»Wovon man nicht sprechen kann...«: Ästhetik und Mystik im 20. Jahrhundert. Philosophie - Literatur - Visuelle Medien [1. Aufl.] 9783839412268

In ästhetischer Perspektive lässt sich das 20. Jahrhundert zugespitzt als »Zeitalter der Mystik« bezeichnen. Konzepte un

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German Pages 210 Year 2015

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Inhalt
Vorwort
I. PHILOSOPHIE
Erfahrung des Unaussprechlichen. Einige Überlegungen zum Mystischen in der gegenwärtigen Ästhetik
Mystik im Spannungsfeld symbolischer Formen
Georges Batailles »innere Erfahrung«
II. LITERATUR
»Mystik als Wortlosigkeit / Dichtung als Form«. Celans Poetik der Dunkelheit
»Zwischen zwei Tulpenbäumen«. Ästhetische und mystische Erfahrung in Gamal al-Ghitanis »Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch«
Kabbala als Kreationsfiktion. Starker Dichter und schreibender Golem bei Harold Bloom und Cynthia Ozick
Ist Inspiration für Proust eine mystische Erfahrung?
III. VISUALITÄT
Die Stadt als Un-Ort. Michelangelo Antonionis »L'eclisse« und die Fremdheit des Vertrauten
Logoklasmus? Konrad Fiedler über Sprache und Sichtbarkeit
Zu den Autoren
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»Wovon man nicht sprechen kann...«: Ästhetik und Mystik im 20. Jahrhundert. Philosophie - Literatur - Visuelle Medien [1. Aufl.]
 9783839412268

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Cornelia Temesvári, Roberto Sanchiño Martínez (Hg.) »Wovon man nicht sprechen kann...«

2010-05-04 15-04-32 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ca240766858994|(S.

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Cornelia Temesvári, Roberto Sanchiño Martínez (Hg.) »Wovon man nicht sprechen kann...«. Ästhetik und Mystik im 20. Jahrhundert. Philosophie – Literatur – Visuelle Medien

2010-05-04 15-04-32 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ca240766858994|(S.

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Der Druck dieses Bandes erfolgte auf Veranlassung des Sonderforschungsbereiches 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Bengt Sjölén und Adam Somlai-Fischer: Konzeptcollage ihres Projektes »Aleph, Reorganizing Vision« (20052007) www.aether.hu/aleph (© Bengt Sjölén und Adam Somlai-Fischer) Lektorat und Satz: Cornelia Temesvári und Roberto Sanchiño Martínez Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1226-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Vorwort 7

I. PHILOSOPHIE Erfahrung des Unaussprechlichen. Einige Überlegungen zum Mystischen in der gegenwärtigen Ästhetik HANS STAUFFACHER 13 Mystik im Spannungsfeld symbolischer Formen REINHARD MARGREITER 29 Georges Batailles »innere Erfahrung« ROBERTO SANCHIÑO MARTÍNEZ 43

II. LITERATUR »Mystik als Wortlosigkeit / Dichtung als Form«. Celans Poetik der Dunkelheit FELIX CHRISTEN 67 »Zwischen zwei Tulpenbäumen«. Ästhetische und mystische Erfahrung in Gamal al-Ghitanis »Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch« OSMAN HAJJAR 85

Kabbala als Kreationsfiktion. Starker Dichter und schreibender Golem bei Harold Bloom und Cynthia Ozick CORNELIA TEMESVÁRI 107 Ist Inspiration für Proust eine mystische Erfahrung? RENATE SCHLESIER 131

III. VISUALITÄT Die Stadt als Un-Ort. Michelangelo Antonionis »L'eclisse« und die Fremdheit des Vertrauten DANIEL ILLGER 157 Logoklasmus? Konrad Fiedler über Sprache und Sichtbarkeit JAN WÖPKING 175 Zu den Autoren 205

Vorwort CORNELIA TEMESVÁRI UND ROBERTO SANCHIÑO MARTÍNEZ Ludwig Wittgenstein hatte seinen 1918 vollendeten Tractatus Logico-philosophicus mit dem mittlerweile zum ›geflügelten Wort‹ geworden Satz »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«1 enden lassen, einem Satz, in dem sich eine für das 20. Jahrhundert paradigmatische Haltung der Mystik und dem Mystischen gegenüber abzeichnet. Denn das im letzten Satz des Tractatus kulminierende philosophische Schweigegebot (»Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.«2) wurde zu einer Schlüsselformulierung der Inkommunikabiliät des Mystischen, die über die Grenzen der Philosophie hinaus Wirkung entfaltete und sich in der Konsequenz als critical turn in Richtung Negativität und Unsagbarkeit fassen ließe.3 Das, was in ästhetischer Theorie, Literatur und Kunst der Moderne als »profane« oder »gottlose« Mystik bezeichnet wurde, beruhte zu weiten Teilen weniger auf einer expliziten Auseinandersetzung mit einer religiös-mystischen Tradition als vielmehr auf einer Sprachund Erkenntnisskepsis, die in der Zeit um 1900 gerade im deutschsprachigen Raum bei Autoren wie Hugo von Hofmannsthal oder Fritz Mauthner ihren ersten, vielbeachteten Höhepunkt fand.4 In der Folge bildete sich eine interdiskursive Konfiguration literarisch-philosophischen Schreibens sowie ästhetischen Erfah1 2 3

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Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 83. Ebd., S. 82. Vgl. Sanford Budick und Wolfgang Iser (Hg.): Languages of the Unsayable. The Play of Negativity in Literature and Literary Theory, New York 1987. Einen Überblick geben u.a. Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn 1997 und Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989. Vgl. auch: Wiebke Amthor/Hans R. Brittnacher/Anja Hallacker (Hg.): Profane Mystik: Andacht und Ekstase in Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002.

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Cornelia Temesvári und Roberto Sanchiño Martínez

rens, Gestaltens und Denkens in der Philosophie, Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts in Korrelation zu dem heraus, was Mystik genannt wird, dabei oft aber unbestimmt bleibt. In dieser interdiskursiven Formation konnte modernes Selbstverständnis und Selbstbewusstsein auf individueller und kollektiver Ebene konstituiert, reflektiert, kritisch hinterfragt sowie gegebenenfalls auch annulliert werden, und zwar nicht zuletzt dadurch, dass die Frage nach einer modernen Identität und Differenz aufs engste mit dem, was unter dem Begriff des Mystischen subsumiert war, verbunden wurde. Darüber hinaus wurde im letzten Jahrhundert terminologisch und motivisch auf unterschiedliche mystische Traditionen zurückgegriffen, um sich ästhetischen Phänomenen anzunähern und um spezifische Kriterien einer ästhetischen Erfahrung zu formulieren. Wie auch immer ästhetische Erfahrung bestimmt wird, ob präsenztheoretisch wie bei Martin Seel und Hans-Ulrich Gumbrecht oder, in der kantischen Tradition stehend, reflektionstheoretisch wie bei Rüdiger Bubner und Wolfgang Welsch, so konvergieren die beiden grundsätzlichen Positionen doch darin, dass sie ästhetische Erfahrung als eine spezifische DifferenzErfahrung bestimmen. Vor diesem Hintergrund lässt sich nach Parallelen zur mystischen Erfahrung fragen.5 Wenn ästhetische und mystische Erfahrungen tatsächlich Differenz-Erfahrungen sind, Erfahrungen von Neuem und Anderem, vielleicht sogar vom ›ganz Anderen‹, dann stellt sich bei beiden Erfahrungsformen die Frage nach den nachträglichen Möglichkeiten ihrer Versprachlichung, wie auch danach, inwieweit sie bereits an sich sprachlich, reflexiv und symbolisch strukturiert sind. Auf diesen Aspekt verweist der Obertitel des vorliegenden Bandes mit seiner Wittgenstein-Anspielung, der auf die Dialektik von Schweigen und Zeigen hindeuten soll, die für so viele Konzeptionen von Mystik und vom Mystischen charakteristisch ist. Schopenhauers Einwand, der Vergleich sei die Wurzel allen Übels, zum Trotz versuchen die Beiträge dieses Bandes in exemplarischen Fallstudien danach zu fragen, worin die genaueren Parallelen und vor allem Differenzen zwischen mystischem und ästhetisch-poetischem Sprachverständnis, zwischen Ästhetik und Mystik bestehen und versuchen somit, an unterschiedlichen Materialien eine Relation zwischen Mystik und Ästhetik im 20. Jahr-

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Vgl. dazu grundsätzlich Reinhard Margreiter: Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung, Berlin 1997.

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Vorwort

hundert herauszuarbeiten, begrifflich und inhaltlich zu schärfen und analysierbar zu machen. Im ersten Teil des Bandes stehen philosophische und ästhetiktheoretische Überlegungen im Mittelpunkt. Hans Stauffacher widmet sich der Frage, warum sich ausgerechnet in Ästhetiken, die vom antimetaphysischen Selbstverständnis der Philosophie des 20. Jahrhunderts geprägt sind, wie etwa denen Gumbrechts, Merschs, oder Seels, »mystische Züge« ausmachen lassen. Reinhard Margreiter leitet aus Ernst Cassirers Erkenntnis- und Kulturphilosophie der symbolischen Formen ein Verstehensmodell für das Spezifische der mystischen Erfahrung in Abgrenzung zur Alltagserfahrung ab. Und der Beitrag von Roberto Sanchiño Martínez analysiert die sich bei Georges Bataille vor dem Hintergrund seines philosophischen Hauptwerks L’expérience intérieure abzeichnende Korrelation von »profaner Mystik« und Literatur. Der zweite Teil des Bandes befasst sich mit literarischen Annäherungen und poetologischen Reflexionen zur Mystik, zum Phänomenbereich des Mystischen und zur mystischen Rede. Felix Christen arbeitet ausgehend von Paul Celans Schrift »Von der Dunkelheit des Dichterischen« und vor der Folie literarästhetischer Schriften der Antike heraus, inwiefern Celans Reflexion der Dunkelheit durch Bezüge zur Mystik eine Poetik des Verstehens entwirft. Osman Hajiar untersucht ein Werk des in Deutschland weitgehend unbekannten ägyptischen Gegenwartsautors Gamal al-Ghitani auf seine Nähe zum Sufismus und fragt, ob und wie religiös-mystische und ästhetische Erfahrung in der Lektüre zusammenfallen können. Cornelia Temesváris Beitrag setzt sich mit kabbalistischen Modellen der Dichtungsentstehung bei Harold Bloom und Cynthia Ozick auseinander und erörtert, inwiefern die Kabbala in diesen ästhetischen Kontexten noch als Mystik definiert ist. Und Renate Schlesier überprüft die von Ernst Robert Curtius aufgestellte These einer Identität von Inspiration und Mystik bei Marcel Proust anhand einer detaillierten Analyse der Verwendungen dieser beiden Begriffe in À la recherche du temps perdu . Der dritte Teil schließlich gibt einen exemplarischen Einblick in die Bedeutung mystischer Figuren und Vorstellungen im Bereich der visuellen Medien und in theoretischen Überlegungen zur Visualität. Daniel Illger analysiert die ästhetische Zergliederung der Raumkonstruktion in Michelangelo Antonionis Film L'eclisse auf durch sie zutage tretende spezifisch profan-mystische Erfahrungen der Moderne. Und Jan Wöpking zeichnet Konrad Fiedlers

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Cornelia Temesvári und Roberto Sanchiño Martínez

Theorien zur visuellen Kunst und seine Konzeption einer reinen, sprachlosen Sichtbarkeit nach. Die Beiträge dieses Bandes dokumentieren den Workshop »Mystik und Ästhetik im 20. Jahrhundert« der vom 30. September bis 1. Oktober 2008 an der Freien Universität Berlin stattfand (zusätzlich aufgenommen wurde der dort nicht vorgetragene Beitrag zu Proust). Dieser Workshop wurde veranstaltet von dem von Renate Schlesier geleiteten Teilprojekt C7 »Inspiration und Subversivität. Künstlerische Kreation als ästhetisch-religiöse Erfahrung« des Sonderforschungsbereiches 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« in Kooperation mit dem Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin. Finanziert wurde der Workshop von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Drucklegung wurde mit Zuschüssen des Sonderforschungsbereiches 626 ermöglicht. Hierfür sowie für die anregenden Diskussionen der Teilnehmer und die Unterstützung von Renate Schlesier danken wir herzlich.

Berlin, im Februar 2010 C.T. und R.S.M.

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I. Philosophie

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Erfahrung des Unaussprechlichen Einige Überlegungen zum Mystischen in der gegenwärtigen Ästhetik HANS STAUFFACHER Dass Begriffe wie Präsenz, Erscheinung, Ereignis, Epiphanie, Widerfahrnis, Entzug und Ekstase seit einiger Zeit ins Zentrum ästhetischer Theoriebildung gerückt sind, scheint nahezulegen, dass die philosophische Ästhetik der Gegenwart vermehrt auf Denkfiguren zurückgreift, die der Tradition der abendländischen Mystik entstammen oder zumindest eine deutlich erkennbare Verwandtschaft zu dieser aufweisen. Scheinbar eindeutige Beispiele dafür sind leicht zu finden: »Mit dem Wort ›ästhetisch‹«, schreibt etwa Hans Ulrich Gumbrecht, »nehmen wir Bezug auf Epiphanien, die es bewirken, dass wir zumindest für einen Moment nicht nur mit dem Geist, sondern auch mit dem Körper davon träumen, es ersehnen und uns vielleicht sogar daran erinnern, wie vortrefflich es wäre, in unserem Leben im gleichen 1 Rhythmus zu schwingen wie die Dinge dieser Welt«. Dieter Mersch schreibt über das Schöne und das Erhabene: Ihr Ort ist die Aisthesis, ihr Zeitmodus der Augen-Blick, ihr ontologischer Status die Singularität. [Sie] beziehen sich [auf] ein Anfallendes oder Entgegenkommendes, das in Bann schlägt und dessen Macht sich nicht zu entziehen ist. […] Wesentlich sind deshalb nicht die unterschiedlichen theoretischen Konzeptionen der Schönheit oder des Sublimen, sondern ihr Durchriss auf eine Alterität hin. […] Was sich darin enthüllt, ist die Phänomenalität des »Dass« (quod) […] als Ereignis von Ex-sistenz, das (sich) zeigt, (sich) gibt, noch bevor etwas als etwas ausgezeichnet oder als etwas identifiziert ist. Die 2 Ontologie des Auratischen erfüllt sich in solchem Ereignen.

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Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, S. 138f. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchung zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002, S. 142f.

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Hans Stauffacher

Und »Kunst«, schreibt Martin Seel, präsentiert Präsenz, indem sie Präsenz produziert. Im Ereignis ihrer Werke bringt sie jene Konstellationen des Möglichen und Unmöglichen, Anwesenden und Abwesenden durcheinander, die wir als Realität unserer Zeit zu erfahren gewohnt sind. Indem sie so mit dem Gleichlauf des Wirklichen bricht, führt sie auf und führt sie vor, wie sehr das Wirkliche ein Mögliches und das Mögliche ein Wirkliches […] wie offen der Lauf der Zeit und die Ordnung der 3 Dinge tatsächlich ist.

Obwohl es aber offensichtlich zu sein scheint, dass solche Versuche, das Ästhetische und die Kunst bzw. deren Erfahrung als Ereignis, Epiphanie und augenblickshafte Präsenz zu fassen, einen Bezug – oder zumindest eine Affinität – zur Tradition der abendländischen Mystik aufweisen, so bleibt dieser Befund doch rätselhaft: Als mystisch bezeichnet man gemeinhin Denk- bzw. Erfahrungsformen aus der Sphäre des Religiösen und denkt dabei für die christlich-abendländische Tradition an Namen wie Dionysius Areopagita, Meister Eckhart oder Angelus Silesius. Dass sie in diesem Sinne mystisch seien, kann von aktuellen theologischen Ästhetiken gesagt werden, die sich selbst in diese Tradition stellen und über das Mystische einen Zugang zu den Phänomenen gegenwärtiger Kunst suchen.4 Die ästhetischen Theorien von Gumbrecht, Mersch und Seel aber, die hier beispielhaft für viele stehen und in ihrer Unterschiedlichkeit zugleich die Bandbreite gegenwärtiger Ästhetik andeuten sollen, verorten sich nicht selbst in der abendländisch-christlichen Mystiktradition, ja sie nehmen nicht einmal explizit Bezug auf diese. Die sich aufdrängende mystische Interpretation der genannten Begriffe und Motive entspricht nicht nur nicht der Intention dieser Autoren, sondern wird von ihnen zum Teil sogar ausdrücklich als Missverständnis zurückgewiesen5 und lässt sich im Einzelnen immer auch durch eine andere, ebenso einleuchtende Interpretation ersetzen. So lässt sich das, was zunächst als mystisch erscheint, in zumindest zwei

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Martin Seel: »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung. Fünf Thesen«, in: Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg 2004, S. 73-81, hier S. 78. Vgl. z.B. Horst Schwebel: »Bildverweigerung im Bild. Mystik – eine vergessene Kategorie in der Kunst der Gegenwart«, in: Andreas Mertin/Horst Schwebel (Hg.), Kirche und moderne Kunst, Frankfurt a. M. 1988, S. 113-123. Vgl. z.B. D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 147.

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Erfahrung des Unaussprechlichen

der drei Beispiele etwa aus der Auseinandersetzung mit Heidegger erklären, dessen Denken nach der ›Kehre‹ im Zeichen des Ereignisses seinerseits eine mystische Dimension aufweist,6 oder aber schlicht als Ausdruck der allerorten konstatierten ›Wiederkehr des Religiösen‹.7 Dass dennoch der nicht von der Hand zu weisende Eindruck entsteht, dass diese Ästhetiken wesentlich mystisch seien oder zumindest Denkfiguren aus der Tradition der christlichen Mystik eine zentrale Bedeutung einräumten, bleibt erklärungsbedürftig. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diesen merkwürdigen Befund zu verstehen. Dabei soll weniger nach der mystischen Herkunft oder dem mystischen Gehalt einzelner Begriffe und Motive, als vielmehr nach Strukturanalogien zwischen dem Denken der abendländischen Mystik und der gegenwärtigen Ästhetik gefragt werden, die zu erklären vermögen, warum ausgerechnet vom antimetaphysischen Selbstverständnis der Philosophie des 20. Jahrhunderts geprägte und weiterhin unter dem erfahrungsästhetischen Paradigma stehende Ästhetiken wie diejenigen von Gumbrecht, Mersch und Seel mystische Züge aufzuweisen scheinen. Die unzähligen Facetten des notorisch vieldeutigen und schwer zu fassenden Begriffs Mystik lassen sich zwar kaum auf einen Nenner bringen,8 dennoch lassen sich aber einige zentrale Grundzüge dessen benennen, was im Bereich christlicher Religiosität und Theologie gemeinhin unter Mystik verstanden wird.9 Mystisches Denken bezieht sich auf ein Erscheinen des Absolu6

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Vgl. dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: »Mystik ohne Gott. Heideggers Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«, in: Wiebke Amthor/Hans R. Brittnacher/Anja Hallacker (Hrsg.), Profane Mystik? Andacht und Ekstase in Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 53-72. Schmidt-Biggemanns idealtypischer Darstellung der Hauptcharakteristika abendländischer Mystik verdanken vorliegende Überlegungen viel. Für Gumbrecht zeigt beides Roberto Sanchiño Martínez: »›Die Produktion von Präsenz‹. Einige Überlegungen zur Reichweite des Konzepts der ›ästhetischen Erfahrung‹ bei Hans Ulrich Gumbrecht«, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.), Ästhetische Erfahrung. Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006 [http://www.sfb626.de/ veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/index.html]. Vgl. dazu Alois M. Haas: »Was ist Mystik?«, in: Kurt Ruh (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, Stuttgart 1986, S. 319-341. Zum spannungsreichen Verhältnis von Mystik und Theologie vgl. Alois M. Haas: Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt a. M. 1996, S. 37-76.

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Hans Stauffacher

ten, hängt dabei von der dialektischen Logik der negativen Theologie ab und weist darüber hinaus stets folgende miteinander verbundenen Charakteristika auf: eine ereignishafte Zeit- und rezeptiv-passive Handlungsstruktur, die Verschmelzung von Subjekt und Objekt sowie die Betonung von Ekstase und Gelassenheit. Christliche Theologie steht immer schon vor der Herausforderung, sich mit begrifflichen Mitteln in ein Verhältnis zu dem als absolut gesetzten Gott zu setzen. Das Absolute als das definitionsgemäß vollständig ›Losgelöste‹ aber kann deshalb nicht begrifflich erfasst werden, weil es durch jede Bestimmung in ein Verhältnis zu etwas gesetzt und damit seine Absolutheit verlieren würde.10 In Reaktion darauf ist der Grundgedanke der negativen Theologie ein vollständiges Prädikationsverbot für das Absolute: Mit menschlicher Sprache kann Gott niemals angemessen charakterisiert werden. Es ergibt sich die paradoxe Sachlage, »dass das absolut Größte«, wie es bei Nikolaus von Kues heißt, »nur in nichtergreifender Weise erkennbar und ebenso nur in nichtbenennender Weise benennbar ist.«11 Doch die Theologie wie überhaupt der religiöse Diskurs kann natürlich nicht einfach auf die Kategorie des Absoluten, des Göttlichen verzichten – dieses muss ja irgendwie affizierbar sein – und auch nicht in einer anderen Sprache als der begrifflichen über sie sprechen. Das Absolute muss seinem Wesen nach unerreichbar sein – sonst wäre es nicht absolut – und gleichzeitig erreichbar – sonst wäre es nicht affizierbar und hätte dann für den Menschen auch keinerlei Bedeutung. Daraus erwächst das Bedürfnis nach einer Möglichkeit, das Absolute jenseits (oder diesseits) der begrifflichen Sprache unmittelbar zu erfahren. Wenn man nun aus dieser betont theoretischen Perspektive auf ein Phänomen, das sich seiner Eigenlogik nach dem Theoretischen stets entzieht, das Wesen der Mystik aus der Aporie erklärt, in die sich das begriffliche Denken beim Versuch, das Absolute begrifflich zu erfassen, zwangsläufig begibt, ergeben sich daraus notwendig die genannten Grundcharakteristika des mystischen Denkens: Erfahrung des Absoluten kann, da dieses ja absolut ist und bleiben soll, letztlich nur durch Vereinigung mit ihm, in der 10 Vgl. dazu Gunnar Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt a. M. 2008, bes. S. 19-24. 11 »[…] maximum absolute incomprehensibiliter intelligibile pariter et innominabiliter nominabile esse.« Nikolaus von Kues: De docta ignorantia/Die belehrte Unwissenheit, Philosophisch-theologische Werke, Hamburg 2002, Bd. 1, S. 20.

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Erfahrung des Unaussprechlichen

unio mystica, geschehen und diese kann vom mystischen Subjekt nicht planvoll herbeigeführt werden (was wiederum der Absolutheit des Absoluten widerspräche). Vielmehr muss ihm das Absolute von sich aus erscheinen, wobei dies plötzlich und unerwartet geschehen muss. Die mystische Erfahrung des Absoluten muss ereignishaft in dem Sinne sein, dass sich das Absolute schlagartig und nur für einen Augenblick in einer Weise vollständig offenbart, die als das schlechthin Unvordenkliche und Neue die Strukturen des Denkens, die Logik, sprengt und sich demgemäß auch nachträglich immer nur annähernd und niemals angemessen versprachlichen lässt. Sie kann dabei nicht in der gewohnten Zeitstruktur aufgehen; sie entspricht einem nicht festzuhaltenden Augenblick, der insofern reine Gegenwart bleiben muss, als er aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem begrifflichen Denken weder Vergangenheit noch Zukunft haben kann. Die mystische Erfahrung des Absoluten kann darüber hinaus nicht von einem selbstbestimmten Subjekt gemacht werden, da dieses, wenn es als Subjekt sich das Absolute zum Objekt machte, dessen Absolutheit aufheben würde. Um sich mit dem Absoluten augenblickshaft zu vereinigen und dieses so unmittelbar zu erfahren, muss das Subjekt deshalb aus sich selbst heraustreten und seine Subjektivität zusammen mit dem begrifflichen Denken abstreifen. Das Erreichen dieser Ekstase, dieses momentanen Heraustretens aus sich selbst liegt dabei zwar nicht in der Macht des Subjekts, sondern muss diesem vom Absoluten her widerfahren, dennoch aber ist vom Subjekt zumindest die Bereitschaft gefordert, diese Erfahrung zu machen; die Bereitschaft, sich selbst zeitweise zu verlieren und mit dem begrifflichen Denken auf jegliche Kontrolle über sich selbst und seinen Weltbezug zu verzichten. Mystische Erfahrung des Absoluten setzt deshalb die Gelassenheit dessen voraus, der bereit ist, sich selbst aufs Spiel zu setzen, um eine Erfahrung machen zu können, deren tatsächliches Eintreten er nicht vorauszusehen oder gar herbeizuführen vermag, weil es allein in der Macht des Absoluten liegt, der er sich ausliefert. Die Frage, ob und inwiefern solche Erfahrungen tatsächlich gemacht werden, ist hier nicht relevant (und wenn sie gemacht würden, wären sie ja ihrem Wesen nach ohnehin nicht begrifflich zu fassen). Wichtig ist allein, dass die Forderung nach dem Heraustreten aus den Strukturen des begrifflichen Denkens, nach der Überschreitung der Grenzen des theoretisch Erfassbaren, aus ebendiesem begrifflichen Denken erwächst, und auf einer Aporie des Theoretischen beruht. Die betont theorieferne mystische Pra-

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Hans Stauffacher

xis, die mystische passio als reine Erfahrung, ist ein theoretisches Postulat. Das begriffliche Denken strebt aufgrund eines immanent nicht aufzulösenden Widerspruchs über sich selbst hinaus in einen Bereich jenseits des Fassbaren und muss dann den wiederum aporetischen und paradoxen Versuch machen, die dort gemachte Transzendenzerfahrung in begriffliche Sprache zurück zu überführen. Was aber hat dies alles mit der ihrem Selbstverständnis nach weder theologischen noch metaphysischen ästhetischen Theoriebildung der Gegenwart zu tun? Die eingangs konstatierte Häufung mystisch anmutender Begriffe und Motive beschränkt sich im Wesentlichen auf die letzten Jahre, während in den Jahrzehnten zuvor – grob gesprochen in der Zeit zwischen Adornos Ästhetischer Theorie und der Jahrtausendwende – solche Begriffe und Denkfiguren kaum eine Rolle spielen. Es liegt daher nahe, die Frage nach dem Mystischen in der Gegenwartsästhetik ein Stück weit historisch anzugehen. Der für die philosophische Ästhetik der letzten Jahrzehnte zentrale Paradigmenwechsel ist zweifelsohne die Anfang der 1970er Jahre vor allem durch Hans Robert Jauß und Rüdiger Bubner angestoßene Hinwendung zu einer Theorie ästhetischer Erfahrung.12 Bubner kritisiert an den philosophischen Ästhetiken seit Hegel und insbesondere an denjenigen der kritischen Theorie und der philosophischen Hermeneutik, dass »ihre durchgängige Bezugnahme […] auf den Wahrheitsbegriff und damit auf Philosophie […] eine Majorisierung der Theorie der Kunst durch philosophische Begrifflichkeit« darstellten, und bezeichnet solche Ästhetiken, die »die Theorie der Kunst nicht autonom aufbauen, sondern […] einer Fremdbestimmung durch einen Vorbegriff von Philosophie […] unterwerfen«, als »heteronom«.13 Dass dem entgegen die philosophische Ästhetik eine nicht heteronome Kunsttheorie entwickeln müsse, deren Modell er in Kants Kritik der Urteilskraft vorgebildet sieht, ergibt sich für Bubner daraus, dass heteronome, also durch philosophische Denkweisen und Terminologie überformte, Ästhetiken der Kunst nicht in ihrer Autonomie gerecht würden. Unter Verweis darauf, dass Wahrheitsästhetiken einen starken Werkbegriff voraussetzen, die 12 Vgl. Hans Robert Jauß: Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz 1972, und Rüdiger Bubner: »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«, in: ders.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989, S. 9-51. Zur Geschichte der Erfahrungsästhetik vgl. als Überblick Georg Maag, »Kleine Geschichte des Begriffs ›ästhetische Erfahrung‹«, in: Semiosis 91-92 (1998), S. 133-143. 13 R. Bubner: »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«, S. 31.

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Erfahrung des Unaussprechlichen

zeitgenössische Kunst aber auf eine »Überwindung und Sprengung der herkömmlichen Werkeinheit ziele«,14 kommt Bubner zu folgendem Schluss: [A]ls methodischer Weg [bleibt] allein der Ausgang von der ästhetischen Erfahrung übrig. Das ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Hypostasierung sinnspendender Werke und auf die Majorisierung der Kunst durch philosophische Begrifflichkeit. Die Analyse ästhetischer Erfahrung hält sich strikt an die Wirkung, die von ästhetischen Phänomenen ausgeht und in der allein ›Kunst‹ zum Bewusstsein kommt, und sie bleibt allen weiteren Annah15 men gegenüber abstinent.

Diese Konzeption einer nicht heteronomen Ästhetik ist nun nicht nur dezidiert antimetaphysisch, sie ist in ihrem Bestreben, von allen philosophischen Vorbestimmungen wegzukommen, auch radikal antihermeneutisch, denn sie schließt mit dem Rückgriff auf den Wahrheitsbegriff und geschichtsphilosophische und metaphysische Prämissen, den sie der Ästhetik von Hegel bis Adorno vorhält, jedes Verstehen der Kunst oder überhaupt eines Objekts ästhetischer Erfahrung kategorisch aus. Allein »die Wirkung, die von ästhetischen Phänomenen ausgeht« darf noch Gegenstand ästhetischer Theoriebildung sein. Diese radikale Selbstbeschränkung der philosophischen Ästhetik auf die Analyse ästhetischer Erfahrung hat sich als äußerst diskursmächtig erwiesen, doch der Preis, den die Ästhetik im Zeichen der Autonomie der Kunst für ihre Abstinenz philosophischen Prämissen gegenüber zahlt, ist hoch: Denn wenn sie von jeder philosophisch-begrifflichen Bestimmung der Kunst oder des ästhetisch erfahrenen Objekts absieht, beraubt sich die Ästhetik selbst dessen, was seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ihr Hauptgegenstand war. Die Selbstbeschränkung der Erfahrungsästhetik kommt letztlich einem Prädikationsverbot für Kunst gleich. Kunst kann nicht mehr begrifflich erfasst – sie kann nur noch unmittelbar erfahren werden. Dies kritisiert auch Martin Seel, wenn er – fast zwanzig Jahre vor den hier zu Beginn zitierten Sätzen – sich zwar der Zurückweisung der Wahrheitsästhetiken anschließt, die er als »Überbietungsästhetiken« qualifiziert, sich aber in expliziter Absetzung von Bubner im Gegenzug auch vehement gegen »Entzugsästhetiken« stellt, die

14 Ebd., S. 33. 15 Ebd., S. 34.

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Hans Stauffacher eine spezifische Rationalität des ästhetischen Verhaltens bestreiten im Namen eines exklusiven Konzepts der reinen Reflexion bzw. sprachlosen Intensität, worin sich die ästhetische Wahrnehmung verliert, indem sie sich freispielt aus den Bedeutungen und Begriffen eines kognitiven Weltverständnisses. […] Eine […] Logik der ästhetischen Argumentation kann es demnach nicht geben, weil eine solche Ergründung die ästhetischen Gegenstände auf Träger umgrenzter Bedeutungen reduzieren und damit ihren scheindichten Glanz verleugnen würde, den sie als Medien der ästhetisch gebannten Wahr16 nehmungspräsenz entbindend und entfesselnd erhalten.

Das Prädikationsverbot für Kunst, zu dem die Erfahrungsästhetik aufgrund ihres radikalen Autonomiepostulats gelangt, erweist sich so als strukturanalog zu dem Prädikationsverbot für Gott, das die Negative Theologie in Reaktion auf die Undenkbarkeit des Absoluten ausspricht. Die Kunst erhält durch das Postulat ihrer auf keinen Fall durch begriffliches Erfassen zu verletzenden Autonomie einen Theoriestatus, der demjenigen des Absoluten in der negativen Theologie vergleichbar ist, und es wird in demselben Sinn, wie es unmöglich ist, Aussagen über Gott zu machen, unmöglich, Aussagen über Kunst zu machen. Mit der Möglichkeit, Aussagen über Kunst zu machen, entfällt aber auch diejenige, über den Bezug der Kunst zu außerkünstlerischen Bereichen, zur Gesellschaft etwa, nachzudenken. Kunst wird zu einem hermetisch abgeschlossenen Etwas, das – wie das Göttliche für die negative Theologie – für das Denken eigentlich ein Nichts ist. Kunst kann nicht mehr im aktiven Modus des Verstehens thematisiert werden und auch der Versuch, sie vom Nichtverstehen her zu 17 denken, etwa mit Adorno von ihrem »Rätselcharakter« her, zieht den Heteronomievorwurf auf sich. Es bleibt allein der rezeptivpassive Modus der Erfahrung, die auch nachträglich begrifflich höchstens anzudeuten, nicht aber zu erfassen ist. Im Sinne dieser Strukturanalogie liegt es nun nahe, dass so, wie das religiöse Denken auf die Aporie der Negativen Theologie mit Konzepten mystischer Erfahrung reagiert, die ästhetische Theoriebildung durch das Autonomiepostulat der Erfahrungsästhetik auf den Versuch geführt wird, ästhetische Erfahrung im Zeichen von Ereignis, Epiphanie und augenblickshafter Präsenz zu denken. So lässt sich erklären, warum – während sich Bubner auch mystischen Denkfiguren gegenüber an sein Abstinenzgebot

16 Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt a M. 1985, S. 46f. 17 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, S. 183ff.

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gehalten hat – die zweite Generation der Erfahrungsästhetiker beim Versuch, wieder über Kunst und auch über deren Rolle im gesellschaftlichen Zusammenhang zu sprechen, anstatt sich allein der Messung der Wirkung zu widmen, die von ästhetischen Phänomenen ausgeht, zu denjenigen Denkfiguren gelangt, die den Eindruck einer mystischen Dimension der gegenwärtigen Ästhetik erzeugen. Und es erstaunt dementsprechend auch kaum noch, dass die genannten Grundzüge des Mystischen – ereignishafte Zeit- und rezeptiv-passive Handlungsstruktur, Verschmelzung von Subjekt und Objekt, Ekstase und Gelassenheit – in der philosophischen Ästhetik der Gegenwart sämtlich zu finden sind: Für Martin Seel, für den die Zeitstruktur ästhetischer Erfahrung wesentlich durch ihren Ereignischarakter bestimmt ist, sind Ereignisse »Unterbrechungen des Kontinuums der biographischen und historischen Zeit. […] [S]ie erzeugen Risse in der gedeuteten Welt. […] Indem sie etwas plötzlich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken, sind sie ein Aufstand der Gegenwart gegen die 18 übrige Zeit«. Dieter Mersch schreibt über das, was er »erfahrbare Aussetzung ins Andere« nennt: Die Aura geschieht. Dabei setzt die Einlassung ins Auratische die Sprengung des neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Gefüges voraus […]: Nicht wir sehen oder hören und textuieren das Gehörte oder Er-Blickte, vielmehr werden wir durch das Ge-Gebene allererst angeschaut oder angesprochen. Der Richtungswech19 sel impliziert den Übergang von der actio zur passio.

Und Hans Ulrich Gumbrecht beschwört die »Intensität« und »Präsenz« ästhetischen Erlebens und reflektiert über deren Voraussetzungen: Erlösung [ist] ein Zustand, zu dem man durch das Paradoxon der Ekstase gelangt, also indem man ein Anfangsverhältnis, eine gegebene Situation der Distanz, bis zu einem Extremgrad der Exzentrizität oder gar des Taumels treibt und darauf hofft, auf diese Weise eine Vereinigung – oder, was noch 20 besser wäre, eine Präsenz-in-der-Welt – herbeizuführen […]. […] Gelassenheit gehört sowohl zu der Einstellung, mit der wir uns für das ästhetische Erleben öffnen sollten, als auch zu dem existentiellen Zustand, 21 den wir durch ästhetisches Erleben erreichen können.

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M. Seel: »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung«, S. 75. D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 143. H.U. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 159f. Ebd., S. 137f.

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Diese Erklärung der mystisch anmutenden Züge gegenwärtiger Ästhetik ist nun freilich grob schematisch und unterschlägt die erhebliche Unterschiede, die trotz aller Analogien zwischen religiöser Mystik und dem bestehen, was als das Mystische in der gegenwärtigen Ästhetik erscheint: So sind einerseits, während die christliche Mystik, trotz ihrer Betonung des Nicht-Diskursiven mit einem wesentlich geistigen Erfahrungskonzept operiert, gerade Reflexionen über die Materialität des ästhetischen Objekts oder des Mediums und über die Körperlichkeit des Subjekts der ästhetischen Erfahrung von zentraler Bedeutung, die gewissermaßen an diejenige Stelle treten, an der die Zurückweisung des Werkbegriffs eine Lücke gerissen hat. Eine sich gegen ihre Versprachlichung stemmende Materialität des Ästhetischen wird nicht nur gegen die Bubner’sche Abstinenzästhetik in Stellung gebracht, sondern insbesondere auch gegen den französischen Poststrukturalismus, dem eine nicht sprachlich verfasste Materialität jenseits des Textes und diesseits der Hermeneutik entgegengehalten wird. Und so fehlt andererseits in der gegenwärtigen Ästhetik gerade die theistische Dimension, die die christliche Mystik wesentlich bestimmt. Auch wenn von Erlösung und Epiphanie die Rede ist, geht es in der gegenwärtigen Ästhetik kaum um die Bezugnahme auf einen theistisch gedachten Gott, sondern eher um eine Art pantheistisch-weltzugewandter Spiritualität.22 Die Strukturanalogie zwischen gegenwärtiger Ästhetik und traditioneller Mystik betrifft allein die Reaktion auf ein aus unterschiedlichen Gründen formuliertes Prädikationsverbot, dem mit Konzeptualisierungen unmittelbarer Erfahrung begegnet wird. Die jeweiligen Gegenstände dieser unmittelbaren Erfahrung – auf der einen Seite der absolut gedachte Gott, auf der anderen die Kunst in ihrer nicht zu verletzenden Autonomie – verbleiben auf sehr unterschiedlichen Ebenen.23

22 Vgl. dazu Christian Demand: »Kunstliturgien«, in: Merkur 1(2006), S. 6066. 23 Zudem berücksichtigt diese grob schematische Darstellung auch nicht, dass die als Beispiel angeführten Ästhetiken unterschiedlicher kaum sein könnten. Um ihnen im Einzelnen gerecht zu werden, müsste man genau zwischen affirmativen und negativen, zwischen existenzphilosophischen und rationalitätstheoretischen, zwischen kryptoreligiösen und lebensweltlich orientierten, sowie zwischen auf ästhetischen Genuss und auf kathartisches Leiden abzielenden Entwürfen unterscheiden und die sehr unterschiedlichen Bezugnahmen auf Heidegger und Adorno, auf die angelsächsische und analytische Tradition, auf den französischen Poststrukturalismus und auf Hegel und Kant ebenso berücksichtigen wie die

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Es handelt sich bei dem, was im ästhetischen Diskurs der Gegenwart als mystisch erscheint, trotz aller Parallelen also nicht um eine Fortschreibung der abendländisch-christlichen Mystiktradition mit ästhetischen Mitteln. Wenn man von Seel, Gumbrecht oder Mersch sagen kann, dass einige ihrer Denkfiguren mystisch seien, dann nur in dem sehr allgemeinen Sinn des Wittgensteinschen Diktums »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische«.24 Es besteht keine direkte Verwandtschaft zwischen diesen Autoren und der Tradition der abendländischen Mystik, sondern über die Konzeptualisierung unmittelbarer Erfahrbarkeit eines nicht Prädizierbaren lediglich so etwas wie eine diffuse gemeinsame Abstammung. Die Strukturanalogie verdankt sich einem grundlegenden Problem begrifflichen Denkens, das letztlich weder in der christlichen Theologie noch in der Ästhetik seine Wurzeln hat, sondern als beiden vorgängig zu denken ist. Der paradoxe Versuch, der aporetischen Dialektik des Absoluten zu entgehen, indem man das Begriffliche überschreitet und sich jenseits des Denkens – oder diesseits der Hermeneutik – der Erfahrung des Unsagbaren überlässt und diese dann so gut wie eben möglich in die begriffliche Sprache überführt, die von dieser Aufgabe semantisch und logisch überfordert bleibt, reagiert auf eine Aporie, die das begriffliche Denken im Ganzen betrifft, seine Grenzen aufzeigt und es letztlich immer zwingt, über sich hinauszustreben.25 Es ist die Frage nach dem ersten Anfang oder dem letzten Grund unseres begrifflichen Denkens, das wesentlich von einer kausalen Logik sowie vom ›Satz vom Widerspruch‹ bzw. vom ›Satz vom ausgeschlossenen Dritten‹ bestimmt ist: Als wahre Aussagen gelten uns nur solche, die begründet sind und das heißt im Rekurs auf einen Grund bestätigt werden können, der seinerseits

Tatsache, dass das Spektrum der Gegenstände, angesichts derer nach diesen Theorien ästhetische Erfahrungen gemacht werden, von Sportveranstaltungen bis zu John Cages Four minutes, thirty-three seconds reicht. 24 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 85. 25 Hier treffen sich meine Überlegungen in gewisser Weise mit denjenigen von Reinhard Margreiter: Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung, Berlin 1997 (vgl. insbesondere S. 487-520), der Mystik als eine »Implosion des symbolisch-medialen Prozesses« versteht, die sich in allen Bereichen des symbolischen Denkens als Resultat gesteigerter Selbstreflexivität ereignen kann. Vgl. dazu auch ders. »Mystik im Spannungsfeld symbolischer Formen«, in diesem Band S. 29-41.

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begründet werden muss. Die sich ergebende unendliche Begründungskette verunmöglicht in letzter Konsequenz jede Begründung und entzieht so dem begrifflichen Denken seine Grundlagen – es sei denn, es fände sich ein erster bzw. letzter Grund, in dem alle Begründungsketten zusammenlaufen. Dieser letzte Grund dürfte von keinem anderen mehr abhängen und durch nichts bestimmt sein als durch sich selbst und wäre über dem Begrifflichen stehend begrifflich nicht zu erreichen. Er wäre nicht denkbarer, unaussprechlicher Grund des Denkens. In der Geschichte der Philosophie ist es vor allem der Deutsche Idealismus, der dieses Grundproblem in immer neuen Anläufen unter dem Begriff des Absoluten verhandelt; als ›Tathandlung‹ des absoluten Ich bei Fichte, als ›Identität der Identität und der Nichtidentität‹ bei Hegel, als ›Ungrund‹ bei Schelling. Doch das philosophische Ringen um einen sich selbst bestimmenden und deshalb jenseits des Begrifflichen stehenden ersten Anfang oder letzten Grund reicht nicht nur – über Jacobis ›Salto mortale‹ und Spinozas Substanz bis zum Einen Plotins und Aristoteles’ Unbewegtem Beweger – zurück bis zu den Anfängen der Philosophie. Obwohl im 20. Jahrhundert der Begriff des Absoluten für die Philosophie kaum noch eine Rolle spielt und trotz aller Versuche, das grundlegende Problem, das sich im Versuch zeigt, das Absolute zu denken, im Zeichen einer ›Überwindung der Metaphysik‹ als ›Scheinproblem‹ beiseite zu schieben (was, vereinfacht gesagt, im Feld der Ästhetik der Bubner’schen Position entspräche), bleibt dieses, da von ihm das begriffliche Denken als Ganzes abhängt, weiterhin virulent.26 Es steht hinter Heideggers Seinsfrage ebenso wie hinter Adornos Nichtidentischem und Derridas différance. Insofern das begriffliche Denken nach seinem ersten Anfang oder letzten Grund strebt, strebt es über sich selbst hinaus und betreibt die Negation und Aufhebung seiner selbst. Als Reaktion darauf, dass das Überschreiten der Grenzen des Denkbaren nicht denkend geschehen kann, ist die Bewegung der Mystik zu lesen, das sich passiv-rezeptiv der Erfahrung Überlassen. In diesem Sinne sind die genannten Denkfiguren und Motive von Gumbrecht, Mersch oder Seel, als mystisch zu bezeichnen.27 26 Vgl. dazu ausführlich G. Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt. 27 Dieser ›mystische‹ Weg des Umgangs mit der Aporie des über sich selbst hinausstrebenden Denkens ist freilich keineswegs der einzig mögliche und auch bei weitem nicht der in der neueren Geschichte der Philosophie dominante. Vielmehr sind es vor allem Versuche wie Adornos denkende Negation des Denkens oder Derridas Dekonstruktion des logozentrischen Denkens, die das Erbe des idealistischen Ringens mit dem

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Und darin liegt auch, dass das, was als das Mystische in der gegenwärtigen Ästhetik erscheint, weit über diese hinausgreift und sich als spezifische Reaktion auf die Aporien der erfahrungsästhetischen Wende in den Kontext einer im Zeichen der Aporien des ›nachmetaphysischen Denkens‹ vielerorts festzustellenden Rückbesinnung auf das Mystische zu stellen ist. Das Mystische, das in einigen Denkfiguren der gegenwärtigen Ästhetik aufscheint, scheint in gewisser Weise etwa auch dann auf, wenn Derrida vom diskursiv nicht einholbaren und nicht mehr dekonstruierbaren »fondement mystique de l’autorité« spricht, von dem aus jenseits der Dekonstruktion des logozentrischen Denkens eine andere Gerechtigkeit und eine »démocratie à venir« zu denken wären.28 Oder wenn Ernst Tugendhat im Rückgang auf die grundlegendsten Fragen von Anthropologie und Ethik seit einiger Zeit dem Mystischen ebenfalls eine zentrale Bedeutung zumisst.29 Und dass Derrida und Tugendhat dabei weniger auf christliche als vor allem auf jüdische bzw. buddhistische und taoistische Mystiktraditionen zurückgreifen, mag den Gedanken unterstreichen, dass das Mystische in der Philosophie der Gegenwart weniger aus dem direkten Bezug auf eine mystische Tradition als aus einem Bedürfnis erwächst, das in den Aporien des begrifflichen Denken wurzelt.

Absoluten angetreten haben. Dass auch von diesen Versuchen aus für die Ästhetik der Gegenwart Möglichkeiten des Umgangs mit den Aporien der Erfahrungsästhetik gefunden werden können, zeigt Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a. M. 21991. 28 Vgl. Jacques Derrida: Force de loi. Le »fondement mystique de l’autorité«, Paris 1994 und ders.: Résistances de la psychanalyse, Paris 1997, S. 116-125. Zur Frage nach dem Verhältnis von Dekonstruktion und negativer Theologie vgl. ders.: »Comment ne pas parler. Dénégations«, in: Psyché. Inventions de l'autre, Paris 1987, S. 535-595. 29 Vgl. Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003, sowie ders.: »Über Mystik. Vortrag anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises«, in: Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 176-190.

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Literatur Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970. Bubner, Rüdiger: »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik«, in: ders.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989, S. 9-51. Demand, Christian: »Kunstliturgien«, in: Merkur 1(2006), S. 6066. Derrida, Jacques: »Comment ne pas parler. Dénégations«, in: Psyché. Inventions de l'autre, Paris 1987, S. 535-595. Derrida, Jacques: Force de loi. Le »fondement mystique de l’autorité«, Paris 1994. Derrida, Jacques: Résistances de la psychanalyse, Paris 1997. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004. Haas, Alois M.: »Was ist Mystik?«, in: Kurt Ruh (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, Stuttgart 1986, S. 319-341. Haas, Alois M.: Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt a. M. 1996. Hindrichs, Gunnar: Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt a. M. 2008. Jauß, Hans Robert: Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz 1972. Maag, Georg: »Kleine Geschichte des Begriffs ›ästhetische Erfahrung‹«, in: Semiosis 91-92 (1998), S. 133-143. Margreiter, Reinhard: Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung, Berlin 1997. Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a. M. 21991. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchung zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002. Nikolaus von Kues: De docta ignorantia/Die belehrte Unwissenheit, Philosophisch-theologische Werke, Bd. 1, Hamburg 2002. Sanchiño Martínez, Roberto: »›Die Produktion von Präsenz‹. Einige Überlegungen zur Reichweite des Konzepts der ›ästhetischen Erfahrung‹ bei Hans Ulrich Gumbrecht«, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.), Ästhetische Erfahrung. Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006 [http:// www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/ index.html].

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Schmidt-Biggemann, Wilhelm: »Mystik ohne Gott. Heideggers Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«, in: Wiebke Amthor/Hans R. Brittnacher/Anja Hallacker (Hg.), Profane Mystik? Andacht und Ekstase in Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 53-72. Schwebel, Horst: »Bildverweigerung im Bild. Mystik – eine vergessene Kategorie in der Kunst der Gegenwart«, in: Andreas Mertin/Horst Schwebel (Hg.), Kirche und moderne Kunst, Frankfurt a. M.. 1988, S. 113-123. Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt a. M. 1985. Seel, Martin: »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung. Fünf Thesen«, in: Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg 2004, S. 73-81. Tugendhat, Ernst: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003. Tugendhat, Ernst: »Über Mystik. Vortrag anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises«, in: Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 176-190. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984.

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Mystik im Spannungsfeld symbolischer Formen REINHARD MARGREITER Ich werde im Folgenden das Phänomen der Mystik in den Kontext der Erkenntnis- und Kulturphilosophie Ernst Cassirers stellen. Sprache, Erkenntnis (begrifflich-theoretisches Denken), Mythos/Religion, Kunst und Technik werden von Cassirer als die wichtigsten symbolischen Formen genannt.1 Er versteht darunter Orientierungs- und Erfahrungstypen und ›Weisen des Weltverstehens‹. Die symbolischen Formen stehen nicht – wie die Kulturgestalten bei Hegel – in einem hierarchischen Verhältnis zueinander; sie stehen mehr oder minder gleichberechtigt nebeneinander und sind vergleichbar mit den Blättern einer Rosette (die das Bild für eine plurale und dennoch ineinander vernetzte Lebenswelt abgibt). Ihr Verhältnis ist das der Analogie: also der Ähnlichkeit, nicht schlechthinniger Gleichheit. Darüber hinaus sind die symbolischen Formen nicht statisch zu denken, sondern dynamisch. Es handelt sich um Repräsentationsprozesse, in denen Information und Kommunikation, aber auch Gefühle und Handlungsmöglichkeiten in je eigener Weise realisiert werden. Im Folgenden geht es um die strukturelle Spannung zwischen den symbolischen Formen, aber auch um einen bestimmten strukturellen Prozess, der sich innerhalb einer symbolischen Form abspielt: vor allem – aber nicht nur – innerhalb des mythisch-religiösen Symbolprozesses, dessen Resultat (nach Cassirer) die Mystik ist. Zu beginnen ist nun freilich mit der Frage: Was ist Mystik? Ich verzichte darauf, die komplexe Wort- und Begriffsgeschichte zu umreißen und auf die vielen und sehr unterschiedlichen Sprachspiel-Varianten von Mystik einzugehen.2 Und ich verzichte darauf, 1 2

Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bände, Berlin 1923-29. Vgl. Louis Bouyer: »Mystisch – Zur Geschichte eines Wortes«, in: Josef Sudbrack (Hg.), Das Mysterium und die Mystik, Würzburg 1988.

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Beispiele aus der Mystikforschung anzuführen, die unterschiedliche Merkmalskataloge für die so genannte mystische Erfahrung vorschlagen. Orientiert an klassischen Mystiktexten, namentlich von Meister Eckhart, habe ich in meinem Buch Erfahrung und Mystik einige solcher Merkmale angeführt.3 Sie ergeben in ihrer Zusammenschau ein idealtypisches Muster der Disposition und des Ablaufs bestimmter Gedanken, Gefühle und leiblicher Affektionen. Ich führe an: den Gedanken und das Gefühl von All-Einheit und Ich-Entgrenzung; die Negation der Kategorien: Raum, Zeit und Zahl, Vielheit, Gegenständlichkeit und Kausalität; das Moment gesteigerter Emotionalität (meist ist in den Texten von Liebe oder Ekstase die Rede); das Moment der metanoia, eine Art Identitätswandel, das Gefühl einer Neugeburt, des Eintritts in eine andere Realitätssphäre; (konstrastiv dazu und dialektisch damit verbunden) die Erfahrung von Leiden, Einsamkeit und Todesnähe; das Moment der Gelassenheit und Willenlosigkeit, was dennoch als höchste Freiheit und Harmonie erlebt wird; das Moment der Plötzlichkeit und Flüchtigkeit, der Unverfügbarkeit und Passivität; die Erfahrung eines gestuften Weges, eines Ablaufs, der methodisch vorbereitet – wenn auch nicht hergestellt und erzwungen – werden kann (die Stufung folgt meist dem neuplatonischen Dreischritt von askesis, photismos und henosis oder lat. purgatio, illuminatio und unio); das Münden der Mitteilung in Schweigen und/oder in apophatisches und paradoxales Sprechen; und: die Negation von – wie Meister Eckhart sagt – ›Bild und Weise‹, d.h. die Negation aller Vorstellungen, Begriffe und Gedanken. Daraus ergibt sich eine Intensität und Totalität eigener Art: die Inversion alles Denk- und Vorstellbaren, ein Kippen vom Sein ins Nichts und umgekehrt. Die angeführten Merkmale stellen – wenn auch noch ohne klare Ordnung – einen ersten phänomenologischen Aufriss der mystischen Erfahrung dar. Wie ist nun aber diese Erfahrung im Rahmen menschlicher Gesamterfahrung zu verstehen? Und welcher inneren Logik folgt sie? Ist Mystik das ganz Andere zur gewohnten, alltäglichen und wissenschaftlichen Erfahrung, oder ist sie – in welcher Weise auch immer – deren Fortsetzung und Konsequenz? Cassirers Philosophie der symbolischen Formen liefert auf diese Fragen eine mögliche Antwort. Sie liefert, wie ich darlegen möchte, dazu ein methodisches Rüstzeug und ein Verstehensmodell. Ich werde im Folgenden in drei Schritten vorgehen und diese 3

Vgl. Reinhard Margreiter: Erfahrung und Mystik, Berlin 1997.

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Symbolphilosophie kurz umreißen, Cassirers Interpretation der Mystik darlegen und zuletzt besagte Interpretation einer Kritik unterziehen und andeuten, wie der Cassirer’sche Ansatz modifiziert und – im Hinblick auf eine abgerundete Theorie der Mystik – weiter entwickelt werden könnte.

I. Philosophischer Ausgangspunkt für Cassirer ist die Erkenntnistheorie des Marburger Neukantianismus. Erkenntnistheorie aber wird von ihm als zu enger Ansatz empfunden, da sie die Breite und Vielfalt der Kultur und Lebenswelt unberücksichtigt lässt. Wahrnehmen und Erkennen, Wissen und Weltorientierung erfolgen nicht allein über den begrifflich-theoretischen Diskurs. Dieser ist nach Cassirer nur eine unter vielen symbolischen Formen und steht, wenngleich mit ihnen verzahnt, neben Sprache und Mythos, Kunst und Technik. Ein Symbol – stets in Gemeinsamkeit mit anderen Symbolen: in einem Symbolnetz, einem Symbolsystem – repräsentiert Realität, ohne diese direkt abzubilden (bzw. abbilden zu können, denn Cassirer geht, wie Kant, von der Unerkennbarkeit des Dings an sich aus). Symbolische Formen verweisen auf Realität – die auf außersymbolische Weise grundsätzlich nicht fassbar ist – und eröffnen je einen spezifischen Möglichkeitsraum, um Realität zu deuten und mit ihr umzugehen. Dies ist mit der materiellen oder stofflichen Dimension eines Symbolsystems verknüpft, das seinerseits nicht anders zu beschreiben ist wie ein Medium.4 Es hat eine Doppelstruktur, eine – wie Cassirer sagt – ›Synthese von Sinnlichkeit und Sinn‹. Es hat eine geistige und eine stoffliche Dimension. Und deren jeweilige Verbindung – Cassirer spricht von symbolischer Prägnanz – macht die jeweilige Eigenart des Symbolsystems aus. Ein Beispiel: Der Lautbestand einer Sprache ist ein sinnlich erzeugtes und sinnlich wahrgenommenes Material, das in seiner Selektion und Anordnung eine Semantik ausdrückt: etwas Ideelles, Geistiges, das zwar nicht unmittelbar aus den Eigenschaften des Lautmaterials resultiert, aber doch von diesen Eigenschaften her bedingt wird. Symbolische Prägnanzen eröffnen unterschiedliche Strukturfelder von Information und Kommunikation. Sie stellen fundamentale Kulturleistungen dar und bilden insgesamt das 4

Vgl. Reinhard Margreiter: Medienphilosophie. Eine Einführung, Berlin 2007, S. 32ff.

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Ensemble der menschlichen Kultur. Sie sind per definitionem künstlich und kontingent, und die innere Vielfalt der Kultur verdankt sich der Vielfalt symbolischer Formen. Diese sind, wie gesagt, keine starren, sondern stets in Fluss befindliche Formen, die sich eigenständig organisieren. In systemtheoretischer Terminologie ließe sich von autopoietischen Prozessen sprechen. Allgemein definiert Cassirer: Eine symbolische Form sei »jede Energie des Geistes […], durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird«.5 In der Symbolform Sprache entdeckt nun Cassirer einen dreistufigen Prozess, den man vorerst als das typologische Nebeneinander von drei Möglichkeiten sehen kann, Sprache zu verstehen und anzuwenden.6 Es handelt sich um die Sprachfunktionen mimetisch, analogisch und (eigentlich) symbolisch. Mimesis – die primäre und älteste Sprachfunktion und Sprachstufe – ist der Versuch einer unmittelbaren Vergegenwärtigung von Realität. Es ist ein magisch-mythisches Sprachverständnis, in welchem Realität durch Worte nicht einfach abgebildet, sondern beschworen wird. Gesagtes und Gegenstand sind eine undifferenzierte Einheit. Die analogische Sprachfunktion dagegen trennt das Symbol vom Symbolisierten, trennt den Stoffvom Formbegriff und versteht Denken und Sprechen als Möglichkeit, um unterschiedliche Weisen von Selektion und Konstruktion zu erproben. Zu einer maximalen Einsicht in die Natur von Sprache – nämlich als einer kontingenten und künstlichen Weltstiftung – gelangt allerdings erst die dritte Sprachfunktion, die eigentlich-symbolische. Der Schichtenaufbau und die Funktionendynamik von mimetisch, analogisch und eigentlich-symbolisch evoziert eine sprachliche Evolution und Autopoesis: einen Prozess hin zu gesteigerter Reflexivität, Freiheit und Anwendungskompetenz. Diese Trias der Sprachfunktionen überträgt Cassirer – in einem nächsten methodischen Schritt – auf sämtliche anderen symbolischen Formen, er ändert dabei allerdings die Terminologie: statt mimetisch steht nun der Begriff Ausdruck, statt analo-

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Ernst Cassirer: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1921/22), in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956, S. 175. Vgl. Ernst Cassirer: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932/33), in: ders., Symbol, Technik, Sprache, Hamburg 1985.

