler fasst Covers zentrale Einsichten kurz so zusammen: »Das Gesetz lässt sich nicht auf die formale Gesetzgebung beschränken, weil es von einem nomos geschaffen wurde, das heißt einem Universum von Bedeutungen, Werten und Regeln, die in Geschichten eingebettet sind. Ein nomos ist kein Korpus von Daten, das man beherrschen und anpassen muss, sondern eine Welt in der man lebt. Das Wissen, wie man in einer solchen nomischen Welt leben muss, heißt, die Mög-
6
Harvard Law Review, Nov. 83, Vol. 97, 4, S. 4–5.
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lichkeiten wahrzunehmen, die in ihren Erzählungen und Normen enthalten sind und man muss willens sein, manche davon im eigenen Leben zu verwirklichen.«7 Es ist gerade diese Einsicht, welche Rachel Adler nachdrücklich bei ihrer Revision der alten Erzählungen einsetzt, natürlich nicht nur um alte Gesetze in ihrem Bestand zu wahren, sondern noch mehr, um diese selbst zu novellieren und dem neuen zeitgemäßen Narrativ anzupassen. Diese Janusköpfigkeit des nomos ist laut Cover für diesen konstitutiv. Da ist zum einen die Recht kreierende Seite, das Deuten, Interpretieren und Lehren des Rechts, das zwangsläufig in endlose Innovationen mündet (er nennt dies die paideuische (erzieherische) Seite, der gegenüber die imperiale Seite des Rechts steht, die versucht die Vielfalt zurückzudrängen, um einen einheitlichen Handlungskontext zu erzwingen. Beide Seiten gehören unabdingbar zusammen, sie müssen, um lebendig zu bleiben, in einem steten Gleichgewicht gehalten werden. Wo dies verloren geht, wird die nomische Lebenswelt krank. Adler, die den jüdischen nomos, also die jüdische Lebenswelt, vital halten will – was natürlich nicht ohne deren weibliche Hälfte geht – ist in ihrem Innovationshandeln dieser Doppelseitigkeit verpflichtet. Sie nimmt die alten Erzählungen, Gesetze und Regeln auf und kreiert aus ihnen neue Rechte. Nur so bleibt das Neue zugleich jüdisch und läuft nicht aus dem Judentum in irgendeine neue Religion oder auch nur Frauenreligion hinaus. Diese Haltung zeigt sich exemplarisch, wo sie nicht einfach die Abschaffung der frauenfeindlichen Halacha fordert, sondern die Halacha selbst ernst nimmt, aber kritisiert, um sie zu neuen Ufern zu führen. Eine solche Kritik muss dann aber tatsächlich jurisgenetisch, neues Recht schaffend sein, und nicht nur oberflächliches Polieren an den Symptomen. Bezüglich der Halacha sagt sie dies einmal sehr klar, wenn sie den Mangel der bestehenden Halacha nicht in einzelnen Rechtsfehlern oder -härten sieht, sondern deren grundlegendes patriarchalisch-androzentrische Narrativ kritisiert. Darum kritisiert Adler nicht nur die orthodoxe Praxis der Novellierung in kleinen Schritten, sondern fast noch schärfer die Methode der liberalen Halachisten, die glauben, die bestehende Halacha sei reformierbar, ohne deren Grundnarrativ der männlichen Dominanz zu ändern: »Tatsächlich sind die Implikationen [dieser Kritik] für die nichtorthodoxen Revisionen der Halacha noch viel gewichtiger, weil sie anzeigen, dass die liberalen Halachisten es versäumt haben, die Implikationen ihrer Positionen wirklich nachzuverfolgen. Wenn die Quellentexte der Halacha weder zeitlos noch absolut sind, sondern in gesellschaftlichen Kontexten gebildet wurden, wenn deren Grundprinzipien viele unserer modernen geschlechterdifferenzierenden Lebenserfahrungen als nicht vorhandene Rechtsdaten ausklammern, und wenn seine Autoritätsstrukturen weder demokratisch noch inklusiv sind, 7
Adler, Engendering, S. 34.
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dann sind deren Anpassung an die Moderne eine inadäquate Lösung. Wenn ein liberaler Halachist behauptet, dass das halachische System keiner Systemkritik bedürfe, dann muss er ignorieren oder unterbewerten, dass die halachischen Regelungen, Prinzipien und Präzedenzen allesamt ohne die Beteiligung von Frauen gebildet und angewendet wurden, dass sie nämlich eine Auffassung von den Frauen als einer kommerzialisierten, durch ihren Sachnutzen definierte Unterklasse widerspiegeln, und dass sie Anliegen gegenüber, welche Frauen selbst auf die Agenda nehmen würden, wenn sie selbst Rechts-Subjekte und nicht Rechts-Objekte wären, inadäquat oder gar feindselig reagieren.«8 Nach diesen grundlegenden Vorbemerkungen zum Vorgehen von Rachel Adler können im Folgenden einige Beispiele vorgestellt werden, die somit kein System ergeben, sondern Beispiele sind für die rechtsschöpfende Arbeit an einzelnen Geschichten, Bräuchen und Riten, die diesen eine neue Deutung gibt, aus der sodann eine neue, genderbewusste Halacha entstehen kann. Hierfür gilt, das sei noch angefügt, vor allem eine grundlegende Voraussetzung: »Ein grundlegendes Prinzip allen progressiven Feminismus ist, dass die Rollen der Frauen nicht biologisch bestimmt und darum nicht unveränderlich sind. Sie sind die Folgen gesellschaftlicher Strukturen und Erfahrungen, die sich von Zeit zu Zeit und Ort zu Ort beträchtlich voneinander unterscheiden.«9
3.
Traditionen im alten und im neuen Licht
3.1
Die Legende vom heiligen jüdischen Helden – die Unsichtbarkeit der Frau
Die Heilung der Asymmetrie in der Präsenz der Geschlechter auch und gerade in der jüdischen Erzählliteratur kann für Adler nachdem zuvor Gesagten, nur darin bestehen, diese Geschichten mit Hilfe einer feministischen Hermeneutik neu zu lesen, was in den von ihr vorgeführten, besonders eklatanten Beispielen bei den Zuhörern nur zu einem befreienden Gelächter beider Geschlechter führen konnte – Lachen als Befreiung aus einem deprimierend verzeichneten Ideal des heiligen Mannes. Die erste Geschichte10 ist jene bekannte Begebenheit aus dem Talmud, die geradezu paradigmatisch ist für die der Frau zugedachten helfenden Rolle, die alles tut, ihr ganzes Glück und ihre Kraft einsetzt, um einen fast hilflosen männli8
Adler, Engendering, S. 29.
9
Adler, Engendering, S. 38.
10
Bei Adler, Engendering, S. 1–12.
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chen Ignoramus zum nachher verherrlichten und heiligen Gelehrten zu machen. Es ist die Geschichte des berühmten Rabbi Akiva, der am Hof des schwerreichen Jerusalemers Ben Kalba Schavua als Hirte diente. Die Tochter des reichen Edelmannes, bewegt den »keuschen und redlichen« Hirten dazu, Tora zu lernen um den Preis, dass sie ihn heirate. Als der Vater von der heimlichen Hochzeit seiner Tochter hörte, jagte er sie aus seinem Haus und gelobte, ihr jegliche Unterstützung und ihr Erbe zu entziehen. Die hingebungsvolle Frau lebt und schläft fortan mit dem geliebten Akiva selbst im Winter in Armut im Stroh, aber nötigt nun den ihr angetrauten Hirten zum Torastudium. Dieser geht und bleibt zwölf Jahre, um Tora zu lernen und kehrt danach mit zwölftausend Schülern zurück. Derweilen sprach ein alter Mann (nach der Parallelversion ein Bösewicht) zu ihr: »Wie lange noch willst du in lebendiger Witwenschaft dahindarben?« und sie erwiderte: »Wenn er auf mich hören würde, könnte er noch zwölf Jahre dort bleiben«. Akiva, der das zufällig hörte, geht nochmals zwölf Jahre an die Talmudakademie und kam mit vierundzwanzig Tausend Schülern zurück.11 Da: »Als alle Welt ihm entgegenging, stand sie auf, um ihm ebenfalls entgegenzugehen, da sprachen die Nachbarinnen zu ihr: Borge doch Gewänder und kleide dich ein. Diese aber erwiderte: Der Zaddik kennt die Seele seines Viehs (Prediger 12,10). Als sie zu ihm herankam, fiel sie aufs Angesicht und küsste ihm die Füße. Da stießen seine Diener sie fort; aber er sprach zu ihnen: Lasset sie, meines und eures ist ihres. Als nun ihr Vater hörte, dass ein bedeutender Mann in die Stadt gekommen sei, sprach er: Ich will zu ihm gehen, vielleicht löst er mein Gelübde auf. Hierauf kam der Vater zu ihm und fragte ihn: Würdest du gelobt haben, wenn er ein bedeutender Mann wäre. Dieser erwiderte: Nicht einmal, wenn er auch nur einen Abschnitt und eine Halacha gelernt hätte. Hierauf sprach er: Ich bin es. Da fiel er auf sein Angesicht und küsste ihm die Füße; auch gab er ihm die Hälfte seines Vermögens. Und ebenso verfuhr die Tochter Rabbi Akivas mit Ben Asaj: Das ist es, was die Leute sagen: Ein Schaf folgt dem andern Schaf; wie das Betragen der Mutter, so das Betragen der Tochter.«12 Diese Geschichte enthält alles, so Adler, was das Gesicht der jüdischen Frau auslöscht. Die Tochter, erst in einer späten Quelle wird sie einmal Rachel genannt,13
11
Eine erschöpfende Darstellung aller Versionen dieser Geschichte findet man bei D. Edar, Rabbi Akiva we-Rachel, in: J. Elstein, A. Lipsker, R. Kushelevski, Enziklopedia schel ha-Sippur ha-jehudi, Bd. 2, 2009, S. 145–182.
12
Babylonischer Talmud, Ketubbot 64b–63a; und Nedarim 50a; ich verwende hier beide Versio-
13
Avot de Rabbi Natan, Vers. A, Kap. 6, Ausgabe S. Schechter, New York 1967, S. 29a.
nen.
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hat in den beiden talmudischen Versionen nicht einmal ihren Namen – entsprechend dem schlimmsten rabbinischen Fluch Jimach schemo u-Sichro, sein Name und Gedächtnis seien ausgelöscht. Die eigentliche Heldin der Geschichte, die Frau, die auf allen Reichtum, Wohlergehen und Ansehen verzichtet, um den einfachen Hirten zum Torastudium zu nötigen, die auch die Hochzeit initiiert, sie, die den künftigen Zaddik in dem einfachen Hirten sieht, verschwindet völlig hinter dem männlichen Helden. Er ist es, dem die Geschichte einen Heiligenschein umlegt, er ist es, den der Vater hernach mit seinem Vermögen beschenkt, die eigentliche Heldin wird gar von den Mitgliedern des »homosozialen« Lehrhausmilieus zurückgestoßen und durch sich selbst als das Vieh tituliert, welches von seinem Herrn schon erkannt werden wird. Die tatsächliche Heldin wird, nach Adler, in dieser Geschichte völlig erniedrigt und ist am Ende kaum noch der Erwähnung wert. Sie ist nur ein nützlicher Teil des Mannes nach dem talmudischen Rechtsprinzip ʼIschto ke-Gufo14 »seine Frau ist wie sein Leib«. Der Ort des Helden und der Heiligkeit ist das männliche Reservat des Lehrhauses, der Ort des Geistes und der Bildung. »Am Ende der Geschichte, ist es für Akiva unbedenklich, seine frühere Abhängigkeit von seiner Frau anzuerkennen, weil er selbst nun nicht mehr von ihr abhängig ist, sondern nun sie von ihm. Nicht länger machtvoll und achtunggebietend ist sie nun nach einigen Versionen erbärmlich, ein zerlumptes altes Weib, die die Füße ihres Herrn küsst, während die empörten Studenten sie hinauswerfen wollen.«15 Die Frauen sind aus der rabbinischen Öffentlichkeit und aus deren Texten verbannt, es sei denn, wo es darum geht, ihnen ihren Ort zuzuweisen und die Heiligkeit des Mannes vor Befleckung zu bewahren. Die Frau steht ganz im Dienste der männlichen Dominanz. Für ihre theoretische Beurteilung dieser und ähnlicher rabbinischer Geschichten beruft sich Rachel Adler auf die psychologische »feminist object-relations theory«.16 Nach ihr gewinnt das männliche Kind sein Selbst erst durch die Abnabelung von der Mutter, die als schmerzhafte Trennung empfunden wird, die aber durch jegliche neuerliche Beziehung mit dem Weiblichen bedroht und darum abgewehrt werden muss: »Wie ich schon zuvor sagte, können die Jünglinge in einer Gesellschaft in der Männlichkeit und Weiblichkeit als Antithese betrachtet werden, ihre Trennung von der Mutter als eine notwendige Selbstverstümmelung zur Gewin-
14
Vgl. Babyl. Talmud, Berachot 24a; Menachot 93b; Ketubbot 66a; Berachot 35b.
15
Adler, Engendering, S. 8.
16
Dazu Nancy Choderow, The Reproduction of Mothering: Psychoanalysis and Sociology of Gender, Berkeley 1978; Jessica Benjamin, The Bonds of Love: Psychoanalysis, Feminism and the Problem of Domination, New York 1988.
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nung eines autonomen Selbst empfinden. Die große Gefahr besteht alsdann darin, sich erneut zu vermischen. Die Männer müssen eine Grenzaufhebung vermeiden, weil dies das patriarchalische Selbst wie die Welt vernichten würde. Diese Bedrohung ist der Subtext vieler rabbinischer Texte, wenn immer Frauen versuchen ganz sichtbar zu werden. Die Männer in solchen Geschichten erleben die Sichtbarkeit von Frauen als die Versuchung zur Verschmelzung. Der gerechte Mann kann dieser Versuchung durch die neuerliche Verwundung, welche ihm einst das männliche Selbst verschaffte, widerstehen.«17 Die Rechtfertigung für den abschließenden Satz sieht Adler in einer in diesem Kapitel ebenfalls besprochenen Geschichte, in welcher der Satan in Gestalt einer wunderschönen Frau vor einen solch heiligen Mann tritt, der dieser großen Versuchung, die ihn zu überwältigen drohte, dadurch entgeht, dass er sich selbst mit glühenden Nägeln blendet.18 Die Aufgabe der Feministen, seien sie männlich oder weiblich, ist es, die Geschichten der Tradition mit einer neuen Brille zu lesen, um die Augen für die in ihnen enthaltenen Welt- und Menschenbilder zu öffnen. Die neue feministische Hermeneutik kann diese Geschichte beibehalten dabei aber deutlich machen, wer die wirkliche Heldin ist. Mit den Augen der patriarchalischen Hermeneutik ist es der Toragelehrte, der sich in der gelehrten Männergesellschaft um die »höheren« Dinge müht. Mit den Augen der Frauen gelesen, ist es die Frau, welche die eigentliche Heldin ist, sie fällt die wichtigsten Entscheidungen, sie hilft dem Mann weiter, ermöglicht Leben. Diese entscheidende und selbstbewusste Rolle muss anerkannt werden. Es ist eine Art feministischer Midrasch, der die vorgegebene Tradition neu liest, wie dies einst der antike rabbinische – und vorrabbinische – Midrasch mit den biblischen Texten machte. Die Neuformulierung der Tradition schafft einen neuen Nomos, eine neue jüdische Lebenswelt.
3.2
Wie man Rechtsbeispiele neu versteht
Wie schon oben gezeigt, ist Adler nicht der Auffassung, dass die Halacha nur aufgrund von Teilnovellierungen und »Erleichterungen« einem modernen jüdischen Leben angepasst werden kann. Sie ist vielmehr der Auffassung, dass es gilt, das grundlegende Paradigma zu verändern. Um diese Auffassung zu unterstreichen führt sie die Meinung eines der führenden Experten für die Mischna und den Talmud an, Jacob Neusner. Sie umschreibt seine Auffassung wie folgt:
17
Adler, Engendering, S. 11.
18
Adler, Engendering, S. 12–13.
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»Jacob Neusner zeigt, wie in der Mischna, eines der grundlegenden Dokumente der klassischen Halacha, die Grundauffassung hinsichtlich des Status und der Funktion der Frauen die Wahl der Prinzipien bestimmt. Was den Gestaltern der Mischna hinsichtlich der Frauen wichtig ist, ist der ordentliche Transfer von Frauen und Besitztümern aus dem einen patriarchalischen Herrschaftsbereich in den anderen. Und wie Judith Wegner zeigt, ist die weibliche Sexualität ein Rechts-Gut, und wo sie verhandelt wird, werden die Frauen nicht als Personen sondern als bewegliches Gut (Mobilie) betrachtet. Außerdem sind die Frauen selbst nicht als normative Mitglieder der Gemeinschaft wählbar. Ihre Rolle ist es, ein ›Thema des Heiligen‹ zu sein, weniger aktive Mitwirkerinnen im Prozess der Heiligung.«19 Das bedeutet, dass man für den Kampf um eine bessere Halacha, nicht einzelne Gesetze diskutieren muss, sondern die nomischen Grundlagen der Gesetze neu zu formulieren sind und dies eben wieder mit Erzählungen, die das patriarchalische Narrativ in Frage stellen. Ein besonders instruktives Beispiel dafür ist die von der babylonischen Jalta, der gebildeten aristokratischen Tochter des babylonischen Exilarchen Rabbi Huna, von der es mehrere gegen die Männerwelt gerichtete rebellische Geschichten gibt. So die folgende: »Einst brachte Jalta Blut vor Rabba Ben Bar Huna, und er erklärte es ihr als unrein [sprich als Menstruationsfluss]. Hierauf brachte sie es vor Rabbi Jizchak, den Sohn Rabbi Jehudas und er erklärte es ihr als rein. – Wieso tat er dies, es wird ja gelehrt, wenn ein Gelehrter etwas als unrein erklärt hat, dürfe sein Kollege es nicht als rein erklären, wenn er etwas verboten hat, dürfe sein Kollege es nicht mehr erlauben? – Zuerst hatte er es ihr ebenfalls als unrein erklärt, als sie ihm aber erzählte, jener habe ihr solches Blut sonst als rein erklärt, diesmal aber ein Augenleiden gehabt, erklärte er es ihr als rein.«20 Der Verweis auf die ältere Lehre, dass ein zweiter Gelehrter nicht gegen seinen ersten Kollegen entscheiden darf, ist der Hinweis auf einen Grundsatz, der das rabbinische Rechtssystem stützen und nicht die Autorität der Richter unterminieren sollte. Wie kann man angesichts dieses Grundsatzes das Handeln des zweiten Entscheiders erklären, und wie, dass diese Geschichte dennoch in den Talmud aufgenommen wurde. Die orthodoxe Lesung dieser Geschichte, so Adler,21 ist die, dass Jalta keine Zweifel am Rechtssystem säen, sondern im Gegenteil dessen 19
Adler, Engendering, S. 28.
20
Babyl. Talmud Nidda 20b.
21
Adler, Engendering, S. 57.
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Konsistenz wahren wollte, weil der erste Entscheider, Rabba Ben Bar Huna, in gleichen Fällen das Blut früher für rein erklärt hatte. Und entsprechend hatte der zweite, Rabbi Jizchak, gemäß dem angeführten Grundsatz, zunächst auch auf unrein plädiert. Jalta, so die orthodoxe Deutung, sah das Problem der offenbaren Unstimmigkeit in der Augenkrankheit Rabbas, worauf hin der zweite Entscheider die Freiheit, ja noch mehr, die Pflicht hatte, gemäß seinem eigenen Augenschein zu entscheiden. Das Recht war rite wiederhergestellt. Gegenüber dieser Lesung trägt Rachel Adler eine andere, wie sie sagt, dunklere und ironische vor: »Eine dunklere und ironischere Lesung erscheint, wenn wir annehmen, dass Jaltas Bericht von Rabba Bar Hunas Rechtsentscheidung und dessen Indisponiertheit ein kalkulierter Anschlag ist, um das System zu manipulieren und ihre Motivation, sich an einen zweiten Richter zu wenden nicht eine intellektuelle Abscheu vor einer Inkonsistenz des Rechtes ist, sondern der Wunsch war, das Stigma der Unreinheit zu vermeiden. […] Jalta ist eine Art Rechts-Guerillero. Sie führt die verborgene Relativität des Rechts und die verborgene Fehlbarkeit seiner Ausleger vor. Das heißt, die vorgeblich göttliche Tora muss als nur menschliche Autorität betrachtet werden. Die ältere Tradition (Barajta) sucht die rabbinische Autorität zu schützen und deren anscheinende Objektivität mittels einer Politik der richterlichen Solidarität zu verteidigen. Aber sobald Jalta unterhalb dieser Solidarität den Dissens aufdecken kann, demonstriert sie, dass diese Autorität nicht unfehlbar ist. Zwei sich widersprechende Autoritäten können nicht beide recht haben. […] Jalta erinnert uns daran, dass das, was die Autorität begründet, Macht ist, und Macht eine gesellschaftliche Einrichtung.«22 Mit derartigen Deutungen, oder Umdeutungen, begibt sich Adler mitten hinein in den rabbinischen Diskurs und versucht, ihn von innen heraus zu sprengen. Sie nimmt die überkommenen Traditionen ernst und zeigt, welch explosives Potential sie in sich tragen, dass sie selbst genug Hinweise für die androzentrischen Grundlagen dieses Rechts geben und zugleich Stimmen tradieren, welche sich dagegen auflehnten.
22
Adler, Engendering, S. 57–58.
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4.
Die Unsichtbarkeit und das Schweigen der Frauen im Gottesdienst
Die Reformbewegung des Judentums hat den Frauen immerhin eine Reihe von Türen zum Gottesdienst geöffnet. So wurden im Hamburger Tempel weibliche Stimmen für den synagogalen Chor zugelassen, Isaac Mayer Wise hat 1851 die Frauen aus der Verbannung hinter ein Gitter oder auf den Balkon beendet und sie im Männerbereich sitzen lassen; der Vater des Reconstructionism, Mordechai Kaplan,23 hat in den USA 1922 für seine Tochter analog zum Bar Mizwa zum ersten Mal eine Bat Mizwa-Feier veranstaltet, wie dies analog auch in Deutschland als gemeinsame Konfirmation von Jungen und Mädchen eingeführt wurde.24 Die drei fortschrittlicheren Denominationen, Reform, Reconstructionist sowie Conservative begannen in den Siebzigern und Achtzigern des zwanzigsten Jahrhunderts auch Frauen als Rabbinerinnen zu ordinieren und die Egalitären haben teilweise Frauen auch zum Beterquorum (Minjan) hinzugezählt.25 All dies aber ist, meint Adler, nicht genug. Es ist eher so, dass durch diese Maßnahmen das Weibliche noch mehr verborgen wurde, weil durch diese Maßnahmen die Frauen als Männer honoris causa zu deren Gottesdienstfunktionen zugelassen wurden, aber eben in den männlichen Rollen. Um den Unterschied zum eigentlich Wesentlichen deutlich zu machen, erzählt sie die kleine Geschichte der Reformrabbinerin Laura Geller, die während ihres Rabbinerstudiums den gerne zitierten Satz hörte, dass es im Judentum für alles einen Danksegen gebe: »Eines Tages, als ich beim Unterricht in meinem Rabbinerseminar saß […] studierten wir die Tradition der Segenssprüche (Berachot) – Segenssprüche beim Vergnügen, solche bei der Ausführung der Gebote, Segenssprüche des Lobens und Dankens. Mein Lehrer erklärte […] ›Es gibt keinen wichtigen Augenblick im Leben eines Juden, für den es keinen Segensspruch gibt.‹ Plötzlich merkte ich, dass dies nicht wahr ist. Es gab da doch wichtige Momente in meinem Leben, für die kein Segensspruch bereitstand. Ein solcher Moment war, als ich […] meine erste Monatsblutung bekam.«26 Es ist dies ein paradigmatisches Beispiel für die Androzentrität der jüdischen Liturgie und Gebete. Das Erleben der Frauen, deren Weltwahrnehmung, ihre körperlichen und psychischen Widerfahrnisse gelten dieser Liturgie offenbar nicht 23
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. IV.
24
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 489–495.
25
Adler, Engendering, S. 62.
26
Laura Geller, Symposium: What Kind of Tikkun Does the World Need?, in: Tikkun 1,1 (1986), S. 17, nach Adler, Engendering, S. 61.
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als Teil des Lebens »eines Juden«. Hier wie im Minjan werden nur Männer gezählt, wie auch für die Rezitation bestimmter Gebete, die nur in Anwesenheit von zehn Männern gesprochen werden dürfen, auch wenn hunderte jüdische Frauen anwesend sind. Die Forderung von Adler ist also, dass nicht nur die Frauen zu den männlichen Verrichtungen zugelassen werden, sondern, dass der jüdischen Religiosität, den jüdischen Gebeten und Festen die bislang fast gänzlich fehlende weibliche Komponente hinzugefügt wird. Dies beginnt bei der Rede vom Gott der Väter, Abraham Isaak und Jakob, der doch ebenso der Gott der Mütter, Sara, Rebekka, Leahs und Rachels war. Die gesamte Gebetssprache ist männlich konnotiert, dies etwa bei der Benennung Gottes nur mit männlichen Epitheta, Vater, Herr, König. Das Beharren der Traditionalisten auf diesen männlichen Gottesbezeichnungen ist umso unbegreiflicher, wenn man zugleich betont, Gott habe ja doch kein Geschlecht, er stehe weit jenseits von irdischmenschlichen Geschlechtern und solche Bezeichnungen seien ja doch nur Metaphern. Wenn dem so ist, fragen die Frauen zu Recht, warum sollten dann weibliche Metaphern unzulässig sein. Es geht bei diesen Debatten demnach nicht um Gotteslehre, um philosophische Theologie, um Gottesdefinitionen, sondern um die Befindlichkeiten der Menschen, wie sie sich im Gebet angesprochen und mitgenommen fühlen, wie sie innerlich beteiligt sind. Auch dies ist nicht nur mit neuen Vokabeln zu leisten. Die Sprache der Religion, des Gebetes, sagt Adler, muss diversifiziert und bereichert werden, dazu bedarf es auch neuer Rede- und Textgattungen, neuer Gesten und neuer Gebetsformen. Was die Gottesdienstreformen des 19. Jahrhunderts, die den Gottesdienst ja auch zu einem Dienst am Menschen und nicht wirklich an Gott machen wollten,27 schon forderten, den Gottesdienst auch in seiner ästhetischen, psychischen und choreographischen Gestaltung den menschlichen Bedürfnissen jener Zeit und Kultur anzupassen, gilt nun umso mehr, wenn den Bedürfnissen der Frauen Rechnung getragen werden soll. Natürlich gibt es von der offiziellen Religion ausgeklammerte weibliche religiöse Äußerungen, wie etwa die jiddischen Frauengebete Techines,28 in denen aber genau besehen oft noch das männliche Frauenbild vorherrschend ist.29 So gab es vereinzelt auch weibliche Riten beim Einsetzen der Menstruation.30 So sehr die Suche in der Tradition das eine oder andere Element weiblicher Fröm-
27
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 610–616.
28
Vgl. Chava Weissler, Women in Paradise, in: Tikkun 2,2, S. 43–46, 117–120; Ch. Weissler, Voices of the Matriarchs. Listening to the Prayers of Early Modern Jewish Women, Boston 1998; Ch. Weissler, Prayers in Yiddish and the Religious World of Ashkenazic Women, in: Judith R. Baskin (Hg.), Jewish Women, in Historical Perspective, Detroit 1991, S. 159–181; hier weitere lesenswerte Aufsätze zur jüdischen Frau.
29
Adler, Engendering, S. 68.
30
Geller, Symposium: What Kind of Tikkun Does the World Need.
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migkeit wird auffinden lassen – es sind keine Traditionen wie die einer Hildegard von Bingen, Theresa von Avila und noch anderer christlicher Frauen. Darum, meint Adler, wird das Neugestalten frauenadäquater Ausdrucksformen nötig sein und zwar solcher, welche die Frauen unter sich feiern, aber nicht weniger solche, welche beide Teile des jüdischen Volkes, Männer wie Frauen, zusammen begehen können. Die Forderung nach einer Vielzahl von Neuerungen in Sprache, Gestus und Choreographie bei gleichzeitiger Beibehaltung der überkommenen liebgewordenen Traditionen und Begehensweisen – die auch von Frauen trotz deren männlicher Konnotationen geliebt und geschätzt werden, begründet Adler mit Reflexionen über den Sinn und die Bedeutung des Gottesdienstes, der wie schon gesagt in erster Linie ein Dienst am Menschen geworden ist. Mit Verweis auf Clifford Geertz sagt sie, dass die religiösen Rituale besondere Gelegenheiten sind, bei denen die Grundlagen einer Kultur, deren Auffassungen, Symbole und Normen eingeübt werden. »Mit Hilfe des Gemeindegebetes üben und verbürgen die Juden die Beschreibung jüdischer Identität, erhalten und erneuern religiöse Sinngebung.«31 Zustimmend führt Adler auch die Funktionsbeschreibungen des Gebetes durch Mordechai Kaplan32 an: »Das Gebet hat eine Vielzahl sozialer Funktionen. Es fördert die Gruppenzusammengehörigkeit, vermittelt moralische Werte, bietet erhebende spirituelle und ästhetische Erfahrungen an und verstärkt die Wahrnehmung der Wunder in der Natur.«33 Das Gemeindegebet erfüllt diese Aufgaben jedoch nicht nur in einem dogmatischen intellektuellen Sinn, wie dies in der von der Aufklärung geprägten jüdischen Reform-Tradition propagiert wurde. Das gemeinsame Gebet in der Synagoge – wie auch im privaten Kreis – ist nicht eine kognitive Katechisation, sondern – mit J. L. Austin34 – ein performativer Akt. Hier wird etwas vollzogen, das nicht unbedingt vom Wortlaut der Gebete abhängt. Dieses performative Verständnis erweist sich deutlich, wenn laut der rabbinischen Anordnung »Heiliges« (Devarim sche-bi-Keduscha) nur gesprochen werden darf, wenn ein vollzähliger Minjan (zehn männliche Beter) anwesend sind, so die Eröffnung des Gemeindegebetes mit Barechu, die Keduscha35 und das Kaddisch-Gebet. Zu dieser performativen Wirkung zählt die Anhängerin der Reform Rachel Adler wider das re-
31
Adler, Engendering, S. 76.
32
In seinem auch in diesem Band 5 des Jüdischen Denkens, Teil III, Kap. IV, besprochenen
33
Adler, Engendering, S. 89.
Buches »Judaism as a Civilization«, S. 391–405. 34
J. L. Austin, How To Do Things With Words, Oxford 1962.
35
Jes 6,3; Ez 3, 12 und Ps 146, 10, welche in den dritten Segen des Achtzehngebetes und in das Jozer-Gebet eingeschoben werden, ebenso in die dem Lehrpensum folgende Keduscha deSidra.
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formerische Herkommen auch und gerade die hebräische Gebetssprache, selbst wenn viele diese nicht verstehen. »Wenn das Gebet ausschließlich in der Umgangssprache gesprochen wird, brechen die Grenzen zwischen dem Judentum und der Umgebungskultur zusammen. Die dicken Blöcke schwarzer quadratischer Buchstaben zwischen dem englischen Text enthalten eine vitale Botschaft: Du gehörst nicht ausschließlich der Kultur an, in die du eingetaucht bist. Die Zweisprachigkeit des Gebetbuches erhält und spiegelt die fremde kulturelle Erfahrung wider, welche die Juden jüdisch bleiben lässt.«36 Ein besonderes Schibbolet für die Gebetssprache sind natürlich die schon genannten Gottesepitheta, die nach feministischem Bestreben aus ihrer männlichen Gefangenschaft erlöst werden sollten. Adler referiert kurz einige Bestrebungen, welche suchten, dieses Problems Herr zu werden, wie dies noch ausführlicher bei den noch folgenden Autorinnen zu sehen sein wird – etwa die Verwendung von Naturmetaphern Fels, Quell, Lebensquell oder anthropomorphe Termini wie Seele allen Lebens, Atem allen Lebens, die einer Theologie der göttlichen Immanenz huldigen. Demgegenüber bevorzugt Adler die Konzeption von Emmanuel Lévinas, der gerade im Gegenüber eines Anderen die Grundlage des Selbstwerdens des Menschen sieht. Entsprechend plädiert sie für eine Theologie, in welcher Gott das primäre Andere ist, dem der Mensch gegenübersteht: »Gottes Andersheit, Gottes Andersartigkeit ist es erst, was Beziehung und Austausch ermöglicht. Gott ist das ursprünglich Andere, in einer Welt, in der, wie Lévinas sagt, das Selbst sein Gesicht stets zum Anderen erhebt.37 Eine Andere hat uns in ihrem Leib getragen, durchschnitt den Faden, der uns zum Einen machte und uns als ihr Anderes umfing. Eine Andere ernährte uns aus ihrem Körper. Andersheit ist die Mutter der menschlichen Sprache: Wegen des Anderen beginnen wir zu sprechen. Andere lehren uns und werden von uns belehrt. Andere arbeiten mit uns und bauen mit uns die Welt. Andere heilen unsere Einsamkeit. Andere sind uns Freunde. Männlich oder Weiblich, hetero- oder homosexuell, wir suchen den Körper des Anderen, um sich mit ihm zu vereinen und voneinander penetriert zu werden. Weil Gott der Andere ist, schuf er eine Welt von Unterschieden. Weil Gott Partner ist, sind alle Unterschiede voller heiliger Möglichkeiten.«38 Es ist diese dialogische Theologie, die Adler in ihrer schon eingangs erwähnten Vorliebe zum Erzählen entgegenkommt. Sie meint, diesen Anderen, diesen Part36
Adler, Engendering, S. 81.
37
Adler, Engendering, S. 92, nach E. Lévinas, Ethics and Infinity. Conversations with Philippe
38
Adler, Engendering, S. 92.
Nemo, Pittsburgh 1985; zu Lévinas siehe hier, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. III.
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ner, dieses Gegenüber kennen wir nur durch Erzählungen. Diese Geschichten schaffen den »nomos«, in dem wir leben. Sie variiert gleich zwei alte rabbinische Dicta und Auffassungen, um die Bedeutung des Erzählens in ein traditionelles Gewand zu kleiden. Wenn der antike rabbinische Midrasch sagen konnte, dass ohne den im synagogalen Gebet ausgerufenen Königsjubel, ohne das Bekenntnis des Menschen zu Gott, Gott gleichsam nicht König in seiner Welt wäre,39 dann sagt dies Adler so: »Ohne Geschichten gibt es kein Judentum, weil es ohne Geschichten weder Gott noch Israel gibt. Um Israel existieren zu lassen, muss man die ganzen alten Geschichten vom Exodus, Kanaan, Bagdad, Wilna und New York erzählen, die Geschichten der Erzväter und Mütter, der Lehrer und Schüler, Märtyrer und Rebellen. Wir können nicht über den Gott Israels reden, ohne vom Schöpfer, dem Bewohner des Dornbuschs, dem Erlöser und Bundespartner, der nährenden Mutter, dem Gegner, der Stimme im Windsturm, dem Schriftgelehrten, dem Richter und der Schechina im Exil zu erzählen. […] Eine Geschichte ist ein Leib für Gott.«40 Das zweite rabbinische Diktum, das Adler hiermit in sehr bezeichnender Weisevariiert, ist jenes bekannte: Gott hat keinen Raum in der Welt außer in den vier Ellen der Halacha.41 Aus alledem wird nochmals deutlich. Wenn hier über Gott geredet werden soll und kann, dann geschieht dies im Kontext der menschlichen Befindlichkeiten. Das menschliche Dasein, das durch seine Erfahrungen und Geschichte gestaltete Leben, sein nomischer Lebensraum sind der Maßstab für die Rede von Gott. Und in dieser Welt sind Frauen wie Männer gleichermaßen präsent und lebendig – entsprechend muss diese Selbstexpression als theologischreligiöse Sprache gestaltet sein. Eine abschließende Bemerkung ist an dieser Stelle angebracht: Das hier geforderte neu zu erstellende Mosaik eines jüdischen Gebetbuches, in welches nun auch weibliche Elemente aufgenommen werden sollen, ist, darauf weist sie zurecht hin, nichts grundsätzlich Neues. Jeder der ein jüdisches Gebetbuch aufmerksam liest, wird schnell erkennen, dass da sehr unterschiedliche, sich denkerisch auch widersprechende Traditionen und Gebetsstücke nebeneinanderstehen, als Realisierung der Forderung, die Schrift nach vier Sinnbedeutungsebenen zu lesen, nach dem historischen Wortsinn, nach der philosophischen Bedeutung,
39
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 245–253; Grözinger, Ich bin der Herr Dein Gott, Frankfurt a. M. 1976, S. 112; Grözinger, Musik und Gesang in der Theologie der frühen jüdischen Literatur, Tübingen 1983, S. 32–35.
40
Adler, Engendering, S. 96.
41
Babyl. Talmud, Berachot 8a.
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nach der ethischen Unterweisung und schließlich im kabbalistischen MysterienSinn. Das heißt, hier findet man Textstücke aus der Bibel, aus dem Talmud, der frühen Mystik, aus der mittelalterlichen Philosophie und der Kabbala und was sonst noch an Richtungen das Judentum geprägt hat. In dieses Bild kann auch neuer weiblicherer Mosaikstein eingefügt werden, damit dieses Gebetbuch ein lebendiger Organismus bleibt.
5.
Eine neue Sexualethik – das Erschrecken vor der Tradition und ein Lösungsvorschlag
5.1
Die biblischen Schöpfungsberichte und deren rabbinische Deutung
Wenn es die Sprache ist, die den Menschen ausmacht und die sein Inneres nach außen kehrt, dann ist die Beobachtung der Wortwahl und die Deutung der Worte und Geschichten ein untrügliches Zeugnis für die Befindlichkeit einer Kultur. Und dies ist es, was Rachel Adler im Blick auf die biblischen Gründungsdokumente der Menschheit und deren Strukturen, mit erkennbarem Erschrecken, ernst nimmt. Im ersten Schöpfungsbericht (Gen 1), auf den ich in Umkehrung ihrer Reihenfolge erst später zurückkommen will, wird der Mensch, in seiner gottebenbildlichen Zweigeschlechtlichkeit als Adam bezeichnet: »Und Gott schuf den Menschen (Adam) in seinem Ebenbild, im Ebenbilde Gottes schuf er ihn, männlich (sachar) und weiblich (nekeva) erschuf er sie.« (Gen 1, 27) Also Mann und Frau werden beide als Mensch (Adam) in seiner Zweigeschlechtlichkeit bezeichnet. Demgegenüber spricht der zweite Schöpfungsbericht, Gen 2 von der Erschaffung des Menschen (Adam) als nur einer, sprich männlichen, Person. Und erst als er sah, dass der Mensch alleine ist, lässt dieser Bericht Gott sagen: »Es ist nicht gut, dass der Mensch (Adam) alleine ist, ich will ihm gegenüber eine Hilfe machen.« (Gen 2, 18). Erst als Gott sah, dass die ganzen erschaffenen Tiere dafür nicht genügten, heißt es weiter: »aber für den Menschen fand er keine ihm gegenüberstehende Hilfe.« So schuf Gott aus der Rippe des Menschen eine ʼIscha eine »Männin [wie Luther in V. 23 übersetzte] und brachte sie zu dem Menschen.« (Gen 2, 22). Und Adlers Deutung: »eine ungleiche Komplementarität ist hier errichtet worden, in welcher der Mann das Subjekt und die Frau, seine Helferin und Abglanz, zugleich sein Gegenüber und ein Teil von ihm ist. […] Im Gegensatz zu […] Genesis 1 und 5 anerkennt Genesis 2 nirgendwo die Frau als Adam (Mensch), sondern nur als ʼIscha, eine aus dem Adam abgeleitete Kreatur, die ihm gegenübersteht und von ihm besessen wird, eine Konstruktion, die angelegt ist ihre Realisierungen zu finden. Erst in dem Wortspiel, welches die Frau als Derivat bezeichnet, wird Adam hinsichtlich seines Geschlechts identifiziert.
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›Diese wird Männin genannt, denn vom Mann wurde sie genommen.‹« (Gen, 2,23).42 Adler sieht in diesem Schöpfungsbericht die Begründung des Patriarchats, in welchem die Frau die Funktion hat, dem Mann als Hilfe zu dienen.43 Eine Stütze für ihre These findet sie in der talmudischen Interpretation des oben schon kurz angeführten ersten Schöpfungsberichtes. Die entscheidende Stelle wird in der Regel folgendermaßen übersetzt: »Und Gott schuf den Menschen (Adam) in seinem Ebenbild, im Ebenbilde Gottes schuf er ihn, männlich (sachar) und weiblich (nekeva) erschuf er sie. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen, ›seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und unterwerfet (wkvsh) sie.« (Gen 1, 27–28). Entgegen dieser Übersetzung, nach welcher der Befehl der Fruchtbarkeit und des Mehrens für beide, Mann und Frau, gilt, ist der Talmud im Gefolge der Mischna der Auffassung, dass dieses Gebot nur für den Mann gilt, er also der aktiv Handelnde ist, wozu die Frau gleichsam nur als »Hilfsinstrument« dient. Zunächst der entsprechende Abschnitt aus dem Talmud: [Mischna:]44 »Der Mann ist zur Fortpflanzung verpflichtet, nicht aber die Frau. R. Jochanan Ben Beroka sagt, von beiden heißt es: ›der Herr segnete sie und sprach zu ihnen: seid fruchtbar und mehret euch.‹ Gemara: Woher dies [nämlich die Auffassung der Mischna, das Gebot gelte nur dem Mann]? R. Ileʻa erwiderte im Namen des R. Elʻasar Ben R. Schimʻon: Die Schrift sagt: ›füllet die Erde und unterwerfet sie‹; es ist die Art des Mannes zu unterwerfen, nicht aber ist es die Art der Frau zu unterwerfen [also ist es auch die Art des Mannes bei der Zeugung der herrschende, aktive Teil zu sein]. – Im Gegenteil, unter ›unterwerfet‹ sind ja zwei zu verstehen!? R. Nachman Ben Jizchak erwiderte: Die Schreibweise [in der Bibel] ist ja ›unterwirf‹ [im Singular]. R. Josef entnimmt [die Begründung für die Aussage des ersten Mischnasatzes] aus Folgendem: ›ich bin Gott, der Allmächtige, sei fruchtbar und mehre dich‹; es heißt nicht: seid fruchtbar und mehret euch. (Gen 35, 11).« Gemäß dem ersten Satze der Mischna gilt der Fortpflanzungsbefehl nur dem Mann. Der fragende Einspruch von Rabbi Jochanan Ben Beroka wird nun in drei 42
Adler, Engendering, S. 122.
43
Adler, Engendering, S. 122–123.
44
Mischna Jevamot 6, 6 (im Talmud Bavli, Jevamot 6,3, Fol. 65b); Übs. L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Berlin 1931, Bd. 4, S. 541–542.
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Gängen abgewiesen: 1. Der Mann unterwirft, also gilt auch das Fruchtbarkeitsgebot nur dem Mann. 2. Das biblische Gebot ›unterwerfet‹ muss tatsächlich im Singular gelesen werden, weil im Konsonantentext kein Plural geschrieben steht wkwvsh וכבשה, die mögliche Plurallesung wurde erst von den Vokalisatoren als Vokalisierung nachträglich eingefügt. 3. Auch in dem Befehl Gottes an den Erzvater Jakob ist der Mehrungsbefehl, im Singular, nur Jakob aufgetragen. Das Resultat ist also: Der Fortpflanzungsbefehl gilt nur dem Mann, er ist dafür verantwortlich, nicht die Frau. So fasst auch der mittelalterliche Talmudkommentator, Raschi das Ergebnis zusammen: »Das [im Konsonantentext] fehlende waw [das den Plural bezeichnen würde] soll uns lehren, dass der Mann die Frau beherrscht und sie nicht draußen herumstreift. Und außerdem lehrt der Text, dass dem Mann, dessen Art die des Unterwerfens ist, das Gebot der Fortpflanzung obliegt, nicht aber der Frau.«45 Der Begründer der modernen Orthodoxie in Frankfurt am Main, der in der Einführung zum Feminismus-Teil schon ausführlich zu Wort gekommene, Samson Raphael Hirsch, versucht in seinem 1867 erschienenen Kommentar zur Stelle die Quadratur des Kreises und versucht eine harmonisierende, aber dann doch klar altrabbinische Deutung: »Diese Aufgabe ›seid fruchtbar und mehret euch‹ ist beiden Geschlechtern zugleich erteilt; ist ja das einheitliche Zusammenwirken beider Geschlechter für diese Menschenbildung gleich wesentlich. Indem jedoch die Lösung dieser Aufgaben wesentlich durch den Erwerb der Mittel bedingt ist, und dieser Erwerb, die Bezwingung der Erde für den Menschenzweck, zunächst nur dem männlichen Geschlechte obliegt, – weshalb der Plural in וכבשהnicht voll ausgedrückt ist – so ist auch die Aufgabe der Verehelichung und Hausesgründung direkt und unbedingt nur dem Manne gegeben, für das Weib ist sie nur bedingt, und beginnt erst in ihrem Anschluß an den Mann. (Jebamoth 65, b).«46 Adler, auf der Spur der Formulierungen, findet noch ein weiteres störendes Indiz. Während das hebräische Wort Adam, zumindest in Genesis 1 und 5 ein inklusiver Terminus für beide Geschlechter ist, sieht sie in der Gen 1, 27 folgenden Differenzierung in zwei Geschlechter als sachar und nekeva Konnotationen, in denen »doer and done-to«, also Täter und Gemacht für, also eine aktive und eine passive Seite, anklingen: »Das hebräische Wort sachar ( )זכרbedeutet das Geschöpf mit dem männlichen Glied. Weiblich bedeutet nekeva ()נקבה, die Durch-
45
Raschi zu Gen 1,28.
46
Samson Raphael Hirsch, Der Pentateuch übersetzt und Erläutert, Frankfurt a. M. 1867 (Neudruck 1986), Sefer Bereschit (Genesis), S. 31.
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stochene. In diesen beiden Begriffen ist die gesamte Geschichte des Patriarchats zusammengefasst.«47
5.2
Die Inzestgebote von Levitikus 18
Die patriarchalische Struktur sieht Adler auch in den biblischen Inzestgeboten des sogenannten Heiligkeitsgesetzes in Levitikus 18. Betrachtet man diese Texte genau, so offenbart sich, dass hier nicht Verbote vorliegen, die etwa aus humangenetischen, aus vererbungsbedingten Gesichtspunkten formuliert werden, auch nicht zum Schutz der Minderjährigen und dergleichen modernen sexualethischen Vorstellungen. Das in all diesen Geboten herrschende Grundprinzip ist das Besitzrecht des Mannes an der Frau, insbesondere das sexuelle Besitzrecht, in welchem sich die patriarchalische Herrschaftsstruktur seine Absicherungen schafft: »Diese Gebote [der Bibel] beziehen sich nicht auf den Inzest nach modernen Definitionen: Nämlich die sexuelle Ausbeutung jüngerer Menschen durch ältere, mächtigere Verwandte. Es ist der Sohn, nicht die Eltern, der gewarnt wird Sex zu initiieren. Überdies, der häufigste Missbrauchsfall des Inzests, nämlich der des Vaters gegenüber der Tochter, wird nicht einmal erwähnt. Dieses Verbot wurde erst später durch die Rabbinen novelliert. All die Inzestverbote gelten Männern: Söhnen, Vätern und Brüdern. […] In den meisten Fällen betreffen die Linien, die nicht überschritten werden dürfen, und die Prinzipien, die nicht gebrochen werden dürfen, Frauen, die anderen Männern gehören. Ehebruch wird durch sexuelle Beziehung mit der Frau eines anderen Mannes definiert, wiewohl sie ja gleichermaßen schuldig ist. Aber so lange die Konkubine eines Mannes nicht im Besitz eines anderen Mannes ist, gilt die Untreue eines Ehemannes nicht als illegitime Verbindung [Erva]. Ehefrau zu sein, ist ein Stand, der standesbedingte Beschränkungen schafft – Ehegatte zu sein, ist kein Stand und verursacht keine standesbedingten Beschränkungen.«48 Diese Grundprinzipien wirken sich entsprechend auf andere Fälle aus. Die Polygamie, die im aschkenasischen Judentum erst von Rabbenu Gerschom (960– 1028/40) verboten wurde, ist zu talmudischer Zeit noch gang und gäbe und im Orient im Prinzip bis heute – nicht aber im Staat Israel. Das Konkubinat wird ja
47
Adler, Engendering, S. 121.
48
Adler, Engendering, S. 128–129.
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in der Bibel ohne Problem dargestellt, aus persisch-sassanidischer Zeit sind für reisende Männer sogar temporäre Konkubinate belegt.49 Was das Alter betrifft, nachdem Mädchen zum Sex herangezogen werden dürfen, macht die Bibel keine Angabe, der Talmud nennt dafür die untere Altersgrenze von drei Jahren. Wie sehr die altrabbinischen Sexualvorstellungen von den heutigen modernen Auffassungen abweichen, zeigt Adler an weiteren Beispielen: »Der Talmud schreibt für den Beischlaf unter drei Jahren auch keine Strafe vor, weil man glaubte, dass sich das Hymen in diesem Alter regenerieren würde, weshalb ihr angeblich kein Schaden zugefügt wurde (Ketubbot 11ab). In biblischer und talmudischer Zeit konnten Väter ihre minderjährigen Töchter ohne deren Einwilligung verheiraten (Mischna, Jebamot 13,2), konnten sie auch als Sklavinnen verkaufen. […] Die einzigen Vergewaltigungsfälle zu denen die Tora Gesetze bietet, sind die Zerstörung der Jungfräulichkeit. Die Vergewaltigung eines unverheirateten Mädchens wird als Vermögensverbrechen gegenüber dem Vater des Mädchens behandelt. Die Verbrecher müssen eine Strafe und den Brautpreis bezahlen und die Frau behalten. (Dtn 22, 28–29).«50 Die Liste ähnlicher Fälle, die weit von unseren modernen Beurteilungen der Sexualität und der Geschlechterbeziehungen abweichen, könnten noch vermehrt werden, da ist die Frage der Homosexualität, des verbotenen Beischlafs während der Menstruation – wohl wegen Vergeudung der wertvollen Flüssigkeit, durch welche die göttliche Verheißung zu erfüllen ist.51 Angesichts all dessen, sieht die Autorin einen titanischen Kampf des modernen Feminismus, die Geschlechterbeziehungen, insbesondere auch in sexueller Hinsicht, aus dem Bereich des Herrschaftsdenkens in den der Partnerschaft hinüberzuführen.
5.3
Die Eheschließung
Abschließend wendet sich Adler der bis heute formal üblichen jüdischen Eheschließung zu, die in ihren Formulierungen wie auch in ihrer Machtverteilung dem bislang gezeichneten Bild entspricht, nach welchen die Verlobung und Heirat eine Art kommerzielle Transaktion ist, in der die Frau aus dem Besitz des Vaters in den des Ehemannes übergeht, der ja bis heute Baʻal, Besitzer, heißt. Der
49
Adler, Engendering, S. 128.
50
Adler, Engendering, S. 129–130.
51
Adler Engendering, S. 131.
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seit der Mischna für die Hochzeit übliche Begriff Kidduschin fügt diesem altbiblischen Verständnis noch eine kosmische Bedeutung hinzu: »Zur Zeit der Mischna, ist die Heirat zu einem religiösen Ereignis von kosmischer Bedeutung geworden. Eine Frau zur Gattin zu nehmen, wird als besondere Art des Erwerbs verstanden, in dem der Kauferwerb mit dem religiösen Akt, etwas als heiliges Gut als heilige Donation auszusondern, vermischt wird.«52 Durch einen solchen Weiheakt wird das geheiligte Gut dem allgemeinen Gebrauch entzogen, hier speziell die weibliche Sexualität. Der Weihende ist, wie dies die Trauformel bis heute aussagt, der Mann, der damit die Braut für sich heiligt. Er sagt: »Siehe Du bist für mich geheiligt durch diesen Ring, gemäß der Satzung/Religion Moses und Israels.« Der Mann wird hingegen nicht für die Braut geheiligt, also dem sexuellen Gebrauch für andere nicht entzogen. Es ist wert, an dieser Stelle einen kurzen Blick in den von Schlomo Ganzfried (1804–1886) verfassten, im Jahre 1864 erschienenen, Kizzur Schulchan ‘Aruch zu werfen, um zu sehen, wie ein solches noch verbreitetes Traditionswerk die Rolle von Ehemann und Ehefrau beschreibt: [§ 145] »1. Jeder Mensch (Adam) ist verpflichtet eine Frau zu ehelichen, um fruchtbar zu sein und zu mehren. Dieses Gebot ist für den Menschen ab dem 18. Lebensjahr verpflichtend. Auf alle Fälle überschreite er nicht das zwanzigste Jahr ohne Frau. […] 5. Eine Frau ist nicht zum Fruchtbarsein und zur Mehrung verpflichtet; doch bleibe sie wegen der Verdächtigung nicht ohne Baʻal (Ehemann).« Und Maimonides (1135–1204) sagt zum Ehelichen das Folgende: Bevor den Israeliten die Tora offenbart wurde, konnte ein Mann einfach eine Frau so nach Hause führen und sie durch Beischlaf zu seiner Frau machen. Die Tora aber habe geboten, dass der Mann vor dem Beischlaf die Frau erwerben müsse. Und dieses Erwerben gehe so vonstatten: »Durch eines der folgenden drei Dinge wird eine Frau erworben: Durch Geld, oder einen Vertrag oder durch den Beischlaf. Beischlaf und Urkunde sind Gebote der Tora, und das Geld ist eine Anordnung der Schriftgelehrten. Und dieser Erwerb wird Kidduschin, Heiligung oder Antrauung genannt […]. Und eine Frau die durch eine dieser drei Dinge erworben wurde, wird ›geheiligt‹ (mekudeschet) oder angetraut genannt. Und nachdem die Frau erworben wur52
Adler, Engendering, S. 172.
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de und geheiligt ist, ist sie die Frau eines Mannes, selbst wenn er noch keinen Beischlaf mit ihr hatte und sie noch nicht in sein Haus gezogen ist. Und jeder andere, der dann den Beischlaf mit ihr hält, außer ihrem Baʻal (Ehemann), wird vom Gericht zum Tode verurteilt. Und wenn der Ehemann sie verstoßen will, braucht sie ein Get (Scheidebrief).«53 Wie der Ehemann der Vollzieher des Rechtsaktes der Trauung ist, kann auch nur er eine Scheidung vollziehen indem er der Frau den Scheidebrief aushändigt. Wenn ein Mann sich weigert, einen Scheidebrief auszustellen, kann die Ehe nicht geschieden werden, mit der Folge, dass jegliche weiteren Kinder der sogenannten Aguna, »der angebundenen«, als Bastarde (Mamser) im religiösen Sinn gelten. Eine Wiederverheiratung der Frau ist nach religiösem Recht in einem solchen Fall ausgeschlossen. Für eine jüdische Frau bleibt in diesem Fall nur das Verzichten auf die jüdische Autorität, das Ausscheiden aus der religiösen Ehegesetzgebung, und sich säkular-zivilen Rechtsverhältnissen anzuvertrauen. Um diese Alternative zu vermeiden schlägt Adler vor, das Erwerbseherecht auf eine partnerschaftliche Grundlage zu stellen, nach welcher beide Seiten dieselben Rechte und Pflichten haben. Sie hat dafür eigens ein neues Formular eines Ehevertrages entworfen, der auf partnerschaftlicher Gegenseitigkeit beruht und die rechtsasymmetrische Ketubba ersetzen soll.
53
Maimonides, Mischne Tora, Hilchot ʼIschut 1,2–3.
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III. FEMINISTISCHE ORTHODOXIE IN PHILOSOPHISCHEM GEWAND – TAMAR ROSS (GEB. 1938) 1.
Biographisches
Tamar Ross ist die Tochter des orthodoxen aus Polen gebürtigen amerikanischen Rabbiners Elimelech Jerachmiʼel Ithamar (Wolgelernter), der zweiter Vorsitzender des orthodoxen amerikanischen Rabbinerverbandes war. Die Familie übersiedelte 1956, als Tamar achtzehn Jahre alt war, nach Israel, wo der Vater alsbald zum Sekretär des israelischen Oberrabbinats und des obersten rabbinischen Gerichts ernannt wurde. Später arbeitete er in herausgehobener Stelle im israelischen Religionsministerium. Ross studierte an der Hebräischen Universität in Jerusalem hebräische Literatur und Geschichte des jüdischen Volkes. Die Promotion erfolgte in der Abteilung Kabbala. Außerdem studierte sie an der Fachschule Midreschet Lindenbaum. Eine Talmudhochschule für Frauen. 1990 kam sie als Wissenschaftlerin an die Bar Ilan Universität, wo sie seit 2005 bis zu ihrer Emeritierung als ordentliche Professorin für traditionelles jüdisches Denken in der Moderne lehrte. Ross war Mitglied im Beirat der Orthodoxen Feministischen Allianz (JOFA). Sie hat sieben Kinder mit dem Professor für Philosophie Jakob Jehoschua – die alle im orthodoxen Lager aktiv wurden.
2.
Grundlinien des feministischen Denkens von Tamar Ross
Tamar Ross sollte man hinsichtlich des für ihren Feminismus zentralen Werkes Expanding the Palace of Torah. Orthodoxy and Feminism1 wohl eine philosophierende Theologin nennen, deren Anliegen es ist, ihren orthodoxen Glauben mit den Herausforderungen der Ratio und der Moderne zu vereinbaren, ohne eine der beiden Seiten aufgeben zu müssen. Als Professorin an der philosophischen Fakultät der Bar Ilan Universität und als Research Fellow am Jerusalemer Shalom Hartmann Institut steht sie wie auch ihr Arbeitskollege Avi Sagi der hermeneutischen Philosophie von Hans Gadamer und dem Amerikaner Stanley Fish nahe. Das Besondere ihrer dezidierten Heranziehung der Gadamerschen Lehren2 ist indessen, dass Ross die deskriptive Hermeneutik Gadamers in eine präskripti-
1
Tamar Ross, Expanding the Palace of Torah. Orthodoxy and Feminism, Waltham (Mass.)
