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German Pages 660 [661] Year 2015
Jüdisches Denken
Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Die drei schon vorliegenden Bände »Jüdisches Denken« gelten als Standardwerke.
Karl Erich Grözinger
Jüdisches Denken Theologie – Philosophie – Mystik Band 4: Zionismus und Schoah
Campus Verlag Frankfurt / New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-39141-0 (Print) ISBN 978-3-593-43230-4 (PDF-E-Book) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2015 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Umschlagmotiv: Grußkarte zum Neujahrsfest (Shana Tova), Auf der Schwelle zum Land, undatiert, The Hayim Shtayer Collection, Haifa, Israel © Courtesy of the Hayim Shtayer Collection/photo, Berliner Festspiele/Martin Gropius-Bau, Berlin, by Meidad Suchowski Satz: Campus Verlag, Frankfurt am Main. Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza Printed in Germany www.campus.de
INHALT VORWORT ....................................................................................................... 17 EINFÜHRUNG .................................................................................................. 19 1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6 2.4.7 3. 3.1
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 4. 4.1 4.2 5. 5.1 5.2
Zionismus und Schoah – Wendepunkte der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens ............................ 19 Nationales und zionistisches Denken ................................ 22 Vorbemerkung ...................................................................... 22 Die Ursachen des neuen Denkens ......................................... 23 Definitionen von Nation ....................................................... 27 Die unterschiedlichen zionistischen Richtungen .................. 28 Der politische Zionismus ...................................................... 29 Der Kulturzionismus ............................................................ 30 Zionismus als Selbstfindung in Natur und Arbeit ................ 30 Der religiöse Zionismus ....................................................... 31 Zionismus-Kritik und »Postzionisten« ................................. 32 Zionismus nach der Gründung des Staates Israel ................. 33 Weitere Autoren aller Richtungen ........................................ 34 Jüdisches Denken zur Schoah ........................................... 35 Die Verwendung des Begriffs »Holocaust« – eine notwendige Vorbemerkung und das Beispiel der Treblinka-ʽAkeda ........................................................... 35 Der Beginn der theologischen und philosophischen Reflexion zur Schoah ........................................................... 41 Theodizee und Anti-Theodizee ............................................ 41 Ignaz Maybaum (1897–1976) .............................................. 42 Menachem Immanuel Hartom (1916–1992) ......................... 44 Jizchak Hutner (1906–1980) ................................................ 45 Arthur A. Cohen (1928–1986) .............................................. 47 Neues Denken nach der Schoah ........................................ 47 Das Ringen um Judentum und Religion ohne Theodizee ..... 47 Eine satirisch sarkastische Zurückweisung theologischer Deutungen des Holocaust – Adi Ofir (geb. 1951) ................ 50 »Das Exil wird länger, des Vergessens wegen, aber im Erinnern liegt das Geheimnis der Erlösung« ..... 52 Die Bedeutung von Erinnern – Vorbemerkung .................... 52 Primo Levis Bemerkungen zum Erinnern im Kontext der jüdischen Tradition .................................................. 53
Inhalt
6 5.3
Erinnern in der jüdischen Religionsgeschichte – bis zur Formel vom Vergessen und Erinnern als den Insignien von Exil und Erlösung .......................................................... 58
TEIL I – DER ZIONISMUS I.
DER SOZIALDEMOKRATISCH-GENETISCH-DYNAMISCHE ANSATZ MOSES MORITZ (MAURICE) HESS (1812–1875) EINGESCHLOSSEN DIE PRAKTISCHEN FORDERUNGEN ZUR PALÄSTINAARBEIT VON ZWI HIRSCH KALISCHER (1795–1874) ........................................ 65 1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 4. 5.
5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 7.
Biographisches .................................................................... 65 Hess-Deutungen .................................................................. 69 Rom und Jerusalem die letzte Nationalitätsfrage ............ 73 Das Neue und der unmittelbarer Anlass ............................... 73 Gründe von Hess für die neuerliche nationale Wende .......... 75 Das Judentum als Volk und Nation ...................................... 76 Argumente für das Verständnis des Judentums als Nation ... 78 Das traditionell religiöse Bewusstsein – die Gebete und das Hebräische ............................................................... 78 Die verfehlte Emanzipation .................................................. 80 Die genetischen Bedingungen .............................................. 82 Was ist eine Nation? – Definitionen .................................. 82 Die genetische Weltanschauung oder die Dynamische Stofflehre – Basis des »rassischen« Verständnisses von Nation ........................................................................... 85 Ontologischer Monismus und das Ende des Idealismus ........ 85 Die dynamische Stofflehre ................................................... 88 Die Existenzbereiche und deren Lebensrhythmen ................ 91 Ziele des organischen und sozialen Lebens – Rasse und soziale Demokratie .............................................. 92 Die Lehren von Volk, Rasse, Nation, Gott und Kosmos in Rom und Jerusalem ........................................................ 95 Die Menschheit und ihre genetischen Rassen ....................... 95 Die Rhythmen der kosmischen und weltgeschichtlichen Entwicklung .......................................................................... 99 Religion und Nation ........................................................... 101 Gott in Kosmos und Geschichte ......................................... 106 Das nationale zionistische Programm – Hess – Laharanne – Kalischer ......................................... 112
Inhalt
II.