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Mystik im Spannungsfeld symbolischer Formen

gisch: Darstellung, und statt eigentlich-symbolisch: reine Bedeutung. Die Funktionendynamik einer jeden symbolischen Form besteht also aus den drei Möglichkeiten, drei Schichten und drei Entwicklungsstufen Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung. Alle Symbolformen folgen diesem Schema, sie tun es allerdings nicht in gleicher und gleich erfolgreicher Weise. Sie können auf der ersten oder zweiten Stufe stehen bleiben. Einzig in der Symbolform Erkenntnis – im begrifflich-theoretischen Denken – wird nach Cassirer die Stufe der reinen Bedeutung vollkommen erreicht. Allein hier werde die grundsätzliche, unhintergehbare Symbolizität aller Wahrnehmung, allen Denkens und aller Weltorientierung optimal bewusst: ihre Austauschbarkeit, Konstruktivität und Kontingenz. An dieser Stelle sei bereits eine Kritik angemeldet, die sich später auch auf Cassirers Interpretation der Mystik ausdehnen lassen wird: Warum – so der Einwand – spricht er anderen symbolischen Formen, vor allem der Kunst, eine solch maximale Selbstreflexivität ab? Eine Erklärung könnte sein, dass Cassirers Kunstverständnis im 19. Jahrhundert stecken geblieben ist und dass er schon die avantgardistische Moderne in der Malerei (Expressionismus, Kubismus, Surrealismus und abstrakte Malerei) nicht mehr zur Kenntnis genommen hat – obwohl der familiäre und gesellschaftliche Hintergrund ihn durchaus dazu hätte motivieren können. War es doch sein Cousin, Paul Cassirer, der sich in Berlin – zeitgleich zu Ernst Cassirers philosophischem Wirken – für diese Strömungen engagierte und sie in Ausstellungen der deutschen Öffentlichkeit nahe brachte.

II. Ich habe nun, in einem ziemlichen Parforce-Ritt, die Philosophie der symbolischen Formen skizziert und komme zum zweiten Thema: zur Rolle, die Cassirer in diesem Kontext der mystischen Erfahrung zuweist. Von Mystik spricht er an vielen verstreuten Stellen in seinem Werk, allerdings ist fast immer nur von religiöser Mystik die Rede. Diese Stellen finden sich konzentriert in Band 2 der Philosophie der symbolischen Formen (Untertitel: »Das mythische Denken«), erschienen 1925, und in einigen ergänzenden Aufsätzen aus dieser Zeit. Es geht also um die Symbolform Mythos/Religion, die Cassirer als eine spezielle Doppelform auf-

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fasst, gewissermaßen als ein Haus mit zwei Stockwerken oder: einen Prozess in zwei Phasen. Nebenbei bemerkt: Wenn Cassirer terminologisch zwischen Mythos und Religion unterscheidet, folgt er darin seinem Lehrer Hermann Cohen.7 Mythos wird als die archaische oder primitive Stufe der Religion verstanden, Religion – im terminologischen Sinn – hingegen als die darauf aufbauende, sich aber in eine andere Richtung entwickelnde Form von Hoch-, Buch- und Offenbarungsreligion. In ihrem Ausgang und ihrer Entwicklung seien Mythos und Sprache eng miteinander verschränkt. Das in Bildern, Erzählungen und Riten erfolgende Symbolisierungsgeschehen des Mythos entspreche der mimetischen Sprachstufe bzw. dem Ausdruck. Es gehe hier vornehmlich um die Etablierung erster, stabiler Orientierungsgestalten in der Kultur, die als solche noch nicht hinterfragt werden. Symbolisierung und Realität werden gleichgesetzt. Die Einheit der mythischen Welt ist nach Cassirer noch keine konzeptionelle, sondern das Agglomerat einer unüberschaubaren, stets wechselnden Vielheit mythischer Phantasiegebilde. Kategorien wie Einheit, Raum, Zeit, Zahl und Kausalität sind im Mythos als Formen zwar durchaus präsent, werden aber – verglichen zu ihrem Verständnis und ihrer Handhabung in der Kunst oder im begrifflich-theoretischen Denken – ganz anders aufgefasst. So gilt für die mythische Zeit keine lineare, sondern eine zyklische Struktur. Und die Zeit ist, ebenso wie der Raum, gegenständlichkonkret besetzt, d.h., Raum und Zeit gibt es nicht als reine und abstrakte, mit beliebigen Inhalten ausfüllbare Formen. Die Konkretheit mythischen Denkens bedingt ein hohes, intensives Maß an emotionalem Weltbezug und damit – wie Husserl sagen würde – an ›Lebensbedeutsamkeit‹. Der Mythos wird nach Cassirer dann zu Religion, wenn das mythische Denken die Ebene des Ausdrucks verlässt und sich auf die Ebene der Darstellung begibt. Religiöses Denken ist zwar nach wie vor auf die mythischen Bilder, Erzählungen und Riten angewiesen, doch sucht es diese zu ordnen, zu rationalisieren, sie kohärent und konsistent auszudeuten. Die Religion etabliert damit einen neuen Diskurs: die Theologie. Diese entwickelt ein begrenztes Maß an Symbolskepsis und unterscheidet – wenn auch nicht durchgängig – das Zeichen von seiner Bedeutung. Ob etwa die Transsubstantiation in der christlichen Messe ein realer Vorgang

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Vgl. Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Berlin 1919.

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sei oder nur ein Gleichnis, wird zu einer möglichen Streitfrage. Die Religion formuliert also bereits das Problem von wahr und falsch und beruft sich – wenn es darum geht, bestimmte Argumente plausibel zu machen oder zurück zu weisen – auf so etwas wie Logik und (implizite) logische Grundsätze. Religion, sagt Cassirer, bleibe im Wesentlichen auf der Ebene der Darstellung stehen, aber dennoch dränge ihre innere Dynamik darüber hinaus. Sie erwäge da und dort den Gedanken, dass ihre Symbolik insgesamt – die heiligen Erzählungen und Riten, die Tempel und Bilder, die Gottes- und Moralvorstellungen, die Offenbarungen und all die Theologoumena – die damit gemeinte Realität nicht adäquat abbilden. Sie äußert den Verdacht, dass all dieses Abbilden letztlich nur ein bloßes Bilden, ein Konstruieren und Symbolisieren sei und dass das tiefste Geheimnis der Religion eben in der Erkenntnis dieser grundsätzlichen Symbolizität bestehen könnte. Freilich wird, so Cassirer, dieser Gedanke in der Religion nicht abstrakt-philosophisch erwogen, sondern gewissermaßen intuitiv erlebt: dass all die wahrgenommene und gedachte Vielfalt letztlich eine Einheit und dass auch das Ich Teil dieser Einheit sei; dass Gegenständlichkeit und Kausalität, Raum, Zahl und Zeit letztlich unwirklich seien, dass Widersprüche auf einer höheren Ebene koinzidieren, dass Gott und Welt, Gott und Mensch, Mensch und Mensch, Mensch und Natur letztlich keine Gegensätze darstellen. Und dieses Gedanken- (und damit ineins Gefühls-) Erlebnis erwecke den Eindruck einer existenziellen Neugeburt, des Eintritts in einen neuen Äon, den Eindruck einer universalen Harmonieerfahrung und größtmöglicher Authentizität. Das, sagt Cassirer, sei Mystik, und diese sei eine letzte Konsequenz des mythisch-religiösen Symbolprozesses. Sie stelle aber nur ein Tasten dar, einen Versuch, der keineswegs in eine haltbare Erkenntnisform und eine lebbare Lebensform zu überführen sei. Die Stufe der reinen Bedeutung könne in der symbolischen Form Religion nur angetupft, nicht wirklich erfasst werden. Ein wirkliches Erfassen sei der Erkenntnis vorbehalten, also dem begrifflich-theoretischen Denken, das seine maximale Reflexionsund Anwendungsgestalt im Grundlagendiskurs der modernen Naturwissenschaften finde. Mystik, meint Cassirer, sei zwar immanent die höchste Entwicklungsgestalt der Religion, bedeute aber auch deren SelbstDestruktion, denn dadurch, dass sie sich in Bildern ausdrücke und nicht in Begriffen, stürze sie sofort in sich zusammen, falle sie wieder zurück auf die Stufen von Darstellung und Ausdruck.

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Diese sind und bleiben das Lebenselement der Religion. Wolle sich das religiöse Denken konsequent der Symbolfunktion reiner Bedeutung zuwenden, müsse es aus sich selbst heraus treten, müsse es die Symbolform Religion verlassen und zur Symbolform Erkenntnis überwechseln.8 Mythisch-religiöses Denken ist nach Cassirer also eine Symbolik bzw. eine Gestalt (oder auch: ein Segment) des Symbolprozesses ganz eigener Art: eine Symbolik, die in spezifischer Weise die Funktionendynamik von Ausdruck, Darstellung und reiner Bedeutung realisiert und so den Weg zunehmender Reflexivität und Freiheit, den Weg zunehmender Symbolskepsis zu gehen sucht. Dieser Weg der Religion mündet in eine letzte, bedeutsame Symbolreduktion, in eine maximal gesteigerte Intensität und schließlich in eine Implosion des Symbolischen. Mystik ist der Versuch, die Möglichkeiten des Symbolisierens voll auszuloten, sie auf die Spitze zu treiben und – im Endeffekt – Symbolizität als solche abzuschaffen. Ein solcher Versuch scheitert, er müsse scheitern, aber er zeige einen interessanten Weg, den die religiöse Symbolik gehen kann. Die – in ihrer Intention durchaus nachvollziehbare – Negation von Bild und Weise, von der Meister Eckhart redet, könne – in den Gestalten der apophatisch-paradoxalen Rede ebenso wie in der Gestalt des Schweigens – eben nur als Gestalt, d.h., im Modus von Bild und Weise vollzogen werden. Daher sei die Mystik – sprachlich und intellektuell, nicht aber zwangsläufig auch emotional – ein Scheitern. Der Weg der Symbolform Mythos/Religion kann als eine Spirale beschrieben werden: Am Anfang des mythischen Denkens, sagt Cassirer (er bezieht sich auf den damals zeitgenössischen Forschungsstand der Religionswissenschaften), stehe die ManaVorstellung. Bestimmte – und zwar ziemlich beliebige – Dinge und Ereignisse werden als heilig und lebensbedeutsam erfahren, wobei diese Heiligkeit und Lebensbedeutsamkeit aber nur momenthaft aufblitzt. Man dürfe das Mana also nicht als Stoff oder Kraft oder Substanz verstehen, sondern als Augenblicks-Erlebnis. Die Mana-Vorstellung sei Vorbedingung und Vorstufe der Symbolform Mythos/Religion. Der auf sie aufbauende Symbolisierungsprozess – hier folgt Cassirer der Konzeption von Hermann Usener – bestehe in der Etablierung des Mythos als einer stabilen,

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Vgl. hierzu das Schlusskapitel »Die Dialektik des mythischen Bewusstseins« in Band 2 der Philosophie der symbolischen Formen.

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verlässlichen symbolischen Form.9 Es werde eine Vielfalt an mythisch-religiöser Symbolik geschaffen, z.B. große Erzählungen (wie die Weltschöpfung und andere Aitiologien), personale Gestalten (wie Dämonen, Helden und Götter), Raum- und Zeitsphären (wie Diesseits und Jenseits), Naturkräfte und moralische Ordnungen, Kulte und Institutionen. Der religiöse Symbolisierungsprozess erfolgt sowohl komplexitäts-stiftend wie komplexitäts-reduzierend. Eine dieser Symboliken – eine kulturgeschichtlich späte allerdings – sei die Vorstellung einer Vereinigung der menschlichen Seele mit Gott. Hier handelt es sich um eine letzte und äußerste Komplexitätsreduktion. Symbolisch reduktiv ist bereits der Weg vom Poly- zum Monotheismus, wobei – proportional dazu – die immer weniger werdenden religiösen Symbole mit immer mehr Sinngehalt, mit immer mehr Bedeutungsüberschuss, mit immer mehr Emotionalität und Bezugsintensität aufgeladen werden. Die religiöse Semantik intensiviert und komprimiert sich in der Vorstellung des einen, überall wirkenden und für alles zuständigen Gottes. Entsprechend wird das Komplementär-Symbol zu diesem Gott, das Ich, ebenfalls intensiviert und komprimiert. Nicht mehr Gemeinschaften (wie das Volk Israel) oder austauschbare Individuen (wie Abraham oder Jakob) bilden das symbolische Gegenüber, sondern – indem Natur und Mitmenschen ausgeblendet werden – der Einzelmensch, die menschliche Seele, die zum Repräsentanten der menschlichen Gattung wird. Nur noch Gott und Seele stehen also einander gegenüber: zwei hochstilisierte, semantisch überschüssige Symbole, deren dynamische Beziehung die Gesamtrealität ausdrücken soll. Eine solche Reduktion und Intensivierung führt zu einer ungeheuren symbolischen Spannung. Es kommt in der Erfahrung der henosis, der unio mystica zu einem Ineinander-Umkippen, einem Ineinander-Sich-Auflösen von Seele und Gott. Dies ist zugleich der Versuch, Symbolizität als solche abzuschaffen. Denn ein Symbol wie die henosis, die alle anderen, partikulären Symbole absorbiert hat, hat jegliches Gegenüber verloren: und damit den Symbolcharakter als solchen. Die Unmittelbarkeit und Einheit, die hier suggeriert wird, ist keine darstellbare, keine praktizierbare, keine lebbare. Die henosis erweist sich zwar als eine mögliche Augenblicks-Erfahrung, nicht

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Vgl. Ernst Cassirer: »Sprache und Mythos – Ein Beitrag zum Problem der Götternamen«, in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956.

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aber als ein möglicher Aufenthalt. Daher gehe der Mystiker, meint Cassirer, notgedrungen den Weg des religiösen Symbolprozesses wieder zurück. Er begebe sich erneut und zwangsläufig auf die – ansatzweise schon überwundenen – Ebenen von Ausdruck und Darstellung. Die mythisch-religiöse Symbolik sei zwar dazu geeignet, die Symbolfunktion der reinen Darstellung zu erahnen und punktuell zu erfahren, nicht aber, sie erfolgreich zu realisieren bzw. aufrecht zu erhalten.

III. Soweit meine kurze Darstellung der Mystik-Interpretation, die Cassirer im Rahmen seiner Philosophie der symbolischen Formen anbietet. Abschließend möchte ich noch ausführen, worin meiner Meinung nach die systematische Leistung der Cassirer’schen Interpretation besteht und welche Korrekturen mir angebracht erscheinen und in welch modifizierter Weise der Cassirer’sche Ansatz ausbaufähig sein könnte. Es gibt eine Reihe von Fragen an das Phänomen der mystischen Erfahrung, die in der Mystikdiskussion seit langem gestellt werden und die vielfach noch einer plausiblen Antwort harren. Zumindest einige dieser Fragen finden, denke ich, durch die Symbolphilosophie eine Lösung. Da gibt es z.B. die Frage, ob Mystik eine wirkliche Erfahrung sei oder nur bloße Einbildung: also die ontologische Frage. Diese wird sinnlos, sobald wir sie in den Kontext der Symbolphilosophie stellen. Denn symbolphilosophisch steht fest, dass die Realität als solche nicht darstellbar ist, dass wir immer und überall mit Zeichensystemen arbeiten und dass diese keine Referenz zur Realität selbst haben: dass sie also nur – im Sinne von Nelson Goodman und Ernst von Glasersfeld – lebenspraktisch passen bzw. viabel sind oder nicht. Mystik ist also kein höheres, esoterisches Wissen – keine perennial philosophy (Aldous Huxley) – und nicht die Einsicht in eine andere oder wahre Welt. Sie ist ein symbolisches Konstrukt, ein Resultat des Symbolprozesses. Weiterhin gibt es die Frage, ob Mystik einzig und allein als Effekt der Sprache aufzufassen sei. Die symbolphilosophische Antwort: Es geht in der Mystik vorrangig um Sprache, aber nicht nur. Es geht, analog zur Sprache und über diese hinaus, ganz allgemein um Symbolik. Mystik ist ein Effekt des Symbolischen. Eine weitere Frage ist, ob Mystik eine Angelegenheit des Gefühls sei oder des Intellekts. Diese Frage wird in der Symbol-

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philosophie ebenfalls dekonstruiert. Denn nicht entweder Denken oder Gefühl, sondern ein – beidem zugrunde und voraus liegendes, beide umfassendes – Konzept der symbolischen Orientierung ist das Konzept der Symbolphilosophie. Denken und Gefühl sind nicht voneinander separierte, sondern analoge, aufeinander verweisende Strukturen. Denken ist, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß, stets emotional getönt, und Fühlen lässt sich als unbewusstes Urteilen auffassen. Schließlich gibt es die Frage, ob ein einheitlicher und kohärenter Mystikbegriff gerechtfertigt sei und ob nicht – bei all der Vielfalt und Widersprüchlichkeit, in der das Wort Mystik in der Sprache verwendet wird – auch das Phänomen als solches ad acta zu legen sei. Antwort: Der am Leitfaden der Symbolfunktionen beschriebene Symbolprozess rechtfertigt einen einheitlichen und kohärenten Mystikbegriff. Mystik ist die extremste Form von Verdichtung und Intensivierung der Symboltätigkeit, und sie ist der – freilich scheiternde – Versuch, Symbolik als solche und im Ganzen hinter sich zu lassen, stillzulegen. Und dann noch die Frage: Ist Mystik ausschließlich ein Phänomen der Religion oder gibt es Entsprechendes auch außerhalb: z.B. in der Poesie, in der Musik, in der bildenden Kunst, im philosophischen Denken, in der Alltagserfahrung, in der zwischenmenschlichen und in der Naturbeziehung? Und möglicher Weise auch in der wissenschaftlichen Methoden- und Grundlagendiskussion? Und – problematischer wohl als alles andere – in politischen Ideologien? Diese letzte, politologisch akzentuierte, Frage sprengt den Rahmen der Cassirer’schen Konzeption, denn diese Philosophie formuliert darauf keine Antwort. Doch ist diese Symbolphilosophie – wenngleich nur indirekt, nämlich durch ihre begrifflichen Mittel und ihren theoretischen Rahmen – imstande, die Frage nach dem Stellenwert der Religion für die Mystik zu beantworten. Zunächst ist anzumerken, dass Cassirer nicht nur von religiöser, sondern – an einigen Textstellen – auch von philosophischer Mystik spricht: als dem Versuch, begrifflich-theoretisches Denken als solches aufzuheben und zu einer angeblichen Unmittelbarkeit der Erfahrung vorzustoßen. Dieser Versuch sei aber noch weitaus deutlicher zum Scheitern verurteilt als der religiöse Versuch. Cassirer hat hier die Lebensphilosophie im Visier, namentlich Simmel und Bergson, in gewisser Weise auch Heidegger.10 In der Sache

10 Vgl. Ernst Cassirer: »Die Tragödie der Kultur«, in: ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), Darmstadt 1961.

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gehe es um das deutsch-idealistische Problem von Vermittlung und Unmittelbarkeit, das bereits im Deutschen Idealismus einer rationalen Lösung zugeführt worden sei. Wer – wie Simmel – sich ernsthaft darüber beklage, dass das begrifflich-theoretische Denken immer nur die Unmittelbarkeit des Lebens verfehle, und wer – wie Bergson – eine begriffslose und symbollose Intuition annehme, verkenne das Wesen von Denken und Sprache. Hier werde ein Erfahrungsmodus postuliert, den es von vornherein nicht gibt. Denn: Menschliches Leben heißt Kultur, und Kultur heißt durchgängige Vermittlung des Lebens über symbolische Formen. Ich nehme an, Cassirer ist mit dieser Argumentation im Recht. Weniger Recht hat er meiner Meinung nach in zwei anderen Punkten, nämlich darin, dass er die mystische Erfahrung – als einen plausibel gemachten Effekt des religiösen Symbolprozesses – nicht ausdrücklich auch in anderen symbolischen Formen diagnostiziert und dass er umstandslos, und einigermaßen undifferenziert, von einem Scheitern der Symbolbewegung spricht. Ich finde es nahe liegend, eine bestimmte Art von ästhetischer Erfahrung – wie sie sich z.B. in Paul Celans Lyrik ausdrückt – genauso zu deuten wie die religiöse Mystik: als eine extreme und ultimative Symbol-Verdichtung, als Totalisierung von Semantik, die in ein Zerbrechen aller Symbolik – in diesem Fall: ein Zerbrechen der Sprache – mündet. Die abstrakte Malerei – mit ihrem Sichtbar-Machen der Kontingenz von Farbe, Form und Gegenstand – sowie einige Formen der Aktionskunst weisen ebenfalls in diese Richtung. Auch eine bestimmte Art von Musik lässt sich als ein Symbolprozess auffassen, der auf eine Intensivierung und Totalisierung – und letztlich auf ein Zerbrechen – der eigenen Medialität zusteuert. Das ›Hören aus der Stille‹ eines Arvo Pärt kann hier ebenso angeführt werden wie die Lärm-Produktion der Einstürzenden Neubauten. Aber möglicher Weise ist Mystik, wird sie in dieser Art strukturell verstanden als ein Effekt des Symbolprozesses, nicht allein in Religion und Kunst aufzufinden, sondern auch in weiteren symbolischen Formen. Es könnte sein, dass das begrifflichtheoretische Denken eine vergleichbare Strukturbewegung ausführt und dass sich das Thema philosophischer Mystik keineswegs, wie Cassirer annimmt, im lebensphilosophischen Bemühen um Unmittelbarkeit erschöpft. Ob man freilich für all das den Titel Mystik verwenden oder ob man sich mit dem Aufweis von Analogien begnügen sollte, sei vorläufig dahin gestellt.

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Dass Mystik – ihrer Struktur nach – als ein Parallel-Phänomen in allen (oder zumindest in einigen) symbolischen Formen zu entdecken sei, ist jedenfalls eine Vermutung, der näher nachzugehen sich durchaus lohnen könnte. Es ließe sich wohl auch die Cassirer’sche Rede vom Scheitern der Mystik relativieren bzw. anders – nämlich positiv – deuten. Denn das Zerbrechen der Symbolik könnte man in seiner Hinweis-Funktion auf den selbstreflexiven Prozessverlauf der symbolischen Form würdigen. Mystik und Erfahrung scheinen letztlich keine Gegensätze zu sein, sondern sich gegenseitig zu bedingen. Die Erfahrung als solche besteht in einem grundsätzlichen und vielfältigen Symbolisieren, und dieses Symbolisieren hat offensichtlich seine eigene, keineswegs in sich homogene und geradlinige Struktur und Logik. Diese steuert gewissermaßen naturwüchsig auf den Punkt mystischer Erfahrung zu. Die Einsicht in das mystische Scheitern wäre dann eine Einsicht in die Grundverfassung des Symbolischen.

Literatur Bouyer, Louis: »Mystisch – Zur Geschichte eines Wortes«, in: Josef Sudbrack (Hg.), Das Mysterium und die Mystik, Würzburg 1988. Cassirer, Ernst: »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« (1921/22), in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bände, Berlin 1923-29. Cassirer, Ernst: »Sprache und Mythos – Ein Beitrag zum Problem der Götternamen« (1925), in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956. Cassirer, Ernst: »Die Tragödie der Kultur«, in: ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), Darmstadt 1961. Cassirer, Ernst: »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt« (1932/33), in: ders., Symbol, Technik, Sprache, Hamburg 1985. Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Berlin 1919. Margreiter, Reinhard: Erfahrung und Mystik, Berlin 1997. Margreiter, Reinhard: Medienphilosophie. Eine Einführung, Berlin 2007.

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Georges Batailles »innere Erfahrung« ROBERTO SANCHIÑO MARTÍNEZ Ich werde im Folgenden über das ›Ende der Geschichte‹, über den ›Tod Gottes‹ und von einem Nachmittag auf einer ›schmalen weißen Veranda‹ schreiben. Oder anders ausgedrückt: über das, was bei Georges Bataille innere Erfahrung heißt. Ich gehe davon aus, dass Erfahrungen und ihre theoretischen Konzeptualisierungen nicht kontextlos sind. Erfahrungen, ob sie nun religiös, ästhetisch oder mystisch sind, mögen auf ein Erlebnis der Unmittelbarkeit zurückgehen, aber deshalb sind sie noch lange nicht selbst unmittelbare Phänomene. Im Gegenteil, sie sind Produkt einer spezifischen historischen, gesellschaftlichen und intellektuellen Situation und Konstellation. In ihnen kreuzen sich unterschiedliche gesellschaftliche, religiöse, ästhetische und soziobiographische Felder. Auch das 20. Jahrhundert hat seine eigene komplexe politische und intellektuelle Geschichte. Die Künste und ihre Theorien sind autonom und doch zugleich gesellschaftliche Phänomene, oder umgekehrt: die Künste und ihre Theorien sind gesellschaftliche Phänomene und zugleich autonom. Dies möchte ich am Beispiel Georges Batailles zeigen. Mein Beitrag gliedert sich in drei Teile: Im ersten Abschnitt werde ich versuchen, Georges Bataille als intellektuelle Figur der ersten Hälfte 20. Jahrhunderts kurz vorzustellen. Im zweiten Abschnitt werde ich auf die Korrelation von Literatur und profaner Mystik, wie sie von Bataille entworfen wurde, eingehen. Der dritte und letzte Abschnitt widmet sich vornehmlich Batailles philosophischem Hauptwerk L’expérience intérieure (Die innere Erfahrung), in dem Bataille seine Vorstellung von Mystik ausarbeitet und präzisiert.

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I. Das Werk des französischen Schriftstellers, Religionssoziologen, Philosophen, Erotomanen und politischen Aktivisten Georges Bataille (1897-1962) ist ein besonders gutes Beispiel, um über das Verhältnis von Mystik und Ästhetik im 20. Jahrhundert nachzudenken: Ein großer Teil des Bataille’schen Werkes kreist um religiöse, mystische und ästhetische Phänomene, Vorstellungen und Ideen sowie deren Wechselwirkungen miteinander. Zudem ist Bataille nicht nur als Schriftsteller hervorgetreten, sondern auch als Literaturtheoretiker und Religionsästhetiker. Theorie und Praxis gehen bei ihm Hand in Hand. Seine literarischen und essayistischen Werke sind an den Surrealisten und an älteren Autoren wie dem Marquis de Sade oder Isidore Ducasse geschult. Sein Werk ist zu Recht der klassischen Avantgarde zugerechnet worden. Seine Studien La littérature et le Mal, Lascaux ou la naissance de l’art, Les larmes d’Eros sowie La structure psychologique du Fascisme haben ihren festen Platz im Kanon der französischen und europäischen Geistes- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Seine Erzählungen Madame Edwarda, Histoire de l’œil sowie sein Roman Abbé C, die er, um strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen, unter Pseudonym veröffentlichen musste, sind in ihrer thematischen und formalästhetischen Radikalität kaum zu überbieten. So lebt beispielsweise in der Erzählung »Madame Edwarda« »GOTT« als eine Hure in einem Bordell.1 Unter narratologischen Gesichtspunkten ist vielfach nicht zu ermitteln, welche Position der Erzähler inne hat, wer überhaupt in diesem Text spricht, obwohl es sich vordergründig um eine Ich-Erzählung handelt. Die Handlungs-Schilderung wird durch Seiten unterbrochen, auf denen sich lediglich Gedankenstriche und Punkte identifizieren lassen – seriell platzierte Grapheme, die keinen unmittelbaren lexikalischen Sinn ergeben. Graphische Experimente stören und unterminieren den Erzählfluss und treiben die sexuellen Erlebnisse des Erzählers in das große ekstatisch-dionysische Nichts.2 Madame Edwarda kann man (und sollte man auch) als eine Parodie auf die abendländische Liebesmystik verstehen, in der, wie

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Vgl. Georges Bataille: »Madame Edwarda (1956)«, in: ders., Das obszöne Werk, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 55-78. Vgl. dazu Philippe Sabot: »Extase et transgression chez Georges Bataille«, in: Savoirs et clinique. Revue de psychanalyse 8, oct. 2007, S. 87-93.

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bei Teresa de Ávila oder Sor Juana de la Cruz, die sogenannte unio mystica als Liebesakt konzeptualisiert worden ist. Bataille war somit nicht nur ein kreativ-poetisch Schaffender – ein Schriftsteller, Romancier, Erzähler und Lyriker –, sondern zugleich Theoretiker dessen, was er schuf und was er und andere schrieben. Literaturproduktion und Literaturtheorie sowie Kritik und Ästhetik sind bei ihm aufs engste miteinander verbunden, wobei er sich nicht scheute, generelle poetologische und kunstanthropologische Überlegungen anzustellen, die seinen eigenen Produktionszusammenhang überschritten. Batailles Verhältnis zu den beiden literarisch und philosophisch tonangebenden Gruppen zwischen den zwei Weltkriegen, zu denen er engen persönlichen Kontakt pflegte – der surrealistischen Gruppe um André Breton und der Gruppe der Existentialisten um Jean-Paul Sartre –, war durch wechselseitige emphatische Bewunderung und, gleichzeitig, durch scharfe Kritik sowie Polemik geprägt. Michel Foucault, der die zehnbändige französische Ausgabe des Bataille’schen Werks 1970 einleitete, schrieb daher auch völlig zu Recht: »Man weiß es heute: Bataille ist einer der wichtigsten Schriftsteller seines Jahrhunderts.«3 Zudem war Bataille eine zentrale intellektuelle Figur der unabhängigen politischen Linken, obwohl er im deutschsprachigen Raum zunächst vor allem von rechtskonservativen Kreisen als nietzscheanischer Vernunftkritiker rezipiert worden ist. Fest zu halten ist: Bataille beeinflusste durch zahlreiche publizistische und institutionelle Aktivitäten die politisch-philosophische Meinung Frankreichs unmittelbar vor, in und nach dem Zweiten Weltkrieg. So war er einer der Hauptinitiatoren der antifaschistischen Bewegung französischer Intellektueller namens ContreAttaque und rettete als Archivar in der Bibliothèque Nationale Walter Benjamins Pariser Passagen, indem er das Hauptmanuskript vor den deutschen Besatzern in der Bibliothek versteckte.4 Bataille war außerdem mit Roger Callois und Michel Leiris Mitbegründer des Collège de Sociologie: Er war damit also einer der Gründungsväter der französischen Sakralsoziologie, welche die von Emile Durkheim und Marcel Mauss entwickelten Methoden

3 4

Zitiert nach Traugott König: »Sartre und Bataille«, in: ders. (Hg.), Sartre. Ein Kongress, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 365-381, hier S. 366. Vgl. zu den genaueren biographischen Hintergründen Bernd Mattheus: Eine Thanatographie, 3 Bde., München 1984-1997.

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der Gesellschafts- und Religionsanalysen weiterentwickelten.5 Außerdem war er Mitbegründer und Herausgeber der beiden literarischen und philosophischen Zeitschriften Acéphale6 und Critique. Letztere avancierte nach ihrer Gründung 1946 schnell zum wichtigsten Konkurrenzblatt von Les Temps Modernes, der dominierenden, von Jean-Paul Sartre und Maurice Merlau-Ponty herausgegebenen, politisch-literarischen Zeitschrift der französischen Nachkriegszeit.7 Außerdem hat sich Bataille unter anderem intensiv mit christlichen, aber auch nicht-europäischen, wie z. B. indischen und buddhistischen, Traditionen der Mystik beschäftigt und organisierte gemeinsam mit Jesuiten- und Dominikanerpatres, Psychoanalytikern, wie etwa Jacques Lacan, oder Philosophen, wie beispielsweise Alexandre Kojève, seinem engen Freund und Lehrer, mehrere Kolloquien zu den Themen Mystik und Erotik, Mystik und Askese, Die Sünde, etc.8 Batailles Schreibweise und seine theoretischen Überlegungen stellen eine komplexe und eigenständige Aneignung und Transformation vornehmlich religiös-konnotierter Themen wie des Heiligen, der Mystik, des Opfers oder der Ekstase dar. Seine philosophischen Reflexionen und sein literarisches Schreiben kreisen darüber hinaus um Begriffe und Phänomene wie: Transgression und Ekstase, Gewalt und Tod, Erotik und sexuelle Ausschweifung, um Aspekte einer dionysisch verstandenen Mystik. Besonderes Augenmerk richtet er sowohl in seinen literarischen Texten als auch in seinen soziologischen und philosophischen Schriften auf Formen einer transgressiven, grenzüberschreitenden Erfah-

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Vgl. zur Geschichte des Collège die Studie von Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (19371939), Konstanz 2006. Acéphale ist ein äußerst bemerkenswertes Projekt, das zunächst als Geheimgesellschaft begann und das sich vornehmlich zum Ziel setzte, den Nationalsozialisten und der politischen Rechten Nietzsche zu entreißen sowie eine Neuformierung der Gesellschaft im Zeichen dionysischer Tragödien und Mysterien zu vollziehen. Zur Bedeutung Nietzsches für den französischen Antifaschismus vgl. Jacques Le Rider: Nietzsche in Frankreich (1993), München 1997, S. 85-113. Vgl. dazu Bernard-Henri Lévy: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, München 2005 (franz. 2000), S. 393-397; Anna Boscetti: Sartre et les »Les Temps modernes«, Paris 1985. Vgl. z.B. die Studie »Mystik und Sinnlichkeit (1957)«, in: Georges Bataille, Die Erotik, München 1994, S. 215-244. In dieser Studie setzt sich Bataille mit jesuitischen und psychoanalytischen Positionen zur Mystik auseinander.

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rung, die in einem rauschhaften Selbstverlust, in einer DeZentrierung des Subjekts münden. Unter dem Gesichtspunkt der De-Zentrierung des Subjekts sind jedoch alle Formen der Mystik für Bataille auch attraktiv. Drei nahezu klassische Themen und Motive avantgardistischer Literatur und postmoderner Theoriebildung werden von Bataille geteilt bzw. vorweggenommen, Themen, die ebenfalls zentral für surrealistische Literatur oder die Experimente der Gruppe Tel Quel sind und theoretisch von Autoren wie etwa Michel Foucault, Gilles Deleuze, aber auch Jacques Derrida in ihren Überlegungen aufgegriffen worden sind. Diese drei Themen sind: erstens, die Übertretung, Durchbrechung oder Subversion eines einheitlichen, homogenen Diskurses; zweitens, die, zumeist subversiv intendierte, Wertschätzung und Propagierung aller Formen von Heterogenem, Deviantem und Nichtdiskursivem; und schließlich drittens, der Versuch einer Entlarvung und Bekämpfung jeglicher Theorie (und der damit verbundenen Praktiken) eines autonomen, einheitlichen Subjekts, die als Instrumente der Repression und der Knechtschaft aufgefasst werden.9 Für Bataille – das möchte ich hier betonen – gab es niemals eine scharfe Trennung zwischen Literatur, Religion, Wissenschaft und Politik. In diesem Zusammenhang sind auch seine Überlegungen zur Mystik zu sehen. Seine Konzeption der Mystik, die er in seinem philosophischen Hauptwerk L’Expérience intérieure entwickelt, ist sowohl ästhetisch als auch politisch und parareligiös.

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Bei Bataille findet man einen starken anti-hegelianischen Gestus. Doch bleibt Bataille gerade in seiner Abgrenzung zu Hegel, und trotz seiner Inanspruchnahme Nietzsches, an Hegel dialektisch gebunden. Michel Foucault gibt in seiner berühmten Antrittsvorlesung am College de France »L’ordre du discours« von 1970 eine eindringliche Schilderung dieses reflexiven und theoretischen Dilemmas, das auch auf Bataille zutrifft: »Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muss man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muss man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muss ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.« Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (1970), Frankfurt a. M. 102007, S. 45.

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II. Bataille war ein Theoretiker der Grenze, der Überschreitung von Grenzen, der Transgression und selbst ein literarischer Grenzgänger. Die Literatur, die er propagierte, war, um es mit Foucault zu sagen, programmatisch konterdiskursiv.10 Er war ein, wie Gérard de Nerval und Octavio Paz gesagt hätten, »enfant du limon«11 (ein Kind des Schlamms), d.h. ein Repräsentant der Intellektualität und Literatur, die sich von der europäischen Romantik her versteht, der die Ambiguität des romantischen Denkens und Schreibens gegenüber den aufklärerischen Projekten der kritischen Vernunft offen propagierte. Dies zeigt sich auch an seinem idealtypischen Bild des Dichters: Der Dichter ist für Bataille ein einsamer, außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehender, die kritische Vernunft kritisierender Revolutionär. Er revoltiert gegen die herrschenden Verhältnisse und träumt von einer egalitären Gemeinschaft. Bataille versteht daher auch die Geschichte der modernen Literatur von der Spät-Romantik her, von Autoren wie Baudelaire und vor allem Isidore Ducasse, der besser als der Comte de Lautréamont bekannt ist. Poesie und Mystik sind Bataille zufolge Formen der Absonderung gegenüber der Gesellschaft, den Institutionen und dem rationalen Denken, sie sind Formen der positiv verstandenen Asozialität und entwickeln dadurch ihr Potential des Widerstands und der Subversivität, auch und gerade vor dem Hintergrund des totalitären Terrors in der

10 Zum Konzept der Konterdiskursivität bei Foucault vgl. Achim Geisenhanslüke: Foucault und die Literatur. Eine diskurskritische Untersuchung, Opladen 1997, sowie Rainer Warning: »Poetische Konterdiskursivität: Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault«, in: ders., Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 313-345. 11 Das ist die wörtliche Übersetzung des brillanten Titels »Los hijos del limo« (ins Deutsche unter dem Titel »Die andere Zeit der Dichtung« übersetzt), den Octavio Paz, in Anlehnung an Gérard de Nerval, seinen Poetik- und Ästhetik-Vorlesungen an der Harvard Universität im Jahre 1972 gegeben hat. Paz bezieht sich auf das Gedicht »Le Christ aux Oliviers« (Christus am Ölberg) von Nerval, vor allem auf die drei Zeilen: »Mais l’oracle invoqué pour jamais dut sa taire,/Un seul pouvait au monde expliquer ce mystère./– Celui qui donna l’ұme aux enfants du limon« (»Aber das befragte Orakel musste für immer schweigen,/Nur einer könnte der Welt dieses Mysterium erklären/– Er, der den Kindern des Schlamms die Seele gab«; Übersetzung R.S.M.). – Vgl. Octavio Paz: Die andere Zeit der Dichtung. Von der Romantik zur Avantgarde (1974), Frankfurt a. M. 1989.

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ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bataille stellt daher in Die Literatur und Böse auch apodiktisch fest: Tatsächlich steht die seit der Romantik mit dem Niedergang der Religion verknüpfte Literatur […] nicht so sehr dem Inhalt der Religion als vielmehr dem der Mystiker nahe, die in ihren Randbereichen ein fast asozialer Aspekt davon ist. Gleicherweise steht die Mystik jener Wahrheit näher, die ich darzulegen bemüht bin. Unter Mystik verstehe ich nicht die Denksysteme, denen diese verschwommene Bezeichnung verliehen wurde; ich meine die mystische Erfahrung, die in der Einsamkeit erlebten mystischen Zustände. In solchen Zuständen wird uns die Erkenntnis einer Wahrheit zuteil, die anders ist als die an die Wahrnehmung der Objekte gebundene (dann an die des Subjekts. Letztlich an die verstandesmäßigen Folgen der Wahrnehmung). Aber diese Wahrheit ist keine formale. Die kohärente Rede wird ihr nicht gerecht. Sie wäre sogar nicht mitteilbar, wenn wir nicht über zwei Zugänge zu ihr verfügten: die Poesie und die Beschreibung der Bedingungen, unter denen man gewöhnlich zu solchen Zuständen gelangt.12

Wir sehen also, Bataille analogisiert die moderne Poesie und die Mystik, wobei ihm sehr wichtig ist, dass Mystik nicht in einem religiösen oder konfessionellen Sinne verstanden werden darf. Unter Mystik versteht Bataille eine Erfahrung, einen Zustand, der erstens nicht an die Objekte der Wahrnehmung gebunden ist, der zweitens an das subjektive Selbstverständnis rührt und der schließlich drittens das verstandesmäßige, begriffliche Denken hinter sich lässt. Gerade die moderne Poesie, die laut Bataille auf ein Thema und den Sinn verzichtet, wird zu einem regellosen kontemplativen und reflexiven Spiel und stellt sich gegen das »demütige Gestammel der Askese«.13 Auch für Karl Heinz Bohrer zeigt die reflexiv-kontemplative Prosaliteratur der klassischen Moderne, die »unter dem Gesetz des absoluten Präsens«14 steht, mystische Elemente und Dimensionen. Er bezeichnet z.B. Autoren wie Robert Musil, Virginia Woolf, James Joyce, Samuel Beckett, Marcel Proust und Georges Bataille, aufgrund der in ihren Texten zu entdeckenden augenblickshaften und plötzlichen Illuminationsstruktur, als »profane

12 Georges Bataille: Die Literatur und das Böse (1957), München 1987, S. 24. 13 Georges Bataille: Die innere Erfahrung (1943) nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953. Atheologische Summe I, Berlin 1999, S. 260. 14 Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 159.

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Mystiker«.15 Für Bohrer bezeichnet Mystik in allererster Linie eine besondere, postreflexive, intuitiv-präsentische Illuminations- und Epiphanie-Erfahrung, bzw. deren literarische Inszenierung und Reflexion – ein Aspekt, der bei Bataille ebenfalls eine Rolle spielt. So schreibt Bohrer beispielsweise über Becketts Prouststudie: Es gilt festzuhalten, dass die Erfahrung des Präsens des wirklich Realen in Becketts Proust-Text als »mystische Erfahrung« eines »außerzeitlichen Wesens« definiert ist, so dass es sich dabei immer nur um einen Zustand unfreiwilliger Erinnerung, nicht um die unmittelbare Erfahrung (wie bei Joyce, wie bei Virginia Woolf) der wahren Realität handelt und dass (partiell auch im Falle Virginia Woolfs) derjenige, der diese Erfahrung macht, außerhalb der Beziehung zur Gesellschaft und Moral immer als ein »Einsamer« existiert.16

Die Begriffe der Mystik oder der mystischen Erfahrung werden von Bohrer als rein ästhetische Paradigmen, als formale und strukturelle Elemente in Abgrenzung zur Kulturgeschichte und zur Hermeneutik aufgefasst, denn, wie er schreibt: »Hermeneutische Erkenntnis bleibt historische Erkenntnis, nicht ästhetische.«17 Um ästhetische Erkenntnis zu erlangen, ist es für Bohrer auch notwendig, die mystischen Strukturen in den Texten zu erkennen und zu reflektieren, um so die spezifische Zeitstruktur der Texte der ästhetischen Moderne zu verstehen. Die reflexive moderne Literatur habe laut Bohrer alle geschichtsphilosophischen und historischen Interessen hinter sich gelassen, strebe daher – das ist eine von Bohrers Großthesen, die auch die Attraktivität von mystischen Traditionen und von bestimmten Mystikkonzeptionen für die ästhetische Moderne ausmacht – keine ästhetische Utopie an, sondern eine Utopie des Ästhetischen. »[D]ie Prosa des utopischen Augenblicks«, schreibt Bohrer, ein Gedanke, den Georges Bataille so, oder so ähnlich, hätte formulieren können, »kehrt den utopischen Inhalt nicht um, sondern löst ihn auf.« Bohrer begründet dies folgendermaßen:

15 Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981, S. 211. – Unabhängig von Bohrer ist in der Forschung mehrfach festgestellt geworden, dass sich eine Vielzahl von Künstlern, Dichtern, Schriftstellern und Theoretikern der ästhetischen Moderne mit mystischem Schrifttum beschäftigt haben. Vgl. dazu die Einleitung in diesem Band. 16 Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 164. 17 Ebd., S. 147.

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Georges Batailles »innere Erfahrung« Ist die Antizipation des kollektiven Glücks und normativer Exempla fragwürdig geworden, dann ist das Glück vielleicht in individuellen Momenten zu retten. An die Stelle der Beschreibung von gesellschaftlichen Harmoniezuständen oder ihrer Umkehrung rückt bei den Autoren des gesteigerten Augenblicks […] das Ich im Zustand emphatischer Wahrnehmung, einer die soziale, aber auch bloß private Wirklichkeit transzendierenden Ekstase des Glücks.18

Auch hier sehen wir die positiv besetzte Asozialität und Einsamkeit der Autoren, von denen Bataille gesprochen hatte. Bohrers Überlegungen basieren letztlich auf einer ästhetischen Applikation der These vom Ende der Geschichte, wie sie Batailles Freund und Lehrer Alexandre Kojève in seiner Hegel-Interpretation entwickelt hat19 – auch wenn Bohrer auf Kojève nicht explizit eingeht, obwohl er mehrfach von Posthistoire-Theoremen spricht.20 18 Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981, S. 186. 19 Der US-amerikanische Philosoph und Politikberater von Bush sen., Francis Fukuyama, hat zunächst 1989 und 1992 noch einmal, nach dem definitiven Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus sowjetischer Prägung, das Ende der Geschichte ausgerufen und zur Popularisierung dieses Schlagworts beigetragen. Fukuyamas These ist nicht neu. Bereits 50 Jahre vor ihm hatte Alexandre Kojève in seiner Vorlesung über Hegels Phänomenologie des Geistes dieselbe These formuliert, daher ist es auch kein Wunder, dass Fukuyamas Buch »The End of History and the Last Man« sich als sehr umfangreiche Fußnote zu Kojèves Hegel-Lektüre darstellt. – Vgl. Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York 1992. Das Buch erschien unmittelbar auch in deutscher Sprache unter dem Titel »Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?«, München 1992. Für Fukuyama steht fest, dass, nachdem der Kommunismus in Trümmern liegt, die bürgerliche liberale Demokratie den endgültigen Sieg davongetragen hat und die Geschichte, unter geschichtsphilosophischen Gesichtspunkten, ihr natürliches und spirituelles Ende erreicht habe. Bei seinem Theorem, dass die Geschichte ein Ende habe, beruft er sich auf Hegel und Marx. Er schreibt: »Weder Hegel noch Marx glaubte, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften unendlich weitergehen würde. Sie nahmen vielmehr an, dass sie enden würde, wenn die Menschheit eine Gesellschaftsform erreicht hätte, die ihren tiefsten Sehnsüchten entspräche. Beide Denker postulierten also ein Ende der Geschichte, für Hegel war es der liberale Staat, für Marx die kommunistische Gesellschaft.« Ebd., S. 11f. – Eine kritische Auseinandersetzung mit den Theoremen Fukuyamas führt Jacques Derrida. Vgl. Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale (1993), Frankfurt a. M. 2004, besonders S. 84-110; ders.: Marx & Sons (2002), Frankfurt a. M. 2004. 20 Das Bewusstsein vom Ende der Geschichte kann freilich selbst ein geschichtsphilosophischer Index sein. Vgl. Jacob Taubes: »Noten zum Sur-

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Von 1933-1939 hielt Kojève seine legendäre Hegel-Vorlesung, die eine ganze Generation von französischen Intellektuellen entscheidend geprägt hat. Zu den Hörern gehörten unter anderem so prominente Autoren wie Raymond Aron, André Breton, Pierre Klossowski, Jacques Lacan, Maurice Merleau-Ponty, Raymond Queneau, Jean Hippolyte und Georges Bataille. Kojèves Hypothese, dass die Geschichte zu Ende gekommen ist, basiert auf der Annahme, dass nur ein Handeln, das Ereignisse zeitigt oder Geschichte macht, im strengen Sinne Handeln ist. Daher ist der Mensch, der sich nach dem Ende der Geschichte als geschichtlich handelndes Subjekt begreift, mit der Sinnlosigkeit seines Handelns konfrontiert. Gesellschaftliche Utopien lassen sich nicht kollektiv umsetzen, und wenn dennoch der Versuch unternommen wird, schlägt das Utopische in Terror um. Jegliches Handeln unter geschichtsphilosophischen Gesichtspunkten wäre somit überflüssig, doch der bürgerliche Mensch ist zum Handeln, zur Aktivität gezwungen, daher entstehe auch die absolute Monotonie des bürgerlichen Daseins und dessen Leere, auf die sowohl bei Bohrer als auch bei Bataille die Autoren der ästhetischen Moderne reagieren. Und genau dies ist auch die Situation des bürgerlichen Subjekts Bataille. Das bürgerliche Subjekt ist seinen Weg in der Geschichte gegangen, vermeint sich im absoluten Wissen anzuschauen, lebt jedoch in knechtischen und isolierten Verhältnissen, in denen es seine vermeintliche Selbstverwirklichung und Anerkennung finden soll und finden muss. Die alles bestimmende Daseins-Erfahrung des Endes der Geschichte gilt es nun für Bataille aufzubrechen und zu überschreiten, indem er dem »knechtischen Dasein« das »souveräne Dasein« diametral entgegensetzt. Dieses souveräne Dasein nun besteht unter anderem aus mystisch-ästhetischen Zuständen, oder wie Bataille lieber sagt: es basiert auf dem Phänomen der inneren Erfahrung, in Momenten der Subjektlosigkeit, die einen Zustand des Glücks darstellen, in denen der gesellschaftliche und sprachliche Selbstbezug des Menschen aufgehoben wird und der diskursiv nur unzureichend wiederzugeben ist. Das souveräne Dasein führt für Bataille aus der Schein-Existenz, die der Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft führt, hinaus. Die Kunst jedoch, die Erfahrung von Kunst, die ästhetische Erfahrung gleichen sich der Souveränität an: »In der Kunst kehrt das Verlangen wieder«, schreibt Bataille, »zuerst jedoch als Verlangen, die Zeit zu annullieren (das

realismus« (1966), in ders., Vom Kult zur Kultur, München 1996, S. 135-159.

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Verlangen zu annullieren) […]. In der Kunst gelangt der Mensch wieder zur Souveränität (zur Erfüllung des Verlangens)«.21 Die Kunst erhält somit für Bataille eine Erlösungsfunktion.

III. 1943, im gleichen Jahr wie Sartres L’être et le néant (Das Sein und das Nichts) und unter deutscher Besatzung, erschien Batailles erste im engeren Sinne philosophische Schrift: L’expérience intérieure. Bataille war zu diesem Zeitpunkt einer breiten Öffentlichkeit in Frankreich noch nicht bekannt – viele seiner pornographischen und obszönen Erzählungen hatte er unter Pseudonym veröffentlicht – was sich jedoch schlagartig änderte, als Sartre eine sehr ausführliche und polemische Besprechung der Schrift Ende 1943 in Les Cahiers du Sud unter dem Titel »Ein neuer Mystiker« veröffentlichte.22 Zwar lobt Sartre Batailles literarischen Stil, seine Form des essayistischen Schreibens, doch seien die philosophischen und politischen Konsequenzen der Schrift untragbar. Er bezeichnet Batailles Entwurf als ›schwarzen Pantheismus‹23, »der am Ende einer bacchischen Trunkenheit« stehe.24 Zudem ließe sich auf Batailles Konzept der inneren Erfahrung keine intersubjektive Kommunikation aufbauen. Außerdem kritisiert Sartre, dass Bataille Aussagen einer authentischen existentiellen inneren Erfahrung mit Behauptungen eines eher spekulativen und metaphysischen Szientismus verbindet, d.h. – und 21 G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 83. 22 Vgl. Jean-Paul Sartre: »Ein neuer Mystiker (1943)«, in: ders., Situationen, Reinbek bei Hamburg 1965, S. 59-88. Vgl. zur Polemik Sartres Gerd Bergfleth: »Batailles atheologische Mystik«, in: Georges Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance, Berlin 2005, S. 337-389, besonders S. 366-381. – Bernard-Henri Lévy interpretiert die Polemik Sartres gegenüber Bataille als Ausdruck seines Willens, sich die Deutungshoheit über Nietzsche gegen den Nietzscheaner Bataille zu sichern. Lévy schreibt dazu: »Kein Zweifel. Das Streitobjekt ist sehr wohl Nietzsche. Es gibt eine ›Affäre Nietzsche‹, die für die Konstitution des Sartreschen Denkens entscheidend ist. Es gibt eine Schlacht darum, wer den Kontinent Nietzsche unter seine Kontrolle bringt, die für den jungen Sartre ebenso wesentlich ist wie die Schlacht um Husserl und um Heidegger. Von diesem dritten Sieg hängt die dauerhafte Besetzung des Throns des absoluten Intellektuellen ab.« Bernard-Henri Lévy: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, München 2005, S. 173. 23 Vgl. J.-P. Sartre: »Ein neuer Mystiker«, S. 87. 24 Ebd., S. 79.

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das scheint Sartre völlig unmöglich – sich Bataille zugleich von innen und von außen betrachte. Bataille werfe zudem die Kategorien der Transzendenz und Immanenz durcheinander. »Die Mystik« sei »Ek-stase, das heißt ein Losreißen von sich selbst zu etwas hin… und sie ist intuitiver Genuss des Transzendenten«, schreibt Sartre und fragt provokativ: »Wie kann ein Denker, der gerade die völlige Transzendenzlosigkeit behauptet hat, in diesem und durch diesen Schritt zu einer mystischen Erfahrung kommen?«25 Sartres Besprechung endet mit einer Empfehlung: Bataille solle sich einer Analyse unterziehen, wobei er allerdings nicht an die »groben und verdächtigen Methoden Freuds, Adlers oder Jungs« denkt, »es gibt andere Psychoanalysen«, behauptet Sartre am Ende seiner Besprechung.26 Bei L’Expérience intérieure nun handelt es sich um den ersten Teil der ›Atheologischen Summe‹ von Georges Bataille – um eine atheistische und poetische Meditation, um eine Suche nach und Erkundung von intensiven inneren Erlebnissen, die mystischen Erlebnissen gleichen sollen. Das Werk ist dunkel, verworren, und eine durchgängige logische Argumentationsweise sucht man vergebens. In dieser Schrift bezieht er sich auch auf Klassiker der mystischen Literatur wie Teresa de Ávila oder Sán Juán de la Cruz, doch zugleich ist ihm wichtig, Mystik nicht als christlichreligiöses Phänomen zu verstehen, daher geht er auch auf hinduistische und buddhistische Formen der Mystik ein, ja Bataille versucht, Mystik von allen religiösen oder theologischen Systemen zu lösen. Mystik hat für Bataille nichts mit Glauben oder Frömmigkeit zu tun. Daher beginnt Bataille seine Überlegungen in L’Expérience intérieure auch mit folgender Feststellung: Ich verstehe unter innerer Erfahrung das, was man gewöhnlich mystische Erfahrung nennt: die Zustände der Ekstase, der Verzückung oder wenigstens einer meditativen Gemütsbewegung. Aber ich denke weniger an die glau-

25 Ebd., S. 83. 26 Ebd., S. 88. – Diese polemische Invektive Sartres bezieht sich wahrscheinlich auch auf die Tatsache, dass Bataille sich 1927 einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen hatte, die Bataille später bereute. Insgesamt lässt sich in Batailles Werk ab den 1930’er Jahren eine starke Abneigung gegen die Freud’sche Psychoanalyse feststellen. In ihrem ›Anti-Freudianismus‹ konvergieren Bataille und Sartre auf erstaunliche Art und Weise, stellte doch die Freud’sche Psychoanalyse, indem sie auf einer rationalen Theorie des Irrationalen und einer rationalen Behandlungstechnik insistiert, eine echte Herausforderung und Bedrohung für ihre jeweiligen philosophischen Projekte dar.

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Georges Batailles »innere Erfahrung« bensmäßige Erfahrung, an die man sich bisher halten musste, als an eine entblößte Erfahrung, die selbst ihrer Herkunft nach von Bindungen an einen beliebigen Glauben frei ist. Darum liebe ich das Wort Mystik nicht.27

Mit den drei Ausdrücken Ekstase, Verzückung und meditativer Gemütsbewegung bezeichnet Bataille die drei Grundformen der inneren Erfahrung, die er im Laufe des Buches immer weiter ausdifferenzieren wird. Er berichtet auch von eigenen inneren Erfahrungen, so z.B. von einem Nachmittag, den er auf einer »schmalen weißen Veranda« verbrachte. Er schreibt: Im Augenblick, da der Tag zur Neige ging, da die Stille einen immer reineren Himmel erfüllte, saß ich in einer schmalen weißen Veranda, von der aus ich nichts sah als ein Hausdach, das Laubwerk eines Baumes und den Himmel. Bevor ich mich erhob, um schlafen zu gehen, spürte ich, wie sehr die Ruhe der Dinge mich durchdrungen hatte. Es hatte mich nach einer starken Gemütsbewegung verlangt, und in dieser Hinsicht bemerkte ich, dass der Zustand der Glückseligkeit, in dem ich versunken war, sich ganz und gar nicht von den mystischen Zuständen unterschied. […] Ich konnte nicht leugnen, dass diese banale Glückseligkeit […] eine innere Erfahrung war, die offensichtlich vom Projekt, vom Diskurs verschieden war.28

Dieser Abend auf der »schmalen weißen Veranda« ist für Bataille ein Moment der Glückseligkeit, der non-verbalen und begriffslosen meditativen Gemütsbewegung, in der ein Gefühl der Harmonie und der existentiellen Fülle, eine Verbindung zur Totalität des Seins29 entsteht. Was meint Bataille jedoch, wenn er von der inneren Erfahrung als einer ›entblößten Erfahrung‹ spricht? Nun, eine entblößte Erfahrung heißt, alles aufs Spiel setzen, was bisher sicher erschien, die völlige De-Zentrierung des Subjekts, die Auslöschung des Ichs in Kauf nehmen. »Am Ende setzt mich alles aufs Spiel,« schreibt Bataille, »ich bleibe suspendiert, entblößt, in einer definitiven Einsamkeit: vor der undurchdringlichen Einfachheit des Seienden; und da der Weltengrund sich aufgetan hat, hat das, was ich sehe und was ich weiß, keinen Sinn, keine Grenze mehr, und ich werde erst anhalten, wenn ich so weit vorgestoßen bin, wie ich irgend kann.«30

27 28 29 30

G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 13. Ebd., S. 155f. Vgl. dazu G. Bataille: Nietzsche, S. 248f. G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 265.

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Bataille stellt sich mit seiner Atheologischen Summe, mit seinem Konzept »der inneren und entblößten Erfahrung« in die Tradition Nietzsches, indem er formal eine aphoristische und skizzenhafte Schreibweise wählt und inhaltlich von der Diagnose vom Tod Gottes ausgeht. Seine Meditationen sind Erkundungen, die immer wieder die Gedankenfigur eines Abstiegs evozieren oder explizit inszenieren. Wie Nietzsche geht Bataille davon aus, dass jegliche Möglichkeit einer letzten, metaphysischen Orientierung verschwunden und illegitim ist. Die ehemals hierarchisch strukturierte und insgesamt geordnete Welt fällt in sich zusammen, so dass der Mensch radikal auf sich selbst zurückgeworfen ist und die Erfahrung äußerster Sinnlosigkeit und Verlassenheit macht. Für Bataille setzt der Tod Gottes den Menschen der kontingenten Logik einer bewusstlosen Materie aus, die sich nicht mehr auf ontologische und metaphysische Spekulationen zurückführen lässt, und doch bleibt ein religiöses Bedürfnis nach Totalität.31 Er zieht daraus die Konsequenz, dass alle philosophischen Versuche scheitern müssen, die dem Menschen als Erkenntnissubjekt einen Beobachterstandpunkt zuweisen, von dem aus die Totalität der Wirklichkeit betrachtet werden kann oder könnte. Bataille sieht im Tod Gottes jedoch, ebenso wie Nietzsche, und im Ende der Geschichte, wie wir gesehen haben, die Möglichkeit, einen neuen Erfahrungsraum zu konstituieren, innerhalb dessen der Mensch die früher von Gottesvorstellungen in Anspruch genommenen Konzepte der Totalität, Freiheit und Souveränität für sich in Anspruch nehmen kann. Michel Foucault schreibt daher auch in seinem Bataille-Aufsatz »Zum Begriff der Übertretung«: »Der Tod Gottes, der unserer Existenz die Grenze des Unbegrenzten nimmt, führt sie zu einer Erfahrung zurück, in welcher nichts mehr die Äußerlichkeit des Seins ankündigen kann, also zu einer

31 Sartre schreibt dazu: »Bataille überlebt den Tod Gottes. Und diesen Tod, den er erlebt, erlitten, überlebt hat, scheint, sobald man nachdenkt, unsere ganze Epoche zu überleben. Gott ist tot: wir wollen darunter nicht verstehen, dass er nicht existiert, nicht einmal, dass er nicht mehr existiert. Er ist tot: er hat zu uns gesprochen, und jetzt schweigt er, wir sprechen nur noch seine Leiche an. Vielleicht ist er aus der Welt hinausgeglitten wie die Seele eines Toten, vielleicht war es nur ein Traum. Hegel hat versucht, ihn durch sein System zu ersetzen, und das System ist untergegangen; Comte durch die Menschheitsreligion, und der Positivismus ist untergegangen. […] Gott ist tot, aber der Mensch ist deswegen nicht Atheist geworden.« J.-P. Sartre: »Ein neuer Mystiker«, S. 67.