2
Zu Gadamer siehe oben, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. II, zu Sagi.
2004.
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ve Hermeneutik verwandelt. Gadamers Beschreibung der Mechanismen der Textlektüre (Text im weitesten kulturellen Sinn) und -interpretation als ein Verschmelzen der Horizonte von Autor und Rezipient, seine Auffassung, dass der Leser eines Textes neben seinem individuellen Verstehens- und Erlebenshorizont allemale und unausweichlich von einem kollektiven kulturellen Rahmen und einer eigenen kollektiven Tradition geprägt ist, der sein Verstehen des Textes leitet, nimmt Ross zustimmend auf. Sie zieht daraus die Schlussfolgerung, dass eine, auch von ihr gewollte, Veränderung der Orthodoxie, weg von deren Androzentrismus, hin zu einer symmetrischen religiösen Gleichstellung von Mann und Frau im jüdischen Denken und Handeln nur unter konsequenter Berücksichtigung und praktischer Anwendung der hermeneutischen Einsichten Gadamers und Fishs zu bewerkstelligen sei, das heißt, dass Veränderungen nur aus dem Traditionskontext heraus und mit dessen Vorgaben gemacht werden dürfen. Damit spricht Ross jeder »Revolution« die Möglichkeit ab, nachhaltige und bleibende Veränderungen in Gesinnung, Ritus, Denken und Handeln zu erreichen, selbst wenn sie gelegentliche revolutionäre Anstöße durchaus anerkennt – so zum Beispiel die Einführung einer Bat Mizwa (religiöse Mündigwerdung für Mädchen), die sich nun auch in vielen orthodoxen Kreisen durchgesetzt hat. Diese Auffassung von Ross bedeutet, um es etwas überspitzt auszudrücken das Folgende: Nur wenn die orthodoxe Feministin den Weg der bisherigen Tradition beschreitet und die bisher gängigen Innovationsmöglichkeiten der professionellen Halacha-Entscheidung akzeptiert und betreibt, und außerdem nur hier und da kleine Grenzüberschreitungen wagt, in der Hoffnung, dass solche vorsichtige Schritte im Laufe der Zeit eine breitere Resonanz finden, bestehe Hoffnung, das System zu verändern. Mit diesem modus procedendi schlägt Ross de facto den Weg vor, den die Halacha schon immer gegangen ist, nämlich vorsichtige Anpassungen an die veränderten kulturellen und sozialen Umstände vorzunehmen, wie dies in dem Kapitel zu Avi Sagi bereits dargestellt wurde.3 Die feministische Reform wird, folgt man diesem Rat, von den orthodoxen Feministinnen große Geduld und vor allem Demut gegenüber den bestehenden Verhältnissen abverlangen, so dass die Früchte der gegenwärtigen Bestrebungen wohl erst viel später nachfolgenden Frauengenerationen zugutekommen dürften.
3
Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. II, zu Avi Sagi.
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3.
Erkenntnislehre – die Offenbarung
3.1
Anti-fundamentalistische Erkenntnislehre und deren Absicherung mithilfe von Gadamers Hermeneutik
3.1.1 Worauf gründet die Wahrheit Für das orthodoxe Judentum gilt die traditionelle jüdische Auffassung von der Offenbarung am Sinai als Schriftlicher und Mündlicher Tora.4 Die mündliche Tora ist hierbei das dynamische Element, welches in Theologie und vor allem in der Halacha je nach den Bedürfnissen der Zeit das jüdische Leben reguliert. Wiewohl, historisch betrachtet, die mündliche Tora eine kontinuierliche Entwicklung erfahren hat, gilt dem orthodoxen Denken allerdings noch immer die »Fiktion«, dass all dieses Neue Moses schon am Sinai übergeben worden war und durch die halachische Wissenschaft nur immer wieder neu aufzudecken sei. Eine Neuerung im Sinne einer tatsächlichen Innovation kann es demnach nicht geben, wie dies auch der im vorliegenden Band dargestellte Jeschajahu Leibowitz behauptet,5 wohingegen Avi Sagi6 eine durch die Zeitläufte geprägte Veränderung sieht. Für eine moderne orthodoxe Feministin, die nicht weniger als die extremeren Feministinnen einen Innovationsbedarf dieses Judentums erkennt, weil die orthodoxen Frauen die Kluft zwischen der modernen Gesellschafts- und Arbeitswelt, in der sie tatsächlich leben, und der patriarchalisch eingeschränkten religiösen Lebenswelt nur noch schwer ertragen können, muss sich natürlich die Frage nach der Autorität der »sinaitischen« Halacha und ihren rabbinischen Interpreten besonders brennend stellen. Sie muss sich daher den Grundlagen solcher jüdischer Auffassungen stellen, welche nach wie vor das jüdisch-orthodoxe Leben bestimmen. Dies umso mehr, wenn die Autorin eine philosophisch gebildete Professorin einer anspruchsvollen Universität ist. Den ersten Schritt geht Tamar Ross zunächst mit der im vorausgegangenen Kapitel dargestellten Rachel Adler, um in einem zweiten Schritt die Probleme der Adlerschen Konzeption herauszustellen und dann einen weiteren korrigierenden Schritt mit Hilfe der Gadamerschen Hermeneutik zu tun. In Adlers entschlossenerem Reformwillen diagnostisiert Ross deren Nähe zu dem Erkenntnismodell, das in der amerikanischen Philosophie als nonfoundationalism figuriert. Dies ist ein postmodernes Erkenntnismodell, welches das verbreitete fundamentalistische Erkenntnismodell ablehnt. Laut dem fundamentalistischen Erkenntnismodell gilt eine Aussage dann als anerkennbar wahr, wenn sie
4
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
5
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. I.
6
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. II.
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sich auf eine andere anerkannte Meinung stützen kann, wie etwa die von Descartes »Ich denke, also bin ich«. Ein solches Denksystem wird mit einem Bauwerk verglichen, bei dem die oberen Stockwerke auf den unteren, deren Fundament, aufruhen und von ihnen getragen werden. Der nonfoundationalism, zu Deutsch die anti-fundamentalistische Erkenntnislehre, vertritt demgegenüber die Auffassung, dass es ein reziprokes Verhältnis von Beobachter und seinem Gegenstand gibt und er die Wahrheit darum nur annähernd erlangen kann, weil die Erkenntnis eines Individuums immer relativ, das heißt subjektiv, ist. Diese Relativität der individuellen Erkenntnis kann jedoch dadurch bis zu einem gewissen Grad verobjektiviert werden, dass mehrere solche relativen Erkenntnisse zu einem sich wenigstens teilweise überlappenden Konsens gebracht werden können. Die Erkenntnis der Wahrheit, so sagt Ross mit dem amerikanischen Philosophen Ernest Sosa,7 gleicht eher »einem Floß, das wir aus Fetzen und Teilchen, die wir aus unserer Umgebung aufgenommen haben, zusammenschnüren und konstruieren, weniger einer Pyramide, die auf einem festen Fundament errichtet wird.«8 Man könnte ein solches Wissen und eine solche Wahrheit salopp als Konsenswissen oder Konsenswahrheit bezeichnen.9 Etwas philosophischer formuliert: »In der 7
Ross, Expanding, S. 165; E. Sosa, The Raft and the Pyramid: Coherence Versus Foundations
8
Ross, Expanding, S. 165.
9
Zur philosophischen Konsenstheorie vgl. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, 2
in the Theory of Knowledge; in: Midwest Studies in Philosophy 5 (1980), S. 3–25.
Bde., Frankfurt am Main 1973: Bd.1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft; Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien. In: Helmut Fahrenbach (Hrsg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, Pfullingen 1973, S. 211–265, auch abgedruckt in: Jürgen Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 127–183; aus der onlineAusgabe:
http://solomon.soth.alexanderstreet.com/cgi-
bin/asp/philo/soth/getdoc.pl?S10023123-000003, S. 136 »Aus diesen Thesen möchte ich einige vorläufige Schluβfolgerungen ziehen, die eine Konsensustheorie der Wahrheit nahelegen. Von Informationen sagen wir, daβ sie zuverlässig (oder unzuverlässig) sind. Die Zuverlässigkeit einer Information bemiβt sich an der Wahrscheinlichkeit, mit der aus dieser Information abgeleitete Verhaltenserwartungen (in Handlungszusammenhängen) erfüllt werden. […]. Wahrheit hingegen ist keine Eigenschaft von Informationen, sondern von Aussagen. Sie bemiβt sich nicht an Prognosewahrscheinlichkeiten, sondern an der eindeutigen Alternative, ob der Geltungsanspruch von Behauptungen diskursiv einlösbar oder nicht einlösbar ist. Wahr nennen wir Aussagen, die wir begründen können. Der Sinn von Wahrheit, der in der Pragmatik von Behauptungen impliziert ist, läβt sich erst hinreichend klären, wenn wir angeben können, was ›diskursive Einlösung‹ von erfahrungsfundierten Geltungsansprüchen bedeutet. Genau dies ist das Ziel einer Konsensustheorie der Wahrheit. Dieser Auffassung zufolge darf ich (mit Hilfe prädikativer Sätze) dann einem Gegenstand ein Prädikat zusprechen, wenn auch jeder andere, der in ein Gespräch mit mir eintreten könnte, demselben Gegenstand das gleiche Prädikat zusprechen würde. Ich nehme, um wahre von fal-
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Konsenstheorie wird die Übereinstimmung von Meinungen als Kriterium für die Wahrheit von Aussagen formuliert. Die Konsenstheorie erklärt eine Aussage für wahr, wenn sie von anerkannten Wissenschaftlern akzeptiert wird.«10 Ähnlich formuliert Ross, doch setzt sie an die Stelle der anerkannten Wissenschaftler eine Konsens-Gemeinschaft. Das bedeutet, die Wahrheit ist dann angenommen, wenn sie innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft im Diskurs gegenseitig anerkannt wird. Und dies ist, findet sie, tatsächlich der Standpunkt vieler Feministinnen, welche im Sinne der Standpunkt-Theorie, nach welcher die Wahrheit dem interessengeleiteten Standpunkt bestimmter Gruppen folgt, darauf aus sind, möglichst viele solcher unterschiedlicher Standpunkte unter ein Dach zubringen und dadurch Gegensätze auszugleichen – also den zwischen Männern und Frauen. Das wesentliche Problem dieses Ansatzes ist, laut Ross, dass die so zu findende Wahrheit stets von der breiteren Akzeptanz der bezogenen Gesellschaft abhängig ist. Dies erscheint in Glaubensfragen akzeptabel, nicht aber in Rechtsfragen, wo man auch vor dem Erreichen eines gesellschaftlichen Konsensus zu konkreten Entscheidungen kommen muss. Und solche Entscheidungen sind eben die der Halacha in allen ihren Bereichen, denen der Standesfragen wie auch hinsichtlich ritueller Entscheidungen in der Gottesdienstgestaltung und der Zulassung von Frauen zu bisher männlichen Domänen. Um diesen Mangel des antifundamentalistischen Zugangs zur Tradition aufzufangen nimmt Ross, wie gesagt, Zuflucht zur philosophischen Hermeneutik von Gadamer (und Fish). Das Problem, das es nach ihrer Meinung zu lösen gilt, ist eine handhabbare Methode für die Überbrückung der Kluft zwischen der bestehenden rechtlichen Realität und des angestrebten neuen Ideals zu finden,11 also eine Methode, welche neues oder gar konträres halachisches Handeln mit der überkommenen Rechtspraxis vereinbar erscheinen lässt. Die hierfür erste Einsicht ist die, welche auch Avi Sagi mehrfach unterstreicht, dass das halachische Verfahren der Rabbinen epistemisch schon immer mehr nichtfundamentalistisch handelte, ohne sich dessen bewusst zu sein oder es einzugestehen. Um dieses Bewusstsein der nichtfundamentalistischen Halacha-Interpretation zu wecken, greift Ross auf die Erkenntnistheorie von Gadamer (und Fish) zurück, die ihr bestätigt, dass die Rechtsauslegung schon immer und niemals fundamentalistisch sein konnte, weil
schen Aussagen zu unterscheiden, auf die Beurteilung anderer Bezug – und zwar auf das Urteil aller anderen, mit denen ich je ein Gespräch aufnehmen könnte […] [S. 137] […] Die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen ist die potentielle Zustimmung aller anderen. Jeder andere müβte sich überzeugen können, daβ ich dem Gegenstand das besagte Prädikat berechtigterweise zuspreche, und müβte mir dann zustimmen können. Die Wahrheit einer Proposition meint das Versprechen, einen vernünftigen Konsensus über das Gesagte zu erzielen.« 10 11
Brigitte Wiesen, Artikel: Wahrheit, in: utb online-Wörterbuch Philosophie. Ross, Expanding, S. 167.
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in ihr stets vorgegebener Text und Interpret in einem reziproken Austausch stehen, der keine fundamentalistische Wahrheit zulässt oder je kannte. Denn: »In tiefgreifender, allerdings oft unerkannter Weise, werden unser Verstehen und Wahrnehmen durch unsere ›Vor-Urteile‹, Neigungen und Interessen geformt, so dass die einfache Beobachtung von einer beachtlichen Menge an Faktoren bestimmt wird, die auf unseren Hoffnungen, Ängsten, Erwartungen und ›intellektuellem Gepäck‹ beruhen, die wir an den Text herantragen.«12 Als zentrale Einsicht Gadamers führt sie an, dass es nie eine objektive Deutung eines Textes gegeben habe, da stets die individuellen Faktoren des Rezipienten das Textverständnis steuern, es also niemals eine Deutung geben könne, die besser sei als eine andere. Hinzu zu den individuellen Faktoren tritt die soziale Konstruktion, das kulturelle Klima, innerhalb welcher der Auslegungsprozess stattfindet: »Die Weise, in welcher ein Beobachter seinen Gegenstand betrachtet ist stets kontextund situationsbezogen.«13 »Der hermeneutische Prozess ist, laut Gadamer, weder objektiv noch subjektiv. Er ist vielmehr das kollektive Produkt aus Leser, aus der Tradition von anerkannten Konventionen, die er mit an den Text heranträgt und der Macht des Textes dieses Auslegungsziel zu begrenzen und zu leiten.« – also Gadamers Verschmelzung der Horizonte.14
3.2
Die Schlussfolgerungen aus der erkenntnistheoretischen Erörterung
Rossens Schlussfolgerungen für das konkrete Handeln der orthodoxen feministischen Frauen ist ein anschauliches Beispiel für die Richtigkeit von Gadamers Thesen, dass kein Mensch das eigene kulturelle Gepäck über Bord werfen kann, wenn er Kultur »liest« und gestalten will. Sie versteht Gadamer nämlich dahingehend, dass die orthodoxen Frauen in ihren feministischen Bemühungen sich möglichst weitgehend innerhalb des vom halachischen Establishment vorgegebenen Rahmens halten sollten, einschließlich der Anerkennung der halachischen Autoritäten, die mit ihren androzentrischen Haltungen der eigentliche Bremsblock für wirkliche Veränderungen sind. Sie zieht aus der theoretischen Einsicht der Hermeneutiker normative Konsequenzen, die gleichsam alles beim alten lassen. Es ist noch einsehbar, dass gerade jene Frauen, die am stärksten unter dem Konflikt der Begegnung der modernen Welt und dem traditionellen Leben betroffen sind, am besten geeignet sein sollen, diesen Konflikt zu überwinden. Ross versieht diese Fähigkeit indessen mit für das zuvor Gesagte typischen Auf12
Ross, Expanding, S. 169.
13
Ross, Expanding, S. 169.
14
Ross, Expanding, S. 170. Anzumerken ist noch die extremere Sichtweise von Fish, der dem Text selbst jede objektive Bedeutung abspricht. Auch der Text existiert demnach nur in der Deutung des Interpreten.
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lagen und Hoffnungen, das heißt drei Bedingungen, die anerkannt werden müssen, um innerhalb der Traditionsgemeinschaft Änderungen herbeiführen zu können: Anerkennung der rabbinischen Autoritäten, Solidarität mit dieser Traditionsgemeinschaft und Akzeptanz des göttlich-transzendentalen Anspruchs: »Die Verbindung rivalisierender Werte, welche diese Frauen als Resultat des vorliegenden Konfliktes bewältigen, lässt sie, generell betrachtet, zu einem faszinierenden Beispiel gesetzlicher Dynamik werden. Durch ihre gemeinsame Erfahrung des Ausgeschlossenseins von zentralen Teilen der Tradition miteinander verbunden, wie durch ein wachsendes Wahrnehmen und überzeugtes Bewusstsein hinsichtlich der halachischen Ungebührlichkeiten dieser Situation, bilden sie eine Schwesternschaft von Frauen, die ein einzigartig mächtiges Instrument des Wandels ist. Diese Macht rührt von ihrer Fähigkeit, trotz des neuen Narrativs, durch das sie verbunden sind, eine Lebensweise beizubehalten, die sich noch in der gegenwärtigen Auslegungstradition der Halacha bewegt, und sie zugleich befähigt, auf die drei schon genannten Grenzen [feministischer Innovation] zu antworten, nämlich: den Konsens der Experten anzurufen; die Solidarität mit der Gemeinschaft der Halacha, innerhalb der das transformative Narrativ verwirklicht werden soll; und die Anerkennung der von dem traditionellen Narrativ beanspruchten transzendenten Dimension.«15 Ross glaubt, dass die Bereitschaft solcher streng religiöser Frauen, sich an die traditionellen halachischen Autoritäten um Führung und Beratung zu wenden, sei gerade ein Faktor, der diese Autoritäten befähigt ihren Blickwinkel bei ihren Entscheidungen zu erweitern und auf die Anliegen der Frauen zu hören. Dennoch oder gerade deshalb zählt Ross die von orthodoxen Frauen unternommenen praktischen Veränderungen innerhalb ihrer eigenen Frauenkreise mit großer optimistischer Hoffnung auf: »Frauen, die ihre Spannung mit der Moderne innerhalb der Gemeinschaft der Halachagetreuen leben, und zugleich ein alternatives Narrativ setzen, ohne ihre Verbindungen mit dem derzeitigen Verstehen zu trennen, sind nicht nur Advokaten für den Wandel. Sie schaffen vielmehr erst die Bedingungen für einen solchen Wandel, indem sie neue Möglichkeiten der Bedeutung des bestehenden Korpus jüdischer Traditionen freilegen und an ihnen innerhalb der Gemeinschaft arbeiten, die solchen Entwicklungen gegenüber nachhaltig re-
15
Ross, Expanding, S. 172.
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sistent ist. Orthodoxe Frauen fördern voreheliche Verträge,16 richten ToraLehrhäuser und Gebetsgruppen für Frauen ein, kreieren neue Rituale, welche spezifisch weiblichen Bedürfnissen nachkommen, entwickeln Programme zur Ausbildung weiblicher Führungsgestalten und tun noch anderes, um ein tiefempfundenes Gefühl zu schaffen, gleichberechtigte Partner in der Tradition zu sein. Damit sagen diese Frauen: ›Wir müssen das Gesetz nicht ändern. Wir können aber seine Bedeutung verändern, indem wir es in ein neues Narrativ einweben.‹«17 Für die so beschriebenen Aktivitäten der orthodoxen Feministinnen stellt der bisherige Modus der Halacha-Festlegung bereits einige Formeln bereit, die zur Innovation innerhalb der traditionellen Methode dienen können. Da ist zum einen die traditionelle Horaʼat Schaʻah, eine zeit- und umständebedingte, temporäre Entscheidung, die der Theorie nach wieder rückgängig gemacht werden kann, wenn sich die Umstände geändert haben. Die zweite Methode ist die freiwillige Übernahme von Geboten, zu denen die Frauen nicht eigentlich verpflichtet sind, wie das regelmäßige Torastudium, das Anlegen der Tefillin (Gebetsriemen) oder das Tragen der Schaufäden. Wenn die Frauen, die beim ordentlichen Beterquorum nicht mitgezählt werden, ihre eigenen Beterzirkel einrichten und dabei auf solche Gebete verzichten, die nur im maskulinen Quorum gesprochen werden dürfen, so würde dies die Delegitimierung solcher Gruppen durch die herrschenden Kreise erschweren. – Aber gerade diese letztere Bemerkung zeigt, welch defensiven Weg Ross den feministischen Streiterinnen auferlegen will. Alles in Allem meint Ross, dass die feministischen Anliegen nicht der einzige Maßstab des weiblichen Handelns sein dürfe. »Wir erkennen, dass wir zuweilen aufgerufen sind Werteprioritäten aufzustellen und einige unserer feministischen Ziele und Überzeugungen im Interesse der halachischen Konformität und der Anerkennung durch eine Gemeinschaft opfern müssen, die eine von der unseren abweichenden Wertehierarchie vertritt.«18
16
Gemeint sind Abkommen, die den Ehemann vor der Eheschließung verpflichten, im Falle einer Ehescheidung der Ehefrau auf alle Fälle ein Get (Scheidebrief) auszuhändigen, ohne den sie nicht wieder heiraten darf und als Aguna im standesmäßigen Vakuum lebt.
17
Ross, Expanding, S. 175–176.
18
Ross, Expanding, S. 178.
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3.3
Kumulative Offenbarung
3.3.1 Offenbarungskritik und Lösungsversuche in der Vergangenheit Angesichts der Befleckungen der Tora durch deren unleugbare und überwältigende patriarchalische Tendenz, die von zunehmend vielen Frauen – und Männern – wahrgenommen wird, muss natürlich die Göttlichkeit dieses Textes zweifelhaft werden. Ross anerkennt die Anfälligkeit der Gestalt wie der Inhalte der Tora durch die menschliche Fehlbarkeit. Sie sieht darin allerdings weniger ein Zeichen menschlicher Autorschaft der Tora als vielmehr »die didaktische Weisheit des göttlichen Autors und seine Fähigkeit, die Botschaft der Tora allen Stufen der Intelligenz und Kultiviertheit anzupassen.«19 Diese Erklärung erinnert an die mittelalterliche Formel der Philosophen, welche in den Texten der Tora eine Mitteilung der göttlichen Wahrheit für das einfache Volk sehen wollten, dem die philosophische Rationalität verschlossen bleibt.20 In der berechtigten Kritik an der Tora, welche der moderne jüdische Feminismus vorträgt, sieht Ross jedoch nur das letzte Glied einer langen Kette solcher Auseinandersetzungen mit den Texten und Anschauungen der Tora, die deren göttlichen Anspruch in Zweifel ziehen wollten. Sie anerkennt mit dieser Sicht all die kritischen Auseinandersetzungen jüdischer Denker mit der Botschaft der Tora, wie sie dem Leser der vorliegenden Geschichte hinlänglich bekannt sind und die dem Gedanken einer Verbalinspiration grundlegend widersprechen.21 Die orthodoxe Denkerin Ross zählt eigens die Stufen dieser sich über die Jahrhunderte erstreckenden Kritik an der Tora auf. Beginnend mit dem Rationalismus des Mittelalters und seiner Ausflucht in die Allegorese,22 dann der durch die Haskala (Aufklärung) ausgelöste Historizismus,23 das Reformjudentum, die Wissenschaft des Judentums,24 die Herausforderungen der Naturwissenschaft, den Darwinismus und die Paläontologie, welche die biblischen Darstellungen über Alter und Entstehung der Schöpfung grundsätzlich in Frage stellen,25 und schließlich die moderne mit Julius Wellhausen einsetzende Bibelkritik, die in der Tora von Menschenhand miteinander verwobene unterschiedliche Quellenschriften er-
19
Ross, Expanding, S. 185. Man mag an dieser Stelle an Samson Raphael Hirsch, den Vater der modernen Neoorthodoxie erinnern, der gleichfalls einen göttlichen Erziehungsplan in der Geschichte am Werke sieht; vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 510–514.
20
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 365–366. 384.
21
Ross, Expanding, S. 186.
22
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 365–366.
23
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 38. 349. 444. 599.
24
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 444. 446. 470. 476. 516. 578–580.582–583. 617.
25
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 363–365.
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kannte.26 Der kulturelle Relativismus ist überall zu spüren, selbst in der Bibel, die Genozid und Sklaverei kennt, polytheistisch von Göttern und anthropomorph vom eigenen Gott redet. Der Feminismus erscheint angesichts all dessen, wie gesagt, nur als weiteres Glied dieser torakritischen, von kulturellen Veränderungen hervorgebrachten, Kette. Allerdings glaubt sie, dass die feministische Kritik eine besonders virulente sei, weil ihre Sichtweisen das alltägliche Leben der jüdischen Gesellschaft in einer Weise direkt betreffen, wie dies die vorangegangenen Stufen der Auseinandersetzung nicht taten. Bevor Ross ihre eigene Erklärung für die Unstimmigkeiten in der Tora und die damit begründete berechtigte Kritik an der Vorstellung einer verbal inspirierten Tora vorträgt, weist sie kurz andere liberale und orthodoxe Lösungsvorschläge zurück, welche die historische Bedingtheit der Tora zwar zur Kenntnis genommen haben, aber dennoch an deren göttlicher Autorität festhalten wollen. Als gänzlich unmögliche Lösung erscheint ihr, der orthodoxen Denkerin, die – auch im vorliegenden Band besprochene27 – Konzeption von Mordechai Kaplan. Kaplan der Begründer des sogenannten Reconstructionism spricht der Tora jegliche metaphysische Herkunft ab und versteht sie als das Produkt einer menschlichen Gemeinschaft, welche in diesen Schriften ihre Sichtweisen für ein religiöses Leben niederschrieb. Mit dieser Auffassung ist die Autorität der Tora ganz der menschlichen Gemeinschaft übertragen und Gott aus den Händen genommen.28 Die nächste, von ihr als unzureichend abgelehnte Lösung des Problems ist die, der von ihr so genannten »dialektischen Theologie«. Deren wesentliche Vertreter sieht sie in Martin Buber,29 Abraham Joshua Heschel,30 Louis Jacobs und Franz Rosenzweig.31 Die von diesen Autoren vertretene »dialektische Theologie«, sehe in der Tora das Zeugnis der menschlichen Erfahrung des Göttlichen, das als Zeugnis menschlicher Erlebnisse natürlich nicht vollkommen sein kann. Demnach wäre die Tora »der Versuch einer konkreten historischen Gemeinschaft, sich an die Begegnung mit einem Gott zu erinnern und im eigenen Leben zu verwirklichen, einem Gott, der sich an ein bestimmtes Volk wandte, um dessen Schicksal zu bestimmen.«32 Es ist diese Konzeption von der »Offenbarung«,
26
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 44–48.
27
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. IV, zu Kaplan. Neben den in diesem Kapitel schon genannten Texten siehe noch: M. Kaplan, The Future oft he American Jew, New York 1958 (wieder 1967).
28
Ross, Expanding, S. 187.
29
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. II.
30
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II.
31
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. I.
32
Ross, Expanding, S. 188.
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der sich auch die unten noch zu besprechende liberale Feministin Judith Plaskow verbunden sieht, ohne dies eigens zu thematisieren. All diesen dialektisch-theologischen Theorien gegenüber meint Ross indessen: »Die dialektische Theologie befriedigt jedoch nicht die traditionelle Anforderung, dass die ganze Tora als Gottes Wort betrachtet und dessen Autorität in all seinen Details als bindend erachtet wird.«33 Es ist dieses Dilemma zwischen der Anerkennung kontingent-historischer Bedingtheiten der Tora und der Anerkennung all ihrer Worte als göttlicher Offenbarung, das sie mit ihrer eigenen Deutung zu lösen versucht. Zuvor wirft sie noch einen kurzen Blick auf zwei orthodoxe Lösungsvorschläge, die sie wegen ihrer Unzulänglichkeiten ebenfalls ablehnt. Der eine der beiden Versuche entstammt dem der Frankfurter Neoorthodoxie von S. R. Hirsch entsprungene Mordechai Breuer.34 Breuer erklärt die ganzen Unstimmigkeiten des Toratextes als didaktische Strategie des göttlichen Autors. Demgemäß habe der göttliche Sprecher in ein und demselben Text unterschiedliche Generationen in unterschiedlicher Diktion angesprochen. Der dadurch entstandenen Vieldeutigkeit und Komplexität des einen Textes sei es alleine gelungen, die sehr verschiedenartigen Aspekte der Schöpfung in nur einem Text zu vermitteln. Darum sei die textkritische Methode des modernen Forschers, der den Text zerlegt, falsch. Richtig hingegen sei der Zugang des Gläubigen, der in diesen widersprüchlich erscheinenden Texten die vielfältigen göttlichen Geheimnisse entdeckt. Die Widersprüchlichkeit der biblischen Texte wird damit im Sinne der altrabbinischen Hermeneutik als Aufforderung zu einer vielfältigen Deutung und als Grundlage des Formenreichtums rabbinischer Auslegung des Toratextes gesehen.35 Ross, die einer modernen Texthermeneutik verpflichtet ist, lehnt diese Deutung von Breuer zurück, da sie durch die Fakten einfach nicht abgedeckt sei. Ein anderer orthodoxer Versuch ist der von David Weiss-Halivni.36 Halivni glaubt, die originalen Texte der Tora seien nach ihrer ursprünglichen Offenbarung tatsächlich verderbt, und erst viele Jahrhunderte später von dem nachexili33
Ross, Expanding, S. 189.
34
M. Breuer, The Study of Bible and the Primacy of the Fear of Heaven: Compatibility or Contradiction, in: S. Carmy (Hg.), Modern Scholarship in the Study of Torah. Contributions and Limitations, Lanham 1996, S. 159–180; zu S. R. Hirsch siehe Jüdisches Denken Bd. 3, S. 496– 537.
35
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234; Bd. 2. S. 200–209; K.E. Grözinger, Jüdische Schriftauslegung, in: Schrift Sinne. Exegese, Interpretation, Dekonstruktion, P. Chiarini, H. D. Zimmermann (Hrsg.), Berlin 1994, S. 11–36; und ders., Die hermeneutischen Paradigmata hasidischer Tora-Deutung. Prinzipien der Innovation, in: Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, W. Stegmaier (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2001, S. 188–207.
36
D. Weiss-Halivni, Peshat and Drash, New York 1991; ders. Revelation Restored: Divine Writ and Critical Responses, Westview 1997.
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schen Schriftgelehrten Esra wiederhergestellt worden. Diese Rekonstruktion habe Esra mit Hilfe von Midrasch-Deutungen am Text unternommen. Dieser von Esra inaugurierte Interpretationsprozess habe schließlich in den Auslegungsprozess der Mündlichen Tora gemündet, also in die vor allem halachische rabbinische Auslegungstradition, die nunmehr die göttliche Autorität der biblischen Tradition verbürgt. Aber auch hier kommt Ross zu einem negativen Urteil – und dies mit einem beachtlichen Argument. Denn in diesem Urteil spricht sie aus, dass die Herausforderungen der Tora-Texte durch den modernen jüdischen Feminismus allemale größer und grundlegender sind als alle oben schon aufgezählten. Sie sagt: »Der letztliche Mangel der Lösung von Halivni ist jedoch, dass auch er nicht das Zentrum des vom radikalen Feminismus gesehene Problem anspricht, welches die grundlegende Möglichkeit einer Verbalinspiration infrage stellt«37- gemeint ist das Problem der ungerechten Zurückstellung der Frauen durch die Tora. Diese Infragestellung des Dogmas von der Verbalinspiration des biblischen Textes wird bei den nachfolgenden feministischen Autorinnen stillschweigend oder explizit vorausgesetzt.
3.3.2 Offenbarungsglaube ist nicht Faktenglaube – Sprachspiele, nach Ludwig Wittgenstein Um die Frage der Offenbarung richtig verstehen zu können, muss man, so Tamar Ross, darauf achten, was mit der Aussage gemeint sei, die Tora sei Gottes Offenbarung. Die Auffassung, die Tora mache Fakten-Aussagen, ist falsch. Und nur wenn man glaubt, dass in den biblischen Texten Fakten behauptet würden, entstehen die ganzen oben kurz skizzierten Probleme. Nur bei einer solchen angenommenen angeblichen Tatsachenaussage werden die wahrgenommenen Widersprüche innerhalb der Tora wie auch die theologischen und moralischen Widersprüche zum logischen Problem – etwa die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, seiner Allmacht und gleichzeitiger Unfähigkeit die Geschichte gemäß solcher Gerechtigkeit zu steuern und dergleichen mehr. Die Glaubensaussagen, welche sich zur Göttlichkeit der Tora bekennen, gehörten einer völlig anderen Aussagekategorie an als der von Faktenaussagen. Solche Glaubensaussagen wollen vielmehr eine Werte- und Beziehungsaussage machen, eine Beschreibung des eigenen Standpunktes und der eigenen Weltanschauung geben: »Der Glaube an den göttlichen Ursprung der Tora dient vor allem als Grundlage für einen Lebens-Stil und eine Weltanschauung, an welche die Person durch persönliche
37
Ross, Expanding, S. 193.
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Auffassungen, Leidenschaft und praktische Überlegungen, in vielfältiger Weise unauflösbar gebunden ist.«38 Zur Begründung ihrer Auffassung beruft sich Ross auf Ludwig Wittgenstein,39 der mit seiner Konzeption der »Sprachspiele« den Lösungsansatz für sie bereitstellte. Nach dieser Lehre Wittgensteins spielt sich das menschliche Reden in sehr unterschiedlichen Sprachsituationen ab. So dass ein und derselbe Satz in unterschiedlichen Situationen sehr unterschiedliche Bedeutungen hat. Mit Ross: »Wenn mich die Bedienung in einem Café fragt, was ich wünsche und ich antworte: ›Ich warte auf den Messias‹, wird sie zurecht einen ängstlichen Blick auf mich werfen. Wenn ich aber denselben Satz im Rahmen des synagogalen Gebetes sage, ist dies nicht nur angemessen, sondern wird gar erwartet. Jemand der sagt ›Gut gemacht!‹, nimmt am Sprachspiel des Lobens teil. Sagt jemand, ›ich sehe zwei rote Stühle‹, befindet er sich im Sprachspiel der Beschreibung. Jedes Sprachspiel ist Teil eines ›Lebens-Aspektes‹, [einer Lebens-Aktivität], das heißt eines umfassenden Komplexes natürlicher und kultureller Voraussetzungen, die eine Weltanschauung begründen und deren Ausdruck ermöglichen. Sagen wir ›Guten Morgen‹, beschreiben wir gewiss nicht das Wetter, sondern nehmen am Sprachspiel des ›Grüßens‹ teil. Dieses letzte Beispiel zeigt, dass das menschliche Leben komplex ist, wir nehmen gleichzeitig an mehreren Sprachspielen teil. Nur wenn wir die verschiedenen Sprachspiele durcheinanderbringen, geraten wir zu Fehlurteilen und Konfusion.«40 Gerade in Letzterem sieht sie den Hauptfehler der angeführten orthodoxen Kollegen, welche aus ihrer Annahme heraus, die Tora gebe in sich oft widersprüchliche Fakten wieder, sich genötigt sehen, solches mit »logischen« Argumenten auszuräumen. Spricht jemand im religiösen Sprachspiel, will er demnach nicht Fakten mitteilen, sondern Einblick in sein grundlegendes Denken, Fühlen und Verhalten geben. Die religiöse Sprache will einer bestimmten Lebensweise Bedeutung verleihen, indem wir ihr eine göttliche Zielsetzung zuschreiben. »Der Glaube an die göttliche Offenbarung bedeutet für traditionelle Juden einfach Treue zur Tora und der von ihr verkündeten Lebensweise […].«41
38
Ross, Expanding, S. 194.
39
L. Wittgenstein, Lectures on Religious Belief, in: ders., Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology, and religious Belief, Los Angeles 1966; deutsch: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion, Göttingen 1966.
40
Ross, Expanding, S. 195.
41
Ross, Expanding, S. 196.
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3.3.3 Die Lösung – kumulative Offenbarung Ross ist der Auffassung, dass eine authentische Veränderung der Halacha nur unter der Voraussetzung geschehen kann, wenn damit zugleich die göttliche Autorität der überkommenen Auslegungstradition anerkannt wird. Aus diesem Grund muss sie sich eigens der Frage nach dem Verständnis der Offenbarung zuwenden und nach einer Lösung suchen, in der göttliche Offenbarung und menschliche Autorschaft zusammengehalten werden und nicht als Widerspruch erscheinen. Denn eine einmalig geschehene und ein für allemale fixierte Offenbarung kann eine solche geforderte innovative Weiterentwicklung des Gesetzes natürlich nicht dulden. Es entspricht ihren bisher beschriebenen Ansichten, dass sie die Lösung in der Tradition selbst sucht. Und jeder Kenner der jüdischen Tradition weiß, dass sich hierfür zuallererst die rabbinische Konzeption der doppelten Tora anbietet, nach welcher die Mündliche Tora die Aufgabe der Ausfaltung der Schriftlichen Tora wahrnimmt und sie stets den Gegebenheiten anpasst, dies obwohl in der orthodoxen Auffassung die Utopie gilt, hier werde nichts Neues entwickelt, sondern nur das aufgedeckt was seit der Sinaioffenbarung bereits in der Tora enthalten war.42 Dies gilt auch noch da, wo sich zahlreiche Kommentare zur Traditionsliteratur als »Ḥidduschim«, als Novellen, bezeichnen. Diese Sicht kann Ross allerdings noch nicht genügen, denn sie ist, wie Avi Sagi in seiner Auseinandersetzung mit Leibowitz,43 der Auffassung, dass die Innovationen in der Halacha durch die sich wandelnden sozialen und historischen Umstände hervorgebracht wurden und werden. Und in dieser Interpretationstätigkeit der rabbinischen Ausleger sieht sie, wie schon der Reformtheologe Abraham Geiger im 19. Jahrhundert, das Weiterwirken des Heiligen Geistes, dem Träger der prophetischen Offenbarung.44 Sie verweist noch auf weitere Texte und Autoren der rabbinischen Literatur, welche den Gedanken einer revelatio continua vertreten. So den von der Kabbala geprägten Jeschajahu Horowitz in seinem weit verbreiteten Buch Schne Luchot ha-Brit, der die Auffassung vertrat, dass die göttliche Stimme vom Sinai weiter durch die Geschichte erschallt und immer präsent ist.45 Aber auch diese Vorstellung einer revelatio continua im Sinne des Reformtheologen Abraham Geiger, kann der orthodoxen Denkerin nicht angemessen erscheinen, weil beim Gedanken einer kontinuierlich voranschreitenden Offenbarung die Gefahr bestehen mag, dass der Wert der vorausgegangenen Offenbarungsstufen relativiert wird, oder gar als obsolet betrachtet werden kann. Da42
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
43
Siehe Jüdisches Denken. Bd. 5, Teil IV, Kap. I, Leibowitz.
44
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 601–604.
45
Vgl. dazu K.E. Grözinger, Die Gegenwart des Sinai, Erzählungen und kabbalistische Traktate zur Vergegenwärtigung des Sinai, FJB 16 (1988), S. 143–183.
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rum sucht sie nach einem Weg, der die Innovation ermöglicht, aber doch das Recht und die Berechtigung oder gar Notwendigkeit der früheren Offenbarungsstufen nicht antastet. Ihre Lösung nennt sie »kumulative Offenbarung«. Damit will sie sagen, dass die in der Geschichte voranschreitende Offenbarung die vorausgegangenen Offenbarungsstufen nicht verdrängt, sondern dass diese stets als Leitschnur für das Neue bestehen bleiben. Es wirkt hier deutlich Gadamers Konzeption vom Verschmelzen der Horizonte nach. Denn die je neuen Ausleger bringen in die Lektüre der alten Texte nicht nur ihre eigene Situation ein, sondern sie sind von einer langen Auslegungskultur geprägt, welche ihre Lektüre und Exegese prägt, die wie der auszulegende Text selbst das Ergebnis der Auslegungsarbeit wesentlich mitgestaltet. Hinzu kommt, dass die rabbinische Tradition ja mehrfach von der Vielfältigkeit der Auslegungsmöglichkeit jedes Toraverses spricht, was schließlich im 13. Jahrhundert zur Entwicklung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn führte, nachdem jedes Stück Tora zugleich nach dem Wortsinn, nach der Philosophie, der Moral und dem kabbalistischen MysterienSinn auszulegen ist.46 Für die traditionellen Leser des Buches von Ross ist es natürlich dienlich, dass noch weitere Autoren der Tradition für eine Offenbarungskonzeptionen angeführt werden, die nicht einer ein für allemale festen, am Sinai geschehenen Offenbarung das Wort reden, sondern eben einen voranschreitenden Offenbarungsprozess konstatieren. Für den hießigen Zusammenhang kann dies beiseite bleiben. Das Resultat all der von ihr angeführten Traditionszeugen ist nach ihrer Auffassung: »Das Besondere der kumulativen Konzeption der Tradition ist, dass sie ermöglicht, dass die Tora zugleich ganz göttlich und ganz menschlich sein kann, weil so sogar die äußeren Zeichen der Tora Reflektionen des Göttlichen sind«47 Sie geht noch einen Schritt weiter und will die kumulative Offenbarung nicht nur im exegetischen Geschäft sehen, sondern in den Entwicklungen der Geschichte und damit in den historischen Widerfahrnissen Israels. Es ist die geschichtliche Vorsehung Gottes, zu der auch die Initial-Offenbarung am Sinai gehört, die nunmehr als eine Stufe zu dieser kumulativen Offenbarung gehört. Diese Auffassung geht so weit, dass für sie dann selbst das von ihr doch bekämpfte Patriarchat Teil eines weisen Gesamtplanes Gottes ist. Das Resultat und der Höhepunkt dieser gesamten Erörterung der Offenbarung in Geschichte und Toraauslegung ist, dass unter diesen Gesichtspunkten na46
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2. 200–209.
47
Ross, Expanding, S. 208.
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türlich auch der moderne Feminismus als ein Teil dieser Offenbarungsgeschichte anerkannt werden kann und muss. Mit ihrer breiten Diskussion der in der Tradition zu findenden Auffassungen einer kumulativen Offenbarung will sie den Frauen Mut und den traditionsgebundenen Männern schmackhaft machen, dass der Feminismus mithin strukturell tatsächlich nichts wirklich Neues in der Offenbarungsgeschichte ist, wiewohl er inhaltlich eine Revolution darstellt: »Feministen mögen misstrauisch dreinschauen, wenn man das Patriarchat als Manifestation der göttlichen Vorsehung betrachtet, oder gar als Stufe der Entfaltung des göttlichen Wesens. In gleicher Weise können wir nämlich dann das Entstehen des Feminismus als eine neue Offenbarung des göttlichen Willens verstehen, dann können wir eine neue Hochschätzung und Bedeutsamkeit, eine völlige Zugehörigkeit und Wertigkeit der weiblichen Spiritualität in unserer Zeit als ein teures religiöses Privileg betrachten. Ein kumulatives Verständnis der Offenbarung erlaubt es uns, das Phänomen des Feminismus selbst – auch wenn es von Quellen außerhalb des Judentums herzurühren scheint – als Gabe Gottes zu verstehen. In diesem Sinne ist die Aufnahme des Feminismus in das Judentum nichts anderes als die Absorbierung des Aristotelismus durch den Maimonidischen Rationalismus oder die mancher gnostischer und neoplatonischer Traditionen durch die Kabbala etc. […] Darum sollte man [das Hören auf die feministischen Forderungen] als eine spirituelle Aufgabe erster Ordnung (als heiligen Gottesdienst) betrachten.«48
48
Ross, Expanding, S. 210.
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IV. EINE FEMINISTISCH-JÜDISCHE THEOLOGIE – JUDITH PLASKOW (GEB. 1947) 1.
Biographisches
Judith Plaskow wurde 1947 in Brooklyn geboren. Nach einer Ehe, aus der ein Sohn hervorgegangen ist, hat sie sich 1980 als Lesbierin »geoutet« und sich 1986 mit einer Frau verbunden. Sie ist Professorin für Religious Studies am Manhattan College in New York. Im Reformjudentum erzogen, hat sie an der Yale Divinity School protestantische Theologie studiert und über Reinhold Niebuhr und Paul Tillich mit der Arbeit Sex, Sin and Grace. Womens Experience and the Theologies of Reinhold Niebuhr and Paul Tillich (1980) promoviert – eine Ausbildung, die ihre feministischen Texte tiefgreifend prägt, wie auch ihre Freundschaft mit christlichen Feministinnen. Ihr theologisches Hauptwerk ist das 1990 erschienene Buch Standing Again at Sinai. Judaism from a Feminist Perspective. Weitere Publikationen sind eine Anzahl einschlägiger Aufsätze, die auch gesammelt erschienen.1 Judith Plaskow war Mitbegründerin der feministischen Gruppe Benot Esch (Feuer-Frauen), des Journal of Feminist Studies in Religion und amtierte in verschiedenen Positionen der American Academy of Religion unter anderem als deren Präsidentin. Vor ihren Ämtern am Manhattan College war sie Assistant Professor an der Wichita State University in Kansas.
2.
Grundlagen des Denkens
Es ist ihre wissenschaftlich-theologische Ausbildung, welche Plaskow zur Autorin der ersten jüdisch-feministischen Theologie werden ließ. In den Darlegungen ihrer denkerischen Grundpositionen wirkt das historisch-kritische Denken der protestantischen Theologie nach, deren Grundlagen sie ihren jüdischen Lesern und Leserinnen erst als legitime Zugangsweise zu religiösen Traditionen erläutern musste. Zentral hierfür ist: »Auf der einen Seite hat das moderne wissenschaftliche Denken und die historische Wissenschaft die heilige Autorität der traditionellen Quellen untergraben. Religiöse Texte sind, so lehren sie uns, nicht die Niederschrift einer
1
J. Plaskow, Standing Again at Sinai. Judaism from a Feminist Perspective, San Francisco 1990; zu Plaskows Biographie siehe Jewish Womenʼs Archive, https://jwa.org/encyclopedia/article/plaskow-judith
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göttlichen Offenbarung, sondern das Werk menschlicher Wesen, die in spezifischen sozialen und historischen Kontexten lebten und damit auf historische und kulturelle Bedürfnisse reagieren.«2 Angesichts einer solchen Verortung der überkommenen religiösen und »offenbarten« Texte ist es plausibel, ja notwendig, dass in derartigen, von der menschlichen Gesellschaft hervorgebrachten, Texten auch die »Erfahrungen der Frauen« Eingang finden müssen, sollen diese Traditionen nicht als defekt betrachtet werden müssen, was Plaskow der gesamten jüdischen Tradition tatsächlich vorwirft. Was den Begriff der spezifischen weiblichen Erfahrung betrifft, warnt Plaskow vor der Auffassung, diese seien naturgegeben und dem weiblichen Körper immanent. Vielmehr vertritt sie die in der gender-Theorie übliche Meinung, dass die weiblichen Erfahrungen kulturell bedingt sind, und sich zum Beispiel auch bei jüdischen Frauen, die zu verschiedenen Zeiten oder aus unterschiedlichen jüdischen Kulturkreisen stammen, kulturell unterschiedlich ausprägen – trotz der gemeinsamen körperlichen Gegebenheiten aller Frauen. Da die Autorin, wie schon in der voranstehenden Einleitung zum jüdischen Feminismus sichtbar wurde, der Auffassung ist, die biblisch-jüdische Tradition sei von einer tiefen Ungerechtigkeit den Frauen gegenüber geprägt, tritt sie dieser Tradition mit einer bewussten Skepsis, ja mit Argwohn entgegen. Zugleich aber beharrt sie darauf, dass diese Tradition auch die ihre ist, ohne welche und ohne Erinnerung an sie, auch ihr eigenes Judentum keine Basis mehr haben kann. Sie übernimmt deshalb von ihrer christlichen (römisch-katholischen) Mitstreiterin Elisabeth Schüssler Fiorenza eine doppelte, negativ-positive Hermeneutik des Verdachts /Argwohns einerseits und der Erinnerung andererseits – »hermeneutics of suspicion« und »hermeneutic of remembrance«.3 Die Hermeneutik des Argwohns tritt an die biblischen und rabbinischen Texte mit der Vermutung heran, dass sie androzentrisch sind und patriarchalische Interessen verfolgen. Als dialektischen Ausgleich und Widerpart zum Argwohn betont die Hermeneutik der Erinnerung, dass eben diese Traditionen dennoch die stärkste Verbindung zum eigenen Judentum darstellen und alle Juden, eingeschlossen die Frauen, nachhaltig geprägt haben. Angesichts dieser Tatsache können und müssen diese einseitigen Traditionen trotzdem zugleich als das Fundament für eine Rekonstruktion der Geschichte der jüdischen Frau dienen, dank neuer Fragestellungen und kritischer Freiheit diesen Texten gegenüber. Ein solcher kritischer Zugang den Texten gegenüber, der die überkommenen Autoritäten zum Verstehen dieser Texte infrage stellt, musste sich allerdings sogleich vorhalten lassen, dass ein derartiger neuer Zugang zur Tradition in einen 2
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 15–16.
3
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 13.
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nicht begründbaren Individualismus abgleiten müsse. Um dem zu begegnen, entwickelt Plaskow die schon oben geäußerte Auffassung von der sozialen und kulturell bedingten Herkunft dieser Texte zu einem grundlegenden Axiom auch der Interpretation dieser Texte weiter. So wie sie einst als Ausdruck kultureller und gesellschaftlicher Positionen entstanden,4 so ist auch die Auslegungsautorität gesellschaftlich-kulturell begründet: »Die Bibel entstand in einem Kontext in welchem die patriarchalischen gesellschaftlichen Lebensweisen gefestigt und gerechtfertigt werden sollten. Die Berichte von der Offenbarung dienten und entsprachen zum größten Teil dieser Aufgabe und brechen an keiner Stelle mit ihr. Die weiblichen Offenbarungs-Erfahrungen sind […] [darum] weitgehend aus diesen Quellen ausgelassen. Diese Geschichten wurden aus einer androzentrischen Perspektive erzählt und das Gesetz erzwang die Unterwerfung der Frau in der patriarchalischen Familie. Insofern die biblischen Texte die Frauen zum Schweigen bringen und ihrer Unterdrückung dienen, müssen sie als patriarchalisch kritisiert werden. Die Autorität, welche eine solche Kritik begründet, ist jedoch keine individuelle Erfahrung oder eine private Intuition. Es ist vielmehr die Erfahrung spezifischer Gemeinschaften, die für den religiösen Wandel kämpfen. So ist zum Beispiel die jüdisch-feministische Gemeinschaft, diejenige Gemeinschaft, welche für mich die zentrale Autorität darstellt, denn in dieser Gemeinschaft findet meine Identität ihren vollkommensten Ausdruck. […] Gerade so wie die Juden der Vergangenheit Gott in gesellschaftlichen Kontexten erfuhren und diese Erfahrungen in diesen gemeinschaftlichen Kontexten deuteten, die das, was sie sahen und hörten, geprägt hatten, in gleicher Weise lesen auch wir ihre Worte und erfahren Gott in Gemeinschaften – Gemeinschaften, welche mit den ihrigen in einer Kontinuität stehen, sich aber doch von ihnen unterscheiden. Es ist die zeitgenössische feministische Gemeinschaft, die mich lehrte, weibliche Erfahrung zu bewerten und an ihr teilzunehmen. Es ist diese Gemeinschaft, die mich lehrte, dass die jüdischen Quellen parteiisch und oppressiv, gelegentlich ekelhaft und einfach falsch sind. […] [Ohne andere jüdische Kontexte zu verleugnen oder deren Zugehörigkeit zu ihnen zu leugnen] bedeutet dies, dass meine wichtigsten GottesErfahrungen sich in dieser Gemeinschaft ereigneten, und diese Gemeinschaft mir die Sprache schenkte, sie auszudrücken.«5
4
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 19.
5
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 20–21.
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Das alles bedeutet, Religion ereignet sich in menschlicher Gemeinschaft, da werden die religiösen Erfahrungen gemacht und von da gewinnt man die Sprache, sie zum Ausdruck zu bringen. Es ist dies eine Auffassung, wie ich sie an mehreren Stellen bezüglich der mystischen Sprache gemacht habe. Sie versucht ein unbeschreibbares Erlebnis mit Hilfe der von der menschlichen Sprachgemeinschaft, seien dies die Philosophen oder die Theologen, zum Ausdruck zu bringen. Es ist die vorgegebene sprachliche Kultur, welche das Erleben und dessen Ausdruck prägt und damit erst in der kulturellen Welt sichtbar macht.6
3.
Erinnerung und Gegenwart – die Tora
3.1
Die Erzählungen der Geschichte Israels
Judith Plaskow ist der Auffassung, dass eine Heilung des Judentums und die Einbeziehung auch der zweiten, weiblichen, Hälfte des jüdischen Volkes in dessen religiös-kulturelles Leben eine grundlegende Rekonstruktion des Judentums erfordert, wie sie in Anlehnung an den Kaplanschen Begriff vom Reconstructionism7 sagt. Eine solche Rekonstruktion muss bei einer Religion, in welcher die Erinnerung ein zentrales Gebot ist,8 gerade auch die Erinnerung und die zu erinnernde Vergangenheit in die Neugestaltung einbeziehen. Dies umso mehr, als die Erinnerung hier nicht nur ein gedankliches Wahrnehmen einer fernen verblichenen Vergangenheit darstellt, sondern wie die Pesach-Haggada dies formuliert, ein konkretes gegenwärtiges Nachleben und Aktualisieren dieser Vergangenheit bedeutet. Die Notwendigkeit, in die Rekonstruktion des Judentums auch die Vergangenheit einzubeziehen, demonstriert sie, wie oben in der Einleitung (3.5) schon kurz vermerkt, an einem besonders drastischen Beispiel, nämlich der Si6
Vgl. K. E. Grözinger, Jüdische Mystik, in: Handbuch des europäischen Judentums, hrsg. Von E. V. Kotowski, H. J. Schoeps, H. Wallenborn, Darmstadt 2001, Bd. II, S. 127–137; K. E. Grözinger, Types of Jewish Mysticism and their Relation to Theology and Philosophy, in: Expérience et écriture dans le religions du livre, hg. Von P. Fenton et R. Goetschel, Leiden, Boston, Köln 200, S. 15–23; K. E. Grözinger, Formen jüdischer Mystik in: D. S. Ariel, Die Mystik des Judentums, München 1993, S. 7–20; K. E. Grözinger, Phänomenologie der Mystik im Judentum und ihre theologische Deutung, in: W. Achtner (Hg.) Mystik als Kern der Weltreligionen? Eine protestantische Perspektive, Fribourg & Stuttgart 2017, S. 188–209; K. E. Grözinger, Jüdische Mystik, in: Ch. V. Braun & M. Brumlik (Hgg.). Handbuch Jüdische Studien, Köln et al. 2018, S. 191–210.
7
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Die jüdischen Denominationen Nr. 6; und Teil III. Kap.
8
Zu diesem Gebot s. K.E. Grözinger, Gedenken, Erinnern und Feste als Wege zur Erlösung des
IV zu Kaplan; zum Folgenden siehe bei Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 25–60. Menschen und zur Transzendenzerfahrung im Judentum, in: Alltag und Transzendenz, hrsg. V. B. Casper und W. Sparn, Freiburg i. Br. 1992, S. 19–49.
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Judith Plaskow
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naioffenbarung. Dort gebietet der vom Berg gestiegene Moses dem Volk Israel: »Seid in drei Tagen bereit, nähert euch keiner Frau!« (Ex 19,15). Plaskow kommentiert dies wie folgt: »Hier, gerade in dem Augenblick als das jüdische Volk am Sinai steht, bereit den Bund zu empfangen – nicht den Bund mit den einzelnen Patriarchen, sondern mit dem gesamten Volk – gerade da, als Israel bebend darauf wartete, dass die Gegenwart Gottes auf den Berg herabsteigt, spricht Moses die Gemeinde nur als Männer an. […] Moses sagt nicht ›Männer und Frauen nähert euch nicht einander‹. Im zentralen Augenblick der jüdischen Geschichte sind die Frauen unsichtbar. Ob die Frauen ebenfalls vor Furcht und Erwartung zitternd dastanden, was sie vernahmen, als die Männer diese Worte Moses hörten, wissen wir nicht. Die Erfahrung der Frauen war es nicht, was den Chronisten interessierte und was die Tora prägte und formte.«9 Diese offensichtliche Ungerechtigkeit der Tora ist für sie paradigmatisch für die gesamte biblische und rabbinische Chronistik, für die Inhalte des Bundes und seiner Gesetze gleichermaßen. Dies, obwohl auch schon die Rabbinen das leicht skandalöse dieser biblischen Darstellung empfunden haben. Deshalb legten sie den am Beginn dieser Sinaigeschichte stehenden Vers, in dem Gott dem Mose gebietet »Sage dem Haus Jakobs und sprich den Söhnen Israels« (Ex 19, 3) in einem die Frauen einschließenden Sinn aus: »Das Haus Jakobs meint die Frauen und die Söhne Israels meint die Männer.«10 Diese Korrektur hatte allerdings, so Plaskow, keine weiteren Folgen für die rabbinische Toraauslegung. Dem naheliegenden Einwand, es handle sich hier doch nur um eine alte Erzählung ohne wirkliche Bedeutung für die Gegenwart, hält sie zurecht entgegen, dass diese Stelle ja, wie oben schon gesagt, im jährlichen Toralese-Zyklus und nochmals als Festtagslesung zum Schavuʻot-Fest, dem Fest der Toraoffenbarung, vor versammelter Gemeinde verlesen wird, weshalb »wir Frauen jedes Mal erneut hören, wie wir zur Seite geschoben werden und einem Gespräch unter Männern und zwischen Gott und den Männern lauschen.«11 Es ist ein ewiges Ausgeschlossensein, die Frauen sind keine gleichberechtigten Partnerinnen dieses Bundes, ja sind sie überhaupt Teil dieses Israel? Mit Bezugnahme auf die allenthalben bekannte und anerkannte Neuerzählung, das »rewriting« der Tora durch den rabbinischen Midrasch, der dafür sorgte, dass die altorientalischen biblischen Texte auch für die neue und grundstür9
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 25
10
Plaskow, S. 27 zitiert diesen schon älteren Midrasch nach dem mittelalterlichen Kommentator
11
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 26.