DER SOZIALPSYCHOLOGISCH-TERRITORIALISTISCHE ANSATZ LEON (JUDAH LEJB) PINSKER (1821–1891) ............................. 118 1. 2. 3. 3.1 3.2 4. 5.
III.
Biographisches .................................................................. 118 Der neue Denkansatz von Pinsker ................................... 119 Die Diagnose – Normalität und Anomalie ...................... 121 Die jüdische Seite des Problems ........................................ 121 Die nichtjüdische Seite des Problems ................................. 124 Die nötigen Lösungen – ein jüdisches Territorium ........ 129 Die praktischen Folgerungen ........................................... 132
DER SOZIOLOGISCH-STAATSRECHTLICHE ANSATZ THEODOR BINJAMIN SE’EV HERZL (1860–1904) .................... 135 1. 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6
IV.
7
Biographisches .................................................................. 135 Der Judenstaat .................................................................. 137 Judennot und Judenfrage ................................................ 139 Die wirtschaftlichen und politischen Schritte zur Lösung ......................................................................... 141 Die politischen Schritte – die Society of Jews .................... 141 Die Theorie vom Rechtsgrund des Staates ......................... 142 Volk oder Land als Staatsgrundlage? ................................. 142 Ein nicht greifbares Volk als Staatsgrundlage? .................. 145 Die wirtschaftlichen Schritte – die Jewish Company ......... 148 Die Aufgaben der Jewish Company ................................... 152 »Die Landergreifung« – Beginn der Umsiedlungsarbeiten – Wahl des Territoriums .................. 154 Struktur, Institutionen und Symbole des neuen Judenstaates ........................................................................ 155
DER SÄKULAR-SOZIOLOGISCH-KULTURELLE ANSATZ ASCHER (USCHER) ZWI HIRSCH GINZBERG – DAS IST ACHAD HAAM (1856–1927) ......................................................... 159 1. 2. 3. 4. 4.1 4.2
Biographisches und Persönliches .................................... 159 Grundlagen und Voraussetzungen .................................. 164 Die Situation des Judentums in der Gegenwart – die Analyse ........................................................................ 169 »Wir sind ein Volk« – Das Judentum als Nation ............ 175 Die nationbildende Grundlage ............................................ 175 Nationale Moral und Religion ............................................ 185
Inhalt
8 4.2.1 4.2.2 5. 6. 7.
V.
Die jüdisch-nationale Ethik ................................................ 188 Der Gesellschaftsmensch .................................................... 193 Wesen und Funktion der Religion im Rahmen der jüdischen Kultur ........................................................ 198 »Priester und Prophet« .................................................... 204 Lösung und Ziel der nationalen Frage: Ein nationales geistiges Zentrum ...................................... 208
INDIVIDUUM – NATION – NATUR UND KOSMOS AHARON DAVID GORDON (1856–1922) .................................... 214 1. 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 3.3 4. 4.1 4.2 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 6. 6.1 6.2 7. 7.1 7.2 8. 8.1
Biographisches .................................................................. 214 Philosophische Voraussetzungen ..................................... 217 Der allgemeine Rahmen ..................................................... 217 Gordon-Deutungen ............................................................. 219 Gordons Lehre vom Individuum, vom »Ich« – und die Quellen aus denen er schöpfte ........................... 221 Max Stirners Lehre vom Ego .............................................. 221 Nietzsche und der »Übermensch« ...................................... 223 Gemeinsame Motive des Individualismus bei Nietzsche und Gordon .................................................. 225 Grundstruktur des Denkens von A. D. Gordon ............. 229 Gordons Lehre vom Individuum – ha-Jachid ..................... 230 Selbst-Sein als imago dei .................................................... 232 Das Individuum und seine Weltwahrnehmung .............. 234 Arthur Schopenhauer und Henri Bergson ........................... 234 A. D. Gordon – zwei Weisen, die Welt wahrzunehmen ..... 235 Das »Er-leben« – die Ḥawaja ............................................. 237 Zimzum und Hitpaschtut – beschränkte und ausweitende Wahrnehmung .................................................................... 240 Das wegen falscher Wahrnehmungsprioritäten entfremdete Individuum ..................................................... 242 Die Religion ....................................................................... 248 Neue Wege des Religionsverständnisses ………………….248 Form und Inhalt der Religion ............................................. 251 »Gott« oder der Verborgene Intellekt – die Grundlagen der Ethik ................................................ 253 Die Grundlage der Ethik ein »kantisches« Postulat ............ 253 Der doppelte »Verborgene Intellekt« ................................. 256 Der Mensch und die Natur .............................................. 262 Das einfache Leben – nach Lev (Leo) Tolstoj .................... 262
Inhalt 8.2 8.3 8.4 9. 9.1 9.2 9.3 9.4 10. 11.