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inneren und souveränen Erfahrung.«32 Die innere und souveräne Erfahrung des Menschen erfüllt für Bataille zwei Funktionen: Erstens trägt sie der unhintergehbaren Immanenz menschlichen Handelns und Erkennens Rechnung, und zweitens gewährleistet sie gleichzeitig die Möglichkeit, die Immanenz von Denken und Sprache zu transzendieren, und zwar innerhalb der Welt, ohne eine außerweltliche transzendente Bezugsgröße anzunehmen. Die »innere Erfahrung« eröffnet also die Möglichkeit einer Transzendenz-Erfahrung in der reinen Immanenz der Welt, indem sie alle Subjekt-Objekt-Dualismen hinter sich lässt. Bataille schreibt: »Die Erfahrung erreicht schließlich die Verschmelzung von Objekt und Subjekt, indem sie als Subjekt Nichtwissen ist, als Objekt das Unbekannte.«33 Transzendenz-Erfahrung meint hier so viel wie die Überwindung des egozentrischen Subjektverständnisses des modernen Menschen, der sich in Subjekt-Objekt-Dualismen gefangen sieht.34 Zugleich ist es der Versuch, aus dem Dreieck Macht-Wissen-Subjektivität, wie es Michel Foucault rund 25 Jahre später beschreiben und analysieren wird, herauszutreten. Michel Foucault geht davon aus, dass Erfahrungen immer in Bezug auf Wissensformationen, Formen der Macht und Subjektivitätsformen zu denken sind, ja von ihnen bestimmt sind. Foucault definiert Erfahrung daher als »Korrelation […], die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektformen besteht«.35 Diese Korrelation, in Bataille Worten: ›das knechtische Dasein‹, gilt es aufzusprengen. Ob dies tatsächlich möglich ist, ist eine andere Frage.

32 Michel Foucault: »Zum Begriff der Übertretung« (1963), in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1979, S. 69- 89, hier S. 71. 33 G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 21. 34 Gerd Bergfleth schreibt zu dieser Gedankenfigur Batailles: »Die Transzendenz kann gar nicht abgeschafft, sie kann nur verwandelt werden, und zwar deshalb, weil der Mensch selbst Transzendenz ist, und genau die gesuchte immanente Transzendenz. Das Dasein ist Aufstieg zum Gipfel, ist die Überschreitung seiner Grenzen, wie niemand leidenschaftlicher bekundet hat als Bataille. Die Transgression des Menschen ist allerdings nicht dasselbe wie die Transzendenz Gottes, die aufgegeben werden muss, weil sie der Souveränität des Menschen widerspricht. Der sich souverän überschreitende Mensch ist einer, der sich im Aufstand gegen den Himmel befindet und zugleich den Himmel auf die Erde herabführt. Denn er ist Prometheus, der Titanide.« G. Bergfleth: »Batailles atheologische Mystik«, S. 364. 35 Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2 (1984), Frankfurt a. M. 1989, S. 10.

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Bataille nennt den Zustand des Aufsprengens, des Überschreitens: Souveränität. Die klassische Idee der Souveränität ist an die Vorstellung von Herrschaft und Macht gebunden, doch Bataille unterstreicht: »Die Souveränität ist Revolte, sie ist nicht Ausübung der Macht. Die authentische Souveränität verweigert sich…«36 Konkrete Wege zur Souveränität sind für Bataille die Konfrontation mit dem sogenannten Heiligen, die ekstatischen Zustände des Opfers, des Festes und der Sexualität,37 alles, was er durch seine Nietzsche- und Walter F. Otto-Lektüre mit dem Gott Dionysos in Verbindung bringt:38 Erfahrungen des Verlustes, der Auflösung, des Rausches, des Todes und der Poesie.39 Die Aufhebung und Überschreitung jeglicher Grenzen, bis ins Nichts

36 G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 262. 37 Vgl. zur besonderen Korrelation von Sexualität und innerer Erfahrung das Kapitel »Die Erotik und die innere Erfahrung« in Georges Bataille: Die Erotik (1957), München 1994, S. 31-41. 38 Vgl. zu Walter F. Otto und seinen wissenschaftshistorischen Kontext Renate Schlesier: »›Arbeiter in Useners Weinberg‹: Anthropologie und antike Religionsgeschichte in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg«, in: dies., Kulte Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt a. M. 1994, S. 193-222. Zu Walter F. Ottos Rekonstruktion des Dionysos vgl. Hubert Cancik: »Dionysos 1933. Walter F. Otto als Religionswissenschaftler und Theologe am Ende der Weimarer Republik«, in: ders., Antik – Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, Stuttgart 1998, S. 165-186; Oliver Leege: »Dionysos in der modernen Religionsgeschichte«, in: Renate Schlesier/Agnes Schwarzmeier (Hg.), Dionysos. Verwandlung und Ekstase, Berlin/Regensburg 2008, S. 132-141. 39 In diesem Zusammenhang ist wieder auf den antiken Dionysos-Kult zu verweisen, der Bataille als paradigmatisches Beispiel dient. Bataille schreibt über die dionysischen Orgien: »In der Orgie tritt ein archaischer Aspekt der Erotik hervor. Die orgiastische Erotik ist in ihrem Wesen gefahrvoller Exzess. Ihre explosive Ansteckung bedroht unterschiedslos alle Möglichkeiten des Lebens. Der ursprüngliche Ritus verlangte, dass die Mänaden in einem Anfall von Grausamkeit ihre kleinen Kinder lebendig verschlangen. Später erinnerte die blutige Omophagie von Zicklein, die die Mänaden gesäugt hatten, an diese Gräuel. Die Orgie richtet sich nicht nach der heilbringenden Religion, die aus der zugrunde liegenden Gewaltsamkeiten einen majestätischen, ruhigen und mit der profanen Ordnung zu vereinbarenden Charakter gewinnt: ihre Wirksamkeit liegt auf der unheilvollen Seite, sie erheischt Frenesie, Taumel und Verlust des Bewusstseins. Es geht darum, das Wesen in Gänze zu einem sinnverwirrenden Gleiten in den Selbstverlust zu veranlassen, was der entscheidende Augenblick der Religiosität ist.« G. Bataille: Die Erotik, S. 110.

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hinein,40 – vor allem der Grenzen der Moral, der diskursiven Sprache und der Subjektivität –, Batailles berühmtes Konzept der Transgression, sind dabei das wesentliche Merkmal. Ich nenne die Erfahrung eine Reise ans Ende des dem Menschen Möglichen. Jeder kann diese Reise auch nicht machen, aber wenn man sie macht, so setzt sie voraus, dass die bestehenden Autoritäten und Werte negiert sind, die das Mögliche begrenzen. Aufgrund dessen, dass sie die Negation anderer Werte, anderer Autoritäten ist, wird die Erfahrung in ihrer positiven Existenz rechtsgültig selbst zum Wert und zur Autorität.41

Nun kann man sich fragen, warum dies überhaupt nötig ist, warum man, metaphorisch gesprochen, eine solche Reise auf sich nehmen sollte? Darüber gibt Bataille keine klare und eindeutige Auskunft. Fest scheint nur zu stehen, dass es bei Bataille ein anthropologisches Bedürfnis nach einem All-Einheits-Gefühl gibt, so dass sich der Mensch in seiner Totalität, in seinem ganzen Sein erkennen, oder besser vielleicht: spüren kann. Es geht Bataille dabei um so etwas wie eine exzentrische, nichtdiskursive Erkenntnisform. Er schreibt: Wenn ich die Erkenntnis will, strebe ich über einen Umweg danach, das Ganze der Welt zu werden: aber in dieser Bewegung kann ich kein ganzer Mensch sein, ich ordne mich einem bestimmten Zweck unter: das Ganze zu werden. […] Dieser ganze Mensch kann ich nur werden, wenn ich aufgebe. Ich kann es nicht durch meinen Willen sein: mein Wille ist zwangsläufig der, ein Ergebnis zu erlangen! Aber wenn das Unglück (oder das Glück) es will, dass ich aufgebe, dann werde ich wissen, dass ich der ganze Mensch bin, der keiner Sache untergeordnet ist. Mit anderen Worten: […] um das Ganze der Welt zu sein, müsste der Mensch hierfür sein Prinzip aufgeben: nichts von dem zu akzeptieren, was er ist, außer des Jenseits dessen anzustreben, was er ist. Dieses Wesen, das ich bin, ist Revolte des Wesens, ist die unbestimmte Begierde.42

40 Vgl. folgende Bemerkung aus Batailles Abschnitt »Nichts, Immanenz und Transzendenz« aus seinem Nietzsche-Buch: »Das Nichts ist für mich die Grenze eines Wesens. Jenseits der – in Zeit und Raum – festgelegten Grenzen ist ein Wesen nicht mehr. Dieses Nichtsein ist für uns voller Sinn: ich weiß, dass man mich vernichten kann. Das begrenzte Wesen ist nur ein partikulares Wesen, aber die Totalität des Seins (verstanden als eine Summe der Wesen): existiert sie? Die Transzendenz des Wesens ist grundsätzlich dieses Nichts. Denn ein Objekt transzendiert uns, wenn es im Jenseits des Nichts erscheint, gewissermaßen als eine Gegebenheit des Nichts.« G. Bataille: Nietzsche, S. 248. 41 G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 18. 42 G. Bataille: Nietzsche, S. 246f.

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Das menschliche Subjekt ist aber nach Bataille keine wesenhafte Einheit, sein Prinzip, sein Wille etwas zu sein, ein Aspekt seiner Schein-Existenz. Wie bei Nietzsche ist der Mensch, ist das menschliche Subjekt bei Bataille Verschiebungen und Teilungen unterworfen. Der Mensch ist nur vordergründig ein Individuum, in Wirklichkeit ist er ein Dividuum.43 Die innere und souveräne Erfahrung ist gerade die Erfahrung einer unmöglichen Einheit und des Bruchs mit sich selbst. Das souveräne Subjekt bejaht im Gegensatz zur nicht-souveränen Subjektauffassung diese Teilung, die konstitutive Beziehung zu seinem Anderen im eigenen Innern, und bejaht damit seinen Bruch im Inneren. Formen dieses souveränen Daseins sind neben der Ekstase für Bataille die Trunkenheit, die erotische Ergießung, die Ergießung des Opfers, die poetische Inspiration und das Lachen.44 Seine Teilung liegt einerseits in dem Ich, dem (je), das dem Gesetz der Sprache unterworfen ist und dem Selbst, dem (ipse), das realer Träger der ekstatischen und inneren Erfahrung ist.45 Das Selbst kann jedoch nicht im Diskurs oder im Gesagten aufgehen, weil sich das Ekstatische und die innere Erfahrung nicht in Worten allein begreifen lassen. Bataille schreibt dazu: Man muss die Erfahrung leben, sie ist nicht leicht zugänglich, und von außen durch die Intelligenz betrachtet, müsste man in ihr sogar eine Summe unterschiedlicher Verfahren sehen, von denen die einen intellektuell sind, andere ästhetisch, noch andere schließlich moralisch, womit das ganze Problem

43 Vgl. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München u.a. 1980, Bd. 2, S. 76. 44 Vgl. G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 258. 45 Gerd Bergfleth schreibt zum ›ipse‹ bei Bataille: »Das Ipse ist das Selbst, verstanden als Reflexivbestimmung des Ichs (ego ipse = ich selbst); entsprechend ist die Ipseität die Selbstheit. Zur Herkunft des Begriffs nur so viel: Henry Corbin hat ihn 1938 zur Wiedergabe von Heideggers ›Selbstheit‹ benutzt, weil die Franzosen kein eigenes Wort für ›Selbstheit‹ haben. Es ist aber nachweislich falsch, wenn Sartre behauptet, Bataille habe den Begriff von Heidegger übernommen, denn Bataille hat seinen ›Labyrinth‹-Aufsatz 1936 geschrieben. Sartre, der es wissen musste, da er seinerseits Corbins ›ipséité‹ in L’être et le néant verwandt hat, hat geflissentlich übersehen, dass unter Batailles Kapitel klar und deutlich ›Februar 1936‹ steht. Es liegt also kein Grund vor, an Batailles Richtigstellung zu zweifeln: ›Ich habe, was mich angeht, Ipseität im Sinn des Wörterbuchs von Lalande geschrieben, wegen einer Zweideutigkeit in der Individualität – in allen Punkten identisch, ist diese Fliege dennoch nicht jene.‹« G. Begfleth: »Batailles atheologische Mystik«, S. 345.

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Will man das Ekstatische, die innere Erfahrung, dennoch beschreiben, muss das Ich für das Selbst als Träger der inneren Erfahrung sprechen. Das Ich will also etwas sagen, was es selbst nicht sagen kann. Das sogenannte mystische Paradox, die Kommunikation des Inkommunikablen, ist bei Bataille anthropologisiert. Und zwar in die Struktur des menschlichen Wesens verlegt. Ist Bataille nun ein Irrationalist, ein neuer Mystiker, der jeglicher intersubjektiven Kommunikation eine Absage erteilt, wie Sartre ihn in seiner Besprechung darstellte? Derrida widerspricht dem, für ihn ist Bataille kein neuer Mystiker. »Was sich, um die Gewissheit des diskursiven Wissens zu erschüttern, als mystisch [bei Bataille, R.S.M.] ansagt,« schreibt Derrida, »weist über die Opposition von mystisch und rational hinaus. Bataille ist vor allem kein neuer Mystiker. Was sich als innere Erfahrung ansagt, ist keine Erfahrung, da sie sich auf keine Präsenz, auf keine Fülle, sondern lediglich auf das Unmögliche bezieht […]«.47 Batailles Konzept der inneren und souveränen Erfahrung ist seine Antwort auf die Diagnosen vom Tod Gottes und vom Ende der Geschichte, auch und gerade vor dem Hintergrund der Terrorherrschaften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei greift er, wie wir gesehen haben, auf zentrale Motive wie das mystischen Paradox, das All-Einheits-Gefühl oder die Verschmelzung von Subjekt und Objekt zurück, die aus mystischen Traditionen bekannt sind, und ästhetisiert und anthropologisiert sie. Und doch ist eine Beobachtung Sartres sehr treffend: »Im Gegensatz zu dem analytischen Vorgehen der Philosophen wirkt das Buch von Bataille, so könnte man sagen, wie das Ergebnis eines totalitären Denkens.«48 Gerade Batailles Tendenz, sich bei dem Entwurf einer mystisch-ästhetischen, inneren Erfahrung auf vorgeblich Archaisches wie das (Selbst-)Opfer und den gewalttätigen individuell-kollektiven Rausch zu beziehen, hat etwas mythisierend Totalitäres. Batailles grundsätzliche Tendenz, die sich darin ausdrückt, so etwas wie einen ›heiligen Primitivismus‹ zu entwickeln, zeigt sich auch in seinem Konzept der inneren Erfahrung. Indem Bataille einerseits die Vorstellung eines archaischen Kollektivs 46 G. Bataille: Innere Erfahrung, S. 20f. 47 Jacques Derrida: »Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus«, in: ders.: Die Schrift und die Differenz (1967), Frankfurt a. M. 1976, S. 380-421, hier S. 413. 48 J.-P. Sartre: »Ein neuer Mystiker«, S. 63.

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emphatisch entwirft und andererseits sich die Zersetzung der individuellen Identität, die er nur als scheinhafte denken kann, zum Ziel gesetzt hat, zeigen Batailles Überlegungen durchaus eine unfreiwillige Affinität zu reaktionärem Gedankengut. Ob Batailles innere Erfahrung innerhalb der ästhetischen Moderne tatsächlich – bei aller subversiv intendierten Geste – eine märtyrerhafte Revolte oder eine reaktionäre Tat oder lediglich eine pathetische Weltflucht darstellt, ist ein anderes Thema und kann hier nicht weiter verfolgt werden. Wie erfrischend anders und ebenfalls modern hört sich da der Erzähler in Richard Fords Roman The Sportswriter Frank Bascombe – ehemaliger Schriftsteller, Universitätsdozent, zukünftiger Immobilienmakler, der Häuser mit einer ›schmalen weißen Veranda‹ in Neuengland verkaufen wird – in seiner nüchternen, dem Leben zugewandten Form an: Auch das lernt man als Sportreporter: Es gibt keine transzendenten Dinge im Leben. Dinge sind ausnahmslos hier, und sie sind vorbei, und das muss genügen. Die andere Sicht der Dinge ist eine Lüge der Literatur und der Geisteswissenschaften, ein Grund dafür, dass ich als Lehrer keinen Erfolg hatte, und auch ein Grund, weshalb ich meinen Roman in die Schublade gelegt und nicht wieder herausgeholt habe.49

Literatur Bataille, Georges: Die innere Erfahrung (1943) nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953. Atheologische Summe I, Berlin 1999. Bataille, Georges: Nietzsche und der Wille zur Chance (1945), Berlin 2005. Bataille, Georges: »Madame Edwarda (1956)«, in: ders., Das obszöne Werk, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 55-78. Bataille, Georges: Die Literatur und das Böse (1957), München 1987. Bataille, Georges: Die Erotik (1957), München 1994. Bataille, Georges: »Mystik und Sinnlichkeit« (1957), in: ders., Die Erotik, München 1994, S. 215-244. Bergfleth, Gerd: »Batailles atheologische Mystik«, in: Georges Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance, Berlin 2005, S. 337-389. Boscetti, Anna: Sartre et les »Les Temps modernes«, Paris 1985.

49 Richard Ford: Der Sportreporter (1986), Berlin 2006, S. 24.

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Georges Batailles »innere Erfahrung«

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Roberto Sanchiño Martínez

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II. Literatur

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»Mystik als Wortlosigkeit / Dichtung als Form« Celans Poetik der Dunkelheit FELIX CHRISTEN

Lichtzwang, die letzte von Paul Celan selbst zum Druck vorbereitete Gedichtsammlung, enthält im Titel implizit die Dunkelheit.1 Im Gedicht »Wir lagen«, dessen letzter Vers aus dem titelgebenden Wort »Lichtzwang« besteht, wird das Dunkle im Verbum einer – vom Licht suspendierten – Bewegung benannt: Doch konnten wir nicht hinüberdunkeln zu dir: es herrschte Lichtzwang.2

Dieselbe Sammlung beschließen drei Gedichte, das sogenannte »Eckhart-Triptychon«, welche einen möglichen Horizont für das Verhältnis von Dunkel und Licht indizieren: die Mystik. Der Vers in der genauen arithmetischen Mitte dieses Triptychons rückt dabei die Sprache selbst ins Finstere; es heißt dort: »Sprache, Finster-Lisene«.3 Überlegungen zum Verhältnis von Hellem und Dunklem sind für ein Verständnis dieses Spätwerks unabdingbar und dürfen sich zugleich, sollen sie ›entferntes Verstehen‹4 und nicht Enträtselung sein, nicht auf einen – dem Leser zu Verfügung stehenden – Sinn beschränken. Das Dunkle – so sollen die

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Zur Genese des Titels vgl. Paul Celan: Werke. Tübinger Ausgabe, hg. von Jürgen Wertheimer u.a., Frankfurt a. M. 1996-2004, Bd. Lichtzwang, S. 2f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 177. Vgl. Werner Hamacher: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a. M. 1998.

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Felix Christen

folgenden Ausführungen erweisen – zeigt gerade selbst das Problem des Verstehens an. Eine, wenn man es so nennen darf, Reflexion der Dunkelheit, in der ebenfalls mit Bezügen zur Mystik eine Poetik des Verstehens entworfen wird, findet sich bereits in Celans früher Dichtung und kulminiert im nachgelassenen Vortragsprojekt »Von der Dunkelheit des Dichterischen« vom Herbst 1959.5 Dieser erst vor wenigen Jahren aus dem Nachlass publizierte Entwurf ist der Büchner-Preis-Rede, dem »Meridian«, in vielerlei Hinsicht verwandt und setzt doch einen anderen Akzent, der nicht nur Celans Poetik, sondern auch seine Dichtung – von der Zeit während der Abfassung der Niemandsrose, in der es entstand, bis zu den späten Gedichten aus der Sammlung Lichtzwang und darüber hinaus – in ein anderes Licht stellt. Axel Gellhaus erläutert in seinen Anmerkungen zur »Konzeptgenese der Büchner-Preisrede«, dass Celan von den ca. 50 Blättern mit Aufzeichnungen und Notizen zum Vortrag über die Dunkelheit einen Teil in den Arbeitszusammenhang der Büchner-Preis-Rede integrierte und damit aus ihrem genetischen Zusammenhang löste. Die entsprechenden Blätter tragen jedoch Markierungen mit rotem Farbstift von Celans Hand und lassen sich aufgrund dieser Markierungen sowie unter Berücksichtigung des verwendeten Papiers nicht nur als Teil der Konzeptgenese des »Meridian« verstehen, sondern auch der Textgenese des Vortrags über das Dunkle, dem Konvolut mit der Aufschrift »Vo[m]n Dunkelheit des / Dichterischen«, eindeutig zuordnen.6 Celan führte auch nach der Absage der Teilnahme an der Tagung »Die ›Dunkelheit‹ in der modernen Dichtung«, bei welcher er den Vortrag hätte halten sollen, in einer kurzen Liste seiner Essays an zweiter Stelle die »Dunkelheit« auf.7 Die Absage vom September 1959 nach intensiver Arbeit im August desselben Jahres bedeutet also keine definitive Zurücknahme des

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Paul Celan: »Das Vortragsprojekt ›Von der Dunkelheit des Dichterischen‹«, in: ders., »Mikrolithen sind’s, Steinchen«. Die Prosa aus dem Nachlaß, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou, Frankfurt a. M. 2005, S. 130-152. Vgl. Axel Gellhaus: »Von der Dunkelheit des Dichterischen. Die Konzeptgenese der Büchner-Preisrede Paul Celans«, in: Françoise Lartillot/Axel Gellhaus (Hg.), Dokument/Monument, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 315326. Vgl. auch Barbara Wiedemann/Bertrand Badiou: »Editorisches Nachwort«, in: Paul Celan: »Mikrolithen sind’s, Steinchen«. Die Prosa aus dem Nachlaß, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou, Frankfurt a. M. 2005, S. 221-266, hier S. 252f. Vgl. A. Gellhaus: »Von der Dunkelheit des Dichterischen«, S. 323.

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»Mystik als Wortlosigkeit / Dichtung als Form«

Projektes, das zumeist als Teil der Vorarbeiten für die BüchnerPreis-Rede zur Kenntnis genommen worden ist, aber in seiner Genese und Bedeutung nicht mit dieser zusammenfällt. Im Folgenden wird deshalb, ausgehend von den nachgelassenen Vortragsnotaten, Celans Poetik der Dunkelheit als eigenständiger Entwurf untersucht und an Hand von Celans dichterischer Auseinandersetzung mit der Mystik befragt. Unter Mystik sei für diesen Zusammenhang, eng umgrenzt, das Korpus von Texten verstanden, das mit Celans Dichtung und Poetik lesbar ist in Hinsicht auf eine bestimmte Zeit- und Sprachstruktur, im Besonderen die Abwendung von der Sprache und die Hinwendung zur Sprache bei Meister Eckhart und in der lurianischen Kabbala. Eine Poetik der Dunkelheit findet ihre Voraussetzungen in den antiken literarästhetischen Schriften, die das Dunkel, den skotos oder die obscuritas – anders als die Schulrhetorik, der die Klarheit der Rede, die saphřneia oder perspicuitas, unabdingbar war –, nicht als Stilfehler, sondern als eigenständige Dimension literarischer Sprache verstanden.8 In Quintilians Rhetorik – im Abschnitt über die perspicuitas und die obscuritas, dem zweiten Kapitel des achten Buches – wird die Dunkelheit auf den Ebenen der Wortwahl und Syntax als Fehler gerügt. Insbesondere wird die Neigung kritisiert, mit Absicht die Rede zu verdunkeln, wie sie etwa bei dem Rhetor sich findet, der seine Schüler nicht nur anwies, unverständlich zu sprechen mit dem Imperativ skotison, ›sag’s dunkel!‹, sondern auch zu loben pflegte, indem er sagte: »Um so besser – nicht einmal ich habe es verstanden!«9 Demgegenüber stellt die antike Dichtungstheorie, beginnend mit Aristoteles’ Ausführungen zum Fremden in der literarischen Sprache, die Frage nach der Dichtung auch als Frage nach einer Sprache, die vom gewohnten Gebrauch, der Verständlichkeit zu verbürgen meint, abweichen will. In der aristotelischen Poetik ist die literarische Rede gerade durch ihre Abweichung vom gewöhnlichen Ausdruck, dem kyrion, bestimmt; zwar soll sie klar sein, saphřs, dabei aber fremdartig: 8

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Vgl. Manfred Fuhrmann: »Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike«, in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik – ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966, S. 47-72. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners, hg. und übers. von Helmut Rahn, Darmstadt 1972-1975, Bd. 2, S. 146 (VIII 2, 18): »tanto melior: ne ego quidem intellexi.« Vgl. dazu Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Frankfurt a. M., Basel 1995, S. 143.

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Felix Christen Die vollkommene sprachliche Form ist klar und zugleich nicht banal. Die sprachliche Form ist am klarsten, wenn sie aus lauter üblichen Wörtern besteht; aber dann ist sie banal. […] Die sprachliche Form ist erhaben und vermeidet das Gewöhnliche, wenn sie fremdartige Ausdrücke verwendet. Als fremdartig bezeichne ich die Glosse, die Metapher, die Erweiterung und überhaupt alles, was nicht üblicher Ausdruck ist [xenikon de legǀ glǀttan kai metaphoran kai epektasin kai pan to para to kyrion].10

Zu dieser Stelle der Poetik findet sich in der aristotelischen Rhetorik ein Selbstkommentar, der die Ästhetik unversehens mit einem Verhältnis zwischen Menschen vergleicht. Dort erläutert Aristoteles: Von den Substantiva und Verba bewirken die gebräuchlichen die Klarheit der Rede, die anderen Wörter, über die in der Poetik gesprochen worden ist, machen die Rede nicht niedrig, sondern schmuckreich, denn die Abweichung vom Gewöhnlichen läßt den Stil erhabener erscheinen. Die Menschen erleben ja hinsichtlich des sprachlichen Ausdrucks dasselbe wie im Umgang mit Freunden und Mitbürgern. Daher ist es nötig, der Sprache einen fremden Ton zu geben, denn man bewundert das, was entfernt ist, und was Bewunderung hervorruft, ist angenehm. In der gebundenen Rede erzeugt vieles diese Wirkung, und dort hat es auch seinen Platz […].11

Dieser Vergleich, der en passant den ›fremden Ton‹ der gebundenen Rede und den Umgang mit Menschen zusammen denkt, wird in der Rhetorik nicht weiter ausgeführt. Was jedoch bei Aristoteles nur verglichen wird, der Gebrauch von Sprache und das Verhältnis zwischen Menschen, ist in Celans Dichtung und Poetik unauflöslich verbunden. Die Abweichung von der Klarheit, der ›fremde Ton‹ gebundener Rede, ist bei Celan zugleich eine bestimmte Form der Begegnung. Die Dunkelheit ist in Celans Poetik dem fremden Ton gebundener Rede verpflichtet; sie ist eine Dunkelheit des Dichterischen und damit einer sprachlichen Gestalt, der Form der Dichtung. Diese aber ist für Celan nicht hinreichend in rhetorischen oder ästhetischen Termini beschreibbar, sondern verlangt eine Ethik der sprachlichen Form – auch dort, wo die Ästhetik der Wahrnehmung, der aisthesis, verpflichtet bleibt. »[A]isthesis genügt nicht«, notiert Celan, »[…] es bedarf personaler Gegenwart, es bedarf des Gesprächs; Gespräch und Unterhaltung, das ist zwei10 Aristoteles: Poetik, übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1997, S. 70f. (1458a). 11 Aristoteles: Rhetorik, übers. von Gernot Krapinger, Stuttgart 2005, S. 154f. (1404b).

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»Mystik als Wortlosigkeit / Dichtung als Form«

erlei; Gespräche nehmen in Anspruch, sie strengen an.«12 Diese Anstrengung ist eine Anstrengung des Verstehens; sie ist ein Verstehenwollen, das gerade darin seinen Grund findet, dass dasjenige, was verstanden sein will, sich dem Verstehen entzieht. Das ›Entzogensein im Bezug‹, die Abwesenheit von Verständlichkeit, die für den Prozess des Verstehens Bedingung ist, heißt bei Celan – so meine erste, vorläufige Deutung des Wortes – Dunkelheit. Das Dunkel ist dabei der Dichtung nicht äußerlich, sondern eine Bestimmung des Gedichtes selbst. Gedicht und Dunkel fallen im »Gedichtdunkel« zusammen. In Celans Notaten »Von der Dunkelheit des Dichterischen« heißt es: Das Gedicht ist als Gedicht dunkel, es ist dunkel, weil es das Gedicht ist. Darunter, unter dieser kongenitalen Dunkelheit verstehe ich freilich nicht etwa jene Lichtenbergschen Zusammenstöße von Büchern und Leserköpfen, bei denen es nicht immer vom Buch her hohl klingt; im Gegenteil, das Gedicht will verstanden sein, es will gerade, weil es dunkel ist verstanden sein –: als Gedicht, als ›Gedichtdunkel‹. Jedes Gedicht erheischt also Verständnis, Verstehenwollen, Verstehenlernen […].13

Die Relation zwischen Verstehen und zu Verstehendem – hier im Zeichen einer Dunkelheit, welche sich nicht erklären, nicht aufhellen lässt – hat Werner Hamacher im Anschluss an eine Formulierung Celans als ›entferntes Verstehen‹ benannt. Im entfernten Verstehen wohnt eine Differenz, welche das Verstehen nicht unterbricht, sondern es ermöglicht, weil ein bereits Verstandenes den Verstehensprozess und damit die Relation von Text und Leser auflösen müsste. Bei Hamacher heißt es: […] Verstehen tut immer ein anderer, dessen Differenz zum Verstandenen irreduzibel bleibt. Verstanden wird – auch im sogenannten Selbstverstehen – immer ein anderes, und zwar in der Weise, daß eine Beziehung zu ihm, wie bekannt oder vertraut es sein mag, jeweils zum ersten Mal oder zum ersten Mal wieder angeknüpft wird. Verstehen ist also zwar eine Relation, aber eine Relation zu einem Neuen, wie alt es auch sei, zu einem anderen, selbst wenn es das Nächstliegende wäre, und zu einem, das sich nur als Unverstandenes darbieten kann, selbst wenn es schon als bekannt gilt. Es ist also jeweils eine andere, neue und nicht-antizipierbare Beziehung zu einem Unverstandenen und bislang Unverständlichen. Ist es aber eine Beziehung zu einem bislang Unverständlichen, dann muß es auch eine zum Unverständlichen noch im Verstehen sein: denn anders wäre nicht ebendies, das bislang Unverstande-

12 P. Celan: »Von der Dunkelheit des Dichterischen«, S. 130. 13 Ebd., S. 132.

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Felix Christen ne, verstanden. Wenn Verstehen sich jeweils zu Fremdem verhält, dann muß es ein befremdetes Verhältnis sein.14

Das ›befremdete Verhältnis‹ ist ein Verstehensverhältnis, aber eines, das nicht bei einem Verstandenen ankommen will, sondern sich auf ein Unverstandenes hinbewegt. In einem Notat zu Max Schelers Aufsatz »Deutsche Philosophie der Gegenwart« hält Celan fest, dass das Lesen von Gedichten gerade nicht in der Zurückführung auf Bekanntes besteht, sondern dass die Richtung hin zum Unbekannten für dieses, das Unbekannte selbst, wesentlich ist: »[Das] Prinzip bestehe darin«, kommentiert Celan den Aufsatz von Scheler, »relativ Unbekanntes auf zuvor Bekanntes zurückzuführen. / Wer Gedichte so erklären will, der verliert aus den Augen, daß die Richtung, auf der der Weg zu ›Unbekannt‹ erfolgt, dieses Unbekannt mit konstituiert.«15 Dass etwas unbekannt ist, zeigt mithin eine Relation an, die als solche nicht bei einem Bekannten ankommen will; sie bleibt unterwegs. Deshalb ist sie auch, mit einem Wort, in der Zeit, zeitlich. Das Dunkel ist, so ließe sich sagen, ein ›Zeitdunkel‹. Dieses Unterwegssein als Relation in der Zeit ist dabei nicht nur auf die »Begegnung mit dem Gedicht«16 bezogen; der Durativ, das in der Zeit andauernde und deshalb Unvollendete, bestimmt bei Celan ebenso das Verhältnis zum – unter Verwendung eines ›bekannten Hilfswortes‹17 – ganz Anderen. Celan notiert im Konvolut zur Dunkelheit: »Im Jüdischen: Gott nicht als der Gekommene und Wiederkommende, sondern als der Kommende; damit ist die Zeit bestimmend, mitbestimmend; wo Gott nahe ist, geht die Zeit zu Ende.«18 Das Verhältnis zu Gott als kommendem, der nicht gekommen sein wird, zeigt ein Denken an, das im Kommen wohl eine Relation zwischen Menschlichem und Göttlichem entwirft, eine Verbindung aber, deren Voraussetzung gerade die Ferne des ganz Anderen ist. In einem früheren Fragment heißt es lapidar: »Nous nous sommes trop approchés de Dieu« – wir sind Gott zu nah gekommen.19 Das entfernte Verhältnis ist ein Verhältnis in

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W. Hamacher: Entferntes Verstehen, S. 10. P. Celan: »Von der Dunkelheit des Dichterischen«, S. 135. Ebd., S. 138. Vgl. P. Celan: Werke. Tübinger Ausgabe, Bd. Der Meridian, S. 8. P. Celan: »Von der Dunkelheit des Dichterischen«, S. 133. Paul Celan: »Aphorismen, Gegenlichter und aphoristische Fragmente«, in: »Mikrolithen sind’s, Steinchen«. Die Prosa aus dem Nachlaß, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou, Frankfurt a. M. 2005, S. 9-60, hier S. 49.

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»Mystik als Wortlosigkeit / Dichtung als Form«

der Zeit und vermittelt nicht zwischen der Zeit und einem ZuEnde-Gehen der Zeit. Das Gedicht, wird es denn als Hinwendung zu Gott verstanden, ist dabei, indem es ein Schreiben ist, ein Schreibprozess, gerade kein auf Nähe dringendes Gebet. Celan notiert: »›Schreiben als Form des Gebets‹, lesen wir – ergriffen – bei Kafka. Auch das bedeutet zunächst nicht Beten, sondern Schreiben: man kann es nicht mit gefalteten Händen tun.«20 Dass Lyrik Mystik sei, wie Celan gesprächsweise mitgeteilt haben soll,21 wäre – nimmt man Celans Poetik der Dunkelheit zur Kenntnis – dahingehend zu modifizieren, dass sich das Verhältnis zum ganz Anderen als zeitliches in der Ferne hält. »Der Gott des Gedichts«, so heißt es im Konvolut, »ist unstreitig ein deus absconditus.«22 Das Telos dieses Verhältnisses ist nicht die unio; ja, es ist gewissermaßen gar nicht in teleologischen Begriffen zu denken, weil es kein Ziel in der Zeit kennt. Celans Auseinandersetzung mit der Mystik kann so von dieser Relation in der Zeit her verstanden werden, die sich nicht nur von Ansätzen in der christlichen Mystik unterscheidet – vorab von Meister Eckhart, mit dem sich Celan intensiv auseinandergesetzt hat –, sondern auch das Verhältnis zu dieser Mystik bestimmt. Dieses Verhältnis ist selbst ein Verhältnis in der Sprache und in der Zeit, dessen Konturen ich in der Lektüre des zweiten Eckhart-Gedichtes der LichtzwangSammlung näher bestimmen will. Eckharts Lichtsymbolik für den Bereich des Göttlichen oder das Göttliche selbst – den Gott, der, wie es an einer Stelle heißt, nichts als Licht ist, »al ein lieht« – ist sowohl in den deutschen als auch in den lateinischen Predigten ausführlich dokumentiert; das »götlîche lieht« ist eine häufige Vokabel der deutschsprachigen Predigten und findet seine Entsprechung im Licht der Seele, das »liehte, daz ist in der sêle, daz ist ungeschaffen und ungeschepfelich«.23 Beide finden als Licht zu einer Gleichheit, von der in Predigt 31 die Rede ist.24 In Predigt 32 vereinen sich Seele und Gott als Licht:

20 P. Celan: »Von der Dunkelheit des Dichterischen«, S. 134. 21 Vgl. Franz Büchler: »Heute und morgen«, in: Neue deutsche Hefte 11 (1964), H. 97, S. 91-96, hier S. 92: »Celan sagte mir einmal im Gespräch: ›Lyrik ist Mystik‹.« 22 P. Celan: »Von der Dunkelheit des Dichterischen«, S. 136. 23 Meister Eckhart: Die deutschen Werke, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1958ff., Bd. 2, S. 418. 24 Ebd., S. 124.

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Felix Christen Und got ist ouch ein lieht; und swenne sich daz götlîche lieht giuzet in die sêle, sô wirt diu sêle mit gote vereinet als ein lieht mit liehte […]. [Und auch Gott ist ein Licht; und wenn man das göttliche Licht sich in die Seele gießt, so wird die Seele mit Gott vereint wie ein Licht mit dem Lichte […].]25

Es wäre aber eine ungenaue Eckhart-Lektüre, die nicht vermerken wollte, dass es bei Eckhart zugleich eine Abgeschlossenheit Gottes gibt, die im Begriff der Dunkelheit, der »vinsternisse« konvergiert, Zeichen einer apophatischen Theologie.26 Predigt 22 spricht vom stillen Dunkel der verborgenen Vaterschaft, »diu stille vinsternisse der verborgenen vaterschaft«.27 Allerdings soll in diese Dunkelheit gerade der Sohn, Christus, mit der ihm vermählten Seele eingehen: »Dort, wo er ausging aus dem Allerhöchsten, dort wollte er wieder eingehen mit seiner Braut im Allerlautersten und wollte ihr offenbaren die verborgene Heimlichkeit seiner verborgenen Gottheit […].«28 Angestrebt wird eine Vermittlung zwischen der Seele und Gott, die, wie Niklaus Largier in seiner Studie zu Zeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart zu zeigen unternimmt, die Bereiche von Zeit und Ewigkeit in ein vermitteltes Verhältnis setzt. In der ›Fülle der Zeit‹, von der Eckhart in Predigt 38 spricht, »In illo tempore missus est angelus«, endet die Zeit und wird zugleich in der Ewigkeit aufgehoben. »Fülle der Zeit ist Erfüllung des Zeitlichen und Aufhebung des Zeitlichen […]. Eckhart hebt hervor, dass dieser Begriff auf zwei Weisen verstanden werden muss: einerseits als Ende der Zeit, andererseits als Aufhebung der Zeit.«29 Bei Eckhart heißt es: Sant Pa u lu s sprichet: ›in der vüllede der zît sante got sînen sun‹. Sant A u g u s t în u s sprichet, waz dâ sî ›vüllede der zît‹: »dâ niemer zît enist, dâ ist ›vüllede der zît‹«. Danne ist der tac vol, als des tages niemer enist. Daz ist ein nôtwârheit: alliu zît muoz dâ abe sîn, dâ sich disiu geburt hebet, wan niht enist, daz diese geburt alsô sêre hinder als zît und crêatûre. [Sankt Paulus spricht: ›In der Fülle der Zeit sandte Gott seinen Sohn‹ . Sankt Augustinus erklärt, was ›Fülle der Zeit‹ sei: »Wo es nimmermehr Zeit gibt, da

25 Ebd., S. 142; die Übersetzung von Quint, S. 662. 26 Eckhardts negative Theologie unterscheidet sich dabei von einem Denken des Anderen, der Alterität, bei Emmanuel Levinas und Jacques Derrida. Vgl. dazu Ian Almond: »Doing Violence upon God. Nonviolent Alterities and their Medieval Precedents«, in: The Harvard Theological Review, 92, 3 (1999), S. 325-347. 27 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 388. 28 Ebd., S. 520. 29 Niklaus Largier: Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit. Ein Aufriss des Zeitproblems bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart, Bern u.a. 1989, S. 129.

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»Mystik als Wortlosigkeit / Dichtung als Form« ist ›Fülle der Zeit‹«. Dann ist der Tag voll, wenn vom Tage nichts mehr übrigbleibt. Es ist notwendig wahr: Alle Zeit muß dort weg sein, wo diese Geburt anhebt, denn nichts gibt es, was diese Geburt so sehr behindert wie Zeit und Kreatur.]30

Dass mit der Zeit auch die Kreatur aufgehoben werden soll, ist Celans Denken und Dichten diametral entgegengesetzt. Das Eckhart’sche Nu, das nunc aeternitatis, wird in Celans Werk, wie Ulisse Dogà unlängst in einem Aufsatz »Über die Unmöglichkeit der Dichtung, die Stille zu ersteigen« ausgeführt hat, dekomponiert oder, wie es in einem Gedicht heißt, »zernut«.31 Bei Celan wird mit der Dunkelheit auch – so mein zweiter Versuch, das Wort zu deuten – eine Art von Transzendenz benannt, die nicht außerhalb der menschlichen Zeit steht, sondern gerade einen Raum fürs Kreatürliche eröffnet, für die Menschen als einzelne und als sterbliche. Eines der letzten Notate des Konvoluts benennt das Gedicht denn auch als »das des Todes eingedenk bleibende«: Die Dunkelheit des Gedichts = die Dunkelheit des Todes. Die Menschen = die Sterblichen. Darum zählt das Gedicht, als das des Todes eingedenk bleibende, zum Menschlichsten am Menschen. Das Menschliche ist aber nicht, das haben wir inzwischen ausgiebig erfahren, das Hauptmerkmal der Humanisten. Die Humanisten sind diejenigen, die über den konkreten Menschen hinweg in das Unverbindliche der Menschheit blicken.32

Mit Eckharts Predigten verbindet Celan jedoch – bei allen Differenzen – eine Arbeit am Text, an der Sprache, die sich in der zitierten Predigt 38 nicht nur auf den heiligen Text, sondern auf dessen Kommentierung bei Augustinus bezieht, also Kommentar des Kommentars ist. Eckharts Predigten sind Exegesen und Exegesen von Exegesen, die sich mit dem Wortlaut der Bibel und dessen Auslegungen auseinandersetzen und gerade in ihren gewagten Deutungen an und mit der Sprache arbeiten. Den Umgang mit Sprache in der Zeit, dessen Voraussetzung bei Celan die Dunkelheit ist, bringen Eckharts Predigten nicht nur als subtile Exegesen zur Darstellung, sondern verlangen ihn selbst – als Texte, die höchste Ansprüche an ihre Interpreten stellen. Diesen Um30 Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 2, S. 230f.; S. 679. 31 Vgl. Ulisse Dogà: »Über die Unmöglichkeit der Dichtung, die Stille zu ersteigen. Zu einem Wort Paul Celans«, in: Emmanuel Alloa/Alice Lagaay (Hg.), Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2008, S. 189-205. 32 P. Celan, »Von der Dunkelheit des Dichterischen«, S. 151.

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gang bezeichnet Celan beim Gedicht als »Interlinearversion«. Im Konvolut zur Dunkelheit heißt es: Das Gedicht will, wie gesagt, verstanden sein, es bietet sich zur Interlinearversion dar, fordert dazu auf; nicht daß das Gedicht im Hinblick auf diese oder jene Interlinearversion geschrieben wäre; vielmehr bringt das Gedicht, als Gedicht, die Möglichkeit der Interlinearversion mit, realiter und virtualiter; mit andern Worten: das Gedicht ist, auf eine ihm eigene Weise, besetzbar. Ich gebrauche hier, und möchte dies ausdrücklich betonen, den Begriff Interlinearversion als Hilfswort; genauer: ich meine nicht die Leerzeilen zwischen Vers und Vers; ich bitte Sie, sich diese Leerzeilen räumlich vorzustellen, räumlich und – zeitlich.33

Realiter und virtualiter: Celan hat selbst einen Teil der Lichtzwang-Sammlung für Gisèle Celan-Lestrange mit im Typoskript handschriftlich eingetragenen französischsprachigen Interlinearversionen versehen.34 Die Interlinearversion ist aber auch eine Form der Übersetzung des heiligen Textes, die Walter Benjamin als »Urbild« der Übersetzung beschreibt. Im Vorwort zu seiner Baudelaire-Übertragung, »Die Aufgabe des Übersetzers«, schließt Benjamin in Anlehnung an Goethes und Rudolf Pannwitz’ Ausführungen zur Interlinearversion mit den Worten:35 »Denn in irgendeinem Grade enthalten alle großen Schriften, im höchsten aber die heiligen, zwischen den Zeilen ihre virtuelle Übersetzung. Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung.«36 Eine Interlinearversion des heiligen Textes ist Celans Gedicht »DU SEI WIE DU«, nur dass zugleich der heilige Text bereits Übersetzung einer Übersetzung ist, nämlich Eckharts mittelhochdeutsche Übersetzung der lateinischen Übersetzung von Jesaja 60, 1.

33 Ebd., S. 132. 34 Vgl. Paul Celan/Gisèle Celan-Lestrange: Briefwechsel, übers. von Eugen Helmlé, hg. und kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan, Anm. übers. und für die deutsche Ausgabe eingerichtet von Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 2001, Bd. 1, S. 526-536; Bd. 2, S. 350. 35 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: »Uebersetzungen«, in: ders., Westöstlicher Divan, Studienausgabe, hg. von Michael Knaupp, Stuttgart 2005, S. 453-458, hier S. 457f.; Rudolf Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur, Nürnberg 1917, S. 242f. 36 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1972-1999, Bd. 4/1, S. 9-21, hier S. 21.

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Damit zeigt nun das Interlineare, das bei Celan ausdrücklich nur Hilfswort ist und ein raumzeitliches Verhältnis der Verstehens benennt, einen mehrfach gestuften Übertragungsprozess an, der an die Form des Gedichtes gebunden ist. Das Gedicht, das in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. Juni 1969 zum ersten Mal gedruckt wurde und in mehreren handschriftlichen Entwürfen und Typoskripten vorliegt,37 lautet: DU SEI WIE DU, immer. Stant vp Jherosalem inde erheyff dich Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin, inde wirt erluchtet knüpfte es neu, in der Gehugnis, Schlammbrocken schluckt ich, im Turm, Sprache, Finster-Lisene, kumi ori.38

In Celans Auseinandersetzung mit Eckharts Predigt 14, »Surge illuminare«, wird Eckharts Übersetzung in Verse unterteilt und, in dieser zerschnittenen Form, mit einem neusprachlichen Kommentar in Versen versehen. Die fünf Verse, die Celan zwischen Eckharts Übersetzung – mit Zeilenbruch selbst zum Gedicht geworden – einfügt, sind in der Druckvorlage allesamt Einzelverse, was in der ganzen Lichtzwang-Sammlung nur bei diesem einen Gedicht der Fall ist und, so meine ich, nun selbst wieder zur Interlinearversion einlädt, die, als Hilfswort verstanden, ein Verhältnis der Deutung, also eine Interpretation des Gedichtes wäre.

37 Vgl. Paul Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Axel Gellhaus u.a., Frankfurt a. M. 1990ff., Band 9.2, S. 251f. – Zur Textgenese vgl. auch Beda Allemann/Rolf Bücher: »Textgenese als Thematisierung und als Fixierungsprozeß. Zum Entwurf von Paul Celans Gedicht ›Du sei wie du‹«, in: Louis Hay/Winfried Woesler (Hg.), Edition und Interpretation/Edition et Interprétation des Manuscrits Littéraires, Bern u.a. 1981, S. 176-181. 38 P. Celan: Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 9.1, S. 105.

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Das erleuchtete Jerusalem – der nur aus einem Wort bestehende Vers »erluchtet« findet sich genau in der Mitte des Gedichtes – steht dabei der Dunkelheit der Sprache gegenüber, die im drittletzten Vers benannt ist: »Sprache, Finster-Lisene«. Die eigentümliche Apposition »Finster-Lisene« benennt die Sprache mit einem der Architektur entlehnten Wort, der Lisene, dem Mauerstreifen, ein, wie es im Deutschen Wörterbuch heißt, »vorstehender, gewöhnlich glatter, aufsteigender streif an gebäuden«,39 welcher, wie die von Celan verwendete Stilkunde von Hans Weigert erläutert, der »Aufspaltung der Fläche in Schichten« dient.40 Damit expliziert aber diese Wortfügung die Sprache als Strukturierung, als Formgebung, die bei Celan »semantische Relevanz«41 hat. »Dichtung als Form«,42 in der es auf die Versgestalt, die Intervalle und Ellipsen in höchstem Maß ankommt, unterscheidet sich dabei von einer »amorphe[n] Natur der mystischen Erfahrung«, von der Gershom Scholem spricht,43 ebenso wie von einem mystischen Schweigen, der »Mystik als Wortlosigkeit«,44 die bei Eckhart Voraussetzung einer Präsenz des Wortes Christi ist.45 Celans Gedicht »DU SEI WIE

39 Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, Leipzig 18541960, s.v. wandstreifen, Bd. 13, Sp. 1743. 40 Hans Weigert: Stilkunde, 2 Bände, Berlin 1953-1958, Bd. 1, S. 85f., zitiert nach: Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 2005, S. 828. 41 P. Celan: »Von der Dunkelheit des Dichterischen«, S. 130, sowie P. Celan: Werke. Tübinger Ausgabe, Bd. Der Meridian, S. 216: »Es ist dieses Spannungsverhältnis der Zeiten, der eigenen und der fremden, das dem mandelstamm’schen Gedicht jenes schmerzlich-stumme Vibrato verleiht, an dem wir es erkennen. (Dieses Vibrato ist überall: in den Intervallen zwischen den Worten und den Strophen, in den ›Höfen‹, in denen die Reime und Assonanzen stehen, in der Interpunktion. All das hat semantische Relevanz.)« 42 P. Celan: »Von der Dunkelheit des Dichterischen«, S. 130. 43 Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M. 1973, S. 16. 44 P. Celan: »Von der Dunkelheit des Dichterischen«, S. 130. 45 »Sol aber Jêsus reden in der sêle, sô muoz si aleine sîn und muoz selber swîgen […]« (Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1, S. 15). – Vgl. zum Verhältnis von Schweigen und Sprechen in christlicher und jüdischer Mystik und Celans Dichtung auch Shira Wolosky: Language Mysticism. The Negative Way of Language in Eliot, Beckett, and Celan, Stanford 1995, S. 199-263, hier S. 247: »The mystical discussion that situates Celan’s ›Other‹ is not one of linguistic transcendence per se. It does not follow the trajectory from language to silence that Derrida, in another

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geht nicht über die Sprache hinaus zum Schweigen, sondern legt in der Sprache selbst etwas frei. Dabei ist die Reflexion auf die dunkle Sprache selbst dunkel: Wie der Vers in die Syntax der vorangehende Verse einzufügen ist, ist nicht klar. Es könnte sich um eine zweigliedrige Apposition zum »Turm« handeln oder um ein nachgeschobenes Akkusativobjekt zum Prädikat »schluckt«. Auch ein unverbundener Vers in harter Fügung wäre nach der Leerzeile denkbar. Im Gedicht folgt auf die Selbstreflexion der Sprache wiederum eine Leerzeile und auf diesen kurzen Ausfall der Sprache, der doch auch zur Sprache gehört, ein Sprachwechsel ins Hebräische – nach dem zweimaligen Wechsel vom Neuhochdeutschen ins Mittelhochdeutsche und zurück. Die letzten zwei Zeilen des Gedichtes, »kumi/ori«, sind eine ›Rückübersetzung‹ aus dem Mittelhochdeutschen, welches das Lateinische übersetzt, in den hebräischen Text von Jesaja 60, 1.46 Sie wenden sich der Sprache zu, den Wörtern, von denen Eckharts Exegese ebenso wie Celans Gedicht ihren Ausgang nehmen. So sind sie nicht Zeugnis einer cognitio dei experimentalis, sondern ein experimentum linguae, eine Erfahrung der Sprache.47 In ihr – in den beiden hebräischen Versen, die das Gedicht beschließen – ist ein Licht-Werden zwar genannt, aber nicht bestimmt, dasjenige, was leuchten soll, liegt im Dunkel. Das Hebräische steht bei Celan – anders als in Eckharts Predigt, die zu erklären versucht, wovon in dem lateinischen Wort die Rede sei – unkommentiert am Textende und öffnet sich damit einer noch ausstehenden Deutung.48 Die Bedeutung der Worte wird so dem Leser der Schrift zur Aufgabe; sie ist ihm mit überantwortet und meint keinen feststehenden Sinn, sondern zeigt eine Relation an, ein – mit Celans Wort – »Verstehenwollen«.

essay (›How to Avoid Speaking‹) describes as a Greco-Christian mode of negative theology.« 46 In Luthers Übersetzung (1545) lautet der Beginn von Jesaja 60: »MAche dich auff / werde liechte […].« Zum Hebräischen vgl. auch Lydia Koelle: Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah, Mainz 1997, S. 200. 47 Zum experimentum linguae vgl. Giorgio Agamben: Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, übers. von Davide Giuriato, Frankfurt a. M. 2004, S. 7-17. 48 Vgl. auch Werner Weber: »Zum Gedicht ›Du sei wie du‹«, in: Dietlind Meinecke (Hg.), Über Paul Celan, Frankfurt a. M. 1970, S. 277-280, hier S. 278: »Das Sprechen in diesem Gedicht ist nicht auf Halten und Einschließen angelegt; sondern auf Öffnen. Nach Geläufigem und Befremdlichen mündet es ins Ganzfremde: ›Kumi ori.‹«

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In den Schriften der lurianischen Kabbala, mit der sich Celan seit den 50er Jahren beschäftigte, sind für jedes einzelne Wort der Thora sechshunderttausend Deutungen zugelassen.49 Scholem schreibt dazu, einen der Luria zugeschriebenen Texte kommentierend: Jedes Wort der Tora hat sechshunderttausend »Gesichter«, Sinnesschichten oder Eingänge, nach der Zahl der Kinder Israels, die am Berge Sinai standen. Jedes Gesicht ist nur einem unter ihnen sichtbar, zugewandt und entschlüsselbar. Jeder hat seine eigene, unverwechselbare Möglichkeit des Zugangs zur Offenbarung. Die Autorität ist nicht mehr im unverwechselbaren eindeutigen »Sinn« der göttlichen Mitteilung konstituiert, sondern in ihrer unendlichen Plastizität.50

Diese Weise der Textlektüre ist nicht beliebig, aber sie hypostasiert keine Identität des Sinns, eine Fülle der Gesichter der Schrift unterscheidend, die nicht hierarchisch geordnet, sondern auf die einzelnen, je ein Gesicht erblickenden Leser bezogen sind. Der Sinn ist dabei auch vom Zeitpunkt der Interpretation abhängig; der Text hat jeden Tag eine andere Bedeutung. In seiner Studie zu Kabbala und Interpretation zeichnet Moshe Idel diese in den lurianischen Texten zu findende Vorstellung nach: […] the specific interpretations depend on the specific moment in time which is presided over by a special sefirotic constellation. In principle there are no two identical interpretations, as the multiple supernal system is continuously changing. In a manner reminiscent of Gadamer’s view it is time, though not history, that is an important factor in shaping the nature of the interpretations, because each moment is constellated in a different manner by the changing relations between the various divine attributes.51

49 Jesaja 60, 1 ist freilich nicht Teil der Thora. Die Stelle bei Luria gibt jedoch, so scheint mir, ein Modell für eine Weise der Lektüre, welche mit der Unabschließbarkeit der Interpretation ernst macht, aber sie zugleich nicht ins Beliebige wendet, sondern als Verhältnis eines Gesichts der Schrift zum Gesicht des einzelnen Lesers entwirft. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die lurianischen Texte keine allgemeine, sondern eine spezifische religiöse Hermeneutik entwerfen. 50 G. Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 23; vgl. auch S. 89. 51 Moshe Idel: Absorbing Perfections. Kabbalah and Interpretation, New Haven/London 2002, S. 94; vgl. auch S. 101f. – Gadamers Hermeneutik, die Idel in dieser Passage wohlwollend erwähnt, wird im interpretationstheoretischen Abschnitt der Einleitung, »Remarks on the Notion of Hermeneutics«, problematisiert, wobei insbesondere der Begriff ›Horizontverschmelzung‹ Kritik erfährt. Vgl. ebd., S. 18.

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Die Unveränderlichkeit der Schrift steht so der steten Veränderung der Interpretation gegenüber, die an ihre Zeit gebunden ist. Celans Gedicht verschreibt sich mit der interlinearen Form, der Benennung von Sprache und der Einfügung des Hebräischen der möglichen Vielgestalt einer Exegese, die eine Befragung der Sprache in der Zeit ist. Das Gedicht ist selbst diese Befragung der Sprache und gibt sie zugleich dem Leser auf. Die Bedeutung des Wortes ist in ihr, der Sprache des Gedichts, auf eine je singuläre Deutung verwiesen, für die seine Dunkelheit, die verstanden sein will, sich öffnet.

Literatur Agamben, Giorgio: Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, übers. von Davide Giuriato, Frankfurt a. M. 2004. Allemann, Beda/Bücher, Rolf: »Textgenese als Thematisierung und als Fixierungsprozeß. Zum Entwurf von Paul Celans Gedicht ›Du sei wie du‹«, in: Louis Hay/Winfried Woesler (Hg.), Edition und Interpretation/Edition et Interprétation des Manuscrits Littéraires, Bern u.a. 1981, S. 176-181. Almond, Ian: »Doing Violence upon God. Nonviolent Alterities and their Medieval Precedents«, in: The Harvard Theological Review, 92, 3 (1999), S. 325-347. Aristoteles: Poetik, übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1997. Aristoteles: Rhetorik, übers. von Gernot Krapinger, Stuttgart 2005. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 19721999. Büchler, Franz: »Heute und morgen«, in: Neue deutsche Hefte 11 (1964), H. 97, S. 91-96. Celan, Paul: Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Axel Gellhaus u.a., Frankfurt a. M. 1990ff. Celan, Paul: Werke. Tübinger Ausgabe, hg. von Jürgen Wertheimer u.a., Frankfurt a. M. 1996-2004. Celan, Paul/Celan-Lestrange, Gisèle: Briefwechsel, übers. von Eugen Helmlé, hg. und kommentiert von Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan, Anm. übers. und für die deutsche

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Ausgabe eingerichtet von Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 2001. Celan, Paul: »Das Vortragsprojekt ›Von der Dunkelheit des Dichterischen‹«, in: ders., »Mikrolithen sind’s, Steinchen«. Die Prosa aus dem Nachlaß, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou, Frankfurt a. M. 2005, S. 130-152. Celan, Paul: »Aphorismen, Gegenlichter und aphoristische Fragmente«, in: »Mikrolithen sind’s, Steinchen«. Die Prosa aus dem Nachlaß, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou, Frankfurt a. M. 2005, S. 9-60. Dogà, Ulisse: »Über die Unmöglichkeit der Dichtung, die Stille zu ersteigen. Zu einem Wort Paul Celans«, in: Emmanuel Alloa/Alice Lagaay (Hg.), Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2008, S. 189-205. Fuhrmann, Manfred: »Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike«, in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik – ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966, S. 47-72. Gellhaus, Axel: »Von der Dunkelheit des Dichterischen. Die Konzeptgenese der Büchner-Preisrede Paul Celans«, in: Françoise Lartillot/Axel Gellhaus (Hg.), Dokument/Monument, Frankfurt a. M. u.a. 2008, S. 315-326. Goethe, Johann Wolfgang: »Uebersetzungen«, in: ders., Westöstlicher Divan, Studienausgabe, hg. von Michael Knaupp, Stuttgart 2005, S. 453-458. Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Frankfurt a. M., Basel 1995. Hamacher, Werner: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a. M. 1998. Idel, Moshe: Absorbing Perfections. Kabbalah and Interpretation, New Haven/London 2002. Koelle, Lydia: Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah, Mainz 1997. Largier, Niklaus: Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit. Ein Aufriss des Zeitproblems bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart, Bern u.a. 1989. Meister Eckhart: Die deutschen Werke, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1958ff. Pannwitz, Rudolf: Die Krisis der europäischen Kultur, Nürnberg 1917.