Raschi.
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zend veränderte jüdische Wirklichkeit in der Antike nach der Zerstörung des zweiten Tempels noch etwas auszusagen hatten, fordert sie entsprechende Anstrengungen, die Tora und die gesamte jüdische Tradition neu zu schreiben, damit sie in der neuen Gegenwart, vor allem der Frauen, noch als aktuelle, hilfreiche und somit »offenbarte« Botschaft wahrgenommen werden kann. Die Geschichte ist für das lebendige Bekenntnis zum Judentum eben nicht nur Vergangenheit: »Weil die Macht der Vergangenheit in der Gegenwart so groß ist, haben die Rabbinen nach der Zerstörung des zweiten Tempels, als sie das jüdisch religiöse Leben so grundlegend reformierten, auch die jüdische Erinnerung rekonstruiert, um sich selbst in deren Kontinuität zu sehen. Die jüdische Gegenwart ist so tief in der jüdischen Geschichte verwurzelt, dass die sich in der Wirklichkeit vollziehenden Veränderungen, stets in die Vergangenheit zurückprojiziert wurden, so dass sie aus der Vergangenheit als die Grundlage für die Gegenwart gelesen werden konnten. Wieder und wieder finden wir in den rabbinischen Interpretationen gegenwärtige Praktiken in die Vergangenheit zurückprojiziert, so dass die Traditionskette ungebrochen bleiben konnte.«12 Um diese jüdische Vergangenheit mit der jüdischen Gegenwart in Einklang zu bringen, nennt Plaskow verschiedene, schon einige Zeit im Gange befindliche, Bemühungen der Feministinnen aus den diversen dafür relevanten Bereichen. Da ist zunächst die Nacherzählung der biblischen und rabbinischen Geschichte. Sie kann zum einen mit Hilfe der modernen Geschichtswissenschaft ins Werk gesetzt werden – man denke an die Ergebnisse der modernen Bibelwissenschaft –, die verborgene und verschüttete Traditionen wieder aufdeckt, die für die Moderne und speziell für die Frauen relevant sein können. Des weiteren kommt die von den Rabbinen praktizierte Methode des Midrasch in Frage, der, wie gesagt, nicht historisches Wissen produzierte, sondern, Identifikationserzählungen, die als Bekenntnisse zur eigenen Tradition in der Gegenwart dienten (zum Beispiel das Exodusgeschehen). Der alte rabbinische Midrasch produzierte nicht, wie dies einst Ḥajjim Josef Yerushalmi in seinem Buch Erinnere dich (Zakhor)13 beschrieb, Historiographie, sondern Erzählungen, die zur Identifikation mit dem Erzählten dienen konnten. Dieses Nacherzählen und Neuerzählen der Geschichte ist für Plaskow zentral, da es nach ihrer Auffassung keine Neudefinition des Ju-
12
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 30.
13
Vgl. Y. H. Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988/1996.
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dentums ohne gleichzeitige Neudefinition der Vergangenheit geben kann, weil die Gegenwart aus der Vergangenheit wächst. In dieser Neuerzählung der Geschichte Israels muss vor allem der unsichtbare Teil dieser Geschichte, nämlich die Rolle der Frauen, sichtbar gemacht werden, und dies auf beiden genannten Ebenen: Auf der historischen Ebene können außerrabbinische Quellen und archäologische Funde zeigen, dass auch Frauen in manchen jüdischen Kreisen Führungsämter innehatten, außerdem dass in biblischen Zeiten die Frauen auch weibliche Gottheiten verehrten, so dass die Archäologie sogar zeigen konnte, dass neben JHWH zuweilen dessen Aschera als Partnerin genannt wird.14 So muss auch die Rolle der herausragenden biblischen Frauen, Mirjam, Hulda, Schifra und Puah neu geschrieben und ins Bewusstsein gehoben werden – haben doch zum Beispiel die beiden Letzteren, die Hebammen in Ägypten, die Geburt des Moses und damit den Exodus erst ermöglicht, und dennoch wurden sie in der traditionellen Pesach-Haggada nicht einmal genannt. Mirjam, die Schwester von Moses, hatte ihrerseits Offenbarungs- und Autoritätsansprüche, die in der Tradition gar als strafwürdig dargestellt wurden. Die historische Nacherzählung muss außerdem Texte heranziehen, die in der rabbinischen Literatur nicht figurieren, etwa die jiddischen Frauengebete, die Techines, in denen die Erlebnisse jüdischer Frauenfrömmigkeit sichtbar werden.15 Da auch die synagogale Liturgie ein Teil solcher Nacherzählung ist, müssen in den Gebeten neben den Erzvätern als den Trägern der Gottesverehrung, der Offenbarungen und des Bundes ebenso die Mütter Sara, Rebekka, Leah und Rachel genannt werden. Wo die Geschichtswissenschaft nicht weiterhilft, kann und soll der moderne feministische Midrasch neue Erzählungen und Deutungen schaffen, die sich zur Identifikation mit der jüdischen Vergangenheit – gerade auch aus der Sicht der Frauen – eignen. Beispiele dafür gibt es schon zuhauf – die unten zu besprechende Lynn Gottlieb ist dafür paradigmatisch. All dies, so betont Plaskow, ist natürlich für die sogenannten normativen jüdischen Texte eine Herausforderung. Diese muss aber angenommen werden, denn: »Wir können die traditionellen Texte nicht einfach als Offenbarung betrachten, als würden sie die gesamte jüdische Erfahrung von der Natur Gottes und
14
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 53–65.
15
Zu solchen Frauengebeten siehe Ch. Weissler, The Traditional Piety of Ashkenazic Women, in: A. Green (Hg.) Jewish Spirituality. From the Sixteenth-Century Revival to the Present, London1987, S. 245–275; und die oben Teil V, Kap. II, Adler, Nr. 4 angegebene Literatur von Weissler.
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seiner Gebote repräsentieren. Die ›normativen‹ Quellen geben die Sichtweisen der historischen Gewinner wieder, Gewinner, deren Siege oft auf Kosten der Frauen errungen wurden und von religiösen Formen, welche den Frauen nur eingeschränkte Macht und Spielraum gewährten.«16 Ein wesentliches Element der Gestaltung des jüdischen Bewusstseins ist natürlich in besonders nachhaltigem Maße der Ritus. Und gerade hier beklagen die Feministinnen ein schmerzliches Defizit, man denke an die Beschneidung und an die Bar-Mizwa-Riten, welche den männlichen Kindern eine Rolle und Bedeutung zumessen, für die es kein weibliches Pendant gibt. Um diesen Mangel auszugleichen haben viele Feministinnen die an sich schon festlichen und von Tanzelementen begleiteten Neumond-Riten (Rosch Ḥodesch-Riten)17 zu weiblichen Riten ausgebaut. Gestützt waren sie dafür schon durch den Babylonischen Talmud, in dem R. Acha berichtet, dass bei ihnen auch die Frauen den Neumondsegen sprechen.18 Demgegenüber gibt jedoch Jeschaʻja Horowitz (1665–1630) in seinen Schne Luchot ha-Brit einen Kommentar zur Sache, der natürlich für die Deutungen der Frauen in seiner Zwielichtigkeit geradezu verlockend und herausfordernd sein musste. Er sagt da: »Noch nie haben wir gesehen, dass die Frauen den Heiligungs-Neumondsegen sprechen […], weil den Schaden des Mondes die erste Frau verursacht hat, also Evas Sünde. Und sie halten sich aus Scham davon ferne, obwohl sie dafür später eine Wiedergutmachung fanden, nämlich beim Goldenen Kalb, bei dem sie nicht sündigten und nicht auf die Urschlange, den Satan, den Bösen Trieb, hörten. Darum ist der Neumond (Rosch Ḥodesch) den Frauen übergeben, die ihn mehr hüten als die Männer.«19 In der Pesach Haggada wurden von den feministischen Frauen zum Beispiel die beiden genannten mutigen Hebammen eingefügt. Um die Beschneidungs- und Bar-Mizwa-Riten zu egalisieren hat man Geburts-Riten für Mädchen eingeführt – etwa eine Fußwaschung. Manche haben eine besonders große Nähe zur Knaben-Beschneidung versucht und eine Durchstoßung des Hymens vorgeschlagen oder das Untertauchen in einer Mikwe (dem Ritualbad) etc.
16
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 50.
17
Vgl. Moon, Blessing of, in: Encyclopedia Judaica, Bd. 12, Sp. 291–293.
18
Babyl. Talmud, Sanhedrin, 42a.
19
Schne Luchot ha-Brit, Schaʻar ha-ʼOtiot, § 100, Ausgabe Warschau 1862 (Neudruck), S. 54a.
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3.2
Judith Plaskow
Die Halacha – als Kernproblem
Die Halacha, die das jüdische Leben der Voremanzipationszeit vollkommen prägte und dies bis heute im orthodoxen Judentum – und hinsichtlich der Kaschrut und des Standesrechtes in Israel –, ist natürlich ein Hauptfokus der feministischen Kritik. Natürlich, und darauf weist Plaskow eigens hin, liegt die Rechtsproblematik bei den unterschiedlichen jüdischen Denominationen jeweils anders – anders, wo wie bei den orthodoxen Feministinnen, die Halacha noch Anerkennung findet – siehe das Kapitel zu Tamar Ross – und anders bei Angehörigen einer liberalen Richtung, die sich von der traditionellen Halacha ohnehin in weiten Teilen gelöst hat – wie im Falle von Plaskow selbst. Die Halacha bleibt insofern das Hauptproblem, als sie in das Leben der Frauen direkt und massiv eingreift, auch wenn sie keine Ambitionen zur Mitwirkung im religiös-kultischen oder theologischen Bereich hegen. Denn da, wo die jüdische Frau nicht auf das säkulare staatliche Recht ausweichen will oder kann, ist sie all den schweren Konsequenzen ausgeliefert, die im Falle einer Ehekrise auftreten, wie sie eingangs schon beschrieben wurden. Erst an zweiter Stelle folgt als schmerzlicher Punkt der rechtliche Ausschluss aus den zentralen religiösen Funktionen, also die verweigerte Zählung im Beter-Quorum (Minjan) und der Ausschluss von der aktiven Toralesung. Oft hört man in dieser Hinsicht von traditioneller Seite, dass es doch eine Erleichterung für die Frauen darstelle, dass sie von all jenen Geboten befreit seien, für die eine feste Zeit vorgesehen ist. Das 1891 zuerst erschienene und nach mehreren Neudrucken zuletzt 1971 wieder aufgelegte Standardwerk Die jüdische Religion von Michael Friedländer sagt dazu: »›Frauen sind von der Erfüllung aller Vorschriften befreit, die von einer bestimmten Zeit abhängig sind‹ (Mischna, Kidduschin 1, 7),20 um eine Kollision dieser Pflichten mit ihren Hauptpflichten im Hause zu vermeiden. So kommt es, daß es jüdische Frauen gibt, die treu der ererbten Religion anhangen und doch selten zur Synagoge gehen. An Wochentagen wird die Synagoge nur ausnahmsweise von Frauen besucht. Aus diesem Grunde dürfen Frauen nicht zum Minjan gezählt werden, d. h. zu der Zahl, die zu einem öffentlichen Gottesdienste erforderlich ist (Tefilla bazibbur). Dies und Ähnliches geschieht aus Rücksicht auf die Frauen und
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Der Babylonische Talmud, Kidduschin 34a-b, zählt dafür folgende Gebote auf: Festhütte (Sukka), Feststrauß (Lulav), Schofar, Zizit (Schaufäden), Tefillin. Es gibt aber auch andere Gebote, von welchen die Frauen befreit sind, ohne an eine feste Zeit gebunden zu sein: Studium der Tora, Fortpflanzung, Pidajon ha-Ben (Auslösung des Erstgeborenen).
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ihre häuslichen Pflichten, keineswegs aber, weil man sie für minderwertig hielt.«21 Solche Darstellungen hält Plaskow für reine Apologetik. Sie hält dem entgegen, dass nach jüdischem Recht jemand, der zu einem Gebot verpflichtet ist, höher steht als der- oder diejenige, die dies nur freiwillig tut. Dies kann man zum Beispiel daran erkennen, dass die freiwillige Täterin jemanden anderen nicht in dessen Pflichterfüllung vertreten kann: Darum können die Frauen nicht im Minjan mitgezählt werden und nicht die Toravorlesung im Auftrag der Gemeinde durchführen. Die Frauen sind demnach, so versteht sie dies, nur peripherische Juden.22 Im Gegensatz zu orthodoxen Feministinnen glaubt Plaskow nicht, dass es mit einer Korrektur einzelner Vorschriften der Halacha zur Erleichterung für die Frauen getan ist. Nach ihrer Auffassung ist die der Halacha zugrundeliegende »Rechtsphilosophie«, die das gesamte rabbinische Recht bestimmt, an den männlichen Interessen ausgerichtet, ohne deren Veränderung das gesamte System nicht korrigierbar sei. Diese zugrundeliegende Rechtsphilosophie ist eben der Androzentrismus. Er bestimmt nicht nur die einzelnen Gesetze, sondern noch viel grundlegender die im Rahmen dieses Rechtes bearbeiteten Fragestellungen, die Auffassungen davon, was regelungsbedürftig ist und was nicht. Die Halacha lässt ganze Fragenbereiche aus, die gerade für die Frauen von Bedeutung wären, trotz der überwältigenden Quantität an »Frauengesetzen« in dem umfangreichen Textkomplex des talmudischen Traktates zu den Frauen. Plaskow zeigt dies anhand einer für das moderne Moral- und Rechtsempfinden skandalös erscheinende Debatte im Talmud, in welchem es um die Formulierungen des Ehevertrages, der Ketubba, geht. Hier werden, so Plaskow, einfach die falschen Fragen gestellt, weil das System nur die männlichen Interessen im Auge hat. Sie bezieht sich dabei auf eine Darstellung von Rachel Adler: »Rachel Adler zitiert die Debatte im Talmud-Traktat Ketubbot, ob eine Frau hinsichtlich der Formulierungen im Ehekontrakt als Jungfrau zu betrachten sei, wenn ein Mann mit ihr Geschlechtsverkehr hatte, als sie noch keine drei Jahre alt war. Da nun die Rabbinen zugunsten einer solchen Frau entscheiden, nämlich sie dennoch als Jungfrau zu beurteilen sei, würde der Fall nicht unter die Kategorie halachischer Mangelhaftigkeit fallen. Das wirkliche Problem an dieser Diskussion ist jedoch nicht wie die talmudischen Gelehrten diese Frage beantworten, sondern dass diese Frage überhaupt gestellt wird. Gewiss ist aus Sicht der Frauen die wichtigste Frage nicht, ob das kleine Mädchen befleckt ist, sondern ›wie solches überhaupt geschehen kann. Wie 21
M. Friedländer, Die jüdische Religion, Basel 1979, S. 376.
22
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 62.
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kann ein solcher Mann moralisch für sein Tun verantwortlich gemacht werden und welche Kompensation steht dem Kind zu‹. Aus der Sicht eines Rechtssystems, in dem die Sexualität der Frau der Besitz des Vaters oder des Ehemanns ist, können solche Fragen erst gar nicht aufkommen.«23 Solche Beispiele zeigten, dass die grundlegende Frage sein müsse, zu untersuchen, was dieses Recht den Frauen angetan hat, wie es sie für untauglich erklärte und marginalisierte und ihre Belange übergangen habe. Aus alledem folgt, dass es eine Halacha ohne Beteiligung der Frauen an deren Formulierung nicht geben darf. Neben solchen rechtsphilosophischen Kritikpunkten spekuliert Plaskow außerdem darüber, ob das Recht überhaupt eine den Frauen gemäße Form von Religion und Spiritualität sei, was man schon am Verhalten von Jungen und Mädchen studieren und tentativ erkennen könne.24 Den Frauen komme es in allen zwischenmenschlichen Beziehungen mehr auf die intakte und persönliche »Beziehung« an als auf deren gesetzliche Regelung. Letztere sei eher eine männliche Vorliebe, die dann auch dazu führen könne, dass das Gesetz zu einem Ersatz für die wirkliche Gottesbeziehung werden könne, in welchem das Gottesgesetz Gott selbst ersetzt – man vergleiche dazu das bei Josef D. Soloveitchik Gesagte.25 Letztlich stellt sich für sie daher sogar die Frage, ob Halacha und Feminismus überhaupt kompatibel sein können.
4.
Diversität ohne Hierarchie – die Gemeinschaft Israels
4.1
Erwählung und Diskriminierung
Plaskow baut den Hauptteil Ihres Buches bewusst im Sinne einer jüdischen Theologie auf, weshalb nach dem ersten Teil, welcher der »Tora« gewidmet war, nun der zweite zum Thema »Israel« folgt, der schließlich mit dem dritten Topos »Gott« gekrönt wird. Es ist diese Anlehnung an die traditionelle Dreiheit, Tora, Israel und Gott, welche die bei ihr vorgenommene Transformation des traditionellen Gegenstandes Israel besonders augenscheinlich macht. Der Untertitel lautet nämlich »Für ein neues Gemeinschafts-Konzept«, womit die Behandlung des Themas eine utopische, weit über den klassischen Begriff Israel hinausreichende, Note erhält. Diese utopische Note erscheint allerdings nicht im traditionellen Davidischen Messianismus, sondern eher im Sinne des utopischen Messianismus 23
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 63–64.
24
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 64–68.
25
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 69–70; zu Soloveitchik s. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. I.
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des 19. Jahrhunderts, nach dem alle Völker und Klassen in Frieden und sozialer Gerechtigkeit umschlungen sein werden. Das neue Konzept dieser utopischen Welt-Gesellschaft greift weit über das Israel der Tradition hinaus. Es spekuliert über eine Mikro- und Makro-Gesellschaft sowohl innerhalb des jüdischen Volkes und seiner unterschiedlichen Kulturen (Aschkenasim, Sefardim, Misrachim etc.) wie Gesellschaftsschichten, als auch zwischen den Völkern und »Rassen« und zuletzt auch zwischen den muslimischen Palästinensern und den jüdischen Israelis.26 Bei alledem und insbesondere bei Letzterem überschreitet sie das eigentliche Thema des Buches, nämlich der Rolle der Frau in der jüdischen – oder auch allgemeinen Gesellschaft – und frönt einem ideologischen Erguss antiisraelischer Polemik. In ihr wird, neben berechtigter Kritik am bestehenden Standessystem der jüdischen Orthodoxie, das auch für die säkularen Juden gilt – in Sachen Ehegesetzgebung27 – fast alles negativ gesehen, so die Rolle der Frau in der israelischen Armee, im Kibbuz bis hin zur Stellung der arabischen Bevölkerung im Staat Israel und zur »Besatzungspolitik«, so dass kaum noch ein guter Faden an diesem jüdisch-zionistischen Unternehmen bleibt. Es scheint dies offenbar zum Comment vieler jüdisch-feministischer Kreise zu gehören, die ihre allgemeinen sozialen Utopien gerade in dem jüdischen Staat verwirklicht sehen wollen, ungeachtet des Unterschiedes zwischen einer utopischen Gemeinschaftstheorie und einem konkreten Staat in der politisch-militärischen Realität. Plaskow spürt selbst, dass sie mit diesen Weiterungen in die israelische und Nahostpolitik wie in die allgemeine Klassenproblematik ihr Thema tatsächlich weit überschreitet, und versucht, dies mit einem wahrlich utopischen Grundsatz aufzufangen: »Ich bin vom ursprünglichen Fokus dieses Kapitels, nämlich der Schaffung einer neuen jüdischen Gemeinschaft, in welcher die Frauen präsent und als Frauen gleichberechtigt sind, anscheinend abgewichen. Da aber unterschiedliche Formen von Hierarchie und Unterdrückung sich überschneiden und verstärken, wird keine von ihnen endgültig fallen, bevor nicht alle gefallen sein werden. Eine jüdisch feministische Vision muss das Modell von Gemeinschaft, in dem die Unterschiede gefördert und respektiert werden, auf alle
26
Plaskow: »It is the Palestinians, however, rather than the Mizrahi Jews, who pose the most fundamental test of Israelʼs capacity to deal with difference, and whose situation highlights the connection between the creation of hierarchies within the Jewish community and between that community and others.«, Standing Again at Sinai, S. 113.
27
»In 1951, Israel passed a Women’s Equal Rights Law, but within itself severely limited its application by exempting marriage and divorce. When in 1953 the Orthodox establishment was granted complete control of these areas, equal rights for Jewish women was effectively annulled.«, Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 11.
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Gemeinschaften und Unterschiede anwenden, in welche die jüdischen Feministinnen involviert sind.«28 Diese Vermengung von patriarchalisch-androzentrischer Benachteiligung der jüdischen Frauen innerhalb der halachischen Gesetzgebung mit den allgemeinen soziologischen und Klassenproblemen zeigt sich noch da, wo Plaskow die jüdischen Frauen zu Sündenböcken und Blitzableitern für die Frustrationen der männlichen jüdischen Gesellschaft erklärt, die ihr Leiden an der Ausgrenzung durch die nichtjüdische Welt an dem weiblichen Teil der eigenen Gesellschaft abreagiere. Die jüdische Hybris der Erwähltheit durch Gott, die letztlich ein Teil des patriarchalischen Syndroms sei, habe zusätzlich die Unterdrückung der jüdischen Frau durch die frustrierten von Gott erwählten männlichen Juden befördert. Alle Unterdrückung und Ausgrenzung habe demnach ihren Grund im Patriarchalismus.29 Doch damit nicht genug. Plaskow greift mit ihrer Ursachensuche allen gesellschaftlichen Hierarchie-Übels noch ein Stück tiefer in das jüdische Selbstbewusstsein. Sie glaubt nämlich, dass sämtliche inner- und außerjüdischen Probleme der Differenzierung, Ausgrenzung und Abschätzigkeit gegenüber anderen ihren wahren Grund in der jüdischen Lehre von der Erwählung Israels hätten. Denn diese Lehre spreche nicht nur von einem Unterschied zwischen Israel und den Völkern, sondern verstehe diese Differenz als Hierarchie der Wertigkeit. Die Erwählungsvorstellung steht deshalb an oberster Stelle der Kritikwürdigkeit des Plaskowschen Feminismus. Sie verweist zwar auf die Versuche verschiedener jüdischer Interpreten der vergangenen zweihundert Jahre, die Erwählung nicht als Privilegierung, sondern als ethische Verpflichtung zu deuten, im Sinne der Gleichheit und Teilhabe in einer pluralistischen Kultur,30 aber sie bleibt dennoch dabei, dass die Vorstellung von einer Erwählung gleichsam die primäre Ursache gerade auch der internen Hierarchisierung der jüdischen Gesellschaft ist, nicht nur nach außen in Bezug auf die nichtjüdischen Völker: »Die Erwähltheit ist jedoch nicht nur eine Aussage zur Beziehung der Juden zu anderen Völkern, sondern ein Zentrum des jüdischen Selbstverständnisses. Wenn die Juden von anderen durch eine einzigartige Berufung zum Dienst an Gott getrennt sind, muss sich diese Berufung zunächst im Leben der jüdischen Gemeinschaft selbst auswirken. Die Heiligkeit, die zu einer Differenzierung nach außen führt, wird durch die Beachtung der inneren Separierungen, welche eine heilige Gemeinschaft kennzeichnen, praktiziert. Da die 28
Plaskow, Standing again at Sinai, S. 119.
29
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 102.
30
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 100.
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wichtigste dieser zahlreichen Trennungen diejenige zwischen männlich und weiblich ist, ist die Erwähltheit mit der Subordination der Frauen und anderer Gruppen in den Rhythmen des jüdischen Lebens verbunden.«31 Die Lehre von der Erwählung Israels ist daher für den Feminismus Plaskowscher Prägung der springende Punkt und das Haupthindernis für eine neue egalitäre Konzeption des Judentums. »Die Zurückweisung der Erwählungslehre und die Zurückweisung der Auffassung von der ›Andersheit‹ der Frauen sind miteinander verbundene Gegenstände des umfassenderen Projektes, Wege zu finden, Differenzen zu verstehen und mit ihnen zu leben, die nicht in Projektionen und hierarchischen Trennungen begründet sind.«32 Alle diese negativen Festlegungen haben ihre Mitte indessen in ihren Auffassungen vom Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, und der religiösen Bedeutung der menschlichen Gemeinschaft.
4.2
Gott in der egalitären menschlichen Gemeinschaft
Judith Plaskow ist der Überzeugung, dass das menschliche Individuum, im Gegensatz zu liberalen Auffassungen, nicht aus sich selbst wird und lebt, sondern allemale Produkt einer Gemeinschaft ist, aus der und mit der es lebt. Jeder Mensch kommt aus und gehört zu einer Gemeinschaft, es gibt keinen Menschen an sich ohne solche Verwurzelung.33 Diese Grundeinsicht ist, dem stimmt sie zu, in der jüdischen Religion richtig erkannt. Jüdisches Gedenken und jüdische Religion ist nicht auf das Individuum gebaut, sondern gründet in der Gemeinschaft: »Der Jude steht vor Gott nicht als Individuum, sondern als Mitglied eines Volkes.«34 Die Beziehung zu Gott wird durch die Mitgliedschaft im jüdischen Volk vermittelt.35 Sie führt diesen Gedanken noch ein gewichtiges Stück weiter, wenn sie betont, dass die religiöse Erfahrung im Judentum grundsätzlich in der Gemeinschaft gründet. Sie sagt dies ungeachtet dessen, dass es auch im Judentum individuelle Gotteserfahrungen gibt. Für sie ereignet sich die Gotteserfahrung wesentlich in der Gemeinschaft, eine übernatürliche, transzendente, Dimension ist dafür nicht nötig: »die Vorstellung von einem übernatürlichen Gott, der ein besonderes Volk auswählt, ist Teil der dualistischen und hierarchischen Sicht der Wirklichkeit, 31
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 101.
32
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 103.
33
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 77.
34
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 80.
35
Vgl. dazu den Reformtheologen Borowitz, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap III, Nr. 4–5.
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welche die Feministin zurückweisen muss. Allerdings bedeutet die Ablehnung dieser Gottesvorstellung nicht zugleich die Ablehnung eines Gottes, dem man in der Gemeinschaft begegnet und mit dem man in der Geschichte ringt.«36 Mit dem letzten Satz dieser Aussage, nämlich dass die Ablehnung einer übernatürlichen Gottesvorstellung, nicht die Ablehnung jeglicher Gottesvorstellung bedeute, sondern nur eine Verschiebung, vertritt Plaskow die Vorstellung einer immanenten Transzendenz, die nach ihrer Auffassung vornehmlich in der menschlichen – für sie in der feministischen – Gesellschaft zu erfahren ist. Wie schon Ahron David Gordon37 glaubt sie mit anderen von ihr genannte jüdischfeministische Autorinnen und Kreise – so auch die im Folgenden behandelte Lynn Gottlieb – an eine Offenbarung Gottes in der Natur, worauf im folgenden Kapitel zu den Gottesbegriffen und -Namen eingegangen werden soll. Dort spricht Plaskow auch von der ihr besonders am Herzen liegenden Vorstellung von der Offenbarung Gottes in der menschlichen Gemeinschaft, ein Thema, das indessen die unmittelbare Folge des soeben Besprochenen ist, und darum hier erörtert werden soll. Die Zentralität des Glaubens an eine Offenbarung Gottes in der menschlichen – zuweilen auch nur weiblichen – Gemeinschaft wird daran deutlich, dass Plaskow neben die auch von ihr akzeptierte Möglichkeit einer Natur-Mystik, die Wirklichkeit einer Gemeinschafts-Mystik, »communal Mysticism«,38 stellt. Sie meint sogar, dass diese Form der Mystik vor der anderen Vorrang haben sollte, da gerade in einer egalitären menschlichen Gemeinschaft Gott als präsent erfahren wird. Sie meint, dass die Gemeinschaft (community) »primäres Medium und Ort der religiösen Erfahrung« sein könne, da »die Gottesgegenwart in der Gemeinschaft in einer besonders mächtigen Weise zugegen ist«.39 Wesentlich für diese und ähnliche Aussagen Plaskows zur Gottesgegenwart und -offenbarung ist der für sie alles bestimmende Begriff der Erfahrung (experience). Der Begriff der Erfahrung, den sie in diesem Zusammenhang sehr intensiv verwendet, ist weniger das, was man als eine direkte intuitive Erleuchtung, als religiöses Widerfahr-
36
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 104.
37
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 4, S. 214–286.
38
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 156. Plaskow übernimmt den Begriff von Carol P. Christ, Diving Deep and Surfacing. Women Writers on Spiritual Quest, Boston 1980; für eine solche Gemeinschaftsmystik hätte sie sich auch auf ḥasidische Autoren berufen können, allerdings gehören diese ja noch klar einer androzentrischen Religiosität an, vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 865–870.
39
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 155–156.
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nis verstehen mag (etwa im Sinne von William James),40 sondern eine Erfahrung des Alltags und Alltagslebens, das im Nachgang mit religiöser Deutung ausgestattet wird.41 Das Entscheidende dabei ist – und in diesem Punkt stimmt sie mit William James überein – dass die in diesem Deuteverfahren gewonnenen Gottesbegriffe, oder Metaphern zur Bezeichnung des Göttlichen mit den in der Alltagswelt gemachten Erfahrungen übereinstimmen sollten. Was dies bedeutet, wird im folgenden Kapitel zu den adäquaten Gottesbezeichnungen noch erörtert werden. Hier geht es zunächst um das Erleben in der Gemeinschaft, das Plaskow als Erlebnis des Göttlichen versteht. Sie beruft sich dabei auch auf Martin Bubers Buch Ich und Du, der ja in der dialogischen Begegnung gleichfalls etwas Göttliches sehen will.42 Darum kann sie sagen, dass »die Gemeinschaft ein besonderer
40
Vgl. W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur/dt.
41
Dazu vergleiche man Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II, zu Heschel; und Journal für
von Chr. Stahlhut, Leipzig/Frankfurt a. M. 1997. Psychologie, 16 (2008), (online), 3: Das Comeback der Religionspsychologie: U. Popp-Baier, Erfahrung, Identität, Religion. Zur psychologischen Analyse individueller Religiosität: 2. Religion und Erfahrung: »Erfahrung kann (im Anschluss an Wilhelm Dilthey, Hans-Georg Gadamer und Paul Ricoeur) zunächst als eine komplex strukturierte Erste-Person-Beziehung zur Welt verstanden werden. Wahrnehmen, Denken, Phantasieren, Empfinden, Fühlen, Wünschen, Erinnern etc. erschließen ein Geschehen, dessen Subjekt ›ich‹ bin. […] Allgemein kann in der Religionspsychologie dieses hermeneutische Erfahrungskonzept dazu dienen, die Komplexität individueller Religiosität adäquat zu berücksichtigen. In diesem Kontext lässt sich dann z. B. auch die Frage verorten, welche Relationen zwischen Erfahrungen im Alltag und jüdischen, christlichen, islamischen, buddhistischen, hinduistischen etc. Symbolen und Traditionen, die von manchen bisweilen auch als ›religiöse‹ Symbole und Traditionen bezeichnet werden, bestehen können. Dabei können wir die folgende idealtypische Unterscheidung treffen: Erfahrungen können aufgrund der bereits religiös strukturierten Erwartungen zu religiösen Erfahrungen werden oder Erfahrungen können aufgrund expliziter Interpretationsleistungen eine religiöse Bedeutung bekommen. Im ersten Fall ist bereits das Geschehen, das erzählt wird, ohne religiöse Konzepte nicht artikulierbar. Beispiele dafür sind Erfahrungen im Zusammenhang mit Gebetserhörungen; dabei ist Religiöses bereits in den Geschehensablauf involviert, denn es kann nur jemand die Erfahrung einer Gebetserhörung machen, der mit dem religiösen Handlungsschema ›Beten‹ vertraut ist, […] Im zweiten (idealtypischen) Fall wird aus der Perspektive des Erfahrungssubjektes ein Erlebnis erzählt, dem schließlich noch explizit eine religiöse Deutung hinzugefügt wird. Beispiele sind Erzählungen von Unglücksfällen oder Katastrophen, die der Erzählende überlebt hat und die er nun z. B. als eine Rettung durch Gottes Hand oder durch eine höhere Macht versteht. Dabei kann die Beziehung zwischen dem Geschehen, dem Erlebnis, und dem religiösen Deutungskonzept sehr komplex sein. Eine religiöse Deutung kann aus der Perspektive der ersten Person das Ergebnis einer plötzlichen Einsicht sein, aber auch das Ergebnis einer Vielfalt von Überlegungen und Schlussfolgerungen. […].« 42
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. II, Buber.
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Ort göttlicher Selbstmanifestation ist. Die Gemeinschaft ist ein Ort, an dem wir uns in Gott befinden; Gott wohnt an diesem Ort.«43 Aus dieser Auffassung leitet Plaskow auch die Forderung ab, dass die Formen des gemeinschaftlichen Gottesdienstes geändert werden sollten, denn alleine durch solche Änderungen wird das Gemeinschaftserleben und damit das Gotteserleben verändert: »Insofern Gott in der Gemeinschaft (Gemeinde) erfahren wird, können Veränderungen in der Gemeinschaftsstruktur und in der Gestalt und Form des Gottesdienstes von sich aus zu einem neuen Gottesverständnis beitragen, selbst wenn keine neuen begrifflichen Metaphern dafür verwendet werden. Die Führungsrolle von Frauen in vielen jüdischen Gemeinden bezeugen die Gegenwart Gottes in den Frauen. Das feministische Gebet in Form einer Ḥavura (Bruderschaft/Schwesternschaft), das kleine Gruppen bevorzugt, deren Mitglieder sich während des Gottesdienst von Angesicht zu Angesicht gegenüber finden und das von der Teilnahme aller Anwesenden abhängig ist, erweckt das Gefühl der Gottes-Immanenz in der Gemeinde.«44 Natürlich muss diese Gemeinschaft der Gotteserfahrung egalitär45 und zugleich pluralistisch sein: »Es ist nicht in der separierenden Erwähltheit, in der wir den Gott Israels und den Gott eines jeden Volkes und aller Völker finden, sondern in der Unverwechselbarkeit, die sich zugleich der Differenz gegenüber öffnet.«46 Plaskow weiß indessen sehr wohl um die Begrenztheit des eigenen Standpunktes in Sachen der Darstellung weiblicher Erfahrungen, dass etwa ihre eigene New Yorker aschkenasisch-jüdische Sicht nicht für alle jüdischen Frauen dieselbe ist,47 – in Sachen Nahostpolitik scheint sie diese eigene Begrenztheit allerdings vergessen zu haben.
5.
Neue Gottesbegriffe
Ein besonders sensibles Gebiet der feministischen Kritik ist die Kritik an den fast ausschließlichen maskulinen Gottesbezeichnungen, König, Herr, Vater und dergleichen, die nicht nur die Bibel und die erzählende Literatur der Midraschim, des Talmud und anderer Schriften verwenden, sondern in besonderem Maße die Gebetssprache der Liturgie. Gerade Letztere wird als besonders schmerzlich empfunden, weil sie, stets wiederkehrend, die terminologische Asymmetrie in 43
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 165.
44
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 158
45
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 155.
46
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 107.
47
Z. B. Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 11–12.
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einer Gemeinde, an welcher die Frauen auch nicht aktiv teilnehmen dürfen, oder allenfalls einzelne Frauen als Männer honoris causa und nicht als ganze Klasse. Der Schmerz wird von Plaskow nicht individuell begründet, sondern mit der Auffassung, dass die Gottesbezeichnungen nicht eine harmlose Einseitigkeit darstellen, sondern aufs Engste in der Sozialstruktur der sie verwendenden Gemeinschaft verwurzelt sind, und zwar in doppelter Weise: Zum einen drücken die Gottesbezeichnungen die gesellschaftliche Werteskala aus, in welcher eben das Männliche an oberster Stelle steht und zum andern dienen sie umgekehrt dazu, diese Hierarchie zu rechtfertigen. Ein wesentliches Argument für diese Sicht der Dinge ist die sich dazu vor allem auf Moses Maimonides berufende Auffassung, dass die Gottesbezeichnungen nichts wirklich mit dem Wesen Gottes zu tun hätten. Da Gott also über allem Anthropomorphen und allem Irdisch-Geschöpflichen steht, kann man nach dieser Auffassung nichts über Gott und sein Wesen aussagen Gott, das bedeutet auch, dass Gott über den Geschlechtern steht, geschlechtsneutral ist. Die verwendeten Begriffe sind laut Maimonides allenfalls sogenannte Wirkattribute, also Aussagen über von den Menschen geglaubte Wirkungen Gottes in dieser Welt.48 Das bedeutet, die Gottesattribute sind allesamt menschgemacht, sprechen letztlich von der menschlichen Wirklichkeit, wie sie von den Menschen gesehen wird, von menschlicher Erfahrung. Daraus folgt, die Gottesbezeichnungen sind ein Spiegel der menschlichen Gesellschaft. Dies wird umso mehr sichtbar, wenn die Vertreter der Tradition zwar die Geschlechtsneutralität, Gottes betonen, dann aber dennoch an der männlichen Terminologie, an den männlichen Metaphern zur Benennung Gottes festhalten – mit den Worten Plaskows: »So selbstverständlich und harmlos wie die maskulinen Gottesbezeichnungen gewöhnlich hingenommen werden, muss man dennoch sagen: Metaphern haben Bedeutung, und zwar auf der individuellen wie der gesellschaftlichen Ebene. Wiewohl der lange Gebrauch uns gegen die Implikationen unserer Symbolik unempfindlich gemacht haben mag, so sind die Symbole doch weder willkürlich noch folgenlos. Sie sind bedeutsame und mächtige Ausdrucksweisen, durch welche eine religiöse Gemeinschaft ihr Selbstverständnis und ihre Sichtweise der Welt zur Sprache bringt. Religiöse Symbole verleihen dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft Ausdruck und Autorität und dienen dazu, ihre Weltanschauung zu unterstützen und diese aufrechtzuerhalten. Die männlichen Bilder, welche die Juden in ihrem Sprechen zu und über Gott verwenden, entstanden aus einem religiösen System und dienen dessen Erhaltung, ein System, in welchem der Mann der normative Jude ist und die Frauen als das Andere betrachtet werden. Bezieht man sich nur auf 48
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 439–446.
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die Erfahrung von einigen, die am Sinai standen, bestätigen sie eine Gemeinschaft, die hierarchisch strukturiert ist.«49 Die religiösen Symbole sind, mit anderen Worten, zugleich das Modell unserer Weltsicht und Weltgestaltung. So wie Gott nach den sechs Arbeitstagen der Schöpfung ruhte, so tut es auch die jüdische Gemeinschaft, und so wie der männliche Gott und Herrscher die Welt beherrscht, so tut es auch der männliche Mensch. Wenn angesichts solcher Einsichten und der »unschuldigen« Betonung, die Gottesepitheta sagten nichts über Gottes Wesen aus, die maskulinen Metaphern für Gott mit solcher Zähigkeit verteidigt werden, sind sie nicht länger Symbole für ein Unsagbares, sondern Idole, welche Wesenheiten eines Gottes aussagen und die Konsequenzen daraus zementieren. Der nächstfolgende Schritt der Kritik an den Gottesbezeichnungen gilt den Benennungen, die Gott als Herrscher bezeichnen, die seine Herrschaft begründen und charakterisieren, König, Krieger, Herr – eine systemimmanente Entwicklung aus der Männlichkeits-Metapher. Eine solche Dominanz-Terminologie, so meint Plaskow, widerspreche letztlich dem biblischen Bundesgedanken, weil er die Bundesbeziehung als asymmetrisch versteht – eine Auffassung, welche die nichtfeministische moderne Bibelkritik gleichfalls erkannt hatte, ohne dies allerdings zu kritisieren.50 »Die Sprache der Herrschaft steht jedoch zur Sprache vom Bund in Spannung, weil sie die Wirklichkeit menschlicher Macht und Verantwortung leugnet, welche ein Bund doch voraussetzt. Gott als der allmächtige Herr und König sieht alle historischen und kosmischen Resultate und Prozesse voraus und kontrolliert sie. Wie uns die Liturgie unablässig erinnert, ist er alles, wir sind nichts, er ist ewig, wir sind Staub. Aber diese Gegenüberstellung der göttlichen Macht und der menschlichen Schwachheit ist für die Verantwortlichkeit und die Bemühung, welche dieser Bund verlangt, weder angemessen noch förderlich.«51 Die Gottesbezeichnungen, so fordert Plaskow, müssen dem modernen Weltverstehen entsprechen, müssen eine Reflexion einer von uns gewollten Gesellschaftsordnung sein – die Theologie als Funktion gesellschaftlicher Ideale. Dies wird deutlich, wenn sie die Begrifflichkeit von der Herrschaft Gottes mit folgenden Worten kritisiert: »Dieser Gott als der vollkommen Andere ist ein Wesen außerhalb und gegenüber der Welt, der sie ›in einer Weise kontrolliert, welche die menschli-
49
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 125.
50
Vgl. Z. B. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bd. 1, S. 357.
51
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 133.
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che Entwicklung und Verantwortung verhindert.‹52 Anders als weise Eltern, die ihre Kinder ermutigen Autonomie und Selbstvertrauen zu entwickeln, beharrt dieser Gott darauf, dass die Menschen ihm gehorchen, dass sie ihre Grenzen und Gottes Überlegenheit eingestehen. Gleich autoritären Eltern setzt Gott den Gehorsam mittels Bestechung und Strafen durch, eine Mischung aus Beherrschen und Wohlwollen, welche beide unabhängiges Handeln entmutigen. Gottes Handeln an Israel zeichnet sich durch einen Wechsel zwischen Drohung und Versprechen aus, mit dem Ziel dessen Unterwürfigkeit zu erlangen.«53 Die jüdischen Gottesattribute, so urteilt sie, erwecken den Eindruck der Willkür und einer autokratischen Herrschaft, die nach ihrer Meinung allesamt aus dem männlichen Grundtenor dieser Attribution hervorgegangen sind. Sie macht diese Gottesattribute dafür verantwortlich, daran beteiligt gewesen zu sein das Böse zu erschaffen, vor dem Gott eigentlich retten sollte. Und natürlich sind sie auch Ausfluss der oben schon kritisierten Erwählungslehre.54 Das Resultat all dieser Einschätzungen ist die Forderung nach einer neuen Redeweise von Gott, nach neuen Gottesbezeichnungen, die natürlich unserem neuen modernen Welt- und Menschenbild angepasst sein müssten – eine Forderung, das sei am Rande angemerkt, welcher der rabbinische Midrasch de facto, ohne daraus großes Aufhebens zu machen, in seiner Reformulierung der biblischen Geschichte und Theologie stets nachgekommen ist. Denn »Sobald Vorstellungen und Bilder gesellschaftlich, politisch oder moralisch inadäquat werden, sind sie auch für die Religion inadäquat.«55 Die neuen Gottesepitheta müssen also der Vorstellungswelt und den Idealen entsprechen, welche die Menschen der Gegenwart hegen. Das heißt konkret, die Gottesbilder müssen in erster Linie auch weibliche Attribute aufnehmen, die Heilige, statt nur der Heilige, Göttin statt Gott, Mutter, Weltgebärerin. Natürlich wird auch der Begriff der Schechina, der in der mittelalterlichen Kabbala ganz dezidiert weibliche, personhaftweibliche Gestalt angenommen hat, aktiviert – dazu vergleiche man insbesondere das folgende Kapitel zu Lynn Gottlieb – wiewohl Plaskow an diesem kabbalistischen Begriff moniert, dass auch hier die Weiblichkeit vor allem aus Sicht des Mannes gezeichnet wird.56
52
Nach Sallie McFague, Models of God: Theology for an Ecological, Nuclear Age, Philadelphia
53
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 130–131.
54
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 132–133.
1987.
55
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 135.
56
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 139–140.
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In dem Bemühen neue Gottes-Metaphern und neue Konzepte vom Göttlichen zu finden, betont Plaskow nochmals, dass hierbei die weibliche Erfahrung eine wichtige Rolle zu spielen habe. Zu solchen zählt sie etwa das Absehen vom Bild eines festen unveränderlichen Gottes hin zu Vorstellungen des Prozesshaften, zu einem beweglichen Gott, außerdem zu einem, der in der Natur und – wie oben schon beschrieben – der menschlichen Gemeinschaft zu finden ist. Das Resultat von alledem ist, dass auch das Konzept des »Monotheismus« neu gefasst werden müsse.57 Der Monotheismus dürfe nicht mehr ausgrenzend sein, sondern müsse inkludierend pluralistisch gefasst werden, in einer Weise, in welcher die Vielheit und Differenz als Einheit begriffen wird. So wie etwa die Gemeinschaft Israels nur als Einheit in der differenzierten Vielheit gedacht werden kann, müsse Gott analog als die das All umfassende Einheit gedacht werden. »Wenn der Monotheismus nicht in diesem inklusiven Sinn verstanden wird, sondern als Verehrung eines einzigen Bildes und einer einzigen Vorstellung von Gott, dann ist ein solcher Monotheismus tatsächlich nur Monolatrie. Gottes Einheit wird so zentrale Aspekte der Wirklichkeit ausklammern anstatt allumfassend zu sein.«58 Als Beleg für diese Einsicht schon in biblischer Zeit verweist sie zu Recht auf den bedeutsamen Satz des Deuterojesaja /Jes 45, 7) nach welchem Gott das Licht wie auch die Finsternis, Wohlergehen (Schalom) und das Böse erschuf. Als Gottesepitheta, welch gerade weiblicher Wirklichkeitserfahrung gerecht werden nennt Plaskow unter anderem Gott – mit Verweis auf das Hohelied – als Geliebten und Freund, als Compagnon – wobei der Mensch als Mitschöpfer und -Mitgestalter von Gottes Schöpfung gesehen wird, eine Konnotation die der rabbinischen wie kabbalistischen Tradition nicht fremd war.59 Auch Begriffe wie Quell des Lebens, Baum des Lebens, Fels, die in der Tradition zwar belegt, aber nicht ernst genug genommen wurden, werden favorisiert. Das Kriterium der Suche nach neuen Gottesbezeichnungen muss sein: »Während feministische Metaphern nicht-exklusiv sind, ist die Gotteserfahrung in einer facettenreichen, egalitären Gemeinschaft aus feministischer Perspektive ebenfalls normativ, und dient somit als Kriterium für die Auswahl und Zurückweisung von Gottesbildern.«60
57
Zu unterschiedlichen Bewertungen des Monotheismus in der jüdischen Tradition vgl. K. E. Grözinger, Wozu dient der Monotheismus in der jüdischen Religion angesichts der Zehnfaltigkeit der Kabbala, in: Aschkenas 26, 1 (2016), S. 17–36.
58
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 151.
59
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 1; S. 261–262; Bd. 2, S. 147–149. 451–457. 455–546. 563. 598.
60
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 166.
672. 896.
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Der alte biblische Satz, nach dem der Mensch im Bilde Gottes geschaffen wurde, erfährt hier faktisch seine Umkehrung: Gott ist im Bilde des Menschen zu schaffen.
6.
Aufgabe einer »Neuen Sexual-Theologie«
6.1
Die Neubewertung der Körperlichkeit des Menschen
Wie auch die christlichen Autoren im englischsprachigen Raum, und wie vor allem die katholische Kirche, spricht auch Judith Plaskow von einer SexualTheologie (Theology of Sexuality) als Teil ihrer jüdischen Theologie. Neben der schon eingangs beschriebenen und mehrfach wieder angesprochenen Kritik an der Androzentrik der biblischen und rabbinischen Tradition im Recht (Halacha) wie in der Erzählung, soll es die Aufgabe einer solchen neuen Sexual-Theologie sein, die Rolle der Frau und deren Betrachtung durch die Männer auf eine neue Grundlage zu stellen. Das bedeutet vor allem, dass die in der rabbinischen Literatur verbreitete Auffassung verändert werden müsse, nach welcher die Frau, vor allem im öffentlichen Leben, eine Quelle der Versuchung für den Mann und darüber hinaus eine Quelle der kultischen Unreinheit darstellt – Letzteres während der durch Vorsichtsmaßnahmen ausgeweiteten Tage der Menstruation, die auf fast die Hälfte eines Monats ausgedehnt sind, in denen die Frau sich vom Heiligen fernzuhalten hat,61 auch vom Geschlechtsverkehr, ja sogar von der Berührung des eigenen Ehegatten. Diesen aus der Sicht der Männer geltenden Beurteilungen, denen eine ganze Reihe von Beschränkungen für die Frauen folgen – so alle Anordnungen, welche die Frau zur Bescheidenheit verpflichten, wovon das eingangs angeführte Gebet ein sprechendes Beispiel ist62 – muss, laut Plaskow, nicht nur eine partielle Erleichterung und Entschränkung, entgegengesetzt werden, sondern eine grundlegend neue Sicht von Mann und Frau und vor allem der Körperlichkeit als konstitutivem Teil des Menschseins. In dieser ihrer Meinung, dass es bei den anstehenden Fragen nicht nur um die Sexualität im engeren Sinn geht, sondern um die Beurteilung des Körperlichen insgesamt, um die Aufhebung der Dualität von Körper und Geist, steht Plaskow, wie sogleich zu zeigen sein wird, in einer verbreiteten anglophonen christlichen wie jüdischen theologischen Debatte. Nach dieser Auffassung ist es falsch, mit
61
Etwa vom Betreten des biblischen Tempels, so auch nach der Niederkunft – 33 Tage bei einem
62
Oben, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil V, Kap. I, Nr. 1. Zur Einstimmung; zur Bescheidenheit
Sohn, 66 Tage bei einer Tochter! Lev. 12; Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 174. gehören auch die Bekleidungspflichten, welche den Körper möglichst weit bedeckten, die Auflage sein Haar nicht zu zeigen (bei verheirateten Frauen), unbegleitetes Zusammentreffen mit Männern.
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weiten Teilen der christlichen wie jüdischen Tradition,63 das Wesen des Menschen vor allem in dessen Geist, Intellekt oder Seele zu sehen. Vielmehr finde menschliches Leben, und menschliches Ich immer nur körperlich vermittelt oder begründet statt, und zu dieser unabtrennlichen Körperlichkeit gehöre dann eben auch die Sexualität. Bevor wir weiter Plaskows Argumenten folgen, ist es dienlich, einen kurzen Blick auf das von dem – auch ihr bekannten – christlichen Theologen James B. Nelson 1992 publizierte Buch Body Theology64 zu werfen, nicht um eine Abhängigkeit zu suggerieren, sondern um den Kontext einer Debatte anzuzeigen, zu dem Plaskow offenbar gehörte. Im Klappentext dieses Bandes werden die Thesen von Nelson so zusammengefasst: »Er nimmt die Körpererfahrungen ernst und betrachtet die Sexualität als für das Mysterium menschlicher Erfahrungen und die menschliche Beziehung zu Gott zentral. […] Er beklagt einen falschen Dualismus von Körper und Geist, der die Bedeutung von Männlichkeit deformiert, die moderne Medizin verwirrt und den Militarismus, Rassismus wie den ökologischen Missbrauch befördert.«65 In Nelsons eigenen Worten, deren Sinn bei Plaskow mutatis mutandis wiederkehrt, klingt dies so: »Die Aufgabe der Körper-Theologie ist die kritische Reflexion über unsere körperlichen Erfahrungen als einem grundlegenden Raum der Gotteserfahrung. […] Die Körper-Theologie beginnt notwendigerweise mit der Konkretheit unserer körperlichen Erfahrungen, selbst wenn sie erkennt, dass diese Konkretheit durch ein Netz von deutenden Auffassungen gefiltert wird, die wir unserem körperlichen Leben übergestülpt haben.« »Körper Theologie […] ist, einfach gesagt, Theologie so zu betreiben, dass wir unsere Körpererfahrungen als Gelegenheiten der Offenbarung ernst nehmen.« Das alles muss nach Nelson gelten, weil: »ich habe nicht nur einfach einen Körper. Ich bin ein Körper. Mein ganzes Gefühl meines Selbst ist in meinem Körper verwurzelt. Dies ist die Art und Weise, in welcher ich mich in dieser Welt andern gegenüber zum Ausdruck bringe. Mein Körper ist mein Handeln.«
63
Vgl. z. B. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 263–287. 462–467. 514–516. 542. 559–561; Bd. 2,
64
J. B. Nelson, Body Theology, Westminster/Louisville 1992; die folgenden Zitate von Nelson
65
Auf dem Buchcover.
S. 281–282. 360–366. auf den Seiten 43. 7. 128.
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Mit diesen Feststellungen Nelsons hat man die Eckdaten von Plaskows SexualTheologie umschrieben. Es ist bei ihr als Feministin die Vernachlässigung der spezifisch weiblichen Erfahrungen, gerade auch der biologisch-körperlichen, durch die rabbinische Tradition, sowie die Kontrolle der weiblichen Sexualität im Dienste des patriarchalischen Besitzanspruches, das Fernhalten des unreinen weiblichen Körpers vom heiligen religiösen, maskulinen Bereich, welche es von Grund aus zu verändern gelte. Diese Politik der Absonderung des Weiblichen aus der religiösen Öffentlichkeit des Gottesdienstes wie der bürgerlichen Öffentlichkeit, welche insgesamt in einer Beurteilung der weiblichen Körperlichkeit beruht, die einseitig aus maskuliner Sicht geschieht, muss zurückgewiesen werden: »Die Feministinnen haben die Dualismen herausgestellt, welche den kulturellen und religiösen Ekel vor dem weiblichen Körper erzeugten und haben versucht, diese Dualismen zu überwinden, indem sie die Körpererfahrung der Frauen in einer bewussten und affirmativen Weise einforderten. Zuweilen hatten die feministischen Bemühungen, die Dualismen zu untergraben, die Folge, diese einfach umzukehren, indem als Antwort auf ihre Entwertung die weiblichen Körper-Erfahrungen überhöht wurden. Das bleibende Ziel aller feministischen Literatur war es jedoch, die Dualismen zu unterschreiten und einen Weg durch oder über das entweder-oder-Denken hinaus zu finden (entweder Geist oder Leib, entweder Jungfrau oder Hure), welches für das westliche Denken über die Sexualität zentral waren. […] Wenn wir unsere ›Leiblichkeit als eine Ressource und nicht als Schicksal betrachten, wenn wir uns eine Welt vorstellen, in welcher jede Frau der ›beherrschende Geist ihres eigenen Körpers ist‹, werden die Frauen beginnen, an einer Gesellschaft zu arbeiten, in welcher sie nicht nur Kinder, sondern auch Visionen hervorbringen können und das Neu-Denken, ›welches zur Erhaltung, zum Trost und zur Veränderung der menschlichen Existenz vonnöten ist.‹«66 Ein weiteres Element in diesem Neudenken der Körperlichkeit, welche gerade die Körperlichkeit der Frau aus ihrer Traditions-Gefangenschaft befreit, ist das andere, nämlich die Gegenseitigkeit all solcher körperlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau. Die Frage der weiblichen Sexualität muss aus ihrer androzentrischen, aus den Sachbesitzverhältnissen entstammenden, Bezügen genommen werden sowie aus den Kategorien der körperlichen Unreinheit, welche den weiblichen Körper in weit höherem Maße als den männlichen aus den als heilig betrachteten Räumen und Zeiten ausnimmt.
66
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 194, mit Adrienne Rich, Of Women Born: Motherhood as Experience and Institution, New York 1976.
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6.2
Die Sexualität als Lebensenergie
Die menschliche Sexualität wird in dieser neuen Sexualtheologie weit über ihre biologische, auch von Gott gebotene, Bedeutung zur Vermehrung der Menschheit, wie auch über deren hedonistische Seite hinausgehoben. Die Sexualität ist für das körperbestimmte Menschenbild eine Möglichkeit zur Transzendenz. Denn mit der Sexualität greift und reicht der Mensch über sich selbst hinaus, begegnet dem Anderen – ein Grund auch die homosexuelle und lesbische Sexualität in neuem Licht zu sehen. Die Homosexualität erscheint so nicht mehr als Zurückweisung jüdischer Werte, sondern als Bevorzugung und Wahl der einen Werte über anderen, hier eben der zur menschlichen Beziehung und Gemeinschaft, statt jüdischer Tradition. Dass für eine solche Transzendierung die Sexualität – unabhängig von ihrer Orientierung – ein bedeutender, ja zentraler Faktor ist, sieht Plaskow durch die kabbalistische Theorie bestätigt, wonach die Sexualität die höchste Form innergöttlicher Vereinigung darstellt – wenn sie dort auch nur in heterosexuellen Kategorien dargestellt wird.67 Erkennt man die Zusammenhänge zwischen der Sexualität und der persönlichen Stärkung, stärkt dies die Überzeugung von einem der Sexualität innewohnenden Wert zum Ausdruck unserer Persönlichkeit und unserer Beziehung und Liebe zu andern. Der Gedanke von einer der Sexualität innewohnenden Lebensenergie wird von Plaskow noch weitergeführt und erinnert an die Mystik von David Ahron Gordon,68 nachdem das Individuum sich mit der Fülle des Alls verbinden muss, um die eigene Vollkommenheit zu erlangen. Bei Plaskow tritt an diese Stelle die Macht des Erotischen, das sich nicht nur in der menschlichen Gemeinschaft als der Ort der Gottesbegegnung erweist, sondern als religiöse Erfüllung mit der göttlichen Lebensenergie: »die Sexualität als ein Aspekt unserer Lebensenergie und Macht, verbindet uns mit Gott als der lebenserhaltenden Energie- und Macht-Quelle im Universum. Im sexuellen Auslangen des uneingeschränkten Selbst zu einem Anderen können sich die Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen auflösen und wir können uns mit umfassenderen Energieströmen und Lebenskraft vereint fühlen. Es kann jedoch auch geschehen, dass wir im gewöhnlichen, alltäglichen Ausgreifen, zu Gott hinlangen, der in der Verbindung, im Geflecht der Beziehung mit der weiteren Welt gegenwärtig ist. Auf der einen Seite stellt die Ganzheit, die ›alles umfassende Qualität des sexuellen Ausdrucks‹, der Körper, Geist und Gefühl einschließt, für viele Menschen die
67
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 209; zu den kabbalistischen Vorstellungen siehe Jüdi-
68
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 214–286.
sches Denken, Bd. 2.