VI.
9
Gordons Sicht der kosmischen Natur und des Menschen Stellung in ihr ..................................................................... 264 Die konkrete Natur und der Mensch ................................... 267 Die »Umkehr« .................................................................... 269 Die Bedeutung der Arbeit für das menschliche Leben ....... 271 Kontexte für Gordons Arbeitsethos .................................... 271 Biblische und rabbinische Positionen ................................. 272 Auffassungen im 19. Jahrhundert ....................................... 273 Die Bedeutung der Arbeit bei Gordon ................................ 276 Die Nation und deren Erneuerung .................................. 278 Die Bedeutung des Landes Israel und der Geschichte für die jüdische Nation ..................................................... 283
DER APOKALYPTISCH-MESSIANISCH-DEMOKRATISCHE ANSATZ JEHUDA BEN SALOMON ALKALAI (1798–1878) ...................... 287 1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.5 4. 5.
Biographisches .................................................................. 287 Der apokalyptisch-messianische Motivationsgrund ...... 289 Die Duplizierung rabbinischer Konzepte als zionistisches Programm ................................................... 292 Die Methode der Traditionsreduplikation .......................... 292 Zwei Weisen der Erlösung – natürlich und übernatürlich ................................................................ 295 Zwei Messiasse ................................................................... 296 Der neue Messias Ben Josef ............................................... 296 Die Könige der Völker als »Retter« ................................... 302 Der Messias Ben David ...................................................... 304 Die Reduplizierung der Teschuva – der Umkehr – als Rückkehr in das Land der Väter .................................... 306 Die Sünde der Teschuva-Verweigerung – das Reformjudentum .......................................................... 309 Das messianisch-politische Programm ........................... 312 Die Zehntabgabe ............................................................... 315
VII. DIE WIEDERBELEBUNG DER NATION DURCH ERKENNTNIS, GLAUBE UND GEISTIGE FREIHEIT AVRAHAM JIZCHAK HA-KOHEN KUK (KOOK) (1865–1935) ..................................................................................... 318 1. 2.
Biographisches .................................................................. 318 Die Werke Kuks – sind sie das Werk der Schüler? ....... 320
Inhalt
10 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.5.1 4.6 5. 6. 7. 7.1 7.2 8. 8.1 8.2
9. 10.
Philosophische Voraussetzungen und Grundcharakteristika des Kukʼschen Denkens ............. 327 Unterschiedliche Anklänge ................................................. 327 Motive von Henri Bergson im Denken von Kuk ................ 329 Die Seele – der Fokus des Kukʼschen Denkens .............. 335 Die Aufgabe der Wiederbelebung Israels: Spirituelle Erneuerung – eine neue Erkenntnislehre ............................ 335 Schreiben als Entlastung und Pflege der Seele ................... 335 Die Seele – ihr Ort im neoplatonischen Weltbild Kuks ................................................................................... 338 Befindlichkeiten der Seele .................................................. 341 Die Erkenntnissuche der Seele ........................................... 341 Die Welt als Vorstellung, Erkenntnis, Vernunft, Glaube .... 345 Die Welt als Wille .............................................................. 373 Die Einheit von Gott und Welt – Sichtweisen ................ 379 Der unendliche Aufstieg und die vollkommene Vollendung der Gottheit und des Alls ............................. 381 Israel als Ideal, als psychische Eminenz in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ....................... 383 Die Erwählung .................................................................... 383 Die Nation und deren Auferstehung ................................... 387 Das Land Israel ................................................................. 392 Das Land Israel im Denken von Avraham Jizchak Kuk – dem Vater ........................................................................... 392 Die Politisierung und Materialisierung der Kukʼschen Deutungen vom Land Israel durch den Sohn Zvi Jehuda Kuk – Exkurs ...................................................................... 395 Die zionistische Bewegung, der »Anfang der Erlösung«? ........................................................................ 397 Selbstbetrachtungen, Konfessionen, Mystik .................. 403
VIII. ZIONISMUSKRITIK UND POST-ZIONISTEN .................................. 409 1. 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2
Kritik am Zionismus aus der Mitte des Zionismus ....... 409 Heinrich Margulies (Margalit) (1890–1989) – wider ideologische Parteiungen .......................................... 409 Biographische Notiz ........................................................... 409 Kritik des Zionismus .......................................................... 409 Martin Buber (1878–1965) – wider unideologische Verallgemeinerung – ein Programm der Erneuerung des jüdischen Menschen und der jüdischen Gesellschaft ... 414
Inhalt 1.2.1 1.2.2 1.2.3 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5
IX.