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Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners, hg. und übers. von Helmut Rahn, Darmstadt 1972-1975. Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M. 1973. Weber, Werner: »Zum Gedicht ›Du sei wie du‹«, in: Dietlind Meinecke (Hg.), Über Paul Celan, Frankfurt a. M. 1970, S. 277-280. Wiedemann, Barbara/Badiou, Bertrand: »Editorisches Nachwort«, in: Paul Celan, »Mikrolithen sind’s, Steinchen«. Die Prosa aus dem Nachlaß, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou, Frankfurt a. M. 2005, S. 221-266. Wolosky, Shira: Language Mysticism. The Negative Way of Language in Eliot, Beckett, and Celan, Stanford 1995.

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»Zwischen zwei Tulpenbäumen« Ästhetische und mystische Erfahrung in Gamal al-Ghitanis »Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch« OSMAN HAJJAR Auf den letzten beiden Seiten von Gamal al-Ghitanis Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch1 zitiert der Erzähler folgenden autobiographischen Bericht eines sogenannten »ehrwürdigen Scheichs«: Ich habe die Vorstellungskraft erlangt, dass für mich meine Liebe meinen Geliebten [d. h. Gott] verkörpere. Und dies außerhalb meiner Augen, so dass ich Ihn nicht sehen konnte. Er sprach zu mir, ich hörte ihm zu und verstand, was Er sagte. Er ließ mich einige Tage lang keine Speise zu mir nehmen. Jedes Mal, wenn der Tisch gedeckt wurde, stand Er dabei. Er schaute mich an und sagte zu mir mit einer Sprache, die ich mit den Ohren hörte: »Iss, indem du Mich schaust…« Folglich enthielt ich mich des Essens. Ich hatte keinen Hunger, sättigte mich durch Ihn, bis ich dick und fett davon wurde, Ihn zu schauen. So nahm Er die Stelle meiner Nahrung ein […].2

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Gamal al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, Kairo 1987. Die Übertragung des Titels ins Deutsche ist schwierig, da alle verwendeten Begriffe doppeldeutig sind: Wer den Inhalt des Buches nicht kennt, wird ›risala‹ zunächst als ›Sendschreiben‹ lesen, ein klassisches Genre der arabischen Literatur, das dem europäischen Traktat entspricht. Tatsächlich stellt sich der Text aber als ein literarischer ›Brief‹ heraus (was ›risala‹ im Arabischen auch heißen kann). Die Begriffe ›sababa‹ und ›wagd‹ bedeuten ›Liebe‹, wobei ›sababa‹ von der Wortwurzel her auf das Verb ›gießen‹ und ›wagd‹ auf ›finden‹ verweist, so dass die Opposition als eine dynamische verstanden werden mag. ›Wagd‹ ist darüber hinaus ein Fachbegriff für die sufische Ekstase, die zuweilen als ›Trunkenheit‹ (›sukr‹) bezeichnet wird, weshalb es gerechtfertigt erscheint, in der Übertragung des Titels ›Liebesrausch‹ anstelle des im Deutschen eher sperrigen Begriffs ›Liebesekstase‹ zu verwenden. Gamal al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, Kairo 1987, S. 141f. Die Übertragungen ins Deutsche stammen vom Verfasser.

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Dieser Bericht erinnert an unzählige Wundererzählungen, die unter den Anhängern der islamischen Mystik (Sufismus) kursieren, und von deren Wahrheitsgehalt nach wie vor viele Ägypter überzeugt sind.3 Ägyptische Intellektuelle hingegen sehen in sufischen Heiligenlegenden – genauso übrigens wie ›islamistische‹ Gruppen – für gewöhnlich einen zu bekämpfenden Aberglauben, den abzulehnen einen Teil ihrer sozialen/religiösen Identität darstellt. Tauchen solche übernatürliche Begebenheiten dennoch in der zeitgenössischen arabischen Literatur auf, ist man geneigt, sie metaphorisch zu deuten, um sie auf diese Weise in Einklang mit einer modernen Welterfahrung zu bringen. Allein durch ihre Erzählung wird jedoch eine andere Welt eingeführt, in der das Unmögliche möglich ist, Dschinnen zum Alltag gehören und auserwählte Scheichs Einsicht in verborgene Dinge gewinnen. Diese Welt der ›einfachen‹4 Ägypter ist dem Autor al-Ghitani von seiner Jugend her bestens vertraut, weshalb Anklänge an traditionelle Legenden als Erinnerung an seine persönliche Vergangenheit gelesen werden können.5 Dementsprechend darf die Verwendung von Motiven aus volkstümlichen Sufierzählungen keineswegs nur als orientalistische Pose bewertet werden. Sie ist vielmehr Ausdruck eines individuellen, über die Grenzen der Moderne hinausgehenden Bewusstseins. Solch eine Durchlässigkeit der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit bildet die Grundlage für eine überzeugende Umsetzung des von verschiedenen zeitgenössischen arabischen Dichtern angestrebten Programms einer Authentisierung der modernen Literatur durch die arabische Tradition (arabisch ta’sil, etwa: ›im Ursprung gründen‹).

3

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Der Sufismus wird in Ägypten vor allem in den unterprivilegierten Gesellschaftsschichten praktiziert, wobei im sogenannten Volksislam Elemente des Sufismus auch für Nicht-Sufis eine wichtige Rolle spielen. Das Adjektiv ›einfach‹ ist hier keineswegs abwertend gemeint. Es übersetzt das arabische Wort ›shacbi‹, ›aus dem Volk stammend‹. Al-Ghitani wurde am 9. Mai 1945 im oberägyptischen Guhayna geboren, wuchs aber im Kairoer Altstadtviertel al-Gamaliyya auf. Nicht zuletzt dank des von Nasser ausgerufenen Wohlfahrtsstaates konnte er 1962 eine Ausbildung zum Teppichdesigner abschließen. 1966/67 verbüßte al-Ghitani wegen seiner kritischen Haltung gegenüber Nassers Politik eine sechsmonatige Haftstrafe, was ihn dennoch nicht zu einem Gegner des Nasserismus werden ließ. Im darauffolgenden Jahr beteiligte er sich an der Begründung der Literaturzeitschrift Galerie 68. 1985 wurde ihm die Leitung des Kulturbereichs der Tageszeitung Al-Akhbar übertragen; 1993 übernahm er die Chefredaktion der literarischen Wochenzeitschrift Akhbar al-Adab.

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Dieses Bemühen spiegelt sich im Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch nicht nur in der Themenwahl wider. Hier wird der Authentisierungsprozess selbst thematisiert. So besucht der Erzähler am Ziel seiner Reise nach Zentralasien die Gedenkstätten seiner Vorbilder in der arabischen Geistesgeschichte. Die Reise wird zu einer Pilgerfahrt zu den kulturgeschichtlichen Ahnen des Erzählers und stellt gleichzeitig auch eine Rückkehr des Autors zu seinen literarischen Ursprüngen dar. Dabei nimmt sie eine mystische Färbung an, denn das Pilgerfahrtmotiv hat seine Entsprechung in der weit verbreiteten sufischen Praxis, Heiligengräber zu besuchen, um dort baraka (›Segen‹) zu empfangen. Tatsächlich erlebt der Erzähler, als er am Ziel der Reise einer idealen, übermächtigen Liebe begegnet, eine Himmelsreise.6 Diese lehnt sich an die Himmelsreise des Propheten Muhammad an, die als Prototyp aller mystischen Reisen im Islam betrachtet werden darf.7 Anders aber als die Anhänger des Sufismus, die zu den Gräbern von Heiligen pilgern, um sich mit ihrer Unterstützung dem Absoluten zu nähern (oder einfache Gläubige, die praktische Hilfe aus dem Jenseits erbitten), erwartet der Erzähler nichts von den illustren Toten. Vielmehr gibt ihm die Beschäftigung mit ihnen Anlass zu Reflexionen über den Zusammenhang von Raum, Zeit und Erkenntnis: Wo ist [Ibn Sinas] Wohnstätte? Wie konnte die durch diese Architektur bewahrte Erinnerung an ihn verloren gehen? Was ist von ihr geblieben und was ist vernichtet, wo lebte er an diesem Ort? Wo offenbarte er seine wissenschaftlichen Bemühungen? Wo erlangte er das Wissen?8

Al-Ghitanis Erzähler bedenkt Ibn Sina (Avicenna, gest. 1037) ähnlich wie den zuvor erwähnten, sich allein vom Gottesgedenken ernährenden »ehrenwürdigen Scheich« mit dem ihm eigenen Ehrentitel »oberster Scheich«.9 Im Gegensatz zu jenem ist Ibn Sina jedoch – auch wenn seine Darstellungen visionärer Reisen vielfach als Mystik verstanden werden –10 in erster Linie als Philo-

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G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 13. Vgl. Roger Arnaldez: »Préface« in: Mohammad Ali Amir-Moezzi (Hg.), Le voyage initiatique en terre d’Islam. Ascensions célestes et itinéraires spirituels, Louvain-Paris 1996, S. IX–XII, hier S. IX. 8 G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 79. 9 Ebd. 10 Vgl. Parviz Morewedge: »The Logic of Emanationism and Sufism in the Philosophy of Ibn Sina (Avicenna)«, in: JAOS 91/4 (1971), S. 467–476 und 92/1 (1972), S. 1–18.

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soph (und Mediziner) im kulturellen Gedächtnis geblieben. Folglich schlägt der Erzähler mit der Verehrung eines »mystischen Philosophen« eine Brücke zwischen Mystik und Metaphysik, und der Sufismus erscheint als Rück- oder besser Innenseite11 einer ernst zu nehmenden Wissenschaftlichkeit. Obgleich Ibn Sina freilich eher am Rande und auf einer Ebene mit anderen Größen der Geschichte erwähnt wird – wie zum Beispiel al-Biruni (der mit Ibn Sina korrespondierte, gest. nach 1050), dem islamischen Traditionarier al-Bukhari (gest. 870), Dschingis Khan (gest. 1227) oder Timur (gest. 1405) –, nimmt Ibn Sina unter ihnen eine besondere Stellung ein. Denn der Titel Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch bezieht sich offensichtlich auf dessen Sendschreiben von der Liebe12, ein Traktat, der von der absoluten Liebe handelt, die Ibn Sina als Existenzursache jedes gestalteten Seienden in der Welt betrachtet. Die Gedanken des Liebhabers in al-Ghitanis Brief bringen deutlich diesen kosmischen Aspekt der Liebe zum Ausdruck: Ich bewegte mich nicht mehr im Absoluten, sondern jeder meiner Schritte richtete sich zu ihr. Jede Geste meiner Hand galt ihr allein […] Die Existenz war nicht mehr losgelöst und das Sein war nicht mehr ein Vakuum oder ohne Sinn. Vielmehr begann ich, in ihren Sphären zu kreisen [… ].13

Die Anziehungskraft zwischen dem Seienden und dem höchsten Liebesobjekt (Gott) besteht bei Ibn Sina in einem Wechselspiel zwischen einer dem Seienden innewohnenden Liebe und ihrer Beantwortung durch die Manifestation des Absolut Guten. Das Empfangen der Manifestation in seiner vollen Wirklichkeit ist, was die Sufis die Vereinigung nennen,14 daher das Entwerden des Liebenden im göttlichen Geliebten. Während der im Titel mit ›Liebesrausch‹ übersetzte sufische Terminus wagd auf dieses Konzept des Entwerdens verweist und ein theosophisch aufgeladenes Bedeutungsfeld von Liebe, Ekstase, Urgrund, Sein, Finden im Sinne einer Gottesschau eröffnet,

11 Ein zentrales Begriffspaar des Sufismus ist ›zahir‹ (die äußere Erscheinung) und ›batin‹ (das Innewohnende). 12 Risala fi l-cIshq. Zum Wort ›risala‹, vgl. Fußnote 1. 13 G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 16f. 14 Vgl. Ibn Sina: [Risala fi l-cIshq] »A Treatise on Love. By Ibn Sina«, Emil L. Fackenheim (Übers.), in: Mediæval Studies 7 (1945), S. 209-228, hier S. 225.

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meint das arabische Wort für ›Liebesverlangen‹ (sababa)15 zunächst die sinnliche Liebe. Diese Verbindung von Göttlichem und Sinnlichem ist nun keineswegs ohne literarische Vorbilder. So identifizierte schon Ibn al-Farid (gest. 1234) in seinem Lehrgedicht Die Ordnung des Weges (Nazm as-Suluk) die Gottesliebe mit einer weltlichen Liebe, wobei die Geliebte des Dichters und Gott als eins vorgestellt werden. Die Gleichung Gott = Frau ist bei alGhitani ebenfalls ein wichtiger Schlüssel zum Textverständnis, hier aber nicht als Metapher, sondern im Sinne einer Ersetzung. Denn anders als im klassischen Sufismus erscheint im Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch die Liebe zu einer Frau nicht mehr als Ausdruck der göttlichen Liebe,16 sondern die erotische Erfahrung als Einheitserfahrung ist absolut. Folglich stellt sich die Frage, ob al-Ghitani durch den Schritt zur Immanenz die klassischen Motive des Sufismus ›entmystisiert‹ und sie postmodern entfremdet – oder ob er möglicherweise ein modernes Verständnis des Sufismus begründet. Da der zeitgenössischen arabischen Literatur in der Wissenschaft gerne unterstellt wird, sie verweise historisierend auf literarische Ruinen, werde ich versuchen, der zweiten – optimistischen – Interpretation einer organischen Fortführung der Tradition nachzugehen. Hierbei ergibt sich jedoch eine methodische Schwierigkeit: Wollte man al-Ghitanis Sufismus unmittelbar aus dem klassischen erklären, wäre dieser notwendig als defektiv zu beschreiben. Denn mit seiner Bejahung einer realen Existenz der Dinge in ihrer Vielheit geht die extreme Einheitsvorstellung des Sufismus verloren, nach der nur die göttliche Einheit als existent betrachtet wird.17 Wie also lässt sich al-Ghitanis literarischer Su-

15 Man könnte einwenden, dass das Wort ›sababa‹ in Sufigedichten nicht selten vorkommt. Es verweist aber wohl nicht wie ›wagd‹ unmittelbar auf die Liebe zu Gott, sondern bedarf der Übertragungsleistung von der menschlichen auf die göttliche Ebene, weshalb ›sababa‹ in einem Wörterbuch des Sufismus wie beispielsweise Mukhtasar Istilahat as-Sufiyya auch nicht als Terminus technicus aufgeführt wird. – Vgl. Hevru Muhammad cAli Derki: Mukhtasar Istilahat as-Sufiyya, Damaskus 2008. 16 Vgl. William C. Chittick: Ibn cArabi. Heir to the Prophets, Oxford 2005, S. 33: »Imperfect love for God can be seen wherever we look. Whatever love’s object appears to be, in fact it is love for God, because all phenomena go back to the divine self-disclosures.« 17 Vgl. William C. Chittick: The Sufi Path of Love. The Spiritual Teachings of Rumi, Albany 1983, S. 175: »Because appearances are deceptive, man perceives the world as ›existence‹ and himself as one existent among a myriad other existents. In truth, however, only God exists. If we place

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fismus nicht als ›Dekadenz‹ der sufischen Tradition, sondern als eine authentische Erscheinung verstehen? Hier bietet es sich an – ähnlich wie man sich dem traditionellen Sufismus mit seiner nahezu unendlichen Vielfalt von Erscheinungsformen gerne in Abgrenzung zum orthodoxen Islam annähert –, die Orthodoxie auch für Gamal al-Ghitanis Brief als negatives Bezugssystem zu wählen. Denn genau wie der klassische Sufismus stets eine Provokation für die orthodoxe Gelehrsamkeit darstellte, befindet sich auch Gamal al-Ghitanis Literatur deutlich in einem Spannungsverhältnis zum modernen Rechtsislam. Kein Wunder, wenn von islamischer Seite die Bedeutung von al-Ghitanis Werken bestritten wird oder man sie gar als »Literatur für Orientalisten« abtut!18 Solch eine Polemik darf nun nicht so missverstanden werden, dass der Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch auf ganzer Linie unislamisch sei und al-Ghitani sich am Geschmack westlicher Leser orientiere. Denn die Absicht einer Verwurzelung der als ›verwestlicht‹ empfundenen zeitgenössischen ägyptischen Literatur zielt im Prinzip auf ihre Re-Islamisierung. Hierbei ist al-Ghitanis Islambild aber so gebrochen, dass ein konservativer muslimischer Leser wenig damit anfangen kann. Andererseits dürften einige islamische/sufische Motive wiederum bei einem europäischen Leser Unbehagen hervorrufen – beispielsweise der autoritative Gestus des Erzählers oder seine hoffnungslos überzogenen Darstellungen der ›göttlichen‹ Geliebten. Die Provokation des Textes besteht somit in zweifacher Hinsicht: Er ist ›unorthodox‹ gegenüber dem heutigen MainstreamIslam, und gleichzeitig widersetzt er sich einer westlichindividualistischen Ästhetik durch sein traditionell ›islamisches‹ Menschenbild, das den Menschen an seine kollektive Funktion bindet oder im Sufismus geradezu kosmische Züge annimmt.19

our existence next to his Existence, ours is seen to be totally derived from His, such that we have no existence.« 18 Ein Gelehrter der al-Azhar-Universität, der maßgeblichen islamischen Rechtsinstanz in Ägypten, schrieb mir unlängst, al-Ghitani sei in Ägypten absolut nicht bekannt und ohnehin nur interessant für die Orientalisten. 19 Gemeint ist hier das Konzept des vollkommenen Menschen (al-insan alkamil) von Ibn cArabi (gest. 1240), dessen Vollkommenheit nach Fateme Rahmati auf zweierlei Weise erklärt wird: »[…]die Vollkommenheit im Sinne von Vollendung, dass Gott den Menschen die Wesenheiten (haqa’iq) aller anderen Wesen umfassen lässt und ihn in dieser Weise vollendet; und die Vollkommenheit im Sinne der Manifestation aller göttlichen Namen, indem er das Bild Gottes in sich erscheinen lässt und

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Um diese doppelte Differenz herauszuarbeiten, soll al-Ghitanis Brief hier von beiden genannten Seiten einem kritischen Beschuss ausgesetzt werden. Vielversprechend ist die rigide Anwendung ethisch-ästhetischer Kategorien auf den Text schon daher, als dieses Vorgehen eine dem Sufismus entsprechende Erfahrungsweise gerade verfehlt. Denn wenn es im Sufismus in erster Linie darum geht, sich von hergebrachten Kategorien zu befreien, müssen diese in einem ersten Schritt bewusst gemacht werden, um sie dann in einem zweiten Schritt zu isolieren. Es ist also sinnvoll und notwendig, ungewollt aufsteigende Geschmacksurteile zu konkretisieren, sie in der Gegenüberstellung verschiedener Perspektiven zu relativieren und – wenngleich die kategoriale Betrachtung sich auf diese Weise nicht wie eine äußere Schicht einfach abheben lässt – den Blick in eine andere Richtung zu lenken und dem Text die Chance zu geben, auf seine eigene Weise auf die Kritik zu reagieren. Dabei ist es nicht so sehr die Antwort als vielmehr die Art, wie geantwortet wird, durch die der Text seine Eigentümlichkeit aufzeigen wird und gegebenenfalls ein neues Konzept von Sufismus zu ›offenbaren‹ bereit ist. Bevor al-Ghitanis Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch im nächsten Abschnitt aber einer zweifachen Kritik ausgesetzt wird, gilt es, die narrative Folie aufzuspannen und als Verweisungssystem für die folgende Besprechung verfügbar zu machen: Formal erscheint der Text als ein Brief, der an einen Freund des Erzählers gerichtet ist. Über ihre Freundschaft erfahren wir nicht viel mehr, als dass sie zusammen an der Universität studiert haben, gemeinsam für ihre Ideale kämpften und in der Folge zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden. In seinem Brief beschreibt der in Kairo lebende Erzähler, wie er als Architekt und Restaurator zu einer Konferenz über die Möglichkeiten der Erhaltung historischer Gebäude in Taschkent, Buchara und Samarkand eingeladen wird. Im Anschluss an die Tagung fliegen die Konferenzteilnehmer gemeinsam nach Zentralasien, um sich vor Ort ein Bild über die Situation zu machen. Zur Gruppe gehört auch eine junge Frau, Valeria, in die sich der Erzähler verliebt. Ein Schlüsselerlebnis für ihre Beziehung findet an einem Ort namens Behzad statt, wo sie ihm zwischen zwei Tulpenbäumen entgegentritt. Ein indischer Architekt informiert ihn über Valerias Alter und erzählt ihm, dass sie frisch verheiratet sei und ihren

dadurch das Ebenbild Gottes in der Welt wird.« Fateme Rahmati: Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn cArabis, Wiesbaden 2007, S. 83.

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Ehemann liebe (später wird sich jedoch herausstellen, dass Valeria bereits seit mehreren Jahren verheiratet ist). Als der Erzähler den Ehemann kennenlernt, gewinnt er den Eindruck, dass dieser seine Frau aufrichtig liebe – sie hingegen bezeichnet ihn als zu jung, was darauf anspielen mag, dass der Erzähler doppelt so alt ist wie Valeria. Während einer Versammlung in Samarkand setzt sie sich dann unversehens ab. Der Erzähler macht sich die größten Sorgen, Valeria könne das Flugzeug verpassen, mit dem die Gruppe nach Moskau weiterreisen will, und würde in Samarkand allein nicht zurechtkommen. Dennoch kann er sich nicht entschließen, in Samarkand zu bleiben und nach ihr zu suchen. Im letzten Moment erscheint Valeria, als wäre nichts geschehen, und bemerkt weder den Erzähler noch den Sitz, den er neben sich für sie freigehalten hat. Am letzten Tag in Zentralasien zweifelt der Erzähler, ob Valeria ihr Versprechen, ihn zu besuchen, einlösen wird. Als er in Kairo ist, zieht er sich von all seinen Freunden und Bekannten zurück. Von Zeit zu Zeit erscheint ihm Valerias Gestalt. Der Erzähler beginnt, ihr Briefe zu schreiben, aber sie antwortet nicht. Schließlich ist er sich nicht mehr sicher, ob die Begegnung mit Valeria real war oder nur eine Phantasie.

Kritik aus islamischer und westlicher Sicht Der Plot selbst gibt relativ wenig Anlass, Kritik von islamischer Seite auf sich zu ziehen. Problematisch ist hauptsächlich, dass der Erzähler eine verheiratete Frau liebt und ihr Avancen macht. Eindeutig gegen das islamische Gesetz, die sharica, verstößt er in dem Moment, als er sich allein mit Valeria in einem Zimmer befindet. Der Erzähler stellt diesen Rechtsbruch selbst fest.20 Ein muslimischer Leser dürfte zudem die Beschreibungen der Geliebten als anstößig empfinden, da die Formen ihres Körpers stark in den Vordergrund gerückt werden: Plötzlich veränderte sie ihre Position und schlug ihre Schenkel übereinander, woraufhin sie sich umwandte und in einer plötzlichen Bewegung auf allen Vieren landete. Ihr Rücken erschien weit wie eine Melodie, während ihre sinnliche Präsenz sich mehr und mehr entzündete. Noch schwieriger wurde es durch ihre hochgezogene Bluse, ihre ein wenig heruntergerückte Hose, wodurch der Flusslauf ihres Rückens freigegeben wurde, der zu der Weggabelung ihrer Hinterbacken führte. Allein durch mein Schauen war es, als würde

20 Vgl. G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 99.

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»Zwischen zwei Tulpenbäumen« ich sie berühren. Ich näherte mich, wurde feucht, was mein Fühlen und meinen Sinn erregte.21

Nicht nur die Sinnlichkeit dieser Beschreibung und die illegitime Aneignung eines fremden Körpers widerspricht islamischen Moralvorstellungen – auch über den eigenen Körper darf der Mensch, da er ein Geschöpf Gottes ist, nach dem Islam nicht frei verfügen. Folglich stellt die Erwähnung eines Selbstmordversuchs des Erzählers einen weiteren und sogar noch schlimmeren Tabubruch dar. Zwar wird dieser dadurch gemäßigt, dass der Erzähler den Versuch, sich vom Balkon zu stürzen, als einen ungewollten Akt darstellt und auf ein psychisches Leiden zurückführt,22 Muslime würden einen medizinisch diagnostizierten Todesdrang jedoch kaum als Entschuldigung gelten lassen und darauf hinweisen, dass von einer späteren Reue des Erzählers keine Rede ist. Wenn in einem Text islamischen Regeln zuwider gehandelt wird, reagieren Muslime in der Regel weniger empfindlich, als wenn Islam und Atheismus in einer Weise vermischt werden, die die Position des Autors nicht mehr deutlich bestimmen lässt. Nicht von ungefähr beginnt der Koran (sieht man von der ersten Sure mit ihrer besonderen rituellen Funktion einmal ab) in Sure 2 mit einem Vers der Offenbarungsbestätigung, drei Versen über die Rechtgläubigen und fünfzehn Versen über diejenigen, die sich als Gläubige ausgeben, jedoch in Wirklichkeit nicht glauben. Diese werden als Heuchler, munafiqun, bezeichnet. Den Eindruck eines munafiq vermittelt al-Ghitanis Erzähler im Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch an mehreren Stellen. So beginnt er sein Schreiben mit der einleitenden Formel »Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen« und spricht den Adressaten stets mit frommen Wendungen an.23 Auf eine tiefere Religiosität des Erzählers deutet aber ansonsten nichts hin. Zudem will der Erzähler einen zweiten Brief schreiben, der den Titel eines durchaus politischen Werks al-Ghitanis tragen soll,24 so dass Erzähler und Autor miteinander identifiziert werden. Da al-Ghitani zu einer Gefängnisstrafe wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen marxistischen Gruppierung verurteilt wurde,25 denkt der Leser bei 21 22 23 24

Ebd., S. 58. Ebd., S. 34. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 103. – Das Buch der Schicksale. (Risalat al-Basa’ir fi l-Masa’ir), Kairo 1989. 25 Vgl. Stephan Guth: »Authentisierung contra sadatsche Öffnungspolitik. Gamal al-Ghitani und das Buch der Schicksale«, in: Angelika Neu-

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der Erwähnung eines Gefängnisaufenthalts des Erzählers gleichfalls an ein politisches und nicht an ein religiöses Engagement. Ein westlicher Leser dürfte sich an dem unklaren Verhältnis von Religion und Politik zunächst einmal nicht stören. Schwierig wird es für ihn vielleicht, wenn durch die literarische Vermischung von religiösem und säkularem Sprachgestus etwas entsteht, das stark an den Stil ›islamistischer‹ Redner erinnert. So behauptet der Erzähler, er habe in seiner Jugend für eine Verbesserung der Welt gekämpft, sei jedoch daran verzweifelt, dass die Leute nicht »auf die Stimme desjenigen hören, in wessen Hand sich das Verbot und der Befehl befinden.«26 Hier klingt die islamische Formel vom »Verbot des Schlechten und dem Befehl zum Guten« an,27 derer sich gern religiöse Aktivisten bedienen, die anderen ihre Meinung aufzwingen wollen. Einen Hang zum Autoritären beweist der Erzähler jedoch nicht nur in Hinblick auf die Allgemeinheit. Er interessiert sich auch erstaunlich wenig für die Meinung Valerias und für sie als Person. Ihre Darstellung wirkt stereotyp; sie ist mehr oder weniger identisch mit der männlichen Sicht auf die Frau als Liebesobjekt. Valerias Wille kommt nur dadurch zum Ausdruck, dass sie ohne sich dafür zu rechtfertigen verschwindet, was der Freund des Erzählers mit dem Klischee erklärt: »Sie liebt es, auf sich aufmerksam zu machen, im Mittelpunkt, im Zentrum zu stehen und alle Blicke auf sich zu richten.«28 Die Formulierung ist als Anspielung auf die Kaaba zu verstehen,29 so dass diesem Anflug einer persönlichen Darstellung die individuelle Dimension gleich wieder entzogen wird. Anklänge an islamistische Tendenzen und patriarchalisches Denken mag man dem Erzähler in Hinblick auf den traditionalistischen Anspruch des Werkes zugestehen – das Pathos, mit dem der Autor die Liebe des Erzählers überhöht, verlangt vom westlichen Leser hingegen ein überdurchschnittliches Quantum an Geduld. Man mag sich sogar die Frage stellen, ob die überschwängliche Leidenschaftlichkeit wirklich ernst gemeint ist. In seinem Aufsatz über al-Ghitanis Buch der Schicksale30 gelangt Stephan Guth – allerdings im Gegensatz zu Stefan Weidner – zu der An-

26 27 28 29 30

wirth/Andreas Pflitsch/Barbara Winckler (Hg.), Arabische Literatur, postmodern, München 2004, S. 108–121, hier S.109. G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 29. Vgl. Koran, Sure 3:104. G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 86. Wörtlich heißt es: »… die Gebetsrichtung aller Blicke zu sein« (»an takuna… qiblatan li-l-anzar«). Vgl. Fußnote 13.

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sicht, dass das al-ghitanische Pathos als Ironie zu lesen sei.31 Als Hinweis auf einen ironischen Tenor im Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch könnten die Entschuldigungen des Erzählers für seine Übertreibungen verstanden werden,32 im textuellen Zusammenhang erscheinen diese Bemerkungen aber eher als Ausdruck einer Getriebenheit, eines Zwanges des Erzählers, sich in seine Gefühle hineinzusteigern. Dennoch wirkt das Pathos nicht etwa wie ein manisches Moment im Bericht eines Kranken, denn der Erzähler verhält sich in Hinblick auf seine Geliebte keineswegs krankhaft, sondern vielmehr wie ein verliebter Teenager, dem jedoch die Kompromisslosigkeit der Jugend fehlt: Ist sie jetzt wirklich allein? Und wenn sie sich in Gesellschaft befinden sollte, mit wem ist sie zusammen? Ist es einer von jenen Ausländern? […] Würde ich sie plötzlich sehen, würde ich mich vor sie hinstellen. Ich würde mich bei ihr beklagen, dass ich ihretwegen verloren war und sie bitten, nicht ein zweites Mal zu verschwinden. […] Und wie werden die Leute mein Bleiben ihretwegen interpretieren: Ich, der ich mich nicht offen mit Worten vor ihr erklärt habe.33

So unreif wie diese Reflexionen erscheinen, so sehr verhält sich der Erzähler wie ein Erwachsener. Er trifft rationale Entscheidungen, unterwirft sich der Meinung anderer und verleugnet das eigene spontane Gefühl. Seiner Unterordnung unter die Konventionen ist sich der Erzähler jedoch keineswegs bewusst. Stattdessen meint er, eine mystische Liebe zu erleben, eine Liebe, die aufgrund ihrer Entrücktheit keine radikalen Entscheidungen fordert. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, ob gesellschaftliche Angepasstheit und Mystik überhaupt zusammengedacht werden können, ob Mystik nicht notwendigerweise da ansetzt, wo der Mensch aus der Konvention ausbricht.

Transzendenz vs. Immanenz Im Vorwort zu Dorothee Sölles Monographie Mystik und Widerstand lesen wir: Leiden an der Zersplitterung und sie unerträglich finden, das gehört zur Mystik. Gott zersplittert zu finden in arm und reich, in oben und unten, in krank und gesund, in schwach und mächtig, das ist das Leiden des Mystiker. Der

31 Vgl. S. Guth: »Authentisierung«, S. 116–120. 32 Vgl. G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 11; 92. 33 G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 77; 84; 89.

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Osman Hajjar Widerstand von Franziskus oder Elisabeth von Thüringen oder von Martin Luther King wächst aus der Wahrnehmung der Schönheit. Und das ist der langfristigste und gefährlichste Widerstand, der aus der Schönheit geboren ist.34

Einen rebellischen Erzähler finden wir in Gamal al-Ghitanis autobiographischem Roman Buch der Manifestationen35, in dem der Autor ebenfalls bewusst auf sufische Motive zurückgreift. Hier bricht der Erzähler ein Frageverbot, das ihm von einem himmlischen Diwan auferlegt wurde. Das Tabu betrifft die ästhetische Wahrnehmung von Zeit als sinnlosem Prozess der Vernichtung. Rotraud Wielandt weist in ihrem Artikel zum Buch der Manifestationen darauf hin, dass der Autor in mehreren Passagen Gott durch die vorislamisch-altarabische Vorstellung einer zerstörerischen Macht der Vergänglichkeit (ad-dahr) ersetzt, womit er sich gegen die religiöse Sinngebung auflehnt und somit gewohnte Geschichtsvorstellungen subversiv unterwandert.36 Auf diese Weise drückt al-Ghitani die Ratlosigkeit gegenüber dem Leben aus. Er greift auf das sufische Konzept von den »Manifestationen Gottes in der Vielfalt der Erscheinungen« zurück,37 in der Hoffnung, dass es seinem fragmentierten Weltbild Kohärenz zu verleihen vermag.38 Diese Zuversicht kann jedoch in Hinblick auf seine Entfremdung gegenüber einer traditionellen Religiosität nur enttäuscht werden.39

34 Es handelt sich hier um Gedanken, die der Ehegatte der Autorin in einem Gespräch äußert. Vgl. Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand »Du stilles Geschrei«, München 1999, S. 14. 35 Gamal al-Ghitani: Kitab at-Tagalliyyat, verfasst 1980-86, erstmals veröffentlicht 1983–87 und in einem Band erschienen in Kairo 1990. Rotraut Wieland klassifiziert Buch der Manifestationen allerdings nicht im engeren Sinne als einen autobiographischen Roman, da die »fiktiven« Elemente zu dominant seien. Vgl. Rotraut Wielandt: »Mystische Tradition und Wirklichkeitserfahrung in Gamal al-Ghitanis Kitab at-Tagalliyat«, in: Asiatische Studien/Etudes Asiatiques 50/2 (1996), S. 491–523, hier S. 498. 36 Ebd., S. 517f. 37 Ebd., S. 492. – Vgl. dazu auch F. Rahmati: Der Mensch als Spiegelbild Gottes, S. 20: »Ibn cArabi benutzt das Wort tagalli oft in seinen Schriften, jedoch verwendet er es in einem sehr umfassenden Sinn. Für ihn bezieht sich tagalli nicht nur auf die Enthüllung Gottes im Herzen der Gläubigen, sondern auch auf seine Enthüllung in der gesamten Welt, sowohl in der verborgenen als auch in der materiellen«. 38 R. Wielandt: »Mystische Tradition und Wirklichkeitserfahrung«, S. 512. 39 Vgl. ebd., S. 500; 522f.: »Wenn sowohl das Bewusstsein einer bis auf weiteres nicht überwindbaren Fragmentarität, Diskontinuität und Inko-

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Mit solch einem Wunsch lebensweltliche Kohärenz herzustellen sind die sufischen Motive im Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch offenbar nicht belastet. Jedoch lässt sich – in umgekehrter Richtung – das Fehlen lebensweltlicher Kohärenz als Auslöser für die Entfaltung eines sufischen Bewusstseins verstehen. Um diesen Gedanken auszuführen, möchte ich zunächst auf eine literarische Tradition verweisen, auf die sich Gamal al-Ghitani in seinem Werk immer wieder beruft, nämlich die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. Ganz ähnlich wie im Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch stoßen auch in der Nachterzählung Die Messingstadt40 die Frage nach dem Sinn des Seins und Konzepte des Sufismus aufeinander: Die Messingstadt beschreibt die Expedition der historischen Figur Musa Ibn Nusayr in den extremen Westen. Auf seiner Reise dringt er in eine unbekannte Welt vor, die einigermaßen phantastisch anmutet. Ein hervorstechendes Motiv sind die Schrifttafeln, auf die die Reisenden überall treffen. Bei den Inschriften handelt es sich um Askesegedichte, die stets das Ubi-sunt-Thema41 wiederholen: Wo sind sie, die in allen Ländern herrschten, In Sind und Hind, die stolze Herrscherschaft? […] Im Zeitenumschwung traf sie das Verhängnis: Aus Schlössern, die sie bauten, kam kein Heil!42

härenz des eigenen Lebenszusammenhanges und des eigenen Ich als auch die Tendenz zur säkularisierenden Umdeutung ehemals auf Gott bezogener Sinngebungs- und Sprachmuster Merkmale eines spezifisch zeitgenössischen Wirklichkeitsverständnisses sind, dann behält in alGhitanis Kitab at-tagalliyat klar ein solches Wirklichkeitsverständnis die Oberhand und nicht etwas eines wie das des 1240 verstorbenen Mystikers Ibn cArabi.« 40 In seinem Roman Hatif al-Maghib (Kairo 1992) bedient sich Gamal alGhitani eines ähnlichen mythologischen Motivfundus wie die Autoren der Messingstadt. 41 Vgl. Carl H. Becker: »Ubi sunt qui ante nos in mundo fuere«, in: Aufsätze zur Kultur- und Sprachgeschichte vornehmlich des Orients. Ernst Kuhn zum 70. Geburtstage am 7. Februar 1916 gewidmet von Freunden und Schülern, Breslau 1916, S. 87–105. 42 Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Vollständige deutsche Ausgabe in sechs Bänden. Zum ersten Mal nach dem arabischen Urtext der Calcutter Ausgabe aus dem Jahre 1839 übertragen von Enno Littmann, Bd. 4, Frankfurt a. Main, Leipzig 2004, S. 237.

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Die Vergänglichkeit wird narrativ durch das Auftauchen längst verlassener Schlösser in Szene gesetzt, in denen wiederum Schrifttafeln den Protagonisten ebenso wie den Leser über ihre Geschichte aufklären. Es handelt sich bei diesen Schlössern um Denkmäler, durch die ihre Besitzer sich Anteil an der Unsterblichkeit zu sichern glaubten – die nun seit Jahrhunderten leerstehenden Bauwerke bezeugen jedoch augenfällig das Scheitern dieses Versuchs. Sie stellen Stationen einer Reise dar, auf der Musa Ibn Nusayr Tafel um Tafel mehr in seiner Seele erschüttert wird. Auf diese Weise verwandelt er sich allmählich von einem Welteroberer in einen Einsiedler, wobei die Askesegedichte mit ihrem Zeitpessimismus als Impulse für seine Metamorphose zu verstehen sind. Die Auswahl und Verbindung ursprünglich mythischer Motive sowie einige verstreute Hinweise erlauben es, Musa Ibn Nusayrs Bewusstseinsentwicklung als Erfahrung im Sinne einer mystisch-visionären Reise zu interpretieren.43 Der Widerspruch zwischen dem ›Nihilismus‹ des Ubi-sunt-Themas und der sufischen Erkenntnis wird aufgelöst, indem die Wahrnehmung einer allgemeinen Vergänglichkeit der Dinge zu einer radikalen Infragestellung des gewohnten Weltbildes führt und somit aus der ästhetischen Erfahrung eine mystische hervorgeht. Ganz ähnlich wie die Erbauer jener verlassenen Schlösser in der Messingstadt sieht auch der Erzähler von Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch seinen Beruf als Architekt und Restaurator als Versuch an, der Vergänglichkeit ein Schnippchen zu schlagen: Wisse – o mein Bruder – dass meine Verbundenheit mit der Architektur und Beherrschung dieses Fachgebiets, mein Umherziehen im Osten und Westen, um dort bei den Denkmälern und Wundern der Baukunst halt zu machen, aus dem Motiv einer inneren Qual entspringt. Denn wenn sich dem Schicksal nichts entgegensetzt, wenn alles fortgerissen wird, so versuchen wir seine Wirkung mit der Architektur zu verlangsamen, mit Steinen.44

Obwohl sich der Erzähler durchaus dessen bewusst ist, dass das materielle Andenken an einen Weltherrscher genau wie er selbst der Vergänglichkeit preisgegeben ist, betrachtet er den Eroberer Timur mit seinem Ehrgeiz, die Welt zu besitzen, als ein Vorbild

43 Andras Hamori spricht von einer mystischen, gnostischen beziehungsweise spirituellen Reise. Vgl. Andras Hamori: On the Art of Medieval Arabic Literature, Princeton/New Jersey 1975, S. 154f. 44 G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 53.

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und als einen Seelenverwandten.45 Das Ziel, bis ans Ende der Welt zu gelangen und in jenseitige Bereiche einzudringen, verbindet sich im zweifach erwähnten Mythos des Lebensquells – auf den auch in der Messingstadt angespielt wird – mit der Vorstellung, die Grenzen der Zeit zu überwinden.46 Anders als der Protagonist Musa Ibn Nusayr reist der Erzähler im Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch jedoch nicht entsprechend der semitischen Mythologie ans Westende der Welt, sondern von vornherein in den mit mystischer Symbolik aufgeladenen Osten: Es ist, als wäre ich nur in das Land hinter dem Fluss gekommen, […] um die Lebensquelle zu entdecken, aus der sie erschaffen wurde, ewig… es waren weder Sperma noch Blutgerinnsel, sie befand sich nicht eines Tages zwischen der Brust und den Lenden.47 Sie ist aus dem Lebenswasser erschaffen, aus ihm sprudelt die Lebenslust.48

In dieser Passage lässt sich kaum entscheiden, ob die Geliebte aus den Tiefen der Mythologie aufsteigt oder eine mystische Manifestation des Seinsgrundes darstellt, ob der Lebensquell als Mythem oder mystische Metapher zu lesen ist. Deutlich ist jedoch die Ablehnung der hier zitierten koranischen Lehre, nach der Gott die Menschen rational-naturwissenschaftlich aus Sexualakt und Schwangerschaft hervorgehen lässt. In den anschließenden Zeilen wird dann ersichtlich, dass die Suche nach dem Lebenswasser (daher die Sehnsucht des Liebenden) ebenfalls nicht wie im Koran auf eine göttliche Vernunft zielt, mit deren Hilfe Phänomene erklärt werden können, die sich einer einfachen Logik entziehen. Denn das verborgene Wissen, das Moses – nachdem er die Lebensquelle verfehlt hat –49 von einem »Knecht Gottes«50 erbittet, ist für unseren Erzähler nicht erstrebenswert. Was allein zählt, ist die körperliche Erscheinung seiner Geliebten, ohne dass ihr Mythos aufgelöst, ihre Mystik auf Gott zurückgeführt wird: Mit dem Fortschreiten der Nacht schaute ich zu ihr, blind für alles Sein außer ihr. Und selbst wenn der Knecht, dem verborgenes Wissen gegeben wurde

45 46 47 48 49

Vgl. G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 68. Vgl. ebd., S. 58; 126. Vgl. Suren 80:19, 86:7, 96:2. G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 58. Die Lebensquelle wird im Koran genauso wenig wie in der Messingsstadt explizit erwähnt. 50 Den Exegeten zufolge der Zeit und Raum transzendierende al-Khidr.

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Osman Hajjar und der eine Existenz aufgrund seines Wissens auslöschte […],51 Gestalt annähme, so war nur sie allein in meinem Blick.52

Aus der Doppeldeutigkeit von Mythos und Mystik entsteht in alGhitanis Brief etwas Neues. Die primäre, dinglich-wirkliche Ganzheit der Welt des Mythos53 und die ekstatische Erfahrung als Zusammenschluss einer Vielheit der Erscheinungen verbinden sich zu einer immanenten Mystik, bei der das Moment einer absoluten Ein- oder besser Ganzheit des Seins aus der ästhetischen Erfahrung der Körperlichkeit der Geliebten hervorgeht. Wenn al-Ghitanis Sufismus also die Erfahrung einer Liebesmystik in der Welt darstellt, wirft dieser literarische Anspruch ein neues Licht auf die zu Beginn genannten Kritikpunkte. So verweisen der Selbstmordversuch des Erzählers wie auch der ›Nihilismus‹ der Ubi-sunt-Thematik auf eine Infragestellung transzendenter Sinnstiftung. Noch klarer als Ausruf eines In-der-Welt-Seins erweist sich die provokante Körperbetonung in der Beschreibung der Geliebten. Die Liebe ist alles, nicht der sich in ihr manifestierende transzendent zu denkende Gott. Es ist die Liebe, die in der körperlichen Erfahrung eine Eigentlichkeit des Seins gebiert. Der Erzähler spricht dies deutlich aus: »Ich stieß meine Zunge in die Wärme ihres rosafarbenen Mundes, und es war, als spaltete sie sich von mir ab, würde wieder zu einem Embryo, als kehrte die Existenz zurück zu ihrem ursprünglichen Verlauf.«54

51 In Sure 18:65–81 heißt es: »Sie trafen einen von unseren Dienern, dem Wir Unsere Barmherzigkeit zukommen ließen und den Wir von Unserem verborgenen Wissen etwas gelehrt haben. Moses sagte zu ihm: ›Darf ich dir folgen, damit du mich von dem lehrst, was dir an Rechtem gelehrt wurde.‹ Er antwortete: ›Du wirst mit mir keine Geduld haben. Denn wie willst Du erdulden, wovon Du keine Kenntnis hast?‹ […] Da zogen sie beide aus, bis als sie auf einen Knaben trafen, den er tötete. Moses sagte: ›Hast du eine lautere Seele getötet und dies nicht (als Vergeltung) für eine andere Seele? Du hast etwas Verwerfliches getan.‹ […, der Diener Gottes:] ›Ich werde Dir jetzt die Deutung dessen kundtun, wofür du keine Geduld hattest: […] Was den Knaben angeht, so waren seine Eltern gläubig. Da fürchteten wir, dass er sie durch seine Tyrannei und seinen Unglauben bedrücken würde. Darum wollten wir, dass ihr Herr ihn durch einen besseren, lauteren und ihnen näher stehenden Knaben als diesen eintauschen würde.‹« 52 G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 58. 53 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Das Mythische Denken, in: ders., Gesammelte Werke., hg. von Claus Rosenkranz, Hamburg 2002, Bd. 12, S. 62. 54 G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 123f.

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In der Verschmelzung der Liebenden als Quelle des Seins hat die Vorstellung von Gott im Grunde genommen keinen Platz mehr. Dennoch ist Gott im Text allgegenwärtig und die Vorstellung Seiner Transzendenz keineswegs als überwunden zu betrachten.55 So heißt es, dass eine unendliche Liebe (zu Gott) die Trennung voraussetze, da man – ähnlich dem platonischen Konzept vom »bedürftigen Eros«56 – eine dauerhafte Liebessehnsucht allein für denjenigen empfinde, der abwesend ist.57 Darüber hinaus stellt die materielle Einheitserfahrung auch aufgrund ihrer Zeitgebundenheit keine absolute Wirklichkeit dar: »Aber so sehr ich wünschte, so sehr hielt ich mich zurück, denn das Verschmelzen unseres Seins kann keine Dauer haben. Darum bin ich keine vorübergehende Einheit eingegangen.«58 Durch diese Unentschiedenheit zwischen Transzendenz und Immanenz bleibt al-Ghitanis literarisches Bekenntnis unbestimmt. Sein moderner Sufismus ist kein neuer Weg, kein selbstständiges theosophisches oder philosophisches System, keine neue Poetik. Als literarischer Ausdruck entsteht er unwillkürlich aus einer Sprache der Liebe und spiegelt ein lebendiges Bewusstsein wider, das über starre kulturelle Schemata hinausgeht. Dementsprechend wird alles infrage gestellt, auch die Geschichtlichkeit selbst. Das Zeitkontinuum löst sich in einzelne Punkte auf, die nun ein Vakuum freigeben: Wisse – o mein Bruder – dass unsere Brüder vor langer Zeit in ihren Abhandlungen behaupteten, dass die Zeit sich in Jahre einteilt, ein Jahr vergangen und ein Jahr noch nicht gekommen ist, dass sich das Jahr in Monate einteilt, ein Monat vergangen und ein Monat noch nicht gekommen ist, dass sich der Monat in Tage einteilt, ein Tag vergangen und ein Tag noch nicht gekommen ist, dass der Tag sich in Stunden einteilt, eine Stunde vergangen und eine

55 In ihrem Artikel »Mystical and Mythical Journeys in Two Novels by Jamal al-Ghitani« stellt Wielandt in Hinblick auf Manifestationen fest: »God is by no means absent from his novel. To the contrary, he is nearly omnipresent in them – but only as one possible answer to the open question of the temporality of human existence that comes up most poignantly in the experience of death.« Rotraut Wielandt: »Mystical and Mythical Journeys in Two Novels by Jamal al-Ghitani«, in: Angelika Neuwirth/Birgit Embaló/Sebastian Günther/Maher Jarrar (Hg.), Myths, Historical Archetypes and Symbolic Figures in Arabic Literature. Towards a New Hermeneutic Approach. Proceedings of the International Symposium of Beirut, June 25th - June 30th, 1996, Beirut 1999, S. 467–480, hier S. 480. 56 Vgl. Platon: Symposion 200-204b. 57 G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 128. 58 Ebd., S. 125.

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Osman Hajjar Stunde noch nicht gekommen ist, dass ihre Minuten einerseits vergangen und andererseits noch nicht gekommen sind, dass sich die Minute in Sekunden einteilt, eine beendete Sekunde und eine noch nicht gekommene Sekunde…, also wo ist dann die Zeit? In dieser Weise ist ein Zeitraum von mir vergangen und ein Zeitraum noch nicht gekommen, wo also steht sie in Bezug zu mir?59

Die Frage, wo bei dieser unendlichen Zerlegung die Zeit bleibt, hätte durchaus auch von Ibn Sina gestellt werden können, der das Modell eines Zeitatomismus entschieden ablehnte. Dieses kursierte seinerzeit in theologischen Kreisen als Vorstellung vom Teil, das nicht geteilt wird, wobei die Atome aber keine stabilen Gebilde darstellen sollen, sondern wiederum atomistisch nur einen Augenblick lang existieren: »Gott schafft sie ständig neu, und eine Bewegung kommt dadurch zustande, dass ein Konglomerat von Atomen nicht genau an derselben Stelle, sondern leicht versetzt daneben geschaffen wird; die Welt als Trickfilm.«60 Den absurden Eindruck eines Comics erweckt sicherlich auch die arabische Moderne, weshalb al-Ghitanis Versuch, den Zusammenhang kultureller Bilder zu hinterfragen und die Wahrheit in der Gespaltenheit zu verorten, mit einer Erfahrung des Heraustretens aus dem Zeitfluss in der Mystik Ibn Sinas verglichen werden kann. So überwindet der islamische Philosoph in seinem letzten Werk Hinweise und Ermahnungen die Ebene spekulativer Diskussionen und beschreibt eine Erfahrung von Zeiteinbrüchen, deren Abgründigkeit zur mystischen Schau Gottes führt: Wenn Askese (riyada) und Wollen den Menschen bis zu einem bestimmten Punkt gebracht haben, zeigen sich ihm vom Anfang des Lichtes Gottes über ihm köstliche erhaschte Teilchen, Blitzen gleich, die ihm entgegenzucken und dann vor ihm erlöschen. Man nennt das bei den Erkennern Nus. Jedes Nu (waqt) ist von zwei Verzückungen (wagdani) flankiert, einer, die zu ihm führt, und einer, die auf ihn folgt.61

Während das Nu offenbar als »Moment« der Ewigkeit erlebt wird, werden die Verzückungen (Singular: wagd, Dual: wagdani)62 vor und nach diesem Augenblick als dynamisches Heraustreten aus 59 G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 54. 60 Gotthard Strohmaier: Avicenna, München 2006, S. 66. 61 Ibn Sina, Abu l-Husayn: Al-Isharat wa-t-Tanbihat, J. Forget (Hg.), Leiden 1892, 202,18-203,5, zitiert nach der Übertragung von Richard Gramlich: Der eine Gott. Grundzüge der Mystik des islamischen Monotheismus, Wiesbaden 1998, S. 234. 62 Vgl. Fußnote 1.

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beziehungsweise Einholen der Zeitlichkeit verstanden. Tatsächlich ist die Ekstase im Sinne eines Heraustretens – nicht nur aus der Zeit – als Leitmotiv von al-Ghitanis Brief zu betrachten. So wird auch die Architektur als menschlicher Akt, den Raum zu gestalten, mit der Zergliederung von Zeit assoziiert. Die Alten sagten, dass eine Bewegung von einer anderen Bewegung nur durch eine Stille zwischen ihnen getrennt sei. Dessen sind sich insbesondere die Leute der Musik bewusst und auch wir, die Meister der Architektur, haben dies verstanden. […] Zwischen zwei Zeitpunkten befindet sich eine Auszeit, so sagten sie und ich sage, dass dies gleichfalls eine Angelegenheit der Architektur sei, denn das Gebäude entsteht allein in einer Leere, und die Erhebung aus der Leere ist eine Bewegung, sie beginnt mit der Festigkeit der sichtbaren Erde, dann gliedert sie sich auf, was nichts anderes ist als die Zeitpunkte.63

Gewissermaßen zwischen zwei ›Säulen‹, daher zwischen zwei Tulpenbäumen,64 erscheint Valeria;65 beim Klavierspiel wird sie von zwei Kolleginnen flankiert.66 Valeria tritt in Erscheinung, wenn zwischen zwei Säulen ein Raum, eine Leere freigegeben wird. Sie ist die Liebe, die Erfahrung einer Aufhebung jeglichen Getrenntseins, die das Vakuum als Fülle erleben lässt. Dies erinnert an den »ehrenwerten Scheich«, von dem zu Beginn die Rede war, der durch das Schauen des Geliebten an Leibesfülle zunahm. Als Fülle erfahren werden kann paradoxerweise ein leerer Magen, ein Vakuum, weil sich im Zwischen den Dingen die Welt in ihrer Gesamtheit umfassen lässt, vom räumlichen und zeitlichen Vakuum aus alle Orte/Momente zugleich verfügbar sind und die Geographie genau wie die Geschichte als Ganzes wahrgenommen wird. Es ist al-Ghitanis Bereitschaft, sich nicht nur auf ein räumliches oder zeitliches, sondern auch auf ein literarisches Vakuum einzulassen, Formvorgaben weder zu gehorchen noch sie zu überbieten, gegen die Ansprüche der islamischen Tradition genauso wie gegen die einer modernen Ästhetik aufzubegehren, worin sich der kompromisslose Widerstand al-Ghitanis zeigt. Weniger durch seine Darstellung als vielmehr im Unterlaufen von Darstellungsweisen beweist der Autor seine Verpflichtung gegenüber einem absoluten Selbst, weshalb im Brief über Liebesverlangen und Liebesrausch sufische Wahrheiten keineswegs als verblasste Remi-

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G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 15. Gemeint sind Magnolien. Vgl. G. al-Ghitani: Risala fi s-Sababa wa-l-Wagd, S. 13f.; 21; 31. Vgl. ebd., S. 20.

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niszenzen an eine entfernte Vergangenheit erscheinen, sondern authentisch in der ästhetischen Erfahrung des Textes aufgehen und dieses Werk als moderner Sufismus betrachtet werden darf.

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»Zwischen zwei Tulpenbäumen«

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Kabbala als Kreationsfiktion Starker Dichter und schreibender Golem bei Harold Bloom und Cynthia Ozick CORNELIA TEMESVÁRI In seinem 1975 erschienenen Buch Kabbalah and Criticism schreibt Harold Bloom über das Verhältnis von Kabbala und Ästhetik: »Kabbalah seems to me unique among religious systems of interpretation in that it is, simply, already poetry, scarcely needing translation into the realms of the aesthetic.«1 Blooms Auffassung, die Kabbala bedürfe keiner weiteren Übersetzung ins »Reich der Ästhetik« lässt sich unschwer in der Nachfolge deutscher Romantiker wie Johann Georg Hamann oder Friedrich Schlegel verorten, hatte doch schon letzterer 1799 die Formel »Die Ästhetik = Kabbala – eine andre giebts nicht« geprägt und somit die Kabbala als Identifikationsobjekt für die Ästhetik herangezogen.2 Doch erst Blooms kabbalistische Poetik und seine Interpretation der Kabbala als »Dichtung« in den 1970ern führten dazu, dass sich mittlerweile auch in literaturwissenschaftlichen Handbüchern ein eigener Eintrag für ›Kabbala‹ finden lässt, wie etwa in dem 2007 von David Mikics herausgegebenen New Handbook of Literary Terms.3 Die Tatsache, dass der Begriff ›Kabbala‹ in der Nachfolge Blooms auch als ein literaturwissenschaftlicher gefasst werden kann, scheint ein Indiz dafür zu sein, dass Bloom mit seiner »Psycho-Kabbalistik« ein Denken der Kabbala als Fiktion

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Harold Bloom: Kabbalah and Criticism, New York 2005, S. 24f. Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, Jean Jacques Anstett, Hans Eichner, Paderborn 1958, Band XVIII, S. 399. David Mikics: A New Handbook of Literary Terms, New Haven 2007. Der Eintrag »Kabbalah« gibt einen sehr knappen Überblick über einige kabbalistische Denkfiguren. Die literaturtheoretische Relevanz dieses Eintrags stützt sich ausschließlich auf die Arbeit Blooms: »Harold Bloom, most prominently, has applied Kabbalaistic ideas to literary study«. Ebd., S. 167.

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dichterischer Kreation etabliert und die frühromantische ästhetische Transformation der Kabbala auf die Spitze getrieben hat.4 Im Folgenden beschäftigt mich einerseits die Frage, was an der Kabbala mystisch bleibt, wenn sie in Literatur oder Poetik »übersetzt« und der Ästhetik zugerechnet wird. Sie zielt insbesondere auf das in diesem Band zur Diskussion stehende Verhältnis von Mystik und Ästhetik und auf die Definitionsmöglichkeiten der Kabbala, wenn sie, wie bei Bloom, als dem »Reich der Ästhetik« zugehörig verstanden wird. Dieser Frage liegt die These zugrunde, dass die Kabbala, um vollends poetisch und poetologisch nutzbar gemacht werden zu können, zumindest an der Oberfläche gerade von dem entkleidet werden muss, was zugleich ihre Faszination ausmacht: ihrem mystischen Gehalt. Beide hier untersuchten Autoren, Harold Bloom und Cynthia Ozick, definieren auf jeweils sehr unterschiedliche Weise die Kabbala eben gerade nicht als ›Mystik‹, vielmehr negieren sie dezidiert ein solches Verständnis. Bei Bloom steht diese Umdefinition der Kabbala im Dienste einer Lesart, die die Kabbala als Reflexionsmedium und Modell der Dichtungsentstehung konstruiert. Im Zentrum meiner Betrachtung steht deshalb die Frage, was die Kabbala innerhalb der Poetik Blooms wie auch innerhalb eines literarischen Werkes (beispielhaft dafür Cynthia Ozicks Erzählung Puttermesser and Xanthippe) als Modell für poetische Kreation prädestiniert und welche Metaphern sie für die Kunst- und Dichtungskreation bieten kann.

Kabbala und Einflussangst Die zentrale Frage des 1930 in New York geborenen Harold Bloom und zugleich die, mit deren Beantwortungsversuchen er sich in den 1970ern einen Namen machte, ist die nach den Möglichkeiten poetischer Innovation angesichts einer stets schon vorhandenen vorgängigen literarischen Tradition sowie die Frage nach der Einfügbarkeit eines Autors in diese Tradition und damit in den Ka-

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Zur Kabbalarezeption der deutschen Romantik siehe die beiden Bände von Eveline Goodman-Thau/Gert Mattenklott/Christoph Schulte (Hg.): Kabbala und Romantik. Die jüdische Mystik in der romantischen Geistesgeschichte, Tübingen 1994, und dies. (Hg.): Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwischen Magie und Trope, Tübingen 1999; sowie Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit, Stuttgart/Weimar 1998.