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höchste Möglichkeit in diesem Leben dar, die allumfassende Ganzheit Gottes zu erfahren. Andrerseits sind die alltäglichen Bande der Gemeinschaft gleichfalls erotische Bande, durch welche wir den Gott der Gemeinschaft berühren, indem wir einen Ort schaffen, an welchem die göttliche Gegenwart weilen kann.«69 Gott wird hier zu einer Metapher für den Höhepunkt des menschlichen Erlebens, sei es in der menschlichen Gemeinschaft oder im Akt der sexuellen Erfüllung.
7.
Feminismus als Weltveränderung
Der Abschluss des im letzten Paragraphen angeführten Textes zeigt, und diesem Gedanken widmet die Autorin das gesamte abschließende Kapitel ihres Buches, dass die Feministin Plaskow mit ihren Forderungen nicht nur glaubt, die Rolle der Frau im religiösen Judentum ändern und verbessern zu können, sondern dass daraus Wirkungen auf die gesamte Gesellschaft ausgehen würden. Für sie bedeutet die Neubewertung des Körperlichen, insbesondere die Neubewertung des bis dato negativ oder unterbewerteten weiblichen Körpers samt seiner spezifischen Erfahrungen eine Verbindung von Spiritualität (spirituality) beziehungsweise von Religion und Politik. Das heißt, in der Neubewertung der Körperlichkeit – inklusive der Sexualität – durch die Religion sieht sie eine Hinwendung des Spirituellen zur menschlich-irdischen Wirklichkeit, bei der sie sich selbstbewusst auf die biblischen Propheten beruft, die den priesterlichen Kult am Tempel und die Opfergaben der Gemeinde nur als wirksam beurteilt hätten, wenn sie dank einer der Gesellschaft zugewandten Politik für soziale Gerechtigkeit eine politisch-religiöse Basis hätten: »Die institutionalisierte Trennung von Religion (spirituality) und Politik, die aus derselben Hierarchie von Geist und Leib hervorgeht, welche die Herabsetzung der Frauen unterstützt, ist ein weiterer Dualismus, der zurückgewiesen werden muss. Wenn Religion (spirituality) aus einer feministischen Perspektive verstanden wird – nicht in Begriffen einer anderen, jenseitigen Welt, sondern als die Erfüllung der Beziehung zu uns selbst, zu anderen und zu Gott – kann sie kaum von den Bedingungen unserer realen Existenz losgelöst werden. Jene Ideologien und Institutionen, die uns von uns selbst entfremden und uns mit den Anderen in Beziehungen von Herrschaft und Unterwerfung verbinden, widersprechen unserer Religiosität auf allen Ebenen. In einer sexistischen, heterosexistischen, antisemitischen, klassenbeherrschten und ras-
69
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 210.
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sistischen Welt, wird die Politik unsere unabdingbare Bemühung sein müssen, die Welt für die vollkommene Verwirklichung und Gestaltung der Religiosität (spirituality) sicher zu machen. Indem wir versuchen, das Denken und die Institutionen des Judentums zu verändern, unseren Feminismus auszuleben, den Imperialismus sowie die Klassen- und Rassen-Unterdrückung zu überwinden, versuchen wir religiöse, soziale und politische Strukturen zu schaffen, die es uns erlauben werden, einander in der Fülle unseres Selbst gegenüberzutreten, und dadurch Gott zu erfahren, der mit uns in unserer persönlichen und gemeinschaftlichen Tätigkeit ist. Wenn die Vision und Intuition einer persönlichen und gemeinschaftlichen Ganzheit unsere politischen Ziele und Strategien leiten, wird die Politik zu einem Ausdruck der Religion (spirituality), weil sie bestrebt ist, menschlichere Institutionen zu schaffen und die Religion selbst durch die Politik verändert wird.«70 Schöner kann man eine politisch-religiöse, ja messianische Utopie kaum beschreiben. Hier wird der Feminismus zu einer Welterlösungslehre.
70
Plaskow, Standing Again at Sinai, S. 213.
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V.
JUDENTUM ALS ARCHETYPISCHER HEILUNGSPROZESS LYNN GOTTLIEB (GEB. 1949)
1.
Biographisches
Lynn Gottlieb, 1949 in Bethlehem, Pennsylvania geboren, verbrachte 1966, siebzehnjährig, ein halbes Jahr an einem Gymnasium in Haifa, um später an der Hebräischen Universität zum Bachelor zu studieren (1972). Danach folgte, von 1972 bis 1981, ein Rabbinatsstudium am Hebrew Union College, am Reconstructionist Rabbinical College, auch am Jewish Theological Seminary. Ihre PrivatOrdination erhielt sie 1980 von den Vertretern eines »alternative Judaism«, Zalman Schachter, Everett Gendler und Shlomo Carlebach. Lynn Gottlieb steht für einen amerikanisch-jüdischen Lebensstil, der amerikanischer kaum sein könnte. Sie verkörpert einen Typ zwischen Hippie und OffBühnenkünstlerin, mit der dazugehörigen Selbstinszenierung als weibliche alternative Rabbi-Guru, die dichtet und singt und Gruppen-Therapie-Stunden durchführt und die dennoch zugleich, 1973 im Alter von 23 Jahren noch vor ihrer rabbinischen Ordination, Prediger-Rabbi und »spiritual leader« am Temple Beth Or for the Deaf (Gehörlose) in New York City wurde.1 Zur selben Zeit (1974) gründete sie eine feministische Theatergruppe (Bat Kol), die landesweit Aufsehen erregte und feministischen Midrasch, Erzählungen, Zeremonien, insbesondere Neumondsfeiern (Rosch Ḥodesch), in zahllose Gemeinden in den USA, Canada und auch Europa brachte.2 Sie war eine der Aktivistinnen bei der Gründung des Jewish Renewal Movement. 1983 siedelte sie für 22 Jahre nach Albuquerque, New Mexico, um dort die Gemeinde Nahalat Shalom zu führen. Diese Gemeinde wurde 1982 von einer Gruppe junger Familien, Feministinnen, Schwulen und Lesbierinnen gegründet, als Gemeinde eines inklusiven Judentums. 1981 als erste Rabbinerin der Jewish Renewal Bewegung, einer Gemeinschaft, die sich als »nichtsexistisch, ökologisch, mit verantwortungsbewusster Friedenskultur« versteht, wurde sie die erste Rabbinerin der Gemeinde Nahalat Shalom.3 Die Ziele dieser Gemeinde waren laut deren Internetauftritt: »Als jüdische ErneuerungsGemeinde (Renewal Congregation) pflegen wir eine ganzheitliche und kreative Veränderung von jüdischer Liturgie und Gesetz, welches die Körperlichkeit, Verstand und Geist einbezieht und zugleich Vielfalt und die individuelle Spiritu-
1
1999 wieder geschlossen.
2
Encyclopedia of Women and Religion in North America: Native American creation stories herausgegeben von Rosemary Skinner Keller, Rosemary Radford Ruether, Marie Cantlon, Indiana Univ. Press 2006; https://jwa.org/people/gottlieb-lynn
3
http://www.nahalatshalom.org/who-we-are/our-history.html
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Lynn Gottlieb
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alität schätzt.« Die Gemeinde Nahalat Shalom charakterisiert ihre »emeritierte Rabbinerin« mit euphorischen Lobesworten: »Lynn Gottlieb ist eine Pionierin feministischer Rabbinerinnen, Geschichtenerzählerin, Perkussionistin, Friedenserzieherin, Autorin, Zeremonienmeisterin, Gemeindeaktivistin und Clown. Ihr Weg schließt eine lebenslange Zusammenarbeit mit der ›Fellowship of reconciliation‹ ein sowie eine anhaltende Bemühung um den israelisch-palästinischen Konflikt nach den Prinzipien aktiver Gewaltlosigkeit.«4 Dies führte Lynn Gottlieb in die Nähe der utopischen Friedenszeitschrift Tikkun und mit ihr zu den Befürwortern der sogenannten BDS-Methode, also der Forderung Israel durch Boykott, Desinvestition, Sanktion zum Rückzug aus den besetzten Gebieten zu zwingen. Sie war Mitbegründerin des »Muslim-Jewish Peace Walk«, war im interreligiösen Dialog aktiv und reiste mit einer Delegation in den Iran. Sie ist Koordinatorin des Shomer Shalom Network for Jewish Nonviolence, das sich für die Palästinenser gegen Israel engagiert.
2.
Grundzüge des Denkens
Das Buch, dem die Beurteilung von Gottliebs Denken zugrunde liegt, ist gleichsam ihr Emblem. Es trägt den Titel She Who Dwells Within. A Feminist Vision of a Renewed Judaism.5 Der Titel ist eine Übersetzung des grammatikalisch weiblichen rabbinischen Begriffes der Schechina, der »Einwohnung Gottes«, der in der Kabbala tatsächlich zu einer weiblichen innergöttlichen Person mutierte.6 Hinzu kommt für Gottlieb die kabbalistische Konnotation der Präsenz dieses Gottesaspektes in der gesamten Schöpfung und vor allem im – meist – weiblichen Menschen. Das Buch ist keine philosophische oder theologische Abhandlung, sondern eine Mischung aus Biographie, theologisch und anthropologisch bedeutsamen mythologischen Geschichten, von eigenen zugehörigen Gedichten und Liedern und der Beschreibung von Gottlieb eigens erfundenen Ritualen für – wieder – vor allem Frauen. Somit gibt sich Gottlieb als eine Poetin, Erzählerin und Schöpferin choreographisch-kreativer Riten mit einer ganzen Reihe von Ingredienzien, die man von einem jüdisch-religiösen Text eigentlich nicht erwartet. Dieses Unerwartete sind die Elemente, das Dekor, für eine Religion, die man füglich als Frauenreligion bezeichnen kann. Einer Frauenreligion, die von mystischen Ober- und Untertönen begleitet wird, in welchen der weibliche Körper, die freie Natur, weibliche Gebärden in der Frauengemeinschaft, Erzählung, Musik und Tanz eine herausragende Rolle spielen. Die jüdischen Elemente dieser 4
http://www.nahalatshalom.org
5
L. Gottlieb, She Who Dwells Within. A Feminist Vision of a Renewed Judaism, New York
6
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 128–134. 553–557. 598–601. 639. 653–654.
1995.
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Religion sind, wie im Falle der Feiertage, inklusive des Schabbat und des rabbinischen Amtes, der jüdischen Gemeinde, eher nur äußerlicher Anlass für Begehungen, die dann weitestgehend von dem bis dato bekannten jüdischen Brauchtum abweichen. Gottlieb ist dabei allerdings bemüht, für ihr »feministisches Judentum« immer rituelle und erzählerische Anknüpfungspunkte in der rabbinischen Tradition zu schaffen, die dann aber meist in bisher unübliche Formen und Inhalte abweichen, insbesondere um die in den Vorgaben schweigende oder unsichtbare Frau in den Mittelpunkt zu rücken. Die Konzentration auf die meist mythologische Erzählung, für die Gottlieb gerne auf die vorbiblischen altorientalischen Mythen zurückgreift, den Ritus, die vorzüglich getrommelte Musik aber auch auf andere archaische Geschichten, hat ihre Wurzeln in der Verankerung ihres Denkens in der Psychologie von C. G. Jung. Damit werden all die genannten performativen Elemente, zugegebenermaßen und bewusst, als therapeutische Religion, als therapeutische Riten und Geschichten verstanden, welche die unterdrückte, zurückgedrängte, oft tatsächlich kranke und missbrauchte jüdische Frau stabilisieren und zur Gewinnung eines einheitlichen und eigenen Selbst führen soll: Entsprechend ihr Jubelruf: »Ich fand das weibliche Antlitz Gottes und sie hat meine Seele geheilt«.7 Auch wenn dies nur gelegentlich benannt wird, steht, wie gesagt, hinter allem die Archetypenlehre Jungs, welche hier als therapeutisch praxisorientierte Ideologie für die eingesetzten Maßnahmen dient. Wo Jung die Archetypen, also die in der menschlichen Seele angelegten Handlungs- und Weltverstehensmotive in den Mythen der Völker, in ihrem rituellen Verhalten und Weltverstehen entdeckt, werden diese Elemente bei Gottlieb zu therapeutischen Mitteln. Sie erfindet neue Mythen und Riten, die als eine Art Therapiesprache und Therapieriten zur Gesundung der jüdischen Gemeinde, oder nochmals, vor allem der jüdischen Frauengemeinschaft werden. Kennzeichen aller dieser Neuschöpfungen und Neudeutungen alter Traditionen ist die Zentralität der Frauen als aktive Akteure, die gemäß ihren eigenen – von Gottlieb angenommenen und ausprobierten – weiblichen Bedürfnissen erzählt und nachgelebt werden. Entscheidend für Gottliebs Denken sind die Arbeiten der christlichen Theologin Carol P. Christ,8 von der sie viele Gedanken bis hinein in die Formulierung übernommen hat, so dass ihre eigene Arbeit oft wie eine Judaisierung von Christs Gedanken erscheint. Es war Carol Christ, die bei ihr eine Anziehung und Panik auslöste, die weit über den Inhalt hinausging, wie man ihren Eindruck von einer Begegnung mit Christ bei einem Feministentreffen am Union Theological Seminary in New York entnehmen kann: 7
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 50.
8
Carol P. Christ, PhD, Adjunct Professor for Womans Spirituality am California Institute of Integral Studies; sie führt die sogenannten Goddess Pilgrimages nach Griechenland durch.
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»Es war insbesondere Carol Christ, die meine Vorstellung der postchristlichen paganen Frau verkörperte. Schlank, blond und wunderschön, glich Carol der nackten Statue der Göttin Diana im Metropolitan Museum. Kraftvoll und anmutig, richtet Diana ihren Pfeil genau aus, ihre Nacktheit ungezähmt und frei, wie die jungfräulichen Wälder, die sie bewohnt. So erweckte auch Carol in mir eine physische und psychische Freiheit, die mich zugleich erregte und in Panik versetzte.«9 All diese Elemente, die Faszination selbstbewusster, schöner, nackter Frauen, draußen in der Natur sind Elemente, welche in Gottliebs Gedichten und Riten fast stets wiederkehren. Sie bietet mit all ihren Gedichten, Geschichten und neu kreierten Riten gleichsam eine praktische Verwirklichung der von Carol P. Christ in ihrem Aufsatz Why Women Need the Goddess vorgetragenen Thesen,10 die für viele Feministinnen zum vade mecum geworden sind.
3.
Der Archetypus der Muttergottheit – Schechina
3.1
Die Jungsche Archetypenlehre als Hermeneutik
Lynn Gottlieb ist während ihrer wissenschaftlichen Studien mit dem von der modernen religionswissenschaftlich arbeitenden Bibelwissenschaft gezeichneten Bild von der altisraelitischen Religion bekannt geworden.11 Laut diesem Bild, war es vor dem »paganen« babylonisch-kanaanäischen Hintergrund das Ziel der biblischen Schöpfungsgeschichte, die Götter des Nahen Ostens zu entmythologisieren. Die Götter und Göttinnen wurden zu Naturphänomenen reduziert und unter die Kontrolle des einzig wahren Gottes gestellt: So wurde zum Beispiel die Göttermutter Tiamat, die Gegnerin des Sonnengottes Marduk, in der Bibel einfach zur chaotischen Urflut erklärt, der Sonnen- und Mondgott wurden zu den vom Schöpfergott aufgehängte Lampen und dergleichen mehr. Es war dann ein Kreis von mehrheitlich christlichen Feministinnen, welche dieses Bild der Bibelwissenschaft infrage stellte und zwar mit durchaus präsentischen Konsequenzen, wie der oben geschilderte Eindruck von der Begegnung mit Carol Christ
9
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 14.
10
Christ, C. P., Why Women need the Goddess, in: Heresies: The Great Goddess Issue (1978), 8–13, wieder in: in Carol P. Christ and Judith Plaskow, eds., Womanspirit Rising: A Feminist Reader on Religion (San Francisco: Harper & Row, 1979), 273–287, ebenso in: Carol P. Christ, Laughter of Aphrodite: Reflections on a Journey to the Goddess (San Francisco: Harper & Row, 1987) 117–132, und: https://www.goddessariadne.org/why-women-need-thegoddess-part-1; und dieselbe Adresse part – 2
11
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 44–121.
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veranschaulichen mag. Dieser Feministinnenkreis wandte sich von der religionsgeschichtlichen Hermeneutik biblischer Texte ab und beschritt mit C. G. Jung den Weg der psychologischen Mythenforschung. Diese sah in den Mythen der Völker Symbole oder archetypische Erzählungen, in denen sich, die Völker und Kulturen übergreifend, universal-menschliche Archetypen Ausdruck verschafften. Es sei an dieser Stelle Jungs Definition des Archetypus eingefügt, damit die weiteren Ausführungen von Gottlieb verständlich werden: »Der Begriff des Archetypus, der ein unumgängliches Korrelat zur Idee des kollektiven Unbewußten bildet, deutet das Vorhandensein bestimmter Formen in der Psyche an, die allgegenwärtig oder überall verbreitet sind.«12 Zur Verdeutlichung verweist Jung auf die abweichende Terminologie für dieselbe Sache in der Mythenforschung die dort als ›Motive‹, in der ethno-Psychologie als ›répresentations collectives‹ in der vergleichenden Religionswissenschaft als ›Kategorien der Imagination‹ oder schließlich ›Elementar- oder Urgedanken‹ figurieren. Der Archetypus ist eine in der Seele des Menschen »präexistente Form«. Zu diesen Archetypen gehören zum Beispiel der von der »Großen Mutter« als Muttergöttin, oder der Archetypus des »Kindes«, als Kind-Gott, als Heilsbringer und dergleichen mehr. Es ist nun gerade der von Carol Christ in den Mittelpunkt des Feminismus gerückte Mutter-Archetyp,13 der auch das Zentrum von Gottliebs Denken wurde. Für deren jüdische Adaptation bot sich natürlich die hebräische »Schechina« an, die, wie gesagt, in der Kabbala zu einer innergöttlichen Gottes-Person geworden war. Allerdings kritisiert Gottlieb, wie auch die anderen Feministinnen, dass die Schechina auch in der Kabbala nur aus männlicher Perspektive gezeichnet wurde, nämlich vor allem als passives, empfangendes Element, das dort mit der materiellen Welt, den negativen Geboten, dem strengen Gericht und der bösen Seite sowie dem Exil verbunden ist.14 Um diese Beschränkung aufzubrechen greift sie zur Hermeneutik der Jungschen analytischen Psychologie: »Allerdings scheint vieles, was über die Schechina überliefert ist, aus dem unendlichen Quell des menschlichen Unbewussten zu schöpfen, das arche-
12
C. G. Jung, Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, Gesammelte Werke IX, 1, L.
13
Vgl. dazu C. Christ, Why Women Need the Goddess.
14
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 22; zu den entsprechenden Aussagen der Kabbala siehe
Jung-Merker & E. Rüf (Hg.), Olten- Freiburg 1976, S. 55.
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 128–134. 139. 573–579; K. E. Grözinger, Die »Andere Seite« in der Kabbala – Sitra Achra in: J. E. Hafner, P. Diemling, Die Kommunikation des Satans. Einflüsterungen, Gespräche, Briefe des Bösen, Frankfurt, a.M.2010, S. 119–134.
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typische Bilder zeichnet, selbst wo es dabei spezifische kulturelle Strömungen aufnimmt. Die Vorstellung der jüdischen Tradition von der Schechina bezeugt den grundlegenden Stimulus, die Erfahrung des Numinosen durch Symbole auszudrücken, zu denen auch das ›Weibliche‹ gehört.«15 Natürlich muss auch hier, bei der Aufnahme dieser jüdischen Tradition das Defizit der weiblichen Sichtweisen ausgeglichen und die Schechinagestalt neu gezeichnet werden.
3.2
Erfahrung der Weiblichkeit als Numinosum und imago dei
An mehreren Stellen16 ihrer Ausführungen kommt Gottlieb auf den hier oft genannten zentralen Glaubenssatz des Judentums zu sprechen, nämlich dass der Mensch im Ebenbild Gottes erschaffen wurde. Dass diese Aussage bei der durchgehend männlichen Metaphorik des jüdischen Gottesbildes bei vielen Frauen Frustrationen auslösen musste, darf man Lynn Gottlieb abnehmen. Angesichts dessen hat bei ihr die Schilderung einer Erfahrung mythologisch positiv besetzter Weiblichkeit durch die Historikerin Anne L. Barstow17 die Barrieren fallen lassen, um die körperliche Weiblichkeit als positives Gut anzunehmen, ja gar mystische Qualität in ihr zu sehen, wie aus vielen ihrer Schilderungen und einer unten noch zu schildernden Begebenheit deutlich wird. In ihrem Bericht schrieb Anne Barstow von ihrem Besuch in dem neolithischen Heiligtum von Catal Hüyük, bei dem sie auf eine überdimensionale weibliche Göttinnen-Statue traf: »Ich war als Frau unglaublich bestätigt, wie ich so vor ihr stand. Sie war immens, überlebensgroß, in Stein gemeißelt, über Reihen von Brüsten und Stierhörnern thronend, die Beine weit gespreizt, um zu gebären.«18 Auf Gottliebs Nachfragen erläuterte Barstow, so Gottlieb, Folgendes: »Den eigenen Körper als Körper des Schöpfers dargestellt zu sehen, ließ sie die numinose Natur ihres eigenen physischen und spirituellen Seins emp-
15
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 20.
16
Z. B. Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 22.
17
A. L. Barstow, The Prehistoric Goddess, in: C. Olson (Hg.), The Book of the Goddess, New York 1983; dies., The Uses of Archaeology for Women’s History: James Meaart’s Work on Neolithic Goddess at Catal Hüyük, in: Feminist Studies 4/3 1978; u. s. C. P. Christ, Rebirth of the Goddess. Finding Meaning in Feminist Spirituality, New York-London 1997.
18
Bei Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 16; u. siehe Christ, Rebirth.
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finden. Anstatt Scham empfand sie Stolz, Frau zu sein. Die Fähigkeit der Frau, zu gebären, symbolisierte den kreativen Prozess des Göttlichen.«19 Es war diese Erfahrung des Weiblichen, so Carol Christ, welche die Erfahrung des Göttlichen als Frau, als Weiblichkeit, in der modernen Goddess-Bewegung inspirierte.20 Der Bericht von Anne Barstow schon war es, der auch Gottlieb, laut ihrer eigenen Darstellung, zu einem ersten und noch vielen folgenden Gedichten über die weibliche Gottheit in jüdischem Gewand, der Schechina, anregte: »YHVH giving birth / At the shores oft he Red Sea / Squatting over the waters / Spreading legs wide […] YHVH’s birth cries / […] As a people is born«.21 Und ihr Bekenntnis dazu: »Das poetische Bild von der gebärenden YHWH stillte einen Hunger, der mir bisher nicht bewusst war.«22
3.3
Die Schechina als Archetypus – in der Frau
Die Schechina als die weibliche Form der Gottheit ist als Archetypus zunächst kein externes Wesen, sondern sie lebt im Herzen der Menschen. Der alte rabbinische Satz, dass da, wo zwei beieinander sitzen und Worte der Tora austauschen, die Schechina mitten unter ihnen sei, wird nun dahingehend gedeutet, dass etwa da, wo Frauen zusammensitzen und beten und sich Geschichten erzählen »die Schechina, die in unserem Herzen wohnt, einen Ruheplatz in den Geschichten der Frauen gefunden habe.«23 Auch dies hat Gottlieb in einem »Mutter Lied« beschrieben, in dem alle biblischen Mütter der Welt und Israels gepriesen werden: »Brucha Ya Shekhina hanotenet orah l’sapair sipurim. / Blessed are you who gives light / To inspire the telling of sacred tales. Night Sea Woman Tehom / Light That Dwells Within Woman Shekhina. […]« [»Gesegnet seist du YA Schechina, die Licht schenkt, um Geschichten zu erzählen. / Gesegnet seist du, die Licht schenkt / um das Erzählen von heiligen Geschichten einzuhauchen. Nacht-Meer Frau: Tehom24 / Einwohnende Licht-Frau: Schechina.«]25 Die Schechina in der Frau ist ihr innerstes archetypisches Selbst. Aus dem altrabbinischen Ausdruck, dass die jüdische Gemeinschaft und Einzelne »unter den Flügeln der Schechina« geborgen sind, wird bei Gottlieb die
19
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 16.
20
Christ, Rebirth, S. 9.
21
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 17.
22
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 19.
23
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 61.
24
Archetypisch wird Gottlieb diesen Typus als »Dragonwoman« bezeichnen.
25
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 67.
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Schechina zur »Vogel-Frau« welche die Frauen zu Höhenflügen beflügelt und sie so zu sich selbst bringt: »Die Schechina ist unser authentisches Selbst, unsere innere Vogel-Frau. Sie ist der Geist des Adlers, der die Beschränkungen der Unterdrückung überschreitet und in die freien und offenen Räume der Wildnis fliegt. Frauen brauchen die Flügel der Schechina.«26 Die Schechina ist, wie dies C. J. Jung für den Archetypus, auch und gerade des Mutter-Archetyps, schon beschrieben hatte, ein nicht definierbares Etwas. Sie ist eine in der Seele der Menschen treibende Kraft, die nur an ihren individuellen und kollektiven Äußerungen in Symbolen und archetypischen Erzählungen erkenn- und wahrnehmbar wird. In diesem Sinne gibt Gottlieb auch dem Archetypus der Mutter-Schechina sehr unterschiedliche Ausdrucksformen, so wie im Vogelbild auch in anderen weiblichen Ausdrucksformen. Diese sind, gemäß der Vorstellung von den Archetypen universal-menschlich. Darum greift auch sie zu den in der archetypischen Mythenforschung üblichen Symbolen und Bildern, um sie auf die Schechina zu deuten. So deutet sie zum Beispiel das verbreitete archetypische Bild der alten und weisen – auch heilkundigen – Frau als Äußerungen der Schechina. Sie formuliert dafür einen Segensspruch für den Gang der Frau ins Tauchbad (Mikwe), das aber nicht unbedingt den rabbinischen Anordnungen entsprechen muss, sondern auch ein individuelles oder kollektives Bad in einem See oder in einer der warmen Quellen Neumexikos sein kann: »Blessed are you, Shekhina, / Wise Elder, Ancient Mother, / Who renews and sanctifies us / With the waters of this Mikweh.« Das ursprünglich kultische Reinigungsbad der Mikwa wird nun zum archetypischen Ritus – hier der älteren Frau, die ebenfalls eine Repräsentationsform der Schechina im real gelebten Leben der alternden jüdischen Frau darstellt. Entsprechend werden auch alle Frauen in der Bibel als archetypische Repräsentationen des Ur-Weiblichen und damit der Schechina dargestellt, die somit zugleich Vor- und Identifikationsbild für die moderne Frau werden soll. Am klarsten kommt dieser Gedanke, dass alle Frauentypen der biblischen »Mythologie« archetypische Realisationen der Schechina, also des weiblichen Gottes in der Seele der Frauen, sind, an Gottliebs Identifikation der biblischen Tehom, des altkanaanäischen Urdrachens, mit ihrer Erfindung der »Dragonwoman«, mit der Schechina, zum Ausdruck. In der Ausprägung als Tehom ist die Schechina der »Ausdruck der grenzenlosen weiblichen Kraft, des Wesens der göttlichen Schechina.« Und damit ist die Schechina als Dragonwoman ein »geeignetes Modell unserer [der Frauen] physischen Macht und geistigen Beharr26
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 73.
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lichkeit, unserer Weisheit und schlangenhaften Sexualität unserer geistigen Furchtlosigkeit. Als die älteste und weltweite Ikone von der Göttin kann uns die Drachen-Frau helfen, unser verlorenes Selbstbewusstsein wiederherzustellen.«27 Die Schechina ist der neue jüdische Gott der weiblichen jüdischen Frauenreligion: »Die Schechina, die uns zu sich in die Wildnis ruft, ist nicht der Gott vom Sinai (obwohl sie dort war) oder die passive [göttliche] Gegenwart, wie sie die Kabbala beschreibt (wiewohl Sie Sich in ihre Worte eingeprägt hat). Sie ist die einwohnende Gegenwart, die uns zur Fülle des Seins ruft. Und die Begegnung mit ihr ist meist unerwartet.«28 »Ich bin eine jüdische Frau. Die Drachenfrau Schechina brüllt in mir. Ihre Tora ist der tanzende Lebensgeist. Ihre Tora ist im Innern.«29 Diese Bedeutung der Symbolsprache für das Göttliche ist nach Gottlieb denn auch die sachliche Begründung dafür, dass die Rede von Gott, die bei ihr nicht nur – wie bei den anderen Feministinnen – eine Metapher ist, verweiblicht werden muss. Denn »Es ist ein wichtiger Schritt […] sich von einer Sprache loszureißen, welche die Fähigkeit der Frauen hemmt, Gott in uns selbst zu sehen. Sich dieses Mysterium durch die Rede von der Schechina vorzustellen, ist eine Weise, dies zu tun, weshalb ich in diesem Kapitel Gebete dafür anbiete.«30 In solchen Gebeten wird die Schechina als Einwohnende, als die, welche die Schöpfung hält und gestaltet, Vogel-Frau und Drachenweib, Himmelskönigin, Lebensbaum, der silberne Mond, die sich wandelnde Frau, Großmutter und Großvater, ungeborenes Kind, das Leben, das sich selbst liebt, der Eros des Lebens, grenzenloses Begehren, kosmischer Orgasmus, »wir leben hier in ihrem Leib«, »Schechina ist der Motor unserer Leidenschaft, unser inneres Geistesfeuer, unser Wissen um unseren Selbstwert, unser Ruf nach Authentizität […] All dies sind ihre Namen.« Schöner konnte auch C. G. Jung die Vielfalt der Verwirklichungen eines einzigen Archetypus nicht beschreiben.31 Sie nimmt in diesem Zusammenhang nochmals eine kabbalistisch-ḥasidische Formel auf, nach welcher das Licht Gottes in allem west, und kein Ort leer von
27
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 226.
28
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 227.
29
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 229.
30
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 26.
31
Vgl. C. G. Jung, Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus, in: ders. Gesammelte Werke, IX, 1, S. 96.
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ihm ist.32 Aber auch hier findet eine Verschiebung des Akzentes statt. Die Schechina ist nicht in ontologisch-pantheistischer Weise in allem dieser Welt immanent. Die Schechina wird von ihr als das »Wesen (being)« genannt »das alles Leben verbindet.« Das Schmaʻ Jisrael, das die Einheit Gottes ausruft, wird von ihr zwar zunächst pantheistisch gedeutet, nämlich als »wesenhafte Einheit des Kosmos«, als Einheit der »Kräfte der Erschaffung und Zerstörung und Regeneration«. Daraus zieht sie dann den Schluss, »die Einzigartigkeit jedes Geschöpfes zu ehren« und dazu gehöre dann eben auch, »die Polarisierung der Frauen als der ›Anderen‹ zu beenden.« Das Einheitsbekenntnis des Schmaʻ Jisrael wird zum feministisch-gesellschaftlichen Bekenntnis: »Der Sexismus gedeiht auf Stereotypen. Die Frauen als ›die Anderen‹ waren durch Jahrhunderte der Entpersonalisierung unterworfen, nicht nach unseren Konditionen definiert, sondern durch kulturell vorgegebene Rollenspiele und Beurteilungen dessen, was angemessene ›weibliche‹ Charakteristika sind und was nicht. So wurde zum Beispiel Durchsetzungsfähigkeit bei Frauen als Mangel, bei Männern hingegen als positiv beurteilt.«33 In einem Preisgesang auf die Schechina zum Schabbat werden sodann die weiblichen archetypischen Tugenden gepriesen. Die Schechina ist furchteinflößend und mächtig, in Liebe gekleidet, mit süßen Lippen, und Leben im Mund, herrlich und schön, mit Haaren, die glänzen wie der Mond, das Volk beratend, ganz Frau, Jungfrau, Mutter und alte Frau, Schöpferin und Friedensstifterin, Schaddai – vielbrüstige Frau, überfließend von Milch etc. All dies sind archetypische Züge in der Seele der Frau, wie Gottlieb dies an anderer Stelle wiederholt: »Der Archetypus der Schöpferin-Mutter ist […] stets in unserer Seele.«34 Die Verse solcher Lieder und Gebete für die Schechina erinnern – nicht ungewollt – an altorientalische Preislieder für die Mutter-Göttin. So das für die traditionelle morgendliche Handwaschung neu konzipierte Gebet: » […] Schechina der Sonne, Schechina des Mondes, / wir begrüßen dich mit unserem Morgengesang / Wir begrüßen Dich mit dem Waschen unserer Hände […]«35
3.4
Gebet, Erzählung und Ritus als Therapie zur Selbstfindung
Gemäß dem ideologischen Hintergrund dieser jüdischen Frauenreligion dient der religiöse Ritus, das Gebet und die heilige Erzählung, nicht dem Dienst an einem 32
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 769. 250. 530. 552. 563. 686.
33
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 26.
34
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 67.
35
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 31–32.
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Gott, sondern der weiblichen Selbstfindung. Die Formen der religiösen Begehung sind Formen der Therapie im Dienste der Befreiung der Frau aus dem sexistischen Dualismus der patriarchalischen Gesellschaft. In einem Kapitel, das die Überschrift Schechina als die Sehnsucht nach Ganzheit trägt, wird die sozialund individualpsychologische Verschiebung und Neuinterpretation alter jüdischer Riten besonders anschaulich vor Augen geführt. Die theosophischsefirotisch denkenden Kabbalisten, sprachen vor der Erfüllung eines Gebotes die Formel »Ich erfülle diese heilige Tat zur Vereinung Gottes mit Seiner Schechina.«36 Während der Kabbalist hier die innergöttliche Vereinung des männlichen Gottvaters oder Gottkönigs mit seiner Matrone, seiner tiefer stehenden weiblichen Paargenossin, im Sinne hat, ist dies für Gottlieb natürlich ein klarer Ausdruck des sexistischen Gesellschaftsbildes der noch immer patriarchalisch denkenden Kabbala. Eine solche Vorstellung muss folglich dem therapeutischen Ziel der neuen Religion diametral zuwiderlaufen. Der Mythos darf nicht rückständige Gesellschaftsbilder unterstützen, sondern muss so verändert werden, dass er das neue Gesellschaftsbild befördert und prägt: »In einer Zeit, in der so viele Frauen versuchen, jenseits von ihrer Identifikation als Ehefrau, Geliebte, oder Mutter, Sinn in ihrem Leben zu erfahren, brauchen wir andere Metaphern als die von einer heiligen Hochzeit [im innergöttlichen Bereich], sondern solche, die uns zu einem ganzen Selbst leiten. […] Wenn wir beginnen, diese verlorenen Aspekte unseres Selbst [das heißt ›unsere weltliche Weisheit, kreative Intuition, lunares und zyklisches Wissen, unsere erotischen Kräfte, und unsere Fähigkeit zu heilen‹], wieder herzustellen und uns selbst von unserer Lage als Ausgestoßene zu befreien, brauchen wir geistige Vorbilder und menschliche Rollenbilder, Geschichten und historische Erinnerungen, die uns helfen unsere Weisheit, unsere Furchtlosigkeit, unsere Sexualität und öffentliches Wirken wertzuschätzen.«37 Die Umdeutung alter biblischer und außerbiblischer Mythen dient dazu, »die vermissten Teile« der weiblichen Psyche wieder einzusammeln, um so den Weg zur »Ganzheit des Seins« zu gelangen – unter Zurückweisung der verkürzten einseitigen Mythen und Formeln. Bei ihrer Suche nach weiblichen Bildern in der biblischen Tradition fand Gottlieb »fünf weibliche Archetypen« die es auch in der Moderne entsprechend zu deuten gilt: 36
Die Übersetzung der kabbalistischen Formel folgt hier Gottlieb. Zur Formel selbst in ihrem
37
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 36.
kabbalistischen Kontext siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 782–785.
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1. Der Hebammentyp, der sich nach der Bibel (Ex 1) gegen das Gebot des Pharao auflehnte, die männlichen Kinder zu töten: Sie wird nun als geistige und politische Heilerin verstanden, die furchtlos vor die religiösen und weltlichen Führer tritt und ihre Heilkunst mit Kräutern allen anbietet. 2. Die Prophetin – nach dem Bild der biblischen Mirjam: Sie erhebt die Stimme für die Unterdrückten, ist Tänzerin und Liederdichterin. 3. Die couragierte Frau – die biblische ʼEschet Ḥajl von Proverbien 31: Sie ist die Frau, die weiß welche Mittel im jeweiligen Kampf einzusetzen sind. 4. Die klagende Frau – nach den biblischen Klageliedern: Sie beklagt und zürnt gegen den Wahnsinn der Zeit. 5. Die weise Frau – nach Samuel 20, 18–19: Sie gibt allen Rat und vermittelt zwischen Jung und Alt. Wenn immer Frauen nach diesen Vorbildern agieren, dann ist die Schechina in ihrer Mitte – wieder im Sinne des abgewandelten rabbinischen Satzes, wonach die Schechina da weilt, wo Gelehrte (Männer) über der Tora sitzen. Die Gegenwart der Schechina erweist sich – wieder in Anlehnung an die altrabbinische Formel – darin, dass man sich im Frauenkreis Geschichten erzählt: »Im Erzählen liegt Heilung, wenn die lange gehüteten Geheimnisse aufgedeckt werden.«38 Dieses Geschichtenerzählen hat seinen Mittelpunkt – in Analogie zum Studium der Tora, dem die Gegenwart der Schechina verheißen ist – in der Neuformulierung biblischer Geschichten, in denen die Rolle der Frauen verdeckt oder übergangen wird. Dies gilt für die Ursprungserzählungen der Genesis wie auch für die Erzählungen von den biblischen Müttern. Besonders anschaulich für eine solche Neuformulierung biblischer Geschichten ist die von der Umkehrung der Erschaffung des Menschen. Gott erschuf laut dieser Umformulierung der Schöpfungsgeschichte einen weiblichen Schoß und setzte ihn in den Himmel. Diesen befruchtete sie [die Gottheit] mit ihrem Atem, wodurch sich in dem Schoß der erste Frau-Mensch bildete. Sie war die aus der rabbinischen Literatur und Kabbala bekannte Lilit. Sie wurde aus dem Himmel geboren als erste Frau mit Feuersflügeln. Damit sie nicht alleine sei, erschuf Gott den Adam aus der Erde, wodurch eine verkehrte (antipatriarchalische) Hierarchie begründet wurde. Jedoch zwang der erdgeborene Adam die himmelsgeborene Lilit dann mit Gewalt
38
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 61. Es sei an dieser Stelle an Berta Pappenheim erinnert, die deutsch-jüdische Frauenrechtlerin, die als Anna O. bei ihrem Psychiater Josef Breuer das Wort vom »gesund reden« prägte. Siehe I. Stephan, Sprache, Sprechen und Übersetzen. Überlegungen zu Bertha Pappenheim und ihrem Erzählungsband »Kämpfe« (1916), in: K. E. Grözinger (Hg.) Sprache und Identität im Judentum, Wiesbaden 1998, S. 29–42; M. Brentzel, Anna O. – Bertha Pappenheim. Biographie, Göttingen 2002; B. Konz, Bertha Pappenheim (1859–1936). Ein Leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation, Frankfurt/New York 2005; D. Edinger, Bertha Pappenheim, Leben und Schriften, Frankfurt a. M.
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unter sich. Als Folge dieser Gewalt vergaß Lilit vor Schmerz ihre himmlische Geburt und wurde zur getreuen, dem Mann untertanen Eva. Es war später ein unerkannter Hauch ihres ursprünglichen Selbst, ein unbewusster Impetus der Lilit, welcher Eva nach dem Baum des Wissens greifen ließ. Die Folge war der Fluch der dem Mann unterworfenen Eva, die das Paradies verlassen musste. Dabei betrauerte sie ihr eigentliches selbst, an das sie sich nicht mehr eigentlich erinnerte. Nach dieser Verstoßung bricht Evas Stoßgebet hervor: »Lilith, wir sind deine Kinder, wir sind die sich wechselnden Geschlechter. Hilf uns, unsere Flügel von Feuer wiederherzustellen.«39 Der neue Ursprungsmythos soll dazu dienen, dass die Frauen ihre wahre himmlische Herkunft, ihre Feuersschwingen wiedergewinnen, um sich aus der Erniedrigung unter dem Mann zu befreien.
3.5
Neue Riten als therapeutisches Handeln
Die Riten sind für Gottlieb nicht Feste, welch ein transzendenter Gott geboten hat, sondern sie sind Begehungen, welche dem Menschen sein Gleichgewicht wieder geben und ihn zu seinem Selbst führen sollen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn, wenn die betroffenen Menschen sich in den Riten selbst finden können. Und gerade dies ist aus feministischer Sicht eben das Problem der jüdischen Feste und ihres Ritus, in dem nur die Männer vorkommen. Das Ziel der Riten ist laut Gottlieb eigentlich dies: »Mittels der Durchführung von Riten ehren und beachten wir die natürlichen Rhythmen unseres Lebens, die Geburt, Hochzeit und den Tod. Wir rufen die prägenden Augenblicke unserer Geschichte in Erinnerung und tragen so die Werte und Ideale weiter, die mit diesen Ereignissen verbunden sind. So schaffen wir ein Band der Gemeinschaft und der Kultur, weil uns diese Riten durch das ganze Jahr regelmäßig zusammenführen.«40 Es wird sofort deutlich, was es bedeutet, wenn die Frauen aus dieser wichtigen Aufgabe der Feste und Riten de facto ausgeschlossen sind. Gottlieb erachtet es daher für zentral, neue Riten zu schaffen, welche das verlorene Wissen der Frauen zurückgewinnen, um sie so zu ihrem ganzen Selbst zurückzuführen. In Ermangelung entsprechender jüdischer Ritual-Traditionen sucht sie, gemäß der Archetypenlehre, ihre Zuflucht auch bei den Indianern Amerikas und deren Naturriten, welche die Verwurzelung des menschlichen Körpers mit der Mutter Erde
39
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 73–78.
40
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 116.
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feiern. Sie sieht sich für solche Anleihen auch durch die Bibel bestätigt, in der es Riten gab, welche der Fruchtbarkeit des Landes dienten und nicht von den männlichen Priestern am Tempel zelebriert wurden. Denn dort in der Bibel gibt es noch genügend Zeugnisse dafür, dass die Frauen im alten Israel für sich und ihre Männer der Himmelskönigin in selbst gebauten Altärchen Opfer darbrachten, was die Propheten natürlich heftig bekämpften. Die Israeliten, Männer wie Frauen, wehrten sich dagegen und hielten dem Propheten Jeremia entgegen: »wir wollen der Himmelskönigin opfern und ihr Trankspenden ausgießen, wie wir und unsere Väter, unsere Könige und Fürsten in den Städten Judas und auf den Gassen Jerusalems getan haben. Da hatten wir Brot genug und waren glücklich und wussten nichts von Unglück. Seitdem wir aber aufgehört haben, der Himmelskönigin zu opfern, und Trankspenden auszugießen, leiden wir Mangel an allem und kommen um durch Schwert und Hunger. Und wenn wir der Himmelskönigin opfern und ihr Trankspenden ausgießen, geschieht es etwa ohne den Willen unserer Männer, dass wir ihr Kuchen backen nach ihrer Gestalt und ihr Trankspenden ausgießen?« (Jeremia 44, 17–19). Die von Gottlieb neu geschaffenen Riten sind Riten für Frauen, zu denen Gesang, Tanz und Instrumentenspiel, meist Handpauken und Rasseln, gehören. Nur so ganz auf Frauen bezogen sollen sie deren innere Kraft stärken und deren »Wunden heilen.«41 Dafür entwickelte sie für die Frauen einen Mischkan-Ritus, der das biblische Zeltheiligtum der Wüstenwanderung in neuer Form wiederbringen soll, indem es in Gestalt der zelebrierenden Frauen von Neuem belebt wird. Im zentralen liturgischen Text dieses neuen Ritus, den eine der Frauen vorträgt, heißt es folglich: »Heute legen wir den Mantel des Ältesten um und betreten das Allerheiligste, das in uns wohnt. Denn wir sind wie der Mischkan – die Schechina wohnt in uns.«42 Der Schlusschor betont nochmals den Sinn der Zeremonie: »Ich bin eine Medizin-Frau, eine Heilerin der Seelen. Ich sterbe und bin wiedergeboren […]«43 Natürlich dürfen bei diesen Ritenkreationen die zentralen weiblichen körperlichen Erfahrungen nicht fehlen. So etwa der Menstruationszyklus, der ganz gemäß dem archetypischen Denken als Reflex den Mondzyklen entspricht. Und natürlich wird diese Feier in die rabbinische Zeremonie der Neumondsfeier hineingelesen. Ein weiterer Ritus, von Mordechai Kaplan44 für seine Tochter geschaffen, ist die Bat Mizwa-Feier, welche dem männlichen Bar-Mizwa entspricht. Zu ihr gehört neben der üblichen Lesung aus der Tora, dass das Mädchen fünfundzwanzig hebräische Lieder lernt, vierzig verschiedene hebräische Gebete lesen 41
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 127.
42
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 131.
43
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 133.
44
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. IV.
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kann, eine Rede oder sonstige Darbietung und schließlich das Trommeln nach dem Beladi Rhythmus und ein Gebet in Zeichensprache und die Fähigkeit der Darbietung.45 Zur Vorbereitung gehört auch eine Art Jugendlager in den Bergen, das die Gemeinschaft der Mädchen untereinander fördern soll. Des weiteren wird das Einsetzen der Menstruation mit einem Ritus gefeiert, die Mutterschaft, sowie das weibliche Altern.
3.6
Gewaltlose Gemeinschaft – Zionismus, Israel und das Palästinaproblem
Ein letztes Thema von Lynn Gottlieb ist das das der gewaltlosen Gemeinschaft, die zugegebenermaßen von der civil rights Bewegung der Sechziger Jahre beeinflusst wurde. Die hier propagierte Philosophie der Gewaltlosigkeit bestimmt auch ihr Verhältnis zum Zionismus und zum Nahostkonflikt. Dieses Problem wird von ihr ebenfalls ausschließlich durch die gewiss utopische Brille des Feminismus betrachtet: »Die jüdischen Frauen müssen auch die neunen Mythen der Macht in Frage stellen, die vom Staat Israel als Folge der Vernichtung des europäischen Judentums geschaffen wurden: Stärkung (empowerment) wurde als Militarismus und Machismus übersetzt, welche die jüdischen Mittel in die Finanzierung eines enormen militärischen Apparates lenkte, das in keiner Weise das Leben der Frauen unterstützt. Als eine Frau fühle ich die Verpflichtung, der Vorstellung von Macht als dem Recht Gewalt auszuüben, entgegenzutreten.«46 Gottlieb stellt die Geschichte der israelischen Staatsgründung fast ausschließlich aus palästinensischer Sicht dar. Sie beklagt, dass das Erlangen der jüdischen Herrschaft in diesem Staat durch das Leiden im »Holocaust« gerechtfertigt werde. Das Leiden des Holocaust, so meint sie, müsse zu dem Glauben führen, Juden dürften nicht ungerecht andern gegenüber handeln. Sie empfindet bei alledem doch, dass sie hier Dinge miteinander vermengt, die so nicht ganz vergleichbar sind, wenn sie sagt: »Obwohl der Holocaust, was die Quantität des Terrors anbelangt, nicht mit den palästinensischen Erfahrungen verglichen werden können, erfordern die Ereignisse von 1948, die Besetzung wie auch die Intifada eine jüdische Selbstbesinnung.«47
45
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 146.
46
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 169.
47
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 169.
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Es ist an keiner Stelle wie dieser so deutlich, dass die »kommunardische« Utopie der kleinen Frauengemeinschaften hier in Bereiche übertragen wird, die kaum kommensurabel sind. Dies auch mit einer einseitigen Verblendung, welche zwar die zionistische Mythenbildung kritisiert, die entsprechende palästinensische, die bis hinein in die antiisraelische Hetze der Schulbücher reicht, geflissentlich nicht wahrnimmt. Das ist bedauerlich, diskreditiert die berechtigten Anliegen und ist ein Symptom der tiefgehenden Entfremdung vieler jüdischamerikanischer Kreise mit dem Staat Israel.
3.7
Öko-Kaschrut und Frauenmystik
Ein wichtiges Anliegen der von Rabbi Zalman Schachter (1924–2014) führend getragenen Jewish Renewal Movement ist die Transformation der KaschrutRegeln auf ein ökologisch bewusstes Ess- und Konsumverhalten. Auch Gottlieb fühlt sich diesem Anliegen verpflichtet und stellt ausführliche Regelungen auf, wie man eine ökologische Kaschrut zu gestalten habe. Zusammenfassend definiert sie dies so, wie man es gegenwärtig auch von den Klima-Aposteln hören könnte: »Solange wir rotes Fleisch essen, unsere Autos fahren, Styropor verwenden, in Plastik eingepackte Lebensmittel kaufen, lange duschen und zahllose andere tägliche Verrichtungen durchführen, tragen wir zur Degradierung unseres Planeten und der Erosion des Lebens auf der Erde bei.«48 Hinzu gehört auch das, was man heutzutage gerechte Produktion von Gütern nennt, die also unter gerechten Bedingungen erzeugt werden, auch vegetarische Kost. Die Basis für diese Öko-Kaschrut sieht sie in sieben »heiligen Verpflichtungen«. Ehre der Mutter, Gastfreundschaft, Lebensrettung Verschwendung vermeiden, Wohlgesonnenheit gegenüber Tieren, wirtschaftliche Repressionsvermeidung, und das Hüten des Schabbat. Kurz ein umfassendes utopisches Programm aus dem Geiste des Feminismus, in dem die unterschiedlichsten, auch verschiedenen Kategorien zugehörigen Haltungen und Tätigkeiten zusammengeführt sind. Hierzu fügt sich auch Gottliebs Buch abschließende mystische Frauenerlebnis. Sie berichtet von der Begegnung mit einer aus Kuba eingewanderten promovierten Psychologin und Leiterin einer Familienklinik, mit der sie bei einem Sonnwend-Lager eine dauernde Freundschaft schloss. Nach dieser Bemerkung fährt Gottlieb fort:
48
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 172.
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»Bald entdeckte ich auch, dass sie die Fähigkeit besaß Geister und die Aura zu sehen. Eines Abends, gegen Ende des Camps, verließen Flor und ich das Abendprogramm, wir wanderten einen Hügel hinauf und lagen mitten auf einer Staubstraße unter den Sternen. Als ich die offenen Himmel betrachtete, beschloss ich, sie zu testen. Einige Minuten lang stellte ich mir vor, mein drittes Auge zu öffnen. Flor blickte herüber und bemerkte, ›Lynn, dein drittes Auge ist weit offen.‹ ›Kannst du mich lehren die Aura zu sehen?‹ Sie sagte, es habe keine Bedeutung, ob ich die Aura sehen könne oder nicht, da meine Heilkräfte darin liegen wie ich Geschichten erzähle und Riten zelebriere. Aber sie stimmte zu, mich in ihrer einfachen und beruhigenden Art zu lehren, was sie wisse. Sie bat mich das weiße Licht, das ihren Körper umgibt, zu entdecken, was ich tat. Sie erklärte mir, dass selbst wenn ich keine Aura sähe, ich doch das Energiefeld fühlen könnte, das sie erzeugt. ›Versuche den Rand meiner Aura zu berühren, Lynn.‹ Ich langte hinüber und spürte den Rand des weißen Scheins, der ihren Körper umgab. Plötzlich verspürte ich eine mächtige Woge Energie, die über mich hinwegschoss und in meine rechte Schulter eindrang. Ich fuhr zitternd auf. ›Was ist?‹ Flor schien überrascht. ›Ich weiß, das klingt befremdlich, aber ich glaube ein Jaguar hat mich überfallen.‹ ›Das ist mein Tier-Geist‹, erklärte Flor. ›Er ist ein Jaguar. Er musste tun wie du und war von deiner Energie angezogen. Ich wollte, dass du es selbst wahrnimmst.‹« Zwei Tage später beim Abschluss-Ritus des Sonnwend-Lagers, beim vormittaglichen unbekleideten Gruppentanz, mit Masken vor dem Gesicht, bei Trommeln und Gesang: »Dieses Mal stärkte mich das Feuer der Sonne. Ich fühlte mich in Harmonie mit der Erde, dem Himmel, während meine Schwestern um mich her tanzten. Die Energie der Schechina wuchs. Hier, fern der rabbinischen Schule, ohne die Kleider der Zivilisation, nackt unter der Sonne, ohne Scham, das Haar im Wind flatternd, meine Hände im Gebet verschränkt, Trällernde Stimmen. Ein
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Ansturm einer Ekstase überschwemmte meinen Körpergeist, das Brüllen der Drachenfrau erscholl in meinem Herzen. Ich fühlte ihre absolute Freiheit.«49 Im Nachtrag berichtet Gottlieb, dass auch andere ähnliches erlebten – es war ein feministisch-mystischer Gruppenritus. Darin sieht sie die Schechina, welche eine solche Gleichzeitigkeit der erlebten Heimkunft erzeugt. Die im Herzen der Frauen wohnende Schechina führt zur menschlichen Vollkommenheit, indem man die Ängste durchbricht und für Visionen offen ist. Dieser Abschluss des ganzen Buches charakterisiert den hier verkündeten Feminismus als eine mystische Bewegung, deren Ziel es ist, die weibliche Vollkommenheit in der Ablegung aller gesellschaftlicher Konventionen zu erlangen, und der Gemeinschaft der Kraftübertragung von Frau zu Frau.
49
Gottlieb, She Who Dwells Within, S. 227–228.
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TEIL VI – THEMEN UND STRUKTUREN FÜR EINE JÜDISCHE PHILOSOPHIE IM EINUNDZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT – STIMMEN AUS DER ACADEMIA
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1.
Vorbemerkung
Die jüdische Philosophie, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das Terrain einzelner Intellektueller, Ärzten, Rabbinern und Privatgelehrten, hat nach dem zunächst erfolglosen Kampf der Pioniere der Wissenschaft des Judentums, in die deutsche Universität aufgenommen zu werden, vor allem in der neuen Welt von Amerika einen Siegeszug angetreten, der die jüdische Philosophie als Hochschul- und Professorenphilosophie, zu einem tatsächlich neuen Medium jüdischer Selbstexplikation werden ließ. Die amerikanische Universität, aber auch die israelische, und nur tröpfchenweise die europäische, ist zu einem neuen Tableau des Judentums geworden. Zwar gibt es natürlich noch die Rabbiner als religiöse Elite, aber die Hochschulgelehrten beanspruchen nun, wie einst die Rabbis in der Antike, welche sich an die Stelle der Propheten setzten,1 einen intellektuellen Führungsanspruch in der Deutung des Judentums. Damit hat, intellektuell gesprochen, eine neue Ära des Judentums begonnen, in der natürlich, wie das meist so war, die alten Eliten nicht verdrängt wurden, sondern weiter ihres Amtes walten, die nun aber doch zunehmend ihre geistigen Anregungen aus den Erzeugnissen der Academia schöpfen, deren Bücher lesen, oder wie dies gar in Jerusalem zu sehen ist, zunehmend auch als Hörer, was natürlich in den religiösen Universitäten in Amerika ohnehin als institutionalisierte Einrichtung schon Normalität ist. Die Stimme aus dieser neuen Arena jüdischen Denkens ist recht betrachtet eher ein Stimmengewirr, was aber nicht als negativ, sondern als geradezu bereichernd empfunden wird, und natürlich in der oben schon gezeichneten Individualisierung der Philosophie als persönliches Narrativ seinen Grund hat. Aus dieser Vielzahl der Stimmen einen auch nur einigermaßen repräsentativen Überblick zu bekommen, würde gewiss weitere Bände des Jüdischen Denkens erfordern und das, was hier geplant war, völlig sprengen. Darum ist es ein Glück der Stunde, dass H. Tirosh-Samuelson und A. W. Hughes 2014 den Band Jewish Philosophy fort the Twenty-First Century. Personal Reflections2 herausgegeben haben, der hilft, auch an dieser Stelle noch einen Blick in diese reiche Vielfalt der Gegenwart und die geplante Zukunft zu tun. Die in dieser Publikation vertretenen Hochschulprofessoren beiderlei Geschlechts sind ein getreuer Spiegel zum einen der Fortführung der Debatte um die Stellung der Philosophie im Judentum und zum andern ein Zeugnis dafür, dass sie mit dieser Debatte zugleich auch die Erben der europäischen jüdischen wie nichtjüdischen Philosophie sind. Schon die Herausgeber des Bandes stellen diesen Bezug ganz bewusst her, indem sie ihr
1
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 231–234.
2
H. Tirosh-Samuelson and A. W. Hughes, Jewish Philosophy fort the Twenty-First Century. Personal Reflections Leiden – Boston 2014.