11
Vorbemerkung und biographische Notiz ............................ 414 Martin Bubers Ablehnung der Gründung eines jüdischen Staates kurz vor und nach deren Realisierung .... 416 Zweierlei Zionismus ........................................................... 418 Zionismuskritik von außen – die sogenannten Post-Zionisten ................................................................... 423 Eine Momentaufnahme von 2012 zur Debatte um den Zionismus ........................................................................... 423 Hat der Zionismus seine Ziele erreicht und somit seine Ära beendet? ....................................................................... 433 Die Judennot ....................................................................... 434 Die Not des Judentums ....................................................... 436 Die religiöse Erlösungsnot .................................................. 438 Der Friede mit der arabischen Bevölkerung Palästinas ...... 439 Das Resultat ........................................................................ 439
»JÜDISCHER NATIONALISMUS« NACH DER GRÜNDUNG DES STAATES ISRAEL UND NACH DEM SECHS-TAGE-KRIEG VON 1967 ELIEZER SCHWEID (GEB. 1929) .................................................... 441 1. 2. 3. 4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 5.
6. 7.
Biographische Notiz .......................................................... 441 Das ursprüngliche Ziel des »klassischen« Zionismus – ein Rückblick nach dem Sechstagekrieg von 1967 ........ 441 Eine Bestandsaufnahme des Erreichten – Fortbestand der alten Probleme ........................................................... 443 Das Judentum – die nicht verstandene Nationalität ...... 446 Das mangelnde Verstehen der Eigenart jüdischer Existenz .............................................................................. 446 Die christlichen Kirchen ..................................................... 447 Die internationale areligiöse »Linke« ................................. 447 Die modernen Nationalismen der Gegenwart – insbesondere die arabischen ............................................... 448 Falsches Selbstverständnis verschiedener jüdischer Gruppen .............................................................................. 449 Die Einheit und gegenseitige Verantwortlichkeit des jüdischen Volkes als zentrales Element jüdischer Identität ............................................................................. 451 Braucht der Staat Israel eine zionistische Politik? ........ 455 »Das Land Israel als Heimatland des jüdischen Volkes« .............................................................................. 457
Inhalt
12 7.1 7.2
Die politische Schlussfolgerung vorweg ............................ 457 Die Begründung des jüdischen Heimatrechts auf ʼErez Jisraʼel ....................................................................... 458
TEIL II – DIE SCHOAH I.
ḤASIDISCHE STIMMEN AUS DER BEDRÄNGNIS – EINE UNGEBROCHENE ZERBROCHENE WELT ............................. 469 1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4
II.
GLAUBE NACH AUSCHWITZ – »HOLOCAUSTTHEOLOGIE«, DER TOD GOTTES IN AUSCHWITZ RICHARD L. RUBENSTEIN (GEB. 1924) ....................................... 480 1. 2. 3. 4. 5. 5.1 5.2 5.3
III.
Der Trostbrief des Gurer Rebben – ḥasidische Verhaltensweisen ............................................ 469 Predigten im Warschauer Ghetto 1940–1943 R. Kalonymos Kalmisch Schapiro ................................... 472 Der Fund im Warschauer Ghetto ........................................ 472 Die gegenwärtigen Leiden – Gründe – Bewertungen ......... 473 Die Not und Trauer – im Rahmen des ḥasidischen Weltbildes ........................................................................... 475 Trost mit den alten Schriften .............................................. 477
Biographisches .................................................................. 480 Grundlinien von Rubensteins Denken ............................ 481 Der Tod Gottes und der »Holocaust« ............................. 483 Religion ohne Gott als priesterlichsakramental heidnische Religion ..................................... 486 Ein moderner Gottesbegriff ............................................. 493 Zwei Vorgaben für einen möglichen Gottesbegriff ............ 493 Gott als »ultimate concern« ................................................ 494 Gott als der Urgrund und das Nichts .................................. 498
AUTHENTISCHE ANTWORTEN AUF DIE SCHOAH IM VOLLEN BEWUSSTSEIN DER GESCHICHTE EMIL L. FACKENHEIM (1916–2003) ........................................... 501 1. 2. 3. 4.
Biographisches .................................................................. 501 Grundlinien des Denkens ................................................. 502 Die Einzigartigkeit des »Holocaust« ............................... 505 Die Geschichte und das Judentum – die Rückkehr des Judentums in die Geschichte ..................................... 511
Inhalt 5.
5.1 5.2 6.
6.1 6.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2
6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3
6.6
7.