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non.5 Blooms Konzepte der Einflussangst und des poetischen Fehllesens, die er seit 1973 in verschiedenen Büchern entwickelte, geben in leicht abgewandelten Variationen Antworten auf diese Fragen. In seinem Buch The Anxiety of Influence (1973)6 nennt Bloom Nietzsche und ganz besonders Freud als erste Einflüsse für seine Theorie des Einflusses.7 Seine Hauptthese, »strong poets make […] [poetic] history by misreading one another, so as to clear imaginative space for themselves,«8 unterlegt er vor allem mit seiner Auslegung des Freudschen Theorems vom »Familienroman«. Analog zu diesem konstruiert Bloom seine Theorie des intrapoetischen Konflikts als Einflussangst: Der Dichter spricht dem Text seines Vorläufers Göttlichkeit zu, aber diese Liebe ist gefolgt von einer abwehrenden Phase der Rebellion gegen den Vorläufer, die auf dem Gefühl der Verspätetheit des nachfolgenden Dichters beruht und mit einer absichtlichen Fehlinterpretation des Vorläufergedichtes einhergeht. Diese Rebellionsphase mündet in der individuellen Entfaltung des Dichters und somit in der Entstehung des eigenen Gedichtes, das nichts anderes ist als eine korrektive Fortschreibung des Gedichtes des Vorläufers. Freud sowie Nietzsche, den er als »prophet of the antithetical« preist, taugen allerdings nur bedingt für Blooms Theorie, wie deutlich wird, wenn Bloom distanzierend betont, dass beide Autoren Dichter und Dichtung unterschätzen.9 So ist es nicht ver-

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Zu Blooms Verständnis von literarischer Tradition siehe Harold Bloom: »The Dialectics of Literary Tradition«, in: boundary 2, Jg. 2, Nr. 3. 1974, S. 528-538. Eine Einführung in die zentralen Konzepte Blooms gibt Graham Allen: Harold Bloom: A Poetics of Conflict, New York 1994. Im Folgenden zitiert nach Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. Second Edition, New York 1997. Erstauflage in deutscher Übersetzung: Harold Bloom: Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung, übersetzt von Angelika Schweikhart, Basel/Frankfurt a. M. 1995. H. Bloom: The Anxiety of Influence, S. 8. Ebd., S. 5. »Yet, the theory of influence expounded here is un-Nietzschean in its deliberate literalism, and in its Viconian insistence that priority in divination is crucial for every strong poet, lest he dwindle merely into a latecomer. My theory rejects also the qualified Freudian optimism that happy substitution is possible, that a second chance can save us from the repetitive quest for our earliest attachments. Poets as poets cannot accept substitutions, and fight to the end to have their initial chance alone. Both Nietzsche and Freud underestimated poets and poetry, yet each yielded more power to phantasmagoria than it truly possesses.

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wunderlich, dass Bloom nach neuen Modellen sucht und kurz nach Erscheinen des Einflussangst-Buches neben einer Ergänzung auch eine gewisse Revision seiner Einflusstheorie vornimmt. Im Jahr 1975 wird das Paul de Man gewidmete Buch A Map of Misreading veröffentlicht, in welchem Bloom eine Landkarte des dichterischen Einflusses anhand der Lektüre amerikanischer und englischer Autoren von Milton bis Whitman zeichnet. Diese Landkarte ist vor allem als Versuch der praktischen Anwendung der Einflusstheorie und in diesem Sinne als Ergänzung zum Einflussangst-Buch zu sehen.10 Das im selben Jahr erschienene Buch Kabbalah and Criticism11 kann, auch wenn es sich im Grunde lediglich um eine Neuvariation des selben Themas handelt, insofern als Revision verstanden werden, als Bloom nunmehr auf kabbalistische Autoren als Ideengeber verweist und kabbalistische Grundideen zu seiner eigenen – vor allem aus Freud entwickelten – Dichtungstheorie analog setzt. Was jedoch macht aus Blooms Sicht die Eignung der Kabbala als Erklärungsmodell für seine Dichtungstheorie aus? Bereits das Wort ›Kabbala‹, das wörtlich ›Empfang‹ heißt und, worauf Bloom hinweist, als Tradition im Sinne von Rezeption gedeutet wird, scheint wie geschaffen dafür, auf eine Theorie des Einflusses appliziert zu werden, die die Rezeption vorhergehender Schriftstellergenerationen in den Vordergrund stellt.12 Scholem hatte die Kabbala in ihrer historischen Entwicklung als eine Verflechtung They too, despite their moral realism, over-idealized the imagination«. Ebd., S. 8f. 10 Das Buch kann durchaus auch als Antwort auf de Mans Kritik an Blooms Einflussangst-Buch verstanden werden: »The Anxiety of Influence in contrast to some of Bloom’s earlier books, contains very few detailed readings, and Bloom’s considerable erudition is not especially in evidence. There is an abundance of poetic quotation and, in the case of Milton, Blake, Stevens, Emerson, and others, implicit interpretation on an advanced level, but always embedded within the argument and without clarifying comment, as if the inferred meaning of difficult and ambiguous passages could be taken for granted. One senses Bloom’s legitimate impatience with detail in a book that has much wider ambitions«. Paul de Man: »Review (Untitled). Reviewed Work: The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry by Harold Bloom«, in: Comparative Literature, Jg. 26, Nr. 3. 1974, S. 269-275. 11 Im Folgenden zitiert nach Harold Bloom: Kabbalah and Criticism, London/New York 2005 (1975), auf deutsch erschienen als: Harold Bloom: Kabbala. Poesie und Kritik, übersetzt von Angelika Schweikhart, Basel/Frankfurt a. M. 1988. 12 Vgl. H. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 3.

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von jüdischer Gnosis und Neuplatonismus definiert, eine Darstellung, die Bloom aufnimmt und poetologisch fruchtbar macht, indem er den Neoplatonismus als eine Theorie des Einflusses definiert (»a rather conventional theory of influence«) und den Gnostizismus als eine Theorie der Fehldeutung (»a theory of misprision«) und die Kabbala somit als eine Mischung von beidem.13 Um die Eignung der Kabbala für seine Einflusstheorie noch weiter zu unterstreichen, verweist Bloom auf Ähnlichkeiten zwischen seinem bisherigen Hauptideengeber Freud und den Prinzipien der Kabbala, wenn er den Aspekt der ›Verspätung‹ betont: »As a psychology of belatedness, Kabbalah manifests many prefigurations of Freudian doctrine.«14 Die Kabbala steht für Bloom insofern immer unter den Auspizien des Revisionismus und ist insofern als verspätet anzusehen, als ihr eine Schrifttradition vorgegeben ist, von der sie sich nicht emanzipieren kann: The kabbalists were in no position to formulate or even re-formulate much of anything in their religion. Given to them already was not only a massive and completed Scripture, but an even more massive and intellectually finished structure of every kind of commentary and interpretation. Their stance in relation to all this tradition became, I think, the classic paradigm upon which Western revisionism in all areas was to model itself ever since, usually in rather indirect emulation.15

Bloom sieht also in der Entwicklung und im Charakter der Kabbala jene Strukturen, die er bereits in seinem Einflussangst-Buch für die Dichtungsentstehung dargestellt hatte: Wie der Dichter, so sei auch der Kabbalist vor eine Texttradition gestellt, welcher er aufgrund seiner eigenen Verspätetheit nur durch eine revisionistische Bewegung der Fehldeutung begegnen kann und die im Falle des Kabbalisten wie auch im Falle des Dichters zu einer kreativen Eigenleistung führt. Erst diese Lesart macht aus der Kabbala sowohl eine Theorie der Bedeutung (»theory of meaning«) als auch eine Theorie des Schreibens (»theory of writing«)16. Bereits Scholem hatte in Bezug auf die Kabbala von der kreativen Macht des Missverständnisses gesprochen: Die Kabbalisten bemächtigten sich der Begriffe der orthodoxen Theologen, aber unter ihrer Zauberhand entspringt im Herzen vieler scholastischer Be-

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

30. 20. 14. 25.

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Cornelia Temesvári griffe und Abstraktionen eine verborgene Quelle neuen Lebens. […] Für den Mystiker entfaltet sich gerade in solchem Mißverständnis oft sein originellstes Denken: ist doch das Mißverständnis nur die paradoxe Abbreviatur eines originellen Gedankengangs.17

Es scheint jedoch, dass aus Blooms Sicht die Interpretationsleistung der Kabbala durch die Definition letzterer als Mystik abgewertet wird, wie aus der Schlusspassage des Eröffnungsessays »Kabbalah«, der einen einführenden Überblick über die historische Entwicklung geben und die Hauptgedanken der Kabbala zusammenfassen soll, deutlich wird. Bloom schließt dort mit den Worten: ›Mysticism‹ is a word I have avoided in this essay, for Kabbalah seems to be more of an interpretative and mythical tradition than a mystical one. There were Kabbalistic ecstatics, and sub-traditions of meditative intensities, of prayer in esoteric manner. But Kabbalah differs finally from Christian and Eastern mysticism in being more a mode of intellectual speculation than a way of union with God. […] By centering upon the Bible, Kabbalah made of itself, at its best, a critical tradition, though distinguished by more invention than critical traditions generally display.18

Bereits zuvor hatte Bloom unterstrichen, es sei gerade die Betonung der Interpretation, die die Kabbala von dem, was sonst unter dem Begriff ›Mystik‹ gefasst werde, unterscheide: »this emphasis upon interpretation is finally what distinguishes Kabbalah from nearly every other variety of mysticism or theosophy, East or West.«19 Bloom definiert also die interpretative Auseinandersetzung der Kabbalisten mit dem vorgegebenen Schriftkorpus als ein Differenzierungsmerkmal, das gleichsam das Etikett ›Mystik‹ für die Kabbala nicht mehr zuließe. Vergleicht man diese Bloomsche

17 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1967 (1957), S. 26f. 18 H. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 22. Blooms These, die Strömungen der Kabbala zielten nicht vordergründig auf eine Vereinigung mit Gott, worauf seine explizite Differenzsetzung zu anderen mystischen Traditionen basiert, greift Scholems These von der Nichtexistenz einer unio mystica in der jüdischen Mystik auf, siehe G. Scholem: Die jüdische Mystik, S. 132. Moshe Idel widerspricht hierin Scholem und setzt sich ausführlich mit dem Konzept der unio mystica in der Kabbala auseinander, dessen Nichtexistenz er als »one of the most widely accepted theses regarding Jewish mysticism« beurteilt. Vgl. Moshe Idel: Kabbalah. New Perspectives, New Heaven, London 1988, S. 59-73, hier S. 59. 19 H. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 14. Kursiv im Original.

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Interpretation der Kabbala mit den Definitionen der KabbalaForschung, so wird deutlich, dass Bloom hier eine bewusste »Fehllektüre« vornimmt. Gershom Scholem, den Bloom als Hauptquelle seiner Kenntnisse über die Kabbala nennt, hatte sich ausführlich mit der Frage, ob und inwieweit die Kabbala unter dem, was in der Religionsgeschichte ›Mystik‹ genannt wird, gefasst werden könne, auseinandergesetzt und hatte sich für die Verwendung des Begriffes entschieden: Kabbalah may be considered mysticism in so far as it seeks an apprehension of God and creation whose intrinsic elements are beyond the grasp of the intellect, although this is seldom explicitly belittled or rejected by the Kabbalah. […] Like other kinds of mysticism, Kabbalah too draws upon the mystic’s awareness of both the transcendence of God and His immanence within the true religious life, every facet of which is a revelation of God, although God Himself is most clearly perceived through man’s introspection. This dual and apparently contradictory experience of the self-concealing and selfrevealing God determinates the essential sphere of mysticism, while at the same time it obstructs other religious conceptions.20

Auch Moshe Idel, der sich – einige Jahrzehnte nach Blooms Kabbalah and Criticism – in seinem (mit einem Vorwort Blooms versehenen) Buch Absorbing Perfections. Kabbalah and Interpretation ausgiebig dem interpretativen Aspekt der Kabbala widmet, verzichtet dabei keineswegs auf die Bezeichnung ›Mystik‹, sondern unterstreicht im Gegenteil, wie sich hermeneutische Verfahren und mystische Erfahrung in der Kabbala gegenseitig bedingen.21 Blooms Analogie von kabbalistischer Neuinterpretation des religiösen Textkorpus und dichterischer Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition funktioniert allerdings nur unter der Vor-

20 Gershom Scholem: Art. »Kabbalah«, in: Encyclopaedia Judaica. CD-Rom Edition, Jerusalem 1997. Vgl. dazu auch: G. Scholem: Die jüdische Mystik, S. 1-42. Zu aktuellen Diskussionen um die Verwendung des Begriffs »Mystik« für die Kabbala siehe die Debatte zwischen Boaz Huss und Shaul Magid: Boaz Huss: »Jewish Mysticism in the University. Academic Study or Theological Practice?«, in: Zeek: A Journal of Jewish Thought and Culture, 12/2007 [http://www.zeek.net/712academy/], und Shaul Magid: »Is Kabbalah Mysticism? Another View«, in: Zeek: A Journal of Jewish Thought and Culture, 3/2008 [http://www.zeek.net/803huss/]. 21 Vgl. Moshe Idel: Absorbing Perfections. Kabbalah and Interpretation, New Heaven 2002, siehe besonders S.18f. Idel verwendet in diesem Buch mehrfach Bloomsche Terminologie, etwa die des starken Dichters, woran sich die Gegenseitigkeit der Beeinflussung von Kabbalaforschung und Bloomscher Kabbalapoetik ablesen lässt.

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aussetzung der Negation jeglicher Differenz zwischen (religiösen und literarischen) Texten. Für Blooms Verständnis kabbalistischer Texte bedeutet dies, dass ihre eigentliche Funktion weitestgehend ausgeblendet werden muss, was die Kabbala zu einem Modell der verspäteten Textproduktion unter vielen macht. Zudem aber steht Bloom, wie bereits angedeutet, mit seiner ästhetischen Lesart der Kabbala in der Tradition der ästhetischen Kabbala der Romantik, die unter dem Begriff ›Kabbala‹ nicht das hebräische Textkorpus des Mittelalters subsumiert hatte, das im Zentrum des Interesses Scholems steht, sondern vielmehr eine ästhetische Transformation der christlich-lateinischen Kabbala der Renaissance. Bloom verweist direkt auf die bereits ästhetisch gewendete Kabbala der Romantik,22 die nicht mehr als dezidiert mystisch zu verstehen ist, und verbindet diese mit seiner Lektüre Scholems, der wiederum selbst als ›kreativer Fehlleser‹ der hebräischen Kabbala, und somit als »poet« verstanden wird.23 Die Wissenschaft von der Kabbala wird also von Bloom wie die Kabbala selbst (und vieles andere) als Fiktion und ›Dichtung‹ gelesen und gilt ihm mehr als Pool seiner eigenen kreativen Produktion denn als Orientierungsmaßstab mit wissenschaftlichem Geltungsanspruch.24

22 Vgl. etwa den direkten Verweis auf den eingangs zitierten Schlegel: »Friedrich Schlegel said that the true aesthetic was the Kabbalah […].« Harold Bloom: Agon. Towards a Theory of Revisionism, New York 1982, S. 56. 23 Zu Blooms Scholem-Lektüre siehe Harold Bloom: »Scholem: Unhistorical or Jewish Gnosticism«, in: ders. (Hg.), Gershom Scholem, New York 1987, S. 207-220. Vgl. auch Kilchers Einschätzung: »Bloom stellt schon Scholems ›erste‹ Kabbala, ihre historische ›Nacherzählung‹, in die Geschichte einer ›zweiten‹, also der immer schon ›mißverstehenden‹, ›literarischen‹ Kabbala, zu der die Kabbala der Renaissance und Romantik gehören.[…] Jedoch wird in Blooms Logik, und das ist entscheidend, diese zweite Kabbala zur einzig angemessenen Beschreibung der Kabbala überhaupt.« A. Kilcher: Die Sprachtheorie, S. 348. 24 Scholems Einschätzung der Bloomschen Scholem-Lektüre ist zurückhaltender: »He certainly read me with an imaginative mind. You will not expect me to agree with some of his bolder extrapolations – but that holds true of all my sensitive or attentive readers. He sure has perceived quite well the paradoxical insights of the Kabbalists into some of the basic riddles of our being – at least of our being as Jews!« Gershom Scholem: Brief an Norman Podhoretz vom 3. März 1975 in: ders.: Briefe Band III 1971-1982, hg. von Itta Shedletzky, München 1999, S. 115.

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Gottes Atembeschwerden und poetisches Fehllesen Blooms Analogisierung von Kabbala und Dichtungskreation beschränkt sich nicht auf das Feststellen einer ähnlichen – verspäteten – Ausgangssituation des Kabbalisten und des Dichters. Vielmehr sind für Blooms Fortführung seiner Einflusstheorie zwei kabbalistische Autoren des 16. Jahrhunderts und deren Grundideen zentral: Von Moses Cordovero übernimmt Bloom dessen Konzeption der Funktionsweise der Sefirot, von Cordoveros Schüler Isaak Luria die Vorstellung eines regressiven Schöpfungsprozesses, die um die Idee der Katastrophe kreist. Die 10 Sefirot, die göttlichen Emanationen, die die Schöpfung ermöglichen, sind für Bloom interessant, weil sie, wie Bloom ausführt, primär Sprache sind, attributes of God that need to be described by the various names of God when he is at work in creation. The Sefirot are complex figurations for God, tropes or turns of language that substitute for God. Indeed, one could say that the Sefirot are like poems, in that they are names implying complex commentaries that make them into texts.25

Hier zeigt sich, dass Blooms Faszination durch die Theoreme der Kabbala gerade auch in deren linguistischer Theorie, in der kabbalistischen Emphase der Sprache begründet liegt, die für Bloom ein ideales Gegenmodell zur Dekonstruktion liefert: »Either one can believe in a magical theory of all language, as the Kabbalists, many poets, and Walter Benjamin did, or else one must yield to a thoroughgoing linguistic nihilism, which in its most refined form is the new mode now called Deconstruction.«26 Scholem hatte die Prinzipien der kabbalistischen Sprachtheorie in drei Punkten zu-

25 H. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 9. Vgl. Scholems Ausführung: »In den Sefiroth der Kabbalisten manifestiert sich Gott in zehn Sphären oder Aspekten seiner Wirkung. Die 22 Buchstaben gehören in diesen Bezirk selber hinein, sind Konfigurationen der göttlichen Energie, die in der Sefirothwelt selber gründen […]. Die Bewegung, in der die Schöpfung zustande kommt, ist also auch als Sprachbewegung deutbar.« Gershom Scholem: »Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala«, in: ders.: Judaica 3, Frankfurt a. M. 1973, S. 7-70, hier S. 32f. 26 Harold Bloom: »The Breaking of Form« In: Harold Bloom/Paul de Man/ Jacques Derrida/Geoffrey H. Hartman/J. Hillis Miller: Deconstruction and Criticism, New York 2004 (1979), S. 1-31, hier S. 3.

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sammengefasst, die sich in Blooms Kabbalapoetik durchaus widerspiegeln: (1) Die Auffassung, daß Schöpfung und Offenbarung beide vornehmlich und wesentlich Selbstdarstellungen Gottes sind […]. Damit hängt unmittelbar die weitere Auffassung zusammen, daß das Wesen der Welt Sprache sei. (2) Die zentrale Stellung des Namens Gottes als des metaphysischen Ursprungs aller Sprache und die Auffassung der Sprache als Auseinanderlegung und Entfaltung dieses Namens […]. (3) Die dialektische Beziehung von Magie und Mystik in der Theorie der Namen Gottes nicht weniger als in der überschwänglichen Macht, die dem reinen menschlichen Wort zuerkannt wird. 27

Bloom verbindet die oben skizzierte kabbalistische Sprachtheorie auf der Basis des Systems von Cordovero mit seinem Einflussangstkonzept. Cordovero hatte die Sefirot zugleich als Substanz und als Werkzeuge bzw. Gefäße Gottes verstanden; neu an seinem System ist die Kategorie der Bechinot, der vielfältigen Aspekte innerhalb jeder Sefira, die zugleich Verbindungselemente zwischen den einzelnen Sefirot sind. Entscheidend für Bloom ist, dass er Cordoveros Bechinot als kausale Aufeinanderfolge von Emanationsstrategien liest, welche jenen dichterischen Strategien des Fehllesens entsprechen, die er in seinem Einflussangst-Buch etabliert hatte. Das Verhältnis zwischen Sefirot und Bechinot beschreibt Bloom wie folgt: »Whereas the Sefirot, as attributes of God, are manifestly supernatural channels of influence (or rhetorically speaking divine poems, each a text in itself), the behinot work more like human agencies, whether psychic or linguistic.«28 Die menschlichen Tätigkeiten, die Bloom hier im Sinn hat, sind die im Einflussangst-Buch beschriebenen Strategien des Dichters, sich zu den Texten seines Vorgängers in Beziehung zu setzen. Diese spielen auch in einem weiteren Modell, das Bloom zu Hilfe nimmt, um seine Einflusstheorie durch die Kabbala zu veranschaulichen, eine Rolle, nämlich in Isaak Lurias Konzept des Zimzum, das die Selbstkontraktion Gottes als Voraussetzung und ersten Schritt der Weltschöpfung versteht. In Luria sieht Bloom den »archetype of all Revisionists«, da seine Schöpfungskonzeption das Modell für alle nach ihm kommenden Arten der verspäteten Kreativität darstelle.29 Bloom erinnert daran, dass der Begriff ›Zimzum‹ die Verbform ›mezamzem‹ aufweist, die das Anhalten

27 G. Scholem: »Der Name Gottes«, S. 10f. 28 H. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 16. 29 Vgl. Ebd., S. 37.

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des Atems bezeichnet, und stellt dieses Faktum in den Kontext der Ausführungen Freuds über die »Beengung im Atmen« aus dessen »Angst«-Vorlesung der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.30 Blooms derart geprägte Lesart des Lurianischen Zimzum-Modells kommt zu dem Schluss, die Selbstkontraktion Gottes habe auf seiner Angst beruht und »Gottes Atembeschwerden«, als welche er den Prozess des Zimzum übersetzt, seien Auslöser für die Weltschöpfung gewesen: »I am about to go against Kabbalistic tradition, by suggesting that Zimzum was God’s anxiety. God had breathing trouble, and this trouble created the world.«31 Diese Bloomsche Konstruktion der Weltentstehung, eine freudianische Lektüre Lurias, setzt Bloom nun wiederum analog zu seinem Einflussangst-Dichtungsmodell: »If the anxiety of influence be imaged as a lack of breathing space, then the voluntary limitation that allows a new poem to begin, amounts to a holdingin of the breath, until some space is cleared for it.«32 Dieses an der lurianischen Kabbala geformte Modell der Dichtungsentstehung scheint fast ein Gegenmodell zur christlichplatonischen Inspirationsvorstellung33 zu sein, insofern dem inspirare, der Eingebung des Gedichtes durch einen göttlichen Atemhauch, hier ein Modell gegenübergestellt wird, das auf dem mezamzem, der Metapher des angehaltenen Atems des Dichters im Moment der Dichtungskreation, aufbaut. Denn auch in diesem Fall übernimmt Bloom in einem Akt der analogen Identifikation 30 Ebd.; vgl. Freud: »Die enorme Reizsteigerung durch die Unterbrechung der Bluterneuerung (der inneren Atmung) war damals [d.i. während des Geburtsaktes] die Ursache des Angsterlebnisses, die erste Angst also eine toxische. Der Name Angst – angustiae, Enge – betont den Charakter der Beengung im Atmen, die damals als Folge der realen Situation vorhanden war und heute im Affekt fast regelmäßig wiederhergestellt wird.« Sigmund Freud: »Die Angst«, in: ders.: Gesammelte Werke Bd. XI. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, hg. von Anna Freud, Frankfurt a. M. 1999 (1940), S. 407-426, hier S. 411. 31 H. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 43. 32 Ebd., S. 43. 33 Für eine Analyse des platonischen Inspirationskonzeptes und dessen christlicher Interpretation siehe Renate Schlesier: »Künstlerische Kreation und religiöse Erfahrung. Verwendungsgeschichtliche Anmerkungen zum Begriff der Inspiration«, in: Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg 2004, S. 177194, und Christoph J. Steppich: Numine afflatur – Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance, Wiesbaden 2002, besonders S. 13-28.

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das lurianische Modell der Selbstbeschränkung Gottes als Modell für die dichterische Kreation eines neuen Gedichtes: The earlier poem (or poet) is concentrated (which means also contracted) and made to vacate part of himself. Since the precursor has been internalized, a crucial mental space in the ephebe is being voided. Creation begins therefore with an element in the self contracting to a primordial point. […] This creation through contraction of an internalized precursor text, which is the Kabbalistic mode, is precisely the dialectical mode of belated or PostEnlightenment34 poetry.35

Es bleibt in diesem Kontext daran zu erinnern, dass Bloom Gott als sprachliche Entität fasst, was ihm erlaubt, die Sefirot, die göttlichen Emanationen, als Variationen und Kommentare des Gottesnamens, und damit als Gedichte zu verstehen. Analog dazu will Blooms Rede vom Dichter nicht nur biographisch gemeint sein, sondern der Begriff ›Vorläufer‹ verweist auf den Vorläufertext, der Begriff ›Dichter‹ immer auf den, wie Bloom ihn nennt, »poet-as-poet«, also den Dichter im Moment der Textproduktion bzw. das Gedicht im Dichter.36 Dies erlaubt Bloom, die Figur der Selbstkontraktion Gottes als Kontraktion des Vorgängertextes, der bereits im nachfolgenden Dichter verinnerlicht ist, zu beschreiben. Von der christlich-platonischen Inspirationsvorstellung unterscheidet sich Blooms Modell insofern fundamental, als der triadischen Inspirationsvorstellung von eingebendem Gott, passivem Dichter und eingegebenem Text an dieser Stelle ein monadisches Modell gegenübersteht: Der transzendente Gott spielt zwar

34 Die Beschränkung auf nachaufklärerische Dichtung ist eine Reminiszenz der Bloomschen Begeisterung für die Romantiker, von der er sich 1997 in der Neuherausgabe von The Anxiety of Influence distanziert: »Still intoxicated by the High Romantic poets when I wrote The Anxiety of Influence, I tried to confine the phenomenon of creative misprision to post-Enlightenment writers, a false emphasis that I corrected in a Map of Misreading and subsequent books.[…] Belatedness seems to me not a historical condition at all, but one that belongs to the literary situation as such.« H. Bloom: The Anxiety of Influence, S. xxiv. Offensichtlich hatte sich Bloom in Kabbalah and Criticism, das im selben Jahr wie Map of Misreading erschien, noch nicht vollends von der Idee einer historischen Verankerung »verspäteter« Dichtung gelöst. 35 H. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 41. 36 Zu einer anderen Lesart von Blooms Figur des poet-as-poet kommt Milton L. Welch: »The Poet as Poet: Misreading Harold Bloom’s Theory of Influence«, in: Graham Allen/Roy Sellars (Hg.), The Salt Companion to Harold Bloom, Cambridge 2007, S. 199-212.

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vordergründig keine Rolle mehr, findet sich aber gewissermaßen im vergöttlichten Vorläufertext. Dieser ist allerdings dem Dichter per se schon intern gegeben, und aufgrund seiner Kontraktion, die in der Abwehrreaktion des Dichters auf den Vorläufer entsteht, bietet sich erst Raum für das quasi aus dem Dichter emanierende neue Gedicht. Auch die zwei anderen zentralen Begriffe des lurianischen Kreationskonzeptes, Shevirat (HaKelim) und Tikkun, übersetzt Bloom vollends ins Ästhetische, nicht ohne diese Übersetzungsleistung zu markieren. Das lurianische Konzept des Bruchs der Gefäße (Shevirat HaKelim) steht bei Bloom für »the process of rhetorical substitution […] for the selfnegating factor in every poem, the quest for origins that goes against the poem’s own intentions.«37 Diesen beiden Kreationsmomenten der Selbstkontraktion und des Bruchs folgt auch bei Bloom, wie bei Luria, ein Moment der Restitution (Tikkun), das Bloom wie folgt erläutert: »If representation is the aesthetic translation for the Kabbalistic tikkun […] then representation is being viewed as a kind of mending process. […] Poems cannot restitute, and yet they can make gestures of restitution.«38 Die bewusste Wahl »of so esoteric and extravagant a model«39 für die Fortführung seiner Einflusstheorie, wie sie sich in der Bloomschen Interpretation Cordoveros und des lurianischen Kreationskonzeptes findet, ruft nun verschiedene apologetische Abgrenzungsversuche Blooms hervor, wie etwa die folgenden: I become a little anxious myself, and must assert that I myself am no Kabbalist, and hold no theosophical beliefs of any kind. I am merely a skeptic, and want only to show the shape of Cordovero’s configurations, and put off until later my own surmises as to how these structural resemblances between Kabbalism and Post-Enlightenment40 poetry could have been produced, aside of course from the doubtless pertinent consideration that whatever misprision of both Kabbalism and poetry is involved, in this analogizing, is of course my own belated and revisionist creation, my own misreading.41 In urging a Kabbalistic model, which means ultimately a Gnostic model, I am in danger of appearing to be like those Valentinian mystagogues whom Plotinus so eloquently condemned. My motives, though, are pure enough, and it

37 38 39 40 41

H. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 44. Ebd. Ebd. Vgl. Anm. 34. H. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 32f.

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Cornelia Temesvári may be worth remarking that I did not set out upon this enterprise with a Kabbalistic model consciously in view.42

Diese vorweggenommenen Entgegnungen auf seine Kritiker wird er einige Jahre später in The Breaking of the Vessels (1982) ironisch umkehren, wenn er, von seinen Kritikern inspiriert, sein Anliegen als ›psycho-kabbalistisch‹43 bezeichnet oder wenn er in Agon. Towards a Theory of Revisionism betont, er würde dieses Buch als ein ›jüdischer Gnostiker‹44 schreiben.

Dichtungskreation und Golem-Schöpfung Inwiefern nun ist Blooms Integration der Kabbala in seine Literaturtheorie vergleichbar mit literarischen Verarbeitungen kabbalistischer Motive, wie man sie etwa bei der Autorin Cynthia Ozick findet? Zunächst ist hervorzuheben, dass Bloom eine strikte Trennung von Literatur und Literaturwissenschaft wiederholt dezidiert ablehnt: »A theory of poetry must belong to poetry, must be poetry«.45 Damit definiert Bloom die sich mit Literatur auseinandersetzende Wissenschaft und Theorie als Fiktionalisierung, was ihm nicht zuletzt die zügellose Verwendung solch außergewöhnlicher Modelle wie der eben gezeigten erlaubt. Die Arbeit des Interpreten ist aus Blooms Sicht nicht von der Arbeit des Dichters zu unterscheiden: der kreative Output beider verdankt sich einem Prozess des kreativen Fehllesens bereits vorliegender Arbeiten. Somit unterscheidet sich der produktive Prozess der Dichtungskreation nicht vom produktiven Prozess der Interpretationskreation. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass Bloom sich über die Entwicklung seiner Einflusstheorie hinaus einen Namen als fast schon exzessiver Herausgeber unzähliger Überblickswerke über bedeutende Autoren der amerikanischen und europäischen Literaturgeschichte machte. So erschien im Jahr 1986 auch ein Band über Cynthia Ozick, in dessen Vorwort Bloom sie in der 42 Ebd., S. 45. 43 »My own concern is […] what I cheerfully would call ›psychokabbalistic‹ (a term I have adopted from my detractors) or even better ›pneumagnostic,‹ so horrid a coinage that I will not linger upon it.« Harold Bloom: The Breaking of the Vessels, Chicago 1982, S. 7. 44 »I write this book as a Jewish Gnostic, trying to explore and develop a personal Gnosis and a possible Gnosticism, perhaps even one available to others.« H. Bloom: Agon, S. 4. 45 H. Bloom: Kabbalah and Criticism, S. 57.

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Nachfolge Bernard Malamuds, Kafkas und Balzacs sieht.46 Obwohl die 1928 ebenso wie Bloom in New York geborene Autorin eine Reihe mehrfach ausgezeichneter Erzählungen, Romane und literaturwissenschaftlicher Essays schrieb, fanden, im Gegensatz zu Blooms Arbeiten, die in Deutschland verhältnismäßig breit rezipiert wurden, hierzulande nur wenige ihrer Schriften Beachtung oder erschienen in deutscher Übersetzung. Cynthia Ozick interessiert sich für das poetische Potenzial des kabbalistischen Textkorpus, das sie ebenfalls hauptsächlich aus der Vermittlung Scholems kennt, reflektiert innerhalb der poetischen Verwandlung der Kabbala jedoch auch Fragestellungen der Dichtungsproduktion. In einem Aufsatz mit dem Titel The Heretical Passions of Gershom Scholem trägt Cynthia Ozick dem Umstand der Vermittlungsleistung Scholems Rechnung und stellt sich selbst zugleich in eine Reihe mit Harold Bloom, wenn sie über Scholems Einfluss schreibt: »Over the years the tincture of his mind colored the work of Harold Bloom, Jacques Derrida, Umberto Eco, Jorge Luis Borges, Patrick White, and every contemporary novelist lured by the figure of the Golem.«47 Dass diese Aneinanderreihung großer Namen in die Aussage mündet, Scholem sei zentral für jene Schriftsteller, die von der Figur des Golem verlockt wurden, mag zunächst überraschen, jedenfalls denjenigen Leser, dem Ozicks Auseinandersetzung mit dem in der kabbalistischen Tradition verankerten Motiv des Golem nicht bekannt ist. In der nachbiblischen Literatur verweist der Begriff auf Gottes Schöpfung des ersten Menschen Adam, dessen zunächst noch formlose Gestalt in verschiedenen Texten als ›Golem‹ bezeichnet wird. Interessant wird dieser Begriff aus kunsttheoretischer Perspektive in jenem Moment, als kabbalistische Autoren des Mittelalters aus der im Sefer Yezirah (Buch der Schöpfung) formulierten Vorstellung, Gott habe die Welt mithilfe der hebräischen Buchstaben geschaffen und Abraham sei in die Details dieses Schöpfungsvorgangs eingeweiht gewesen, so dass ihm eine Imitation möglich gewesen sei, ableiten, der Mensch – das sprachbegabte Wesen – sei analog zu Gott in der Lage, Welten 46 Harold Bloom: »Introduction«, in: ders. (Hg.), Cynthia Ozick, New York, 1986, S.3. Trotz dieses Lobs ist das Verhältnis zwischen Bloom und Ozick durch Spannungen bestimmt, die auch in Blooms Einleitung deutlich werden. Vgl. auch Ozicks kritische Auseinandersetzung mit Bloom in: Cynthia Ozick: »Judaism and Harold Bloom«, in: Commentary, Jg. 67, Nr. 1. 1979, S. 43-51. 47 Cynthia Ozick: »The Heretical Passions of Gershom Scholem«, in: dies., The Din in the Head, Boston/New York 2006, S. 197-217, hier S. 216f.

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und Menschen zu schaffen – und zwar mithilfe von Buchstabenkombinationen.48 In der Folge wird in der kabbalistischen, aber auch in der halachischen49 Literatur seit dem 13. Jahrhundert die Frage nach der Schöpfungspotenz des von Gott geschaffenen Menschen diskutiert und dabei oft gerade nicht als Verstoß gegen die göttliche Autorität, sondern vielmehr durchaus positiv interpretiert. Moshe Idel fasst in seiner umfangreichen Studie über die kabbalistischen Golem-Praktiken diese als den Versuch des Menschen, »Gott mit Hilfe der Kunst zu erkennen, die er bei der Erschaffung des Menschen anwandte«.50 Cynthia Ozicks 1982 erschienene Novelle »Puttermesser and Xanthippe«51 greift dieses kabbalistische Motiv auf und stellt es in den Kontext der Berufs- und Beziehungswelt einer Mittvierzigerin aus New York, Ruth Puttermesser, die mithilfe eines utopischen schriftlichen Entwurfs, verfasst durch einen von ihr geschaffenen weiblichen Golem namens Xanthippe, von einer kleinen Angestellten der New Yorker Stadtkämmerei zur Bürgermeisterin aufsteigt. Die Protagonistin – die wohl erste weibliche Golemschöpferin der Literaturgeschichte –52 wird nicht nur als überaus kenntnisreiche Expertin der kabbalistischen Tradition dargestellt, sondern zugleich auch als eine solche, die gerade die mystischen Aspekte dieser Tradition vehement ablehnt: »She had pruned out allegory, metaphor; Puttermesser was no mystic, enthusiast, pneumaticist, ecstatic, kabbalist. Her mind was clean; she was a rationalist.«53 Ähnlich wie bei Bloom, der in der Kabbala keine Mystik sehen

48 Einen überblick über das Thema gibt Gershom Scholem: »Die Vorstellung vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen«, in: ders: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M., 1973, S. 209-259. Ausführlich dazu: Moshe Idel: Der Golem. Jüdische magische und mystische Traditionen des künstlichen Anthropoiden, Frankfurt a. M. 2007 (1990). 49 Vgl. M. Idel: Der Golem, S. 311-336. 50 Ebd., S. 31. 51 »Puttermesser and Xanthippe« erschien zuerst als eigenständige Novelle in: Salmagundi 55, Winter 1982, S. 163-225 und wurde später zu einem Kapitel in Cynthia Ozick: The Puttermesser Papers: A Novel, New York 1997. Auf deutsch erschien die Erzählung in: Cynthia Ozick: Puttermesser und ihr Golem, München 1987, S. 81-188. 52 Im Gegensatz zu der Vorstellung eines weiblichen Golem ist die Vorstellung von einer weiblichen Golemschöpferin neu. Zum Themenkomplex »Golem und Geschlecht« vgl. M. Idel: Der Golem, S. 337-348. 53 C. Ozick: Puttermesser Papers, S. 44.

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will, findet auch in dieser Verarbeitung des Golem-Motivs eine gewisse Umformung der Tradition statt, wenn es heißt: There was no end to the conditions of golem-making, just as there was no end to the appearance of one golem after another in the pullulating procession of golem-history; but Puttermesser’s brain, crowded with all these acquisitions and rather a tidy store of others (for instance, she had the noble Dr. Gershom Scholem’s bountiful essay ›The Idea of the Golem‹ virtually by heart), was unattracted either to number or to method. What interested Puttermesser was something else: it was the plain fact that the golem-makers were neither visionaries nor magicians nor sorcerers. They were neither fantasists nor fabulists nor poets. They were, by and large, scientific realists – and in nearly every case at hand, serious scholars and intellectuals: the plausible forerunners, in fact, of their great-grandchildren, who are physicists, biologists, or logical positivists.54

Die Darstellung der Protagonistin als einer erklärten Rationalistin und Dichtungsfeindin – ihr Lieblingsautor ist Platon – ermöglicht Ozick eine neue, originelle und dabei äußerst komische Verarbeitung des Motivs. Die Protagonistin kann einerseits seitenlang über die mystische Tradition, wie sie sie erklärtermaßen aus Scholems Golem-Aufsatz kennt, reflektieren – andererseits ist sie aber zumindest vordergründig völlig aus dieser Szenerie herausgelöst. Gerade der Verweis auf Scholems Aufsatz unterstreicht noch die Umformung, die Ozick vornimmt, indem sie die mystischen Elemente der Golemtradition aus Sicht ihrer Protagonistin ablehnen und verleugnen lässt, denn Scholem erarbeitet in seinem Aufsatz ja gerade die dieser Tradition immanenten ekstatisch-meditativ-mystischen und magischen Aspekte. Viele Autoren, die sich intellektuell in ihren Schriften und möglicherweise praktisch mit dem Versuch der Imitation der göttlichen Schöpfung beschäftigten und die Scholem in seinem Aufsatz analysiert, gibt Ozick in der literarischen Verarbeitung wieder; die Rationalisierung jener Autoren allerdings ermöglicht Ozick nicht zuletzt das Einsetzen einer Frau als Golem-Schöpfer – eher undenkbar in der kabbalistischen Literatur, die ein Äquivalent zur Frauenmystik des Christentums nicht kennt. Der Mystik als dem Gegenstück zur Rationalität wird die Dichtung zu Seite gestellt, wenn Puttermesser nicht nur als rational, sondern auch als frei von Allegorie und Metapher, und die

54 Ebd., S. 48.

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Golemschöpfer nicht nur als Gegner der Mystiker,55 sondern auch als dezidierte Nicht-Poeten beschrieben werden. Wie schon andere Autoren seit der deutschen Romantik benutzt Ozick das Motiv des Golems nicht ausschließlich, aber doch auch als Reflexionsmedium der Kunst- und Dichtungsentstehung.56 So kann die Ozicksche Golem-Frau zwar, ganz der Tradition gemäß, bis kurz vor ihrer Zerstörung nicht sprechen, beginnt jedoch gleich nach ihrer Erschaffung zu schreiben und wird von ihrer Schöpferin sofort getadelt: »I don’t like your prose style. You write like a translation from the Middle Finish. Improve it.«57 Auf die emphatische Behauptung, die Golemschöpfer der kabbalistischen Tradition seien keine Dichter gewesen, folgt die Inszenierung des Golems als Schriftstellerin, wenn diese, hinter der Schreibmaschine verbarrikadiert, einen umfassenden Plan für die Reformation der Stadt New York schreibt, dessen Hauptakteurin ihre Schöpferin ist. Erfolgt dieses Schreiben auch auf Puttermessers Anordnung hin (»Look, you’re going to sit in front of that typewriter and that’s it. […] I don’t care what you type.«), so ruft das Produkt dieses Schreibens doch eine gewisse Verwunderung hervor: »All day the golem, a model of diligence, sat at the typewriter and typed. Puttermesser, passing en route from one fruitless meeting to another, saw the sheets accumulating on the floor. Was Xanthippe writing a novel? a memoir?«58 Zugleich wird dieser kreativ tätige weibliche Golem als Abspaltung der eigentlichen Protagonistin dargestellt, wenn Xanthippe behauptet: »I am your amanuensis,[…] I express you. I copy and record you.«59 Die Golemschöpferin wiederum

55 Vgl. etwa: »[E]ven the Vilna Gaon once attempted, before the age of thirteen, to make a golem! And the Vilna Gaon, with his stern refinements of exegesis and analysis, with his darting dazzlements of logical penetration, was – as everyone knows – the scourge of mystics, protester (mitnagid) against the dancing hasidim […]. If the Vilna Gaon could contemplate the making of a golem, thought Puttermesser, there was nothing irrational in it, and she would not be ashamed of what she herself had concocted.« Ebd., S. 48f. 56 Zum Golemmotiv in der Romantik siehe: Eveline Goodman-Thau: »Golem, Adam oder Antichrist: Kabbalistische Hintergründe der Golemlegende in der jüdischen und deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts«, in: Eveline Goodman-Thau/Gert Mattenklott/Christoph Schulte (Hg.), Kabbala und die Literatur der Romantik zwischen Magie und Trope, Tübingen 1999, S. 81-134. 57 C. Ozick: Puttermesser Papers, S. 50. 58 Ebd., S. 55. 59 Ebd., S. 67.

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erkennt das Geschriebene, das ihr als bloße kopierende Niederschrift ihrer eigenen Sehnsüchte verkauft wird, wieder: »It was as if she had encountered this PLAN before – its very language. It was as if, in the instant it had occurred to her to make the golem, she had read the PLAN in some old scroll.«60 Zugleich jedoch insistiert sie: »Where’d this stuff come from? You couldn’t copy it, I never put any of it down.[…] That’s your idea.« und bekommt zur Antwort: »Creator and created […] merge.«61 In der Novelle findet offensichtlich eine ironische Brechung der anfänglichen Behauptung, Golemschöpfer seien keineswegs Poeten oder auch nur Visionäre, statt: die Rationalistin muss sich einen Stellvertreter schaffen, um visionär-poetische Kreativität zu rechtfertigen. Darüber hinaus schließt Ozick mit dieser Passage an kreationstheoretische Überlegungen kabbalistischer Autoren an, die das Verhältnis vom schöpferisch tätigen Menschen zu seinem Schöpfer reflektieren, denn der Ozick’sche Golem schafft in seiner Reformutopie seine eigene Schöpferin neu, und belässt es nicht dabei, sondern sorgt für eine Umsetzung seines utopischen Reformationsplans, die wiederum den weiteren Verlauf der Novelle bestimmt. Dieses Wechselverhältnis von Schöpfung und Geschöpf ist insofern kunstreflexiv, als die Golem schöpfende Protagonistin zum Geschöpf des von ihr Geschaffenen wird, indem sie sich in eine Figur innerhalb der von Xanthippe ausgearbeiteten Fiktion verwandelt: The coming of the golem animated the salvation of the City, yes – but who, Puttermesser sometimes wonders, is the true golem? Is it Xanthippe or is it Puttermesser? Puttermesser made Xanthippe; Xanthippe did not exist before Puttermesser made her: that is clear enough. But Xanthippe made Puttermesser Mayor, and Mayor Puttermesser too did not exist before. And that is just as clear. Puttermesser sees that she is the golem’s golem. 62

Wenn Ozick Mystik und dichterische Produktivität analog setzt und in ihrer poetischen Umsetzung des Golem-Motivs zugleich das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf problematisiert, geschieht das vor einem Hintergrund, der Blooms ›jüdischem Gnostizismus‹ durchaus entgegengesetzt ist. Ozick positioniert sich selbst in der Tradition eines normativen, rationalen und eher mystikkritischen Judentums, und reflektiert von diesem Standpunkt aus auch immer wieder die Frage, inwieweit literarischer 60 Ebd., S. 65. 61 Ebd., S. 67, 69. 62 Ebd., S. 78f.

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Kreativität – wie jeder Kunstproduktion – zwingend ein Moment von Götzendienst inhärent sei. In einem Essay, der sich ausdrücklich an Bloom richtet und in dem sie diesen als »idol-maker« bezeichnet, führt sie diese Problematik aus: »Literature, one should have the courage to reflect, is an idol.«63 Das gilt jedenfalls dann, wenn man die Imagination zu ernst nimmt, denn diese sei, wie sie an anderer Stelle erläutert, eng verbunden mit dem Trieb zum Bösen (yetzer hara), welchen Ozick als »source of the creative faculty« versteht: Imagination is more than make-believe, more than the power to invent. It is also the power to penetrate evil, to take on evil, to become evil, and in that guise it is the most frightening human faculty. […] Imagination owns above all the facility of becoming: the writer can enter the leg of a mosquito, a sex not her own, a horizon he has never visited, a mind smaller or larger. But also the imagination seeks out the unsayable and the undoable, and says and does them. And still more dangerous: the imagination always has the lust to tear down meaning, to smash interpretation, to wear out the rational […].64

Auf der sicheren Seite sei der Schriftsteller nur, »when we let the child-part of our minds play with poems and stories as with a pack of dolls; then the role of imaginative literature is only trivial«.65 Einen Wettstreit des Künstlers mit dem ersten Schöpfer sieht Ozick dementsprechend überaus kritisch: »When art is put in competition, like a god, with the Creator, it too is turned into an idol.«66 Ozicks Imaginationskritik schließt eng an ihr Verständnis von (selbstgenügsamer, nicht didaktisch auf Moral gerichteter) Literatur als Götzendienst an, das wiederum sich in »Puttermesser and Xanthippe« poetisch manifestiert. Die Darstellung des Puttermesser’schen Golems greift im Hinweis auf seine letztendliche Destruktivität, aber mehr noch in seiner kreationsreflexiven Wendung, Warnungen kabbalistischer Autoren auf, die die Golemfabrikation in den Kontext der Götzenanbetung gestellt67 oder als Ausdruck einer Ersetzung Gottes durch den kreativen Menschen

63 C. Ozick: »Judaism and Harold Bloom«, S. 50. 64 Cynthia Ozick: »Innovation and Redemption: What Literature Means«, in: dies., Art and Ardor, New York 1984, S. 238-248, hier S. 247. 65 C. Ozick: »Judaism and Harold Bloom«, S. 50. 66 Ebd., S. 48. 67 Vgl. M. Idel, S. 120.

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gesehen hatten.68 Diese Warnung unterstreicht Ozick in ihrer Imaginationskritik: »[T]he idol-maker envies the Creator, hopes to compete with the Creator, and schemes to invent a substitute for the Creator: and thereby becomes satanic.«69

Kabbala als Dichtung Wenn die Kabbala in der Dichtungstheorie Blooms wie auch in der literarischen Verarbeitung Ozicks als Mystik negiert wird, so geschieht dies sicher zuallererst, um einen kreativen Umgang mit den kabbalistischen Motiven zu erlauben. Bei Ozick ermöglicht diese Negation eine Originalität des Umgangs mit dem GolemMotiv, das innerhalb der Literatur des 20. Jahrhunderts vor allem deshalb einzigartig ist, weil auf jegliche Getto-Szenerie sowie auf Prag als Locus verzichtet und erstmalig eine Frau des 20. Jahrhunderts auf äußerst unterhaltsame und humorvolle Art mit dem Golem-Motiv verbunden werden kann. Zudem erlaubt die rationale Skepsis gegenüber Mystik und Dichtung, die Ozick ihrer Protagonistin zuschreibt, die Thematisierung von kunstproduktiven Problemen, die auf andere Weise nur ungleich weniger anschaulich geschehen könnte. Für Bloom ist die Negierung zum einen deshalb unumgänglich, weil ihm das Mystische dem intellektuellinterpretativen Aspekt der Kabbala, welchen er für seine Dichtungstheorie emphatisch nutzbar macht, entgegengestellt zu sein scheint. Darüber hinaus ermöglicht ihm die Negierung der mystischen Elemente der Kabbala eine nachdrückliche Differenzierung von anderen mystischen Strömungen und damit die Etablierung der Kabbala als einer singulären Rezeptions- und Interpretationstradition, die sich genau deshalb für seine – ebenfalls singuläre – Dichtungstheorie eignet. Für beide Autoren gilt, dass die linguistische Theorie der hebräischen Kabbala, die religiös-mystische Deutung der Schöpfungsmacht der Sprache, Ausgangspunkt ihres poetischen und poetologischen Potenzials ist. Das zeigt sich sowohl an Blooms Übertragung der kabbalistischen Vision von der Weltschöpfung aus dem Gottesnamen auf die Dichtungsproduktion, als auch an Ozicks literarischer Verarbeitung des kabbalistischen Motivs der durch die Macht des Gottesnamen geschaffenen Figur des Golem, die immer schon Zeichen der Imitation göttlicher Schöpfung ist und gerade deshalb als Kunstmetapher wirksam wird. 68 Vgl. Ebd., S. 123f. 69 C. Ozick: »Judaism and Harold Bloom«, S. 50.

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Ist Inspiration für Proust eine mystische Erfahrung? RENATE SCHLESIER War Marcel Proust ein Mystiker? Für viele seiner berühmtesten Leser (und a fortiori für deren Epigonen bis in die Gegenwart) bestand und besteht daran kein Zweifel. Nachdem der deutsche Romanist Ernst Robert Curtius – noch vor dem posthumen Erscheinen des unter dem Titel Le temps retrouvé 1927 veröffentlichten Abschlussbandes von À la recherche du temps perdu – in seinem Proust-Essay von 1925 die vom Autor beschriebenen »introvertierten« Bewusstseinszustände mit der »spezifisch mystischen Kontemplation« gleichgesetzt hatte,1 charakterisiert Walter Benjamin 1929 Proust lapidar als »Mystiker«,2 und Samuel Beckett diagnostiziert 1931 im Zentrum von Prousts ästhetischem Projekt ohne weitere Begründung eine »mystische Erfahrung«3. In Frankreich avancierte dann Prousts vorgebliche »Mystik« rasch zum Modethema, das die Sicht auf ihn jahrzehntelang beherrschte.4 Und 1962 versuchte René Girard, Herausgeber einer Samm1

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Ernst Robert Curtius: »Marcel Proust« (1925), in: ders., Französischer Geist im 20. Jahrhundert, 3. Aufl., Tübingen/Basel 1965, S. 274-355, hier S. 321. Walter Benjamin: »Zum Bilde Prousts« (1929), in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1961, S. 355-369, hier S. 355, im Verein mit weiteren Charakterisierungen: »Die dreizehn Bände von Marcel Prousts ›A la recherche du temps perdu‹ sind das Ergebnis einer unkonstruierbaren Synthesis, in der die Versenkung des Mystikers, die Kunst des Prosaisten, die Verve des Satirikers, das Wissen des Gelehrten und die Befangenheit des Monomanen zu einem autobiographischen Werk zusammentreten.« Samuel Beckett: Proust ( 1931), New York 1970, S. 22. Vgl. auch unten, Anm. 18. Siehe vor allem Albert Béguin: L’âme romantique et le rêve. Essai sur le romantisme allemand et la poésie française, Paris 1939, S. 354: »Proust est le plus mystique des grands rêveurs modernes.« Vgl., im Anschluss

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lung älterer Proust-Essays, diese Auffassung auch für den angelsächsischen Sprachraum zu kanonisieren, indem er dem Autor Proust zuschrieb, generell einen »mystical goal« zu verfolgen.5 Die Ahnung, dass das Etikett des Mystikers vielleicht unzureichend sein könnte, blieb jedoch nicht aus, denn die geradezu wissenschaftlich genaue, analytische Schärfe von Prousts Beschreibungskunst war nicht zu übersehen. So wurde es schon früh durch ein zweites, das des »Positivisten«, ergänzt, bereits bei Beckett6 und schließlich, in der auch in Ingeborg Bachmanns Radiovorträgen Ende der 50er Jahre widerhallenden Formulierung André Maurois’ von 1949: »Ce mystique était un positiviste.«7 Oder das Mystiker-Etikett wurde, angesichts der bemerkenswerten Fülle von theoretischen Reflexionen innerhalb der Recherche, mit einem philosophisch ehrwürdigeren verbunden, dem des Metaphysikers, das Proust ebenfalls schon von Curtius attribuiert worden war.8 Seit den 50er Jahren zogen es viele Interpreten vor, in Proust nicht mehr den Mystiker, also einen krypto-religiösen Schriftsteller, sondern nur noch den Metaphysiker zu sehen, um ihn philosophisch aufzuwerten – so etwa, auf dialektische Weise, Adorno: Für ihn war »Prousts Geist […] metaphysisch ganz und gar inmitten einer Welt, welche die Sprache von Metaphysik ver-

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an Béguin, Ramon Fernandez: Proust (1943), Paris 1979, S. 61-63. In der essayistischen Abhandlung von Jean Pommier: La mystique de Marcel Proust ( 1939), Genève 1968, bleibt die Zuordnung zur Mystik trotz des Titels ganz vage. Siehe auch Maurice Blanchot: »L’expérience de Proust«, in: ders., Faux pas, Paris 1943, S. 57-62 (im Anschluss an Fernandez), sowie ders.: Le livre à venir, Paris 1959, S. 32, mit folgender Deutung des Effekts von Prousts ›souvenirs involontaires‹: »Le choc merveilleux qu’il éprouve en les éprouvant, la certitude de se retrouver après s’être perdu, cette reconnaissance est sa vérité mystique«. Vgl. auch Antoine Compagnon: »La ›Recherche du temps perdu‹ de Marcel Proust«, in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 3, Paris 1997, S. 3835-3869, hier S. 3851. René Girard (Hg.): Proust. A Collection of Critical Essays, Westport, Conn. 1962, S. 8. S. Beckett: Proust, S. 65: »In a sense Proust is a positivist« (in kritischer Auseinandersetzung mit Curtius, wie Anm. 1). André Maurois: À la recherche de Marcel Proust. Avec de nombreux inédits, Paris 1949, S. 167. – Zur Wirkung dieser kombinierten Etikettierung vgl. den (allerdings ideologisierenden und vorurteilsgeladenen) Aufsatz von Gerhard R. Kaiser: »›Positivist und Mystiker‹. Ingeborg Bachmann als Leserin Prousts«, in: Proustiana 10/11 (1992), S. 4-24. Vgl. E. R. Curtius: »Proust«, S. 279, 281, 346, 351, 354.

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bietet«,9 und seine Recherche »Kunstwerk und Kunstmetaphysik«10 zugleich. Doch er zögerte nicht, Proust schlicht als »Platoniker«11 zu kennzeichnen, wie dies gleichermaßen bereits, mit Rekurs auf die vorgebliche Nähe zur platonischen Anamnesis-Lehre, Curtius getan hatte.12 Gilles Deleuze wiederum fand gar bei Proust in seiner zeichentheoretischen Lektüre von 1964 das Raster der platonischen Ideenlehre wieder.13 Gemessen allerdings am Maßstab so viel seriöser erscheinender, anerkannter philosophischer Denkgebäude wie derjenigen von Platon, Kant, Hegel, Schelling, Schopenhauer oder Bergson, deren impressionistische Spuren man in der Recherche zu finden meinte, kamen andere Interpreten nicht umhin, die postulierte Metaphysik Prousts als unzureichend oder gar als Plagiat und romantischen Ästhetik-Verschnitt abzuqualifizieren.14 So überrascht es nicht, dass sich so mancher Literaturwissenschaftler gerade in jüngerer Zeit genötigt fühlte, Proust »kunstapologetische Setzungen« zu unterstellen und »holzschnittartige Kunstmetaphysik« vorzuwerfen,15 oder ihm, im Brustton geschichtsphilosophischer Überzeugung, nachweisen wollte, dass er »noch hinter He-

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Theodor W. Adorno: »Kleine Proust-Kommentare« (1958), in: ders., Noten zur Literatur II, Frankfurt a. M. 1961, S. 95-109, hier S. 107. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie (1970), Frankfurt a. M. 1973, S. 100. Th. W. Adorno: »Proust-Kommentare«, S. 97. – Zum platonisierenden Titel einer vom jungen Proust mitbegründeten, von 1892-1893 erschienenen Zeitschrift, ›Le Banquet‹, vgl. Luzius Keller (Hg.): Marcel Proust Enzyklopädie. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung, Hamburg 2009, S. 79. E. R. Curtius: »Proust«, S. 354, vgl. S. 346, 349-355. Siehe Gilles Deleuze: Proust et les signes (1964), Nachdruck der 3. Aufl., Paris 2006. So besonders besserwisserisch Anne Henry: Marcel Proust. Théories pour une esthétique, Paris 1981. Vgl. auch z.B. Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.): Marcel Proust und die Philosophie, Frankfurt a. M./Leipzig 1997; Philippe Chardin: »›Aristoteles dixit‹: Le recours aux autorités philosophiques dans la ›Correspondance‹ de Marcel Proust«, in: Jürgen Ritte/Reiner Speck (Hg.), ›Cher ami… Votre Marcel Proust‹. Marcel Proust im Spiegel seiner Korrespondenz/Marcel Proust et sa correspondance, Köln 2009, S. 59-71. G. R. Kaiser: »Positivist und Mystiker«, S. 7 und 5. Die Herabsetzung Prousts dient Kaiser zur Legitimation seiner nicht minder ideologischen Apologie Bachmanns, deren Schriften er gegen Prousts »Abkoppelung des Ästhetischen vom Ethischen« (S. 16) ausspielt.