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eigenes Vorhaben direkt auf Franz Rosenzweig und dessen Vorhaben eines »neuen Denkens« stützen, das Rosenzweig wesentlich in den Begriff des »Sprachdenkens« fasste. Deshalb ist auch für die beiden Herausgeber die adäquate neue jüdische Philosophie vor allem eine narrative Philosophie.3 Für den deutschen Leser dieser hier versammelten Texte wird in fast atemberaubender Massivität deutlich, in welch tiefgreifender Weise die moderne jüdische Philosophie vor allem der Amerikaner über die Kluft der Schoah hinweg von der deutschen und deutsch-jüdischen Philosophie lebt. Dieses Bergen unter dem deutschen Schirm zeigt sich in einer Fülle schon beim ersten Beitrag des Bandes aus der Hand – des allerdings aus Österreich stammenden – Asher D. Biemann. In dem nur kurzen Essay zitiert Biemann nicht nur alle einschlägigen deutschjüdischen Philosophen, angefangen von Moses Mendelssohn, Abraham Geiger,4 Heinrich Graetz, Simon Dubnow, Hermann Cohen,5 Karl Mannheim, Joseph Dov Soloveitchik6 (er promovierte über H. Cohen in Berlin), Ernst Cassirer, Hannah Arendt, Martin Buber, Franz Rosenzweig,7 Eugen Rosenstock-Huessy, Erich Auerbach, Hugo Bergmann, Felix Weltsch, Max Brod, Walter Benjamin, den zwar französischen, aber doch hierher gehörigen Emmanuel Lévinas,8 Isaiah Berlin (England), Leo Strauss, Alexander Altmann, Julius Guttmann, Rudolf Borchardt und Jacob Taubes. Von den nichtjüdischen Deutschen figurieren hier natürlich Kant, Schelling und Hegel, Max Scheler, Wilhelm von Humboldt, Jacob Burckhardt, Max Weber, Karl Popper, Hans Kelsen (zum Christentum konvertiert), Hans-Georg Gadamer, Dilthey, Victor Kraft, Hans Albert, Goethe und Herder, Hugo von Hofmannsthal, Karl Löwith sowie Jürgen Habermas. Es scheint, als wäre dieses Deutschland nie untergegangen, nicht durch einen »Zivilisationsbruch« abgeschnitten oder doch zumindest mit einem stets gegenwärtigen Fragezeichen belastet – ein Phänomen, das sich durch viele dieser Artikel zieht, bis hin zum letzten von Elliot R. Wolfson, der sich fast ausschließlich auf die Nichtjuden beschränkt und erstaunlicherweise keine Spur eines Zweifels 3
Twenty-First Century, S. 1–2. Siehe dazu F. Rosenzweig, Das neue Denken, in Franz Rosenzweig. Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie, ed. G. Palmer, Berlin Wien 2001, S. 210–234. Die Herausgeber zitieren daraus zur »Zeitlichkeit des neuen Denkens«: »An die Stelle der Methode des Denkens, wie sie alle frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt die Methode des Sprechens. Das Denken ist zeitlos, will es sein; […] Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; […] es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird, es läßt sich seine Stichworte vom andern geben.«, Zweistromland, S. 223; und Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. I, zu F. Rosenzweig.
4
Siehe Abraham Geiger s. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 578–616.
5
Zu ihm siehe, Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 617–658.
6
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. I, zu Soloveitchik.
7
Zu Buber und Rosenzweig siehe Jüdisches Denken Bd. 5, Teil I, Kap. I & II.
8
Zu Lévinas siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I. Kap. III, Lévinas.
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Jüdische Philosophien des 21. Jahrhunderts
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an der Integrität Martin Heideggers erkennen lässt, wiewohl ein solcher in den USA schon lange durch Emil Fackenheim und noch mehr durch Hans Jonas unverkennbar und eindeutig formuliert worden war.9 Einen Eindruck der so vorherrschenden Germanophilie vermittelt expressis verbis der zweite Beitrag des Bandes von Zachary J. Braiterman mit seinem Titel After Germany. An American Jewish Manifesto, in dem er versucht sich aus all diesen Namen freizuschwimmen, wiewohl er zugleich überzeugt ist, dass diese »Gefangenschaft« für immer weiterbestehen wird. Braiterman sagt nämlich gleich zu Beginn seines Essays: »Um als Wissenschaftler zu gelten, formulieren diejenigen von uns, die sich der jüdischen Philosophie widmen, ihre Gedanken traditionellerweise durch das Sieb der großen Denker. Wir erheben nicht in einer wirklich sichtbaren Weise kritische Stimmen. Stattdessen reden wir mit der Stimme von Martin Buber, Franz Rosenzweig, Emmanuel Lévinas oder Leo Strauss, und kaschieren mit ihrer Hilfe unsere eigenen Gedanken. In dieser Gefangenschaft der Vergangenheit wird die jüdische Philosophie das Gespür für die voraneilende Zeit verlieren […]. Meine Kollegen und Freunde scheinen kaum mehr wahrzunehmen, dass die ›moderne‹ deutsch-jüdische Philosophie schon längst nicht mehr ›zeitgenössisch‹ ist. […] Alles verändert sich, außer der jüdischen Philosophie, die erst einmal ihre Aufmerksamkeit von Deutschland weg nach Amerika ausrichten muss, von der Moderne zum Postmodernismus. […] Die moderne und zeitgenössische Philosophie muss sich in jeder Generation neu erschaffen.«10 Braiterman hat recht, es wird hierbei nicht so schnell ein Entkommen geben, und dies nicht nur aus Gründen der Ängstlichkeit, sondern aus sprachphilosophischen. Es ist Michael D. Oppenheim, der diese systemische Verbundenheit bei seinen Argumenten bezüglich der Einbeziehung des Feminismus in die Philosophie allgemein und des jüdischen Denkens im Besonderen eigens ausspricht. Bezugnehmend auf Ludwig Wittgenstein sagt er mit Tamar Ross,11 dass die religiöse Sprache verschiedener Menschengruppen ein Ensemble von sprachlichen Praktiken, von sogenannten »Sprachspielen« darstellt, die zutiefst von den Lebensweisen der jeweiligen Gruppe geprägt ist. Will sagen, auch die moderne jüdische Philosophie ist Teil einer solchen Gruppe, die ihr Sprachspiel nicht verlassen kann, ohne sich selbst aufzugeben.
9
Zu beiden vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 501–562. 614–635.
10
Twenty-First Century, S. 42 (die beiden Zitate sind hier in ihrer Reihenfolge umgestellt).
11
Zu ihr s. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil V, Kap. III.
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Dieser Sozial- und Kulturbezug auch der philosophischen Rede wird durch einen anderen Gedanken der germano-gallisch-jüdischen Philosophie ergänzt, nämlich durch die sogenannte »Begegnungsphilosophie« (philosophy of encounter, Dialog-Philosophie) von Buber, Rosenzweig und Lévinas. Wo das Selbst des Menschen nicht als autonomes Ich-Sein begriffen wird, sondern als ein Selbst, das durch die Relation zum Anderen, zur Gemeinschaft mit anderen Menschen, konstituiert wird, ist es unausweichlich, dass zu den konkreten Lebensbezügen, welche das philosophische Denken prägen, auch die philosophische Tradition gehört.12 Es ist das individuelle Leben, das durch seine Verflochtenheit mit der Gruppe beziehungsweise mit dem jüdischen Volk und der Begegnung mit dessen Mitgliedern wie auch durch die Begegnung mit Personen der Außengruppe geprägt wird, die das Reden wie das Denken der Menschen und damit auch des Philosophen prägen. Daraus folgt zwangläufig, dass diese modernen jüdischen Philosophen nicht eine, nicht die einzige jüdische Philosophie vor Augen haben oder wünschen, sondern eine Vielfalt von jüdischen Philosophien, die aus diesen verflochtenen und individuellen Lebensbe- und -vollzügen schöpfen. Die Herausgeber des Bandes verstehen ihr personbezogenes Konzept jüdischer Philosophie als einen bewussten Kontrapunkt zur bis dato dargestellten philosophischen Disziplin, die nur rückwärtsgewandt, doxographisch ausgerichtet sei und die eigenen Stimmen der Gegenwart im Unklaren belassen. Um die Vielfalt der von ihren Kollegen und Kolleginnen vorgetragenen Konzepte, die in dem Band selbst nur alphabetisch angeordnet wurden, dennoch etwas zu ordnen, haben die Herausgeber selbst eine thematische Gliederung vorgelegt, der ich hier folgen werde, wo sie mir dienlich erscheint. Hava TiroshSamuelson und Aron W. Hughes bewerten das von Ihnen publizierte Material wie folgt: »Die Essays dieses Bandes bereichern den Diskurs jüdischer Philosophie in vielfältiger Weise. So in der Wahl der Themen: Einige Autoren fordern ihre jüdischen Kollegen auf, sich für Wissenschaften und Technik zu interessieren (Raven und Tirosh-Samuelson), für Kunst und Literatur (Braiterman), Politik und Soziologie (Mittleman, Hughes, Trigano und Harvey), für das bürgerliche Leben (Pessin, Sagi und Katz). In Sachen der Methodik: Mehrere Arbeiten schlagen neue Wege vor, um die Kluft zwischen Religion und Säkularismus zu überwinden, etwa durch die positive Rolle des religiösen Zweifels und philosophischer Skepsis (Wolfson und Magid), andere bieten neue epistemologische, linguistische und hermeneutische Paradigmen an (Cass, Ross und Diamond), wieder andere reflektieren die philosophische Bedeutung der 12
Twenty-First Century, S. 311.
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Geschichte und Geschichtlichkeit (Biemann, Morgan und Rosenstock). Die Theologie wird in mehreren Beiträgen thematisiert (Pessin, Diamond, Magid, Trigano, Cass und Seeskin) zum einen als Brückenschlag zum Christentum hin (Kavka-Rashkover, Meir, und Pessin), oder andrerseits durch die Betrachtung von säkularen Wissenschaften und Ideologien wie Feminismus, Psychoanalyse oder Soziologie als relevant für die jüdische Philosophie (Oppenheim, Braiterman und Tirosh-Samuelson).«13 Schon dieser Versuch der Systematisierung der in diesem Band versammelten Arbeiten zeigt die große Vielfalt dessen, was sich als moderne jüdische Philosophie verstehen will. Bereits an dieser Stelle kann gesagt werden, dass die hier versammelten Autoren die »Philosophie« als die schlechthin umfassende moderne jüdische Denkweise verstehen, in welche sie sogar die ansonsten ganz der Orthodoxie zugehörige Halacha einbeziehen.
2.
Jüdische Philosophie als Religionsphilosophie – in den Spuren der Tradition
2.1
Auf der Suche nach dem ewigen Israel im gottlosen Raum der Welt mithilfe einer neuen Erkenntnislehre und aufgrund neuer nachemanzipatorischer Erfahrungen.
Shmuel Trigano, Professor für Religionssoziologie und Politik, Paris Shmuel Trigano, der außerordentlich viel publizierende und gesellschaftlich aktive, aus Algerien geflohene französische Jude, ist Philosoph und Soziologe aber darüber hinaus auch mystischer oder gar mythologischer jüdischer Denker. Neben seinen soziologischen Analysen zur Situation des Judentums seit der Emanzipation, seinen kritischen Betrachtungen zur Kultur in Israel und seinen sehr pessimistisch gestimmten Analysen zur Situation des französischen Judentums, machen seine soziosophischen Deutungen biblischer Texte Erstaunen – in ihnen greift er zur rabbinisch-kabbalistischen Hermeneutik –, die nicht so recht zur Diktion des philosophierenden Soziologen passen wollen. Im Mittelpunkt seines Denkens, das er anhand seiner zahlreichen Bücher skizziert, steht der an die mythologisch-kabbalistische Lehre vom Zimzum (Rückzug Gottes aus dem Raum der Welt)14 angelehnte Gedanke von der abwesenden Präsenz der Gottheit inmitten des »ewigen« Israel, das jedoch nicht mit den vielen realen historischen Ausprägungen Israels identisch ist. Diese ewige Israel, ist die abwesende Anwesen13
Twenty-First Century, S. 8f.
14
Zum Zimzum siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 626–635. 338–650. 765. 811–820. 899–904.
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heit der Transzendenz im realen historischen und politischen Leben.15 Die jeweiligen konkreten Verwirklichungen Israels müssen bemüht sein, das jüdische Denken in seiner eigenen Souveränität wieder zu gewinnen: »In welcher Weise öffnet sich beim Judentum die Frage der Souveränität hin zur Metaphysik? Es ist nach meiner Auffassung da, wo Abwesenheit und Anwesenheit zusammentreffen. Das Judentum ist von einer strukturellen Abwesenheit erfüllt, nämlich der des Schöpfers, der sich zurückzog, um Raum für den Menschen zu schaffen.16 Wir müssen uns daran erinnern, dass Gottes Name ›Sein‹ (genauer: ›Sein-Wollen‹, J-HWH) bedeutet, so dass wenn man von Gott redet dies stets ein Reden von allem existierenden Seienden ist. Diese Abwesenheit ist verschieden von der Abwesenheit von sich selbst, von jener durch die Emanzipation eingeleiteten Regeneration und von jener durch den Zionismus veranlassten Normalisierung. In der Mitte des hebräischen Wesens herrscht eine Fremdheit, eine Abwesenheit, die kein leerer Raum, sondern ein freigelassener Ort ist. Dieser Ort bezieht sich auf Gott. Mit dem Judentum leben wir in einem Universum, das Gott am Abend des sechsten Schöpfungstages verlassen hat, als er den Menschen erschuf. Der Schabbat eröffnet somit die Zeit des Menschengeschlechts, damit es Seine Schöpfung vollende, als Ebenbild des Schöpfers.«17 Trigano nimmt hier den alten jüdischen Topos auf, nach welchem der Mensch als Partner Gottes zur Vollendung der Schöpfung aufgerufen ist. Der Rückzug Gottes aus der Schöpfung ist der freie Ort, den der Israelit als Erlösungshandelnder einzunehmen hat. Unter Judentum, das betont Trigano eigens, versteht er ein »globales dialektisches System, das Werte und Darstellungen umfasst, wie auch Gewohnheiten und Verhaltensweisen.« Es ist dieses mythische Ideal, an dem er die irdische Wirklichkeit des jeweiligen Israel misst. So beklagt er, dass im heutigen Staat Israel an der Hebräischen Universität noch der Geist der enzyklopädischen Wissenschaft des Judentums herrsche, der eher – wie von Moritz Steinschneider kolportiert – an einem ehrenhaften Begräbnis des Judentums arbeitet, nicht aber an einer philosophischen Erfassung der Ereignisse um die Wiedergründung eines jüdischen Staates. In Israel vermisst er eine Institution, die das Judentum auf einen Stand als Zivilisation, Kultur und Denken hebt, die sich nicht auf einen jüdischen Partikularismus beschränken, sondern den Mut haben, sich auf ein universelles Niveau zu heben, mit einem universalen jüdischen Denken, welches nicht 15
Man vergleiche dazu oben, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II, Heschel.
16
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 588–607. 608–613.
17
Twenty-First Century, S. 472.
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das griechische sei.18 Trigano glaubt, dass es dafür einer neuen Art von Institution bedürfe, die weder Universität noch Jeschiva ist, dazu einer neuen Disziplin als »Jüdisches Denken, aber auch einer politischen Soziologie und Anthropologie des jüdischen Volkes, das heißt einer historischen Soziologie des Judentums« – eine neue epistemologische Perspektive, die als »Judaïc humanities« (Jüdische Geisteswissenschaft) bezeichnet werden könnte.19 Wie diese neue, sehr ehrgeizige und als völlig neu für das jüdische Denken erachtete Epistemologie aussehen soll, wird am deutlichsten, wo er biblische Texte interpretiert. Er stellte dies in seinem Buch Philosophie de la Loi: l’origine de la politique dans la Tora dar, das den vom damaligen Verlag abgelehnten, an Spinoza erinnernden, Untertitel A New Theological-political Treatise tragen sollte. Dazu sagt Trigano: »Kurz gesagt, das Ziel [dieser neuen Wissenschaft] ist, verstehen zu lehren wie der jüdische Genius seine Welt erbaut. […] Dadurch können wir eine historisch-politische Anthropologie wahrnehmen. Zugleich können wir die Metaphysik einsehen, weil der biblische Text in einer Weise bearbeitet wird, als würde er zu uns heutigen reden. […] Auf diese Weise muss der biblische Text als universelles Denken betrachtet werden, der den Kosmos und das gesamte Universum umfasst, eine noch immer lebende Seele, welche künftige Schöpfungen in sich trägt. Dies ist die Bedingung für die Wiedergeburt des ewigen Israel.«20 Das Ziel jeder hebräischen Politik müsse sein, den leeren Raum im Gemeinwesen aufrechtzuerhalten, dies nennt er die »levitische Funktion«. Denn den leeren Raum, der durch den Zimzum, den Rückzug der Gottheit, inmitten des jüdischen Gemeinwesens oder Staates entstand, sieht Trigano im Status des biblischen Stammes Levi angezeigt, der kein Land besaß, sondern dem Tempeldienst geweiht war: »Die gesellschaftliche levitische Carta (nämlich Opfer, Darbringungen, Zehntabgaben, Auslösung des Erstgeborenen, das Schabbat-Jahr, JubiläenJahre und dergleichen) ist eine Aufzählung dessen, wie man in der Fülle einen leeren Raum erzeugen kann, die Bedingung für das Leben im Verheißenen Land.«21 Sprich, der für die Erzeugung des Idealzustandes Israels nötige Leerraum in seiner Mitte wird durch den jüdischen Ritus hergestellt. Ähnlich werden die unterschiedlichen biblischen Begriffe für das jüdische Volk, der Auszug Abrahams aus seinem angestammten Vaterland, oder das 18
Twenty-First Century, S. 470.
19
Twenty-First Century, S. 470.
20
Twenty-First Century, S. 471; u. vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II, Heschel.
21
Twenty-First Century, S. 473.
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»nichtbetretbare Wüstenheiligtum« beim Auszug aus Ägypten gedeutet. Sie alle dienen nach der Auffassung von Trigano zur Strukturierung der politischen Gemeinschaft, des »eternal Israel«. »Kurz, die Transzendenz begründet die Politik, aber die Politik greift über das Religiöse hinaus.«22 »In dieser Hinsicht öffnet die Frage der Politik ein Tor zur Gottesgegenwart, zum Metaphysischen.«23 Eine andere, mehr dem Begriff einer Philosophie oder Geschichtsphilosophie entsprechende Seite sind Triganos Analysen der Verdrängung des Jüdischseins während der Zeit der Emanzipation, als die Juden nur als Menschen, nicht mehr als Juden anerkannt werden sollten, Grundlage des bald einsetzenden Antisemitismus, bis hin zum Versuch einer »Endlösung für das Jüdische«. Dies sind Tendenzen, die Trigano auch in der Gegenwart sieht, in der Widererstarkung des Antisemitismus – insbesondere unter islamischem Einfluss in Frankreich sowie in der weltweiten Delegitimierung Israels. All dies sind für ihn Folgen des Aufgebens des »ewigen Israel«, ein Vorwurf, den er auch dem zionistischen Israel nicht erspart, wiewohl er selbst eine Zukunft für das Judentum letztlich nur dort sieht. Dies zeigt sich auch an seiner scharfen Kritik an den jüdischen Antizionisten in Israel und in der Diaspora: »Gleichermaßen kann man in dem nihilistischen Antizionismus gewisser Bewegungen in der Diaspora und in Israel eine Preisgabe der Juden durch Juden sehen. Die gesamte jüdische Ethik muss im Lichte der Erfahrung von Herrschaft überprüft werden, weil die Juden anscheinend noch deren moralische und intellektuelle Erfordernisse verfehlen, insbesondere die Notwendigkeit, die kollektive und das heißt politische Dimension jüdischer Existenz anzunehmen.«24 Besonders charakteristisch für diesen jüdischen Denker ist schließlich die Konsequenz, die er aus dem soeben zitierten Satz zieht: »In dieser Hinsicht stimme ich mit dem Erbe von Cohen, Rosenzweig und Lévinas nicht überein: Ihre Erfahrung entspricht nicht der Erfahrung mit einem Staat, sie war aber auch ein völliger Fehlschlag hinsichtlich des demokratischen jüdischen Individualismus, der ein Teil der Verantwortung für die Vernichtung der Juden trägt.«25 Die Genannten zählt er darum nicht mehr zu den jüdischen Philosophen, deren letzten er in Moses Mendelssohn sieht.26
22
Twenty-First Century, S. 473.
23
Twenty-First Century, S. 473.
24
Twenty-First Century, S. 469.
25
Twenty-First Century, S. 469.
26
Twenty-First Century, S. 463.
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2.2
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Mit Plato im Kampf für einen reinen transzendenten Monotheismus
Kenneth Seeskin, Professor für Jüdische Kultur und Religion, Northwestern University Kenneth Seeskin ist eigentlich ein philosophierender Theologe, der den jüdischen Monotheismus verteidigt und den wirklichen philosophischen Partner dafür in Plato sieht: »Mein Zugang zur jüdischen Philosophie war stets der, dass ich in ihr eine natürliche Verbündete des Platonismus gesehen habe.«27 Der jüdische Zeuge für die Übereinstimmung von jüdischem Monotheismus und Platonismus ist für ihn der idealistische Neokantianer Hermann Cohen:28 »Hermann Cohen folgend glaube ich, dass die zentrale Erkenntnis des Monotheismus nicht ist, Gott sei einzig – einer gegenüber von zwölf –, sondern dass Gott einzigartig ist, das heißt dass er mit nichts anderem verglichen werden kann. Das heißt dass man Gott mit keiner der Kategorien charakterisieren kann, die wir ansonsten zur Beschreibung anderer Dinge verwenden. Um es ganz deutlich zu sagen, da ist auf der einen Seite Gott und auf der andern alles übrige – Gott hier und die Schöpfung dort – der Unterschied zwischen diesen ist absolut. […]. Mit dem Begriff ›absolut‹ will ich sagen, Gott ist nicht der Stärkste, Weiseste, Gütigste im ganzen Universum, sondern er ist etwas über und jenseits des Universums und gleicht ihm in keiner Weise.«29 Eine solche absolute Differenz zwischen Gott und allem Übrigen erlaubt, mit Moses Maimonides, natürlich nur eine negative Theologie,30 weshalb Seeskin auch nicht ansteht, den Aristoteliker Maimonides in die platonische Tradition zu stellen.31 Offenbar ist die Liebe zu Plato – über den der Autor schon promovierte – so groß, dass er nicht wahrhaben will, dass schon der dem arabischen Kalam verpflichtete Rationalist Saʽadja Gaʼon (882–942) lange vor Maimonides und ohne Plato die kategoriale Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf philosophisch begründete.32 In polemischer Gegenstellung zum Christentum mit seiner Fleisch gewordenen Gottheit, lehnt Seeskin jeglichen Hauch einer göttlichen Immanenz ab, die
27
Twenty-First Century, S. 410.
28
Zu Cohen siehe, Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 617–658.
29
Twenty-First Century, S. 412; nach Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Ju-
30
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 438–446. 410–414.
dentums, Darmstadt 1966/Dreieich 1978 S. 41–57, insbes. S. 51. 31
Twenty-First Century, S. 417.
32
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 362–400.
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natürlich gerade auch im Judentum außerordentlich stark verbreitet war, angefangen von der rabbinischen Schechina,33 sodann in der meist gerade platonischem Denken verpflichteten jüdischen Esoterik und Mystik, in den frühen hechalotmystischen Schiʽur Koma Vorstellungen,34 dann in den unterschiedlichen Immanenzvorstellungen der Kabbala und des Ḥasidismus.35 Er polemisiert mithin auch gegen eigene jüdische Traditionen wie auch gegen die allgemeinere Vorstellung vom Heiligen als Erscheinungsformen des Göttlichen in der Welt, so in Vorstellungen vom heiligen Volk, vom heiligen Land, Tempel, heiliger Sprache etc.36 Demgegenüber nimmt Seeskin die altbekannte Formel von der Freiheit zur wissenschaftlichen Forschung auf, die der Monotheismus geschaffen habe, nach dem ja alles Seiende profan sei. Aber andrerseits sei gerade auch hier der Monotheismus wiederum als Antidotum vonnöten, um die Wissenschaft nicht in die Hybris verfallen zu lassen, als könne sie mit ihren Kategorien alles erkennen. So sei ja auch schon bei Maimonides eine »eine anhaltende Herabwürdigung der Sinne und der störenden körperlichen Triebe« zu sehen.37 Dies allerdings schreibt er dem platonischen Erbe bei dem Aristoteliker Maimonides38 zu: »Die wesentlichste Erkenntnis dieser Philosophie ist die grundlegende Trennung der Seite der Wirklichkeit, die mit den Sinnen wahrnehmbar ist und jener, die ausschließlich durch die Vernunft erfasst werden kann. Platos Theologie ist ein notorisch schwieriges Terrain, und es mag sein, dass ihm ein Monotheismus in unserem Sinne unbekannt war. Aber ich bin kaum der Erste, der darauf hinweist, dass Platos Sicht der Wirklichkeit mit dem jüdischen Abscheu, Gott in materieller Form darzustellen, Hand in Hand geht.«39 Dass Seeskins philosophischer Monotheismus eine dogmatisch einseitige Definition des Judentums darstellt, wird jeder erkennen, der die breite jüdische Tradition kennt, wonach man Gott etwa in der Tora, in den heiligen Buchstaben der Tora und als Heiliges an heiligen Orten und in Personen präsent sehen kann.40 Bezugnehmend auf Kant sieht er das Herzstück des Platonischen darin, dass es außer den mit den Sinnen wahrnehmbaren Dingen dieser Welt auch Unsicht-
33
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 253–257; Bd. 2, S. 113–133. 427–428. 553–557.
34
Zur Hechalotmystik und Schiʽur Koma, siehe, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 310–340.
35
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 73. 79. 80. 528. 773. 774. 775. 789. 790. 843. 874. 901.
36
Twenty-First Century, S. 415–416.
37
Twenty-First Century, S. 417.
38
Vgl. Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 446–449.
39
Twenty-First Century, S. 418.
40
Zuletzt siehe oben zu A. J. Heschel, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Kap. II, Heschel.
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bares gibt. Ideen, die nicht sensibel in die irdische Realität eintraten, bestehen demnach dennoch in dieser Welt; und daraus sei nicht zu schließen, dass sie irreal seien. Diese Auffassung ist für ihn zugleich die Grundlage seiner Ethik: Denn auch hier gilt, dass die Nichtverwirklichung ethisch-moralischer Ideen in dieser Welt nicht deren Bedeutungs- oder Wertlosigkeit zur Folge hat – dies auch angesichts der Schoah.41 »Alle moralischen Ideale legen uns die Verpflichtung auf, sie zu verwirklichen. Dies gilt gerade so für die menschliche Würde wie für eine gerechte Gesellschaft wie das messianische Königreich. Kants Argument lautet, dass das Scheitern an ihrer Verwirklichung nichts für deren Gültigkeit bedeutet.«42
2.3
Ein platonischer Kampf um einen jüdischen Liebesbegriff wider die billige christliche Liebe
Sarah Pessin, Professorin für Philosophie und Jüdische Studien, Denver Sarah Pessins Essay A Shadowed Light ist, ganz dem individuell-narrativen Charakter der neuen jüdischen Philosophie entsprechend, weitgehend vom persönlichen Erleben und von einem hohen Maß an Verletztheit geprägt, die typisch für eine amerikanisch-jüdische Befindlichkeit zu sein scheint: Eine massive Präsenz christlicher Religiosität in allen gesellschaftlichen Bereichen, von der sich ein starkes jüdisches Selbstbewusstsein anscheinend nur zurückgesetzt fühlen kann und darum als wichtigste Aufgabe gerade auch der Philosophie darin sieht, einem panchristlichen Denken ein entschlossenes »nein« und jüdische Sichtweisen als Korrektur entgegenzusetzen. Sie exemplifiziert diese Aufgabe am Begriff der Liebe, der nicht – wie im von ihr erlebten protestantisch-amerikanischen Christentum – als die grenzenlose Liebe und bedingungslose Bereitschaft zum Vergeben verstanden werden darf, sondern als Verantwortung mit Liebe oder Liebe im Rahmen von Gerechtigkeit. Als empörendes Beispiel dafür, wie auch jüdische Philosophen von solch »christlichen« Einseitigkeiten geblendet sein können, dient ihr Hanna Arendts Liebe zu Martin Heidegger: »Ein stillschweigender Sinn von Gnade war unbemerkt das Wurzelwerk eines umfassenden philosophischen Erleichtertseins darüber, dass sogar der Nazi Heidegger liebenswert ist, sogar für eine jüdische Frau und das im unmittelbaren Kontext der Schoah. Was konnte es Schöneres und Vorbehaltloseres geben als die reine Liebe einer jüdischen Frau
41
Seeskin argumentiert hier gegen Emil Fackenheim, der angesichts der Schoah Zweifel an Kants ethischen Optimismus hegt; siehe E. Fackenheim, To Mend the World, 1982/1994, S. 273; u. Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 548–553.
42
Twenty-First Century, S. 419.
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für ihren Nazi-Liebhaber.«43 Demgegenüber meint Pessin, »dass das Verzeihen in manchen Fällen geradezu unmoralisch sein kann.«44 Ihren von der biblischen wie rabbinischen Tradition sehr wohl abgedeckten Liebesbegriff fügt Pessin jedoch in das philosophische, von ihr formulierte Religionsverständnis des »abgeschatteten Lichtes« (A shadowed light) ein. Ausgehend von dem im ersten Band des Jüdischen Denkens vorgestellten mittelalterlichen neoplatonischen Emanationstraktat von Jizchak Jisraeli,45 der den Emanationsstrom nicht einfach als Licht sondern als »ray and shade« (Strahl und Schatten) beschreibt, fordert Pessin für jegliches Verständnis von Religion, dass in einer Religion nicht die leichte Erlösung, das Verdrängen des Übels, herrschen dürfe, sondern der gesamte Ernst des schwierigen Lebens – ein Begriff den sie von Lévinas’ difficile liberté entlehnt und wie sie ihn auch bei dem neoorthodoxen Denker Josef Dov Soloveitchik46 sieht. Sie vertritt eine kämpferische jüdische Philosophie: »Ich halte es für eine zentrale Aufgabe der jüdischen Philosophie im 21. Jahrhundert, dass die jüdische Auffassung von Liebe als Liebe gepaart mit Gerechtigkeit Eingang in das ›Grund-Wörterbuch‹ des religiösen und philosophischen Denkens findet, sowohl im öffentlichen interreligiösen Gespräch wie in die wissenschaftlichen Texte.«47 – Ein durchaus missionarisches Philosophieverständnis.
2.4
Dienende Dialogik und Transdifferenz im Angesicht des Anderen
Ephraim Meir, Professor für Moderne Jüdische Philosophie, Bar Ilan Universität, Ramat Gan Ephraim Meir, Professor für moderne jüdische Philosophie an der religiösen Bar Ilan Universität bei Tel Aviv, legt in seinem Essay Otherness and Vital Jewish Religious Identity im Blick auf sein philosophisches Anliegen Wert darauf zu betonen, dass er und seine Frau vom Christentum zum Judentum konvertierten und von Belgien/Holland nach Israel emigrierten. Die von ihm vor allem bearbeiteten Philosophen, Martin Buber, Franz Rosenzweig, Emmanuel Lévinas und Abraham Joshua Heschel sind denn auch Programm für Meirs dialogische Philosophie. Es ist vor allen Lévinas, der die Grundstruktur dieses Denkens prägt. Es ist die Frage nach dem Selbst des Individuums, nach der Identität, insbesondere der
43
Twenty-First Century, S. 338.
44
Twenty-First Century, S. 339.
45
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 502–506.
46
Zu beiden siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. II, Lévinas und Teil III, Kap. I, Solo-
47
Twenty-First Century, S. 340.
veitchik.
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jüdischen, die von ihm ganz vom Anderen her konzipiert wird. Es ist jedoch nicht nur das andere Du, das diese Grundstruktur des Dialogs von Ich und Anderem prägt, auch das Ich selbst ist sich fremd, denn: »Wie ich es sehe, ist die beständige Eigenschaft des Selbst die Veränderung des Selbst im Dienst für den Anderen. Alterität oder die Aufnahme eines fremden Elements in das Selbst ist die Voraussetzung für das Selbst, die nötig ist für die Schaffung einer ›höheren‹ Identität. In dieser durch das Andere geprägten Identität ist das Band zur Gesellschaft oder eine gelebte Bruderschaft auf einer radikal heterogenen Grundlage ein inhärenter Teil der Identität.«48 Das autobiographische Element ist in diesen Worten Meirs unverkennbar. Jüdische Identität nach dieser Grundstruktur ist »anti-identical«. Das Ich wird von einer nicht absorbierbaren Andersheit ergriffen, einem Nicht-Ich, so dass auch das eigene Ich nicht mehr definierbar ist, es ist »selbst-different«. Die Differenz des Anderen vom Ich bei gleichzeitiger Differenz des Ich vom Andern nennt Meir »Transdifferenz«, die gerade das Überbrücken zwischen einem Ich und Du ermöglicht. Theologisch gesprochen ist der Mensch von je her von Gott angesprochen und so in seinem Wesen verändert, von Ihm geschaffen. Die transdifferente Dialogik wird so – wie bei Buber und Lévinas – zum eigentlichen Träger der Gotteserfahrung.49 Diese Transdifferenz gilt indessen nicht nur für das Individuum, sondern auch für ganze religiös-kulturelle Gemeinschaften wie das Judentum. Darum ist auch für das Judentum, wie für andere religiöse Gemeinschaften, der interreligiöse Dialog substanziell: »Ich glaube, dass das religiöse Selbst notwendigerweise mit anderen in einem intrareligiösen wie interreligiösen Dialog verbunden ist, wie auch in einem Dialog zwischen den Religionen und der Welt insgesamt.«50 Die dialogische, stets bewegte Identität, gerade auch zwischen den Religionen, fordert nun des weiteren einen pluralen Religionsbegriff, nach dem alle Religionen auf gleicher Augenhöhe – als Dialogpartner – stehen. Ein exklusiver Religionsbegriff, nach welchem nur eine Religion die Wahrheit besitzt, wie auch der inklusive, nach welchem bei anderen Religionen wenigstens Teilwahrheiten anerkannt werden, sind nach diesem Verständnis abzulehnen.51 Vielmehr gelte es eine interreligiöse Theologie zu entwickeln, in der nicht nur die andern kritisch diskutiert werden dürfen, sondern auch die eigene Religion kritisiert werden 48
Twenty First Century, S. 230; u. vgl. S. 231.
49
Twenty First Century, S. 233. 234.
50
Twenty First Century, S. 233.
51
Siehe dazu Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. II, Sagi.
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muss. »Ich glaube, die Zeit ist reif, die Idee voranzutreiben, dass alle Religionen bemüht sind, das Leben der Menschen um das herum einzurichten, was jenseits der Grenzen der reinen Vernunft liegt und es deshalb angezeigt ist, von den Narrativen der anderen zu lernen.«52 Diese offene Religiosität gilt auch gegenüber der säkularen Welt, von der man Elemente der Lebensgestaltung wie Demokratie, Pluralismus, kritisches Denken, feministische Anliegen und dergleichen aufzunehmen hat, um die Religionen zu erneuern und zu gestalten.
2.5
Dialog mit dem Christentum auf Augenhöhe
Martin Kavka, Professor für Religious Studies, Florida State University und Randi Rashkover, Professorin für Religion und Jüdische Studien, Georg Mason University Für Martin Kavka und seine Partnerin Randi Rashkover gilt gleichsam die Kehrseite von Kafkas Ausruf: »Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang.«53 Für Kavka gilt dies umso mehr, als er lange nicht um seine jüdische Herkunft wusste, denn er wurde von Benediktinern erzogen und stand schon an der Schwelle des Eintritts in den Benediktinerorden. Das Thema der beiden ist zum einen der Widerstand gegen die christlichaugustinische Formel von der Bewahrung des Judentums in einer leidenden Position, welche die Wahrheit des Christentums bezeugen sollte, und zum andern der Versuch mit Hilfe Kant-Schelling-Hegelscher Denkschemata in Verbindung mit Moses Maimonides, Baruch Spinoza, Franz Rosenzweig und Leo Strauss eine Formel möglicher Gotteswahrnehmung oder -erkenntnis zu finden, die eine Auseinandersetzung mit dem Christentum auf Augenhöhe ermöglicht. Die zur Debatte stehende Grundfrage ist die Antinomie, auf der einen Seite von der Unerkennbarkeit eines Gottes zu reden, der jenseits von allem Sein ist und zugleich als Mensch mit begrenzter Erkenntnisfähigkeit eine Kenntnis von diesem Gott zu haben. Die Lösungsansätze des Autorenpaares laufen (mit Rosenzweig und Strauss) darauf hinaus, dass Gotteswahrnehmung nicht volle Erkenntnis Gottes sein müsse, sondern sich auf Repräsentationen des Göttlichen in einer Welt der Objekte beschränken könne, wodurch die angesprochene Antinomie unterlaufen werden kann: 52
Twenty First Century, S. 238.
53
F. Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, Frankfurt a. M. 1980, S. 89.
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»Spinozas Auffassung der Einheit von Idee und Ideatum [Vorgestelltem]54 innerhalb der einen Weltsubstanz, Schellings Einschätzung der Gleichgültigkeit von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis55 Gottes als des Absoluten56 und die rabbinischen Vorstellungen zur Erkenntnismöglichkeit Gottes in Text und Gesetz zeigen allesamt, dass das Absolute eine Vielzahl von Erscheinungsweisen annehmen kann und wird.«57 Mit solchen Hinweisen auf die Verflechtung von jüdischem und nichtjüdischem Denken wollen die beiden Autoren die Berechtigung und Notwendigkeit des philosophischen und theologischen Austausches mit ihren christlichen Kollegen dartun.
54
Spinoza Ethik, I, Axiom VI: Idea vere debet cum suo ideato convenire./Eine richtige Vorstellung muss mit ihrem Gegenstande übereinstimmen., Ausgabe Blumenstock, Darmstadt 1989, S. 89.
55
F. W. J. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie (Kapitel Hegel): Münchener Vorlesungen, Berlin 2016, hg. K.-M. Guth, S. 123: »Wie Sie wissen, so ist jenem System das Absolute als Ausgangspunkt (als terminus a quo) reines Subjekt. Geradeso, wie Hegel sagt, die wahrhaft erste Definition des Absoluten sei: das Absolute ist das reine Sein, so konnte ich sagen: die wahrhaft erste Definition des Absoluten ist, Subjekt zu sein. Nur insofern, als dieses Subjekt sogleich auch in der Möglichkeit gedacht werden muß, Objekt (= entselbstetes Subjekt) zu werden, nannte ich das Absolute auch Gleichgültigkeit (Gleichmöglichkeit, Indifferenz) von Subjekt und Objekt, so wie ich es späterhin, da es schon im Actus gedacht wird, lebendige, ewig bewegliche, in nichts aufzuhebende Identität des Subjektiven und Objektiven genannt habe.«; http://www.zeno.org/Philosophie/M/Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph/Zur Geschichte der neueren Philosophie/Hegel?hl
56
Die Autoren scheinen dabei an Aussagen Schellings wie dieser zu denken: »2. Von dem Absoluten gibt es kein Denken und kein Seyn, also auch kein Subjekt und kein Objekt, sondern das Absolute ist eben nur Absolutes ohne alle weitere Bestimmung. Aber eben dieses Absolute kraft der nothwendigen Form seines Wesens, welche absolute Idealität ist, setzt sich selbst objektiv, d. h. es setzt seine eigne Wesenheit, die im Gegensatz gegen das Objekt nun den Charakter des Subjekts, des Unendlichen annimmt; es setzt seine eigne Wesenheit als Unendliches ins Endliche, aber eben deßwegen auch hinwiederum das Endliche in sich als Unendliches — und beides ist Ein Akt.«, Aus Schelling, sämmtliche Werke, erste Abteilung Vierter Band, Stuttgart & Augsburg 1859, hier: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, 1802, S. 391, §IV, Von der philosophischen Construktion oder von der Art, alle Dinge im Absoluten darzustellen.
57
Twenty First Century, S. 200; u. vgl. oben zu A. J. Heschel, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil III, Kap. II, Heschel.
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2.6
Stimmen aus der Academia
»Sein zum Tode« – für den Mitmenschen
James A. Diamond, Professor für Jüdische Studien, University of Waterloo, Kanada Einen bewusst traditionellen Ansatz verfolgt der kanadische James A. Diamond. Sein gesamter Aufsatz hat die Form eines philosophischen Midrasch, das heißt einer philosophischen Auslegung biblischer und rabbinischer Texte. Sein hierfür gewählter Titel »Constructing a Jewish Philosophy of Being toward Death« verspricht eine gegen Martin Heidegger gerichtete Polemik, gegen dessen zentralen Topos in Sein und Zeit. Emmanuel Lévinasʼ58 Kritik an Heideggers »Sein zum Tode« folgend, sieht Diamond insbesondere in diesem Punkt des Heideggerschen Denkens den Wurzelboden für die deutschen Todeslager in der Schoah. Denn nach Heidegger sei der Tod »die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit«, in welcher »alle Bezüge zu anderem Dasein gelöst« sind, der Mensch also gleichsam ganz bei sich selbst ist.59 Demgegenüber entwirft Diamond in seinen Auslegungen zu den Texten der jüdischen Tradition, wieder Lévinas folgend, ein anti-Heideggersches Todesverständnis, nach welchem gerade im Tod die Beziehung zum Anderen zentral bleibt und sich gar als Opfertod und Bereitschaft des Sterbens für Andere erweisen kann.60 Franz Rosenzweig, dessen »neues Denken« im Stern der Erlösung gleichfalls beim individuellen Tod ansetzt, wird von Diamond nicht erwähnt. Dennoch ist die Verwurzelung dieses Denkers nicht nur in der rabbinischen Tradition, sondern in der deutsch-französisch-jüdischen Philosophie mit Händen zu greifen.
2.7
Multikulturalismus und Tradition, New Age und Ritualismus Herausforderung und Wegweiser für das amerikanische Judentum
Shaul Magid, Professor für Jüdische Studien und Religion, Indiana University »Die jüdische Philosophie ist per definitionem reaktiv. Damit meine ich, dass sie ein Gedankenexperiment ist, das auf wenigstens zwei Dinge zugleich reagiert: Zum einen auf die intellektuellen und spirituellen Trends der weiteren Gesellschaft, in welcher sich die jüdischen Philosophen befinden, und zum Zweiten, auf den Zustand und die Bedürfnisse der (jüdischen) Gemeinschaft, in der die jüdischen Philosophen leben.«61 Mit dieser Ortsbestimmung eröffnet Shaul Magid 58
Zu Lévinas siehe oben, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. III.
59
Siehe M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 250; und. E. Lévinas, »Dying For …«,
60
Twenty First Century, S. 78–79.
61
Twenty First Century, S. 205.
in: Ders., entre nous. On Thinking- of- the- Other, New York 1998, S. 214–215.
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seine Überlegungen. Und da braucht es eigentlich nicht zu verwundern, dass die folgende Erörterung sehr amerikanisch ist. Zu dieser Verortung passt denn auch der Titel, den er seinen Ausführungen gibt: Doubt and Certainty in Contemporary Jewish Piety. Sie reflektieren die Situation des modernen amerikanischen Juden in einer Zeit, so Magid, in der »Post-Holocaust theology has come and gone«, in der stattdessen »die New Age Religion, verbunden mit Multikulturalismus und einer anhaltenden Periode religiöser Toleranz, den zeitgenössischen Juden eine neuartige Weise geboten hat, ihr Judentum und diese Welt zu erfahren.«62 Er diagnostiziert zwei Bedürfnisse seiner amerikanisch-jüdischen Zeitgenossen, nämlich zum einen die Anerkennung eines Multikulturalismus, ohne zugleich die Gewissheit einer eigenen Position aufgeben zu müssen und zum anderen die Suche nach einer solchen Gewissheit in einem durch die New Age Religiosität angeregten Hang zu Riten und religiösen Bräuchen. »Wir leben in einer Zeit, in der die gesellschaftlichen, politischen und spirituellen Bedingungen eine Welt gestaltet haben, in der das Ritual und das Verlangen nach irgendeiner Art Andachtsübung und devotionaler Sinnstiftung ein integraler Bestandteil für jüdisches Leben wurde, dies sogar für viele, die in einer nicht traditionellen jüdischen Welt leben, und dies in einem Maß, das der Hingabe an den Pluralismus und die berechtigten Zweifel an universellen Wahrheitsansprüchen gleichkommt. […] Das Interesse an und das Praktizieren religiöser Experimente steht in der jüdischen Welt in einer hohen Blüte. Vielleicht ist es Zeit über die Implikationen und, gleich wichtig, die Herausforderungen dieser neuen Frömmigkeit nachzudenken.«63 Das heißt, Magid findet im modernen amerikanischen Judentum zwei entgegengesetzte Tendenzen miteinander ringen, hier der Zweifel an der eigenen Wahrheit und dort der Wunsch nach einer gewissen Sicherheit. Die Umwelt, welche diese Situation herbeiführte, bot die beiden genannten Elemente, Multikulturalismus und New Age, sie bietet aber auch die Hilfe auf dem Weg zu einer Erklärung, welche beide gegensätzlichen Elemente miteinander verbindet. In einer vom Protestantismus geprägten Umwelt scheint Martin Luther das geeignete Beispiel für einen Menschen zu sein, der in der Glaubensgewissheit den einzigen Weg zu Gott sieht, entgegen dem rationalen Zweifel der menschlichen Vernunft, die vom Satan angeregt sei. Luthers Suche nach religiöser Gewissheit kann Magid als Vorbild dienen, nicht aber der bei Luther damit verbundene Absolutheitsanspruch, der in den Fundamentalismus führt. Hingegen sind zwei von Magid beigebrachte osteuropäische Denker, einer aus der Musar62
Twenty First Century, S. 212–213. 209.
63
Twenty First Century, S. 226.
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Bewegung64 (Yosef Yuzel Hurwitz aus Novordok) und der ḥasidische Meister Nachman Bratzlawer65 – interpretiert im Lichte des Denkens von Michel de Montaigne –, nach Magids Deutung der Meinung, dass die Gewissheit des Glaubens, ohne die es keine Religion geben kann, nur jeweils temporäre Gewissheiten sind, die stets neu vom Zweifel angegriffen werden. Das heißt, dass eine nur von Augenblick zu Augenblick währende Glaubens-Gewissheit, ausgedrückt im rituellen Handeln (ohne Transzendenzbezug), genügen muss und kann, um den modernen Juden zwischen den genannten Polen seines Dilemmas zu tragen. Beispiele für diese neuen Frömmigkeitsformen und Experimente findet man im vorliegenden Band des Jüdischen Denkens in dem Kapitel über Mordechai Kaplan und vor allem bei den Feministinnen, insbesondere Lynn Gottlieb.
2.8
Philosophische Theologie als interessengeleitete vielfältige Sprache und Interpretation
Cass Fisher, Professor for Religion, University of South Florida Cass Fishers Votum ist eine massive Rechtfertigung und Forderung für eine jüdische Theologie, trotz aller Behauptungen, eine solche gebe es nicht im Judentum. Cass Fisher sieht die wesentliche, wenn auch nicht ausschließliche, Aufgabe einer jüdischen Philosophie in der »Religionsphilosophie«, wie der Begriff schon im 19. Jh. gebraucht wurde, nämlich im Sinne einer philosophischen Theologie. Da aber in der Moderne die Metaphysik in die Krise geraten und obsolet geworden sei, wendet Fisher sein ganzes Interesse auf die Sprache des Glaubens, das heißt, darauf wie Glaube entsteht und seine Ausdrucksformen, was sie leisten können und sollen. Sein Ausgangspunkt ist der hermeneutisch-kritische Ansatz von Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode, der die Erkenntnis formuliert, dass die menschliche Erkenntnis, insbesondere das Verstehen von Texten jeweils von der Person des Rezipienten und ihren Vormeinungen und Vor-Urteilen abhängt, von der Situation, in die sie »geworfen« (Heidegger) ist.66 Die erste Aufgabe des Verstehens, insbesondere der Tradition, ist daher, deren Fremdheit wahrzunehmen und eine illusionäre Vertrautheit zu hinterfragen.
64
Zu ihr s. K. Rosen, Rabbi Israel Salanter and the Musar Movement, London1945; H. Goldberg, Israel Salanter: Text, Structure, Idea. The Ethics of an Early Psychologist of the Unconscious, New York 1982; M. G. Glenn, Israel Salanter. Religious-Ethical Thinker. The Story of a Religious-Ethical Current in Nineteenth Century Judaism, New York 1953; L. E. Eckman, The History of the Musar Movement 1840–1945, New York 1975; und den Roman von Chaim Grade, The Yeshiva, New York 1977 (aus dem Jiddischen 1967).
65
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 897–910.
66
Hierzu vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil IV, Kap. II, Sagi und Teil V, Kap. II, Ross.
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Man muss die Wahrheitsansprüche der jüdischen Tradition wahrnehmen, darf diese aber nicht mit der Wahrheit schlechthin verwechseln. In der Wahrnehmung der durchaus fremd anmutenden Wahrheitsansprüche der eigenen Tradition werden die persönlichen, als wahr erachteten, Wahrheiten infrage gestellt. Der nächste Schritt wird mit Paul Ricoeur (Figuring the Sacred: Religion, Narrative, and Imagination, 1995) getan, der in der literarischen Vielfalt der biblischen Texte unterschiedliche Beschreibungsweisen und Bekenntnisse zu Gott sieht, unterschiedliche wesensverschiedene theologische Diskurse, die also nicht nur narratives Dekor sind. Glaubensrede ist pluralistisch – also eben das, was in der Darstellung des Jüdischen Denkens auf Schritt und Tritt evident wird. Nach der Einsicht in die vielseitigen theologischen Ausdrucksweisen der jüdischen Tradition fragt Fisher nach einem weiteren Element, das die theologische Sprache gestaltet. Dieses Element ist nach seiner Meinung deren Funktion, das heißt deren Ausrichtung auf ein beabsichtigtes Ziel des Autors. Er bezieht sich bei diesen Überlegungen auf den französischen Philosophen Pierre Hadot (Philosophy as a way of Life: Spiritual Exercises from Socrates to Foucault, 1995), der einen reziproken Einfluss von gelebtem Leben und philosophischem Ausdruck konstatiert. Das bedeutet für die jüdische Theologie, so Fisher, dass weite Teile ihrer Aussagen danach ausgerichtet sind, welches praktische Verhalten sie erreichen wollen. »Die jüdische Theologie hat eine rechtfertigende Funktion, indem sie nach unserem besten Wissen unser Gottesverständnis und die Gott-menschlichen Beziehungen zum Ausdruck bringt und so eine stützende Funktion für die jüdische Praxis und Weltanschauungen bietet. Der jüdischen Theologie eine gestalterisch-formative Funktion zuzuschreiben ist ein bedeutsamer Gewinn gegenüber der Auffassung, sie nur als predigthaft zu verstehen. […] schreibt man der Theologie eine formative Funktion zu, heißt das, dass die Theologie den handelnden Menschen zur Wahrheit führt und dass dies überall geschieht, wo man auf die Theologie trifft, im Judentum gehört dazu gleichermaßen das Heim, das Lehrhaus wie auch die Synagoge.«67 Ein weiterer Aspekt ist schließlich die Frage nach den Ursachen, welche die menschlichen Glaubensvorstellungen produzieren, etwa Gedächtnis, Sinneswahrnehmung, Introspektion (angeborene Erkenntnis-Fähigkeiten) oder sozial geprägte Erkenntnisfaktoren,68 die sich in ihren Wirkungen verschränken. Alle aufgezählten Elemente als Gestaltungskräfte jüdisch-theologischer Rede zusam67
Twenty First Century, S. 91.
68
Nach Ludwig Wittgenstein und William Alston, Perceiving God: The Epistemology of Religious Experience, 1991.
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mengenommen, bezeichnet er als sein JTP-Modell (Jewish theological practice). Mit diesem praxisbezogenen Modell zur Erforschung der Bedeutung von theologischer Rede und deren Intention will Fisher eine Geschichte der den Glauben erzeugenden Faktoren zeichnen, mit dem Ziel, verschüttete wie neue glaubensbegründete Praktiken zu entdecken. Auch wenn er in diesem Zusammenhang die Wittgensteinsche Rede von Theologie als eines der »Sprachspiele« mit sozialer Funktion hilfreich findet, lehnt er die extreme Konsequenz dieses Denkens ab, nämlich, dass mit solchen Sprachspielen kein Wahrheitsanspruch für die Realität erhoben sei. Alles in allem sucht Fisher die geistigen Krisen des modernen Judentums aufzufangen und mit einer durch unterschiedliche Denkansätze untermauerten jüdischen Theologie zu stärken. Denn: »Wie in früheren kritischen Augenblicken findet sich das Judentum wieder aufgerufen die Motivationen für seine Lebensweise und die Begründungen für seine Glaubensauffassungen zu evaluieren. Nach dem Holocaust und unter dem Druck der Säkularisierung und Mischehen, ist dies eine überaus wichtige Aufgabe.«69
2.9
Doppelte Wahrheit zwischen Endlichkeit und Unendlichem – zugleich eine feministische Religionskritik und Textauslegung
Tamar Ross, Professorin emerita für Jüdische Philosophie, Bar Ilan Universität, Ramat Gan Die in diesem Band als Feministin ausführlich besprochene Tamar Ross ist, wie oben schon vermerkt, eine philosophierende Theologin zu nennen, deren Anliegen es ist, ihren orthodoxen Glauben mit den Herausforderungen der Ratio und der Moderne zu vereinbaren, ohne eine der beiden Seiten aufgeben zu müssen. Sie schildert dazu ihren persönlichen intellektuellen Entwicklungsgang, der sie zuerst über Maimonides und die mittelalterlich-averroistische Lehre von der doppelten Wahrheit – ratio und Offenbarung – führte,70 wonach Letztere für das einfache Volk in Bildern beschreibt, was der Philosoph durch die Ratio erkennt. Als nächste Etappe ihrer Bildungsbiographie folgte der illustre Avraham Jizchak Kuk (Kook), der erste aschkenasische Oberrabbiner des vorstaatlichen Palästina.71 Hier war es die aus der lurianischen Kabbala übernommene Lehre vom Zimzum (des Rückzugs Gottes aus seiner Fülle, um Raum für die Welt zu schaffen) und die nachfolgende Emanation des göttlichen Lichtes in den Hohlraum,
69
Twenty First Century, S. 98.
70
Zu der Debatte um eine doppelte oder dreifache Wahrheit siehe, Jüdisches Denken, Bd. 3,
71
Zu ihm siehe, Jüdisches Denken, Bd. 4. Zionismus und Shoah, S. 318–408.
S. 68–75; Bd. 1, S. 576; zu Maimonides: Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–487.
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aus welcher sich die Welt als ein Aspekt des Göttlichen konfigurierte72 – die Welt als Endlichkeit in einer unendlichen göttlichen Seinsweise. Mit dieser Sicht habe Kuk Unendlichkeit und Endlichkeit in Gott73 und damit auch als Möglichkeit für den Menschen – dem Ebenbild Gottes – erkannt, aber mit der Maßgabe, dass sich der Mensch zu diesem unendlichen Maß erst entwickeln muss. Aus diesem Bild habe Kuk sogleich eine neue Epistemologie abgeleitet: »Die Wahrheit ist nicht die Widerspiegelung einer statischen, felsengleichen Wirklichkeit, die wir aufdecken müssen. Sie ist vielmehr in steter Wandlung als Reaktion auf das unablässig in Bewegung fluktuierende Netzwerk der Beziehungen, das wir mit unserer Umgebung knüpfen.«74 Damit ist die irdische Realität zugleich ein Element der göttlichen Entwicklung und die menschliche Gotteserkenntnis ein Wahrnehmen und sich Einlassen auf die irdischen Realitäten, womit auch die Tora – deren Verständnis – nicht an diesen Realitäten und Wissenschaften vorbeigehen könne. So weit der Ausgangspunkt für Ross’ weitere Entwicklung und eigene Theoriebildung: »Diese Lehren Kuks aufnehmend, fand ich dessen Auffassung des Verhältnisses von Wirklichkeit, Wahrheit und religiösem Dogma als einen fruchtbaren Boden, um auf ihm eine Sicht der jüdischen Tradition zu entwickeln, die es mir, so glaube ich, ermöglichte die akademische Wissenschaft ehrlich zu betreiben, ohne meinen traditionellen Loyalitäten Schaden zuzufügen.«75 Als letzter Stein des Anstoßes zur Notwendigkeit einer neuen Offenbarungslehre war für sie die feministische Kritik an der männlichen Dominanz der jüdischen Religion samt deren Grundurkunde, der Tora: »Wenn uns die feministische Kritik dazu zwingt, eine durchgängige männliche Voreingenommenheit in der Tora zu erkennen, die so sehr und subtil in sie verwoben ist, dass die Leser deren Existenz nicht einmal wahrnehmen, kann man dieses Dokument dann noch als göttlich anerkennen?«76
72
Zum Zimzum s., Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 626–635. 338–650. 765. 811–820. 899–904.
73
Zum Topos der Endlichkeit in der Unendlichkeit Gottes in der Kabbala siehe schon Asriel aus
74
Twenty-First Century, S. 378.
75
Twenty-First Century, S. 380.
76
Twenty-First Century, S. 381.
Gerona, Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 254–257.