13
Die theologisch-religiöse Begründung der Relevanz von Geschichte für das Denken und Handeln des Nach-Schoah Judentums .................................................. 512 »The commanding Voice of Auschwitz« – das 614te Gebot .................................................................. 517 Offenbarung und Geschichte – das Entstehen der Offenbarung aus dem Geschehen der Geschichte ........ 519 Die philosophische Begründung der Relevanz von Geschichte für das Denken und Handeln des Nach-Schoah Judentums und der Völker der Welt ....... 526 Vorbemerkung – Ortsverschiebung von »root-experience« und »epoch-making experience« .......... 526 Die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins – Grundlinien der Philosophie ............................................... 529 Epochemachende Ereignisse und ihr Einfluss auf das Judentum in der Vergangenheit und in der Zukunft ........... 531 Das menschliche Dasein als zeitliches und geschichtliches – Fackenheim an der Hand von Heidegger ............................ 534 Differenz und Kritik – die Trennung der Wege von Fackenheim und Heidegger ................................................ 537 Die Zerstörung des zentralen Heideggerschen DaseinsExistenzials – die Möglichkeit des eigenen Todes – durch die Nationalsozialisten .............................................. 539 Post-Holocaust-Dasein als Widerstand – die authentische Antwort der Nachlebenden ................................................. 542 Die existenziell-ontische Seite des hermeneutischen Zirkels – der Widerstand im Lager ..................................... 542 Das Objekt des Widerstandes in den Todeslagern............... 543 Die existenzial-ontologische Seite des hermeneutischen Zirkels – Widerstand als ontologische Möglichkeit menschlichen Seins ............................................................ 548 Tikkun ʽOlam – die Wiederherstellung zuvor gewesener Daseinsmöglichkeiten – Dasein als Wiederholung des Widerstandes von einst ....................................................... 553 Authentisches jüdisches Leben nach der Schoah – die Bedeutung des Staates Israel ..................................... 558
Inhalt
14
IV.
HOLOCAUST UND STAATSGRÜNDUNG ISRAELS ERÖFFNEN EINE NEUE ÄRA DES JUDENTUMS IRVING YITZCHAK GREENBERG (GEB. 1933) ............................ 563 1. 2. 3. 4. 5. 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5
V.
Biographisches .................................................................. 563 Grundlinien des Denkens ................................................. 563 Das Versagen der überkommenen Denksysteme vor und während der Schoah .......................................... 565 Die Unmöglichkeit neuer abgeschlossener Denksysteme ...................................................................... 567 Die Validität der modernen Orthodoxie vom Schlage Greenbergs ........................................................................ 569 Das alte-neue orthodoxe Glaubensbekenntnis .................... 569 Die Auflösung des Konfliktes zwischen orthodoxem Credo und der Wirklichkeit ................................................ 571 Offenbarung in der Geschichte – die dogmatische Lösung ................................................................................ 571 Die fideistische Lösung – Augenblicke des Glaubens ........ 572 Die ontologisch-epistemologische Lösung – die Gebrochenheit der Erkenntnis ...................................... 574 Die historiosophisch-theologische Lösung – die drei Epochen der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens ....................................................... 578
GOTTES VERBORGENHEIT – MENSCHLICHE VERANTWORTUNG ELIEZER BERKOVITS (1908–1992) UND EMMANUEL LÉVINAS (1905/6–1995) ......................................... 588 I. 1. 2. 3. 4.
5. 6. 7.
ELIEZER BERKOVITS ......................................................... 588 Biographisches .................................................................. 588 Grundlinien des Denkens – die Stellung des »Holocaust« in der jüdischen Geschichte ....................... 589 Ist die Schoah einzigartig? – die Möglichkeit des Kiddusch ha-Schem .................................................... 591 Ist Gott trotz des menschlichen Leidens in der Welt der gerechte Gott der Geschichte? – eine ontologische Theodizee ........................................................................... 594 Die Macht Gottes und die Existenz Israels ..................... 600 Imitatio Dei – Machtlosigkeit Israels – auch als Staat ... 601 Eine Neubewertung der Schoah und des jüdischen Staates mittels der Exils-Vorstellung .............................. 604
Inhalt II. 1. 2.
VI.
15
EMMANUEL LÉVINAS ......................................................... 608 Biographische Notiz .......................................................... 608 Gottes Verborgenheit und menschliche Verantwortung .................................................................. 608
DER MENSCH IN DER VERANTWORTUNG DER GOTTESENTWICKLUNG HANS JONAS (1903–1993) ............................................................ 614 1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.7.1 2.7.2
Biographisches .................................................................. 614 »Der Gottesbegriff nach Auschwitz« .............................. 616 Vorbemerkung .................................................................... 616 Warum Gott? ...................................................................... 617 Der Spalt der Öffnung zum Ewigen: Das Entscheiden und das Handeln im Jetzt .................................................... 619 Die Symbole zur Bezeichnung der Ewigkeitsteilhabe ........ 622 Der moderne Mythos vom Weltabenteuer Gottes .............. 624 Die ethischen Folgerungen aus dem Gott-Welt-Mythos .... 626 Die Deutung des Mythos vom göttlichen Weltabenteuer ... 628 … »nach Auschwitz« ........................................................ 629 Der Gott des neuen Mythos und der biblisch-jüdische Gott ..................................................................................... 632
VII. DIE SCHOAH, DAS ENDE DES EXIL-JUDENTUMS – DIE LEHREN AUS DER GESCHICHTE ELIEZER SCHWEID (GEB. 1929) .................................................... 636 1. 2. 2.1 2.2 2.3
3.