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gel zurückfällt in eine romantische Tiefenmetaphysik«.16 Vor diesem Hintergrund waren dann diejenigen Interpreten, die sich nicht zu solchen abschätzigen Urteilen hinreißen ließen, leicht als Apologeten Prousts abzustempeln. Kann jedoch bei Proust tatsächlich von Metaphysik gesprochen werden? Und ist er aus diesem Grunde oder eher statt dessen als Mystiker zu bezeichnen, wie dies bis heute immer wieder hartnäckig behauptet wird?17 Was wäre dann das Mystische in Prousts Œuvre? Schon für Beckett, wie für viele Interpreten nach ihm, ist es die ›mémoire involontaire‹, in der sich eine »mystic experience« manifestiert und die zum »Leitmotiv der Komposition«, zum multiplizierten Dreh- und Angelpunkt der Recherche wird.18 Die Frage, ob es sich dabei wirklich um eine mystische Erfahrung handelt, hat Ann Tukey 1969 untersucht.19 Um sie zu beantworten, bedient sie sich der vier Klassifizierungs-Parameter mystischer Erfahrung, die William James 1901/2 in seinen Vorlesungen The Varieties of Religious Experience aufgestellt hatte: Ineffabilität, noetische Qualität, Flüchtigkeit (transiency), Passivität. Mit Hilfe von Zitaten aus Prousts Recherche kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Ähnlichkeiten zwischen mystischer Erfahrung und ›mémoire involontaire‹ unübersehbar sind, um dann jedoch auf die entscheidenden Differenzen zwischen beidem hinzuweisen: Gerade dass Proust die Erfahrung der unwillkürlichen Erinnerung einem diskursiven, intellektuellen Darstellungsverfahren 16 Rainer Warning: »Vergessen, Verdrängen und Erinnern in der ›Recherche‹« (1993), in: ders., Proust-Studien, München 2000, S. 141-177, hier S. 146. 17 Siehe z.B. Martina Kayser: Marcel Proust, Robert Musil: Versuche einer Glücksfindung, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1989, S. 25-36 (Prousts »Naturerlebnisse« versteht sie allerdings als nurmehr »säkularisierte mystische Erfahrungen«, S. 28); Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 163, deutet die berühmte Madeleine-Episode, die Urszene der ›mémoire involontaire‹, als »mystische Apokatastasis«. Vgl. Juliette Hassine: Ésotérisme et écriture dans l’œuvre de Proust, Paris 1990, die die Recherche als exoterische Version jüdischer Mystik betrachtet. 18 S. Beckett: Proust, S. 22; s. auch »religious experience« und »mystical experience«: S. 51; vgl. S. 56 und 71. Karl-Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981, S. 189-194, betont demgegenüber gerade die ästhetische Profanität des plötzlichen Auftretens der unwillkürlichen Erinnerung. 19 Ann Tukey: »Notes on Involuntary Memory in Proust«, in: French Review 42 (1969), S. 395-402; der Aufsatz ist als Wiederlegung der von Girard (s. Anm. 5) propagierten mystischen Proust-Deutung konzipiert.

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unterzieht, stellt mystische Unaussprechlichkeit in Frage. Vor allem aber fehlt jegliche religiöse Zielsetzung: Proust differs further from the mystic consciousness with respect to purpose, result, and value of the experience. The purpose of mystic transport is union of the individual with the divine; the result is a changed life, a life exhibiting greater goodness, enlightenment and purity. Its value is that it involves participation in the one goal of life, that is, direction toward eternal union with the divine in some afterlife. Proust’s purpose is, on the other hand, intellectual exercise with no hint of divinity; the result is greater insight (again not limited to the divine), and the value of the experience does not derive from its alignment with an exclusive goal.20

Da die Wörter »Vergangenheit« oder »vergangene Zeit« bei Proust nicht einfach durch »das Göttliche« zu ersetzen sind, ist die Analogie zwischen mystischer Erfahrung und ›mémoire involontaire‹, Ann Tukey zufolge, wenig hilfreich und nicht imstande, »the intellectual nature and aesthetic value of involontary memory in Proust«21 definitiv zu erfassen. Wie steht es aber um die Analogie zwischen Prousts Verfahren und der Mystik, wenn man nicht, wie Tukey, William James’ Parameter mystischer Erfahrung, sondern diejenigen einer seiner ersten Kritikerinnen, Evelyn Underhill, zugrunde legt? Eben dies hatte Curtius, mit Verweis auf ihr 1911 erschienenes Buch Mysticism. A Study in the Nature and Development of Man’s Spiritual Consciousness, in seiner Studie von 1925 getan. Underhill hatte – im ausdrücklichen Gegensatz zu William James – Mystik nicht durch Passivität und theoretischen Zugang, sondern durch praktische Aktivität, und zwar, in Bergson’scher Terminologie, als provozierte Steigerung des »organic life-process« bestimmt.22 Die Zwecke der Mystik seien demgegenüber durch und durch spiritu-

20 Ebd., S. 399; vgl. S. 399f. zum Folgenden. 21 Ebd., S. 402; s. auch Stéphane Chaudier: Proust et le langage religieux. La cathédrale profane, Paris 2004, der die ins Profane und Ästhetische transformierte Qualität von Prousts religiösem Vokabular herausgearbeitet hat. Vgl. oben, Anm. 17 und 18. – Einen aufschlussreichen Kontrast zu Prousts darstellerischen Verfahren bildet Valérys ›Mystik ohne Gott‹; s. dazu Alois Maria Haas: »Paul Valérys ›Monsieur Teste‹. Testfall einer ›mystique sans Dieu‹«, in: Wiebke Amthor/Hans R. Brittnacher/Anja Hallacker (Hg.), Profane Mystik? Andacht und Ekstase in Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 211-226. 22 Vgl. hierzu und zum Folgenden Evelyn Underhill: Mysticism. A Study in the Nature and Development of Man’s Spiritual Consciousness (1911), 12. rev. Aufl., London 1930, v.a. S. 81; s. auch unten, Anm. 76.

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ell, auf das unveränderliche Eine gerichtet, das zugleich lebendiges Objekt einer Liebeserfahrung ist und mit dem die Vereinigung durch mühsame psychologische Verfahrensweisen angestrebt wird, in deren Mittelpunkt die Kontemplation steht. Diese Auffassung erlaubt es ihr, eine viel engere Beziehung zwischen Mystik und Kunst anzunehmen, als dies James möglich war. In Anlehnung an Underhill kommt Curtius zu dem Schluss, dass bei Proust tatsächlich eine »Psychologie der Mystik« vorliegt, eine kontemplative »Haltung, die eine reale Verbindung zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen herstellt«23 und die er wie folgt resümiert: »jene eigentümliche Sehweise, jenes Aufsaugen der Erscheinungen, das wir an Proust wahrnahmen, ist nichts anderes als die Kontemplation, welche an der Schwelle der Mystik wie jeder anderen Form höherer Spiritualität steht.«24 Die phänomenologische Analogie zur Mystik liegt für Curtius auf der Hand, denn das Proust’sche Verfahren ließe sich als ein ›Sich-Versenken‹ »in die Form der Dinge« charakterisieren, das in einem Zustand der »Beglückung« und des »Rausches« kulminieren kann.25 Der »Drang«, der Proust »aus dem Zeitlichen in das Überzeitliche« treibt, finde seine Befriedigung nicht zuletzt in der unwillkürlichen Erinnerung, die ihm die Erfahrung von einem »plötzlichen Entrücktwerden«, einem »Überflutetwerden von einer höheren Wirklichkeit, von Kraft und Freude« vermittelt.26 Wenn Curtius dies als »Inspiration«27 bezeichnet und in Proust einen authentischen Vertreter der Auffassung von »göttlicher Eingebung«28 sieht, so ist tatsächlich kein Unterschied zu einer genuin mystischen Erfahrung auszumachen. Der Prozess jedoch, der von der Inspiration zum ästhetischen Produkt, zum literarischen Werk führt und dessen Aufklärung und Meisterung Prousts schmerzhafteste und dringlichste Reflexionen galten – und zwar schon vor

23 E. R. Curtius: »Proust«, S. 320. – Proust selbst hat die »Flüchtigkeit« der wie etwas »Ewiges« wirkenden »contemplation« beim ›souvenir involontaire‹ betont und sie gerade dadurch entmystifiziert: III 875. 24 E. R. Curtius: »Proust«, S. 321. 25 Ebd., S. 286. 26 Ebd., S. 346f. 27 Ebd., S. 351; vgl. Curtius über »Inspiration« bei Proust: ebd., S. 289, 323, 329, 332, 339. 28 Ebd., S. 282. Zum Unterschied zwischen der Inspiration bei romantischen Künstlern und bei Proust vgl. S. Beckett: Proust, S. 62-64.

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Abfassung der Recherche –,29 bleibt bei Curtius gänzlich ausgespart. Von solchen theoretischen Reflexionen zur künstlerischen Erfahrung der Inspiration ist allerdings in der Recherche – jedenfalls vor dem (Curtius noch unbekannten) letzten Teil, Le temps retrouvé – auf den ersten Blick kaum etwas zu merken, legt man die Kontexte und Bedeutungsnuancen zugrunde, in denen das Wort »inspiration« jeweils auftaucht.30 Die Verwendungszusammenhänge machen deutlich, dass die Vorstellung einer göttlichen Eingebung dabei denkbar fern liegt. Was ins Auge springt, ist vielmehr ein trivialisierend wirkender Gebrauch des Wortes: An der ersten Stelle, an der es erscheint, bezeichnet es die »crème au chocolat«, die die Haushälterin der Familie des kindlichen Erzählers in Du côté de chez Swann, Françoise, als Höhepunkt eines Menus »komponiert« hatte.31 Auch an den meisten anderen Stellen in diesem 1. Band der Recherche, und ähnlich in den späteren Bänden, dominiert ein geradezu demonstrativ untheoretischer, ironisierender, wenn nicht gar persiflierender Wortgebrauch, der den verallgemeinernden Denkgewohnheiten eines mehr oder weniger konventionellen Konversationsstils entnommen zu sein scheint: Der pubertierende Erzähler Marcel bedauert, »nicht die Zeit und die Inspiration gehabt zu haben«, die von ihm angeschwärmte Tochter Swanns, Gilberte, »zu verletzen und sie zu zwingen, sich

29 Siehe dazu Verf.: »Kreation und Zeit. Proust über Inspiration«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 51/1 (2006), S. 115-130. 30 Das Substantiv »inspiration(s)« wird in der Recherche insgesamt 22mal gebraucht, s. das komplette Verzeichnis der Wortverwendungen Prousts bei Étienne Brunet: Le vocabulaire de Proust, 3 Bde., Genève/Paris 1983, hier Bd. 2, S. 772. – Im Folgenden werden, fast immer in der Reihenfolge ihres Auftretens, alle 22 Stellen dokumentiert. 31 Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, 3 Bde., hg. von Pierre Clarac und André Ferré (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1954 [im Folgenden zitiert als: I-III, mit Seitenzahl], hier: I 71: »composée expressément pour nous, […] une crème au chocolat, inspiration, attention personnelle de Françoise«. – Vgl. die neuere Ausgabe, in der zusätzlich zahlreiche Skizzen Prousts ediert sind: Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, 4 Bde., hg. von Jean-Yves Tadié (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1987-1989; s. auch dort die Konkordanz mit der Ausgabe von Clarac/Ferré. – Die Übersetzungen aller Proust-Zitate im Text stammen von der Verfasserin.

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an mich zu erinnern«.32 Die gewöhnlich eher lethargische Ehefrau des kunstbanausischen, positivistischen Arztes Cottard, eines der Getreuen des ästhetisch prätentiösen bürgerlichen Salons der Madame Verdurin, ist durchaus in der Lage, unter dem Einfluss einer »glücklichen Inspiration« das rechte Wort zu finden.33 Schon an diesen Stellen zeigt sich indessen, dass der Eindruck einer bloßen Trivialisierung täuscht: Eher ist es so, dass die ironische Brechung vielmehr unterstreicht, wie Alltägliches eine Aufwertung erfahren kann, indem es wie ein künstlerischer Vorgang beschrieben wird – Françoises »Inspiration«, die Schokoladencreme, wurde »komponiert«, Madame Cottard findet wie ein Dichter den richtigen verbalen Ausdruck durch Inspiration, und der junge Marcel begreift, dass Inspiration für eine erfolgreiche Liebesstrategie, die das Liebesobjekt angreift und dadurch zum Erinnern zwingt, unerlässlich ist, gerade durch ihr Fehlen. Diese Tiefendimension der Proust’schen Wortverwendung, bei der sogar die Verfolgung eines erotischen Zwecks wie ein ästhetisches Unternehmen phrasiert wird und die Forcierung der Erinnerung bereits das kommemorativ-ästhetische Projekt des ganzen Romanwerks aufblitzen lässt, kommt im Zusammenhang mit der titelgebenden Person des 1. Teils, dem ersten Identifikationsobjekt des Erzählers, noch deutlicher zum Vorschein: Der kultivierte Ästhet und Kunstsammler Swann, der sich selbst früher für einen Künstler gehalten hatte, fühlte, im akuten Zustand seiner Verliebtheit in die attraktive Halbweltdame Odette, die er zur Verkörperung von Renaissance-Gemälden stilisiert hatte, dass »in ihm die Inspirationen seiner Jugend wiedergeboren werden, die ein frivoles Leben vergeudet hatte«.34 Und als Gatte dieser Kokotte sind ihm später die »Inspirationen des Eifersüchtigen« zugänglich,

32 I 142: »Je l’aimais, je regrettais de ne pas avoir eu le temps et l’inspiration de l’offenser, de lui faire mal, et de la forcer à se souvenir de moi.« 33 I 255: »Mme Cottard, qui était modeste et parlait peu, savait pourtant ne pas manquer d’assurance quand une heureuse inspiration lui avait fait trouver un mot juste.« 34 I 239: »Il sentait renaître en lui les inspirations de sa jeunesse qu’une vie frivole avait dissipées«. Vgl. die spätere Resonanz dieser analytischen Beschreibung in einer selbstanalytischen Überlegung des Erzählers, unten, Anm. 69. – Zu Swanns »Ikonisierung« seiner Geliebten vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 233-236.

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deren Analogie mit denen »des Dichters oder des Gelehrten« Proust an dieser Stelle explizit betont.35 Im 2. Teil der Recherche, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, nennt Proust dann zum ersten Mal ein Beispiel ingeniöser künstlerischer Inspiration: Es ist diejenige der vom Erzähler bewunderten Schauspielerin Berma, deren artistische Darstellungsmodi er als »Erfindungen« beschreibt, und zugleich als »Findungen« ihrer »Inspiration«, mit denen sie die ihm wohlbekannten antiken Dramen »überdeckt«.36 In diesem Teil des Romans ist auch zum einzigen Mal in der Recherche der Ausdruck »inspiration religieuse«37 dokumentiert, den die gebildetste aus der »Bande« der vom Erzähler frequentierten jungen Mädchen, Andrée, den Tragödienchören des Sophokles zuschreibt. Doch die Eignung des Inspirationsbegriffs zur Analyse des sozialen Habitus probiert Proust gleichfalls weiter aus, hier im Bereich der internationalen Politik.38 Dies gilt ebenso für die einzige Verwendung des Wortes im 3. Teil der Recherche, Le côté de Guermantes, wo es, als plötzliche Eingebung eines privaten diplomatischen Schachzugs, auf die – allerdings scheiternde – Möglichkeit bezogen ist, das zufällige Zusammentreffen mit einem berühmten Bekannten strategisch auszunutzen.39 Der Erzähler demonstriert hier also zunächst nur an sich selbst und außerhalb der Sphäre der Kunst, dass eine Inspiration selbst noch keine Gewähr für einen Erfolg sein muss. Im nächsten Teil der Recherche, Sodome et Gomorrhe, dessen Titel überdeutlich auf das zentrale Thema, die männliche und die weibliche Homosexualität, verweist, ist der Rekurs auf den Inspirationsbegriff am weitaus häufigsten präsent. Dabei überwiegen

35 I 361: »par une de ces inspirations de jaloux, analogues à celle qui apporte au poète ou au savant, qui n’a encore qu’une rime ou qu’une observation, l’idée ou la loi qui leur donnera toute leur puissance, Swann se rappela […].« – Zu Prousts Bestimmung der Relation zwischen Dichter und Wissenschaftler vgl. unten, Anm. 78. 36 I 441: »tandis que les œuvres anciennes que je savais par cœur, m’apparaissaient comme de vastes espaces réservés et tout prêts où je pourrais apprécier en pleine liberté les inventions dont la Berma les couvrirait, comme à fresque, des perpétuelles trouvailles de son inspiration.« 37 I 914. 38 I 461: »mais il y a autour du roi Théodose toute une camarilla plus ou moins inféodée à la Wilhelmstrasse dont elle suit docilement les inspirations«. (Der Sprecher ist ein Diplomat, Monsieur de Norpois.) 39 II 314: »j’avais rencontré le fameux professeur E…, […] et, pris d’une inspiration subite, je l’avais arrêté au moment où il rentrait […].«

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erneut die habituellen, jetzt aber vorzugsweise mondänen Kontexte, deren oberflächliche Frivolität bis ins Karikatureske gesteigert wird, indem eine Verhaltensweise auf gesellschaftlichem Parkett unerwarteter Weise als »Inspiration« designiert wird, zunächst sogar ein geistloser Fauxpas: Der bayerische Musiker Herweck, für die illustren Nationalisten des aristokratischen Milieus bei einem mondänen Anlass an sich schon fehl am Platz und lächerlich genug, folgt der »dunklen und unwiderstehlichen Inspiration der Ungeschicklichkeit«,40 die ihn zu der Bitte an die Herzogin von Guermantes treibt, zu allem Überfluss auch noch ihrem Gatten vorgestellt zu werden. Kapriziöse Aristokraten, in Prousts ätzendem Gesellschaftsbild kaum weniger lächerlich, können sich ihrerseits vorbehalten, je nach der »inspiration du moment«,41 beim nächsten brillanten Gesellschaftsereignis zu erscheinen – oder auch nicht. Geradezu als Verkörperung dieser unverlässlichen Erscheinungsmacht wirkt der von Proust gewählte Name der verführerischen adligen Dame, die dies für sich in Anspruch nimmt: Madame de Surgis (›Frau von Auftauche‹). Noch virtuoser setzt die Herzogin von Guermantes einen solchen Impuls als taktisches Manöver ein und gibt vor, einer plötzlichen »Inspiration« zu folgen, als sie eine sonst von ihr eher ignorierte andere Aristokratin begrüßt.42 Die übrigen Verwendungen des Terminus Inspiration lokalisieren ihn dann ausdrücklich und exklusiv im Bereich der Kunst – einschließlich der Kunst der Liebe. Doch diese Gebrauchsvarianten scheinen hier von Proust eigens dazu erfunden, die Frage zu provozieren, was denn überhaupt eine bejahenswerte künstlerische Inspiration sein könnte, und nicht etwa, diese selbst direkt zu bestimmen: Wenn ein alt gewordener Meister ein junges Talent oder sogar einen Talentlosen unterstützt, so heißt es innerhalb eines kommentierenden Exkurses zu einer ästhetisierenden Konversation, dann tut er dies gewöhnlich wegen seiner nostalgischen Assoziation zu »einer angenehmen Inspiration, die er früher einmal genossen hatte«.43 Und bei der in der vornehmen Welt weitverbreiteten Ansicht, dass der Komponist Vinteuil im Salon Ver40 II 683: »obéissant à l’inspiration obscure et irrésistible de la gaffe qui le poussa – dans un moment où il eût dû se fier plutôt à l’esprit – à appliquer la lettre même du protocole […].« 41 II 701. 42 II 722: »comme si […], prise d’une inspiration […].« 43 II 816: »Souvent c’était parce qu’un maître […] rend justice au talent partout où il se trouve, et même moins qu’au talent, à quelque agréable inspiration qu’il a goûtée autrefois«.

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durin »Inspiration gefunden« habe,44 kann es sich im Gesamtkontext der Recherche nur um ein groteskes Missverständnis handeln. Die einzige Person, die etwas von künstlerischer Inspiration zu verstehen scheint, vielleicht der wichtigste Gegenspieler des Erzählers, der Baron de Charlus, die mondäne Inkarnation von Sodom, beweist dies dadurch, dass er seinem nur oberflächlich gebildeten Geliebten, dem hochtalentierten Geiger Morel, ausmalt, wie er, »ergriffen von einer neuen und überragenden Inspiration«,45 eigentlich Mendelssohn spielen könnte. Vor allem aber zeigt der Baron seine eigene, durch unglückliche Verliebtheit stimulierte Expertise auf dem Gebiet übernatürlich wirkender Eingebungen, als er, »im Banne des Dämons der Inspiration«,46 dem ihn schließlich verschmähenden jungen Mann einen sarkastischen Liebesbrief schreibt. Und wie zum Beweis dessen, dass es in der Liebe eher das Bewusstsein als etwas Unbewusstes ist, was inspiriert, bedauert der Erzähler, dass er nicht »all jenen Inspirationen des Willens« gefolgt sei, die ihm geholfen hätten, die Handlungen der geliebten Person »zu erraten, zu verhindern«.47 Für Prousts eigenes ästhetisches Projekt ist es bezeichnend, dass er in der Recherche einem einzigen Schriftsteller zugesteht, die künstlerische Integration seines gesamten Lebenswerkes erreicht zu haben: Balzac. Und um dies deutlich zu machen, aber auch, um damit die Vermutung zu verbinden, dass Richard Wagners Ring-Tetralogie vielleicht auf vergleichbare Weise zustande gekommen sei, greift Proust auf ein sprachliches Arsenal zurück, das sich unmissverständlich der Tradition der Mystik verdankt. Dies macht nicht zuletzt der Begriff der Illumination schlagartig evident, bevor Prousts kunsttheoretischer Exkurs hier schließlich in den Begriffen Enthusiasmus und Inspiration kulminiert: [Wagner] muss etwas von jenem Rausch Balzacs empfunden haben, als dieser auf seine Werke gleichzeitig den Blick eines Fremden und eines Vaters warf und bald in einem davon die Reinheit von Raffael fand, in einem anderen die Einfachheit des Evangeliums, und plötzlich, indem er auf sie eine retrospektive Illumination projizierte, auf den Gedanken kam, dass sie schöner wären innerhalb eines Zyklus, in dem dieselben Personen wiederkehren, und seinem Werk durch diese Zusammenfügung einen Pinselstrich hinzusetzte,

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II 870: »C’était là, assurait-on, que Vinteuil avait trouvé inspiration«. II 1010: »saisi d’une inspiration nouvelle et suréminente«. II 1066: »en proie au démon de l’inspiration qui faisait courir sa plume«. III 24 (›Sodome et Gomorrhe III: La prisonnière‹): »toutes ces inspirations de la volonté qui aident à deviner, à empêcher ce que va faire une personne«.

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Renate Schlesier den letzten und sublimsten. Eine spätere, nicht künstliche Einheit, sonst wäre sie zu Staub zerfallen wie so viele Systematisierungen mittelmäßiger Schriftsteller, die mit großem Aufwand an Titeln und Untertiteln sich den Anschein geben, einen einzigen und transzendenten Plan verfolgt zu haben. Nicht künstlich, vielleicht sogar realer, weil später hinzugefügt, weil geboren aus einem Augenblick des Enthusiasmus, in dem die Einheitlichkeit von Stücken entdeckt wird, die sich nur noch miteinander verbinden müssen; eine Einheit, die von sich nichts wusste, also eine vitale und nicht logische, eine, die nicht die Vielfalt geächtet, die Gestaltung erkaltet hat. Sie ähnelt (doch hier auf ein Ganzes angewendet) einem einzeln komponierten Stück, das aus einer Inspiration geboren, nicht von der artifiziellen Entwicklung einer These erfordert wurde, und das sich dem Rest bruchlos integriert.48

An kaum einer anderen Stelle seines Werkes ließ Proust seine Leser so tief in seine Werkstatt blicken, nirgends sonst wird so transparent, dass Balzacs Comédie humaine als wichtigstes Modell von À la recherche du temps perdu fungiert. Doch erst der Schlussteil seines Werkes, Le temps retrouvé, entfaltet die experimentellen Bedingungen, aus denen heraus es geschrieben werden konnte. Ausgangspunkt dafür ist das Gefühl der Trauer, das den gealterten Erzähler überfällt, als ihm die Abwesenheit literarischer Gaben endgültig erwiesen zu sein scheint. Denn der Anblick von Bäumen aus dem Eisenbahnwagen heraus, der ihm früher Momente extremer Beglückung verschafft hatte, lässt ihn nunmehr kalt, die Natur hat ihm nichts mehr zu sagen, und er überlegt, ob ihn statt der Natur nicht eher die Menschen »inspirieren« könnten. Doch er weiß, dass die Vorstellung, die »unmög-

48 III 161: »[Wagner] dut éprouver un peu de la même ivresse que Balzac quand celui-ci, jetant sur ses ouvrages le regard à la fois d’un étranger et d’un père, trouvant à celui-ci la pureté de Raphaël, à cet autre la simplicité de l’Évangile, s’avisa brusquement, en projetant sur eux une illumination rétrospective, qu’ils seraient plus beaux réunis en un cycle où les mêmes personnages reviendraient, et ajouta à son œuvre, en ce raccord, un coup de pinceau, le dernier et le plus sublime. Unité ultérieure, non factice, sinon elle fût tombée en poussière comme tant de systématisations d’écrivains médiocres qui, à grand renfort de titres et de soustitres, se donnent l’apparence d’avoir poursuivi un seul et transcendant dessein. Non factice, peut-être même plus réelle d’être ultérieure, d’être née d’un moment d’enthousiasme où elle est découverte entre des morceaux qui n’ont plus qu’à se réjoindre; unité qui s’ignorait, donc vitale et non logique, qui n’a pas proscrit la variété, refroidi l’exécution. Elle est (mais s’appliquant cette fois à l’ensemble) comme tel morceau composé à part, né d’une inspiration, non exigé par le développement artificiel d’une thèse, et qui vient s’intégrer au reste.«

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liche Inspiration« durch die »mögliche Menschenbeobachtung« ersetzen zu können, nur ein wertloser Trost ist.49 Deutlicher kann die Distanz, die Proust gegenüber Platon50 einnimmt, kaum markiert werden. Denn was der Erzähler hier verschmäht, ist nichts anderes als das, was Platons Sokrates im Dialog Phaidros für sein philosophisches Unternehmen reklamiert hatte: Die Bäume, so heißt es dort (230d), können Sokrates nichts sagen, sondern nur die Menschen in der Stadt. Innerhalb von Prousts Komposition ist jedoch der Tiefpunkt einer Überwältigung durch die Einsicht in die Unverfügbarkeit der Inspiration kein Endpunkt, sondern sensitive Vorbereitung des Umschwungs und intellektuelle Voraussetzung eines Neuanfangs. Denn bald darauf wird die Differenz des eigenen artistischen Unternehmens gegenüber einem philosophischen Projekt sich ihm mit der visionären Evidenz einer Erleuchtung offenbaren: Als der Erzähler sich zu einer mondänen Menschenansammlung begibt, der Matinée der Princesse de Guermantes, zu der die Witwe Verdurin nun durch Heirat mutiert ist, überfallen ihn in immer kürzeren Abständen eine unwillkürliche Erinnerung nach der anderen, stakkatoartige Visionen und Reaktivierungen anderer Sinneswahrnehmungen, in denen Gegenwart und Vergangenheit zusammenfließen und die Zeit nicht einfach wiedergefunden, sondern aufgehoben zu sein scheint. Diese ›souvenirs involontaires‹, so betont er ausdrücklich, »waren kostbarer für seine geistige Erneuerung als eine Fülle von humanitären, patriotischen, internationalistischen und metaphysischen Konversationen«.51 Der Erzähler begreift, dass es der im Romanwerk bis dahin unzählige Male beschworene, vernunft- und sehnsuchtsgesteuerte Wille, ein Schriftsteller zu werden, gewesen war, der ihn gerade daran gehindert hatte. Er versteht plötzlich, dass es eben die unbewusste, in seinem Gedächtnis aufbewahrte Natur-, Kunst- und Menschenbeobachtung ist, aus der seine »Inspiration« sich speist und 49 III 855: »Mais, en me donnant cette consolation d’une observation humaine possible venant prendre la place d’une inspiration impossible, je savais que je cherchais seulement à me donner une consolation, et que je savais moi-même sans valeur.« 50 Zu Platons anti-intellektualistischer Kunsttheorie vgl. Verf.: »Platons Erfindung des wahnsinnigen Dichters. Ekstasis und Enthusiasmos als poetisch-religiöse Erfahrung«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 51/1 (2006), S. 44-60. 51 III 882: »plus précieux pour mon renouvellement spirituel que tant de conversations humanitaires, patriotiques, internationalistes et métaphysiques«.

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die es ihm erlauben wird, aus zahllosen Elementen konkrete Personen und Situationen zu komponieren und neu zu erschaffen, in denen etwas Generelles, eine »psychologische Wahrheit«, verdichteten künstlerischen Ausdruck finden kann.52 Es ist nun nichts anderes als ihr spezifisches Verhältnis zur Zeit, das für Proust die – immer nur kurze – Inspiration und den – immer langdauernden, aber durch die Lebenszeit unwiderruflich, ja geradezu tragisch begrenzten – schriftstellerischen Produktionsprozess radikal von der Zeitlosigkeit oder der Erfahrung von Zeit »im reinen Zustand« während eines ›souvenir involontaire‹ unterscheidet: Und mehr als der Maler bedarf der Schriftsteller, um Volumen und Konsistenz, Allgemeingültigkeit, literarische Wirklichkeit zu erreichen, ebenso wie viele gesehene Kirchen nötig sind, um eine einzige zu malen, auch vieler Lebewesen für ein einziges Gefühl. Denn wenn die Kunst lang ist und das Leben kurz, kann man andererseits sagen, dass, wenn die Inspiration kurz ist, die von ihr darzustellenden Gefühle nicht viel langdauernder sind.53

Auffällig ist, dass Proust sich hier eines der wirkungsmächtigsten Leitsätze der antiken Kunsttheorie bedient – vita brevis, ars longa, in Senecas philosophisch-pessimistischer Formulierung,54 die einen zunächst nur auf die medizinische Kunst gemünzten Aphorismus aus dem griechischen Corpus Hippocraticum wiederaufnimmt –, um ihn seiner Inspirationsauffassung anzuverwandeln. Für diese aber sind und bleiben, gemäß der vorchristlich-antiken poetischen Tradition, eine ganz diesseitige Lebensauffassung und ein handwerkliches Kunstverständnis bestimmend, die der Weltund Menschenkenntnis und dem Anspruch künstlerischer Meisterschaft verpflichtet sind, nicht aber einem Ideal mystischer Vereinigung und ineffabler Gotteserfahrung. Bestandteil des Vokabulars seines Romanwerks war das Mystische durchaus, und ein genauer Blick auf den Wortgebrauch

52 III 900. Siehe dazu ausführlicher Verf.: »Kreation und Zeit«, S. 116f. 53 III 907: »Et plus qu’au peintre, à l’écrivain, pour obtenir du volume et de la consistance, de la généralité, de la réalité littéraire, comme il faut beaucoup d’églises vues pour en peindre une seule, il lui faut aussi beaucoup d’êtres pour un seul sentiment. Car si l’art est long et la vie courte, on peut dire en revanche que, si l’inspiration est courte, les sentiments qu’elle doit peindre ne sont pas beaucoup plus longs.« Zur Erfahrung von »temps à l’état pur« während des ›souvenir involontaire‹: III 872. – Ein letztes Beispiel von »inspiration«: unten, Anm. 67. 54 Seneca: De brevitate vitae, Kap. 1.

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zeigt, dass der Terminus selbst bevorzugt in den Dienst einer darstellerischen Verzauberung und zugleich intellektuellen Entmystifizierung gestellt wird. Die Weißdornblüten, deren enthusiasmierende synästhetische Wahrnehmung dem kindlichen Erzähler des 1. Teils der Recherche eine von Liebeswünschen genährte Ahnung der Möglichkeit künstlerischer Produktivität verschafft, begegnen ihm zunächst nicht im natürlichen, sondern im künstlichen Ambiente einer »mystischen Feierlichkeit«55, wo sie als Altardekoration in Combray während des Marienmonats Verwendung finden. Der Verweis auf Mystisches drängte sich dem jungen Marcel im Zusammenhang auch und gerade mit der dort von ihm aus der Ferne fasziniert beobachteten aristokratischen Familie der Guermantes auf. So glaubte er etwa zu durchschauen, dass die Weigerung des bürgerlichen Snobs Legrandin, mit dieser Familie zu verkehren, sich vielleicht durch dessen eigene »Familientradition, ein moralisches Prinzip oder ein mystisches Gelübde«56 erklären ließe. Doch oft sind es Affinitäten zwischen Liebe und Religion oder Irrationalem, zu deren Kennzeichnung Proust auf den Begriff des Mystischen zurückgreift. Warum der in Odette verliebte Swann ein bestimmtes Restaurant aufsucht, kann nur, so kommentiert der Erzähler, »aus jenen gleichzeitig mystischen und ungereimten Gründen, die man romantische nennt«,57 geschehen sein. In À l’ombre des jeunes filles en fleurs ist es dann der Baron de Charlus – von dessen homoerotischen Neigungen der junge Marcel, dessen großbürgerliche Familie der Baron frequentiert, noch nichts weiß –, der versucht, in einer Konversation bei Tisch seine Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass Liebe sich nicht einfach auf Sexualbeziehungen reduzieren lässt, was er mit dem Beispiel der »Liebe eines Mystikers zu seinem Gott«58 belegt. Die eigenen Natur- und Kunsterfahrungen des Erzählers, die sich mit seinem diffusen Liebesbegehren verschränken, drängen ihm den Vergleich oder gar die Gleichsetzung mit Mystischem auf, sei 55 I 112: »solennité mystique«. – Sämtliche (insgesamt 15) Stellen, an denen die Wörter »mystique(s)«, »mysticisme«, »mysticité« in der Recherche verwendet werden, sind im Folgenden dokumentiert, in der Reihenfolge ihres Vorkommens; vgl. É. Brunet: Vocabulaire, Bd. 3, S. 947. 56 I 128: »[…] pourrait bien avoir été non pas subie, mais voulue par lui, résulter de quelque tradition de famille, principe de morale ou vœu mystique«. 57 I 296: »ces raisons, à la fois mystiques et saugrenues, qu’on appelle romanesques«. 58 I 763: »l’amour de tel mystique pour son Dieu« (dies ist der einzige Gebrauch des Adjektivs als Substantiv).

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es der Abendhimmel über dem Meer bei Balbec, der auf ihn wie eine »mystische Erscheinung« wirkt,59 sei es das Bild des Malers Elstir von einem Hafen, auf dem die Räume des Meeres und der Stadt sich ineinander aufzulösen scheinen und so den Eindruck eines »irrealen und mystischen Gemäldes« erzeugen.60 In Le côté de Guermantes ist es vor allem die ihm nun zugänglich gewordene, aristokratische Welt, die, unter den Vorzeichen der leisen Selbstironie eines retrospektiven Blicks in einen schwärmerischen frühen Lebensabschnitt, mit der Würde und Verheißung des Mystischen ausgestattet wird. Dem jugendlichen Erzähler war die von ihm angebetete Herzogin von Guermantes – »im mystischen Licht des Stoffes«61 ihres roten Samtkleides – wie eine frühchristliche Heilige oder Märtyrerin erschienen. Bereits der Name eines der fürstlichen Gäste der Herzogin, des Prinzen von Faffenheim-Munsterburg-Weinigen, suggeriert dem staunenden Jüngling »die mystische Qualität eines rheinischen Kirchenfensters«.62 Selber zum Gast der Guermantes nobilitiert, kommt es ihm so vor, als säße er dort an einem »mystischen Tisch«.63 Der an diesen Stellen mitschwingende spöttische Tonfall wird in Sodom et Gomorrhe noch auf die Spitze getrieben, wenn der Baron de Charlus den Namen einer ehrgeizigen mondänen Dame, der Marquise de Saint-Euverte, mit demonstrativer Frechheit, jedoch nicht ohne theologisch-gelehrte Anspielung, einen »mystischen Namen«64 nennt, was angesichts seiner obszönen Deutung dieses Namens nur blasphemisch gemeint sein kann. Derselbe Monsieur de Charlus ist es aber auch, der, beflügelt vom nicht allein pädagogischen Eros, dem jungen Musiker Morel klarzumachen sucht, dass das »Göttliche« von Beethovens 15. Streichquartett in dessen »fast bitterem Mystizismus«65 bestünde. Dem Erzähler selbst wird schließlich, bei der posthumen Uraufführung des von Vinteuil komponierten Septetts während einer Soirée der Madame Verdurin, eine Exaltationserfahrung zuteil, als ihm das Fragment einer Sequenz von sieben Tönen des Musikstücks eine »mysteriöse Hoffnung« übermittelt, welche sich 59 60 61 62 63 64

I 803: »apparition mystique«. I 836: »tableau irréel et mystique«. II 145: »dans la lumière mystique de l’étoffe«. II 256: »la mysticité d’un vitrail rhénan«. II 513: »table mystique«. II 700: »nom mystique«. Zur dabei virulenten Anspielung auf eine Episode aus dem Leben des heiligen Evurtius vgl. L. Keller: ProustEnzyklopädie, S. 757. 65 II 1010: »Or c’est justement ce mysticisme presque aigre qui est divin.«

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als appellhafte Melodie materialisiert und die Imagination des Morgenrots auslöst.66 Er vergleicht das, was er wahrgenommen hat, mit einem »mystischen Hahnenschrei, einem gleichzeitig unaussprechlichen und übermäßig gellenden Anruf des ewigen Morgens«. Doch bereits wenige Takte später war nichts mehr davon zu spüren, den Komponisten hat also, so scheint es dem Erzähler, »die Inspiration«67 schon bald wieder verlassen. Zugleich aber stellt sich heraus, dass die Identität des Schöpfers dieses Werks höchst zweideutig ist. Die Existenz des Septetts von Vinteuil war nämlich einer mühseligen Rekonstruktion zu verdanken, welche die lesbische Freundin der Tochter des Komponisten nach dessen Tod in einem Akt der Buße vorgenommen hatte, auf der Basis seiner mit Papyrusfetzen verglichenen Notizen, die so unleserlich waren wie die eines vom Tode überraschten, genialen Chemikers. Die von der Entzifferungskünstlerin ans Licht gebrachte und hörbar gemachte »ewig wahre, für immer fruchtbare Formel jener unbekannten Freude, die mystische Hoffnung des scharlachroten Morgenengels«68 bleibt jedoch für den Erzähler vorläufig unfruchtbar. Diese mystische Erfahrung konnte noch nicht in eigene Kunstproduktion umgesetzt werden, und zwar deshalb, weil sie an diesem Abend nur die Eifersucht auf seine ihn zu Hause erwartende, »gefangene« Geliebte Albertine wiedererweckte, von der 66 III 250 (›Sodome et Gomorrhe III: La prisonnière‹): »Ce rouge si nouveau […] teignait tout le ciel, comme l’aurore, d’un espoir mystérieux«; vgl. zum Folgenden, ebd.: »comme un mystique chant du coq, un appel, ineffable mais suraigu, de l’éternel matin«. Schon die ominöse Akzentuierung der Sieben durch Verdoppelung (Septett, Sieben-Töne-Sequenz) ruft apollinisch-hermetische Zahlenmystik auf. 67 III 251: »Il me semblait que Vinteuil avait manqué là d’inspiration«. (Dies ist der einzige Wortgebrauch von Inspiration, der in die von mir zuvor präsentierte Rekapitulation der Verwendungszusammenhänge noch nicht aufgenommen war.) 68 III 262f.: »Comme dans les illisibles carnets où un chimiste de génie, qui ne sait pas la mort si proche, a noté des découvertes qui resteront peutêtre à jamais ignorées, l’amie de Mlle Vinteuil avait dégagé, de papiers plus illisibles que des papyrus ponctués d’écriture cunéiforme, la formule éternellement vraie, à jamais féconde, de cette joie inconnue, l’espérance mystique de l’Ange écarlate du Matin.« Vgl. dazu S. Beckett: Proust, S. 71f. Aus dem »espoir mystérieux« (s. oben, Anm. 66) ist also, vermittelt über den »mystischen Hahnenschrei«, wenige Seiten später eine »espérance mystique« geworden. – Bei der Romanfigur Vinteuil handelt es sich signifikanterweise um eine Verschmelzung zweier Figuren, eines Naturforschers und eines Komponisten, aus Prousts Entwürfen zur Recherche, s. L. Keller: Proust-Enzyklopädie, S. 932.

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er befürchtete, dass sie zum perversen Freundinnenkreis jener gelehrten und ästhetisch reproduktiven Lesbierinnen gehört. Doch kommentierend fügt er hinzu: Außer dieser Eifersucht und den damit verbundenen, noch bevorstehenden Leiden wurde durch jene »mystische Hoffnung« zugleich eine unzerstörbare ästhetische Ermutigung ausgelöst, die ihm von nun an auf bleibende Weise die existentielle Möglichkeit kreativer künstlerischer Erfüllung verheißt: Dank ihrer hatte zu mir, als Kompensation, der seltsame Appell gelangen können, den ich niemals mehr aufhören würde zu vernehmen, als ein Versprechen, dass es etwas anderes, zweifellos in der Kunst zu Verwirklichendes gab als das Nichts, welches ich in allen Vergnügungen und sogar in der Liebe gefunden hatte, und dass, wenn auch mein Leben mir so nichtig erschien, es wenigstens noch nicht alles erfüllt hatte.69

Es mag kein Zufall sein, dass Proust im weiteren Verlauf seines Romanwerks jeglichen expliziten Hinweis auf jene mystische Erfahrung des Erzählers vermeidet. Nur noch zweimal wird er ausdrücklich von Mystischem sprechen, und jedes Mal mit geradezu sarkastischer Distanz: Der Sorbonne-Professor Brichot erhält vom Erzähler die Gelegenheit, seine Ignoranz auszubreiten, indem er Kant zum Platoniker macht und ihm »pommerschen Mystizismus«70 unterstellt. Und der von seinem Liebhaber Morel aufgrund einer Salon-Intrige verlassene Baron de Charlus vermag den Geiger nicht wiederzugewinnen, obwohl er zu diesem ersehnten Zweck »eine quasi mystische Eloquenz«71 entwickelt. Als Proust am Ende die Zielgerade seines Unternehmens erreicht, entfaltet er mit höchster Präzision die Darstellung der situativen, aisthetischen und kunsttheoretischen Voraussetzungen, die die Ausarbeitung und schriftliche Fixierung eben desjenigen Romans ermöglicht haben, den der Leser in den Händen hält – oder doch eines erst noch zu schreibenden anderen, was der vexierbildhafte narrative Status dieser Darstellung innerhalb der

69 III 263: »c’était grâce à elle, par compensation, qu’avait pu venir jusqu’à moi l’étrange appel que je ne cesserais plus jamais d’entendre comme la promesse qu’il existait autre chose, réalisable par l’art sans doute, que le néant que j’avais trouvé dans tous les plaisirs et dans l’amour même, et que si ma vie me semblait si vaine, du moins n’avait-elle pas tout accompli.« – Zur vergleichbaren Nichtigkeit des frivolen Lebens, in dem Swann seine Inspirationen vergeudet hatte, vgl. oben, Anm. 34. 70 III 282: »mysticisme poméranien«. 71 III 323: »une éloquence quasi mystique«.

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Erzählzeit des Romans nahelegen könnte.72 Für einen Rekurs auf den Begriff des Mystischen ist nun kein Anlass mehr. Der zuvor scheinbar noch unwiderruflich erschütterte »Glaube« an das eigene literarische Talent wird durch die potenzierte Glückserfahrung zahlreicher, in kurzem Abstand aufeinander folgender ›souvenirs involontaires‹ wiederhergestellt. Doch nun erst versteht der Erzähler, dass er sich mit dem so prekären und so sterilen Genuss dieser ekstatischen Momente nicht zufriedengeben darf, sondern dass er eine artistisch professionelle »Lehre«73 daraus ziehen muss: Denn die ihm sensitiv zugetragene »himmlische Nahrung« von »Wiederauferstehungen der Vergangenheit«74 würde nur dann fruchtbar sein, wenn sie bewusst dazu verwendet wird, künstlerische »Kräfte zu erzeugen«, mit deren Hilfe die Empfindungen »zu interpretieren« sind und als »inneres Buch unbekannter Zeichen« nicht allein gelesen und dechiffriert, sondern auch übersetzt und rekreiert werden müssen.75 Trotz aller hier unüberhörbaren terminologischen Anklänge an sprachliche Darstellungstraditionen, die sich nicht zuletzt in mystischen Texten finden76 und die bis

72 Vgl. dazu die Überlegungen von M. Blanchot: Livre à venir, S. 21-24; Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts »A la recherche du temps perdu«. Ein Beitrag zur Theorie des Romans (1955), Frankfurt a. M. 1986, v.a. S. 265-282. 73 III 869: »enseignement«; zum wiedergewonnenen »Glauben« an die Literatur als eine von ihm realisierbare künstlerische Praxis vgl. III 868: »me rendre la foi dans les lettres«. 74 III 873: »céleste nourriture«; III 875: »résurrections du passé«. Vgl. die noch stärker religiös konnotierte Darstellung des toten Schriftstellers Bergotte, dessen neben seinem Sterbebett aufgestellte Bücher auf den Erzähler wie »le symbole de sa résurrection« wirken, III 188. Siehe auch unten, Anm. 77. 75 Siehe v.a. III 878f. 76 Zu Darstellungsverfahren mystischer Texte vgl. Walter Haug: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003 (darin v.a. den Aufsatz »Göttliches Geheimnis und dunkler Stil« (1998), S. 413-425). Siehe auch Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik (1960), Frankfurt a. M. 1973, v.a. das 1. Kapitel, »Religiöse Autorität und Mystik«, S. 11-48, mit folgender Definition des Mystikers (S. 12): »Ein Mystiker ist jemand, dem eine unmittelbare und als real empfundene Erfahrung des Göttlichen, der letzten Realität, geschenkt oder vergönnt worden ist oder der sie mindestens bewußt zu erlangen sucht. Solche Erfahrung mag ihm durch eine plötzliche Erleuchtung, eine Illumination, zugekommen sein oder aber als das Endergebnis langer und vielleicht umständlicher Vor-

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zum Schluss der Recherche noch weiter, bis zur Kulmination in einer künstlerischen Ewigkeitsvorstellung,77 variiert werden – Proust wird alles tun, um dem Irrationalen kein Privileg zu verleihen, der »Impression« keinen Selbstzweck mehr zuzugestehen, sondern vielmehr den aufklärenden, analytischen Verstand (»l’intelligence«) als entscheidende Bedingung der poetischen Kreation zu erkennen und ihn damit künstlerisch aufs höchste zu legitimieren. Denn erst unter dem Aspekt der »intelligence«, so heißt es hier, seien die Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede zwischen Dichtung und Wissenschaft genauer zu fassen: Die Impression ist für den Schriftsteller das, was das Experiment für den Wissenschaftler ist, mit dem Unterschied, dass beim Wissenschaftler die Arbeit des Verstandes vorangeht und beim Schriftsteller danach kommt. Was wir nicht durch unsere persönliche Anstrengung dechiffrieren, aufklären mussten, was vor uns klar war, gehört uns nicht. Von uns selbst kommt nur das, was wir aus der in uns befindlichen Dunkelheit hervorziehen und was die anderen nicht kennen.78

bereitungen, durch die er solche Berührung mit dem Göttlichen zu erlangen oder zu vollziehen gesucht hat.« 77 Vgl. III 1036: »c’est que le bonheur que j’éprouvais ne venait pas d’une tension purement subjective des nerfs qui nous isole du passé, mais au contraire d’un élargissement de mon esprit en qui se reformait, s’actualisait ce passé, et me donnait, mais hélas! momentanément, une valeur d’éternité« (s. auch oben, Anm. 23); vgl. die strikte Entgegensetzung zwischen der Sterblichkeit des Künstlers und der »vie éternelle«, die seine »œuvres fécondes« gewinnen können, III 1038. – Zur nicht platonischen Ewigkeitsauffassung von Proust vgl. W. Benjamin: »Proust«, S. 364. Siehe dazu jetzt auch Karlheinz Stierle: Zeit und Werk. Prousts »À la Recherche du Temps perdu« und Dantes »Commedia«, München 2008, v.a. S. 116-132 und 195-251, mit 258 und 263-265 (gegenüber den von Stierle sensibel herausgearbeiteten Korrespondenzen beider Werke unter dem Aspekt von Zeit, Ewigkeit und Werk bildet jedoch die Konstellation mit Balzacs Comédie humaine das ›missing link‹). 78 III 880: »L’impression est pour l’écrivain ce qu’est l’expérimentation pour le savant, avec cette différence que chez le savant le travail de l’intelligence précède et chez l’écrivain vient après. Ce que nous n’avons pas eu à déchiffrer, à éclaicir par notre effort personnel, ce qui était clair avant nous, n’est pas à nous. Ne vient de nous-même que ce que nous tirons de l’obscurité qui est en nous et que ne connaissent pas les autres.« – Auch die ›souvenirs involontaires‹ sind für Proust »impressions«, allerdings besonders glückselige (»bienheureuses«), III 871; s. dazu auch III 898: »ces vérités que l’intelligence dégage directement de la réalité ne sont pas à dédaigner entièrement, car elles pourraient enchâsser d’une matière moins pure, mais encore pénétrée de l’esprit, ces impressions

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Allein der prüfende und kritisch reflektierende Verstand ist es also, der künstlerische Erkenntnis erlaubt und lesbar, also schreibbar macht, so sehr deren Voraussetzungen auch auf die plötzliche Inspiration und den mystischen Appell angewiesen sein mögen. Letztere nun sind prinzipiell von jedem Menschen erfahrbar – das hatte während des ganzen Verlaufs der Recherche die so vielseitige Verwendung dieser Begriffe erwiesen, die hier in allen ihren Perspektivierungen vollständig dokumentiert wurde. Doch nur der Dichter selbst, und nicht der Leser seiner Produkte, ist es, Proust zufolge, dem künstlerische Erkenntnis vollständig, also praktisch zugänglich werden kann und für den sie sich daher nicht in Sterilität oder Passivität oder allenfalls in Selbsterkenntnis79 erschöpft. Eine universell verallgemeinerbare Metaphysik ist daraus ebenso wenig abzuleiten wie das Programm einer unio mystica. Und indem auf dem Boden der Kunstpraxis das hierarchische Verhältnis von Geist und Materie, das die philosophischreligiöse Tradition etabliert hatte, außer Kraft gesetzt ist,80 wird auch das Korsett jeglicher Abbild-Theorie gesprengt. Intellektuellmaterielle Veräußerung, nicht spirituelle Verinnerlichung ist für Proust der Inbegriff poetischer Kunst. Deren Lehrmeisterin aber ist niemand anders als die Zeit, »dieser Künstler«.81

que nous apporte hors du temps l’essence commune aux sensations du passé et du présent, mais qui, plus précieuses, sont aussi trop rares pour que l’œuvre d’art puisse être composée seulement avec elles« (Luc Fraisse: Le processus de la création chez Marcel Proust. Le fragment expérimental, Paris 1988, S. 395f., deutet dies als bloße Reprise von Gedanken Schopenhauers und Bergsons). 79 Zu »lecteurs d’eux-mêmes« könnten seine Leser werden, schreibt Proust (III 1033; vgl. auch III 911), – nicht zu Künstlern. 80 Diese Außerkraftsetzung des Gegensatzes von Geist und Materie hat E. R. Curtius: »Proust«, v.a. S. 301, besonders evident gemacht und direkt mit Prousts Formulierungen belegt, aber dennoch versucht, ihn zum genuinen Metaphysiker bzw. Platoniker zu machen (s. oben, Anm. 8 und 12). 81 III 936: »l’artiste, le Temps […]. Cet artiste-là, du reste, travaille fort lentement«.

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Die Stadt als Un-Ort Michelangelo Antonionis »L'eclisse« und die Fremdheit des Vertrauten DANIEL ILLGER

Epistemologische Einbußen und erotische Verluste Michelangelo Antonioni gilt als ein Regisseur der Krise. In seinen Filmen ist – so die verbreitete Einschätzung – der Mensch sich selbst und seiner Umwelt fremd geworden; die Gewissheiten des Herzens werden ebenso erschüttert wie jene des Auges, und auch das überkommene Regelwerk der Filmkunst, das im westeuropäischen Nachkriegskino vielerorts noch Bestand hatte, sieht sich mancher Herausforderung ausgesetzt. Geradezu legendär sind die Tumulte, die L'avventura (Die mit der Liebe spielen I/F 1960) bei seiner Uraufführung in Cannes 1960 auslöste. Die Tatsache, dass die vermeintliche Hauptfigur Anna (Lea Massari) nach einem Spaziergang über eine unbewohnte Felsinsel nicht nur auf Nimmerwiedersehen verschwindet, sondern dass dieses niemals aufgeklärte Verschwinden im weiteren Verlauf des Films zudem jegliche Bedeutung zu verlieren scheint, erhitzte manches Kritikergemüt, während die Empörung über die künstlerische Waghalsigkeit Antonionis umgekehrt Solidaritätsbekundungen hervorrief. Anna löst sich also in Luft auf, und die Spuren ihres Daseins verwischen zusehends. Zuvor allerdings streitet sie noch mit ihrem Geliebten Sandro (Gabriele Ferzetti), von dem sie sich bereits einmal getrennt hat, und dass die Ereignisse in dieser Anordnung erfolgen, ist keineswegs zufällig. Denn in den wenigen Minuten, während derer uns Antonioni die Beziehung von Anna und Sandro zeigt, durchlaufen die beiden einen wahren Parcours von Entfremdung: das Scheitern der Kommunikation, ein Begehren, das stets in Überdruss umzuschlagen droht, die Unfähigkeit, sowohl mit als auch ohne einander auszukommen… Es ist, als würde das

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Schwinden von Gefühl und Bindung schließlich die physische Auflösung Annas nach sich ziehen oder gar zu einer Notwendigkeit machen. Wie gesagt: Derartige Überlegungen bewegen sich durchaus im Rahmen der gängigen Ansätze zur Interpretation von Antonionis Werk. Bei Morando Morandini etwa heißt es, der Regisseur hätte sich mit einer bisweilen fast an Monomanie grenzenden Hartnäckigkeit mit den Themen und Problemen – oder besser: Neurosen – der neo-kapitalistischen Gesellschaft auseinander [gesetzt]: Paarbeziehungen, emotionale Krisen, Einsamkeit, Kommunikationsschwierigkeiten, existentielle Entfremdung. Seine Filme sind der ›Blues‹ des Bürgertums, bei dem die nur leicht verschleierte Autobiografie als Zeitzeugnis dient.1

Diese Sätze finden gleichsam ein Echo in den folgenden Ausführungen Irmbert Schenks über die Ästhetik Antonionis: Seine Vorstellung des »vereinzelten Einzelnen« (Marx, auch mit dem Begriff der »Monade«) oder von »Entfremdung« ist nicht am Begriff der Arbeit festgemacht, sondern an der Wahrnehmung der Kommunikationsformen und -inhalte der Menschen (die in seinen italienischen Filmen aus sozial privilegierten und historisch fortgeschrittenen Klassen und Schichten Mittel- und vor allem Norditaliens kommen). Daraus folgert er den Solipsismus des Bewusstseins, die von den anderen geschiedene Subjektivität des Einzelnen – woraus nicht zufällig sowohl die Konstatierung der Unmöglichkeit glücklicher Beziehungen zwischen Menschen und der Identitätslosigkeit subjektiver Individualität wie die Infragestellung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen folgen. Die »Helden« Antonionis entstehen sowohl aus ihrer zunehmenden Fremdheit zur Außenwelt wie der zur eigenen Innenwelt. Seine Argumentationssphäre sind die »Zwänge zweiter innerer Natur«, in denen die »Bearbeitung ›eigener Natur‹« nur noch in Formen der »Krankheit der Gefühle« möglich ist. In Entsprechung zur Verfahrensweise Antonionis, sozusagen auf der »äußeren Seite« der Triebnatur zu bleiben, entstehen die schlagwortartigen Zusammenfassungen seiner Themen in der Sekundärliteratur wie z.B. Kommunikationsunfähigkeit, Langeweile, Einsamkeit, Pessimismus, Verzweiflung, Entfremdung, Selbstentfremdung, Verdinglichung oder der Hinweis, in seinen Filmen sei die Natur nicht mehr natürlich, seien Menschen und Dinge versteinert.2

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Morando Morandini: »Italien: Vom Faschismus zum Neo-Realismus«, in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.), Geschichte des internationalen Films, Stuttgart/Weimar 1998, S. 318-326, hier S. 326. Irmbert Schenk: »Antonionis radikaler ästhetischer Aufbruch. Zwischen Moderne und Postmoderne«, in: Thomas Koebner/Irmbert Schenk (Hg.), Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, München

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Im Licht der Ausführungen von Autoren wie Morandini und Schenk versteht man, weshalb sich Antonioni vor allem in den sechziger Jahren häufig der Kritik ausgesetzt sah, rundweg ein Verräter an neorealistischen Idealen zu sein, dessen Kunst sich in amouröser Nabelschau und müßigem Trübsal-Blasen, verpackt in überkonstruierte Bilder, erschöpfe.3 Allerdings ist es keineswegs unabdingbar, die Diskussion über das Werk Antonionis auf den Widerstreit zwischen einer ›engagierten Kunst‹ und L’art pour l’art-Konzeptionen zuzuspitzen. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass Filme wie L’avventura, La Notte (Die Nacht I/F 1961) oder L'eclisse (Liebe 1962, I/F 1962) – Filme also, die zu den bekanntesten und charakteristischsten des Regisseurs gehören – eine Nähe zu einem theoretischen Komplex offenbaren, dessen Nennung in jedwedem Zusammenhang mit einem so dezidiert modernistischen Künstler wie Antonioni befremdlich anmuten mag: jenem der profanen Mystik. Vielleicht reduziert sich das Befremden bereits ein wenig, wenn man sich klar macht, dass, wie Wiebke Amthor, Hans R. Brittnacher und Anja Hallacker schreiben, »als entscheidendes Moment der mystischen Erfahrung im 20. Jahrhundert […] das Aufbrechen der engen Grenzen des individuellen Selbst und der ihm bekannten Welt« erlebt wird.4 Und weiter: »Die Begegnung mit dem Anderen, Fremden und oftmals Unbenennbaren gewinnt die

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2008, S. 67-89, hier S. 70. Seinerseits rekurriert Schenk auf Überlegungen des »guten Antonioni-Kenners« Guido Aristarco (vgl. ebd., S. 86). Und auch die Charakterisierung der Filme des Regisseurs aus den frühen sechziger Jahren, die man bei Gian Piero Brunetta findet, schlägt in dieselbe Kerbe: »La sua immagine si situa sulla frontiera più avanzata della ricerca visiva cinematografica del dopoguerra. Anche la comunicazione diventa sempre più precaria, perché si perdono le ragioni del comunicare, il senso delle parole, il valore dei sentimenti, la percezione delle cose: ›Ci sono giorni in cui non ho niente da dirti‹ afferma Lea Massari in una delle prime scene de L’Avventura: questa condizione è destinata a cronicizzarsi. Il suo cinema diventa il rappresentante d’una condizione umana di progressivo sradicamento dell’individuo dall’ambiente e di perdita del sé che viene definita alienazione.« Gian Piero Brunetta: Guida alla storia del cinema italiano. 1905-2003, Turin 2003, S. 288f. Vgl. Marcia Landy: Italian Film, Cambridge u.a. 2000, S. 296. Landy freilich teilt diese Kritik an Antonioni nicht, sondern sieht ihn als Nachfolger des Neorealismus. Wiebke Amthor/Hans R. Brittnacher/Anja Hallacker: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Profane Mystik? Andacht und Ekstase in Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 9-21, hier S. 9.