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Die Hauptfrage, die sich nunmehr stellte, war, ob diese Voreingenommenheit tatsächlich die Intention der Worte Gottes sei, welche ihn und die Welt beschreiben, oder ob dies nur Projektionen menschlicher Wünsche oder gesellschaftlicher Systeme in religiöser Sprache sind? »Kann ein Dokument, das, in welcher Hinsicht auch immer, so grundsätzlich parteiisch ist, wirklich von Gott kommen?«77 Wie kann ein solches Dilemma gelöst werden? Die an sich attraktive Deutung durch Avraham Jizchak Kuk, dass die Tora nicht empirische Wahrheiten verkünde, keine Wahrheitsaussagen mache, sondern dass ihre Aussagen religiös-pragmatische Funktion haben78 und nur als solche ernst zu nehmen sind, erscheint Tamar Ross dennoch zu reduktionistisch, da sie meint, eine Religion ohne einen Bezug zur Transzendenz sei zum Absterben verurteilt. Um an diesem Punkt weiter voranzukommen, schreitet sie zu einer eigenen Offenbarungslehre,79 die allerdings durch drei Grundvoraussetzungen bestimmt wird: 1. Soll die Tora für alle Generationen gelten, muss sie ein kumulativer Prozess, eine revelatio continua sein, die ihre Wahrheit nur durch die Zeit offenbart. 2. Gottes Offenbarung geschieht nicht durch hörbare Reden, sondern durch die sehr wohl zeitabhängige rabbinische Textinterpretation und durch »den Mund der Geschichte«, speziell die Widerfahrnisse des Volkes Israel. 3. Angelehnt an moderne hermeneutische Theorien vertritt sie die Auffassung, dass auch durch Interpretationen, welche der Grund-Tora widersprechen, diese nicht aufgehoben wird. – Nach diesen Vorgaben können auch die Forderungen und Deutungen des modernen Feminismus als legitime Offenbarung anerkannt werden. Mit dieser Öffnung der Offenbarung sind allerdings sogleich neue Probleme gesetzt. Wer will nach welchen Kriterien feststellen, was die besser gedeutete Offenbarung ist, wie kann einem »anything goes« die nötige Grenze gesetzt werden? Die Sorge ist: »Über die engeren Bedenken der jüdischen Wissenschaft hinaus sind die Gefahren des Relativismus und der Verlust von Kriterien für eine gemeinsame Kultur brennende Fragen, welch die jüdische Gemeinschaft in unseren Tagen insgesamt quälen. [..].«80 Mit diesen Worten ist immerhin angezeigt, woher solche Kriterien stammen müssen, von der Möglichkeit eines kohärenten gesellschaftlichen Lebens. Aber: »Ich glaube dass die epistemologische Herausforderung der Postmoderne und der Kampf zwischen den Pragmatikern und jenen, welche die Basis für irgendeinen Anspruch auf Metaphysik bewahren wollen, die Aufmerksamkeit der jüdischen Philosophen auch im 21. Jahrhundert in der einen oder anderen 77
Twenty-First Century, S. 381.
78
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 341–343. 346.
79
Ausführlich dazu Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil V, Kap. II, Ross.
80
Twenty-First Century, S. 387.
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Form weiterhin beschäftigen wird. Die schwierigste Frage wird sein, ob eine religiöse Tradition ohne jeglichen Anspruch auf Transzendenz die Leidenschaft und die Hingabe, die deren weitere Existenz dringend braucht, wird aufbringen können. Diejenigen, die wie ich glauben, dass ein Anspruch auf irgendeine Transzendenz, wie schwach er auch immer sein mag, nötig ist, werden nach einem befriedigenden Modell suchen.«81
2.10 Das Problem der Begründung von Ethik in gottloser Zeit Michael L. Morgan, Professor emeritus für Philosophie und Jüdische Studien, Indiana University Für Michael L. Morgan besteht die Hauptaufgabe jüdischer Philosophie – hier nicht spezifisch von »Jüdischem Denken« unterschieden – darin, jüdische Existenz in all ihren Facetten zu explizieren und zu klären: »Die jüdische Philosophie und jüdisches Denken sollten bemüht sein, das zu formulieren, was die jüdische Existenz ist und was sie bedeutet. Sie soll den Wunsch haben, des Juden Beziehung zur Natur und zu anderen Personen, jüdischen wie nichtjüdischen, unterschiedlichen Institutionen und Lebensweisen und so auch zu Gott zu klären. Dabei wird sie etwas über die Juden in ihrem Selbstsein und als Akteure, zu sagen haben, wie auch über das jüdische Volk als einer Gemeinschaft von Juden, und darüber, in welcher Weise das jüdische Leben mit Gott in Beziehung steht.«82 Hinzu kommen Fragen von Text und Sprache, menschlichem Verhalten, Ritus Ethik, Leben und Tod etc. Für ihn selbst stellt sich im Rahmen der Frage nach den Aufgaben der jüdischen Philosophie für das 21. Jahrhundert sodann offenbar die Frage nach einer möglichen Begründung von Ethik – dies in einer Zeit, in der man die Geschichtlichkeit allen Denkens erkannte und auch der Gottesglaube schwankend wurde: »Im Laufe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts waren die Existenz Gottes, der Glaube an eine göttliche Offenbarung, wie auch die Vorstellungen, welche dazu dienten, Gottes Beziehungen zur Geschichte und zum menschlichen Erleben und Verhalten zu beschreiben einer sie ausdörrenden Kritik ausgesetzt. Infolge davon verbreitete sich eine allgegenwärtige Skepsis
81
Twenty-First Century, S. 389.
82
Twenty First Century, S. 269.
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bezüglich der Existenz Gottes und von Gottes Rolle im menschlichen Leben.«83 Das Schwinden der Gottesvorstellung und damit des Offenbarungsglaubens hatte das Schwinden der Begründung der Ethik im Willen und Gebot Gottes zur Folge: So schon bei Immanuel Kant, der auf die menschliche Vernunft setzte, Hegel auf die Gemeinschaft, oder naturalistische Begründungsversuche (Grotius, Hobbes, Spinoza). Die zunehmende Erkenntnis der Verflochtenheit des menschlichen Selbst in sozialen Bezügen hatte jüdische Denker wie Martin Buber,84 Franz Rosenzweig,85 Emmanuel Lévinas86 und auch Emil Fackenheim,87 dazu geführt, die Ethik in dialogischen Bezügen zu begründen, die zugleich ein Element des Transzendenten in sich bargen: Ich und Du bei Buber, die von der Offenbarung getragene Zuwendung des Menschen in Liebe zum Mitmenschen (Rosenzweig) oder schließlich das Angesichts des Anderen der mir begegnet (Lévinas). An dieser Stelle nimmt Morgan eine Argumentation von Elizabeth Anscombe auf, die das Problem der modernen Begründungen von Ethik darin sieht, dass diese zwar die Autorität eines Gesetzgebers, nämlich Gottes, aufgegeben hätten, aber andrerseits die Sprach- oder Denkstruktur der alten Befehls-Ethik beibehielten, die nunmehr aber nicht mehr die nötige Verankerung hätten: »Wir gebrauchen noch immer Begriffe wie Sollen und Müssen, um eine Verpflichtung zu bezeichnen, als wäre man durch ein Gesetz dazu aufgerufen. Aber jetzt benutzt man diese Termini ohne ihren Kontext, ihre Wurzeln, dank derer sie erst ihre Bedeutung gewonnen hatten, […] Das Vernünftigste, was darum zu tun ist, ist den Gebrauch des moralischen Sollens fallen zu lassen, um unser Vokabular des Moralischen in Begriffen von Tugend und – mit Bernard Williams – dichten moralischen Konzepten neu zu gestalten.«88 Dieses Problem der Verwendung einer »theologischen Sprache« in einer gottlosen Welt, in welcher die Ethik (mit der alten Gebots-Sprache) unter anderem sozial und dialogisch begründet wird, will er einer Lösung zuführen. Er tut dies, indem er bei den dialogischen Denkern auf das transzendente Element hinweist, (das ewige Du bei Buber, die Liebesoffenbarung bei Rosenzweig und die Spur
83
Twenty First Century, S. 272–273.
84
Zu ihm Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. II.
85
Zu ihm, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. I.
86
Zu ihm Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 608–613; u. Bd. 5, Teil I, Kap. III.
87
Zu ihm Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 501–562.
88
Twenty First Century, S. 275.
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des Transzendenten in der Begegnung mit dem Angesicht des Anderen bei Lévinas), das der entwurzelten »Gebotssprache« wieder die Spur einer Wurzel verleiht und somit deren Beibehaltung ermöglichen kann: »Spätestens seit Kant haben die Moralphilosophie und das religiöse Denken in Sachen der Moral im Westen versucht, die Normativität moralischer Verpflichtungen in einer Welt zu verankern, in der die Theorien göttlicher Gebote in Zweifel gezogen wurden. Ich habe Anscombs Problem als die spezifische Herausforderung beschrieben, die Sprechweise vom göttlichen Gebot in einer solchen Weise beizubehalten, die einerseits das Problem aufgreifen, und zugleich die Zweifel ernst nehmen will. Buber, Rosenzweig und Lévinas haben uns, unter anderen jüdischen Denkern, diesen Weg aufgezeigt. Das Gebot ist demnach eine normbezogene Beziehung zum Anderen. Dies ist die Grundeinsicht ihrer Antwort.«89 Morgan vergleicht die drei jüdischen Existentialisten oder Dialog-Philosophen mit dem Konzept von Stephen Darwall,90 der seinerseits mit dem Modell des »second-person-standpoint« versucht, eine Ethik zu begründen, und dessen Modell oft als mit den drei jüdischen Konzepten verwandt dargestellt wird. Morgan weist diesen Vergleich zurück, weil bei Rosenzweig, Buber und Lévinas die Gesamtsituation, die existenziale Situation des Menschen erörtert wird, in der die Frage der Ethik nur einen Gesichtspunkt darstellt, während Darwall sich auf die ethische Frage beschränkt und auf interpersonelle oder besser soziale Kategorien reduziert.
2.11 Judentum als rationale Denktradition und Ethik Alan Mittleman, Professor für modernes jüdisches Denken am Jewish Theological Seminary in New York Alan Mittleman, Professor am konservativen Jewish Theological Seminary, dessen Aufgabe es ist, Rabbiner auszubilden, ordnet sich mit seinem Tun als Vertreter einer jüdischen Philosophie in die illustre Linie des jüdischen Rationalismus ein, die beispielhaft durch den mittelalterlichen Denker Maimonides91 und den Neokantianer Hermann Cohen92 vertreten wurde: 89
Twenty First Century, S. 293.
90
S. Darwall, The Second-Person Standpoint: Morality, Respect and Accountability, Cambridge,
91
Siehe, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–487.
92
Siehe, Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 617–658.
MA, 2006.
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»Meine eigene Arbeit ist von Hermann Cohen beeinflusst. Mit Cohen (der es von Maimonides übernommen hatte) bin ich der Auffassung, dass die Philosophie nach der in den jüdischen Texten implizierten Rationalität suchen und diese sichtbar machen sollte.«93 Mittleman will ein dezidiert rationales Judentum vertreten. Dies bedeutet, dass er sich allen Fragen der Moderne, insbesondere der Ethik und der politischen Philosophie annehmen und deren Fragestellungen an den Texten der jüdischen Tradition messen und sie mit ihnen ins Gespräch bringen will. Dies dient zum einen der rationalen Selbst- und Außenrechtfertigung des Judentums als eigenständiger Denktradition gegenüber und neben anderen Denksystemen. So soll gesichert werden, dass dieses Judentum nicht nur aus »tribal loyality«, aus »romantic faith« oder purem Chauvinismus erhalten wird. Diese Aufgabe geht allerdings von einer Annahme aus, deren Gewissheit angesichts der syn- und diachronisch sehr vielfältigen jüdischen Denkansätze nicht leicht zu erweisen ist. Er sagt ausdrücklich und versucht damit die Quadratur des Kreises: »Ich vertrete die Auffassung, dass durchgehend eine anhaltende, charakteristische Art des Nachdenkens über das menschliche Gelingen im jüdischen Textkorpus existiert. Diese Denkweise verbindet das Richtige mit dem Guten, das Sollen mit der Tugendhaften zu einem komplementären Ganzen.«94 Dass dies nicht immer nach puren rationalen Maßstäben zu erreichen ist, sieht Mittleman selbst, wenn er in der Frage der Lehre vom freien Willen sich mit der modernen Neurophysiologie auseinandersetzt. Hier verweist er selbst auf die gegensätzlichen Meinungen etwa von Bibel, Mischna und dem mittelalterlichen Philosophen Ḥasdai Crescas und greift dann zu dem durchaus nicht rationalen Rettungsanker der Mischna, die schon sagte: »Alles ist vorhergesehen, aber der freie Wille ist gegeben,« wiewohl Mittleman weiter oben auf der »Widerspruchslosigkeit« als unverzichtbarem Maßstab ethischer Normen beharrt. Rationalität heißt dann hier eher Erörterung aller Sichtweisen und die Feststellung von Antinomien und Widersprüchen. Zentrale Anliegen dabei sind, sich nicht auf die Historiographie der verschiedenen Wissenschaften zu beschränken, aus denen an sich keine Normativität zu gewinnen ist; und ebenso sich vom Historismus und Scientismus zu verabschieden, die nur das ihren Axiomen Entsprechende als real anerkennen wollen. Die Zielsetzung, ein robust rationales Judentum darzustellen, kann indessen nicht auf axiomatische Wertsetzungen und damit Verurteilungen bestimmter Richtungen verzichten, wenn Mittleman etwa sagt: 93
Twenty First Century, S. 256.
94
Twenty First Century, S. 260.
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»Die Trennung der Halacha von der Pflege des Charakters und der Tugenden wie auch positivistische Auslegungen der Bedeutung und Autorität der Halacha sind Deformierungen der jüdischen Moraltradition.«95 Wesentlich ist für ihn sein hermeneutischer Zugang zu den Texten der Tradition, die er nicht nur wie der Historiker in ihren Aussagen verstehen will, sondern deren Positionen in einer Weise erschlossen und hinterfragt werden sollen, dass sie für eine moderne Debatte »gesprächsfähig« werden. Er illustriert dies durch einen Fragenkatalog, der ihm zur Textbearbeitung dient: »Mein Anliegen [ist] es zu erkennen, welche Argumente ein Text vorträgt. Welcher Art Leben stellt sich der Text als das beste für das menschliche Leben vor. Wie begründet er seine Sicht? Welche Gegenargumente versucht er zu widerlegen? Oder wie erklärt und rechtfertigt ein Text ein Gesetz? In welcher Beziehung sieht er das Gesetz mit dem Gewissen? Welchen Platz sieht er für eine Autonomie? Wie geht er das mögliche Eutryphro-Dilemma96 an? Wie entscheidend ist eine robuste Metaphysik für den freien Willen? In welchem Maße hat das Judentum eine Ethik göttlicher Gebote?«97 Er setzt sich das Ziel, ein jüdisches Verständnis der menschlichen Natur zu erarbeiten, das philosophisch akzeptabel ist. So etwa in der als »Metapher« bezeichneten biblischen Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes, mit der ausgedrückt worden sei, »dass menschliche Wesen aufgrund ihres Menschseins als solchem die Fürsorge verdienen, derer sie bedürfen«. Damit, meint Mittleman, ist eine »universale Begründung« der Fürsorge gefunden, die sich nicht auf begrenztere Argumente zurückziehen darf. – Ein Argument der jüdischen Tradition, das in der modernen Debatte sein Gewicht hat und Anerkennung finden kann.
2.12 Wider die falsche Auffassung vom freien Willen des Menschen Heidi M. Ravven, Professorin für Religion-Jüdische Studien, Hamilton College, Clinton N.Y. Die Neuro-Philosophin Heidi M. Ravven versucht, die moderne neurowissenschaftliche Auffassung von der Naturgebundenheit menschlichen Handelns und Wollens, das die Vorstellung von einem freien Willen des Menschen in Frage 95
Twenty First Century, S. 260.
96
Dabei geht es um die Frage, ob etwas ethisch gut ist, weil es dem Willen der Gottheit ent-
97
Twenty First Century, S. 260.
spricht, oder ob die Gottheit es gewählt hat, weil es an sich gut ist.
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stellt oder ablehnt, als mit der jüdischen Tradition kompatibel darzustellen – im Gegensatz zu der angeblich von dem christlichen Kirchenvater Augustin erfundenen Lehre vom freien menschlichen Willen. Der resümierende Kernsatz Ravvens lautet: »Die Behauptung eines freien Willens ist nicht nur falsch, weil sie uns [das heißt der jüdischen Tradition] fremd ist, – schließlich war uns die klassische griechische wie die lateinisch-christliche Kultur fremd. Sie ist auch nicht nur falsch, weil ihr Ursprung in der christlichen Theologie liegt. […] Die Lehre vom freien Willen ist falsch, weil sie rational nicht plausibel ist (wie schon Spinoza im Vorwort der Ethik, Teil III bemerkte, nämlich dass ein freier Wille ein magisches separates ›Königreich innerhalb des Königreiches der Natur‹ voraussetze)98 und sie außerdem von den Neurowissenschaften und anderen Hirnforschungen als empirisch falsch erwiesen wurde. Sie erscheint nur plausibel, weil wir in der westlichen Kultur so vertraut mit ihr sind.«99 Das Vorgetragene ist von anthropologischer Seite nicht zu beanstanden, problematisch wird es nur dadurch, dass die Autorin behauptet, die Lehre vom freien Willen sei erst von dem Kirchenvater Augustinus erfunden worden und habe nichts mit dem biblischen, rabbinischen und maimonidischen Judentum zu tun. Da diese Behauptung aber in offenbarem, oder wie die sie meint, scheinbarem, Widerspruch zur gesamten jüdischen Tradition steht,100 sieht sie sich gezwungen, die tatsächlich vorhandene jüdische Lehre vom freien Willen des Menschen als etwas anderes darzustellen als sie ist: »Die jüdische Vorstellung von der freien Wahlmöglichkeit, ist nicht dasselbe wie die vom freien Willen, wiewohl es die Tendenz gegeben hat, die Grenze zwischen beiden zu verwischen. In der letzteren ist die Frage, wie ein allmächtiger Gott dem menschlichen Handeln direkte Selbst-Kontrolle, unabhängig von göttlicher Kontrolle, zulassen kann. Die gewöhnliche Beschreibung eines freien Willens kreist aber um die Frage der Unabhängigkeit des menschlichen Handels von der natürlichen Biologie, der Anlage und Umwelt und der je anstehenden Situation.« 101 Ravven stellt die Frage des »freien Willens« in einem naturwissenschaftlichen neuro-wissenschaftlichen Kontext, während sie auch in der jüdischen »Theolo98
Zu Spinozas Lehre vom Willen, siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 220–221.
99
Twenty-First Century, S. 356.
100
Zur rabbinischen Lehre vom freien Willen siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 278–280.
101
Twenty-First Century, S. 352.
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gie« in den Kontext der Gott-Menschlichen-Beziehung gesehen wird, also als eine Frage der Allmacht Gottes, neben der es recht eigentlich keine menschliche Willensfreiheit geben darf, weil diese eine Einschränkung der göttlichen Vollmacht bedeuten würde. Das Problem ihrer Differenzierung zwischen »freier Wahl« und »freiem Willen« besteht allerdings nach meiner (KEG) Auffassung darin, dass die altjüdische Literatur kein Naturkonzept kannte und alles Naturgeschehen auf die Gottheit selbst zurückführte, Gott selbst also die Natur lenkte, nicht ein unabhängiges Naturgesetz. Will sagen, historisch richtig betrachtet, besteht die Differenz von Natur und göttlicher Allmacht nicht, da nach der Tradition alles in Gottes Hand lag – außer eben die dem Menschen zugestandene Willensfreiheit, welche die rabbinische Literatur stets als eine willentliche Selbsteinschränkung Gottes deutete. Natürlich beruft sich Heidi Ravven zu Recht auf Baruch Spinoza, der die Möglichkeit eines menschlichen freien Willens ablehnt.102 Problematischer wird ihre Berufung auf Maimonides, von dem sie sachlich richtig sagt, dass er die Mensch-Göttliche Beziehung auf den Erkenntnisweg der »Natur«-Wissenschaft stellt: »Die Natur öffnet, nach Maimonides, den Pfad zu einem System rationaler Erklärung, welche die göttlichen Geheimnisse des Universums enthüllen und welche die menschliche Seele in der einzig möglichen Weise erfüllen kann, nämlich durch intellektuelle Aktivität. Den Spuren der Natur zu folgen heißt, dem göttlichen Code zu folgen, er ist, der einzige Weg zu Gottes Geist, der menschlichen Wesen zugänglich ist, der einzige Weg zur Communio mit Gott und zum ewigen Entzücken.«103 Diese ihre epistemologisch richtige Feststellung wird aber – im Sinne des Maimonides – unpräzise, wenn sie sagt: »Das heißt, die menschlichen Wesen sind, nach der Auffassung von Maimonides, als spezifischer Ausdruck der Natur tief in diese eingebettet, und als solche (wenigstens manchen) Wirkungen der Natur über den theoretischen Pfad der Entdeckung und der Liebe zum Verstehen unterworfen. Der menschliche Geist ist so natürlich wie der Körper und die theoretische Ver-
102
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 220–221. 176. 177. 210.
103
Twenty-First Century, S. 353.
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nunft befähigt ihn, die zugrundeliegenden natürlichen Prinzipien der Natur von Gleich zu Gleich (synoptically) zu bearbeiten.«104 Es stimmt, dass nach der Auffassung der mittelalterlichen Aristoteliker (Maimonides) die körperliche natürliche Welt wie auch der menschliche Intellekt ihren Ursprung in demselben kosmischen Ursprung, nämlich dem »Aktiven Intellekt« haben. Aber dadurch steht der menschliche Intellekt noch nicht auf der Stufe des Körperlichen. Denn die Körper sind tatsächlich Teil der qualitativ tiefer stehenden sensiblen Welt mit ihren natürlichen Gesetzen, während der menschliche Intellekt dem intelligiblen Bereich zugehört, selbst wenn er vorübergehend eingeleibt ist und damit auch irdischen Ursachen unterworfen wird.105 Es ist dieser Intellekt des Menschen, der darum auch im Gegensatz zum Körper des Menschen ewig lebt.106 Außerdem sagt Maimonides ausdrücklich, dass man aus den Gesetzen des sensiblen Weltverlaufes nicht auf den des intelligiblen schließen dürfe, also zum Beispiel der Gedanke einer creatio ex nihilo wider den irdischen Augenschein mit seiner Kausalität möglich ist.107 Damit will er sagen, dass im intelligiblen Bereich, mit dem auch der menschliche Intellekt verbunden ist, in den er nach dem Tod des Körpers wieder zurückkehrt, durchaus ein Bereich über der Natur ist. Es ist nicht umsonst, dass Maimonides im Blick auf die rabbinischbiblische Tradition sogar Gott einen Willen zuschreibt,108 dies gerade auch, um eine Sanktionierung des Menschlichen Handelns für möglich zu halten. Nach all dem kann man nichtbehaupten, Maimonides lehne die Lehre vom freien Willen des Menschen ab, er unterwirft den menschlichen Intellekt nicht den Naturvorgängen. Ravven will das Vorgetragene als Beispiel dafür verstehen, wie sich die jüdische Philosophie mit eigenständigen Auffassungen in die philosophische Debatte der Gegenwart einmischen kann und soll. Dies wird aber nur sinnvoll geschehen können, wenn man nicht von unveränderlichen jüdischen Lehrsätzen ausgeht, sondern die zum Teil drastischen Veränderungen der jüdischen Lehren von Gott, Mensch und Kosmos in dieser Debatte berücksichtigt, und so die Fragestellungen richtig verortet.
104
Twenty-First Century, S. 354–355.
105
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 460.
106
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 471–479. 462–468.
107
Zu den entsprechenden Auffassungen von Maimonides siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 446–
108
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 459–461.
449. 451–453. 454–459.
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2.13 Biblische Gerechtigkeit und Anti-Theodizee Bruce Rosenstock, Professor für Religion/Jüdische Philosophie, University of Illinois Bruce Rosenstock setzt mit der Überschrift seines Essays God Accused. Jewish Philosophy as Antitheodicy ein philosophisches Programm, das analog auch eine Reihe von sogenannten »Holocaust-Philosophen-Theologen« ebenso forderten,109 Rosenstock tut dies allerdings ohne die Schoah selbst zum Anlass seiner Forderung zu nehmen. Der Gedanke der Antitheodizee ist die Ablehnung jeglicher Versuche, das Leiden der Menschen mit einem höheren Sinn oder gar der göttlichen Gerechtigkeit, die dem Menschen nicht einsehbar ist, zu erklären. Rosenstock setzt mit seiner Forderung sehr viel früher als bei der Schoah an, nämlich schon bei der hebräischen Bibel. Sie sieht er als das Gegenüber zur griechischen Philosophie. Rosenstock meint, der griechische und der biblische Begriff von »Gerechtigkeit« seien grundsätzlich voneinander verschieden – und es sei alleine der griechisch-philosophische Ansatz, der es G. W. Leibniz ermöglichte, seine Lehre von der Theodizee zu entwickeln. Nach biblischer Vorstellung habe nämlich die »Gerechtigkeit« nicht wie in Griechenland das Wohlergehen des Individuums zum Ziel, sondern die Erlösung des »Anderen« aus der Ungerechtigkeit, die Wiedergutmachung für das Opfer durch den Übeltäter. Ein weiterer Unterschied sei die Kluft hinsichtlich der Zeitlichkeit in beiden Vorstellungsbereichen: »Nach der griechischen Auffassung bewirkt die ungerechte Tat das Ungleichgewicht der Seele und führt zu ihrer Bestrafung und zum Verlust der seelischen Selbstbeherrschung, zum Verlust dessen, was die Griechen sophrosyne nennen.« 110 Die Bestrafung dient schließlich dazu, das Gleichgewicht der Seele wiederherzustellen. Bei Plato komme noch der Mythos der Bestrafung der Seele im Nachleben mit dem Ziel des Wiederausgleichs hinzu, der auch die Balance des gesamten Kosmos betreffe: »Wiewohl sich die Seele ins Ungleichgewicht stürzt und in Folge davon auch den gesamten Kosmos, gibt es eine reziproke Wiederherstellung des Gleichgewichts und Erhalts der kosmischen Gerechtigkeit durch jede Tat.«111 Da diese griechische Auffassung allerdings vom rabbinischen und späteren Judentum rezipiert worden ist,112 muss Rosenstock natürlich beide überspringen und die Rückkehr zu den biblischen Auffassungen fordern. Denn die biblische Auffassung sei nicht an der Wiederherstellung des Gleichgewichtes der Seele des Übeltäters – durch Strafe – interessiert, sondern an der Wiedergutmachung der Leiden des Opfers. Nach seiner Auffassung ist der biblische 109
Dazu vgl., Jüdisches Denken Bd. 4, S. 41–42.
110
Twenty-First Century, S. 361.
111
Twenty-First Century, S. 362.
112
Vgl. z. B. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 263–273. 471–478.
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Schabbat eine Institution, welche eine solche Wiedergutmachung wöchentlich bewirkt, »eine sich periodisch wiederholende Realisierung der Gerechtigkeit als Erlösung und Wiedergutmachung [gemeint ist das Gebot, auch den Sklaven am Schabbat ruhen zu lassen als Reparation für seine Leiden während der Arbeitswoche]. Es gibt da [in der hebräischen Bibel] nicht [wie in der griechischen Vorstellung] eine voranschreitende Erziehung der ungerechten Seele [des Übeltäters] durch deren Bestrafung, noch eine unmittelbare Verelendung dieser Seele durch jeden der von ihr begangenen Akt der Ungerechtigkeit. Weil der Fokus der Bibel nicht beim Übeltäter, sondern bei ihrem Opfer liegt, gibt es hier nicht die Vorstellung, dass der Übeltäter als gerechte Bestrafung für sein Tun leiden müsse, oder die Vorstellung sein Leiden diene zur Kompensation für das Leiden des Opfers. Weder ist [laut der Bibel] das Leiden des Opfers erlösend/sühnend, noch ist die Bestrafung des Übeltäters wiedergutmachend. Das Leiden dient niemals der Gerechtigkeit, sondern ist stets ein Angriff auf sie.«113 Das heißt, für das Leiden kann keine wie auch immer geartete Erklärung oder Rechtfertigung gegeben werden. Im Leiden des Menschen kann niemals ein Akt der Gerechtigkeit Gottes gesehen werden, darum sagt Rosenstock am Ende seiner Ausführungen »Die jüdische Philosophie muss, wenn sie ihren biblischen Wurzeln treu sein will, den Mut haben, Gott anzuklagen«, nicht ihn zu rechtfertigen. Dies, so Rosenstock, ist der schärfste Widerspruch gegen jegliche Theodizee. Wie schon angedeutet, hat die rabbinische Literatur, und vor ihr schon das der Makkabäerzeit zugehörige Jubiläenbuch, nach Auffassung von Rosenstock diese biblische Tradition verraten, weil sie hellenisiert wurde. – Wenn Rosenstock die Dynamik und Entwicklung des jüdischen Denkens als Verrat betrachtet, so bedeutet dies nichts weniger als dass er hier keine historische Sicht auf das Judentum fordert, sondern eine dogmatische und sich darum auch nicht scheut, den viel berufenen – unhistorischen – Gegensatz zwischen Athen und Jerusalem zu beschwören. Und so liegt gemäß Rosenstock die Schuld von Leibniz mit seiner Lehre von der Theodizee eben darin, dass er – wie die gesamte spätere rabbinische Tradition – die biblischen Wurzeln verlassen habe.
113
Twenty-First Century, S. 362.
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3.
Jüdische Philosophie im Dienst der Selbstdarstellung des Judentums und der Einmischung in die allgemeine Philosophie-Debatte
3.1
Mit Lévinas Raum für eine jüdische Philosophie des Dialogischen im Rahmen der allgemeinen Philosophie erstreiten
Claire E. Katz, Professorin für Philosophie, Gender-Studies, Moderne Jüdische Philosophie, Texas A&M University Claire E. Katz sieht ihre Aufgabe vor allem darin, der jüdischen Philosophie einen Platz im Rahmen der allgemeinen amerikanischen Hochschul-Philosophie zu erstreiten, wider die Auffassung, dass eine mit einem einschränkenden Attribut versehene Philosophie keinen universellen Anspruch erheben könne. Im Rahmen der allgemeinen Philosophie habe die moderne jüdische Philosophie insbesondere die Funktion, aus Sicht jüdischer Traditionen eine kritische Stimme zu erheben. Der jüdische Philosoph schlechthin, auf den Katz sich hierbei stützt, ist Emmanuel Lévinas.114 Es ist das angesichts der Schoah festgestellte Scheitern der Aufklärung, mittels des Intellekts das Böse in der Welt zu bekämpfen, das laut Katz letztlich auch Mendelssohn115 und Hermann Cohen116 in seinen Strudel zieht, wohingegen die von Rosenzweig117 wie von Lévinas118 geforderte Rückkehr zur Tradition des jüdischen Lernens ihr als das einzig mögliche Bollwerk gegen eine Wiederholung eines »Holocaust« erscheint. Aber auch die politische Philosophie eines Mendelssohn, der die Grenzen staatlicher Macht und die Rechte von Minderheiten beschreibt, kann noch als Guthaben einer jüdischen Philosophie in die universelle Philosophie eingebracht werden, etwa bei Fragen nach der Rolle von Minoritäten in einer egalitären Mehrheitsgesellschaft, bei Fragen der Assimilation, der allgemeinen universellen Rechte, der Rolle von Religion in der allgemeinen Erziehung, der Abgrenzung von privaten und öffentlichen Rechten.119 Entscheidend für Katz ist die von Lévinas vorgenommene Neukonzeption des menschlichen Selbst, das in erster Linie von der Begegnung mit und der Verantwortung für den Anderen her bestimmt ist und somit eine neue Grundlage für die Ethik geschaffen hat:
114
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 608–613; Bd. 5, Teil I, Kap. III.
115
Siehe, Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 380–416.
116
Siehe, Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 617–658.
117
Siehe, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. I.
118
Siehe Grözinger, Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. III.
119
Twenty First Century, S. 159.
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»Wenn es die Aufgabe der Ethik ist, das Selbst in seiner Beziehung zum Anderen, für den ich Verantwortung trage, voranzubringen, dessen Leben vor dem meinigen zählt, dann ist mein Platz unter der Sonne von allem Anfang an in Frage gestellt. Solange die Herrschaft des Ego das Zentrum bleibt, können weder die Philosophie noch eine allgemeine geisteswissenschaftliche Bildung genügen, um das Herz der Menschen zu verändern.«120 Von dieser Prämisse her versteht sie, gerade auch als Feministin, die sie ist, die Aussagen von Lévinas zur Verantwortung der Frau ihrem Fötus gegenüber, die von manchen Interpreten gar als ›rape ethics‹ bezeichnet wurde. Sie sieht in den Darlegungen von Lévinas die Grundlage für eine mehr differenzierte und komplexere Erörterung der Frage von Abtreibung, der Möglichkeit der Übertragung dieser moralisch schweren Frage »aus der Sprache des Rechtes […] in eine Sprache, die all das damit Involvierte in Betracht zieht und als aktuell in die Debatte einbezieht […].«121 Die jüdische Philosophie kann dank ihres jüdischen Quellenfundus Themen in die Debatte einbringen, die nicht nur innerjüdische Relevanz besitzen, wofür Lévinas nur ein Beispiel sein sollte.
3.2
»Verschmelzung der Horizonte« von Tradition und Gegenwart in der jüdischen Selbstfindung
Asher D. Biemann, Professor für Religion, speziell modernes jüdisches Denken und Geistesgeschichte, University of Virginia Der aus Österreich stammende Asher D. Biemann untersucht die Frage nach der Bezogenheit von (jüdischer) Selbstfindung und der Beschäftigung mit der (jüdischen) Geistesgeschichte (intellectual History), das heißt, inwiefern das eine für das andere wesentlich ist. Er tut das mit intensiver und zuweilen eklektischer Aufnahme der vor allem deutschen Debatte um die kreative Reziprozität von Text, Tradition und Rezipient mit Namen von J. G. Herder, Karl Löwith, Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Hans-Georg Gadamer, Ernst Cassirer122 und Leo Strauss. Biemann beschreibt die Beziehung von Text, beziehungsweise Tradition, und Rezipient als eine aktive Wechselwirkung, und Rückkehr des Interpreten zur Tradition. Diese Rückkehr bedeutet allerdings nicht eine einfache Rückholung des Vergangenen, sondern eine beide Seiten betreffende Umbildung, eine Wiederaufnahme der Tradition (nach Buber) oder noch mehr 120
Twenty First Century, S. 163.
121
Twenty First Century, S. 161.
122
Zu ihm siehe Th. Meyer, Ernst Cassirer, Hamburg 2006.
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ein er-innern, das heißt ein sich verinnerlichen dieser Tradition, im Sinne von Franz Rosenzweig. Biemann versucht bei seinen Überlegungen den Spagat zwischen der Auffassung, dass zum einen Gedanken (Ideen), das am meisten Flüchtige, absolut Zeitgebundene, in der Welt seien und zum anderen, Ideen zeitlose Existenz hätten. Dieses Miteinander der beiden Auffassungen erlaubt es ihm, im philosophischen Denken geradezu eine Teschuva, das heißt eine fast religiöse Umkehr zum Eigenen, Verschütteten zu sehen oder, mit Hermann Cohen, eine »unaufhörliche Neuschöpfung des Geistes«, dessen stete Erneuerung.123 Das Wesen und die Wirkung von Geistesgeschichte formuliert Biemann folglich nach Cassirer wie folgt: »Hier wurde Cassirer die Bedeutung der Geistesgeschichte deutlicher: Anders als die Naturwissenschaften und anders als jegliche andere Geschichtsschreibung, erfasst die Geistesgeschichte nicht nur die Umbildung (transformation) der Menschheit, sondern ihre Bildung (formation), die Formgebung der Menschheit als Idee.«124 Die Begegnung mit der eigenen Kultur ist je (so Cassirer) Rede und Gegenrede ein Prozess der gegenseitigen Einflussnahme und Veränderung, ein dialogischer Prozess.125 Gegenüber dem bis dahin Dargelegten beendet Biemann seinen Essay etwas unvermittelt mit einer Unterscheidung zwischen »Jüdischem Denken« und »Philosophie«: Letztere könne stets mit dem Erstaunen des jeweiligen Tages einsetzen, während das jüdische Denken immer mit einer sich stets fortzeugenden Denktradition belastet bleibe, was vor allem Dankesschuld und Verpflichtung (indebtedness) bedeute – im Gegensatz zur eher distanzierten Chronologie.126 Nach all dem bis dahin Gesagten müsste die Opposition indessen nicht »Jüdisches Denken« versus allgemeine »Philosophie« lauten, sondern »jüdisches Denken« und »jüdische Philosophie« versus unbeteiligte »Ideen-Chronik«, oder eine das Individuum nicht verpflichtende Naturphilosophie.
123
Twenty-First Century, S. 20; H. Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Juden-
124
Twenty-First Century, S. 30.
tums, Wiesbaden 1978, S. 119. 125
Twenty-First Century, S. 33. 35.
126
Twenty-First Century, S. 35–36.
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3.3
Undogmatische Integration von »America« und jüdischer Tradition
Lenn E. Goodman, Professor für Philosophie, jüdische und islamische sowie Philosophie der Natur, Vanderbilt University Lenn E. Goodman, der sich vor allem in der mittelalterlichen islamischen und jüdischen Philosophie hervorgetan hat, aber auch spätere Themen behandelt, ist ein sehr amerikanisch-jüdischer Philosoph. Das wird noch viel pointierter in seinem teilweise mit dem vorliegenden Aufsatz übereinstimmenden Text Doing Jewish Philosophy in America aus einem Vorgängerband, in dem er emphatisch von seiner Liebe zu Amerika und seinen amerikanischen Wurzeln spricht.127 Da er sich der amerikanischen Nation wie dem jüdischen Volk, der nationalen Gesellschaft und der jüdischen Gemeinschaft gleichermaßen verbunden und verpflichtet fühlt, sieht er seine Hauptaufgabe als Philosoph darin, diese beiden Koordinaten miteinander zu verbinden: »Die liberalen Grundlagen der amerikanischen Kultur und des politischen Denkens finden in meinen Arbeiten zur jüdischen Philosophie dank meiner tiefen Abneigung gegen jeglichen Dogmatismus eine breite Resonanz. Ich preise die biblischen und rabbinischen Traditionen des Judentums gerade wegen ihrer Zurückweisung von jeglichem Dogmatismus. Darüber hinaus rufen mich meine amerikanischen Wurzeln als jüdischen Philosophen dazu auf, angemessene Wege einzuschlagen, um die Ansprüche der Gemeinschaft und der Tradition mit denen des Gesetzes und der Gerechtigkeit zu vereinbaren, indem ich ein mittleres Terrain zwischen den Extremen der Identitätspolitik und atomistischer sozialer Abkapselung und Gleichgültigkeit, des Säkularismus, Formalismus und Legalismus suche.«128 Diese hier formulierte harmonistische oder synthetische Tendenz des philosophischen Auftrags gilt expressis verbis für Goodmans gesamtes philosophisches Bestreben, der auch im innerphilosophischen Diskurs die hier und da propagierten Antinomien (auch die von Immanuel Kant, die zwischen Pflicht- und Verantwortungsethik, zwischen Vernunft und Offenbarung)129 häufig als Scheindichotomien entlarven und in einem synthetischen Denksystem miteinander ausgleichen will. Er sträubt sich zugleich gegen die neueren philosophischen Moden der
127
Sammelband eines Symposions unter dem Titel »The Renaissance of Jewish Philosophy in America«, unter dem Titel »Jewish Philosophy: Perspectives and Retroperspectives« 2012, herausgegeben von R. Jospe und D. Schwartz, S. 17; online: jtsa.edu/documents/pagedocs/ LouisFinkelstein/tikvah/Renaissance of Jewish Philosophy-combined papers.pdf
128
Perspectives and Retroperspectives, S. 17.
129
Perspectives and Retroperspectives, S. 29; Twenty First Century, S. 107. 109.
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Sprachanalytik, der Hinwendung zur Analyse der Denk- und Ausdrucksmöglichkeiten des zu Erkennenden, und plädiert demgegenüber für einen Naturalismus, wie er ihn schon in der Hebräischen Bibel sehen will, und damit für die Hinwendung zu den eigentlichen Grundfragen der Philosophie, »ich halte jene Philosophen für nützlicher, die sich mit den Fragen befassen, welche die Menschen bewegen oder die sie gestellt hätten, wäre ihre natürliche Neugier nicht durch Dogmen erstickt oder von Konventionen gehemmt worden.«130 Sein synthetisches Denken, das sich gegen falsche Dichotomien wendet illustriert er an den nichtjüdischen Philosophen Europas ebenso wie einigen jüdischen Klassikern, unter denen Spinoza einen besonderen Ehrenplatz einnimmt. Es ist die Vorbehaltung des Begriffes Substanz für Gott als der unendlichen Wirklichkeit, die ihre eigene Ursache ist und dessen Essenz mit seiner Existenz identisch ist. Die Materie habe er aus ihrer neoplatonischen Verdammnis geholt und sie nicht mehr als den Sumpf des Bösen dargestellt, sondern als eines der Attribute der Gottheit; die alte Polarität von Einheit und Vielfalt ist überwunden. Dies sei ihm vor allem deshalb gelungen, weil er Leib und Seele als Aspekte einer Wirklichkeit sah, und darüber hinaus feststellte, dass das Denken mit dem Bewusstsein des Körpers beginnt, und er so den Verstand zur Idee des Körpers machte und entsprechend den Leib zum ersten Objekt unseres Bewusstseins. Außerdem habe er das Patt zwischen Freiheit und Determinierung überwunden – für alle diese Sichtweisen verweist Goodman auf seine reiche angefügte Bibliographie.131 Für seine eigene Auffassung, dass das Gute kein Attribut, sondern das Sein selbst ist, führt er eigens Maimonides an: »Eine Frucht der Verbindung des Seins mit Wert ist eine Strategie der Überwindung der Polarität von deontologischer und teleologischer Ethik. […] Das Thema der Tora ist, wie Maimonides erschöpfend darlegt, die menschliche Erfüllung. Gott gibt die Gesetze nicht um seiner selbst willen. Denn aufgeklärtes Eigeninteresse kann niemals purer Egoismus sein, es verbindet moralisches, soziales, intellektuelles und spirituelles Wachstum […]. Vom Eudämonismus und der Werte-Ethik beraten, die Maimonides aus der Tora bezieht, habe ich selbst eine mehr holistische Vision der Ethik wiederherzustellen versucht.«132 Goodman buchstabiert diese synthetische, von der jüdischen Tradition unterstützte Sicht am Problem der Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft 130
Perspectives and Retroperspectives, S. 28.
131
Twenty-First Century, S. 106.
132
Twenty-First Century, S. 109.
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(Mit Hillel: »Bin nicht ich für mich, wer dann? Und bin ich alleine für mich, was bin ich dann?«). So auch am Beispiel der messianischen Hoffnung, die er weder als politisches Programm, noch als eine irrationale Apokalyptik polarisiert sehen will, sondern als Formel, welche alleine die Erfüllung der göttlichen Gebote fördern will. Schließlich exemplifiziert er dies an einem biophilosophischen Beispiel, in welchem nicht Leib gegen Seele ausgespielt wird, sondern sie beide als einheitliches Selbst verstanden werden.
3.4
Feminismus, Psychoanalyse und die jüdischen Dialog-Philosophen
Michael D. Oppenheim, Professor für moderne jüdische Philosophie, vergleichende Philosophie, Religionsphilosophie, Concordia University, Montreal Mit seinem Jerusalemer Lehrer David Hartmann sieht Michael D. Oppenheim die Aufgabe des modernen jüdischen Philosophen in einer Verpflichtung der Vergangenheit gegenüber, im Engagement für die gegenwärtigen Gemeinden und in der Auseinandersetzung mit der westlichen Kultur. Sein Anliegen ist es, angelehnt an Richard Rorty, die Philosophie nicht als eine Disziplin zu begreifen, die nach letztgültigen Wahrheiten sucht, die über den unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Diskursgemeinschaften steht, sie müsse vielmehr einen die Einsichten erweiternden pluralistischen Vergleich anstellen, gerade auch hinsichtlich der drei unterschiedlichen philosophischen Hauptrichtungen dieser Welt, der westlichen, der indischen und der chinesischen. Oppenheim weitet diese Einsicht aus und bezieht als Erkenntniswissenschaften des weiteren die feministische Theologie und Philosophie sowie die post-freudianische Psychoanalyse mit ein. Gerade in den beiden Letzteren sieht er Anliegen vertreten, welche auch von der für Oppenheim schlechthin modernen jüdischen Philosophie verfolgt werden, sprich der Dialogphilosophie (philosophy of encounter) eines Martin Buber, Franz Rosenzweig und Emmanuel Lévinas.133 Das diese drei Erkenntnis-Wissenschaften einende Anliegen ist nach Oppenheim, die dialogische oder Begegnungssituation des Menschen, die sowohl das Wesen des Individuums wie auch die Frage der Transzendenz betrifft. Der Einzelne wird hiernach nicht als abgeschlossenes Selbst, sondern in einem Selbstwerdungsprozess in der Begegnung mit den Anderen gesehen, während damit zugleich der Versuch einer Neufassung der Transzendenz (Gottes) einhergeht, nämlich Gott als das die Menschenbegegnung überschreitende und Begründende. Und zwar in diesem Sinn:
133
Zu allen dreien siehe hier im 5. Bd., Teil I, Des Jüdischen Denkens.
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»Für sie ist Gott nicht etwas Zusätzliches, eine zusätzliche Tatsache in der Welt, ein deus ex machina vom Himmel her, der einschreitet, um die Gerechten zu retten. Der Begriff ›Gott‹ bezieht sich auf eine transzendente Dimension, auf etwas anderes als die alltägliche geschichtliche Ebene […] Diese Dimension, das ›andere als das Sein‹ tritt in unser Leben durch Liebe und Gebote ein. Mit diesen wird auf jener anderen Ebene der ›Ewigkeit‹ ein Sinn gewonnen, den nicht einmal der Tod auslöschen kann. Emunah (der Glaube) ist somit die vertrauende Leidenschaft, welche das Leben auf die anderen hinlenkt.«134 Der Feminismus,135 in dem Oppenheim das am meisten dynamische Element der modernen jüdischen Philosophie erkennt, macht mit einem Grundanliegen des Dialogischen erst wirklich ernst, indem er das geschlechtliche Gegenüber und die Andersheit der Geschlechter als wesentlichen Gesichtspunkt erachtet – also gerade das, was den bislang noch androzentrisch konzipierten Dialog aufbricht und alle Seiten des Menschseins in den Blick nimmt. Das neue dynamische Element ist eben die Anerkennung des Weiblichen. Dies betrifft nicht nur die innermenschlichen Beziehungen, sondern auch die Gottesvorstellungen. Denn wenn man, angelehnt an Rosenzweig, die Gottesbegriffe als anthropomorphe Metaphern versteht und nicht als Beschreibungen Gottes missdeutet, sondern als Beschreibungen von Begegnungsweisen des Menschen mit dem Göttlichen versteht, dann »erweitert die Einbeziehung der weiblichen Metaphern die Möglichkeiten der Gotteswiderfahrnisse für alle Juden« sprich eben auch die weiblichen.136 Dass all dies natürlich auch Folgen für die Texthermeneutik hat und vor allem für die Gerechtigkeit den bisher im Judentum zurückgesetzten Frauen gegenüber, ist eine notwendige Folge – bis hinein in das zeremonielle und rechtliche Verständnis der Hochzeitszeremonie, welche bislang als ein Besitzerwerb der Frau durch den Mann dargestellt wird.137 Die post-freudianische Psychoanalyse bereichert das Beschreibungs-Trio durch ihre hochentwickelten Beschreibungsformen des menschlichen Wesens, die wie die Dialogphilosophie sich von den Freud’schen Persönlichkeitsbastionen der Instinkte oder Triebe der individuellen Psyche verabschiedete und mehr auf die Beziehung (interconnectedness) des Einzelnen mit den Anderen eingeht.
134
Twenty First Century, S. 307.
135
Zum jüdischen Feminismus siehe hier in Bd. 5, Teil V, des Jüdischen Denkens.
136
Twenty First Century, S. 311.
137
Twenty First Century, S. 309; dazu Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil V. Kap. II. R. Adler.
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3.5
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Pragmatische realitäts- und kulturbezogene Philosophie
Warren Zev Harvey, Professor emeritus für Philosophie-Jüdisches Denken an der Hebräischen Universität Jerusalem Der aus New York stammende und über Kanada schließlich an der Hebräischen Universität in Jerusalem Jüdische Philosophie lehrende Warren Zev Harvey betrachtet die Aufgabe einer jüdischen Philosophie im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund von deren Hochschul-Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert. Zutiefst davon überzeugt, dass die Jüdische Philosophie ihre adäquate Heimat in Instituten für allgemeine Philosophie haben müsse, betrachtet er deren Einbindung in Abteilungen für »Jüdisches Denken« und »Jüdische Literatur« als eine Ghettoisierung der jüdischen Philosophie.138 Er belegt dies am Beispiel der Hebräischen Universität, wo die Einbindung der Jüdischen Philosophie in das Institut für »Jüdisches Denken« (Machschevet Israel) nach einer Zeit der hohen Blüte in der Gegenwart zu einem Institut wurde, an welchem die jüdische Theologie bis hin zur Orthodoxie nicht nur der Hauptgegenstand von Forschung und Lehre wurde, sondern auch die ehemals säkulare Gelehrtenschaft durch eine religiöse ersetzt wurde.139 Hinzu kommt der globale, auch Israel ergreifende Niedergang der Geisteswissenschaften und das Aufstreben der mehr pragmatischen Naturwissenschaften. Letzteres sei auch einem veränderten Zeitgeist geschuldet, welcher Abschied genommen habe von der messianisch geprägten Verhaftung im Zionismus und der Holocaust-Fixierung innerhalb des Judentums.140 Indiz all dieser Entwicklungen sei auch das Wiedererstarken der Diaspora, so dass sogar das zerstörte europäische Judentum die alten Zentren wieder errichtet, ein Phänomen, das auch in die arabische Welt ausgreifen werde, sobald Israel Frieden mit seiner arabischen Umwelt habe. Als Konsequenzen aus all dem sieht Harvey die Aufgaben einer jüdischen Philosophie im 21. Jahrhundert in der Verabschiedung von der messianischen wie lacrymosen Betrachtung der Geschichte Israels. Sprich, die jüdische Philosophie müsse sich den politischen und kulturellen Fragen der jüdischen Gegenwart zuwenden, wozu auch die Neujustierung des Verhältnisses von Diaspora und Staat Israel gehöre: »Neue Beschreibungen der Partnerschaft von Israel und Diaspora, werden die alte messianische Deutung des Zionismus weniger attraktiv erscheinen lassen. In dem Maße wie das messianische Denken im zionistischen Diskurs zurücktritt, wird auch die jüdische Philosophie weniger messianisch. Dann 138
Twenty First Century, S. 126.
139
Twenty First Century, S. 125.
140
Zu beidem siehe, Jüdisches Denken, Bd. 4.
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werden sich die jüdischen Philosophen mehr auf das hic et nunc konzentrieren können.«141 Zu solchen Aufgaben der Gegenwart zählt er unter anderem, »eine Wirtschaftsund Politik-Philosophie zu formulieren, die den Weg zu einer gerechten und egalitären Gesellschaft im Staate Israel weist« und die Aufgabe Arabisch, die Sprache von Israels Nachbarn zu lernen, die ja die Sprache der mittelalterlichen jüdischen Philosophen war.142 Harvey beklagt auch die zu starke HolocaustZentrierung in der jüdischen Kultur seit 1945, die er als ungesund für das jüdische Leben wie für das jüdische Denken erachtet.143 Um diese Aufgabenstellung zu verstehen, muss man Harveys Definition von »Jüdischer Philosophie« kennen. Sie lautet: »Jüdische Philosophie ist jede Philosophie, die in sinnstiftender Weise (in a meaningful way) vor dem Hintergrund des jüdischen Lebens und jüdischer Kultur entwickelt wird« – analog gelte dies etwa für eine französische oder deutsche Philosophie. Die Definitionshoheit, was das »in a meaningful way« bedeute, müsse dabei jedem Kommentator überlassen bleiben.144 Dies ist eine pragmatische, kultur- und geschichtsbezogene Definition jüdischer Philosophie, das heißt sie ermisst sich daran, welche Relevanz eine Philosophie für jüdisches Leben und für das Verstehen jüdischer Existenz besitzt.
3.6
Identitätsbildungsprozesse mit offenen Grenzen
Aaron W. Hughes, Professor für Jüdische Studien, University of Rochester Aaron W. Hughes ist das beste Beispiel für seinen eigenen philosophischen Ansatz. In dessen Mitte steht die zeitbezogene Konstruktion von Identität und die Verwerfung der Konzeption fertiger, unveränderlicher, Identitätskonzepte. Diese Offenheit menschlicher und vor allem jüdischer Identität ist bei ihm nicht zuletzt biographisch bedingt. Der Mitherausgeber des Bandes zur jüdischen Philosophie für das einundzwanzigste Jahrhundert und Schüler der Ko-Editorin Hava TiroshSamuelson ist in einem jeglicher jüdischer Tradition und Religion baren Elternhaus aufgewachsen und hat erst unter dem Einfluss der höheren Schule und der Universität begonnen sein Judentum zu »konstruieren«. Der Motor dafür waren seine Studien zum »jüdisch-muslimischen Denken« des Mittelalters und später 141
Twenty First Century, S. 129.
142
Twenty First Century, S. 127.
143
Twenty First Century, S. 130; zur Bedeutung der Schoah im modernen jüdischen Denken, sie-
144
Twenty First Century, S. 122.
he Jüdisches Denken, Bd. 4.
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der religiösen muslimisch-jüdischen Religionsbeziehungen, und all dies in einem multikulturellen Land, in dem die Juden nicht als verfolgte Minderheit, sondern als gleichberechtigte Bürger leben. Später, in Oxford, freundete Hughes sich auch mit der Schabbat-Observanz und dem täglichen Synagogalgebet an, was ihn letztlich zu einem zugleich »nahen und fernen« Verhältnis zur Tradition führte. Hughes’ Zugang zur jüdischen Philosophie ist erklärtermaßen nicht die Historiographie oder gar eine »philosophische Hagiographie«, sondern die kritische Auseinandersetzung mit den Autoren verschiedener Epochen. Mit Benedict Anderson und Pierre Bourdieu glaubt er nicht an fixe kulturelle und religiöse Identitäten, sondern dass diese je durch die historischen Umstände und die kulturellphilosophischen Auseinandersetzungen mit anderen Kulturen zu kreierende bewegliche Größen sind. Mit dieser Grundauffassung hat Hughes sich der Reflexion solcher Identitätsbildungsprozesse zugewandt: »In den letzten Jahren habe ich den Versuch unternommen die Prozesse zu erfassen, welche den Grenzbereich zwischen Juden und Nicht-Juden, Judentum und Nicht-Judentum zu definieren suchen, ihn aber letztlich nur zu verwischen vermochten. Dies führte dazu, dass ich die einfachen historischen Kontextualisierungen über Bord werfen musste, um stattdessen jüdische Philosophen verschiedener Epochen miteinander und mit mir selbst ins Gespräch zu bringen.«145 Er verweist in diesem Zusammenhang auf sein Buch The Invention of Jewish Identity, in welchem er zeigt, dass die Konstruktion der jüdischen Identität im Laufe unterschiedlicher Epochen zum Beispiel durch die Übersetzung der jüdischen Bibel in unterschiedliche Sprachen und philosophische Denkparadigmen, weitgehend durch das Nicht-Jüdische geprägt und daher höchst beweglich war. Hughes ist also nicht an jüdischen Wahrheiten interessiert, sondern an den Prozessen von deren Konstruktion. Ein besonders plastisches Beispiel hierfür ist ihm die Entstehung des Monotheismus im Rahmen der sogenannten biblischdeuteronomischen Reform:146
145
Twenty-First Century, S. 135.
146
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 53–65; und K. E. Grözinger, Wozu dient der Monotheismus in der jüdischen Religion angesichts der Zehnfaltigkeitslehre der Kabbala, in, Aschkenas 26,1 (2016), S. 17–36.
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»Sogar der Monotheismus, den manche als das herausragende Geschenk der Juden an die Welt betrachten, war kaum mehr als eine politische Erfindung während der deuteronomischen Reform zur Zeit des Ersten Tempels.«147 Hughes glaubt darum nicht an einen einzigartigen jüdischen Beitrag zur WeltZivilisation, der etwa über den griechischen, deutschen oder schottischen hinausragte. Dies umso mehr, als er die stets durchlässigen Grenzen zwischen Judentum und anderen Kulturen wahrnimmt. Zur Illustration der zeitbezogenen und »politisch« instrumentalisierten Identitätsbildungsprozesse greift er die Beispiele der zwei Leuchttürme jüdischer Philosophie in Mittelalter und Moderne heraus, Moses Maimonides148 und Franz Rosenzweig.149 Beiden Denkern wirft er philosophischen Totalitarismus vor. Der mittelalterliche Aristoteliker Maimonides beschuldigt alle Juden, die nicht seinem rationalistischen Gottesbegriff folgen, der polytheistischen Häresie und schreckt nicht davor zurück, deren Ausgrenzung bis zur Todesstrafe zu fordern: »Alle, die vom Weg der Wahrheit abweichen, verdienen, laut Maimonides, die Todesstrafe, weil sie andere in die Irre führen können.«150 Franz Rosenzweig wirft Hughes eine rassistische Blutgemeinschafts-Theorie vor, nach welcher die Juden als eine der Geschichte nicht unterworfene, schon mit dem Heil beschenkte Größe, allen anderen – darunter Christen und Muslimen – als wesensverschieden gegenüberstehen. »Rosenzweigs Lehre im Stern der Erlösung ist hochproblematisch. Sein Gebrauch des Rassebegriffs, der Lehre von der Erwählung und des philosophischen Essentialismus lassen ein Bild vom Judentum entstehen, das weitestgehend abgeschottet und auf sich selbst konzentriert ist.«151 Seine philosophische Aufgabe sieht er deshalb darin, solche Grenzen aufzubrechen, zu lernen, wie soziale Gruppen interagieren und sich selbst wie auch die anderen sehen. Als besonders brennend sieht er diese Aufgabe im jüdischarabischen Konflikt, ein Thema, das die jüdische Philosophie bis dato sträflich vernachlässigt habe. Er glaubt, dass gerade im israelisch-palästinensischen Konflikt essentialistische Positionen, wie sie dem damaligen Antizionisten Rosenzweig geläufig waren, nun auch auf das Heilige Land übertragen worden seien, worauf hinzuweisen die Aufgabe einer jüdischen Philosophie sei. – Man wird Hughes hier gewiss vorwerfen können, dass aus der sicheren Position des fernen
147
Twenty-First Century, S. S. 135. Zu dieser Reform siehe, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 117–
148
Zu ihm siehe, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–487.
149
Zu ihm s. Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil I, Kap. I.