Gedenktage und die Befindlichkeiten des jüdischen Volkes ................................................................................ 636 Ursachen der Schoah ........................................................ 640 Die Verfasstheit der jüdischen Nation vor und nach der Emanzipation ................................................................ 640 Der »Juden-Hass« – dessen anthropologische und soziale Ursachen ................................................................. 641 Der Verlust des gemeinsamen religiösen Nenners in der Neuzeit – die Masse als neue Basis der Gesellschaften und neue technische Möglichkeiten .................................... 643 Die Schoah war nicht unausweichlich und bleibt auch weiterhin eine Möglichkeit – Schlussfolgerung ..... 644
16
Inhalt
EPILOG ........................................................................................................... 646 REGISTER ...................................................................................................... 647 BIBLIOGRAPHIE ........................................................................................... 660
VORWORT Dieser vierte Band des Jüdischen Denkens wird nicht, wie ich bisher glaubte, der letzte sein. Für die Zeit des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts haben sich so viele Themen angesammelt, dass ich dankbar den Vorschlag der Programmdirektorin des Verlags, Dr. Judith Wilke-Primavesi, aufgriff, den reichen Schatz auf zwei Bände aufzuteilen. Diese Aufteilung ist indessen nicht nur praktischer Art, sondern hat auch in der Entwicklung der Geschichte der Juden und des jüdischen Denkens seine Rechtfertigung. Die für den vierten Band des Jüdischen Denkens ausgewählten Themen, der Zionismus und die Schoah, bilden, jedes für sich, aber noch mehr beide zusammen genommen, nicht nur für die jüdische Geschichte, sondern gerade auch für das jüdische Denken einen Markstein, der es rechtfertigt, ihnen einen eigenen Band in dieser Geschichte des jüdischen Denkens zu widmen. Der anschließend folgende fünfte und dann wirklich letzte Band soll in absehbarer Zeit unter dem Titel Meinungen und Richtungen im 20. und 21. Jahrhundert hinzukommen. In welchem Maße die beiden in diesem vierten Band behandelten Themen für das gesamte Judentum bis hinein in Einzelschicksale entscheidend war, kann man am Schicksal meiner mir durch meine Frau angeheirateten Familie ermessen. Diejenigen Zweige der Familie, die sich dem in der Zeit vor der Schoah heiß umstrittenen Zionismus verpflichteten, sind dem Ruf des »Landes Israel« noch vor der Katastrophe gefolgt und haben sich dort am Aufbau des »Jischuv«, der jüdischen Gemeinschaft im damaligen Palästina und im 1948 gegründeten Staat Israel beteiligt und dadurch ihr Leben gerettet. Die in Polen verbliebenen Familienzweige sind allesamt in den deutschen Todeslagern interniert oder dort ermordet worden – mit Ausnahme einiger weniger, die zum Beispiel aus dem Warschauer Ghetto geflüchtet und im Untergrund die schreckliche Zeit überstanden haben – so die Eltern meiner Frau, die allerdings 1957 sich dem nie erloschenen Antisemitismus beugen mussten und aus Polen in den einzigen ihnen offenstehenden sicheren Hafen, den Staat Israel, emigrierten. Diesen Familien Lichtenpacht, Fischelsohn, Weissberg und Mozes, den Ermordeten wie den Geretteten, ist darum dieser Band des Jüdischen Denkens gewidmet. Wie sehr dieser Band in unsere eigene persönliche Gegenwart hereingreift, zeigt sich noch an einem weiteren Punkt. Es war der Sechstagekrieg von 1967, in der die Juden weltweit einen zweiten »Holocaust« befürchteten und der nach Aussage vieler der hier behandelten Autoren erst zum Erwachen aus der Schockstarre der Schoah führte und eine Theologie oder Philosophie zum Holocaust und Zionismus in Gang brachte. Es waren gerade auch jene bangen Wochen im Frühjahr 1967, die meine Frau und mich in Jerusalem, wo ich als Student weilte, zusammenführten. Die Leser dieses Bandes werden deshalb gewiss spüren, dass zuweilen die nüchterne Distanz, die ich in den vorausgehenden Bänden gewahrt
18
Vorwort
hatte, hier wohl einige Einbrüche erhalten haben mag. Es ist so, dass es in dem Maße schwieriger wird, auszuwählen und Urteile zu fällen, je näher die Ereignisse in die eigene Zeit oder gar Familie hereinreichen. Dies werden die Leser auch an den Stimmungslagen der hier verhandelten Autoren deutlich spüren. Schon diese wenigen Andeutungen zeigen, dass es berechtigt war, den beiden Themen Zionismus und Schoah einen eigenen Band zu widmen. Abschließend gilt es wieder Dank zu sagen, voran der FRITZ THYSSEN STIFTUNG, die mir erneut einen vierwöchigen Forschungsaufenthalt in Israel finanzierte, bei dem ich wesentliches Material für diesen und den folgenden Band suchen und finden konnte. Die Einladung zu dieser Arbeit an der Bar Ilan Universität in Ramat Gan erfolgte durch meinen langjährigen Freund und ForschungsKollegen, Prof. Dr. Avidov Lipsker-Albeck, der mir auch die Kontakte zu seinen Kollegen, Prof. Dr. Avi Sagi und Prof. Dr. Dov Schwartz vermittelte, die mir während dieser Wochen viele Hinweise gaben und Unterstützung zuteilwerden ließen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Wie immer war meine stete Gesprächspartnerin und kritische KorrekturLeserin meine Frau – der gemeinsame Weg geht weiter. Berlin im Juni 2015
EINFÜHRUNG 1.