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Dignität eines mystischen Erlebnisses.«5 Folgt man Amthor, Brittnacher und Hallacker, kann man sogar sagen, dass die Renaissance der Mystik geradezu einen konstitutiven Bestandteil der Erfahrung der Moderne ausmacht: Wegen ihrer latenten Subversivität gegenüber der Orthodoxie und wegen der unvergleichlichen Intensität des religiösen Erlebens war die Mystik doppelt begünstigt, als sich um 1900 die Moderne im Wechselspiel mit einer fundamentalen Krisenerfahrung formierte, die sich nicht nur aus der Einbuße sprachlicher und epistemologischer Möglichkeiten speiste, sondern auch aus dem Bewusstsein eines unwiederbringlichen Verlustes von historischen Leistungen und erotischer Gewissheit. 6

Wenn die Autoren von der »Einbuße sprachlicher und epistemologische Möglichkeiten« sprechen oder von dem »unwiederbringlichen Verlust von historischen Leistungen und erotischer Gewissheit«, dann ist es, als wollten sie die Symptome jener Erschütterungen beschreiben, auf die Antonioni nach eigenem Bekunden zu reagieren suchte: Was, glaubt man, bedeutet der Erotismus, der heute [d.h. 1961] in Literatur und Schau-Spiel vorherrscht? Er ist ein Symptom, das am leichtesten greifbare vielleicht in der Krankheit der Gefühle. Aber man wäre nicht erotisch, das heißt am Eros erkrankt, wenn der Eros gesund wäre, und unter gesund verstehe ich passend, der Größe und der Bedingung des Menschen angemessen. Es ist jedoch ein Unbehagen da, und wie bei jedem Unbehagen reagiert der Mensch, aber er reagiert schlecht, nur auf den erotischen Anstoß hin, und ist unglücklich. Die Katastrophe in L'avventura ist ein erotischer Anstoß dieser Art, unglücklich, kläglich, unnütz. Kritisch zu wissen, wie es der Protagonist von L'avventura weiß, daß der erotische (An-)Trieb, dem er unterliegt, vulgär und überflüssig ist, genügt nicht und nützt nichts. Es bricht der Mythos zusammen, daß es genüge zu wissen, sich kritisch zu kennen, sich in allen Verzweigungen und Verwicklungen zu analysieren.7

Auch in einem Film wie L'avventura gibt es also »Einbußen sprachlicher und epistemologischer Möglichkeiten« und einen »unwiederbringlichen Verlust von erotischer Gewissheit« zu verzeichnen. Trifft es aber zu, dass Verluste dieser Art kennzeich5 6 7

Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Michelangelo Antonioni: »Die Krankheit der Gefühle. Ein Gespräch mit Studenten des Centro Sperimentale di Cinematografia in Rom 1961«, zitiert nach: Claudia Lenssen: »Kommentierte Filmographie«, in: Michelangelo Antonioni, Reihe Film, Bd. 31, hg. von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte, München/Wien 1984, S. 75-234, hier S.135.

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nend sind für das Welterleben des Menschen in der Moderne, und trifft es zu, dass sich im 20. Jahrhundert »gerade aufgeklärte, zum Teil entschieden atheistisch eingestellte Autoren der Mystik […] [zuwenden], die damit keine unkritische Rückwendung intendieren, sondern ihre spezifisch moderne Situation mit der Erfahrung der Mystiker zu vermitteln und in ihr aufzuheben suchen«8, dann lohnt es sich möglicherweise, der Frage nachzugehen, ob auch das Schaffen eines »aufgeklärten« Filmautors wie Antonioni eine – mag sein untergründige – Beziehung zur Mystik unterhalten haben mag. Hier ist nicht der Ort, um dieser Frage systematisch nachzugehen. Vielmehr soll nun die Analyse eines einzelnen Filmes anschließen. Es handelt sich dabei um einen jener Filme Antonionis, über die Pierre Sorlin schreibt, sie hätten die Zeit, das Kino und den Zuschauer zum Thema9 und würden in ihrer ganzen Machart die eigene Künstlichkeit ausstellen, anstatt ein Fenster zur Realität aufzutun10 – vielleicht ist es sogar diejenige Arbeit des Regisseurs, die am weitesten geht auf dem viel beschworenen Weg der Erforschung von Zeit und Einsamkeit vermittels einer höchst komplexen kinematografischen Konstruktion: L'eclisse. Die Analyse wird besonderes Augenmerk auf die Zergliederung der von Antonioni vorgenommen Raumkonstruktion legen, und ihr Ziel ist es aufzuzeigen, inwiefern man davon sprechen kann, dass die Protagonisten des Films im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder »dem Anderen, Fremden und oftmals Unbenennbaren« begegnen – und was das für die Gesamtheit des ästhetischen Entwurfs von L'eclisse bedeuten mag.

Zeitliche und ontologische Faltungen Eine Frau (Monica Vitti) trennt sich von ihrem langjährigen Geliebten (Francisco Rabal), lernt einen anderen Mann (Alain Delon) kennen, kommt mit ihm zusammen oder auch nicht – so etwa könnte man die Handlung von L'eclisse umreißen. Ergänzend ließe sich hinzufügen, dass die Frau Vittoria heißt und als Überset-

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Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S. 1. 9 Vgl. Pierre Sorlin: Italian National Cinema. 1896-1996, London/New York 1996, S. 131. 10 Vgl. Pierre Sorlin: European cinemas, European societies 1939-1990, London/New York 1991. S.169.

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zerin arbeitet, ihr ehemaliger Freund Sandro als Schriftsteller tätig ist und sie den Mann, in den sie sich später verlieben wird, an der Börse kennen lernt, wo er, unter anderem im Auftrag ihrer Mutter, mit Wertpapieren handelt. Der Name des Maklers ist Piero, und L'eclisse stellt von Anfang an klar, dass diese Liebenden verschiedenen Welten entstammen.11 Dies wird deutlich, wenn man die jeweils erste Szene betrachtet, in der sich der Film ganz einer seiner Hauptfiguren widmet: Vittorias Gang durch das frühmorgendliche Rom und Pieros hektischer Aktionismus am Tag des Börsenkrachs. Nachdem sie – am Ende einer durchwachten Nacht, die offenbar von Streitereien und Versöhnungsversuchen erfüllt war – Sandros Wohnung verlassen hat, macht sich Vittoria zu Fuß auf durch die im Dämmerlicht daliegenden Straßen. Ihr Weg führt sie durch die im Südwesten Roms gelegene Trabantenstadt EUR, die nach Willen Mussolinis die Weltausstellung von 1942 beherbergen sollte, welche dann aufgrund des Krieges niemals stattfand.12 11 In einem feuilletonistischen Sprachgebrauch, der dazu neigt, Filmfiguren mit wirklichen Menschen gleichzusetzen, wäre es naheliegend zu sagen, dass Vittoria zu Träumereien und Schwermut neigt, während Piero vor allem schnelle Autos, schöne Frauen und Geld schätzt. Solche Psychologisierungen müssen allerdings erratisch bleiben, so lange sie nicht einhergehen mit einer Befragung der Art und Weise, wie der jeweilige Film seine Bildlichkeit im Allgemeinen konstruiert. Im Fall von Antonioni kommt man mit Seelendeutung ohnehin nicht weit, da dieser Regisseur, wie Uta Felten schreibt, »eine Präferenz für unergründbare Protagonisten [zeigt], deren Gestik und Motorik sich nicht mehr einem decodierbaren Affekt zuordnen lassen. Lidia, die Protagonistin aus La notte, ist eine prototypische Nomadin im Zeichen einer negativen Anthropologie, deren Handlung sich nicht mehr auf der Basis traditioneller Erklärungsmuster entschlüsseln lässt.« Uta Felten: »Träumer und Nomaden. Zum figuralen Muster der Suche im Film von Michelangelo Antonioni«, in: Thomas Koebner/Irmbert Schenk (Hg.), Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, München 2008, S. 90-98, hier S. 93. 12 »However, the co-optation of modernist architecture by the fascist regime reached a low point with the work of rationalist architects for the Esposizione Universale Roma (EUR) of 1942. Sometimes known simply as E42, this was the Scipio Africanus of Italian architecture and planning under fascism. Its origins lay in Piacentini’s axial plans for Rome which proposed a coordinated arrangement of specialised ›cities‹ on the outskirts, each of which would be an extensive campus of buildings dedicated to a particular area of activity. E42 thus followed the Città dello sport (begun 1928), the Città universitaria (1935), the Città militare and the Città del cinema (Cinecittà, 1937). […] The largest project undertaken during the fascist era, E42 was planned to be the venue of the

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Vittoria passiert einen pilzförmigen Wasserturm, der seltsamerweise – wir kommen darauf zurück – zugleich wie das Relikt einer unvordenklichen Vergangenheit anmutet und wie etwas, das, wenn man so sagen kann, die Zukunft überdauert hat. Bis auf das Klacken ihrer Schuhe auf dem Asphalt und die der Szene unterlegten Klänge einer minimalistischen, leicht unheilvoll anmutenden Musik ist es sehr still. Im Hintergrund erscheint der Palazzo dello Sport, während sich Vittoria, um eine Kurve kommend, der Kamera nähert, die sie dann ein kleines Stück begleitet, ehe Antonioni in eine Supertotale schneidet und seine Protagonistin beim Überqueren einer Straße zeigt, vorbei an einer Kreuzung. Man sieht eine kleine Baustelle, Reihen von Laternen, einige Pinien; außer Vittoria scheint kein Mensch zu dieser frühen Stunde unterwegs zu sein, nur ein einzelnes Auto fährt in der Ferne vorüber, und ein Bus macht sich auf, um unsichtbare Fahrgäste einzusammeln. Diese wenigen Einstellungen offenbaren bereits, welche Welt es ist, die L'eclisse für Vittoria vorgesehen hat: Ganz gleich, ob sie, auf einem Flugplatz stehend, in den Himmel blickt, um der Bahn von Düsenjägern zu folgen, sich nachts auf die Suche nach dem entlaufenen Hund einer Nachbarin begibt, oder, wie in der beschriebenen Szene, durch die Viertel Roms geht: Vittoria ist die Figur, die alleine ist; ihr zugehörig sind die leeren Straßen und Plätze; jene Räume, aus denen das menschliche Leben mit all seiner Geschäftigkeit getilgt wurde und die nunmehr der Herrschaft einer toten Zeit unterstehen, welche die Dinge zu ihrem Recht kommen lässt.13 Vittorias Welt entspricht exakt den Zuschreibungen an die Ästhetik Antonionis, die bei Deleuze ihre mittlerweile klassische Formulierung gefunden haben. Gerade darin aber lässt sie sich Punkt für Punkt der Welt Pieros entgegensetzen, die ja nicht min-

largest world fair in history, to eclipse those of Chicago in 1933 and Paris in 1937, which the regime planned to organise around the theme of ›Twenty-Seven Centuries of Civilisation‹, explicitly linking fascist Rome with the foundation of ancient Rome in the seventh century BC. For Mussolini, it was always conceived as an expression of empire in its historical references, its sheer scale, and its situation to the west of Rome on the via del Mare which led to the Mediterranean sea, the literal and symbolic source of the might of modern Italy and ancient Rome.« Mark Shiel: Italian Neorealism. Rebuilding the Cinematic City, London/New York 2006, S. 72f. 13 Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2 (1985), Frankfurt a. M. 1991, S. 16.

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der einen Teil der kinematografischen Konstruktion von L'eclisse bildet. Schon zu Beginn seines Arbeitstages, noch dräut kein Kurssturz, wenn Piero durch die Säulenhalle der Börse eilt, die Namen anderer Makler rufend, mit denen er Geschäfte machen will, oder an verschiedenen Telefonen ein hastiges Frage-AntwortSpiel vollführend, ist die Differenz zu dem Modus, wie L'eclisse Vittoria eingeführt hat, unübersehbar: Den offenen Bildern, die die Weite und Leere der Stadt vermessen, stehen Einstellungen eines Innenraumes gegenüber, der, trotz seiner enormen Ausmaße, stets bis zum Bersten gefüllt scheint durch die hin und her hastenden Börsianer, deren Stimmen sich übertönen, vermischen und aneinander brechen, wenn sie à la criée Kauf- und Verkaufsaufträge tätigen, sowie durch die mächtigen Säulen, die die Halle untergliedern und gleichsam in eine Vielzahl von Planquadraten aufteilen, deren jedes Platz bietet für die Mikrodramen, welchen die Abfolgen von Hausse und Baisse die Bühne bereiten. Ebenso wird Vittorias eher ruhiger, oft leicht abwesend wirkender Gang mit den schnellen, zielgerichteten, dabei mitunter überstürzten Bewegungen Pieros kontrastiert, ihr Schweigen mit seinen Ausrufen. Die Spannung zwischen den Welten der beiden Protagonisten vergrößert sich in dem Maße, wie die Kurse fallen und das Treiben an der Börse tumultuöse Züge annimmt, bis sich schließlich, viele Milliarden Lire sind verloren, eine Stimmung dumpfer, gereizter oder verzweifelter Resignation unter den Maklern und ihren Kunden breit macht. Genau diese Entwicklung sorgt aber – indem sie die Kluft verbreitert, die die Inszenierung Vittorias von jener Pieros trennt – auch dafür, dass in der Differenz beider Welten eine Ähnlichkeit deutlich wird, die das Rätselhafte betrifft, welches ihnen auf je verschiedene Weise eignet. Im Falle der Protagonistin schreibt sich dieses Rätselhafte ein in eine Mise-en-scène, die einen Wasserturm zu einem geheimnisvollen Artefakt werden lässt, und den nächtlichen Park, in dem Vittoria sich schließlich wieder findet, kaum dass sie den Hund der Nachbarin, übrigens einen schwarzen Pudel, entdeckt hat, in einen geradezu unweltlichen Ort verwandelt, vermittels des Gesangs von Fahnenmasten, die sich im Wind wiegen, als wären sie lebende Wesen, die eine Feierlichkeit oder ein Gebet vollziehen. Hinsichtlich Pieros besteht das Vorgehen von L'eclisse darin, die Geschäftemacherei an der Börse als eine Art profaner Liturgie zu zelebrieren. Es geht dabei nicht so sehr darum, ob die Tätigkeit der Makler auch in Wirklichkeit für Außenstehende esoterische Züge annehmen mag, oder ob ein kundiger Zuschauer ohne wei-

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Die Stadt als Un-Ort teres verstehen könnte, was in den Szenen vor sich geht, die Piero bei der Arbeit zeigen. Entscheidend ist vielmehr, dass Antonioni nichts tut, um die innere Logik der Vorgänge an der Börse zu offenbaren, sondern sein Augenmerk im Gegenteil auf jene Aspekte richtet, die ihnen einen rituellen Anschein verleihen: die beinahe rhythmischen Abläufe von Zweierbegegnungen, Gesprächsfetzen am Telefon und im wilden Geschrei sich ergehende Massenansammlungen. Vielleicht wird man in dieser Inszenierungsweise eine satirische Absicht erblicken wollen: Die Transformation der Börse in einen Tempel der Finanzwelt diente dann dazu, den Aberwitz der kapitalistischen Profitlogik in ihrem quasireligiösen Glauben an die unsichtbare, heilende Hand des Marktes anzuprangern.14 Eine solche Deutung hat den Vorteil, dass sie – und zwar unabhängig davon, ob man der in ihr implizierten Kritik zustimmt – die Oberflächlichkeit eines Blicks offen legt, der das Vorhandensein selbstreflexiver Formexperimente in Stellung bringt, um einem Film wie L'eclisse einen Bezug zur sozialen Realität jenseits einer wohlfeilen Melancholie abzusprechen. Allerdings tut sie wenig, um die Beziehung zwischen den Welten Vittorias und Pieros zu erhellen. Denn es geht Antonioni nicht darum, einer Figur Recht zu geben und die andere bloßzustellen. Hingegen zielt L'eclisse darauf, Räumlichkeiten zu gestalten, die – in dem, was sie verbindet, ebenso wie in dem, was sie trennt – komplementär sind. Beide Welten, Vittorias und jene von Piero, unterstehen dabei dem Gesetz einer eigentümlichen zeitlichen und gewissermaßen auch ontologischen Faltung. Die Bilder einer westeuropäischen Großstadt in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts öffnen sich solcherart dem flüchtigen Ausblick auf Landschaften vor der menschlichen Zivilisation oder nach ihrem Ende; der Versuch, einen entlaufenen Hund wieder zu finden, mündet in der Wanderung durch ein nächtliches Märchenland und die rastlose Geschäftigkeit von Spekulanten offenbart Züge eines Akolythentums. Aufseiten der Zuschauer entspricht der Verschachtelung verschiedener Bildräume die Affizierung mit 14 In diese Richtung scheint die Interpretation P. Adams Sitneys zu gehen: »[…] the Roman Borsa has little of the economic prestige and power of the Milan exchange which dominates Italian commerce. This suits Antonioni’s emphasis on the role of players with small capital in the minor panic of collapsing prices. As he depicts it, the Rome stock market becomes the focus of chance operations and addictive anxieties which reflect the anxieties of national and international politics.« P. Adams Sitney: Vital Crises in Italian Cinema. Iconography, Stylistics, Politics, Austin 1995, S. 160.

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Daniel Illger komplexen Emotionen: Wenn Vittoria auf dem Rollfeld des »Aero Club Verona« zurückbleibt – ihre Freundin Anita, deren Mann und der Kopilot haben sich anderem zugewandt –, ist damit ein Augenblick der Einsamkeit und zugleich des Glücks gestaltet. Wie immer bei der Protagonistin von L'eclisse erhält auch dieser Augenblick die Signatur der Stille und der Leere. Ein Flugzeug hebt ab, und indem es sich entfernt, ist momentlang nur noch der Wind zu hören. Man sieht, wie Vittoria einige Schritte auf dem Rollfeld macht, das mehr einem Acker gleicht: Sie bleibt stehen, betrachtet zwei Maschinen, die gemächlich über die Piste fahren, einen Mechaniker, der ein weiteres Flugzeug auftankt, zwei Männer, die unter einer Art Laube verweilen, rauchend und plaudernd – gedämpfte Arbeitsgeräusche und Stimmen. Nach einem Schnitt ist wieder Vittoria im Bild: Allein steht sie auf dem Feld, nur beinahe den Mittelpunkt der Einstellung, einer Totalen, bildend; weit im Hintergrund sind Lagerhallen, Wohnhäuser und, diesig und verschwommen, Hügel zu erkennen, über denen sich helle Wolken türmen; Vittoria hört das Jaulen der Düsenjäger, hebt den Blick, die Augen gegen die Sonne schützend… Ebenso, wie der wehmütige und zugleich distanziertanalytische Lyrismus derartiger Kompositionen verschiedenen Gefühlen, deren Verhältnis zueinander durchaus spannungsreich anmutet, die Tür zu öffnen vermag, entfaltet sich L'eclisse insgesamt, in der beschriebenen Weise, über die Schichtung von Bildlichkeiten, die sehr verschiedene Qualitäten hinsichtlich ihrer zeitlichen und topografischen Entwürfe aufweisen. Welches Ziel aber verfolgt Antonioni mit dieser ästhetischen Strategie?

Leere und Fülle Tatsächlich setzt sich L'eclisse nicht nur vermittels der Inszenierung eines Börsenalltags, die man als satirisch oder kapitalismuskritisch empfinden mag, in Beziehung zur zeitgenössischen italienischen Gesellschaft. Hingegen kann man sagen, dass er gerade in der beschriebenen Faltung und Schichtung verschiedener Zeitlichkeiten und Existenzformen, die sowohl die Gestaltung der Räume als auch die Position des Zuschauers betreffen, einen Weg sucht, um »die Gemeinschaft in den Besitz der anschaulichen

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Die Stadt als Un-Ort Form ihrer Idee zu bringen«.15 Denn wie so viele wichtige italienische Filme der sechziger Jahre – etwa Fellinis La dolce vita (I/F, Das süße Leben) von 1960, Vittorio De Sicas Il Boom (I) von 1963 oder Carlo Lizzanis La vita agra (I) von 1964 – versucht auch L'eclisse, die Ambivalenzen der Epoche des »miracolo economico«, des italienischen »Wirtschaftswunders« zu begreifen, das die materiellen Lebensbedingungen so vieler Menschen verbesserte und zugleich eine neue soziale Zerrissenheit hervorbrachte, deren Folgen, zumindest aus der Perspektive der genannten Filme, nicht weniger verheerend waren als jene der Armut früherer Zeiten. Jedoch inszeniert Antonioni, im Unterschied etwa zu Lizzani, keine Anklage gegen Selbstsucht und Habgier, Heuchelei und Gleichgültigkeit, ebenso wenig geht es ihm darum, den Abgrund aufzuzeigen, der zwischen dem schönen Schein und der trostlosen Wirklichkeit klafft, wie dies Fellini und De Sica anstreben. Vielmehr versucht er, die Situation in ihrer Potentialität zu erfassen. Indem L'eclisse seinen Protagonisten je eine eigene Welt zuweist, spannt der Film zugleich zwei Pole auf – nicht über eine psychologische Ausdeutung, sondern durch die Strukturierung der beiden Welten.16 Der Passivität steht die Aktivität gegenüber, der Leere die Überfülle, der Innerlichkeit das zielgerichtete Streben. Es wird gewiss kein Zufall sein, dass diese Polarität sich auf eine Frau und einen Mann verteilt, die eine Liebesbeziehung eingehen. Aber Antonioni zielt nicht darauf, überkommene Zuschreibungen an Weiblichkeit und Männlichkeit zu beglaubigen; tatsächlich markieren die Pole, die mit Vittoria und Piero bezeichnet sind, vor allem Seinsmöglichkeiten innerhalb der spezifischen Geschichtlichkeit, die L'eclisse zu erforschen strebt. Die Polarität soll dabei nicht das letzte Wort behalten. Das wird daran deutlich,

15 Jacques Rancière: »Die Geschichtlichkeit des Films«, in: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, S. 230-246, hier S. 240. 16 Ähnlich äußert sich Karl Prümm über das Verhältnis zwischen Figur und Raum in den Filmen Antonionis. Der Regisseur verwandle die »realen Räume […] in narrative Landschaften, denen die Figuren unmittelbar zugeordnet werden. Die Räume fungieren dabei nicht im traditionellen Sinn als ›Seelenlandschaften‹, hier wird nicht das Innere nach außen gekehrt. Die Räume definieren vielmehr die Figuren in einer Totalität, die unabweisbar ist, zwingen die Figuren dazu, sich jenseits aller Verhüllungen und Verstellungen zu offenbaren.« Karl Prümm: »Antonioni auf Weltreise. Bilder-Bewegungen in Blow up und Zabriskie point«, in: Thomas Koebner/Irmbert Schenk (Hg.), Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, München 2008, S. 113-128, hier S. 114.

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Daniel Illger dass Antonionis Film – der den größten Teil seiner Szenen strikt an die Perspektive von Vittoria oder Piero anbindet, indem er ihre Inszenierung dem Gesetz der jeweiligen Welt unterwirft – die Trennungen von Passivität und Aktivität, Leere und Fülle, Innerlichkeit und Handlungsmacht in jenen Momenten aufbricht, die eine Kommunikation zwischen den Hauptfiguren realisieren. Vielleicht ist dies am leichtesten zu erkennen anhand des ersten Spazierganges, den Vittoria und Piero zusammen unternehmen. Dieser Spaziergang, zugleich der eigentliche Beginn ihrer Liebesbeziehung, findet statt am Morgen, nachdem Pieros Sportwagen von einem Betrunkenen gestohlen wurde, während er selbst versuchte, Vittoria dazu zu überreden, ihn in ihre Wohnung einzulassen. Das Auto ist mitsamt dem Dieb – trauriges Ende eines humoristischen Augenblicks – in einem nah gelegenen See versunken, und die Spaziergangsszene fängt damit an, dass Piero, von Schaulustigen umgeben, untätig am Ufer des Sees steht, während ein Kran das Gefährt aus dem Wasser hievt. Antonioni wählt hier Einstellungen, die in der Ausgefülltheit des Kaders die Signatur von Pieros Welt tragen, während die Passivität des Wartens eher Vittoria zugewiesen scheint. Nach einem Schnitt ist dann die Protagonistin von L'eclisse zu sehen, und auch diese Einstellung kann nicht mehr so eindeutig einer Welt beigeordnet werden, denn während die Straße, auf der Vittoria geht, vollkommen menschenleer ist, wirkt ihr Gang zielgerichteter als bei früheren Gelegenheiten – und tatsächlich bestätigt sie im darauf folgenden Gespräch mit Piero, dass sie ein Ziel gehabt habe: ihn zu treffen nämlich. Während die beiden gemeinsam durch einen Park und die anliegenden Straßen schlendern, kreiert Antonioni eine Art prekäres Gleichgewicht zwischen den Welten, in die seine Figuren sich zuvor versetzt sahen: Zu Beginn des Spaziergangs bleibt die Kamera nah bei Vittoria und Piero, konzentriert sich darauf, ihre Bewegungen und Mimik einzufangen; dann, nachdem die beiden den Park verlassen haben, schneidet der Regisseur in eine Supertotale, welche an die einsamen Streifzüge seiner Protagonistin gemahnt. Vittoria und Piero sind nun aus großer Distanz zu sehen; sie beginnt, eine verlassene Straße entlang zu laufen, und er folgt ihr, ein wenig zögerlich zunächst. In ähnlicher Weise oszilliert auch die atmosphärische Gestaltung der Szene zwischen etwas Trennendem und Verbindendem: nicht mehr die Leere, die keine Annäherung der Figuren zuließ, aber auch nicht die Überfülle, die sie dazu zwang, sich noch den engsten Raum zu teilen, sondern eben dies: der Versuch einer Kommunikation, von dem man nicht weiß, ob er gelingen wird.

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Die Stadt als Un-Ort Dass die Beziehung zwischen Vittoria und Piero sehr zerbrechlich, nichtsdestoweniger aber vorhanden ist, zeigt sich auch an den häufigen Wechseln in der Inszenierung ihrer gegenseitigen Bezugnahme: ihre Verständnislosigkeit, als er sich nicht um den Ertrunkenen bekümmert, sondern nur um die Schäden an seinem Auto; sein Stieren in ihren Ausschnitt; ihrer beider Freude, wenn Vittoria Piero mit Wasser bespritzt, gefolgt von einem bedrückenden Moment der Vereinzelung und des Schweigens, nachdem sie hinter einem Palmstrauch verschwunden ist. Hierzu gehört weiterhin das merkwürdige Ende der Szene: Pieros Ankündigung, er werde Vittoria einen Kuss geben, sowie sie auf der anderen Straßenseite angelangt wären, der gemeinsame Gang über den Zebrastreifen, sein Zögern und Zweifeln, ihr Lächeln und ihre anschließende Weigerung, sich küssen zu lassen, schließlich Pieros geisterhaftes Verschwinden: Als Vittoria, die ihn allein zurückgelassen hat, sich noch einmal umdreht, findet sie die Kreuzung, wo er soeben stand, verwaist vor. Die Perspektiven sind wieder scharf voneinander geschieden; die Welt der Leere hat sich erneut die Mise-en-scène unterworfen.

»Die Welt hofft auf ihre Bewohner« Um zu verstehen, wie sich das in dieser Szene etablierte Pendeln zwischen einer Auflösung und Verfestigung der in den Figuren Vittoria und Piero inszenierten Seinsweisen mit der für L'eclisse so prägenden Schichtung verschiedener Zeitlichkeiten und ontologischer Qualitäten verbindet, ist es nötig, das Ende des Films in die Betrachtung einzubeziehen. Die letzten fünf Minuten von L'eclisse zeigen dem Zuschauer im Grunde vertraute Bilder. Man sieht das Viertel, in dem Vittoria lebt: die Parkanlage, wo sie mit Piero spazieren ging, einen Backsteinhaufen und ein in Renovation begriffenes Haus, wo sie auf ihn wartete, den Zaun mit der Wassertonne, in die sie nach dem verhinderten Kuss ein Holzstückchen fallen ließ, das dort noch immer schwimmt. Auch einige der Menschen, die sich durch diese Bilder bewegen, kommen dem Zuschauer von früheren Szenen her bekannt vor: so die Frau mit Kinderwagen und der Mann, der im Sulky durch die Straßen fährt. Vittoria und Piero sind also gegenwärtig in den letzten Einstellungen von L'eclisse; allein jedoch als Erinnerung und Reminiszenz. Denn wenn Antonioni am Ende seines Films bis in Kompositionsdetails hinein Bilder vorangegangener Szenen echot, so unterstreicht die Wiederholungsstruktur doch nur das Fehlen

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Daniel Illger seiner Protagonisten.17 Zuletzt hat der Zuschauer Vittoria und Piero gesehen, als sie sich mit dem Versprechen verabschiedeten, einander am selben Tag noch wieder zu treffen: »Alle otto. Solito posto.«18 Da dieses Versprechen den Abschluss einer Liebesszene bildete, die – in ähnlicher Weise wie der beschriebene Spaziergang – voll der Ambivalenzen war, hat man jene Absenz der Hauptfiguren als Grablegung der Beziehung zwischen Vittoria und Piero gedeutet: Offenbar wären die beiden, jeder für sich und im Stillen, zu der Entscheidung gelangt, einander nicht mehr sehen zu wollen.19 Tatsächlich unterstellt diese Interpretation Antonionis Film eine narrative Konventionalität, die er zu keinem Augenblick besitzt. Anstatt in die eher banale Erkenntnis zu münden, zwei Liebende hätten sich aufgrund charakterlicher Inkompatibilität getrennt, zielt das Ende von L'eclisse darauf, dem Zuschauer das Wissen darum, was er da eigentlich sieht, immer weiter zu entziehen. Denn je länger man diese Bilder verfolgt, in denen sich Gegenwärtigkeit und Abwesenheit Vittorias und Pieros so eigentümlich vermischen, desto rätselhafter erscheinen sie: Die Tonne leckt, und die Kamera verfolgt das Wasser, wie es über Gras und Erde fließt und schließlich in der Gosse verrinnt – aber wer hat das Loch in die Tonne geschlagen und warum? Eine Frau steht an einer Haltestelle und wartet auf einen Bus, der nicht kommt, ungeduldig Ausschau haltend; eine andere Frau steht an einer Straßenecke, ebenfalls wartend offenbar, aber nicht auf den Bus, der mit quietschenden Reifen an ihr vorbei und um eine Kurve fährt – warum kam der Bus zunächst nicht und dann doch, und was macht die Frau an der Straßenecke? Ein Mann verlässt den Bus; die Zeitung, die er liest, kündet vom atomaren Wettrüsten und dem brüchigen Frieden; in die Lektüre vertieft, geht er in Richtung von spielenden Kindern. Zwei Jungen laufen auf eine Wiese, ein Arbeiter stellt den Rasensprenger ab, der die Wiese bewässert, eine Einstellung zeigt die in den Blättern glitzernden 17 Thomas Christen spricht in diesem Zusammenhang von einer »Präsenz der Dinge«, der eine »Absenz der Protagonisten« gegenüberstehe. Vgl. Thomas Christen: Das Ende im Spielfilm. Vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen, Marburg 2002, S. 144. 18 »Um Acht. Der übliche Ort.« 19 Vgl. z.B. P. A. Sitney, Vital Crises in Italian Cinema, S. 158f., und David Bordwell/Kristin Thompson: Film Art. An Introduction, New York u.a 2004, S. 82. Thomas Christen greift diese Deutung auf, betont allerdings, dass es letztlich gar nicht darum ginge, was aus den beiden geworden ist. Vgl. T. Christen, Das Ende im Spielfilm, S. 144-148.

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Die Stadt als Un-Ort Tropfen, die darauf folgende die weiß gestrichene Seite eines Hauses mit vorspringenden Balkonen, auf dessen Dach ein Mann und eine Frau stehen, die ein Flugzeug betrachten, das seine Bahn durch den weiten Abendhimmel zieht. Aber was hat das alles miteinander zu tun? Das Wettrüsten und die Kinderspiele, die Wassertropfen und die Balkone, die Liebe, die bestehen mag zwischen Vittoria und Piero, und die Dämmerung, die sich nun langsam über die Straßen senkt? Es sind ja alltägliche und alltäglichste Vorgänge, die Antonioni hier vorstellt. Streng genommen ist nichts geheimnisvoll an den Menschen oder ihrer Umgebung; eigentlich gibt es nichts, was überhaupt nach einer Erklärung verlangen würde. Und dennoch verwandeln sich das Viertel, die Stadt mehr und mehr in einen Un-Ort: etwas, womit man sich nicht auskennen kann. Antonioni erzielt diese Wirkung, indem er seine Bilder entsprechend einer Kompositionslogik ordnet, der etwas Strenges und zugleich Assoziatives anhaftet, da sie sich nicht über den Zusammenhang des Dargestellten erschließt, ebenso wie der Wechsel der Einstellungsgrößen, -winkel und -längen mitnichten willkürlich erscheint, sich aber auch keinen Gesetzmäßigkeiten fügt, die sich aus gängigen Vorstellungen davon, was ein Film sein soll, ableiten lassen. Wenn der Zuschauer dann schließlich angespannte Gesichter sieht, Blicke, deren Ziel ihm die Kamera vorenthält, und sich die Straßen mit der hereinbrechenden Nacht immer weiter leeren, dann vermag das Bild der hell strahlenden Laterne, mit dem L'eclisse endet, einzustehen für die umfassende und endgültige Vernichtung, welche die Zeitung heraufziehen sah.20 Dann ist

20 Vgl. zu dieser Lesart P.A. Sitney, Vital Crises in Italian Cinema, S, 158f. Hingegen interpretiert Matthias Bauer den Schluss von L’eclisse in exklusiver Bezugnahme auf die erotischen Verwicklungen zwischen Vittoria und Piero. Vgl. Matthias Bauer: »Die Erscheinung des Verschwindens. Michelangelo Antonioni, das romanhafte Abenteuer der Liebe und die Poetik des triangulären Begehrens«, in: Thomas Koebner/Irmbert Schenk (Hg.), Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, München 2008, S. 99-112, hier S. 107f. Irmbert Schenk spricht gar von »einer Art Mini-Dokumentarfilm über die Stadtlandschaft und die Menschen des römischen EUR-Viertels«. Vgl. I. Schenk, Antonionis radikaler ästhetischer Aufbruch, S. 71. Weit komplexer ist die Deutung Sandro Bernardis, für den die letzten Minuten des Films an eine Science-FictionPhantasie gemahnen, ob der eigentümlichen Leere und Entvölkertheit der Stadt, die Antonionis Arrangement zugleich eine prähistorische Anmutung verleiht: »[…] la ville semble retourner à la nature, au silence, à la vie primordiale de ses habitants qui, tels des animaux, rentrent chez

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Daniel Illger es, als hätte Antonioni hier den letzten Abend der Menschheit inszeniert. Oder aber es verhält sich ganz anders, und L'eclisse nimmt die furchtbare Bedrohung – mag sein jene Verdunkelung, die der Film im Titel trägt – zum Anlass, um gewissermaßen wahllos die Schönheit der Welt zu feiern mit einem Ende, das eben nicht nur Irritation und Bedrückung zeitigt, sondern dem im selben Moment ein schwer fasslicher Zauber eignet. Ein Zauber, der vielleicht – mehr noch als in den Nuancen des Lichts, der Feinheit der Texturen, der Plastizität dieser entrückten Welt also – gerade darin zum Ausdruck kommt, dass Antonioni das Ohr eines alten Mannes hier ebenso eine Detailaufnahme wert ist wie ein Rinnsal, das ein bisschen Dreck wegspült. In dieser Perspektive liegt der Sinn der ästhetischen Konstruktion von L'eclisse darin – sowohl in der konkreten Historizität der Bilder als auch in ihrer eigentümlichen Unzeitlichkeit; sowohl in der Beklemmung, die sie erwecken, als auch in ihrer Schönheit –, eine Wahrnehmungswelt zu entfalten, innerhalb derer sich die Potentialitäten einer Gemeinschaft und des Lebens innerhalb dieser Gemeinschaft, die Vittoria, Piero und der Zuschauer als Widerfahrnis erleben, denken lassen. Was sich von diesen Potentialitäten realisiert, ist eine offene Frage. Es ist aber tatsächlich eine emphatisch offene Frage, denn Antonioni ist, wie Deleuze schreibt, kein Autor, der die Unmöglichkeit zur Kommunikation in dieser Welt beklagt. Die Welt ist einfach in herrlichen Farben gemalt, während die sich in ihnen ausbreitenden Körper noch geist- und farblos sind. Die Welt hofft auf ihre Bewohner, die noch in der Neurose versunken sind.21

Was nun hat das alles mit profaner Mystik zu tun? L'eclisse bedient sich der Konventionen des filmischen Realismus, um die Grenzen dieses ästhetischen Konzepts immer wieder gezielt zu überschreiten. Antonioni sucht das »Andere, Fremde, Unbenennbare« gerade im Vertrauten zu entdecken: in seiner Gegenwart, in der Großstadt, im bürgerlichen Milieu. Es geht dem Regisseur also darum, ein zeitliches, räumliches und soziales Umfeld, das sowohl ihm selbst als auch seinem Publikum aus der unmittelbaren Alltagserfahrung nur zu bekannt war, zumindest punktuell in eine verrätselte Zauberwelt zu transformieren: ein pilzförmiger Wasserturm wird zu einem Artefakt aus einer unvordenklichen eux.« Sandro Bernardi: Antonioni. Personnage paysage, Saint-Denis 2006, S. 114. 21 G. Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 264.

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Die Stadt als Un-Ort oder kaum erahnbaren Epoche, ein nächtlicher Park verwandelt sich in ein Märchenland, in dem das Unbelebte zu kommunizieren beginnt, und das Dämmerlicht in einem Viertel der Trabantenstadt EUR führt die Welt an ihr Ende oder zurück zu einem Augenblick, als sie noch jung war. Wenn Antonioni die Metropole Rom – und zwar dort, wo sie am wenigsten antik ist – in einen Un-Ort verwandelt, so allerdings nicht um einer »unkritischen Rückwendung« willen, sondern in der Tat, um seine »spezifisch moderne Situation mit der Erfahrung der Mystiker zu vermitteln und in ihr aufzuheben«. Es ist eine höchst aktuelle Idee von Gemeinschaft, die er den Zuschauern mit L'eclisse erfahrbar machen will – die Idee einer Gemeinschaft, die sich in Auflösung befindet, nicht einmal die Illusion einer Heimstatt mehr bietet, vielleicht gar auf ihre finale Auslöschung zusteuert, aber vielleicht eben nur. Dass Antonioni hierzu eine Ästhetik bemüht, die zumindest gewisse Ähnlichkeiten mit einer modernen Vorstellung von Mystik aufweist, könnte darauf hindeuten, dass der sozialen Wirklichkeit seiner (und unserer) Zeit mit dem Handwerkszeug eines schlichten Realismus nicht unbedingt mehr beizukommen ist.

Literatur Amthor, Wiebke/Brittnacher, Hans R./Hallacker, Anja: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Profane Mystik? Andacht und Ekstase in Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 9-21. Bauer, Matthias: »Die Erscheinung des Verschwindens. Michelangelo Antonioni, das romanhafte Abenteuer der Liebe und die Poetik des triangulären Begehrens«, in: Thomas Koebner/Irmbert Schenk (Hg.), Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, München 2008, S. 99-112. Bernardi, Sandro: Antonioni. Personnage paysage, Saint-Denis 2006. Bordwell, David/Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction, New York u.a. 2004. Brunetta, Gian Piero: Guida alla storia del cinema italiano. 19052003, Turin 2003. Christen, Thomas: Das Ende im Spielfilm. Vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen, Marburg 2002. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2 (1985), Frankfurt a. M. 1991.

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Daniel Illger Felten, Uta: »Träumer und Nomaden. Zum figuralen Muster der Suche im Film von Michelangelo Antonioni«, in: Thomas Koebner/Irmbert Schenk (Hg.), Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, München 2008, S. 90-98. Landy, Marcia: Italian Film, Cambridge u.a. 2000. Lenssen, Claudia: »Kommentierte Filmographie«, in: Michelangelo Antonioni, Reihe Film, Bd. 31, hg. von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte, München/Wien 1984, S. 75-234. Morandini, Morando: »Italien: Vom Faschismus zum NeoRealismus«, in: Geoffrey Nowell Smith (Hg.), Geschichte des internationalen Films, Stuttgart/Weimar 1998, 318-326. Prümm, Karl: »Antonioni auf Weltreise. Bilder-Bewegungen in ›Blow up‹ und ›Zabriskie point‹«, in: Thomas Koebner/Irmbert Schenk (Hg.), Das goldene ´Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, München 2008, S. 113-128. Rancière, Jacques: »Die Geschichtlichkeit des Films«, in: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, S. 230-246. Schenk, Irmbert: »Antonionis radikaler ästhetischer Aufbruch. Zwischen Moderne und Postmoderne«, in: Thomas Koebner/Irmbert Schenk (Hg.), Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre, München 2008, S. 67-89. Shiel, Mark: Italian Neorealism. Rebuilding the Cinematic City, London/New York 2006. Sitney, P. Adams: Vital Crises in Italian Cinema. Iconography, Stylistics, Politics, Austin 1995. Sorlin, Pierre: European Cinemas, European Societies 1939-1990, London/New York 1991. Sorlin, Pierre: Italian National Cinema. 1896-1996, London/New York 1996. Wagner-Egelhaaf, Martina: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989.

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Logoklasmus? Konrad Fiedler über Sprache und Sichtbarkeit JAN WÖPKING Bilderdenken im 20. Jahrhundert war von der Frage nach einem anderen Sehen fasziniert. Was anderes Sehen dabei in positiver Bestimmung sein sollte, war oft weniger klar, als das, was es nicht sein sollte: ein Sehen, das durch Worte, Begriffe oder Konventionen kontaminiert ist. Die Vorgeschichte solcherart gereinigten Sehens beginnt spätestens um 1800. Hier lässt sich eine zunehmende Sprach- und Begriffsskepsis im Nachdenken über Bilder, Sehen und Sichtbarkeit verzeichnen. Bild und Wort, Sehen und Denken werden fortan als zwei Reiche entworfen, zwischen denen es keine Grenzüberschreitungen geben dürfe.1 Um 1900 erreicht die Entfremdung einen neuen Höhepunkt: Neben einer scharfen Begriffskritik, wie sie sich etwa bei Hofmannsthal oder Nietzsche findet, entwickelt sich die Idee einer Eigengesetzlichkeit des Visuellen, die mit begrifflichen Zugängen nur zu verfehlen oder unterwerfen sei. Konrad Fiedlers Arbeiten werden oft als radikalste Formulierungen eines solchen »reinen Sehens« begriffen.2 Obwohl Fiedler alles andere als ein kanonischer oder auch nur bekannter Autor geworden ist, haben seine Ideen doch die Entwicklung insbesondere der deutschsprachigen Bild- und Sehtheorie im 20. Jahrhundert teils erheblich beeinflusst: So unterschiedliche Denker wie Warburg, Cassirer, Croce, Gehlen oder Imdahl, in jüngerer Zeit vor allem Gottfried Boehm und Lambert Wiesing, knüpfen in ihren Theorien des Bildes und der Kunst wesentlich an Fiedler an. Der Aufsatz will Fiedlers Theorie der visuellen Kunst rekonstruieren, auch und gerade seine Konzeption des reinen Sehens. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Überprüfung der bis 1

2

Vgl. dazu, wie überhaupt zur ganzen Thematik, Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900, Tübingen 2006. Vgl. etwa ebd., S. 5.

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Jan Wöpking heute dominierenden Rezeptionslinie, die prägnant zusammengefasst lautet: »Nirgends wurde das Auseinandertreten von Sehen und Sagen schärfer formuliert als in Fiedlers Proklamation einer sprachlosen Sichtbarkeit«.3 Dagegen möchte ich die oftmals erstaunliche Dialektik und die wechselseitigen Bezugnahmen zwischen Sag- und Sichtbarem bei Fiedler betonen. Dazu sollen vier zentrale Schnittpunkte der beiden Gebiete untersucht werden: erstens Fiedlers Formulierung einer Kulturtheorie, die auf dem Begriff der Sprache gründet, zweitens seine Kritik am begrifflichen und anschaulichen Schematismus, drittens sein Entwurf einer reinen Sichtbarkeit als entbegrifflichter Anschauung, viertens seine Andeutungen zur Stellung von sprachlicher Kunst, der Dichtung. Der Aufsatz verhandelt ein weiteres, damit zusammenhängendes Anliegen: Der mystische Gehalt von Fiedlers Denken soll eingeschätzt werden. Im 20. Jahrhundert war es oft ein kurzer Weg von der Formulierung eines anderen Sehens zu der Behauptung des Visuellen als des ganz Anderem von Sprache. Auch Fiedlers Begriff der reinen Sichtbarkeit wird in diesem Zusammenhang oft als Kronzeuge bemüht. Doch die Forschung hat Fiedler andererseits oft ebenso klar als antimystischen Positivisten beschrieben. Ich möchte zeigen, dass Fiedler weder eindeutig Positivismus noch Mystizismus betrieben hat. Die Bruchlinie zwischen beiden Sphären verläuft vielmehr auf dissonante Weise in seinem Text selbst.

I. Welt und Sprache Fiedler entwickelt seine Theorie der reinen Sichtbarkeit in einer Reihe von Schriften, deren Brennpunkt die Monografie Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit von 1887 ausmacht. Doch auch in seinen weiteren Schriften, vor allem aber in den zu Lebzeiten unveröffentlichten Notizen finden sich konstitutive Überlegungen. Sie alle machen deutlich: Wer Fiedler als ausschließlichen Kunsttheoretiker versteht, verkennt ihn. Fiedlers Frage nach dem Wesen von Kunst war stets aufs engste mit Grundfragen der Philosophie verknüpft. Seine »compact but very abstract« Theorie der Kunst steht bei ihm im Kontext eines umfassenden Programms zur philosophischen Neubestimmung der Mensch-

3

Ebd., S. 124.

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Logoklasmus? Welt-Beziehung.4 Leitend ist dabei eine scharfe Absage an jede Form von Repräsentationstheorie und im Gegenzug die Etablierung einer Maxime der Produktion. Fiedler weist immer wieder Theorien zurück, die von einer Repräsentation von Welt in irgendwie gearteten symbolischen Systemen ausgehen. Es handelt sich dabei, so Fiedler, um eine Illusion, die zwar pragmatische (Seelenruhe, Handlungsermächtigung), aber keine metaphysische Berechtigung aufweist. Er setzt dagegen die idealistische These, dass »alles Außer-uns auf ein In-uns hinausläuft, daß von einem Sein zu reden nur soweit einen vernünftigen Sinn hat, als ein solches in unserem Bewußtsein erscheint […]«. 5 Die primäre Ursubstanz der Welt macht er in einem »ewigen Fluß des Sinnlichen« aus, einem Bewusstseinsstrom, einem Gemisch aus Sinnesempfindungen, Gefühlen, Vorstellungen, das formlos, flüchtig und dunkel an der Schwelle des Bewusstseins spielt.6 In einer »inneren Werkstatt« wird dieses amorphe Sinnenchaos zur »faßbaren Form« emporgebildet.7 Fiedler gibt dafür eine großartige Beschreibung, in der er die Instantaneität und Instabilität der so entstehenden Wirklichkeit betont: Der Blick in die innere Werkstatt, in der die Bestandteile des Weltbildes erst entstehen müssen, wenn sie ein Sein für uns gewinnen sollen, läßt uns nicht einen festen Besitz an fertigen Gestalten gewahren, vielmehr enthüllt sich ihm ein rastloses Werden und Vergehen, eine Unendlichkeit von Vorgängen, in denen die Elemente alles Seins in den mannigfaltigsten Arten auf den mannigfachsten Stufen ihrer Verarbeitung erscheinen, ohne daß das flüchtige, sich immer erneuernde Material jemals zu festen, unveränderlichen Formen erstarrte; es ist ein Kommen und Gehen, ein Auftauchen und Verschwinden, ein Sichbilden und Sichauflösen von Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen, ein ununterbrochenes Spiel, nie einen Augenblick zu einem beharrenden Zustand gelangend, sondern rastlos sich bildend, sich umbildend.8

Entscheidend ist, dass Fiedler den Vorgang der Herausbildung begreifbarer Formen als Erkenntnisprozess begreift. Erkenntnis ist für ihn nicht das korrekte Repräsentieren einer präexistenten 4

5 6 7 8

Michael Podro: The Manifold in Perception. Theories of Art from Kant to Hildebrand, Oxford 1972, S. 111. Vgl. auch Konrad Fiedler: Schriften zur Kunst, 2 Bde, hg. von Gottfried Boehm, 2. Auflage, München 1991, Band 1, S. 113. Ebd., S. 118. K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 70. Ebd., S. 119. Ebd.

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Jan Wöpking Welt, sondern die Produktion eines klaren und deutlichen Wirklichkeitsbewusstseins. Erkennen ist für Fiedler synonym mit Gestalten, Formen, Bilden.9 Ausgehend von diesen Grundprinzipien entwirft Fiedler eine 3-Stufen-Lehre der Entwicklung des menschlichen Geistes.10 Von Chaos zu Deutlichkeit, von Dunkelheit zu Licht entwickelt sich der Geist von einem amorphen chaotischen Bewusstseinsstrom zu der sogenannten »Vorstellungswelt«11, der Welt des Alltags, einer »Art geistigen Mittelreiches«,12 von Fiedler abfällig auch »Durchschnittsanschauung der Menge« genannt. Hier geschieht die Produktion von Welt mittels einer Menge tradierter, konventioneller Formen unbewusst und instantan. Schließlich gibt es die Ebene bewusster, dynamischer, arbeitsintensiver, ständiger Weltbildung, sie wird durch Wissenschaft und Kunst realisiert.13 Fiedlers Schema sieht ganz nach positivistischem Fortschrittsgeist des 19. Jahrhunderts aus.14 Was ihn davon abhebt, ist, dass er die Entwicklung des Geistes nicht durch eine dominierende Form der Weltproduktion, sondern durch eine Mehrzahl von gleichberechtigten Produktionsweisen verwirklicht sieht. Er behauptet, »daß wir das Sein irgend eines Gegenstandes und somit der gesamten Wirklichkeit nicht als an einen bestimmten einheitlichen Entwicklungsprozeß in unserem Bewußtsein gebunden erachten können, sondern daß dieses Sein tatsächlich ein mannigfaltiges ist«.15 Dabei nimmt Fiedler mit der philosophischen Tradition, insbesondere mit Kant, an, dass es 9

10

11 12 13 14 15

Vgl. etwa: »Die sogenannte erkennende Tätigkeit stellt sich […] als eine gestaltende dar […]«. K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 176. Vgl. dazu auch Stefan Majetschak: »Die Sprachlichkeit der Kunst. Konrad Fiedlers Sprach- und Kunsttheorie im Lichte der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München 1997, S. 113-126, hier S. 119. Eine Art Phänomenologie des Geistes also, insofern man darunter die Beschreibung und Analyse der verschiedenen Stadien verstehen möchte, in denen der menschliche Geist primär gegebenes Sinneschaos in stabile Wirklichkeitsbilder transformiert. K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 122. Ebd. K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 154. Dazu M. Podro: The Manifold in Perception, S. 112. K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 140. Man kann Fiedler hier als Vorläufer der deutlich späteren, dafür umso wirkmächtigeren Pluralisierung der symbolischen Formen durch Ernst Cassirer lesen. Zur Verbindung von Cassirer und Fiedler vgl. Heinz Paetzold: »Fiedler und Cassirer«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München 1997, S. 209-219.

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Logoklasmus? zwei und nur zwei Hauptformen gibt, in denen Welt erfahren werden kann: Begriff und Anschauung. Alle »menschlichen Ausdrucksformen« lassen sich in diese beiden Klassen einteilen: Entweder führen sie zu einem begrifflichen oder zu einem anschaulichen Weltbild. Fiedler spricht auch von diskursivem und intuitivem Weltbewusstsein.16 Dabei scheint es zunächst, als würde Fiedler die beiden Bereiche als homogene Einheiten begreifen. Tatsächlich aber unterzieht er sie einer mehrfachen Binnendifferenzierung: erstens nach dem jeweiligen Entwicklungsgrad, der in einer Ausdrucksweise vorliegt (von der primitiven Geste bis zur komplexen Kunst, von kindlicher Namensgebung bis zu theoretischer Wissenschaft), zweitens aber auch nach kategorial verschiedenen Unterformen. So ist die bildende Kunst, die das Hauptinteresse von Fiedlers weiteren Überlegungen bildet, eine unter mehreren Formen der Kunst, die wiederum die höchste Entwicklungsstufe von intuitivem Bewusstsein darstellt. Fiedlers Argumentation besteht im Folgenden wesentlich aus einer weitgehenden Parallelisierung von diskursivem und intuitivem Bewusstsein. Dies betrifft insbesondere sechs Punkte: 1. Grundlegend ist die These, dass beide Formen den gleichen Zweck verfolgen: eine klare, bestimmte, einheitliche Form von Weltbewusstsein zu schaffen. Dies ist für Fiedler das Anliegen jeder Form von Weltproduktion, und sei sie noch so rudimentär. Schade ist, nebenbei bemerkt, dass Fiedler sich fast ausschließlich zu den hochentwickelten Stufen von Wissenschaft und Kunst äußert und die Anfänge des Weltbewusstseins nur streift. Für die höheren Formen gilt, dass der Platz, den die theoretische Wissenschaft für das begriffliche Weltbild besitzt, auf dem Gebiet der Anschauung von der Kunst eingenommen wird. Zwei typische Zitate: »Alle Wissenschaft ist Entwicklung, Ausbildung des diskursiven Bewußtseins, alle Kunst ist Entwicklung, Ausbildung des intuitiven Bewußtseins«.17 Und: »Alle Kunst ist Entwicklung von Vorstellungen, sowie alles Denken Entwicklung von Begriffen ist«.18 Originell an Fiedlers Position ist also die epistemische Aufwertung der Anschauung in den Rang eines Erkenntnisvermögens. Das bedeutet zugleich eine Pluralisierung des Begriffs der Erkenntnis über die Grenzen des Begrifflichen hinaus: Erkenntnis kann es

16 In Anlehnung an Kant, vgl. K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 64. 17 Ebd., S. 35. 18 Ebd., S. 33.

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Jan Wöpking auch ohne Begriff geben.19 Die reine Sichtbarkeit, um die es in der visuellen Kunst geht, ist eine solche Form nicht-begrifflicher Erkenntnis. Fiedler »hatte Kontakt mit der nichtbegrifflichen Intellektualität des Auges«, formuliert etwa Gehlen dementsprechend.20 Erkenntnis wiederum ist, wie bereits beschrieben, nichts anderes als Formung. 2. Für jede Wirklichkeitsform gelten die Grundsätze der Immanenz und der Produktion.21 Das bedeutet: Sie kann nur sich selbst bedeuten. Sie referiert auf nichts, bildet nichts ab: weder Elemente einer subjektunabhängigen Welt (die es nicht gibt) noch Elemente einer anderen, vom Subjekt produzierten Welt: »Jedes Vorkommnis bedeutet nur sich selbst, und der Schein, daß es eine Bedeutung besitze, die von ihm verschieden sei, und es überrage, beruht darauf, daß sich auf dem Wege der Assoziation andere Vorkommnisse mit ihm verbinden«.22 Die Komplementärthese dagegen ist, dass jede Wirklichkeitsform produziert statt repräsentiert. Sie stellt die Wirklichkeit, die sie zeigt, her. Genauer: Dieses Zeigen ist die Produktion. 3. Fiedler führt eine historisch neue und wegweisende Argumentationsstrategie für die epistemische Gleichwertigkeit von Begriff und Anschauung ein.23 Es handelt sich dabei um eine zunächst paradox erscheinende Bewegung, denn: Fiedler begreift Anschauung und Kunst als Sprache. Er spricht der Anschauung die Welt bildende Kraft von Sprache zu, ohne aber damit zugleich Anschauung als etwas Begriffliches zu fassen. Für diesen Coup geht er so vor: Zunächst identifiziert er die Eigenschaften, die für die Welt bildende Kraft von Sprache verantwortlich sind. Anschließend generalisiert er diese zu allgemeinen Kriterien und behauptet, dass diese auf prinzipiell verschiedene Art verwirklicht werden können. Schließlich erklärt er, dass auch Anschauung in der Lage ist, in diesem Sinne Sprache zu sein. Deshalb spricht er immer wieder von der Sprache, die Künstler sprechen, oder von der Sprachfähigkeit des Auges.24 Das meint nicht, dass Kunst 19 Lambert Wiesing: »Konrad Fiedler«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Klassiker der Kunstphilosophie. Von Platon bis Lyotard, München 2005, S. 179198, hier S. 182f. 20 Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a. M. /Bonn 1960, S. 61. 21 Vgl. G. Boehm: »Einleitung«, S. XLVII-LI. 22 K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 137. 23 Dazu S. Majetschak: »Die Sprachlichkeit der Kunst«, S. 121f. 24 Dazu auch L. Wiesing: »Konrad Fiedler«, und S. Majetschak: »Die Sprachlichkeit der Kunst«.

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Logoklasmus? oder Auge Begriffe verwenden, sondern dass sie in der Lage sind, ein vollständiges, rationales Weltbild zu schaffen. Hintergrund für diese Überlegungen ist die Idee von Sprache als Welt bildender Kraft, wie sie mit dem Namen Wilhelm von Humboldt verknüpft ist. Für Fiedler also ist Sprache mehr als nur Begriff. Sprache im weitesten Sinne bedeutet für ihn: Fähigkeit zu Welt bildender Kraft, Produktion statt Repräsentation, ein Abzielen auf Klarheit, Bestimmtheit und Kohärenz. Er behauptet gerade nicht, dass Anschauung und Sprache einander entgegenstehen, sondern will umgekehrt Anschauung gerade zu einer Form von Sprache aufwerten – wohlgemerkt, Sprache hier verstanden als Medium von Weltbildung. 4. Das allgemeine Kriterium, das von jeder Form, die Anspruch auf das derart allgemein verstandene Prädikat ›sprachfähig‹ erheben will, erfüllt werden muss, lautet: Fähigkeit zur unendlichen Entwicklung. Das bedeutet, dass sie mehr sein muss als bloßer sinnlicher Bewusstseinsstrom (dieser markiert gleichsam den Nullpunkt jedes Weltbewusstseins). Weltbewusstsein ist vielmehr die Artikulation und Formung eines Weltbildes. Bewusstsein einer Welt zu haben, Formung und Erkennen sind für Fiedler drei Aspekte desselben Geschehens. Je klarer und präziser dabei der Wirklichkeitsbesitz, desto höher der Grad an Entwicklung, und umgekehrt. Dabei muss für Fiedler jede solche Entwicklung immer unendlich sein, d.h. prinzipiell unabschließbar, unbeendbar. Es gibt keine Grenze der Erkenntnis, keine letzte Form, in der Welt endgültig vorliegen könnte. Es gehört vielmehr konstitutiv zu einer Wirklichkeitsform, dass sie fundamental offen, unabschließbar ist, dass sie in sich die Möglichkeit und den Drang nach weitergehender Differenzierung, Umwälzung, Neuformulierung usw. aufweist. Damit einher geht eine Instabilität allen Bewusstseins. Entwicklung wird von Fiedler als zutiefst dynamischer Prozess entworfen. Bewusstsein von Welt ist nicht etwas, das man hat oder besitzt, sondern etwas, das man herstellt und das man nur so lange hat, wie man es herstellt. 5. Eine weitere Bedingung kommt hinzu. Weltbewusstsein, obwohl Fiedler es als eine Form von Denken oder Erkennen begreift, ist nur dort möglich, wo es zu einer »mechanischen Tätigkeit« des Subjektes, zu einer Arbeit an einem Stoff kommt.25 Fiedler formuliert hier eine Art Medienabhängigkeit von Weltproduktion. Das Subjekt kann nur im tätigen Vollzug an einem Stoff ein klares Wirklichkeitsbild entwickeln. Nur indirekt, nur vermit25 K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 190.