150
Twenty-First Century, S. 144; u. vgl., Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437.
151
Twenty-First Century, S. 147.
122; u. K. E. Grözinger, Wozu dient der Monotheismus.
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Stimmen aus der Academia
Amerika wohl zu raten sei. Aber man wird seinem Resümee dennoch zustimmen können: »Nur ein pluralistischer Diskurs jüdischer Philosophie, der sich der Redeweisen, die er hervorbringt, bewusst ist und den Wandel und die Entwicklung als Antwort auf Konflikte und Gewalt (wörtlicher oder nur metaphorischer) eingesteht, kann in der Gegenwart bestehen.«152
3.7
New Yorker Intellektuellen-Idylle
Zachary Braiterman, Professor am Department of Religion, Syracuse University Zachary Braiterman, ein vorzüglicher Kenner der deutsch-jüdischen Philosophie, beklagt dennoch die Abhängigkeit der amerikanisch-jüdischen Moderne vom deutschen intellektuellen Judentum, er glaubt nämlich diese jüdisch kontinentale Philosophie sei nichts weniger als museumsreif: »Ich verstehe, dass die Grille, nach der die Toten fortfahren, in einer unhistorischen philosophischen Arroganz zu uns zu reden, dazu diente, unsere eigenen hermeneutischen Arbeiten zu rechtfertigen. Adorno, Benjamin, Buber, Cohen, Kafka, Rosenzweig, Scholem, Strauss, sie alle gehören in ein Museum philosophischer Gedanken oder auf eine Messe philosophischer Antiquare.«153 Ganz im Sinne der Zielsetzung des Bandes zur Philosophie des 21. Jahrhunderts fordert er, der tiefgreifende Neigungen für die ästhetischen Gestaltungen der deutsch-jüdischen Intellektuellen in Buch, Text und Kunst, hegt, stattdessen eine fast romantische Hinwendung zur täglichen Lebenswelt der New Yorker Stadtlandschaften, wie auch zu den häuslichen Schabbat-Soirées mit ihren traditionellen wie intellektuellen Elementen – er selbst bezeichnet dies mit dem deutschen Begriff »Schwärmerei«. Beispielhaft für diese ersehnte jüdisch-amerikanische Alltagsphilosophie, einer »second-generation American Jewish culture« ist ihm der Literaturkritiker und Autor Alfred Kazin, der in seinen autobiographischen Romanen seine Lebenswelt vom armen jüdischen Einwandererkind bis hin zum New Yorker Intellektuellen zeichnet. Braiterman meint: »Im Geiste von Spinozas bekanntem Motto ›deus sive natura‹ (Gott oder Natur) mag Kazin gesagt ha-
152
Twenty-First Century, S. 150.
153
Twenty-First Century, S. 53.
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Jüdische Philosophien des 21. Jahrhunderts
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ben ›Gott oder Brooklyn‹«154 als Charakteristik seiner amerikanisch jüdischen Religion, die in die kleinsten Details des Lebens involviert ist.155
4.
Methoden und Wesen jüdischer Philosophie
4.1
Phänomenologie und existentiell-individuelles philosophisches Narrativ
Avi Sagi, Professor für Philosophie an Bar Ilan Universität, Ramat Gan und am Shalom-Hartmann-Institut, Jerusalem Der im vorliegenden Band ausführlich besprochene Avi Sagi, hat eine klare Auffassung von der Aufgabe der Philosophie und diese führt ihn unausweichlich zu einer verheerenden Kritik an der weltweit üblichen Weise jüdische Philosophie zu betreiben: »Wenn Philosophie der Versuch ist, eine kritische reflektierte Darstellung des aktuellen menschlichen Lebens zu geben, dann hat die jüdische Philosophie ihre Aufgabe nicht erfüllt.«156 Der Vorwurf an die jüdische Philosophie seit ihren Anfängen und bis in die moderne Universitätslandschaft hinein ist, dass sie eine Spielwiese der Intellektuellen sei, weit entfernt von den Realitäten des realen jüdischen Lebens, in einer Welt von Texten lebend. Die Grundfragen einer lebensweltbezogenen jüdischen Philosophie sind, nach seiner Auffassung, die von allen Menschen gestellten, nämlich »was ist die Bedeutung meines Lebens als eines konkreten Wesens, das im hier und jetzt in einem jüdischen kulturellen Kontext lebt?«157 Diese diesseitsbezogene Ausrichtung einer solchen Philosophie hat in der nachkantischen und posthegelianischen Zeit natürlich die Konsequenz, dass die gesamten »theologischen oder metaphysischen Feststellungen, wollen sie nicht bedeutungslose Behauptungen sein […] eine innerweltliche Bedeutung haben. Aussagen über Gott oder Offenbarung und dergleichen haben keinerlei ontologische Bedeutung, welche die Grenzen der menschlichen Erkenntnisse übersteigt.«158 – durchaus angelehnt an Ludwig Feuerbachs Theorie, dass Theologie allemale nur Anthropologie sei. Mit all dieser Kritik sind natürlich auch alle Aussagen der älteren jüdischen Philosophie qualifiziert. Sagi schlägt konsequenterweise eine neue jüdische Philosophie vor. Deren philosophischen Stichwortgeber sind die Phänomenologie Edmund Husserls, die
154
Twenty-First Century, S. 55.
155
Twenty-First Century, S. 55.
156
Twenty-First Century, S. 393; zu Sagi siehe oben Teil IV, Kap. II.
157
Twenty-First Century, S. 394.
158
Twenty-First Century, S. 394.
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neue Hermeneutik Schleiermachers, Wilhelm Diltheys, Hans-Georg Gadamers und Paul Ricoeurs sowie die Existenzphilosophie Søren Kierkegaards, der sogar seine Dissertation gewidmet war.159 Das bedeutet für seine neue jüdische Philosophie die Beschränkung auf das Phänomenologische und dies heißt, auf die gesamte überaus vielfältige und widersprüchliche jüdische Wirklichkeit. Darum erhält diese Philosophie ihr »einschränkendes« Attribut jüdisch, jüdisch ist sie von ihrem existentiellen Gegenstand her: »Diese Philosophie wird jüdisch sein, weil sie sich mit den Fragen der jüdischen Existenz befasst. Die Umbrüche, welche das jüdische Volk in der jüngeren Vergangenheit erlitten hat, erfordern eine philosophische Bearbeitung. Die Fragen sind sehr zahlreich: Im politischen Bereich – was macht die vielen jüdischen Individuen und Gemeinschaften zu einem Volk. Sind diese unterschiedlichen Gruppen wirklich Erscheinungsformen eines einzigen Volkes, und wenn ja, was sind dann die Charakteristika dieses Volkes? Die Beziehung zwischen dem jüdischen Volk in Israel und den jüdischen Gemeinschaften in der Diaspora ist eine wichtige Seite dieser Frage. Im Bereich der Ethik stehen wir vor der Frage, ob es eine besondere ethische Beziehung zwischen den Juden gibt und ob diese Beziehung in normativer Hinsicht anderen bürgerlichen Banden vorzuziehen ist. In existenzieller Hinsicht bleibt die Frage nach der jüdischen Identität offen und hat noch keine angemessene Antwort erfahren, nachdem der religiöse Diskurs das Ruder an sich gerissen hat. Schließlich muss sich die jüdische Philosophie erneut der Frage nach der Bedeutung der Religion in der jüdischen Existenz stellen, und dies ohne Überheblichkeit in einer offenen und kritischen Auseinandersetzung. Die jüdische Philosophie muss ihre metaphysischen Anmaßungen widerrufen, weil sie ohne Grund dastehen, da die Metaphysik per definitionem nicht partikular sein kann.«160 Die von der modernen Hermeneutik geprägte Stimme dieser neuen Philosophie soll das Bewusstsein dafür schärfen, dass der Interpret geschriebener und nichtschriftlicher Texte niemals nur das herausliest, was schon immer in dem zu deutenden Text vorhanden war, sondern dass eben die persönlichen, kulturellen, sozialen und historischen Gegebenheiten, in welche der Interpret verwoben ist seine Sicht der Dinge wesentlich beeinflusst (Gadamer). Die genannten und außerdem die existenzialistischen Ingredienzien dieser neuen jüdischen Philosophie werden keine essentialistische Philosophie hervor159
Englische Übersetzung: Avi Sagi, Kierkegaard, Religion, and Existence. The voyage of the
160
Twenty-First Century, S. 403.
Self, Amsterdam-Atlanta 2000.
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bringen, sondern eine pluralistische und in vieler Hinsicht auch ganz individuelle. Diese neue Philosophie ist per definitionem fragmentarisch und dynamisch, sie steht mitten in der Geschichte: »Diese Philosophie ist in einem tiefen Sinn narrativ, denn sie wird durch die Umstände realisiert, in denen sie sich im Laufe eines Lebens entwickelt und entfaltet. Aber dieses Narrativ ist nicht nur autobiographisch, denn als solches würde es in seinem wirklichen Wert geschmälert. Es bietet vielmehr eine Konfrontation mit der aktuellen jüdischen Existenz.«161 Das autobiographische Element, verbunden mit dem Junktim zum konkreten jüdischen Leben hat für Sagi natürlich zur Folge, dass der jüdische Philosoph tief in seiner Kultur und deren bezogenem Lebensort verwurzelt sein muss. Jüdische Philosophie dieser Art kann nicht von außerhalb eines jüdischen Lebenskontextes erarbeitet werden. Von diesem Gesichtspunkt aus kann es nicht verwunderlich erscheinen, dass auch die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, das Teil dieser jüdischen Wirklichkeit ist – selbst wenn man selbst nicht danach lebt – Gegenstand ernsthafter philosophischer Betrachtungen werden kann und muss. Dazu gehört natürlich, dass – entgegen der orthodoxen Auffassung – die Geschichtlichkeit, das heißt die faktische und mögliche Veränderbarkeit der Halacha ernst genommen werden muss. Sagi hat darum eigens an der Begründung der neuen Disziplin »Philosophie der Halacha« mitgewirkt – die notabene dann nicht das ganze Judentum definieren kann, sondern eben nur ein Segment der jüdischen Kultur bearbeitet. In ähnlicher phänomenologischer Manier hat Sagi in einem eigenen Buch (Prayer After the Death of God: A Phenomenological Study of Hebrew Literature) das Phänomen des Gebetes ohne die Annahme eines wirklichen göttlichen Adressaten untersucht. Zusammenfassend erklärt er: »Den philosophischen Diskurs, den ich hier skizzierte, könnte man als einen Wechsel nicht nur von der Theorie zur Praxis, sondern auch als einen Wechsel von einem modernistischen Standpunkt, der mit Gewissheit und Wahrheiten rechnet, zu einem postmodernen hin. Wir leben in einer postmodernen Welt, sofern der Begriff Postmodernismus all jene unterschiedlichen Zugänge bezeichnet, welche auf essentialistische und metaphysische Positionen verzichten, die jenseits von Geschichte und Kultur liegen.«162
161
Twenty-First Century, S. 395; vgl. S. 404.
162
Twenty-First Century, S. 407.
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Stimmen aus der Academia
4.2
Suche nach der Wahrheit durch Skepsis und Negation der Negation
Elliot R. Wolfson, Professor für Religion, jüdische Mystik, Philosophie, University of California, Santa Barbara Seinen Beitrag Skepticism and the Philosopherʽs Keeping Faith eröffnet Elliot R. Wolfson163 mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche, das – fast – in jeder Hinsicht sein Anliegen umschreibt, und das er hernach in einem dreißig Seiten umfassenden geradezu anthologischen aber brillanten Feuerwerk von Meinungen und Zitaten aus der europäischen, meist nichtjüdischen, Philosophie von Aristoteles bis Heidegger und Derrida ausleuchtet. Das Zitat aus Nietzsche: »Durch die Skepsis untergraben wir die Tradition, durch die Consequenzen der Skepsis treiben wir die versteckte Wahrheit aus ihrer Höhle und finden vielleicht, daß die Tradition Recht hatte, obwohl sie auf thönernen Füßen stand. Ein Hegelianer würde etwa sagen, daß wir die Wahrheit durch die Negation der Negation zu ermitteln suchten.«164 Diese Skepsis, der die Fragen an einen Gegenstand wichtiger sind, als Antworten, will Wolfson auf die jüdische Philosophie anwenden, die er, wie viele Autoren des hier besprochenen Bandes so beschreibt: »Jüdische Philosophie ist der Versuch, die wesentlichen Lehren des Judentums aus Sicht der verschiedenen Disziplinen zu bearbeiten, die unter der Rubrik Philosophie zusammengefasst sind.«165 Das von Wolfson gesehene Resultat der mit Nietzsche qualifizierten jüdischen Philosophie ist, dass die traditionellen Demarkationslinien zwischen Athen und Jerusalem verschwimmen, was natürlich auch schon die hier im Jüdischen Denken dargestellte Philosophiegeschichte offenbart, ohne den sehr komplizierten Apparat der philosophischen Skepsis bemühen zu müssen. Dennoch will er in diesem Geschäft, in welchem er das Philosophische durch die Linse des Jüdischen und das Jüdische durch die Linse des Philosophischen betrachten will, von einer Differenz zwischen universaler Philosophie und partikularem jüdischem Denken sprechen, ohne indessen deren Kernpunkte zu markieren. Da ist es nicht verwunderlich, wenn er zu Emmanuel Lévinas Zuflucht nimmt und sagt, »›das absolut Universale‹, welches das Wesen des geistigen Lebens ausmacht, ›kann in Reinheit alleine durch die Partikularität eines jeden Volkes betrieben werden‹, eine Partikularität die man Verwurzelung nennen kann.«166 Um dies, auch im Sinne der Gesamterörterung zu belegen, nämlich ob man durch mensch163
Im Original: Skepticism and the Philosopherʼs Keeping Faith.
164
Nietzsche, Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Werke, 3: 342, Twenty-First Century, S. 481.
165
Twenty-First Century, S. 481.
166
Twenty-First Century, S. 483.
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liche Erkenntnis Wahrheit erlangen könne, greift er zu einer für ihn typischen dialektischen Formulierung: »das, woran alle Teil haben, ist die Einzigartigkeit des Individuums, die jedoch nicht mit allen geteilt werden kann.«167 Den Sinn von Skepsis fasst Wolfson, nach einer großen Vielfalt vorgestellter Bedeutungsentwicklungen des Begriffs – epistemologisch, metaphysisch, sprachlich, existenzialistisch –, einmal als dialektische Widersprüchlichkeit von Glauben, Unglauben und Wahrheit so zusammen: »Könnte man nicht glaubhaft so argumentieren, dass der Weg aus der Philosophie heraus nur ein anderer Weg in sie hinein sei, dass die extreme Hintanstellung des Glaubens nicht zugleich der vollkommene Glaube ist, der unbestreitbare Glaube inmitten der Unfähigkeit zu glauben? Wie ich schon zuvor sagte, die dogmatische Verneinung der Möglichkeit, die Wahrheit zu erlangen ist selbst eine Wahrheit – wenn auch eine inkongruente, da ihre Wahrheit auf ihrer Falschheit und ihre Falschheit auf ihrer Wahrheit beruht.«168 Das Resultat all der Infragestellungen der anscheinend gefundenen Wahrheit ist, damit kommt Wolfson am Ende seiner Ausführungen auf das Nietzsche-Zitat des Anfangs zurück, die Wahrheit durch die Negation der Negation aus der Höhle zu treiben: »Um den Glauben aufzulösen muss man wenigstens in der Aufhebung des Glaubens dem Glauben verpflichtet sein. Die jüdische Philosophie, wie ich sie sehe, würde über die Maßen bereichert, wenn ihre Protagonisten diese tiefere Höhle besiedelten [den Abgrund hinter jedem Grund], den Ort an dem das absolut Positive und das absolut Negative ineinander übergehen.«169
5.
Jüdische Philosophie und die modernen Wissenschaften
5.1
Jüdische Philosophie in der Auseinandersetzung und im Dialog mit den modernen Wissenschaften
Ḥava Tirosh-Samuelson, Professorin für Modernes Judentum, Geistesgeschichte, Philosophie, Mystik, Wissenschaften, Arizona State University Ḥava Tirosh-Samuelson, die Herausgeberin des Bandes zur jüdischen Philosophie des 21. Jahrhunderts, breitet ein überaus themenreiches und innovatives
167
Twenty-First Century, S. 483.
168
Twenty-First Century, S. 495.
169
Twenty-First Century, S. 509–510.
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Spektrum für die Aufgaben einer modernen jüdischen Philosophie aus. Nicht umsonst verweist sie auf ihre Herkunft aus dem israelischen Kibbuz Afikim im Jordantal, der in tiefgreifendem Maße ihre späteren philosophischen, nach ihrer Auswanderung in die USA bearbeiteten, Themen vorprägte wie sie selbst betont. Es war die Liebe zur Natur, die sie im Kibbuz-Leben erwarb und die säkulare Neudeutung der jüdischen Fest- und Feiertage dieser von der Arbeiterbewegung geprägten Siedlung. Der philosophische Mentor dieses landwirtschaftlichen Arbeitslebens war Ahron David Gordon,170 der durch seine oft als »Religion der Arbeit« bezeichnete Philosophie eine Gesundung des jüdischen Lebens vor allem von einer Rückkehr der Juden zur Natur erwartete. Und so sind die vielfältig differenzierten Themen von Tirosh-Samuelson solche der modernen Wissenschaften, die sich mit der uns umgebenden Natur und Welt und ihren Veränderungen durch Technik und Naturwissenschaften, wie auch der menschlichen Natur befassen, sei es in den Biowissenschaften oder der der Biotechnologie, aber auch die Fragen der Geschlechter (gender). Dass sie an der Jerusalemer Hebräischen Universität außer Philosophie auch Literatur und Kabbala studierte sind zusätzliche Elemente, die ihr Denken prägen. Die heiratsbedingte Übersiedlung nach den USA hat sie außerdem mit einer Vielfalt von jüdischen Lebenskonzepten konfrontiert, die es in Israel so nicht gibt und die in ihrer Vielfalt und Relativität ein typisches Phänomen der Postmoderne darstellen, wozu auch die Kritik an dem in Jerusalem damals noch gültigen Wissenschaftskonzept der von der Aufklärung genährten Wissenschaft des Judentums gehört. All die genannten Wissenschaftsbereiche gelten für sie als nötige Themen für eine jüdische Philosophie, welche Derartiges bis dato meist sehr vernachlässigt. Sie meint hingegen, »dass, wenn das Judentum beansprucht wahr zu sein, es die zeitgenössischen Wissenschaften nicht ignorieren kann, da in unseren Tagen die Wissenschaften die Richter über die Wahrheit sind. Vielmehr müssen die Glaubensauffassungen des Judentums neu bedacht und im Lichte der modernen Wissenschaften neu formuliert werden.«171 Es bleibt nach ihrer Meinung indessen nicht bei dieser einseitigen Abhängigkeit des jüdischen Denkens von den Wissenschaften, auch die jüdische Philosophie kann und soll den Naturwissenschaften etwas bieten, als nötiges Korrektiv, dies insbesondere im ethischen Bereich:
170
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 214–286.
171
Twenty-First Century, S. 433.
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»die modernen Wissenschaften sollten die jüdischen Weisen, philosophische und wissenschaftliche Probleme zu formulieren, beachten und die naive und irreführende Sicht überwinden, dass Religion und die Wissenschaften zwangläufig im Konflikt miteinander stehen.«172 Beispielhaft erläutert die Autorin dieses ihr Anliegen an der »technoscience« also jenen Technologien, die auf das Leben und Wesen des Menschen direkten Einfluss nehmen, wie die »Nanotechnologie, die Biotechnik, Genomik, Robotik, Informations- und Kommunikationstechniken sowie die angewandte Kognitionswissenschaft«, die den Menschen zu einem »design project« werden ließen, das heißt seine wesentlichen Grundeigenarten und Fortpflanzungsweisen etc. verändern.173 Solche Projekte, die als »gelenkte Evolution«, als »Evolutionsverbesserung«, »Design-Evolution« oder »radiale Evolution« das menschliche Leben vom Zufall zur Selbstgestaltung hinüberführen sollen, müssen von einer jüdischen Philosophie bearbeitet und nicht den sogenannten »Transhumanisten« oder »Posthumanisten« überlassen werden: »Deshalb halte ich die Ideologie des Transhumanismus und dessen Hoffnung, eine posthumane Zukunft herbeizuführen, als die wichtigste Herausforderung für eine jüdische Philosophie des einundzwanzigsten Jahrhunderts.«174 All dies seien Entwicklungen, welche die Existenz des Menschen als biologisches Wesen in Frage stellen, und deren desaströsen Auswüchse meist nicht genügend ernst genommen werden: »Der Angriff auf die biologische menschliche Existenz ist ein Indiz für die Krise der westlichen Kultur in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts und für die Explosion der Technowissenschaften in dessen zweiter Hälfte. Nach zwei Weltkriegen, nach der Industrialisierung des Tötens im Holocaust, der Erfindung der Massenvernichtungswaffen, und angesichts der globalen ökologischen Krise, erwies sich die ›heroische Vision der Wissenschaften‹, welche die Wissenschaften und die Technologie mit Erlösungshoffnungen ausstattete, als Illusion.«175
172
Twenty-First Century, S. 433.
173
Twenty-First Century, S. 434.
174
Twenty-First Century, S. 435.
175
Twenty-First Century, S. 435.
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Die jüdische Philosophie müsse gegen solche Tendenzen auftreten, eingedenk der altbiblisch-jüdischen Tradition vom Menschen als Ebenbild Gottes,176 da sie zugleich auch die Vision des säkularen Zionismus177 zerstörten, dessen Ziel die Selbstbestimmung des Menschen ist. Es ist kaum verwunderlich, dass TiroshSamuelson – im Gegensatz zu manch anderen Autoren des von ihr herausgegebenen Bandes – in diesem Zusammenhang Martin Heidegger positiv anführt, als einen, der diese modernen Gefahren erkannt habe, des weiteren Hannah Arendt und natürlich mit großem Nachdruck Hans Jonas, dessen Philosophie der Technik sie geradezu als »secular religiosity« qualifiziert. So klingt auch bei ihr die Heideggersche Diktion nach, wenn sie sagt: »Wenn Menschsein bedeutet, zugleich Freiheit und den Tod zu erfahren, dann ist das Zusammenspiel von Biologie und Technologie, welche von der Bewegung der Kybernetiker bejubelt wird, eine Herausforderung für beide und erfordert ein neues Nachdenken über die Bedeutung des Menschseins.«178 Während nun, so klagt sie, solche Fragen in der jüdischen Philosophie noch kaum Resonanz finden, gibt es doch eine andere jüdische Wissenschaft, die diese den Menschen und sein Leben direkt betreffenden Fragen kontinuierlich bearbeitet, nämlich die Halacha (Religionsgesetz). Hier wird die Frage gestellt, was dem Juden erlaubt und was ihm verboten ist, also auch in Fragen des Lebensbeginnsund -endes, der künstlichen Befruchtung, Empfängnisverhütung, Abtreibung, Unfruchtbarkeit und des Eingriffs in die Natur, um menschliches Leben zu bereichern – all dies wird in der halachischen Literatur im Lichte der jüdischen Quellen beleuchtet, bis hin zur Frage, ob ein Roboter zum Beterquorum von zehn Männern in der Synagoge hinzugezählt werden kann. Einen mehr philosophischen, nicht nur juristisch-halachischen Zugang zu derartigen Fragen entdeckt Tirosh-Samuelson – neben Hans Jonas – bei dem neoorthodoxen Denker Josef Dov Soloveitchik,179 der die beiden biblischen Schöpfungsberichte von der Menschenerschaffung auf zwei innermenschliche Aspekte hin deutet, den wissenschaftlich und technisch seine Welt verbessernden homo faber auf der einen und den der Ethik verpflichteten Gesellschaftsmenschen auf der anderen Seite. Und natürlich stimmt die Autorin auch Hans Jonas
176
Zur Gottebenbildlichkeit im Judentum siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 129–140. 209–213. 280–287. 462–467. 546–552; Bd. 2, S. 145–146. 281–282. 437–447. 597–589; Bd. 3, S. 261– 272. 326–327. 591–592.
177
Vgl., Jüdisches Denken, Bd. 4.
178
Twenty-First Century, S. 436.
179
Zu ihm siehe Jüdisches Denken Bd. 5, Teil III, Kap. I.
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Jüdische Philosophien des 21. Jahrhunderts
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zu, wenn sie meint, dass die moderne Technik ihre ethische Neutralität verloren habe und nicht länger als unschuldig betrachtet werden kann. Ihr Resümee lautet daher: »Die Technik formt im einundzwanzigsten Jahrhundert das menschliche Leben und erfordert darum das Augenmerk der jüdischen Philosophie. Die Weise, wie wir damit umgehen, ist ein Indiz für unsere Stellung im Spektrum des gegenwärtigen jüdischen Lebens. Deuten wir unser Judentum in religiösen oder säkularen Kategorien? Verstehen wir uns als Juden durch Geburt, ethnisch, kulturell oder in religiöser Hinsicht. Wo verorten wir uns selbst tatsächlich innerhalb des jüdisch-religiösen Pluralismus? Wie gehen wir mit jüdischen Texten um und wie prägen diese Texte unsere jüdische Identität? Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen werden unser Verständnis von der Aufgabe einer jüdischen Philosophie und unsere Art und Weise zu philosophieren, prägen!«180
180
Twenty-First Century, S. 450.
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EPILOG Gibt es eine Einheit in der Vielfalt des jüdischen Denkens? – Ein Rückblick auf fünf Bände jüdischer Geistesgeschichte A.
Von den Anfängen bis zur Aufklärung und Emanzipation
Rückblickend auf so viele Seiten Jüdischen Denkens wird man sich die Frage stellen müssen, ob es in dieser fast unübersichtlichen Vielfalt von Denkkonzepten und Richtungen einen gemeinsamen Nenner gibt, der all dies zusammenhält. Kann man in der langen Geschichte des jüdischen Denkens einen roten Faden finden, der es rechtfertigt aus inhaltlichen oder sonst welchen Gründen, hier von jüdischem Denken zu sprechen, das es von anderen Denkkulturen unterscheidet? Eine bloße Kategorisierung als jüdisch, weil die Verfasser Juden – beiderlei Geschlechts – waren, kann kaum befriedigen, weil man ja sonst auch von einer jüdischen Physik, Mathematik oder Chemie sprechen könnte. Schon nach Abschluss des vierten Bandes hatte ich in einem Essay die Frage gestellt »Was ist das Jüdische am ›jüdischen Denken‹?« 1 Also worin unterscheidet sich das jüdische Denken etwa vom griechischen? Bis in unsere Tage erhält man auf diese Frage oft die abgewetzte Antwort vom Unterschied zwischen »Athen« und »Jerusalem«, die auf eine alte Kampfparole des Kirchenvaters Tertullian aus dem 2. Jahrhundert der Zeitrechnung zurückgeht, womit den Juden die Offenbarung und den Griechen die Vernunft zugeschrieben wird. Die Leser und Leserinnen – man verzeihe mir, wenn ich mir diese Gender-Verdoppelung im Folgenden erspare – des vorliegenden Werkes über das jüdische Denken werden wissen, dass diese Gegenüberstellung ein dogmatischer Ladenhüter ist, der nichts mit der historischen Wirklichkeit zu tun hat. Auch im jüdischen Denken gab es, soweit wir dies zurückverfolgen können, ein Nebeneinander von Offenbarung und rationalem Denken, was in diesem fünften Band des Jüdischen Denkens nochmals ausführlich dargelegt wurde.2 Da sich seit der Aufklärung und Emanzipation im Judentum auch denkerisch tiefgreifende Veränderungen vollzogen haben, ist es tunlich, die Frage nach dem alle Konzepte des jüdischen Denkens Verbindende für die Zeit vor und nach der Aufklärung und Emanzipation separat zu stellen. Denn
1
Was ist das Jüdische am »jüdischen Denken«? Auf der Suche nach dem Kontinuum in der Vielfalt jüdischer Theologien und Philosophien, in: » … und handle mit Vernunft«. Festschrift zum 20-jährigen Bestehen des Moses Mendelssohn Zentrums, hrsg. G. Botsch, K. Bürger et al., Hildesheim, Zürich, New York, S. 21–35.
2
Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Kap. Jüdische Denominationen, Nr. 9.
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Einheit in der Vielfalt?
vor diesem Umbruch war das Judentum von allen Beteiligten zuallererst als Religion wahrgenommen worden, wenn diese auch eng mit dem Bewusstsein verbunden war, dass diese Religion eine Religion des jüdischen Volkes sei. Nach dem geistesgeschichtlichen Umbruch im 17. und 18. Jahrhundert wurde diese Zwillingseinheit zunehmend in Frage gestellt, so dass neben die Definition des Judentums als Volksreligion andere Definitionen für das jüdische Selbstverständnis traten, nämlich die Nation und die Kultur. Wo nicht mehr die Religion als die entscheidende Grundlage für das jüdische Selbstverständnis galt, hat sich auch die Frage nach dem alle Juden Verbindende, sei es als Gesellschaft sei es des Denkens, verändert. Man darf sogar sagen, dass dieses »Verbindende« zunehmend fraglich und selbst zum viel diskutierten Problem wurde. In der Gegenwart besteht das traditionell-religiöse und eine Vielzahl davon abweichender Identitätskonzepte nebeneinander. Das heißt, die im Folgenden vorgenommene Unterscheidung ist eher heuristisch konzeptionell zu verstehen, weniger als eine von zeitlich einander folgenden Epochen – was sie aber natürlich auch ist.
1.
Gibt es im religiös geprägten jüdischen Denken ein verbindendes Erkennungsmerkmal oder gar Dogma?
Will man sich mit der platten Gegenüberstellung von »Athen und Jerusalem« nicht begnügen, muss man nach anderen Kategorien suchen, um die Frage nach der Einheit im jüdischen Denken zu finden. Eine oft befolgte Weise, diese Frage zu beantworten ist die »dogmatische«, etwa wenn man das Besondere und das Einende des jüdischen Denkens im »ethischen Monotheismus« sieht, wie dies nicht nur vom »normalfrommen Juden«, sondern selbst von Intellektuellen und Philosophen behauptet wurde und noch wird. Ganz abgesehen davon, dass der Monotheismus nicht gleich am Anfang der altbiblischen Religionsgeschichte steht, sondern erst eine Errungenschaft des 7./6. Jahrhunderts vor der Zeitrechnung darstellt,3 wird man angesichts der mittelalterlichen Kabbala mit ihrer Lehre von den zehn oder gar mehr göttlichen Sefirot eher wieder skeptisch, den Monotheismus als das eindeutige durchgehende Kennzeichen des Judentums zu betrachten.4 Auch bezüglich des »Ethischen« darf man im Blick auf Kabbala fragen, ob da nicht das sakramental-theurgische im Vordergrund steht. Der Versuch, das Judentum durch ein zentrales Dogma zu definieren, hat auch innerjüdisch eine lange Geschichte. Schon ältere Autoren haben sich an einer dogmatischen Formel für das Jüdische im jüdischen Denken versucht. Die Frage, ob es
3
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 63. 83. 119. 127. 136.
4
Vgl. K. E. Grözinger, Wozu dient der Monotheismus in der jüdischen Religion angesichts der Zehnfaltigkeitslehre der Kabbala, in: Aschkenas 26,1 (2016), S. 17–36.
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Epilog
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eine Quintessenz des Jüdischen gibt, ist fast so alt wie das Judentum selbst. Der bekannteste und einer der ältesten Versuche zu erklären, was die Tora, das heißt die Lehre vom Judentum sei, ist die von Hillel dem Alten formulierte – er lebte einige Jahre vor und nach dem Beginn unserer Zeitrechnung. Befragt, was die Mitte der jüdischen Religion sei, antwortete Hillel mit der international belegten sogenannten goldenen Regel. Sie lautet in Hillels Fassung: »Was dir verhasst ist, füge keinem andern zu. Das ist die ganze Tora, der Rest ist nur Kommentar, geh hin und lerne.«5 Der Rabbi Hillel sieht demnach das spezifisch Jüdische an der Lehre vom Judentum in einer ethischen Anweisung – handle so, wie du willst, dass man dich selbst behandelt. Als das spezifisch Jüdische erscheint hier eine ethische Maxime – »Es gibt keinen Weg zur Gottheit als durch das Tun des Menschen« wird auch noch der deutsch-jüdische Rabbiner Leo Baeck (1873–1956) zustimmend zitieren.6 Eine andere, in allen jüdischen Gebetbüchern stehende, berühmte Zusammenfassung des Judentums sind die sogenannten 13 Grundlehren des mittelalterlichen Philosophen Moses Maimonides (1135–1205).7 Deren wichtigsten Glaubenssätze stehen gleich zu Beginn dieser dreizehn Ikkarim. Sie lauten nach der ursprünglichen Form in Maimonidesʼ Kommentar zur Mischna: »Man muss glauben, dass es einen Schöpfer gibt, […] er ist die Ursache von allem Seienden, […] er ist einer, […] er hat keinen Körper, [ …] und das Geschehen der Körper erreicht ihn nicht […].«8 Welch ein Unterschied. Der große Philosoph des Mittelalters wählt als Zentrum seines Denkens über das Judentum philosophische Lehrsätze der mittelalterlichen aristotelischen Philosophie. Das Wesentliche dieses Judentums ist nicht das Tun des Menschen, sondern sein Denken. Es ist die richtige Erkenntnis Gottes. Judentum ist nach Maimonides folglich in allererster Linie der Weg zur intellektuellen Gotteserkenntnis.9 Und fragten wir schließlich einen der Begründer des osteuropäischen Ḥasidismus, Dov Ber aus Mesritsch (1704–1772), würde seine Antwort auf die Frage nach der Zusammenfassung der Lehren vom Judentum etwa so lauten: Gott ist
5
Babylon. Talmud, Schabbat 31a.
6
Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, 1905 (Neudruck Wiesbaden o. D.), S. 53.
7
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437.
8
Moses Maimonides, Kommentar zur Mischna Kap. 10; Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437.
9
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–487.
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Einheit in der Vielfalt?
Einer und Einzig. Und diese Einzigkeit offenbart sich im göttlichen Nichts, mit dem Er die Welt geschaffen hat und in dem er in dieser Welt präsent ist. Das Ziel des Menschen muss es deshalb sein, sich diesem göttlichen Nichts in kontemplativer Selbstnichtung anzunähern und an ihm zu haften. Hier gilt weder das Tun, noch das philosophische Denken. Die Mitte dieses Judentums ist der mystische Akt der kontemplativen Selbst- und Weltnichtung.10 Es sind dies nur drei Beispiele aus zweitausend Jahren Judentum, und schon trifft man auf drei diametral verschiedene Positionen: Bei Hillel die ethische Maxime, bei Maimonides das intellektuelle philosophische Programm und bei dem ḥasidischen Meister die mystische Forderung nach der Selbstauflösung im göttlichen Nichts. Hat man mit solchen sich geradezu widersprechenden Zusammenfassungen das »jüdische Denken«, die spezifische Lehre des Judentums gefunden, also das, was das jüdische Denken über allen Unterschieden eint? Im Sinne dieser drei Autoren ist das gewiss so. Sie sind der Überzeugung mit ihrer je eigenen Formel das spezifisch Jüdische, die zentrale jüdische Lehre formuliert zu haben. Aber ist damit die eingangs gestellte Frage nach dem spezifisch Jüdischen im jüdischen Denken beantwortet? Keinesfalls! Denn die drei als Beispiele herangezogenen Antworten auf die Frage nach dem Verbindenden, Gemeinsamen oder Wesentlichen im jüdischen Denken sind ganz individuelle Antworten von drei einzelnen Juden, von denen jeder beansprucht, das Jüdische schlechthin formuliert zu haben. Es sind also persönliche Bekenntnisse, die nicht repräsentativ für das gesamte Judentum durch alle Epochen gelten können. Alle in den fünf Bänden des Jüdischen Denkens vorgestellten Autoren haben ihre je eigene Meinung, die von der ihrer Kollegen und – wenn man den späteren Feminismus hinzunimmt – Kolleginnen ganz erheblich abweichen können. Das Fazit ist, es gibt keine dogmatische Formel, welche für alle jüdischen Autoren und Meinungen gilt, eine Formel, welche das jüdische Denken durch die Jahrtausende und durch die unterschiedlichen Denkschulen oder individuellen Denker eint. Das bedeutet, will man herausfinden, was »jüdisches Denken« sei, so muss die Frage offenbar historisch beantwortet werden, nicht dogmatisch. Man muss geduldig den Lauf der Geschichte des jüdischen Denkens verfolgen und dann aufgrund des bestehenden Befundes eine Antwort versuchen. Dies ist es, was im Folgenden an einem repräsentativen Ausschnitt jüdischen Denkens versucht werden soll.
10
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 809–852.
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Epilog
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2. Gibt es ideengeschichtlich eine konstante Linie im jüdischen Denken? Kann man kein einheitliches zentrales Dogma finden, was das vorsäkulare jüdische Denken durch die Jahrtausende vereint, bietet sich die Möglichkeit, zu prüfen, ob es im Verlauf der jüdischen Ideengeschichte Konstanten gibt, welche dieses Denken vom nichtjüdischen unterscheidet. Man könnte etwa fragen, ob es eine durchgängige Gottesvorstellung in der jüdischen Religionsgeschichte gegeben hat. Aber hier braucht man nur an den Übergang von der altbiblischen Verehrung einer Mehrzahl von Göttern,11 zum sogenannten Henotheismus beziehungsweise zur Monolatrie, also der willentlichen Verehrung nur eines aus einer Mehrzahl von möglichen Göttern,12 zum schließlichen Monotheismus,13 denken, laut dem es überhaupt nur einen einzigen Gott gibt, um zu erkennen, dass auch dies nicht zu einer befriedigenden Antwort führen würde. Alle diese biblischen Gottesvorstellungen waren, bis herein in die rabbinische Theologie, außerdem personalistische Gottesbilder,14 mit Ausnahme der antiken theologischen Onomatologie, nach welcher Gott als sprachliche Wesenheit gedacht wurde, deren höchste Form der Gottesname JHWH ist.15 Die mittelalterliche jüdische Philosophie hat mit diesen personalistischen Gottesbildern der Bibel und der rabbinischen Literatur gebrochen, sie hat Gott in rein geistigen Kategorien, ohne Personhaftigkeit konzipiert und die Unvergleichbarkeit der Gottheit mit allem Weltlichen betont.16 Im Gegenzug haben die Kabbalisten ihre Vorstellung von der als zehn Sefirot offenbarten Gottheit geschaffen und mit der antiken Onomatologie kombiniert.17 Die Renaissance und die Moderne haben nach neuen Denk- und Sprachformen gesucht, um auch den mittelalterlichen Gottesbildern zu entkommen.18 Ein ganz ähnliches uneinheitliches Bild ergibt sich, wenn man nach dem jüdischen Menschenbild fragt. Ich will hier nur an ein paar wenige Beispiele erinnern. Nach biblischer Auffassung ist der Mensch ein von Gott geschaffenes belebtes Wesen aus Fleisch und Blut. Eine zusätzliche Seele hat er nicht. Das einzige Leben, das dieser Mensch leben kann, findet auf dieser Erde statt. Deshalb ist das gute und richtig gelebte Leben des Menschen in dieser Welt ein Leben, das die Gaben des Schöpfers in dieser Welt genießt. Die Erfüllung dieses Lebens ist 11
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 117–122. 53–65. 82–83. 91.
12
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 119. 153. 382.
13
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 54. 119. 127. 136. 153. 187.
14
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 245. 285. 300. 328. 329. 338. 341. 361. 523.
15
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 341–348.
16
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 374–384.
17
Siehe z. B. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 395–397. 398–403. 557–361.
18
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 68 ff.
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Einheit in der Vielfalt?
erreicht, wenn man in nicht zu geringem Alter kinderreich und lebenssatt in die Grube sinkt. Die Besonderheit dieses irdischen Lebens besteht des Weiteren darin, dass der Mensch als Ebenbild Gottes erschaffen wurde, was ihn zur Beherrschung der irdischen Welt befähigte.19 Nach rabbinischer Auffassung ist der Mensch im Gegensatz zur biblischen Sicht zunächst ein Kompositum aus Leib und Seele. Zum anderen hat man in der rabbinischen Zeit erkannt, dass das Leben in dieser Welt nicht das gute Leben sein könne, das man von einer Schöpfung erwarten dürfte, die im Schöpfungsbericht der Bibel »sehr gut« geheißen wird. Dieses positive Urteil über die Welt gilt nach Meinung der Rabbinen darum nur, wenn man unter Welt etwas Doppeltes versteht, nämlich »diese Welt« und die »kommende, jenseitige Welt«. Das Urteil über ein erfülltes gutes Leben lässt sich nach rabbinischer Sicht deshalb nur fällen, wenn man das Leben in beiden Welten zusammennimmt. Das Leiden in dieser Welt wird durch eine Belohnung in der jenseitigen Welt ausgeglichen. Das Leben im Diesseits ist nur eine Durchgangsphase, ein Korridor zur Erfüllung des Lebens in der kommenden Welt. Diese Erfüllung, und damit kommt ein weiterer Unterschied zur Bibel hinzu, erringt man nicht durch die herrschaftliche Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen, von der die Bibel spricht. Nein, im Gegenteil, nach rabbinischer Ansicht gewinnt man die Ebenbildlichkeit erst durch einen dienenden ethischen Gehorsam gegenüber den Gottesgeboten und der imitatio dei im mitmenschlichen Tun. Die Erfüllung des menschlichen Lebens erfolgt alsdann im Jenseits in zwei Stufen, zunächst unter Trennung von Leib und Seele, im Grab und im Garten Eden, erst danach folgt mit der Neuschöpfung die Auferstehung des Leibes und einer Wiedervereinigung von Leib und Seele.20 Im Mittelalter stellt sich die Lage völlig anders dar. Man erinnere sich an das Beispiel des Philosophen Moses Maimonides. Danach hat der Mensch zwar Leib und Seele, beziehungsweise Leib und Intellekt. Aber dies ist nur eine vorübergehende Zwangsgemeinschaft. Denn das eigentliche Wesen des Menschen ist sein Intellekt. Und nur der Intellekt allein wird der ewigen Seligkeit teilhaftig werden. Denn, so Maimonides, ein Leben im Leib und in der Materie kann nicht das vollkommene Glück sein. Auch bei Maimonides gilt der Mensch als Ebenbild Gottes, aber eben nur sein Intellekt.21 Ganz anders sieht dies der Renaissance-Rabbiner von Venedig, Leone Modena. Nach seiner Sicht hat Gott die Welt geschaffen, um an ihr sein Vergnügen zu haben. Die wichtigste Funktion in diesem theatrum mundi hat der Mensch. Auch hier ist er wiederum Ebenbild Gottes, dieses Mal aber wegen seines freien Wil19
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 129–139.
20
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 263–298.
21
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 462–468.
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lens. Dieser freie Wille ermöglicht es ihm, laut Modena, sich ständig zu verändern, Neues zu suchen, Forschungen zu betreiben oder den schönen Künsten nachzugehen. Dank dieser menschlichen Eigenschaft gibt es unter den Menschen auch Arme und Reiche, Kluge und Dumme. Und es ist gerade diese wunderbare Vielfalt, das stete Auf und Ab, der Wechsel des Geschehens, was der Gottheit Freude macht. Hier ist also nicht der gehorsame Knecht und Diener Gottes gefragt, sondern der strebende und ideenreiche, die Abwechslung suchende, Mensch, der Forscher und der Künstler.22 Für die Zeit der Nachaufklärung und Emanzipation haben wir als Beispiel den Berliner Juden Saul Ascher. Ascher sieht den Menschen als ein Wesen das mit zwei Erkenntnisgaben ausgestattet ist, mit der Vernunft und mit dem Glauben. Beide Gaben soll der Mensch einsetzen und damit ein selbstbestimmtes Leben führen. Dieses Leben kann er völlig autonom, ohne die göttlichen Gebote, führen, er weiß dank seiner Vernunft selbst, was er zu tun hat, er braucht keine Halacha. Als Ergänzung dazu dient dem Menschen der Glaube, der ihm andersartige Erkenntnisse als die Vernunft vermittelt.23 Man erinnere sich schließlich an den ḥasidischen Meister, Dov Ber aus Mesritsch. Nach ihm wird der Mensch zum vollendeten Ebenbild Gottes, wenn er sich und die Welt kontemplativ nichtet, das heißt als Nichts betrachtet. Wenn er dies tut, wird er Ebenbild Gottes im göttlichen Nichts. Nicht ethische, intellektuelle oder künstlerische Selbstentfaltung sind hier das Ziel, sondern Selbstaufgabe im göttlichen Nichts.24 Diese Beispiele mögen genügen. Blickt man nun zurück und fragt: Welches von diesen ist nun das vielbeschworene jüdische Menschenbild? Welches entspricht dem gesuchten »jüdischen Denken«? Die einzig mögliche Antwort kann nur sein, keines alleine! Der Historiker kann nur eine Vielzahl und eine Vielfalt der jüdischen Menschenbilder konstatieren. Dieses »jüdische Denken« lässt sich offenbar auch für den Ideengeschichtler nicht auf eine einheitliche denkerische Linie bringen. Jüdisches Denken ist vielfältig und widersprüchlich zugleich. Das spezifisch Jüdische wäre demnach an diesem Denken zunächst die banale Tatsache, dass es von Juden gedacht wurde. Also das, was Juden in der Geschichte und Gegenwart gedacht haben und denken. Aber dies ist es eben nicht, was man mit der eingangs gestellten Frage suchte. Das jüdische Denken ist ein geschichtliches Phänomen im besten Sinne dieses Wortes, das heißt eines, das steten Veränderungen unterliegt. Dies zeigt sich neben den individuellen konfessorischen Bekenntnissen auch daran, dass es in den nacheinander folgenden Epochen überindividuelle mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen gibt, dank 22
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 99–104.
23
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 427–443.
24
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 826–852.
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Einheit in der Vielfalt?
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derer das jüdische Denken in die unterschiedlichen regionalen Gesamtkulturen und deren Denken eingefügt ist: Das biblische Denken hat die typischen Insignien des alten Orients, die rabbinische Theologie ist hingegen tief von der hellenistischen Kultur und Philosophie beeinflusst. Das mittelalterliche »jüdische Denken« hat Teil am gesamteuropäischen aristotelischen und neoplatonischen Diskurs. Auch die Renaissance ging an den Juden nicht spurlos vorüber, ebensowenig wie die jüdische Aufklärung, die von Descartes, Leibniz, Wolff und Kant beeinflusst war. Später spürt man die Einflüsse von Hobbes, Hume, Hegel und Schleiermacher usw.25 Angesichts dieses Befundes kann das spezifisch Jüdische am jüdischen Denken nur als stete Auseinandersetzung mit den Fragestellungen und Herausforderungen der jeweiligen Zeit definiert werden. Diese Auseinandersetzungen greifen allerdings so tief, dass man zu Recht von stets neuen Deutungen des Judentums gesprochen hat. Das Judentum der Rabbinen, der Kabbalisten oder gar der mittelalterlichen Philosophen sind denkerisch völlig verschiedene Welten. Es sind nicht nur die Historiker, die dies feststellten. Die jüdischen Gelehrten der unterschiedlichsten Epochen haben das ebenso bemerkt. Sie haben darum entweder mit heftiger Ablehnung und Kampf reagiert, oder aber mit dem Versuch der Integration. In Ermangelung einer zentralen Kirchenbehörde haben sich solche Kämpfe oft lange hingezogen, vieles wurde schließlich integriert, anderes herabgespielt, manches auch ausgegrenzt. Einer der interessantesten Inklusionsversuche war die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn, der die Auffassung vertrat, dass man die Schrift zugleich wörtlich, philosophisch, kabbalistisch und ethisch zu deuten habe, um deren volle Tiefe zu erfassen.26 Auch der große Halachist Moses Isserles hat einen theologischen Integrationsweg beschritten und rabbinische Theologie, Philosophie und Kabbala als nur unterschiedliche Redeweisen für die eine und selbe Sache deklariert.27 Der bekannteste Fall von Ausschluss ist der des Juden Baruch Spinoza, der mit der mittelalterlichen Konvention gebrochen hat und den Gegensatz von Vernunft und Tradition betonte.28
25
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 368. 585. 33. 344. 394. 396. 399. 344. 381. 386. 387. 617–
26
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 200–209. 594–595. 616–617.
27
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 281–312.
28
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 158–227; dort auch über den Fall Uriel da Costa, S. 136–
658. 417 ff. 444 ff. 482. 525. 583–591.
157.
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3.
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Die formal-hermeneutische Lösung
Angesichts dieses eher ernüchternden Befundes muss man dennoch die Frage stellen, ob dies tatsächlich das letzte Wort sein muss. Ist wirklich nichts auszumachen, was dieses disparate jüdische Denken zusammenhält nichts, worin es sich etwa vom christlichen oder muslimischen Denken unterscheidet? Ein prominenter Vertreter der modernen jüdischen Orthodoxie – er war zugleich Professor für jüdische Studien an der Universität Haifa – Menachem Kellner (geb. 1946), verfasste eigens ein Buch zu dieser Problematik. In diesem Buch versuchte er, mit dem von der Orthodoxie als Häresie betrachteten Reformjudentum eine gemeinsame Basis zu finden. Das Buch erschien 1999 unter dem Titel Must a Jew believe anything?29 Kellner sieht die Lösung für das Problem der gegenseitigen Ausschließung von Reform und Orthodoxie darin, das »Jüdische Denken« einfach auszuklammern oder als zweitrangig zu behandeln und sich zur Frage des Gemeinsamen auf die Halacha zu beschränken – die natürlich zwischen den beiden genannten Gruppen umso mehr umstritten ist. In dezidiertem Gegensatz zu Moses Maimonides, der das Jude-Sein in erster Linie über den philosophischen Glauben definierte,30 will Kellner die halachische Definition der Zugehörigkeit zum Judentum in den Vordergrund stellen, also die Geburt und die Konversion. Ist dies als gemeinsame Basis anerkannt, so Kellner, dann sind die denkerischen Differenzen zweitrangig. Sie sind zwar nicht gleichgültig, aber nicht trennungsrelevant. Bei all dieser generösen Irenik kommt er aber am Ende doch zu einigen kognitiven Fundamentalia, welche trotz aller halachischen Vereinigung nicht überschritten werden dürften.31 Das heißt, selbst er stellt einige Kardinaldogmen des Judentums heraus, ohne die es auch nach seiner Auffassung nicht geht. Das bedeutet, wer diese Dogmen nicht akzeptiert, gilt auch für Kellner als Häretiker. Diese Dogmen sind: 1. Die Existenz Gottes 2. Die Einheit und Einzigkeit Gottes 3. Die göttliche Herkunft der Tora und schließlich 4. Die Überzeugung, dass der Messias noch nicht gekommen ist. Mit diesen vier Kardinaldogmen scheinen nun in der Tat einige Spezifika des »jüdischen Denkens« genannt, die man bei einer Mehrzahl der jüdischen Denker wiederfinden kann. Aber betrachten wir doch einmal die Wirklichkeit etwas näher. Ist der Glaube an die Existenz Gottes im Sinne der Tradition wirklich ge-
29
Menachem Kellner, Must a Jew Believe Anything?, London u. a. 1999.
30
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 433–434.
31
Vgl. Kellner, Must a Jew, S. 125–126.
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Einheit in der Vielfalt?
wahrt, wo Gott, wie bei Maimonides, als unerkennbare, nicht kommunikable prima causa definiert wird?32 Oder wie steht es mit der Einheit Gottes in der Kabbala, die ja doch auch von den Orthodoxen akzeptiert wird. In der Kabbala hat sich die Gottheit als Zehnfaltigkeit, das heißt in zehn Sefirot, offenbart – eine Lehre, die schon von jüdischen Zeitgenossen als schlimmere Häresie als die christliche Trinitätslehre gebrandmarkt wurde.33 Oder wie steht es mit der Göttlichkeit der Tora? Die mittelalterlichen Philosophen, wie etwa der auch von der Orthodoxie akzeptierte Maimonides, beschreiben die Prophetie als einen universalmenschlichen intellektuellen Prozess und nicht als einmalige an historische Orte und Gegebenheiten gebundene Ereignisse.34 So auch die deutsch-jüdischen Denker des 19. Jahrhunderts.35 Kellner, der diese Deutungen allesamt bestens kennt, stützt sich nun dennoch auf diese dogmatischen Formeln als verpflichtenden Minimalkonsens. Wie ist dies zu verstehen? Betrachtet man diese in der jüdischen Literatur tatsächlich weit verbreiteten Minimalforderung an Jüdischem im Kontext der vielfältigen Deutungen, so muss man zu dem Resultat kommen: Seine Minimalforderungen sind nicht mehr als formale Grenzziehungen, die ansonsten weiterer Interpretation offenstehen. Die Formeln markieren nur eine formale Grenze, aber die Deutungen können diese Grenze weit überschreiten. Das heißt, man anerkennt, dass es einen Gott gibt, ist aber frei, den Gottesbegriff nach eigenem Verständnis zu variieren. Ich glaube, damit hat man zunächst ein Spezifikum des »Jüdischen Denkens« erkannt. Es gibt eine Reihe von formalen Grenzziehungen, das heißt fiktive Grenzmarkierungen, die ein jüdischer Denker einhalten muss. Und es scheint, dass sich die jüdischen Denker in der langen Geschichte an solchen fiktiven Grenzmarkierungen orientiert haben, um als jüdische Denker gelten zu können. Aber in ihren Interpretationen dieser Markierungen haben sie – wie gezeigt – die Grenzen weit überschritten. Schon die oben angeführten Beispiele zum jüdischen Menschenbild ließen ja eine solche fiktive Grenzmarkierung erkennen. Wo man über das jüdische Menschenbild spricht, tut man dies tunlichst als Deutung der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Dies ist tatsächlich auch die Gemeinsamkeit all der angeführten Beispiele, die sich ansonsten in ihrer Deutung diametral widersprachen. Das bedeutet: Die Gemeinsamkeit der jüdischen Denker liegt nicht in den inhaltlichen Aussagen, sondern im Formalen oder Strukturellen. 32
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 438–450.
33
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 344.
34
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 468–470.
35
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 549–553. 593–604. 653–654.
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Wer im Judentum etwas Wesentliches zum Menschenbild sagen wollte und will, machte dies formal als Auslegung zur biblischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die formale Kontinuität war demnach die akzeptierte Klammer für die radikalste denkerische Diskontinuität. Man kann diese Aussage jedoch noch ein wenig weiter verallgemeinern und grundsätzlicher formulieren. Das umfassendere Formalprinzip für die Entfaltung des »Jüdischen Denkens« ist die Fiktion der Tora und ihrer Auslegung. Für diesen Prozess der formalen Zusammengehörigkeit von Text und Interpretation bei gleichzeitiger theologischer Differenz hatte die rabbinische Theologie schon die hermeneutische Grundlage gelegt. Nämlich mit ihrer Lehre von der doppelten Tora, die am Sinai offenbart worden sei, nämlich die Schriftliche Tora und die Mündliche Tora. Über sie beide, über ihr Verhältnis zueinander, sagte Rabbi Jehoschua Ben Levi: »Die Schrift, die Mischna, Talmud und Haggada, ja sogar, was ein scharfsinniger Schüler dereinst vor seinem Lehrer vortragen wird, ist bereits dem Moses auf dem Sinai gesagt worden.«36 Das bedeutet, das Jüdische am jüdischen Denken ist die formale Einfügung der radikalsten und widersprüchlichsten Gedanken in die Fiktion von der Mündlichen Tora. Wo die Form der Auslegung zur Schriftlichen Tora eingehalten wird, kann die neueste und radikalste Lehre als Mündliche Tora vom Sinai deklariert werden. Religionswissenschaftlich gesprochen: Die Fiktion, dass die eigenwillige individuelle Auslegung der Bibel und der nachfolgenden Tradition als sinaitische Offenbarung gelten darf, ist das wahrhafte Spezifikum des jüdischen Denkens. Es ist diese hermeneutische Form, nicht der philosophische oder theologische Inhalt, worin sich alle Autoren dieser langen Tradition gleichen. Das Jüdische am jüdischen Denken ist, wenigstens solange das Judentum in den traditionellen Fußstapfen der rabbinischen Hermeneutik und im Verständnis des Judentums als Religion agierte, die Einfügung allen Denkens in die formale Struktur der Tora-Auslegung. Die hermeneutische Struktur des Tora-Bezuges, zu dem auch die Mündliche Tora gehört, ist für den religiösen Bereich des Judentums das Jüdische am jüdischen Denken. Oder anders gesprochen, der formale Traditionsbezug – weniger der inhaltliche – ist das gesuchte Spezifikum. Wie aber steht es damit in einer Zeit und bei Denkern, die sich nicht mehr an das rabbinische Paradigma gebunden fühlen?
36
Midrasch Tanchuma (Buber) II, 60a.58b; und Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
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B.
Einheit in der Vielfalt?