Zionismus und Schoah – Wendepunkte der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens
Der Zionismus und die Schoah sind jedes für sich und beide zusammen nicht nur epochale Wendepunkte in der jüdischen Geschichte, sondern ebenso im jüdischen Denken. Der Zionismus hat mit dem Denken des »Exil-Judentums« gebrochen, hat die alten typologischen Geschichtsvorstellungen aufgegeben, das rabbinische messianische Erlösungskonzept beiseitegeschoben und ist in die politische Geschichte zurückgekehrt. Das gottergebene Warten auf die Rückführung des Volkes Israel in das verheißene Land, das Bewusstsein, in einem alte Sünden sühnenden Exil dulden zu müssen, all dies sollte nun nicht mehr gelten. Neue Formen der Selbsteinschätzung und Identitätsbestimmung sowie daraus abgeleitete Handlungsmaximen stellten in vielen Bereichen einen vollkommenen Bruch mit der rabbinischen Vergangenheit dar, wie sie seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 der bürgerlichen Zeitrechnung gegolten hatten. Hier wird ein neues Judentum gebaut, welches das zweitausendjährige »Exil-Judentum« ablösen wollte und sollte – dies gilt in gewisser Weise nicht nur für die säkularen, sondern auch für die religiösen Formen des modernen Zionismus. Ganz anders aber genauso grundlegend hat die Schoah das jüdische Denken in neue Bahnen gelenkt. Natürlich gab und gibt es bis heute orthodoxe Denkweisen, welche die Schoah nur als ein weiteres Glied der jahrtausendealten Verfolgungs- und Exils-Geschichte Israels sehen wollen und nach deren Ansicht hier kein qualitativ neues Geschehen stattgefunden hatte. Aber eine Vielzahl – gerade der fortschrittlichen, aber auch orthodoxer Denker, sieht mit der Schoah einen qualitativen Bruch, ein Geschehen, das sich von den bisherigen Verfolgungen der Juden nicht nur dem quantitativen Ausmaß nach unterscheidet. Solche Denker sehen deswegen auch die Notwendigkeit, das jüdische Selbstverständnis als Individuum wie als Nation neu zu überdenken, zu überlegen, wie jüdisches Leben nach diesem grundstürzenden Ereignis neu zu rechtfertigen, zu bauen, zu planen und zu stärken sei. Der Genozid, der ein Drittel der jüdischen Weltbevölkerung auslösche und bis zu 80 Prozent der religiös-rabbinischen Elite, musste eine kritische Neubewertung für Politik, Theologie, Philosophie, jüdische Identität und die nötige Zukunftsgestaltung der Verfasstheit des jüdischen Volkes auslösen. Es galt die grundlegende Frage zu stellen, ob das Judentum nach diesem furchtbaren Morden noch eine Zukunft als eigene religiöse oder kulturelle Entität haben kann, und wenn ja, wie diese zu sichern sei. Diese beiden das Denken grundsätzlich herausfordernden so unterschiedlichen Ereignisse, das eine positiv, das andere negativ, wurden von vielen der hier vorgestellten Denker im Nachhinein als eine dialektische Einheit begriffen, sei
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Einführung
es, dass die Schoah das Anliegen des Zionismus rechtfertigt, sei es in dem Sinne, dass der Zionismus – vor allem dessen Krönung in der Staatsgründung Israels – nach der Schoah der einzig verbliebene Rettungs- und Hoffnungsanker der Überlebenden Individuen und des Volkes Israel als Ganzem sei – dies durchaus auch mit religiösen und heilsgeschichtlichen Übertönen. Die Gründung eines jüdischen Staates nach 2000 Jahren Exil hat insbesondere nach dem bloßes Entsetzen und Starre auslösenden Genozid am europäischen Judentum nicht nur für die in diesen Staat Israel geflohenen oder eingewanderten Juden eine Neujustierung des jüdischen Selbstverständnisses erfordert, sondern für die gesamte Diaspora, die jetzt nicht mehr Exil genannt zu werden braucht. Das gesamte jüdische Denken im zwanzigsten Jahrhundert muss daher in ein Denken vor Schoah und Staatsgründung und ein solches danach unterschieden werden. Diese beiden Ereignisse sind wie eine Wasserscheide, wie ein tiefer Graben, selbst wenn manche orthodoxen Kreise dies nicht so sehen mögen. Aber immerhin haben die Ereignisse der Schoah auch bei vielen orthodoxen Antizionisten ein Umdenken bewirkt, so dass es nur ganz kleine ḥasidische Gruppen oder die sogenannten Neture Karta (Hüter der Stadt) sind, deren Antizionismus sich bis heute als eine aktive Gegnerschaft gegen den neugegründeten jüdischen