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Jan Wöpking telt über die Externalisierung in einem geeigneten Medium lässt sich ein Wirklichkeitsbesitz ausformen. Wenn Fiedler von Produktion von Welt spricht, hat das also eine ganz praktische Seite. Immer wieder betont er die Arbeitsleistung des Subjekts, die nur an einem Stoff, der das Potential zur Gliederung und Strukturierung aufweist, stattfinden kann. Ohne öffentliche Sprache kann es für Fiedler keine Begriffe geben. Ohne zeichnende Hand und Leinwand keine Kunst. Dabei dient das externe Medium nicht dazu, präexistente Gedanken auszudrücken. Vielmehr ist es der Ort, an und in dem die Formung stattfindet. Nur externes, Zeit überdauerndes Material garantiert die Möglichkeit kontinuierlicher Weiterbearbeitung und damit von Entwicklung. 6. Die Hauptdifferenz beider Formen liegt in der unterschiedlichen Architektonik der entstehenden Welten: Die Elemente der diskursiven Welt sind erstens begrifflich erfassbar, können also benannt, bezeichnet, verglichen und kategorisiert werden, und unterliegen zweitens einer kausalen »Kette«, welche sie nomologisch verbindet.26 Aufgabe des intuitiven Bewusstseins, insbesondere in der Kunst, ist hingegen eine Art Kritik der ikonischen Vernunft.27 Sie hat sowohl eine kritische als auch eine positive Funktion: Zum einen reflektiert sie über die Bedingungen und Möglichkeiten von Anschauung, zeigt auf, was überhaupt erfahrbar ist und was sich jenseits der Erfahrungsmöglichkeit findet. Sie analysiert damit die »Infrastruktur der Sinnlichkeit«.28 Zum anderen formt sie in ihren Arbeiten diese Infrastruktur um, macht sie differenzierter, systematischer, einheitlicher oder verwirft sie, führt neue Formen ein und damit eine neue Art von Wirklichkeit. Hier sieht Fiedler den eigentlichen Wert der Kunst. Sie ist erfolgreich, wenn sie »der Welt eine neue Seite abgewinnt und somit die Welt durch eine neue Art der Anschauung bereichert«.29

K RITIK

DES LOGOZENTRISCHEN

V ORURTEILS

Fiedler sieht seine Behauptung einer strukturellen Gleichheit von diskursivem und intuitivem Bewusstsein im Widerspruch mit der vorherrschenden Meinung seiner Zeit, sowohl der alltäglichen als

26 Ebd., S. 68f. 27 Vgl. Martina Heßler/Dieter Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009. 28 L. Wiesing: »Konrad Fiedler«, S. 190. 29 K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 43.

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Logoklasmus? auch der philosophischen. Während Wissenschaft als zivilisatorisches Optimum mit dem Ziel der Erkenntnis von Welt gilt, wird der Zweck von Kunst in ihr äußeren, sekundären Eigenschaften gesehen. Kunst ist das Medium der Schönheit, der Empfindungen, der Bedeutungen – nicht aber Medium der Erkenntnis. Verantwortlich dafür ist Fiedler zufolge ein logozentrisches Vorurteil, das die Philosophie seit ihren antiken Ursprüngen durchzieht, mehr noch, das konstitutiv für die Begründung der Philosophie überhaupt gewesen ist. Dieses erkennt im Begriff »das universale Mittel zur Bezeichnung, zum Ausdruck von allem und jedem, was auf das Prädikat des Seins Anspruch machen kann«.30 Es ist Sokrates gewesen, der, in der Verteidigung des begrifflichen Wissens gegenüber den kritischen Einwänden der Sophisten, am Ursprung dieses Logozentrismus steht: »Das Wissen des Sokrates ist aber ein rein begriffliches. […] Nur das Wissen um den Begriff ist ihm ein wahres Wissen.«31 Diese wirkmächtige Verabsolutierung des Begriffs führt dann zu der – noch zu Fiedlers Zeiten herrschenden – Überzeugung, »daß alles Denken diskursiv sei, daß alle Erkenntnis nur an den sprachlichen Ausdruck gebunden sein könne«.32 Daraus wiederum folgt die Beschränkung der Rolle von Sinnlichkeit darauf, »dem begrifflichen Denken Stoff [zu] liefern und dadurch Erkenntnis möglich [zu] machen«.33 Sinnlichkeit hat in der Tradition, die Fiedler angreift, ausschließlich kundgebende Funktion.34 Sie ist Instrument, Mittel zum Zweck. Weite Teile von Fiedlers Schriften bestehen in oft polemischer, stets aber vehementer Kritik an dieser Auffassung. Unter seinen vielen Vorwürfen sticht einer hervor: Die Standardauffassung überschätzt die Reichweite diskursiver Erkenntnis im gleichen Maße, wie sie die epistemische Kraft intuitiver Erkenntnis unterschätzt. Fiedler argumentiert, dass Anschauung – insbesondere in

30 K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 115. 31 Ebd., S. 209. Dazu auch Angelica Horn: »Die Grenzen der sokratischen Erkenntnislust. Konrad Fiedler und Friedrich Nietzsche«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München 1997, S. 147-167. 32 K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 208. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Fiedler die Zuschreibung »sprachlich« unterschiedlich verwendet: Einerseits zur Kennzeichnung diskursiver Sprache, anderseits zur Kennzeichnung von Sprachlichkeit im Sinne von Weltproduktion. Das kann teilweise zu Verwirrung führen. Im Zitat ist offenbar diskursive Sprachlichkeit gemeint. 33 K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 64. 34 Vgl. z.B. K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 137.

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Jan Wöpking ihrer entwickelten Form in der Kunst – ein Weltbild aufbauen kann. Doch warum sollte sie das überhaupt tun? Warum brauchen wir intuitive Erkenntnis? Fiedlers Antwort ist: weil die Welt, wie sie begrifflich erfassbar ist, nicht ausreicht. Die begriffliche Welt ist nicht die ganze Welt. Es gibt Dinge, die sich auf begriffliche Weise nicht sagen lassen. Die begriffliche Sprache kann nichts ausdrücken, nichts entwickeln außer ihrer selbst (Immanenzprinzip). Immer wieder beschreibt Fiedler, wie sich im Moment der begrifflichen Erfassung sinnlichen Bewusstseinsinhalts der so erfasste Inhalt radikal verändert. Es findet ein qualitativer, ein kategorialer Sprung statt, wenn aus Sinnlichkeit Sinn wird. Eine Kluft entsteht, die nicht zu überbrücken ist. In demselben Augenblicke, in welchem der Mensch sich der Wirklichkeit, die ihm in jenen reichen aber flüchtigen unbestimmten und unvollendeten Bewußtseinszuständen gegeben ist, in der sprachlichen Form zu bemächtigen meint, entschwindet ihm das, was er erfassen möchte, und er sieht sich einer Wirklichkeit gegenüber, die eine ganze andere neue Form gewonnen hat. Nicht ein Ausdruck für ein Sein liegt in der Sprache vor, sondern eine Form des Seins.35

Die Entstehung der Sprache gleicht damit gerade keinem Kristallisationsprozeß, in dem die Stoffe zu einer bestimmten Form zusammentreten, um nur noch in dieser Form fortzubestehen; vielmehr gleicht das Wort der Blüte, der Frucht einer Pflanze; diese entwickelt in der Blüte, in der Frucht etwas aus sich heraus, was sie selbst nicht mehr ist, es tritt eine Metamorphose ein, aber sie selbst geht dabei nicht zu Grunde.36

Der Begriff entsteht zwar gleichsam organisch aus dem sinnlichen Bewusstsein, ist aber nach der Entstehung diesem gegenüber unabhängig. Die begrifflich-sprachliche Welt verselbständigt sich gegenüber dem Sinnlichkeitsstrom, aus dem sie entstanden ist, um zu einem selbstbezüglichen Holismus zu werden, zu einer »aus Worten und Begriffszeichen gewobenen Decke […], unter der das Leben der Wirklichkeit fortpulsiert, ohne sich aus einem dunklen Zustande an das Tageslicht emporarbeiten zu können«.37 35 Ebd., S. 120. Hervorhebungen von mir. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 125f. Beat Wyss pointiert: »Die Sprache ist ein selbstbezügliches Gespinst, das die sinnliche Erfahrung zudeckt und ersetzt.« Beat Wyss: »Kunsttheorie als Wortbesitz«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München 1997, S. 41-53, hier S. 47.

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Logoklasmus? Deshalb findet auch keine Entwicklung der Anschauung statt. Fiedler folgert: Mit der begrifflichen Welt, ist der Reichtum menschlicher Befähigung nicht erschöpft […] Es gibt noch andere Arten, sich in der Welt zu fühlen, noch andere Bedürfnisse, aus der Verwirrung des Seienden sich zu einer Form zu erheben, in der Seiendes sich als ein begreifliches Ganzes darstellt.38

Die Gründe, die Fiedler für die Berechtigung eines künstlerischen Weltbildes liefert, sind also letztlich ontologischer Art. Gäbe es keine Kunst, wäre die Wirklichkeit um eine Variante ärmer, würden wir in einer Art ontologischen Armut leben. Uns würde eine Art von Wirklichkeit fehlen, eine Welt, von deren Existenz wir freilich nichts wüssten, die wir also auch nicht vermissen könnten.

II. Kritik des Schematismus Klar ist, dass es Fiedler grundsätzlich um »die Nobilitierung der sinnlichen Erkenntnis und ihre Befreiung vom Joch des Verstandes« geht, wie Gottfried Boehm emphatisch formuliert.39 Dazu bringt er gegen eine Verabsolutierung des theoretischen Wissens eine Pluralisierung der erkennenden Weltzugänge ins Spiel. Doch ebenso gefährlich wie die Verabsolutierung des Diskursiven ist für Fiedler die Marginalisierung der anschaulichen Erkenntnisleistung, wie sie etwa in der bildenden Kunst geschieht. Diese Marginalisierung ist für ihn Folge der verbreiteten Überzeugung, »daß man, um die Welt sinnlich zu besitzen, nur gleichsam die Tore der Sinne zu öffnen brauche, während die geistige Tätigkeit erst beginne, wo es sich darum handle, zu begrifflicher Erkenntnis zu gelangen«.40 Das Sehen wird hier als passive Rezeption beschrieben, die weder Zeit noch Mühe erfordert, die man von der Welt als eine Art Geschenk bekommt.41 Was hier als Sehen schlechthin hypostasiert wird, ist für Fiedler nichts weiter als die »Durchschnittsanschauung der Menge«.42 Er greift sie scharf an:

38 Z.B. K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 188. 39 Gottfried Boehm: »Einleitung. Zur Aktualität von Fiedlers Theorie«, in: Konrad Fiedler, Schriften zur Kunst I, S. XLV–XCVII, hier S. XXVI. 40 K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 124. 41 Die Geschenkmetapher findet sich an verschiedenen Stellen in Fiedlers Schriften, z.B.: Schriften zur Kunst I, S. 129. 42 K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 154.

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Jan Wöpking Die anschaulichen Vorstellungen der Menschen sind nicht stichhaltiger als ihre Begriffe; es herrscht in Bezug auf sie dieselbe Macht des Herkommens, dieselbe bequeme Konvention, dieselbe Trägheit, die sich zufrieden gibt, wenn das Überlieferte, Angelernte nur hinreicht zum Gebrauch des täglichen Lebens.43

Die alltägliche Durchschnittsanschauung ist keine bewusste Produktion, die auf Entwicklung zielt. Sie besteht vielmehr in der reflexartigen Anwendung unbewusster, unhinterfragter, von der Tradition ererbter Konventionen, »schon die ersten Versuche der Kinder, die empfangenen Eindrücke zu Bildern zu gestalten, werden in diesem Sinne geleitet«.44 So wie es auf der Ebene der Sprache einen endlichen Wortschatz gibt, behauptet Fiedler auf der Ebene der Anschauung eine Menge an Formeln, einen Bildschatz: Das Auge ist gleichsam im Besitz eines großes Schatzes an Formeln, auf die es die Eindrücke, die es empfängt, zurückführt und sich so ein Gesichtsbild gestaltet, bei dem es sich begnügt und begnügen kann, sofern nur die Eindrücke vollständig in jene Formeln aufgegangen sind.45

Fiedler spricht von einem »Formalismus der Anschauungen«, dem »unbewußt alle Menschen unterworfen sind«.46 Dieser Formalismus ist auch für den Irrglauben verantwortlich, dass es eine adäquate Bezugnahme von Begriffen auf Anschauungen gäbe. Fiedler streitet hier gegen das, was Kant begründen wollte: einen Schematismus, der zwischen Anschauung und Begriff vermittelt. Fiedler klagt: Im gewöhnlichen Leben läuft alles Sehen auf eine sprachliche Bezeichnung des gesehenen Gegenstandes hinaus, und da der Mensch seine geistige Erziehung damit beginnt, daß ihm die Namen für das eingeprägt werden, was er sinnlich wahrnimmt, so bildet sich zwischen Gesichtsbild und Bezeichnung ein so unmittelbarer Zusammenhang, daß eines das andere bei dem geringsten Anlaß hervorruft. Gerade dadurch aber bildet sich ein Schematismus der Vorstellungen aus, der für jeden sinnlichen Eindruck eine Formel bereit hat, über die der Mensch dann in der Regel nicht hinauskommt.47

43 44 45 46 47

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

63. 131. 157. 131. 127.

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Logoklasmus? Der Schematismus garantiert, dass einer Vorstellung ein Begriff zugewiesen werden kann.48 In der Anschauung soll nichts existieren, was nicht begrifflich erfassbar ist. Erst auf diese Weise konnte überhaupt, so Fiedler, der falsche Eindruck entstehen, das Ganze der Welt ließe sich in der Sprache sagen. Der Eindruck ist falsch, weil nicht die Welt sprachlich erfassbar ist, sondern nur das, was wir für die Welt halten, was aber in Wirklichkeit nichts anderes ist als das Ergebnis formelhaften Sehens. Das gewöhnliche Sehen wird damit zugleich als konservativ entlarvt, in dem Sinne, dass es nur sehen kann und will, wofür es bereits einen Behälter zur Verfügung hat: »das Gefäß ist schon vorhanden, welches die Fülle der Vorstellungen aufnimmt.«49 Das formelhafte Sehen ist zusätzlich durch ein Vergessen seiner eigenen kontingenten Formelhaftigkeit gekennzeichnet. Im Schematismus wird Instabilität der Weltproduktion, die doch eigentlich nur einen Augenblick währt, scheinbar aufgehoben, genauer gesagt, sie wird vergessen. Mit diesem Vergessen der Ursprünge geht zudem eine Verschiebung der Autorschaft einher. Statt in der eigenen Spontaneität wird eine exogene Welt als Ursprung dessen, was man sieht, angenommen. Aus Produktion wird so Rezeption, aus Aktivität Passivität.

S EHEN

WIRD

B LINDHEIT

Wer die Formelhaftigkeit der gewöhnlichen Anschauung erkennt, muss verzweifeln: »[W]o der naive Mensch seine Augen öffnet, um sein Bewußtsein zu erweitern, indem er die freie, weite, herrliche Welt wahrnimmt«, da sieht der Aufgeklärte »nur in ein hergebrachtes Formelwesen und anstatt daß sein Bewußtsein sich erweiterte, scheint es ihm zu verengern«.50 Hier beginnt eine düstere Rotation, in der einem bald das »Sehenkönnen […] wie ein Blindsein erscheinen« muss, in der die sichtbare Welt zum Blendwerk wird, die Wahrheit der Anschauung zur Falschheit.51 Fiedler erzählt hier seine Variante der berühmten Höhle, die Sokrates in

48 Vgl. zu dem Themenkomplex auch Stefan Majetschak: »Welt als Begriff und Welt als Kunst. Zur Einschätzung der theoretischen Leistungsfähigkeit des Ästhetischen bei Kant und Konrad Fiedler«, in: Philosophisches Jahrbuch 96 (1989), S. 276-293, sowie S. Majetschak, »Die Sprachlichkeit der Kunst«, S. 121-123. 49 K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 124. 50 Ebd., S. 162. 51 Ebd., S. 161.

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Jan Wöpking Platons Staat als Gleichnis gibt.52 Bei allen Unterschieden in Aufbau und Dramatik teilen beide Erzählungen erstens die ideologiekritische Geste, die Bewegung der Entlarvung, zweitens aber die Betonung einer Beharrungstendenz des Gewohnten, die Wärme und Behaglichkeit des Vertrauten. Fiedlers Philosophie wiederholt, wie schon Wyss feststellt, »den Befreiungsversuch, den Platon im Höhlengleichnis vorschlägt«.53 Doch die Moral, die Fiedler zieht, steht der sogenannten Platonischen gerade entgegen. Nicht das Überwinden der Sinnlichkeit im Aufstieg zu den Ideen, sondern im Gegenteil die Konzentration auf die Sinnlichkeit, die Gründung einer Wissenschaft des Sinnlichen, der Kunst. Die Kunst ist für Fiedler die Führerin aus der Höhle, und Künstler sind die Revolutionäre des Sehens. Sie befreien das Sehen und die Anschauung aus dem lebensweltlichen Griff von Konvention, Naivität und Vertrautheit. Der Künstler entspricht dem Höhlengefangenen, der einmal geflohen ist. Auch er gibt sich nicht mehr mit dem, was er sieht, zufrieden. Und auch Fiedlers Held bleibt unverstanden: Der Künstler erscheint der Welt als entrückt, weil er dem Bann der konventionellen Anschauung, die als Wahrheit gilt, entronnen, das Bewußtsein anschaulicher Wahrheit überhaupt verliert, dasselbe erst wieder suchen muß und nur in seiner, der künstlerischen Tätigkeit finden kann. Die anschauliche Wahrheit, in der die Menschen leben und in der er selbst in praktischer Hinsicht lebt, hat für ihn als Anschauung den Wert verloren.54

Fiedler argumentiert hier erneut in exakter Parallelität für Kunst und Wissenschaft. Auch die diskursive Welterkenntnis ist in ihrer höchsten Form, der Wissenschaft, den Alltagszwängen enthoben, auch sie bricht mit den Gewohnheiten und Konventionen, auch der Wissenschaftler ignoriert die praktische Hinsicht, also die alltäglichen Zwänge und Verweisungszusammenhänge, in denen er selber lebt. Beide kämpfen gegen die »verhängnisvolle Herrschaft des sogenannten gesunden Menschenverstandes«.55

52 53 54 55

Vgl. Politeia 514a - 521b. B. Wyss: »Kunsttheorie als Wortbesitz«, S. 48. K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 73. Ebd., S. 155.

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Logoklasmus?

III. Kunst und Reines Sehen Wenden wir uns jetzt Fiedlers Analyse der visuellen Kunst zu. Es handelt sich für ihn um die entwickeltste Form der Schaffung eines intuitiven, d.h. anschauungsbasierten Weltbewusstseins. Dabei ist das Spezifikum der bildenden Kunst, dass sie als Gegenstand einzig Sichtbarkeit und zwar in der Form reiner Sichtbarkeit hat. Was ist darunter zu verstehen? Hier spielen wenigstens drei Ebenen eine Rolle, die sich vielfach kreuzen und überlagern, dennoch aber unterschieden werden sollten: (i) Rein sichtbar zu sein ist keine Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern eine Erfahrung, eine Bewusstseinsweise des Subjekts, in der das, was es erfährt, ausschließlich als Sichtbares gegeben ist. Dieses darf auf keine andere Weise erfahren werden als auf sichtbare, also weder durch Begriffe noch durch andere Sinne. Diese Beschreibung von reiner Sichtbarkeit kann als Bildphänomenologie verstanden werden: als Beschreibung dessen, was wir sehen, wenn wir ein Bild als Bild sehen. Insbesondere Lambert Wiesing hat das herausgearbeitet. In dieser Perspektive kann man mit Fiedler sagen: Es kennzeichnet allen bildnerischen Ausdruck, von den Ursprüngen in der Gestik oder im Strich, der in den Sand gezogen wird, dass hier etwas sichtbar wird, das nicht identisch ist mit der materiellen Inskription, auf der es basiert.56 Das ist insofern keine Eigenschaft des materiellen Objektes, weil etwas stets nur für ein Bewusstsein, das sieht, gegeben sein kann. Sichtbarkeit ist nicht von einem Bewusstsein, das sieht, zu trennen. (ii) Zugleich versteht Fiedler unter reiner Sichtbarkeit einen Umgang mit Sichtbarem, in dem es um das Sichtbare und nur um das Sichtbare selbst geht. Sichtbarkeit hat hier imperativen, normativen Charakter. Es darf in der Kunst, sagt Fiedler, nicht um Nebenwerte gehen, sondern ausschließlich um die Entwicklung eines sichtbaren Ausdrucks, sie soll »frei von gebotener Unterordnung unter einen vorgeschrieben Zweck« sein, ob dieser ästhetischer, emotionaler, inhaltlicher, begrifflicher oder sonst welcher Art ist. Einziges Ziel der Kunst sei es, den sichtbaren Ausdruck zu entwickeln. 56 Vgl. L. Wiesing: »Konrad Fiedler«, S. 187: »Aus Fiedlers Überlegungen läßt sich eine gleichermaßen originelle wie auch überzeugende Definition des Bildes herleiten: Bilder sind genau die Gegenstände, auf denen etwas sichtbar ist, das ausschließlich sichtbar ist; das heißt: Das, was auf einem Bild sichtbar ist, kann nicht gehört, gefühlt oder geschmeckt werden.« Dem ist zuzustimmen – allerdings fehlt in dieser Auflistung gerade die (negative) Bedingung, dass das, was rein sichtbar sein soll, nicht begrifflich erfasst werden darf.

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Jan Wöpking (iii) Dabei darf Ausdruck hier nicht so verstanden werden, als würde im Sichtbaren etwas ausgedrückt oder vermittelt, was selbst nicht sichtbar wäre. Es geht im Gegenteil gerade darum, dass für den Künstler all das »allen Wert« verliert, »was an dem Kunstwerk nur mittelbar und nicht durch dasselbe unmittelbar sichtbar zum Ausdruck kommen kann«.57 Fiedler spricht von Unmittelbarkeit oder Gegenwärtigkeit des Sichtbaren.58 Das »rein« in Fiedlers reiner Sichtbarkeit meint also, dass ein Bewusstsein hergestellt wird, das ausschließlich von der Sichtbarkeit einer Sache ausgefüllt ist. Dies bedeutet einerseits einen Prozess der Versenkung und intensiven Konzentration, in dem alles, was nicht Sichtbarkeit ist, verschwindet. Das bedeutet zugleich die Negation und Abstraktion von allem, was nicht sichtbar ist. Darunter fallen z.B.: nicht-visuelle sinnliche Zugänge (Tast-, Hör-, Riech- und Schmeckbarkeit), begriffliche Erfassbarkeit (wie etwa Benennbarkeit, Zuschreibung von Bedeutungen, Interpretationen usw.), aber auch eine affektive Wirkung, die von dem Objekt ausgeht oder ein praktisches Interesse, das vom Subjekt auf das Objekt gerichtet wird.59 Wiesing hat den Prozess als Häutung des Gegenstandes beschrieben, die nur die Sichtbarkeit übrig lässt.60 Fiedler selbst spricht von einer Stufenfolge von Abstraktionen, die der Künstler vollzieht, um zu einem immer reineren Ausdruck des Sehens zu kommen.61 Es geht darum, dass die Sichtbarkeit »aus der Verworrenheit, in der alles beharrt, solange es der Konkurrenz der Sinne, der Herrschaft der Gefühle, der Verstrickung geistiger Beziehungen unterworfen bleibt, erlöst und in den unmittelbaren Ausdruckswert eines sichtbaren Seins verwandelt« wird.62 Diese Art des Sehens ist sehr ungewöhnlich, wie Fiedler ausführt: So sehr sind wir gewohnt, den gesamten Wirklichkeitsstoff, den uns das Auge liefert, anstatt uns um seiner selbst willen zu bemühen, anderen Gebieten unseres seelischen und geistigen Lebens zuzuführen. Nur dann aber, wenn wir dieser Gewohnheit zu widerstehen vermögen, wenn wir die Tätigkeit des Gesichtssinnes zu isolieren vermögen und mit ihr gleichsam den ganzen je-

57 K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 207. 58 Zum Beispiel: ebd., S. 208f. 59 Vgl. dazu auch Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 161. 60 Ebd., S. 162. 61 Vgl. z.B. K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, 108. 62 Ebd., S. 209.

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Logoklasmus? weiligen Raum des Bewusstseins ausfüllen, nur dann werden uns die Dinge dieser Welt als sichtbare Erscheinungen im eigentlichen Sinne entgegentreten.63

Dieses Sehen ist offenbar das Gegenteil eines bloßen Sehens (verstanden als unschuldiges oder ursprüngliches oder naives Sehen).64 Fiedler geht es um das Entstehen von Sichtbarkeit aus und in materiellem, äußerem Vollzug, also etwa im Akt des Zeichnens oder Malens. Dort entsteht etwas, dessen Sein ausschließlich in seinem Gesehenwerden besteht. Das unterscheidet das, was rein sichtbar ist, von allen Objekten, die auch sichtbar sind. Bei letzteren ist Sichtbarkeit eine von mehreren Zugangs- und Bestimmungsweisen. Etwas, das auch sichtbar ist, ist auch noch anderes. Sichtbarkeit ist hier eine Eigenschaft eines Seienden, im Falle reiner Sichtbarkeit ist die Sichtbarkeit die Sache selbst. Reine Sichtbarkeit kommt allerdings in Graden: Je ausschließlicher ein Subjekt nur die Sichtbarkeit einer Sache wahrnimmt, je mehr sie Zweck an sich selbst und nicht mehr Mittel zu etwas ist, je immanenter, verweisungsloser sie schließlich ist – desto größer ist der Grad an Reinheit.

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WIRD

S EHEN

Reines Sehen ist nur dort möglich, wo »der Künstler zu einer mechanischen Tätigkeit greift, sich der mühevollen Bearbeitung eines Stoffes unterzieht«.65 Fiedler denkt dabei insbesondere an das Zeichnen oder Malen mit der Hand. Um etwas herzustellen, was rein sichtbar ist – und nicht etwa materiell tastbar oder begrifflich erfassbar – braucht es paradoxerweise gerade den tätigen Vollzug an einem äußeren Material. Nur dann kann sich das Interesse an der Sichtbarkeit eines Dinges so isolieren, daß die Vorstellung eines Gegenstandes, an dem die Sichtbarkeit erscheint, gänzlich schwindet und diese letztere zu einer selbständigen Form des Seins wird. […] Erst dadurch, daß er [der Künstler, J. W.] nicht mehr bloß als wahrnehmendes, vorstellendes, sondern als tätiges, äußerlich tätiges Wesen an der Sichtbarkeit der Dinge beteiligt ist, wird ihm diese voll gegenwärtig, und je mehr sie ihn mit ihrer lebendigen Gegenwart erfüllt, desto mehr wird alles von ihm

63 Ebd., S. 152. 64 Ebd., S. 183. 65 Ebd., S. 190.

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Jan Wöpking hinwegtreten, was sich sonst bei der Betrachtung der Dinge in den Vordergrund seines Bewußtseins drängte und die Sichtbarkeit verdunkelte.66

Erst die »mechanische Tätigkeit« an einem überdauernden Material ermöglicht kontinuierliche Arbeit und damit Entwicklung am Sehobjekt.67 Der professionellen Künstlerhand ist mit der materiellen Basis ein deutlich höheres Artikulationsvermögen möglich als bei reiner Isolation des Auges. Ein zweiter Grund kommt hinzu: Erst in der Blindheit der materiellen Tätigkeit kann der Begriff überwunden werden. Bloßes Sehen ist schematisierend, begriffsaffin, es neigt in sich zum Diskursiven.68 Es gilt mit Gottfried Boehm die »Anschauung gegen ihre eigene Begriffstendenz« in Schutz zu nehmen.69 Dem Auge ist also nicht zu trauen. Es ist nicht in der Lage zu sehen, wahrhaft zu sehen, rein zu sehen. Dies kann nur dort gelingen, wo das Auge in der Versenkung der Arbeit, in der Hingabe an das Material, in den Bewegungen der Hand des Künstlers zurücktritt und sich gerade dadurch die Sichtbarkeit zu isolieren beginnt, um nach und nach das Bewusstsein des Künstlers vollständig auszufüllen. Es wird hier eine erneute raffinierte Wende, eine Kehre in und gegen sich selbst in Fiedlers Argumentation sichtbar. Mit Hölderlin und Heidegger kann man auch hier sagen: »Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch«. Zunächst erklärt Fiedler das Sehen des Auges zur schematischen Blindheit. Das Heilmittel dagegen ist aber nicht mehr Auge, sondern weniger – denn es ist die Blindheit der zeichnenden künstlerischen Hand, gerade der Ausschluss des Auges, der zum reinen Sehen, zum wahren visuellen Ausdruck führt.

66 Ebd., S. 191. 67 Zum Zeitaspekt vgl. Friedrich Weltzien: »Produktionsästhetik und Zeitlichkeit. Zur Dynamisierung des Kunstbegriffs bei Konrad Fiedler«, in: Karin Gludovatz/Martin Peschken (Hg.), Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, Berlin 2004, S. 43-56. 68 Dazu Hans Jonas: »Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 247-271. 69 Gottfried Boehm: »Kunsterfahrung als Herausforderung der Ästhetik«, in: Willi Oelmüller (Hg.), Kolloquium Kunst und Philosophie 1: Ästhetische Erfahrung, Paderborn 1981, S. 13-28, hier S. 23.

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Logoklasmus?

D IE R EZEPTION

VON

K UNSTWERKEN

Fiedler wird nicht müde, die Artifizialität und Antinatürlichkeit der reinen Sichtbarkeit zu betonen. Es ist eine Wirklichkeitsproduktion allerhöchsten Entwicklungsgrades, zu deren Schaffung Erfahrung, Talent, Zeit, Ausdauer und Können Voraussetzung sind. Für Fiedler sind deshalb nur Künstler in der Lage, dies zu leisten. Daher kann man auch sagen: Reine Sichtbarkeit ist gerade keine Eigenschaft eines unabhängigen Gegenstandes (den es für Fiedler ohnehin nicht gibt), sondern jenes Bewusstsein oder jene Erfahrung, die der Künstler während und in der Herstellung eines Werkes erfährt. Fiedler zeigt sich als Vertreter einer »radikalen Produktionsästhetik«.70 Er vertritt eine auf den Augenblick zugespitzte Kunsttheorie. Hier verlässt er positivistische Pfade deutlich, etwa wenn er schreibt: Das Bewußtsein, welches sich im Kunstwerk vollendet und in ihm zur Erscheinung kommt, ist nur dieses einzige Mal vorhanden, das Kunstwerk ist nur dieses einzige Mal vollständig lebendig, nur in diesem einzigen Moment und nur für diesen einzigen Menschen hat es seine höchste Bedeutung.71

Kunstwerke hingegen, die unvermeidlichen materiellen Resultate der Produktion, sind bloße »Schatten«, »Denkmäler« des einstigen künstlerischen Bewusstseins. Wie alle Denkmäler aber streben sie bereits vom »Augenblicke ihrer Vollendung« an einer »allmählichen Zerstörung entgegen und schon nach kurzer Zeit werden die dauerhaftesten zu Ruinen«.72 Ein Kunstwerk ist zunächst und zumeist nicht mehr als ein bloßes Ding, es ist auf die Weise sichtbar wie alles andere auch: Die Kunstwerke sind an und für sich ein toter Besitz; sie nützen dadurch, daß sie als ein kleiner Zuwachs zu dem sichtbar Vorhandenen hinzukommen, der Entwicklung des Bewußtseins gar nichts. Sie bleiben ein Gegenstand bloßer Gesichtswahrnehmung wie alles andere.73

Wenn aber Sichtbarkeit nur im »Tätigkeitsvorgang« erfahren, aber nicht materiell gespeichert werden kann, dann hat das deutliche Konsequenzen für die Frage, wie sich der Nicht-Produzent, also

70 71 72 73

S. Schneider: Verheißung der Bilder, S. 129. K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 42. Ebd., S. 41. Ebd., S. 183f.

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Jan Wöpking der Konsument, dem Bild zu nähern habe.74 Diskursivität scheidet aus. Fiedler behauptet die Unangemessenheit bzw. überhaupt Unmöglichkeit einer sprachlich-begrifflichen Fassung visueller Kunst. Bitter muss dies für Kunstgeschichte und Kunstphilosophie klingen. Was bleibt diesen ohne Worte? Sie sind ihrer eigentlichen Aufgabe enthoben, werden gar zu Feinden des wahren Sehens: [I]n demselben Augenblick, in dem wir das Gesehene aussprechen, ist es nicht mehr ein Gesehenes; in dem sprachlichen Ausdruck führen wir etwas in das Bewusstsein ein, was nicht aus dem Stoff besteht, der durch die Gesichtsempfindung geliefert wird, und daher, anstatt der Entwickelung des Gesichtsbildes zugute zu kommen, dieselbe vielmehr unmöglich macht.75

Dies hat einen systematischen Grund: In der diskursiven Welt kann nichts existieren, was nicht diskursiv ist. Es gleicht einem Fluch: Wo immer Diskursivität auftritt, verwandelt sich »unter der Hand alles in den Begriff«.76 Fiedler spricht denn auch kaum über konkrete Kunstwerke. Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit enthält keinen einzigen Verweis auf ein reales Werk.77 Und in seiner oft diskutierten Schrift über den Malerfreund Hans von Marées und dessen Hesperiden-Bilder fällt auf, dass Fiedler reine Sichtbarkeit vor allem im Konjunktiv beschreibt, als das, was Marées hätte erreichen können, was ihm aber tatsächlich nicht gelungen sei.78 Doch Kunstwerke anschauen ist auch nicht besser. Es ist »mit dem bloßen Sehen der Kunst gegenüber nicht getan«, bemerkt Fiedler.79 Denn das bloße Sehen kommt über die Stufe der Identifikation nicht hinaus, bleibt in Sehkonventionen gefangen. Die radikale Konsequenz, die Fiedler aus seiner Produktionsmaxime zieht, ist, dass man sich dem künstlerischen Werk nur künstlerisch nähern kann: »Dann aber ist es doch der Künstler allein, der den Künstler begreifen kann; dann sprechen die Künstler eine Sprache, die niemand verstehen kann außer ihnen, weil nur sie Fähigkeit besitzen, sie zu sprechen.«80 In Fiedlers Theorie ist für den Nicht-Künstler kein Platz. Es gibt nur einen

74 75 76 77 78 79 80

Ebd., S. 199. Ebd., S. 154. K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 60. B. Wyss: »Kunsttheorie als Wortbesitz«, S. 42. K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, 261f. Ebd., S. 198. Ebd., S. 199.

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Logoklasmus? Ausweg: Wenn wahres Kunstverständnis, d.h. die Erfahrung reiner Sichtbarkeit, nur dem Künstler möglich ist, dann muss der Betrachter selbst zum Künstler werden. Und das einzige Mittel dazu ist ein Sichhineinversetzen in den »Tätigkeitsvorgang« des Künstlers. Indem er sich diese Tätigkeit zu vergegenwärtigen, ihr zu folgen sucht, wird er unwillkürlich hinweggeführt aus allen Gebieten des Fühlens und Denkens, in denen er sonst der Wirklichkeit gegenüber verharrt, mehr und mehr löst sich die Verwirrung, in der für sein Bewußtsein die Sichtbarkeit der Dinge verstrickt war; er sieht sich tatsächlich in die reine Welt der Kunst erhoben.81

Ein angemessener Umgang mit Kunstbildern ist aus Fiedlerscher Sicht nur möglich, wenn man eine (re-)produzierende Perspektive aufs Werk einnimmt. Die ausschließliche Erfahrung von Sichtbarkeit entsteht in der Auseinandersetzung mit dem Werk in dem Maße, wie wir versuchen, seine Produktion nachzuvollziehen. Bildrezeption muss zuallererst Bildgenese werden. Fiedler mag zwar die Auffassung von Kunst als mimetischer Repräsentation ablehnen, dennoch bleibt ein Imitationsgedanke in seinen Überlegungen enthalten. Die Betrachtung eines Kunstwerks wird als performative Nachahmung der Tätigkeit des Künstlers gefasst: Wir sehen uns unmittelbar in die Tätigkeit des schaffenden Künstlers hineingezogen und erfassen das Resultat als ein lebendig werdendes. Wir reproduzieren die künstlerische Tätigkeit, und das Maß von Verständnis, zu dem wir gelangen können, ist abhängig von der produktiven Kraft unseres Geistes, mit dem wir dem Kunstwerk begegnen.82

Kunstwerke können wenigstens in abgeschwächter Form zum reinen Sehen führen, indem sie zur imaginativen Reproduktion einladen. Abhängig vom Ausmaß der »produktiven Kraft«, die in allen Menschen vorhanden ist, wenn auch in drastisch unterschiedlichem Ausmaße, gelingt das erneute Anfertigen des Kunstwerks.83

81 Ebd., S. 201. 82 Ebd., S. 42. 83 Der theoretische Grenzfall solcher Produktionsmimesis wäre eine exakte Reproduktion, eine performative Kopie.

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Jan Wöpking

IV. Die Vielfalt der Sprache Man kann versucht sein, Fiedlers Theorie der Sichtbarkeit als Logoklasmus des Sehens zu bezeichnen: als Versuch also, das Bild von allen sprachlich-begrifflichen Kontaminierungen frei zu halten. Der eingeführte Neologismus ›Logoklasmus‹ soll dabei als doppelter Gegen- und Komplementärbegriff verstanden werden: einerseits zu ›Ikonoklasmus‹, andererseits zu ›Logozentrismus‹. Er soll betonen, dass es nicht nur Traditionen des Bildersturms gibt, sondern auch Traditionen des Sturms auf Worte und Begriffe. Dabei lässt der Begriff ›Logoklasmus‹ bewusst offen, ob sein Gegner die Rede oder der Begriff ist. Gerade diese Lücke ist bei Fiedler entscheidend. Es gibt also nicht nur einen logozentrischen Bann, unter dem das Abendland steht, sondern auch jene Tradition der Auflehnung dagegen, mag sie auch zahlenmäßig weniger Anhänger gehabt haben. Weite Teile der Kunstphilosophie ab 1800, spätestens ab 1900, weisen mindestens partiell logoklastische Tendenzen auf.84 Definiert man Logoklasmus auf diese Weise, dann scheint Fiedlers Philosophie ein Prototyp dafür zu sein. So ist er häufig gelesen worden, und dafür spricht auch einiges. Fiedlers Kritik richtet sich, wie gezeigt wurde, gegen die Auffassung, die begriffliche Welt sei Welt genug. Die begriffliche Welt wiederum kann sich für Fiedler nur in einem Medium realisieren. Dieses Medium ist für ihn fast ausschließlich die Sprache. Daraus ist oft der Schluss gezogen worden: Fiedler kritisiert die Sprache, er begreift Sagen und Sehen als Gegner.85 Doch die Lektüre seiner Texte liefert das verblüffende Ergebnis: Fiedler selbst geht diesen Weg nicht. Zwar ist für Fiedler die begriffliche Welt an Sprache gebunden, doch gilt eben gerade nicht der Umkehrschluss, dass alle Sprache begrifflich sei. Bereits früh bemerkt er in dieser Richtung: »Und auch die Sprache selbst ist keineswegs darauf beschränkt, die begriffliche Form der Wirklichkeit darzustellen«, sie sei vielmehr ebenfalls ein »Mittel künstlerischer Gestaltung« und darin zugleich »eins der reichsten Ausdrucksmittel, in denen die menschliche Natur den ununterbrochenen Prozeß, der von der Sinnesempfindung zu den höheren Formen des Seienden führt, beständig zu vollenden

84 Vgl. dazu S. Schneider: Verheißung der Bilder. Wann diese logoklastischen Tendenzen anfangen, wer alles Logoklast ist, welche philosophischen Theorien logoklastisch sind, das und viele weitere sind Fragen, die an anderer Stelle beantwortet werden müssen. 85 Ebd., S. 124.

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Logoklasmus? strebt«.86 Dahinter steht Fiedlers grundsätzliche Einsicht, dass es mehr als ein Weltbild gibt, das durch Sprache erzeugt werden kann. Sprache kann mehr als nur sagen, wie es sich verhält. Wissenschaft ist nicht das Telos der Sprache: »Die Sprache selbst birgt noch sehr andere Möglichkeiten in sich, als zum Gebrauche des wissenschaftlichen Denkens erforderlich sind.« Woran Fiedler hier denkt, wird aus anderen Stellen klar: an die Dichtung. Die wissenschaftliche Sprache führt zu einem »denkbaren und darum begriffenen Weltbild«, die dichterische Sprache hingegen zu einem »vorstellbaren und darum auch wieder begriffenen Weltbild«.87 »Begriffen« meint hier nicht »in Begriffen vorliegen«, sondern: gestaltet, klar, einheitlich. Denn das ist das gemeinsame Ziel von Dichtung und Wissenschaft wie von allem Weltbewusstsein: Die Entwicklung von Klarheit aus der anfänglichen sinnlichen Verwirrung. Es sind leider nur einzelne Bemerkungen, die sich in Fiedlers Schriften zur weltbildenden Kraft von Dichtung finden lassen. Die wichtigste scheint mir die folgende zu sein: »[M]an täuscht sich, wenn man meint, der Dichter hantiere mit Begriffen, weil er mit Worten hantiert; dichterisch steht das Wort für die Anschauung und nicht für den Begriff.«88 Leider ist der Satz zu kurz, um aus ihm eine kohärente Deutung herauszulesen. Doch die Wendung »steht das Wort für die Anschauung und nicht für den Begriff« ist überaus verblüffend, scheint sie doch die Möglichkeit in Aussicht zu stellen, dass Fiedler doch eine Weise akzeptieren könnte, in der mit Worten Anschauungen entwickelt würden. Zugegeben: Vielleicht handelt es sich auch nur um eine Abweichung von Fiedlers Standardaussage, dass Anschauung wahrhaft nur in der bildenden Kunst entwickelt werden könnte. Doch dagegen wiederum spricht, dass der Dichtung im System der Künste eine besondere Stellung zukommt, weil sie eine markante Differenz zu den anderen Kunstformen aufweist. Phänomenale Gegebenheit und Bezug fallen bei den anderen Künsten zusammen: In der visuellen Kunst findet ein Ausdruck des Sichtbaren auf sichtbare Weise statt. In der Musik findet ein hörbarer Ausdruck auf hörbare Weise statt. Doch »die Welt der Dichtung entspricht keinem bestimmten Sinnesorgan«, wie Fiedler schreibt.89 Dichtung, wie jede sprachliche Ausdrucksform, geht zwar aus sinnlichem Bewusst-

86 87 88 89

Ebd., S. 76. K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 191f. Ebd., S. 271; Hervorhebung von mir. Ebd., S. 193.

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Jan Wöpking sein hervor. Insofern ist sie dem diskursiven Bewusstsein verwandt, wie dieses ist sie »weder sichtbar, noch hörbar, noch tastbar«.90 Zugleich produziert sie keine begriffliche Erkenntnis. Welcher Art dann ihre Erkenntnis ist, bleibt bei Fiedler uneindeutig – Anschauung ist aber zumindest ein plausibler Kandidat. Aufgrund dieser Überlegungen möchte ich eine Erweiterung bzw. Ausdifferenzierung von Fiedlers System vorschlagen. Die binäre Opposition von Anschauung und Begriff wäre zu einer 2x2Matrix zu erweitern, die wie folgt aussähe: Tabelle 1: Gebrauch und Medium Gebrauch/

Sprache

Sinnlichkeit

Medium diskursiv

Diskursives Bewusstsein, Begriffliches Sehen z.B. theoretische Wissenschaft

intuitiv

Sprachliche Anschauung, Intuitives Bewusstsein, z.B. Dichtung

z.B. bildende Kunst

Das Feld ›Begriffliches Sehen‹ benötigt noch eine Erklärung. Die Bezeichnung findet sich zwar nicht dem Namen, wohl aber dem Inhalt nach bei Fiedler, wenn auch nur als Negativbeispiel. Es handelt sich um einen diskursiven Umgang im Modus der Anschauung. Hier wird die Sichtbarkeit nicht um ihrer selbst willen betrachtet, sondern um einen Zweck zu erfüllen; sie hat eindeutig kundgebende Funktion. Paradigmatisch dafür wäre etwa der Gebrauch von Karten. Im weiteren Sinne wäre letztlich jede Betrachtung von Sichtbarkeit, auch etwa von Kunstbildern, die nicht auf ›Reinheit‹ abzielt, sondern auf Diskursivität, ein Fall von diskursiver Anschauung. Damit scheint es sinnvoll, bei Fiedler zwischen den Medien Sprache und Anschauung und dem jeweiligen Gebrauch bzw. der Einstellung, mit der diese verwendet werden, zu unterscheiden.91 Damit aber ist es nicht die Sprache, deren Monopolisierung Fiedler zurückweist, sondern allein das diskursive Bewusstsein, das sich sprachlich, aber eben möglicherweise auch anschaulich realisieren kann. Weit davon entfernt, Sehen und Sagen als Gegensätze zu positionieren, geht es Fiedler nur um zwei von mehreren Formen von Sehen und Sagen,

90 Ebd. 91 Diese Idee findet sich knapp skizziert bei M. Podro: The Manifold in Perception, S. 120.

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Logoklasmus? die einander ausschließen. Die eigentliche Botschaft ist, dass zwei Arten des Gebrauchs unterschieden werden müssen, Diskursivität und Intuitivität, die sich in je verschiedenen Medien verkörpern können. Und auch wenn man diesen Überlegungen nicht zustimmen mag, bleibt festzuhalten, dass Fiedler nicht mehr in einem Zeitalter lebt, das man das ›frühwittgensteinianische‹ nennen könnte, einem Zeitalter also, in dem die einzigen Sprachspiele, die zulässig erschienen, das Benennen von Dingen und das Feststellen von Tatsachen waren.92 Fiedlers Sprachbegriff hat mehr als Diskursivität zu bieten. Das Verhältnis von Sprachlichkeit und Sichtbarkeit, Sagen und Sehen, ist bei Fiedler also wesentlich komplexer, als es zunächst den Anschein hat. Die zentralen Oppositionen verlaufen nicht zwischen Sprache und reinem Sehen – sondern zwischen Produktivität und Formalismus, Diskursivität und Intuitivität. Wichtiger noch: Fiedlers Auffassung der Sprache ist facettenreich. Das zeigt sich sowohl darin, dass er Sprachlichkeit überhaupt als Kriterium für alle Formen von Weltbewusstsein nennt, als auch darin, dass Sprache für ihn mehr ist als Begriff und Diskurs.

V. Positivismus und Mystik Wie viel Mystik ist in Fiedlers Theorie? Die akzeptierte Forschungsmeinung lautet: wenig bis keine. Exemplarisch dafür mag Beat Wyss’ Aussage stehen, Fiedler sei »entschiedener Positivist« und sein Denken von einer »Kälte« durchzogen.93 Nicht zuletzt Fiedler selbst begreift sich als Positivist – allerdings spricht er von einem »Positivismus, […] der ganz anderer Art ist, als derjenige, dessen sich die moderne Denkweise rühmt«.94 Historisch wird Fiedler jener Bewegung im Kunstdenken des 19. Jahrhunderts zugerechnet, welche die spekulative Kunstphilosophie insbesondere Hegelschen Geistes durch exakte, nüchterne, am Vorbild der naturwissenschaftlichen Methodik ausgerichtete Kunstwissenschaft ablösen wollte.95 Fiedlers Schriften polemisieren gerne gegen das, was er als Mystik, Spekulation, Religion und Schwärme-

92 Bezogen auf den späten Wittgenstein etwa der Philosophischen Untersuchungen. 93 B. Wyss: »Kunsttheorie als Wortbesitz«, S. 43. 94 K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 142. 95 Vgl. L. Wiesing: »Konrad Fiedler«, S. 180.

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Jan Wöpking rei bezeichnet (zwischen denen Fiedler nicht differenziert). Das derart Mystische taucht bei Fiedler vor allem als das falsche, vom Durchschnittbewusstsein gern verwendete Gegenmittel zum Alleinherrschaftsanspruch des theoretischen Bewusstseins auf. Fiedler konstatiert ein Begehren nach einer Welt diesseits des theoretischen, mechanischen, kausalen Weltbildes, welches die Sinnlichkeit der Welt aus dem Blick verliert und das Leben »armselig und einseitig« erscheinen lässt.96 In Verzweifelung ob der Verarmung der Welt wendet sich sogar das »philosophische Nachdenken einesteils zur Skepsis, andernteils auf die Wege der Spekulation, die sich abseits von der Erfahrung in die dunklen Regionen der Metaphysik, der Theosophie, des Mystizismus verlieren«.97 Explizit weist Fiedler den Erkenntnis negierenden Mystizismus zurück, der meint, in der Unmittelbarkeit der Anschauung die Selbstoffenbarung und Wahrheit der Welt erfahren zu können.98 Der naive Betrachter hofft, die Decke der Sprache dadurch zu zerbrechen, dass er sich der Unendlichkeit des Wahrnehmungsstroms hingibt, unterliegt dabei aber einer Illusion. Erstens ist jede Anschauung, erscheint sie auch noch so mühelos und rezeptiv, eine spontane Produktion des Bewusstseins, zweitens ist das, was man unmittelbar sieht, entweder flüchtig-verworrenes Sinneschaos oder aber unbewusster Formalismus. Auch und gerade die Kunst will Fiedler gegen mystisches oder religiöses Interesse verteidigen. Es geht für ihn in der Kunst nicht um Entrückung, um Überschreitung auf etwas Transzendentes hin, um Ergriffensein, Widerfahrnisse, Überwältigung oder Einswerden. Selbst wenn derjenige, der sich in ein Kunstwerk hineinsieht, sich anfangs entrückt oder mystisch enthoben fühlen mag, bei näherer Beschäftigung wandelt sich das Bild in seinen Blicken doch zu einem Ausdruck höchster Klarheit, und die affektive Dimension verschwindet. Immer wieder führt Fiedler den Leser aufs Glatteis, schreibt von der Überwältigung, die man bei versinkender Betrachtung eines Werkes erfährt, von der quasi-religiösen Wucht, die es ausübt – nur um dann darauf hinzuweisen, dass dies nicht mehr Kunst ist, dass man hier gerade die Klarheit ver96 »Daß der Mensch sich nicht mit dem Naturerkennen im wissenschaftlichen Sinne befriedigen könne, daß diejenigen das Leben armselig und einseitig machen würden, die die gesamte geistige Tätigkeit durch das Naturerkennen absorbiert sehen möchten, unterliegt keinem Zweifel« K. Fiedler: Schriften zur Kunst II, S. 31. 97 Ebd., S. 31f. 98 Vgl. auch A. Horn: »Die Grenzen der sokratischen Erkenntnislust«, S. 154.

200

Logoklasmus? liert. Es ist ein Zustand »passiver Empfänglichkeit«, der hier vorliegt und gegen den Fiedler mit aller Macht streitet.99 Nirgendwo wird das deutlicher als im folgenden Gedanken: Der fähige Betrachter von Kunst »sieht sich tatsächlich in die reine Welt der Kunst erhoben, in der sich die Erscheinungen der Dinge zu seinem verstehenden Auge zur Bestimmtheit, zur Ordnung, zur Gesetzmäßigkeit gezwungen darbieten. Hier, aber auch nur hier, wird die Kunst zur Offenbarung«.100 Offenbarung ist nicht Mystik, sondern verstehende Klarheit. Dennoch – es gibt eine zweite Seite Fiedlers. Er mag zwar Mystik explizit zurückweisen, dennoch lässt sich in seinen Texten impliziter mystischer Gehalt ausmachen. Dieser hat drei hauptsächliche Einsatzorte, die alle eng mit der Theorie der reinen Sichtbarkeit zusammenhängen. 1. Für die Schaffung reiner Sichtbarkeit muss der Künstler sich in die Herstellung des Werkes versenken, er muss sich konzentrieren, bis sein Bewusstsein einzig ein sichtbares Objekt enthält. Der Prozess der Versenkung geschieht in der materiellen Arbeit der zeichnenden Hand, im konzentrierten Tätigsein. Das materielle Werk spielt hier nur die Rolle eines Ermöglichungsinstruments. Unmittelbare Sichtbarkeit ist nur mittelbar zu erreichen, über den Umweg der Werkproduktion. Die Materialität ist nur Mittel zum Zweck für eine reine, immaterielle Erfahrung. Es ist, »als ob der Mensch vornehmlich um seines Sehens, die Welt vornehmlich um ihrer Sichtbarkeit willen vorhanden wäre«.101 Das eigentliche Ziel der Kunst ist, »das Sein auf seine Sichtbarkeit zu reduzieren«. Alle anderen Bedürfnisse und Interessen, die man an die Kunst heranträgt, werden ignoriert. 2. Zugleich vertritt Fiedler eine »Phänomenologie des Augenblicks«.102 Der ganze Produktionsprozess von Kunst ist für ihn auf den einen Augenblick ausgerichtet, in dem das Bewusstsein seine maximale Fülle erreicht. Noch einmal Fiedlers erstaunliche Beschreibung: Das Bewußtsein, welches sich im Kunstwerk vollendet und in ihm zur Erscheinung kommt, ist nur dieses einzige Mal vorhanden, das Kunstwerk ist

99 100 101 102

K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 215. Ebd., S. 201. Ebd., S. 208. Diese ist für das ausgehende neunzehnte Jahrhundert symptomatisch, vgl. S. Schneider: Verheißung der Bilder, S. 127.

201

Jan Wöpking nur dieses einzige Mal vollständig lebendig, nur in diesem einzigen Moment und nur für diesen einzigen Menschen hat es seine höchste Bedeutung.103

3. Damit ist schließlich etwas angesprochen, was man Fiedlers Metaphysik der Präsenz nennen könnte. Diese zeigt sich vor allem an den Stellen, an denen die klare und bestimmte Erkenntnis als Ziel von Kunst durch die Schaffung von Präsenz abgelöst wird, etwa wenn »die Sichtbarkeit des Seienden in so vollendetem, überzeugendem Ausdruck gegenwärtig wird, daß sie uns wie mit der Macht der Offenbarung entgegentritt«.104 Fiedler löst die Kunst hier tendenziell von ihrer Erkenntnisaufgabe und verpflichtet sie stattdessen darauf, etwas zu schaffen, was nur um seiner Sichtbarkeit willen da ist. In dieser seiner höchsten, seiner wertvollsten, seiner eigentlichen Form geht es dem Sehen nur noch um sich selbst, nur noch um das Erfahren eines Seins der Sichtbarkeit. Hier beginnt Fiedler tendenziell gerade jene Vokabeln zu verwenden (wie etwa ›Offenbarung‹), die er ansonsten scharf zurückweist. Hier zeigt sich das stärkste mystische Potential, das Fiedlers Text aber von Beginn an und strukturell unterwandert: Es ist das Ideal eines Bewusstseins, in dem nichts Unsichtbares enthalten wäre, das auf nichts verweisen würde, das nicht es selbst wäre, das vollkommen in sich abgeschlossen wäre. Eine solche Erfahrung wäre dem alltäglichen Leben völlig entrückt, von außen nicht mehr nachvollziehbar. Was also bleibt? Fiedler ist viel mehr Positivist, als man denkt, wenn man zuerst von ›reiner Sichtbarkeit‹ hört. Passivität, Widerfahrnisse, Ereignisse, Überwältigungen, Ansteckungen – zentrale Stichworte der aktuellen ästhetischen Debatte würde Fiedler als Schwärmerei zurückweisen. Dagegen setzt er: Arbeit, Entwicklung, Erkenntnis, Produktion. Darin ist er erfrischend antimystisch. Andererseits aber kündigt sich gerade darin ein Riss an, der Fiedlers Positivismus von innen her an seine Grenze treibt. Dazu gehören die Betonung der Versenkung, der Hingabe, des Ausschlusses von (nicht-visueller) Sinnlichkeit, von Denken und Fühlen, von allem, was nicht sichtbar ist, die Skizzen eines Bewusstseins, das von nichts als Sichtbarkeit angefüllt ist, das nicht mehr Erkenntnis sein will, dem es nur noch darum geht, zu sein, sichtbar zu sein und sonst nichts. Darin, in dieser anti-platonischen, antihermeneutischen, anti-symbolischen Utopie schlechthin, der Utopie einer vollkommenen, sich selbst und sonst nichts enthaltenden Oberfläche, einer Erfahrung, in der es keine Unsichtbar103 104

K. Fiedler: Schriften zur Kunst I, S. 42. Ebd., S. 208.

202

Logoklasmus? keit gibt, kein Abwesendes, darin besteht das Mystische in Fiedlers Philosophie.105

Literatur Boehm, Gottfried: »Kunsterfahrung als Herausforderung der Ästhetik«, in: Willi Oelmüller (Hg.), Kolloquium Kunst und Philosophie 1: Ästhetische Erfahrung, Paderborn 1981, S. 13-28. Boehm, Gottfried: »Einleitung. Zur Aktualität von Fiedlers Theorie«, in: Konrad Fiedler, Schriften zur Kunst I, 2. Auflage, München 1991, S. XLV-XCVII. Fiedler, Konrad: Schriften zur Kunst, 2 Bde, hg. v. Gottfried Boehm, 2. Auflage, München 1991. Gehlen, Arnold: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a. M./Bonn 1960. Heßler, Martina/Dieter Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009. Horn, Angelica: »Die Grenzen der sokratischen Erkenntnislust. Konrad Fiedler und Friedrich Nietzsche«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München 1997, S. 147-167. Jonas, Hans: »Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 247-271. Junod, Philippe: Transparence et Opacité. Réflexions autour de l´esthétique de Konrad Fiedler, Genf 1976. Majetschak, Stefan: »Welt als Begriff und Welt als Kunst. Zur Einschätzung der theoretischen Leistungsfähigkeit des Ästhetischen bei Kant und Konrad Fiedler«, in: Philosophisches Jahrbuch 96 (1989), S. 276-293. Majetschak, Stefan: »Die Sprachlichkeit der Kunst. Konrad Fiedlers Sprach- und Kunsttheorie im Lichte der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München 1997, S. 113-126. Paetzold, Heinz: »Fiedler und Cassirer«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München 1997, S. 209-219.

105

Dazu auch Philippe Junod: Transparence et Opacité. Réflexions autour de l´esthétique de Konrad Fiedler, Genf 1976.

203

Jan Wöpking Podro, Michael: The Manifold in Perception. Theories of Art from Kant to Hildebrand, Oxford 1972. Schneider, Sabine: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900, Tübingen 2006. Weltzien, Friedrich: »Produktionsästhetik und Zeitlichkeit. Zur Dynamisierung des Kunstbegriffs bei Konrad Fiedler«, in: Karin Gludovatz/Martin Peschken (Hg.), Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, Berlin 2004, S. 43-56. Wiesing, Lambert: »Konrad Fiedler«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Klassiker der Kunstphilosophie. Von Platon bis Lyotard, München 2005, S. 179-198. Wiesing, Lambert: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek 1997. Wyss, Beat: »Kunsttheorie als Wortbesitz«, in: Stefan Majetschak (Hg.), Auge und Hand. Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, München 1997, S. 41-53.

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Zu den Autoren Felix Christen ist Germanist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Frühromantik, der Literatur Hölderlins, Nietzsches, Kafkas, Celans und Robert Walsers sowie in Literaturtheorie, Theorie der Edition, Übersetzungstheorie und Psychoanalyse. Osman Hajjar ist Arabist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin. Er arbeitet zum Sufismus in Ägypten und über den islamischen Liebesbegriff. Daniel Illger ist Filmwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin. Er arbeitet zum Verhältnis von Kino und Geschichte, Genretheorie und dem westeuropäischen Nachkriegskino. Reinhard Margreiter ist Privatdozent für Philosophie an der Humboldt Universität Berlin sowie Gastprofessor und Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Erfahrungstheorie, Symbol- und Medientheorie sowie Religions- und Kulturphilosophie. Roberto Sanchiño Martínez ist Literatur- und Religionswissenschaftler. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Religionsästhetik, (Religions-)Philosophie sowie Wissenschaftsgeschichte und Literatur des 20. Jahrhunderts. Renate Schlesier ist Professorin für Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a.

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Zu den Autoren kultur- und religionsanthropologische Aspekte der Ästhetik, Religions-, Kultur- und Literaturgeschichte der griechischen und römischen Antike sowie Transfers und Transformationen religiöser Vorstellungen und Praktiken in der europäischen Tradition bis in die Moderne. Hans Stauffacher ist Philosoph, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« und Lehrbeauftragter am Institut für Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Philosophie und Ästhetik des Deutschen Idealismus sowie deutsche und französische Philosophie des 20. Jahrhunderts. Cornelia Temesvári ist Komparatistin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« sowie Lehrbeauftragte am Institut für Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie arbeitet zum Verhältnis von Sprache und Mystik, zur Produktionsästhetik und zu Transformationen der Kabbala in zeitgenössischer Literatur und Theorie. Jan Wöpking ist Philosoph und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster »TOPOI« an der Freien Universität Berlin. Derzeit arbeitet er zur Philosophie des Geistes und zur Bildphilosophie, zu Ästhetiktheorien um 1900 und zu Theorien des Diagramms.

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