Nach Aufklärung und Emanzipation als die Religion nicht mehr als verbindliches Identitäts-Paradigma des Judentums galt Nachaufklärung und Postmoderne
In der Zeit nach der Emanzipation traten neben das Judentum, das sich zuallererst über die Religion definierte, auch jüdische Richtungen, welche ihr Judentum dezidiert als Kultur oder als Nation verstanden, und die sich deshalb nicht mehr an den traditionellen hermeneutischen Rahmen der Toraauslegung gebunden fühlten, ihre eigenen Philosophien aber dennoch als jüdisches Denken verstanden. Was also ist bei diesen Juden an die Stelle der Tora als hermeneutischem Rahmen für das Jüdischsein ihrer denkerischen Expressionen getreten? Leicht ist diese Frage für die nationalen Protagonisten des Zionismus zu beantworten. Ihr Räsonnement kreist um das Schicksal des jüdischen Volkes, der jüdischen Nation. Das heißt, an die Stelle eines hermeneutischen formalen Rahmens ist nun eine soziologisch-ethnische Klammer getreten, wenn diese auch eine breite Fülle von Unterthemen umschließen kann, das Wesen, das Ergehen, das Gebaren, die Kultur des jüdischen Volkes und dergleichen. Dieser soziale Rahmen, das jüdische Volk, bindet die nichtreligiöse jüdische Philosophie der nationalen und zionistischen Juden in neuer und anderer Weise zusammen.37 Von diesem neuen Denken wird die Religion zwar nicht ausgeschlossen, aber sie wird zu einer Funktion der Nation und der Kultur herabgestuft.38 Schon schwieriger ist die Frage nach der verbindenden Klammer des jüdischen Denkens zu beantworten, wo der Gegenstand der Reflexionen nicht national, nicht das jüdische Volk betreffend ist, sondern das Individuum in die Mitte des Interesses rückt. Hierfür hat sich den modernen jüdischen Autoren ein neues Denkmodell angeboten, nämlich das des philosophischen Existentialismus. An die Stelle der Tora-Auslegung als formalem Rahmen und anstelle der Nation ist bei diesen Autoren die jüdische Existenz als das Verbindende für das jüdische Denken getreten. Die Beschreibung und die Reflexion über die jüdischen Existenz, die von den modernen jüdischen Philosophen geradezu als individuelles Narrativ der unterschiedlichen Gelehrten charakterisiert wird, kann so vielfältig und widersprüchlich sein wie die Konzeptionen im Rahmen der Toraauslegung. Das Resultat dieser existentialistischen Klammer ist dann allerdings, dass hier in einer schier unübersehbaren Vielfalt individuelles Leben beschrieben wird, das sich als jüdisches Leben versteht, zu der sich in neuester Zeit auch die Variante des Feminismus gesellte.
37
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4.
38
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, S. 78–80. 198–208.
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Epilog
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Aber hier, angesichts dieser Vielfalt der individuellen jüdischen Existenzen, taucht zugleich wieder eine andere Frage auf, nämlich was denn diese Vielfalt an jüdischen Individuen zu einem einzigen jüdischen Volk, zu einer jüdischen Kultur macht, seien die Teile nun religiös oder säkular geprägt.39 Dieses neue Denken und diese neue brennend gewordene Fragestellung stehen erst an ihrem Anfang und werden in diesem letzten Band des Jüdischen Denkens im vorangehenden Abschlusskapitel als offener Ausblick in das 21. Jahrhundert vorgestellt, wohl wissend, dass derzeit die Klagen über die mangelnde Einheit stärker sind als der Wille und das Vermögen diese Einheit zu schaffen.40 Aber das Wunder, das bisher die Vielfalt in immer wieder neuen Formeln in eins zusammenzubinden vermochte, wird gewiss auch künftig wieder geschehen können. Die orthodoxen und auch weniger orthodoxe Denker können angesichts dieser bedrohlichen Situation ihr Zuversicht immerhin aus dem Glauben an die Zusage Gottes schöpfen, dass Er die ewige Existenz des Volkes Israel verbürgt.
תם ונשלם הספר בעזרת האל יתברך
39
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Teil II, Die Jüdischen Denominationen, Nr. 9.9; und Teil IV,
40
Vgl. dazu im vorliegenden Band insbesondere Teil II, Kap. Denominationen und Teil VI zu
Kap. II., Sagi. den Philosophien im 21. Jahrhundert.
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REGISTER A Abraham (Erzvater) 123f., 180, 375, 383, 447, 534, 536, 588, 627, 639, 652, 699, 779 Abu Masen 651 Acha, Rabbi 733 Achad Haam/Ha-Am 126, 216, 238, 243, 247, 266, 381, 430f., 434, 446, 452, 455, 465, 470, 484, 500, 513, 520, 522 Adam, Urvater 83, 93, 362, 377, 447, 703–705, 708, 764 Adam I & II 365–368, 371–375, 379 Adler, Rachel 42, 675f., 684, 687–712, 735 Agudath Jisrael 199 Aguna 676, 709, 717 Akeda 534, 536, 615f. Akiva, Rabbi 547, 617, 693f. Aleichem, Scholem 513 Al-Farabi 273 Allheit 52f. Allon, Jigal 664 Alterität 351, 455–457, 785 aliya/Alija 224, 237 Amichai, Yehuda 514 Anderson, Benedict 814 Angelus Silesius 118 Angriffskrieg 650 Anklage/angeklagt 39, 170f., 173, 181f., 187, 455 Anruf des Anderen 174 Ansprache 93, 98, 174, 204 Anti-Fundamentalismus 712–714 Antisemitismus 26, 30, 244, 259, 380, 385, 388, 429, 452, 506f., 511, 521, 658, 672, 780 Antlitz 91, 175, 177–180, 185–187, 755 Arama, Jizchak 273, Archetypen, archetypisch 42, 755–757, 760, 763, 765 Arendt, Hanna 513, 774, 783, 824 Armee 385, 424, 526, 574, 576, 584, 634, 641, 643f., 654, 663, 737 Aristoteliker 51, 781f., 802, 815
Arnold, Mathew 434 Artson, Bradley S. 37, 302 Ascher, Saul 276, 298, 399f., 403, 407, 416, 426, 833 Asriel von Gerona 122 atheistisches Judentum 40, 260f., 500– 522 Auferstehung 197, 373, 427, 557, 561, 688, 832, Aufklärung 28–30, 194, 203, 241, 274, 277, 406, 429, 431, 435–438, 453f., 490, 495, 700, 718, 805, 822, 827, 838 Augustin, Kirchenvater 800 Austin, John L. 700 Avenarius, Richard 300
B Bahn 56, 63f., 66, 84, 102, 103, 107, 108, 124, 300 Baʽal Schem Tov 106, 400–402, 407 Baeck, Leo 48, 418, 428, 829 Balfour Declaration 429, 459, 637f., 658f., 429, 459, 637f., 658f. Baron, Salo 513 Barak, Ehud 641, 651 Barth, Karl 316, 334, 375f. Bat Mizwa 205, 240, 433, 517, 679, 686, 698, 711, 766 Bauer, Yehuda 514 BDS 259, 754 Beauvoir, Simone de 672, 676, 683 Bedürfnisse 42, 100, 209, 211, 236, 239, 247, 263, 427, 470, 473, 485– 488, 494, 500, 503, 517, 522, 531, 534f., 538, 542, 546, 549, 548, 554, 569f., 572, 574f., 609f., 615, 619, 623f.,681, 699, 712, 717, 727, 755, 788f. Beʼer Scheva 669 Begin, Menachem 637 Ben Gurion, David 429, 514, 643f.. 649, 655, 660f., 665, 429, 514, 643f., 649, 655, 660f., 665
* Autoren moderner Sekundärliteratur werden hier nur auswahlweise aufgenommen. Eine Gesamtlistung findet sich in der Bibliographie © Campus Verlag
Register
842 Bentham, Jeremy 503, 549 Berdichevsky, Micha 513 Bergson, Henri 64, 143, 268, 300, 302, 304, 337, 479f. Bergmann, Hugo 144, 150, 351, 573, 774 Berkeley, George 318 Berkovits, Eliezer 199, 234, 249, 291, 358, 679 Berlin, Isaiah 513, 526, 587, 774 Berlin, Meʼir 313, 583 Besatzung 580f., 646, 648f., 651, 655, 662–665, 733 Böses 476 Bohr, Nils 301 Borowitz, Eugene B. 219, 291, 334, 346, 363, 414–428, 534, 654, 739 Bibelwissenschaft 365, 432, 434, 448, 458, 731, 756 Bieman, Asher D. 774, 777, 806f. Bipolarität 150, 162, 315, 392 Blut-Mythos/Blut-Theologie 39, 110 Bʼnai Bʼrith Loge 452 Borochov, Ber 513 Bourdieu, Pierre 814 Boutroux, Étienne E. 300 Brenner, Joseph 514 Brauchtum, Volksbräuche 62, 109, 111, 223, 230, 232, 457, 460, 484, 494f., 497, 573, 681, 755 Breuer, Mordechai 363, 720, 764 Brisker Rav 200, 291, 313 Brunner, Emil 330 Bradley, Francis H. 302 Braiterman, Zachary J. 314, 775–777, 816 Buber, Martin 31, 38–40, 47f., 58, 126– 167, 169–174, 177, 186, 252, 266, 283, 302, 335, 373, 375, 389, 418, 611f., 688, 719, 741, 774–776, 784f., 796f., 806, 810, 816, 837 Bultmann, Rudolf 427, 557f., 561 Bundesvolk 414, 418 Butler, Judith 260, 273,
C Camp David 641 Camus, Albert 503, 584 Carlebach, Shlomo 749 Cassirer, Ernst 301, 774, 806f. Catch 633 Centenary Perspective 202, 212–218 Central Conference of American Rabbis 202, 205f. Charta der Hamas 658 Charta der PLO siehe National-Charta der PLO Chassidismus 127, 131, 150, 160, 346, 554 vgl. Ḥasidismus Christ, Carol P. 740, 755–757, 759 Christentum 39, 47–50, 62, 64, 66, 85, 102–104, 108, 114, 116–122, 124f., 130f., 153, 193, 260, 313, 421, 459, 531f., 564, 659, 688, 774, 777, 781, 783f., 786 civilization 232, 250f., 428, 429–498, 430f., 433, 435–437, 439f., 442– 475, 477f., 480–497, 506, 700 Clinton, Bill 651, 799 Cohen, Hermann 39, 47, 53, 87, 92, 140, 158, 164f., 203, 266, 277, 283, 292, 294f., 298, 303, 313f., 316, 318–320, 323, 338, 351f., 428, 474, 533, 543, 564, 632f., 774, 780f., 797f., 805–807, 816 Cohn, Haim 514 Columbus Platform 202, 207–212, 214, 216, 419 communion 342, 410, 801 Comte, August 513 Conservative Judaism 225–228, 232f., 236–239, 242–244, 246–251, 253f., 397, 453, 577 Correlation 92 Cover, Robert M. 689–691 creatio continua 96 Crescas, Ḥasdai 281, 798, 281, 798
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Register D Darwall, Stephen 797 Davaney Greeve, Sheila 479f. Davidstern, Davidsschild, Magen David 62, 66 Delmedigo, Josef S. 38, 274f., 298, 399, 416 Demographie 644, 648 Demokrit 513 Denominationen 29, 32–34, 37, 104, 189, 193–197, 193–287, 228, 247, 257, 259, 263, 299, 333, 433, 442, 499, 501, 519, 577, 602, 618, 621, 654, 698, 729, 734, 827, 839 Deontologie, deontologisch 502, 549f., 809 Descartes, René 169, 188, 501, 713, 834 Design-Evolution 823 deus revelatus 367 deus abscondidus, verborgener Gott 90– 92, 185, 187, 248, 367, 376, 402 Deutschland 29, 32, 36, 38, 127, 202, 225, 285, 385, 389, 421, 638, 671, 698, 774f. Devekut 334, 341, 343–348, 351–353, 360f., 402f. Dewey, John 301, 434, 439, 479f., 513 Dialog-Philosophie, Philosophy of encounter 148f., 776, 810 Diamond, James A. 776f., 788 Diaspora 27, 29f., 33, 41, 206, 216– 218, 223f., 227, 236–238, 244, 249, 252, 255, 261, 284, 380, 387, 431, 441, 457, 459f., 464, 468, 484, 492f., 505f., 516, 576, 580f., 593, 780, 812, 818 Dichotomien 604, 612, 662, 808f. Dilthey, Wilhelm 58, 126, 142, 144, 299f., 302, 307, 741, 774, 818 Dogmen 38, 134, 286, 309f., 416, 533, 578, 809, 835 Dolna, Bernhard 389, 397 Dov Ber aus Mesritsch 183, 342, 829, 833 Drachenfrau, Dragonwoman 759–761, 770
843 Dualität 30, 57, 68, 75, 81, 83, 116, 118f., 129, 132f., 137, 139, 141, 148, 150, 170, 174, 302, 304, 317, 340–342, 354, 359, 372, 380, 495, 594, 626, 747 Dualismus 37, 40, 75f., 81f., 89, 104, 116, 132f., 135, 309, 355, 365, 728, 748, 751, 763, 780 Dubnow, Simon 513, 774 Düsing, Klaus 540 Durkheim, Emile 434, 440, 470, 481, 513 Duwelt, Du-Welt 151, 155, 161, 164, 165
E Ebenbild (vgl. imago) 72f., 83, 104, 120, 184–187, 189, 214, 220, 229, 240, 255, 340, 361, 365f., 410f., 438, 467, 477, 564, 627, 703f., 758, 778, 793, 799, 824, 832f., 836f. Ebner, Ferdinand 48, 58, 150–153, 155–157 Ehe 198, 676, 683, 705, 722 Eherecht 672, 675f., 705 Ehrenberg, Hans 47 Ehrenberg, Rudolf 47, 61, 101 Ehrfurcht 101, 220, 240, 342, 400–402, 405 Ehrlich, Arnold B. 434 Eidos 364, 393 Einheit des jüdischen Denkens 601 Einheitstendenz 130f., 140 Einhorn, David 202, 453 Einsamkeit 153, 157, 362–364, 367, 370–372, 374f., 377, 380, 383, 388, 701 Einstein, Albert 301f., 313, 323, 509, 511, 513 Eisler, Moritz 282 Ekstase 336, 362, 370, 403, 770 Elʽasar Ben R. Schimʽon 704 Elija, Prophet 27, 298 Emanation 37, 51, 60, 76, 318, 350f., 404, 408, 784, 792 Emet VʼEmunah 225–249
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844
Register
Emuna 265, 275, 291, 293–295, 297, 361, 370, 380, 402, 526, 530–538, 543–546, 551f., 555–557, 564–567, 574–577, 579, 581f., 615, 619, 811 Enzyklopädisten 437 Epikur 512 Epistemologie 61, 296f., 299, 304f., 313–315, 351, 779 Epstein, Baruch 681 Erinnerungskultur, Erinnerung 104, 125, 181f., 221, 237, 262, 306, 309, 393, 409, 427, 484, 507, 510, 556, 634f., 646, 649, 655, 682, 727, 729, 731, 765 Erkenntnislehre 272, 296, 302, 313, 347, 712f., 777 Erlebnis-Mystik 146, 148 Erlösung, u. siehe Stern der Erlösung 39, 50–57, 62–63, 65–72, 74, 76– 84, 86–92, 93–104, 106–114, 116– 125, 219, 235, 256, 260, 333, 363, 367, 369, 372–375, 377, 410–412, 435–441, 451, 462, 465, 468f., 476, 478f., 481, 483f., 486f., 527, 532, 549, 551, 555, 577, 640–642, 670f., 729, 752, 778, 784, 788, 803f., 815, 823 Erwählung, Erwähltheit 42, 70, 183, 194, 223, 227, 235, 414, 437–439, 442, 447, 458, 468f., 504, 736, 738f., 742, 745, 815 Eschatologie 58, 227, 234 Esra 466, 469, 490, 520, 630, 721 Essener 27 Eswelt, Es-Welt 151–154, 160–164, 166–167 Ethik/Recht, konstitutiv & regulativ 550, 624 Eucken, Walter 300 Eva, Urmutter 375, 377, 765 Evolutionslehre 36, 489, 502 ewiges Du 163 Exil 27, 29, 108, 115, 132, 139, 199, 244, 385, 408f., 442, 458, 460, 519, 567, 569–571, 577, 655, 696, 702, 720, 757 Existenzial 609, 611f. Existenzialismus 283, 380, 598
Existentialist/en 302, 337, 358, 580, 797 Exklusivismus, religiöser 585–587, 785 Exodus 185–187, 447, 516, 518, 557, 688, 702, 731f. Exogamie 519f.
F Fackenheim, Emil L. 216, 284, 612, 775, 783, 796 Faschismus 575–579 Feinstein, Elijahu 292, 313 Feminismus, jüdischer 30, 41, 42, 216, 669–770, 613, 671, 673, 721, 725 Feste/Feiertage 47, 62, 112f.,182, 211, 215, 221, 235, 262, 427, 443, 448, 471, 490, 495f., 499, 506, 512, 516f., 519, 521, 684, 699, 729, 755, 765, 822 Feuerbach, Ludwig 817 Fichte, Johann G. 298 Fish, Stanley 710f., 714f. Fisher, Cass 790–792 Flüchtlinge 236, 646, 663f. Formstecher, Salomon 103, 120, 277, 283 Franck, Adolphe 278, 282 Fraenckelʼsche Stiftung, 225 Frankel, Zacharias 32, 35f., 225f., 245, 453, 486 Frankfurter Lehrhaus 128, 148, 151f., 155,166 Frankreich 780 Frauenbund, jüdischer 671 Frauenmystik 768 Frauenrechtlerin 671, 764 Frauenreligion 42, 691, 754, 761f. Freedman, Samuel. G. 34, 195 Freehof Institute of Progressive Halakha 205 Freiheit 56f., 59, 68, 74f., 78–80, 84, 105, 171, 176–179, 182, 210, 213, 222, 235, 239, 252, 296, 304, 328, 332, 340, 343f., 358, 385, 390, 403, 426, 472, 478, 496, 498, 527, 539– 542, 548, 599, 608, 610, 613f., 616,
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Register 648, 664, 697, 727, 756, 770, 782, 801, 809, 824 Freud, Sigmund 511, 513, 615 Friedländer, Michael 734f. Fromm, Erich 513 Fuhrmann, Horst 59 Funktion von Religion, Theologie und Gottesglauben 40, 359, 470, 473, 474, 482, 485, 488, 495, 553, 744, 791, 792, 794, 838
G Gabirol, Salomo Ibn 268, 282 Gadamer, Hans-Georg 584, 592–600, 603–605, 613–615, 617f., 620, 710–712, 714f., 724, 741, 774, 790, 806, 818 Gaster, Theodor 513 Gaza 376, 639, 641, 654, 657, 664 Gebiete, besetzte 526, 545, 579–581, 632–634, 636, 638–643, 645f., 648, 650–655, 663, 664, 754 Gebot, 614tes 216, 612 Gegenüber 91f., 144, 149, 157–159, 161, 168, 170, 174, 176, 179, 349, 480, 494, 503, 509, 527, 537, 701– 703, 803, 811 Gegenwartswelt 65 Gehorsamsgebote 493, 628 Geiger, Abraham 32, 35f., 86, 140, 203, 206, 208f., 214, 276, 299, 332, 405, 414, 418, 442, 453, 723, 774 Gemeinde 62, 166, 200, 207, 215, 219, 221, 224, 239–241, 245, 292, 346f., 384, 387f., 432, 434, 439, 451, 465, 499f., 519, 521, 546, 561f., 570, 583, 593, 671, 679f., 684, 700, 730, 735, 742f., 751, 753–755, 810 Gendler, Everett 753 Geschichtsschreibung, jüdische 114, 509f., vgl. Historiographie Geschlechtsverkehr 324, 735, 747 Gesicht 55, 168, 175, 177–179, 185, 187, 189, 466, 681, 693, 701, 769 Gestaltwerdung 98f.
845 Gerechtigkeit 119, 176f., 179f., 182, 204, 206, 210, 212, 215, 220, 222, 227, 229, 233f., 239, 251, 256, 259, 263, 269, 353, 387, 422, 467, 478, 503, 520, 612, 627, 629, 677, 683, 721, 727, 730, 737, 751, 783f., 803f., 808, 811 Gewissen 176, 329, 336, 527, 568, 606f., 610, 799 Glaubensmensch/Glaubens-Mensch 361f., 368, 370–372, 374 Gleichstellung von Mann und Frau 671f., 686, 711 Goddess-Bewegung 755–759 Göttermutter 756 Göttin 745, 756–762 Goldy, Robert 36 Goldmann, Eliezer 526, 623, 625 Goodman, Lenn E. 808f. Goodman, Mica (Micha) 41, 632–645, 647–652, 654–656, 659f., 662–666 Gordon, Ahron D. 142–144, 513, 517, 740, 750, 822 Gottes Existenz 228 Gottesbegriffe, neue 742 Gottesbild 343, 447, 449, 530f., 684, 745f., 758, 831 Gottesidee/Gottes-Idee 130, 140f., 164, 203, 213, 460, 464, 469f., 472–475, 481f., 484f., 487 Gottlieb, Lynn 42, 732, 740, 745, 753– 768, 770, 790 Green, Arthur 252, 260 Greenberg, Irving Yitzchak 199, 284 Greenstone, Julius H. 453 Griffin, David R.36f. Griffin, Roger 578 Grundworte 148, 154f., 157, 159 Guru 753 Guttmann, Jacob 281f. Guttmann, Julius 281f., 774
H Hadot, Pierre 791 Hagar 683
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846
Register
Halacha, konstitutiv oder regulativ 618f., 621, 624, 631 Halacha-Mensch 294, 311f., 314–321, 324f., 329–333, 353, 361 Haman, Johann G. 309 Hartmann, David 810 Hartshorne, Charles 36 Harvey, Warren Z. 776, 812f. Ḥasan, Israel 629 Ḥasidim 27, 33, 332, 406, 504 Ḥasidismus 29, 40, 106, 126f., 147, 150f., 154, 200, 313f., 333, 345, 389, 400f., 409, 476, 554, 602, 782, 829 Hebräisch 35, 73, 221, 224, 237, 241, 243, 245, 251, 264, 275, 460, 505, 516, 590, 609 Hebrew Theological College 194 Hebrew Theological Seminary 292 Hebrew Union College 36, 38, 389, 414, 428, 499, 687, 753 Hechalot-Mystik 149 Hegel, Georg W. 47, 53, 80, 87, 208, 267, 316, 584, 598, 609, 774, 787, 796, 834 Heiliges 484, 700, 782 Heiligkeit 111, 205, 209, 221, 223, 232, 347, 332, 343, 408, 461, 474f., 482, 545, 548, 553–556, 558–561, 595, 670, 689, 694, 738 Heller, Joseph 633 Heidegger, Martin 169, 171, 175f., 180f., 284, 367, 584, 597f., 606f., 775, 783, 788, 790, 820, 824 Heilsgeschichte 62, 86, 116, 118f., 534 Heirat/Eheschließung 33, 47, 236, 252, 292, 452, 471, 496, 499, 517, 521, 670, 675–678, 687, 689, 691, 707– 709, 717, 747, 822 Heisenberg, Werner 301 Hellenisierung 27 Herder, Johann G. 309, 470, 774, 806 Hermeneutik 41, 272, 278, 299, 305, 307, 583, 588, 592–594, 597f., 603, 614f., 617, 621, 692, 695, 710–714, 720, 727, 756, 757, 777, 818, 837 Hermann, Wilhelm 309 Herzl, Theodor 455, 513, 544, 577, 658
Heschel, Abraham J. 40, 219, 227, 238, 291, 302, 338, 369, 389–392, 394– 400, 402–413, 533, 606, 673, 676, 683, 686, 719, 784, 787, Heschel, Susannah 672, 676, 685 Hess, Moses 244, 262, 266, 470, 500 Heteronomie 419, 540, 542 Ḥiddusche Tora 327f. Hillel 27, 651, 810, 829, 830 Himmelskönigin 761, 766 Hirsch, Samson Raphael 32, 109, 312, 439, 453, 472, 493f., 673f., 705, 718, 720 Hirsch, Samuel 266, 277, 283, 453 Historiographie 41, 491, 507, 509–511, 513, 683, 688, 731, 798, 814 vgl. Geschichtsschreibung Hobbes, Thomas 503, 796, 834 Ḥochma 264 Hoheslied 62, 98, 334, 335, 380, 384, 746, Hoffman, David 453 Ḥok ha-Schevut/Rückkehrgesetz 647 Holdheim, Samuel 453 Holocaust (u. vgl. Schoah) 213, 218, 233, 244, 253, 277, 381, 423–425, 517, 520, 569, 612, 767, 789, 792, 803, 805, 812f., 823 homo religiosus 297f., 314, 316–318, 325, 327, 331f., 365 Horowitz, Elija 274 Horowitz, Jeschajahu 723, 733 Horwitz, Rivka 47, 128f., 144, 148, 150, 152, 164–166 Ḥoveve Zijon 430 Hughes, Aaron W. 43, 284, 584, 773, 776, 813–815 Humanistisches Judentum 40, 260–263, 499–522 Hume, David 276, 399, 412, 417f., 586f., 834 Ḥuri, Ḥajjim 669 Hurwitz, Yosef Yuzel 790 Husik, Isaac 265f., 281 Husserl, Edmund 82, 169, 171, 268, 295, 302, 305, 318, 337, 348, 364, 390, 392–397, 817
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Register I Ich-Du 148–151, 153–155, 157f., 170, 172, 174, 177, 373 Ich-Es 148, 150, 154f., 158, 174 Idealismus 39f., 53, 62, 72, 81, 95, 107, 181, 301, 318, 320 Identität, jüdische 237, 504, 506–508, 513, 516f., 520f., 584, 590, 601, 785, 825 Identität vs. Identifikation 590, 602 imago dei, vgl. Zelem Elohim 84, 185, 187, 361, 365, 411, 466, 477, 758 imitatio dei 134, 187, 330, 334, 341, 343f., 354, 361, 366, 384, 410f., 554, 832 Individuum 83, 112, 167, 170, 172, 197f., 213, 231, 243, 259f., 262, 300, 305, 312, 324, 327, 345, 360, 372–374, 377–379, 383f., 414, 419, 423, 426, 445, 465, 467f., 470, 472, 479, 482, 487, 494f., 503, 530, 569572, 574, 588, 602, 638, 713, 739, 750, 784f., 803, 807, 809f., 821, 838 Intellekt 55, 187, 307, 347f., 350f., 368, 404, 410, 758, 802, 832 International Federation of Secular Humanistic Jews, vgl. Wine, Sherwin T. 260–264 International Institute for Secular Judaism 499 Internet (Inter-Ḥet) 670 Intifada 638, 641, 767 Inzestgebote 706 Isaac Elchanan Theological Seminary 194, 292f., 313 Islam 64, 85, 116, 459, 564, 635, 645, 659 Ithamar (Wolgelernter), Elimelech J. 710
J Jabotinsky, Vladimir Z. 514 Jacob, Walter 202, 205f. Jacobs, Louis 36, 38, 719
847 Jalta Bat Huna, 696f. James, William 300f., 304, 434, 479, 741 Jastrow (Yastrow), Marcus 291, 453 Jehuda Ha-Levi 48, 199, 309, 358, 409, 447, 555, 632 Jenseitshoffnung 437 Jerusalem 126f., 237f., 265, 398, 520f., 528, 553, 583, 621, 629, 632, 649, 664, 710, 773, 804, 812, 817, 820, 822, 827f. Jesus 115f., 119, 129, 260, 557f. Jewish Renewal Movement 753, 768 Jewish Theological Seminary 36, 38, 40, 225f., 228, 232, 240, 243, 249f., 389, 431f., 453, 753, 797 Jisraeli, Jizchak 784 Jochanan Ben Beroka 704 Joel, David H. 278, 282 Jonas, Hans 37, 489, 775, 824 Jonas, Regina 671 Josef, Ovadja 653 Joseph, Morris 453 Jüdisch-Theologisches Seminar, Breslau 35, 225 Judentum in der Welt 218 Jung, Carl Gustav 755, 757, 760f.
K Kabbala 37, 40, 61, 65, 72f., 76, 91, 101, 135, 154, 170, 174, 182, 189, 222, 257f., 266, 278f., 281f., 333, 359, 394, 408, 410–412, 493, 511, 551, 564, 703, 710, 723, 725, 745f., 754, 747, 757, 761, 763f., 782, 793, 822 Kadushin, Max 346 Kafka, Franz 39, 170, 182f., 786, 816 Kallen, Horace 514 Kanada 32, 285, 788, 812 Kanonisierung 559 Kant, Immanuel 51, 53, 57, 164, 267, 294, 307, 318f., 445, 501, 539–543, 547–550, 774, 782, 786, 796f., 808, 834 Kantor, weiblich 240
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848
Register
Kaplan, Mordecai M. 35, 37f., 39f., 226, 229, 232, 240, 250, 291, 420, 428–498, 500 Kaschrut 235, 240, 496, 734, 768 Katz, Claire E. 805–806 Kaufmann, Walter 513 Kavka, Martin 777, 786 Kazin, Alfred 816 Kellner, Menachem 835f. Ketubba 676f., 709, 735 Keuschheit 670 Kibbuz 236, 606, 632, 737, 822 Kiddusch ha-Schem 535 Kidduschin 330, 675, 678, 708, 734 Klimovsky, Gregorio 514 Kind-Gott 757 kinship 506f., 521 Kippa 35, 584 Kirche, russische 103 Kierkegaard, Søren 40, 296, 304f., 309, 316, 337, 362, 370f., 374, 583f., 627, 786, 818 Klages, Ludwig 305, 332 Klal Jisrael 196f., 199, 238, 243, 245, 248 Koach ha-dabri 350 Königsherrschaft Gottes 212 Körper der Frau 681 Körper-Theologie 748 Kohäsionskraft, Bindekraft, jüdische 40, 200, 434–437, 439, 441, 451 Kohler, Kaufmann 36, 38, 202, 414, 428, 453 Konfession 242, 440, 454, 467, vgl. Denomination Konfirmation 205, 427, 452, 698 Konsequentialismus, ethisch 502 Konsenstheorie 713f. Konversion 519, 521, 589, 603, 835 Kreuzzüge 535 Krewani, Wolfgang N. 169, 171f., 179, 185, 188 Kretschmer, Ernst 305 Krise des Judentums 435, 441 Kristol, Irving 421f. Krochmal, Nachman 486 Krueger, Gerhard 303 Kuk, Abraham J. 641f., 793f.
Kuk, Zwi, J. 641f., 793 Kulturzionismus 126, 212, 243, 430, 455
L Land Israel 111, 223, 237, 243, 251, 385, 435, 458, 484, 498, 556, 642, 644, 648, 655f., 660 Leah, Erzmutter 732 Lebenszyklus, -Rhythmen 253, 262, 443, 672, 739, 765 Leibniz, Gottfried W. 276, 803f., 834 Leibowitz, Jeschajahu/Yeshayahu 41, 245, 525–527, 533, 539, 574, 615, 619, 627, 712, 723 Leiden 52, 136, 256, 184, 220, 233, 375, 379, 381–384, 386, 423, 436, 451, 488, 497, 535, 546, 738, 767, 803f., 832 Lessing, Gotthold E. 437 Levi, Primo 514 Lévinas, Emmanuel 31, 38–40, 70, 82f., 91, 168–192 Levine, Howard I. 33, 195–199 Lieder 512, 762, 766 Lilit 764f. Liturgie/Liturgik 105f., 108, 112, 221, 228, 236, 345, 377, 427, 682, 698, 732, 742, 744, 753 Liberal Judaism 38, 206, 415, 428 vgl. Reform Lippmann, Walter 513 Locke, John 437, 501 Logik 52, 54–58, 65, 68f., 71–74, 76, 78f., 81f., 93, 265, 268, 273f., 298, 396, 446, 463, 501, 566, 585, 618f. Logos 52, 54, 56, 80–82, 183 Lubarsky, Sandra B. 36f. Luther, Martin 703, 789 Luzzato, Samuel D. 453, 564
M Mach, Ernst 300 Magen David, vgl. Davidstern 66
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Register Maggid aus Mesritsch 160, 401 Magid, Shaul 776f., 788f. Maier, Heinrich 303 Maimonides 38, 85, 103, 114–116, 118, 168, 186, 197, 273f., 281, 292f., 299, 311f., 314, 318, 324, 329f., 340, 347–351, 353, 357, 390, 404, 410, 416, 466, 501, 528f., 531f., 541, 563, 600, 632, 652f., 678f., 708f., 743, 781f., 786, 792, 798, 801f., 809, 815, 829f., 832, 835f. Maimon, Salomon 351 Makkabäer 516, 531, 576 Mamser 709 Marduk 756 Marmur, Michael 395 Masorti 225, 236 Mendes-Flohr, Paul 48, 126f., 141, 146, 150, 683 Makroanthropos 59, 478 Marx, Karl 511, 584 Meineke, Friedrich 47 Meir, Ephraim 184, 777, 784–786 Melammed, Salman 642 Memmi, Albert 514 Mendelssohn, Moses 28, 48, 204, 235, 265, 267, 273, 276f., 399, 416, 602, 774, 780, 805, 827, Menschenbild 435f., 438f., 598, 612, 638, 684, 745f., 831, 833, 836f. Menschenwürde 501, 503, 508, 512 Messias 98, 115f., 118, 235, 254, 256, 372, 420, 722, 835 Metaethik 56, 63, 66, 68, 82 Metahalacha 624 Metaphysik 54, 63, 66, 68, 78, 176, 271, 273, 339, 341, 347, 350, 399, 487, 501, 584f., 587, 594, 605, 612, 778f., 790, 794, 799, 818 metaethisch 54 metalogisch/Metalogik 54–56, 63, 66, 68, 80f., 95, 107, 266, 278 Meyerson, Emile 144 Middat ha-Din & Rachamim 119, 341 Midrasch 135, 229, 239, 258, 313–315, 375, 432, 478, 515, 620, 632, 695, 702, 721, 730–732, 745, 753, 788, 837
849 Mikrokosmos 75 Mill, John S. 501, 503, 513 Minjan 679, 698–700, 734f. Mischehen 201, 223, 262, 442, 451, 492, 519, 521, 792 Mischna Mischpatim & Ḥukkim 166, 174, 197, 257, 270, 493, 559, 574, 621, 677f., 680, 683, 695f., 704, 707f., 734, 798, 829, 837 Mission, jüdische 103, 139, 510 Mittleman, Alan 776, 797–799 Modena, Leone 832f. Moderne Orthodoxie, s. Orthodoxie, moderne Monotheismus 121, 248, 254, 454, 489, 510f., 746, 781f., 815, 828, 831 Montaigne, Michel de 790 Moral 210f., 229, 235, 251, 358, 385, 424, 501, 542, 548, 564, 583, 606, 622, 626–628, 724, 735, 797 Morgan, Michael L. 777, 795–797 Moses 128, 185, 195, 198, 292, 359, 406, 448, 561, 616f., 637, 684, 708, 730, 732, 837 Mosès, Stéphane 48, 59, 63, 70, 78f., 87, 106 Moses Ben Nachman 652 Montefiore, Claude G. 38, 453 Mündliche Tora 111, 209, 229, 246, 558–561, 568, 601, 619, 621, 712, 723, 837 Musik 211, 232, 492, 497, 506, 702, 754f. Mutter (Göttin) 745, 756f., 759 Mysterium 140, 185, 244, 317, 331, 359, 367, 369, 402–405, 423, 611f., 748, 761 mysterium fascinosum 341f. mysterium tremendum 317, 341f., 367 Mystik 39, 107, 126, 134f., 141, 146– 150, 160, 229, 305, 308, 325, 344f., 378, 389, 480, 564, 703, 729, 740, 750, 782, 820f. Mythos, mythologisch 39, 73, 93, 101, 108, 111–114, 134f., 155, 180, 196, 301, 389, 518, 616, 754f., 758, 763, 777, 803
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850
Register
N
O
Nachman Ben Jizchak 704 Nachman Bratzlawer 790 Nakba 645 Nation 132f., 136f., 202, 207, 235, 243, 248, 260, 276, 280, 387, 425, 440f., 447, 456–459, 461, 465, 467–472, 490–492, 496–498, 500, 505–507, 555, 578, 655, 657, 659, 808, 828, 838 National-Charta der PLO 657 National Museum of American Jewish History 31 Natorp, Paul 299, 306, 308, 312, 325f., 329 negative Theologie 318, 528f., 531, 781 Nelson, James B. 748f. Neo-Kantianer 299, 301, 307, 319, 543 Neo-Orthodoxie 32, 472, 489 Neues Denken 50, 53, 69, 788 Neumark, David 267, 281 Neumond 686, 733, vgl. Rosch Ḥodesch Neurophysiologie 525, 798 Neurowissenschaften 800 Neusner, Jacob 270, 695f. Netanjahu, Benjamin 637 Neuzeit 28, 258, 265, 274, 276f., 299, 318, 530 New-Age-Religion 42 New York Board of Rabbis 200 Niebuhr, Reinhold 36, 334, 726 Nietzsche, Friedrich 53, 305, 332, 501, 503, 584, 820f. Nichts 57, 69–71, 74, 77–81, 84, 147, 296, 401, 598, 609, 670, 830, 833 noema 392–394, 396 noesis 392–394, 396f. nomos, nomisch 689–691, 695f., 698, 702 nonfoundationalism 712f. Nordau, Max 513 Notwendiges 52 Noveck, Simon 363
Obama, Barack 258 Oberrabbinat 33, 711 Observanz 195f., 215, 221, 253, 263, 413, 471, 572, 814 Observer, The Jewish 199f. Odysseus 180 Ökologie 222 Öko-Kaschrut 768 Offenbarung 56–122, 166–167, 179, 185, 204, 208f., 219, 220, 227, 229, 230, 245f., 271f., 274–277, 309, 325, 340, 354–361, 376f, 391, 395, 399f., 403–407, 409, 419 425–428, 434, 446–450, 501, 535, 556–562, 601, 619, 673, 684, 721, 727–732, 740, 793–794, 796, 808, 817, 828, 837 Offenbarung, kumulativ 712–725 Okkupation 640 Olam ha-ba 466, 488 Olmert, Ehud 651 Ontologie 61, 70, 82, 174–176, 185, 187, 364, 371, 396, 606 Oppenheim, Michael D. 775, 777, 810f. Orientieren 141, 143, 145, 147, 467 Orthodoxie 32–34, 194–201, 226, 230f., 238, 293, 337, 356, 505, 537, 618, 625, 673, 705, 710–725, 835 Orthodoxie, Moderne 34, 194, 196, 504f., 712 Orthodoxy, Centralist 194 Orthopraxie 416, 537 otherness 455, 676, 784 Otto, Rudolf 316, 332, 334, 341, 366, 713 Oz, Amos 514, 644
P Palästinenser 127, 589, 634f., 640f., 644, 646, 650f., 657, 663, 754 PaLMaḤ (Palmach) 661 Pappenheim, Bertha 363, 671, 764, Parmenides 52, 80, 169 Partikularismus 194, 206, 212, 217, 778
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Register Pascal, Blaise 309 Patriarchat, patriarchalisch 724f., 727f., 738, 749, 763f., 672, 676, 685, 691, 695f., 706, 712, 718 Peretz, Jizchak L. 513 Pessin, Sarah 776f., 783f. Phänomen 36f., 132, 140, 235, 241, 264, 318, 327, 329, 341, 343, 367, 386, 395, 441, 450, 470, 482, 519, 579, 603–605, 608, 725, 774, 812, 819, 822, 833 Phänomenologie 82, 149, 160, 171, 295, 348, 364, 390, 392–397, 415, 592, 604f., 729, 817 Pantheismus 37 PaRDeS 28 Pharisäer 27 Philadelphia Conference 202 Philo von Alexandria 264 Physik 54, 65, 285, 300, 320, 323, 446, 827 Pilpul 274, 328 Pittsburgh Conference 202 Pittsburgh Platform 202–208, 216f., 225, 256, 414 Planck, Max 301 Plaskow, Judith 42, 676–679, 682–685, 720, 726–752, 756, Platform 202–212, 215–217, 225, 256, 414, 419 Plato 169, 299, 445, 528, 781, 803 Platoniker 51, 55 Pluralismus, kultureller 585, 589 Pluralismus, religiöser 585 Poincaré, Raymond 300 Politik, Israels 196, 232, 252, 524, 581, 634, 641, 663 Potsdam 36 Präsenz Gottes 345, 395f., 399, 406– 408 Priester 27, 204, 509, 511, 520, 554 Prinz, Joachim 291 Progressive Judaism, vgl. Reform 34, 202 Prophet 85, 356, 377, 383, 527, 582
851 Q Qumran 27
R Rabbiner, männlich 500 Rabbiner, weiblich 500 Rabbinerkonferenzen 202 Rabbinismus 130f. Rachel, Frau Akivas 693 Radbas 623 Rajna Batja 681 Rand, Ayn 503 Rashkover, Randi 786 Rationalismus 208, 269f., 501, 718, 725, 797 Ravven, Heidi M. 799–802 realisieren 141, 143, 145f., 360, 457, 464, 637 Rebekka, Erzmutter 683, 699, 732 Reconstructionist Judaism, vgl. Kaplan, Mordecai 35, 226, 250–255, 430, 433, 505, 680, 698, 719, 729 Reconstructionist Rabbinical College 250, 753 Reform, Judaism 32–36, 38, 50, 193, 200, 202–224 regressus 60, 76 Reich 63–65, 74, 99–101, 104 Rekonstruktion des Judentums vgl., Reconstrutionist Judaism Religion, 40, 42, 130, 132–135, 240– 242, 243–249, 251, 262, 276f., 297–312, 315–316, 322f., 325–327, 331, 335–340, 341–342, 354, 394– 405, 415–419, 422, 425, 430–431, 440f., 448–450, 454, 46–463, 466, 469–489, 495, 500, 522, 533, 550, 603, 528, 533–538, 544, 546, 551– 552, 554, 560–565, 585–589, 603– 605, 611f., 626–63, 633, 684, 729, 736, 751, 755, 785, 822 Religion, säkulare vgl. Humanistisches Judentum Religion und Staat 28–30, 335, 525– 582, 574–579
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852
Register
Religionsgeschichte 85, 128, 130, 134, 269, 309, 343, 466, 482, 485, 553, 559f., 565, 744, 828, 831 Religionswissenschaft 445, 470, 473, 485, 553, 757 Religiosität 129f., 130f., 133–135, 137, 260, 322f., 325, 327, 419f., 452, 561, 603f., 611f., 699, 740f., 751f., 783, 786, 789 Renan, Ernest 468 res divina 199 revelatio continua 229, 356, 359, 405, 723, 794 Revisionismus 637 Ricoeur, Paul 584, 741, 791 Risberg, Baruch 292 Riten 106, 134, 210f., 221, 308, 461, 512, 517, 521, 594, 692, 699, 733, 754–756, 763, 765f., 769, 789 Ritualgesetz 215, 444, 628 Rosch-Ḥodesch 686 Rosenblum, Jaʼir 610 Rosenstock, Bruce 803f. Rosenstock-Huessy, Eugen 47, 58, 74, 774, 777 Rosenzweig, Franz 47–125, 61–64, 66, 68–74, 76–94, 96–99–126, 150, 283, 302, 719, 774–776, 780, 784, 786, 788, 796f., 805–807, 810f., 815f. Ross, Tamar 42, 678–682, 710–725, 734, 775f., 792–794 Roth, Leon 265, 285 Rousseau, Jean-Jacques 298, 303, 309, 437 Royce, Josiah 302f. Rubenstein, Richard L. 37 Rückzug Gottes 777f. Russel, Bertrand 300, 302, 503, 513 Rynhold, Daniel 528
S Saʽadja Gaʼon 173, 272, 493, 628f., 781 Sabatier, August 309 Sabbat/Schabbat 112f., 139, 201, 205, 211, 215, 221, 235, 245, 247, 250,
311f., 322, 330, 355, 390, 443f., 449, 471, 490, 495f., 499, 516f., 541f., 554, 570–572, 622f., 653, 669, 679f., 755, 762, 768, 778f., 804, 814, 816, 829 Sadduzäer 27 säkular 29, 31f., 35, 41, 193, 210, 236, 244, 254, 261f., 277, 283, 292, 325, 356, 387, 406, 425, 429, 442, 444, 452, 454, 460, 484, 499, 501, 503– 505, 507, 512f., 518, 520–522, 537, 543, 546, 558, 592, 595–597, 599f., 603–605, 613, 626, 631, 638f., 641f., 660f., 709, 734, 737, 776f., 784, 792, 808, 812, 822, 824f., 831, 839 Säkularist 599f., 604f., 631 Sagi, Avi 41, 286, 291, 293f., 297, 314, 361, 363, 370, 374, 380, 526–528, 548, 550, 565, 574, 583–631, 710f., 714, 723, 776, 817–819 Sancta des Judentums 40, 490 San Remo 637, 639 Santayana, George 513 Sara, Erzmutter 375, 574, 683, 699, 732, 783 Sarna, Jonathan D. 31, 195 Sartre, Jean-Paul 513, 609 Schachter, Zalman 753, 768 Schaddai, vielbrüstige 762 Schammai/Schammaj 27, 635f., 665 Schavuʽot-Fest 113, 425–427, 496, 516 Schechina 101, 166, 345f., 359, 394, 535, 568, 670, 702, 745, 754, 756– 764, 766, 769f., 782 Schechter, Solomon 291, 343, 431, 453, 486, 554, 693, Scheidebrief 452, 676, 709, 717, Scheidung 52, 121, 132, 236, 492, 499, 675f., 709, 717, Scheler, Max 296, 302f., 318, 332, 334, 336–340, 774 Schelling, Friedrich W. 48, 55, 57–63, 65, 74–76, 78–81, 86, 92, 95, 98, 104f., 119, 280, 284, 303, 337, 774, 786f. Schiʽur Koma 782 Schneerson, Jizchak M. 200
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Register Schnaber-Levison, Mordechai 248 Schoah 27, 29, 31, 35, 62, 125, 168, 187, 213, 215f., 233, 283f., 293, 380, 384, 386, 423–425, 429, 489, 507, 536, 622, 639, 774, 783, 788, 803, 805, 813 Schomre Adama 254 Schöpfer 65, 67, 80, 96f., 102, 110, 115, 119, 122, 155, 189, 228, 233, 312, 330, 335, 339, 341f., 348, 352f., 357, 359, 366, 374f., 377, 394, 416, 463, 487, 513, 623, 669, 702, 746, 754, 756, 758, 762, 778, 781, 829, 831 Schöpfung 95, 50, 63, 65–67, 74, 85f, 89–91, 94–98, 113, 121, 159, 183, 189, 222, 247, 304, 317, 331f., 335, 340, 342, 353, 358, 366, 401, 407, 487, 718, 746, 754, 761, 778, 781, 832 Schkop, Schimʽon J. 629f. Schklovski, Rachel 552 Schleiermacher, Friedrich 35, 86, 276, 298, 305, 309, 332, 418, 597, 818, 834 Scholem Gerhard Gerschom 706 Schopenhauer, Arthur 53, 143, 303 Schorsch, Ismar 35, 228, 243–249 Schriftliche Tora 208f., 229, 246, 308, 406, 426, 460, 558–560f., 601, 621, 672, 712, 723, 818, 837 Schüssler Fiorenza, Elisabeth 727 Schwartz, Dov 284, 295, 297, 313, 321, 334, 338, 340, 347, 351, 361, 367, 375f., 380, 808 Schweid, Eliezer 164, 277–279, 284, 500, 577 Sechstagekrieg 425, 429, 545, 579, 632, 638–641, 644, 646, 650, 656 Seele 52, 63–65, 73, 80f., 87, 90–92, 98–101, 110, 138, 145, 147, 159, 166, 203, 212, 214, 229, 274, 315, 319, 329, 331, 342, 344, 347, 360, 373, 375, 411, 413, 535, 540, 578, 655, 693, 701, 748, 755, 757, 760, 762, 766, 779, 801, 803f., 809f., 831f. Seeskin, Kenneth 543, 777, 781f.
853 Seiendes 80, 172, 174, 179, 338 Sharon, Ariel 637, 639 Sekhel, Maskil, Muskal 348–350 Selbstbewusstsein 137, 170, 184, 329, 332, 372, 459, 461, 469, 482, 485, 511, 594, 597, 602, 681, 738, 761, 783 Selbstfindung 184, 762f., 806 Selbstverwirklichung 251, 255, 437f., 465, 481, 483f., 491 Sexualität 149, 677, 683, 696, 707f., 736, 747–751, 761, 763 Sexual-Theologie 42, 747, 749 Simon, Ernst 47 Sinai, Offenbarung 70, 87, 88, 90, 98, 199f., 229, 247, 253, 320f., 325– 329, 357f., 359, 360, 380, 383f., 404, 406, 422f., 426f., 535, 557f., 601, 616, 619, 676, 684, 712, 723f., 727, 730, 837 Sittengesetz 539, 541, 549f. Skepsis 508, 638, 665, 727, 776, 795, 820f. social gospel 37, 259f. Society for Humanistic Judaism 260f., 499, 522 Society for the Advancement of Judaism 250, 433 Society for Jewish Renascence 432 Sofer, Arnon 644f. Sokrates 332, 547 Soloveitchik, Jizchak Z. 200, 313 Soloveitchik, Josef D. 35, 190, 291– 388, 392, 566, 610, 619f., 629, 654, 736, 824 Sosa, Ernest 713 Sozialismus 640, 661, 665 Soziologie 128, 432, 470, 606, 776f., 779 Speisegesetze 444, 452,496, vgl. Kaschrut Spiritualität, weibliche 686, 725 Spur 57, 168f., 171, 173, 175–177, 179–181, 185–187, 238, 280, 297, 318, 398, 470, 598, 615, 705, 774, 777, 796f., 801 Spinoza, Baruch 51, 56, 59, 131, 172, 204, 268, 276f., 318, 395, 441, 478,
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Register
501, 513, 779, 786f., 796, 800f., 809, 816, 834 Sprache 68–69, 71–77, 79, 81, 90–96, 105, 110–111, 136, 150, 153–157, 161, 221, 232, 244f., 251, 263, 306, 402, 457, 460, 463, 495, 497, 506, 599, 610, 685, 699, 721–722, 729, 744, 761, 790, 796, 806, 813 Staat, jüdischer 27, 207, 217f., 223, 236, 259, 444, 492, 505f., 527, 544f., 576, 590, 640, 643–645, 651, 655, 733, 774 Stalin, Josef 640 Standpunkt-Theorie 714 Statement of Principles 202, 218–224, 220, 222f., 225, 227 Steinberg, Milton 421 Steiner, George 514 Steinheim, Salomon L. 266, 277, 283 Stern der Erlösung 47f., 50–57, 61f., 68, 70–72, 74, 76–84, 86–104, 106– 114, 116–125, 788, 815 Strauss, Leo 774f., 786, 806, 816 Symbol 62, 66, 68, 73, 95–97, 100, 105f., 180, 211, 221, 231, 233, 235, 245, 301f., 312, 339, 389, 459, 469, 471, 479, 490–494, 506, 512, 514, 517, 534, 558, 588, 616, 664, 675f., 681, 700, 741, 743f., 757–761 Synagoge 27f., 47, 193, 201, 211, 215, 221, 223, 232, 266, 293, 432, 464, 492, 496, 538, 546, 679, 700, 734, 791, 824 Szold, Benjamin 453
T Taʽame (ha-)Mizwot 231, 247, 311, 427, 447, 490, 541 Tchernikhovsky, Shaul 514 Tallit 35, 495, 680 Talmud 62, 168, 197, 228, 257, 274, 291, 295, 314, 330, 373, 510, 515, 543, 554f., 559, 568, 574, 610, 616, 620f., 628, 632, 635f., 656, 659f., 675, 677–680, 683, 692–696, 702– 704, 707, 733–735, 742, 829, 837
Techines 699, 732 Teleologie, teleologisch 306, 331, 381, 549f., 613, 622, 809 Tempel 115, 330, 553, 572, 621, 698, 751, 766, 782 Tempelmauer 33 Terror 341, 508, 581, 634, 662 Tertullian, Kirchenvater 827 Thales von Milet 75 Theodizee & Antitheodizee 229, 233, 379, 489, 612, 803f. Theologie, jüdische 36, 421, 428, 726, 790f., 812 Therapie, therapeutisch 42, 361, 363f., 369f., 502, 753, 755, 762f., 765 Tiamat 756 Tiefen-Theologie 396 Tikkun ʽOlam 37, 60, 101f., 189, 221f., 227, 238, 254, 256–259, 333, 411, 698f., 754 Tillich, Paul 36, 334, 612, 726 Tirosh-Samuelson, Hava 43, 284, 583f., 613, 773, 776f., 813, 821f., 824 Tora-Studium 242f., 246 Tradition, Zeitschrift 195, 295 Tradition vs. Traditionalismus 593 Transjordanien 638 Transzendenz 33, 35f., 140, 155, 159, 165, 171, 173, 177, 185f., 188, 222, 227, 261, 304, 319, 324, 332, 335– 337, 339f., 359, 369, 377, 380, 397, 399f., 420, 435f., 461, 472f., 476, 480f., 485, 490f., 494, 515, 522, 528f., 532, 604–606, 611, 685, 729, 740, 750, 778, 780,790, 794f., 810 Trigano, Shmuel 285, 776–780 typologische Schriftauslegung 40, 114, 334f., 364, 378, 380, 384, 388
U Überwelt 61–63, 65–67, 74, 97, 102, 106, 177, 466 unio mystica 98, 147, 155, 159, 343, 353 Union for Traditional Conservative Judaism 226
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Register Union of American Hebrew Congregations 414, 451 Union of Orthodox Congregations of America 451f. United Synagogue of America 225, 452 Universalismus 194, 203, 206, 212, 217, 259, 262 Universität 26, 36, 126, 265, 279–281, 292f., 389, 525, 583, 622, 632, 644, 710, 712, 753, 773, 778f., 784, 792, 812f., 817, 822, 835 UNRWA 646 UNSCOP 660 unterirdisches Judentum 129, 130f., 507 Urjudentum/Ur-Judentum 128–131 Urwort 150, 156f., 181, 259, 410, 754 Ur-Ja/Urja 76f., 79, 81f., 189 Ur-Nein/Urnein 76f., 79, 81, 89 Urzweiheit 132, 139 USA 30f., 33f., 41, 125, 193, 200, 227, 261, 291f., 429f., 441, 453, 499, 622, 640, 661, 671, 698, 753, 775, 822, u. siehe Vereinigte Staaten Utitz, Emil 305
V Validierung des Tuns 462 Veitel Heine Ephraimsche Lehranstalt 280 Vereinigte Staaten 284, 389, 450, 453 Vernunft, Aktive (ha-Sekhel ha-Poʽel) 350 Vernunftgebote 628 Verschmelzung der Horizonte 41, 595f., 604, 615f., 715, 806 Verwirklichung 60f., 131, 134, 141, 145–148, 150, 154, 157, 206, 215, 475, 537, 552, 567, 580, 610, 664f., 752, 756, 783 visage 175, 177, 186f. Volk, jüdisches 30, 39, 40, 49f., 108– 114, 117, 120, 134, 138–139, 197– 198, 204, 209, 212f., 215–217, 219, 220, 223f., 227, 235–237, 239, 243, 245–247, 251f., 255, 256, 286f., 379, 383f., 388, 409, 414, 419–420,
855 423–425, 440–442, 447–448, 491, 493, 497–498, 507, 521, 555f., 563, 565, 572, 575f., 580f., 637, 684, 730, 739, 808, 818, 839 Volk, ewiges 50, 111, 113, 120 Volkelt, Johannes 303 Volkes-Religion 471 Voltaire, François M. 437 Vor-Urteil 595f., 715, 790 Vorwelt 61–66, 68, 74
W Walzer, Michael 260, 590–592 way of life 211, 231, 412f., 489f., 491, 791 Weber, Max 513, 774 Weiblichkeit, Numinosum 758 Weisheit 264f., 269–272, 357, 401, 403, 405, 426, 474, 600, 718, 761, 763 Weisheitsliteratur 264, 269 Weiss-Halivni, David 720 Wellhausen, Julius 131, 256, 513, 718 Weltalter 39, 48, 58–60, 63–66, 74–76, 98, 102, 105 Weltgebärerin 745 Weltzeitalter 50, 59, 66 Wer ist Jude? 33 Wertheimer, Jack 34, 194f. Wesen des Judentums 428f., 526, 534, 562, 564, 829 Wesensschau 302, 305, 364 West-Bank/Westbank 632f., 639f., 644, 648–650, 664 Westerkamp, Dirk 268, 278f. Westmauer, siehe Tempelmauer Whitehead, Alfred N. 36, 300, 415, 479 Wille, freier 798, 800, 833 Wille Gottes 322, 425, 446 Wine, Sherwin T. 40, 260f., 263, 499– 519 Wirtschaft 40f., 162, 232 Wise, Isaac M. 453, 698, 760 Wissenschaft des Judentums 38, 214, 277–280, 286, 299, 389, 486, 491, 718, 773, 778, 822 Wissensmensch 317, 319
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856
Register
Wittgenstein, Ludwig 585, 596, 721f., 775, 791 Wolf, Friedrich A.280 Wolf (Wohlwill), Immanuel 277, 279, 282 Wolfson, Elliot R. 774, 776, 820f. Wollen 84, 94, 100529f., 677, 778 Woloschyner, Ḥajjim 291 Wunder 63, 80, 84–87, 90f., 93, 104f., 116, 124, 237, 242, 270, 317, 368, 425, 436, 446f., 535, 568, 633, 700, 839
Y Yabetz, Zeev 453 Yehoshua, Abraham B./Jehoschua A. B 514, 664 Yeshiva University 194, 292f. Yizhak Isaac Ha-Levi, 453 YMHA 432
Z Zelem Elohim, vgl. imago dei 186f., 220, 411, 733 Zhitlowsky, Chaim 513 Zigeuner 507 Zimzum 60f., 76, 187, 189, 777, 779, 792f. Zionismus 29, 31f., 35, 127, 193, 201, 207, 212, 235f., 245, 283, 293, 387, 429f., 432, 452, 455, 459, 470, 505, 511, 635f., 638, 641f., 647, 656– 658, 660, 767, 778, 792, 812, 838 Zivilisation 25, 205, 229, 232, 251f.,429, 431, 457–460, 462–464, 466, 468f., 471, 480f., 483, 485, 487, 490–492, 494, 506, 572, 635, 769, 778, 815 Zukunft 25, 30, 60, 63, 68, 86f., 98, 100, 105f., 109f., 112, 114, 117, 195, 227, 234, 254, 263, 359, 387, 423, 425, 435, 459, 469, 521, 580, 617, 640, 644, 664, 773, 780, 823 Zunz, Leopold 277–280, 486 Zweistaatenlösung 644–646, 649
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BIBLIOGRAPHIE Die Bibliographie für alle Bände des Jüdischen Denkens findet man auf der Website des Campus Verlags unter:
https://www.campus.de/isbn/9783593511078
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