Staat ausdrückt. Aber gerade auch diese Haltung hat durch die beiden Ereignisse eine neue Bedeutung bekommen, die oft tragische Züge annimmt. Nachdem im Jahre 1948 das zionistische Ziel der Staatsgründung erreicht worden war, erhob sich natürlich die Frage, ob sich der Zionismus als politischideologische Bewegung erübrigt hat und seine Weiterführung bis in die Gegenwart noch gerechtfertigt sei, oder ob es noch ausstehende Vorhaben zu erarbeiten gebe. Die Antwort auf diese Frage ist je nach ideologischer Ausrichtung oder Parteizugehörigkeit der Disputanten umstritten. Schoah und Staatsgründung sind Ereignisse, die chronologisch im Wesentlichen zu all jenen Autoren und Denkern gehören, die im 20. und 21. Jahrhundert sich Gehör verschafften und die zunächst allesamt im vierten Band des Jüdischen Denkens behandelt werden sollten, nun aber auf zwei Bände aufgeteilt wurden. Es stellte sich für die Aufteilung des Stoffes die Frage, inwieweit es berechtigt ist, das Denken zu Zionismus und Schoah aus seinem chronologischen Kontext herauszunehmen und ihm einen eigenen, gar gemeinsamen Band des Jüdischen Denkens zu widmen. Die Antwort auf diese Frage ist aus der Sicht der meisten in diesem Band vertretenen Denker, die sich der Schoah gewidmet haben, eine uneingeschränkte Befürwortung einer solchen gemeinsamen Heraushebung von Zionismus, Staatsgründung und Schoah aus dem übrigen philosophischen und theologischen Diskurs. Aber auch für den im Nachhinein prüfenden Historiker des jüdischen Denkens ergibt sich diese Berechtigung, weil aus der Distanz betrachtet beide Ereignisse – so unterschiedlich, ja gegensätzlich sie tatsächlich waren – in einer Weise verbunden sind, die Zionismus und Schoah zu-
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sammengenommen als großen dialektischen Umbruch im jüdischen Denken erscheinen lassen, der bis hinein in die Erkenntnislehre reicht. In dieser Beurteilung selbst sind allerdings bereits epistemische Voraussetzungen involviert. Die unterschiedlichen Beurteilungen von Zionismus und Schoah sind in nichts weniger als in grundlegenden Differenzen der Weltsicht und der conditio judaica begründet. All jene Autoren, die noch dem traditionellen rabbinischen Denk-Paradigma verhaftet blieben, haben den Zionismus und die Schoah in ihr überkommenes Geschichtsdenken eingefügt, in dem beide Ereignisse tatsächlich keinerlei Recht beanspruchen können, als Wendepunkt zu einer neuen Ära betrachtet zu werden. Für das traditionelle rabbinisch geprägte Denken war der Zionismus eine zu verwerfende Abweichung von der überkommenen jüdischen Tradition, nach welcher das Volk Israel von seinem Gott ins Exil verstreut wurde, wo es so lange bleiben sollte, bis der von Gott erwählte Messias das Exilsdasein der Juden beendet und sie wieder in die Geschichte, oder besser an deren Ende, hinüberführt. Auch die etwas moderneren rabbinischen Konzeptionen, wie sie in Band drei des Jüdischen Denkens vorgestellt wurden, sahen die Rolle der Juden weiterhin in theologischen und heilsgeschichtlichen Kategorien, wenn sie diesen in der Zerstreuung eine Weltmission zuschrieben, welche zur Herbeiführung eines universalen messianischen Reiches als der Quelle einer umfassenden Weltgerechtigkeit führen würde. Die Schoah hingegen ist für dieses überkommene Denken nur ein weiteres Glied in der langen und schmerzlichen Verfolgungsgeschichte der Juden, demnach auch nichts Neues und kein Umbruch in der Geschichte. Dies betrifft auch die mögliche Suche nach Antworten auf die brennende Frage nach den Ursachen des Leidens, die dann meist in der menschlichen Sünde gesucht werden. Wollte man hingegen in Zionismus, Staatsgründung und Schoah eine grundsätzliche Wende im jüdischen Selbstbewusstsein sehen, erforderte dies neue Denkkategorien aus den unterschiedlichsten Wissenschaften, der modernen Historiographie, der Philosophie, der Soziologie, der Anthropologie, aber auch der Theologie, welche das Geschehen in Zionismus und Schoah in einem völlig anderen Licht erscheinen ließen als es sich für das überkommene Denken darstellte. Und es ist ausschließlich dieses neue Licht, diese neuen Zugangsweisen im Verstehen des menschlichen Daseins, die eine neue Bewertung von Zionismus und Schoah ermöglichten, ja den Zionismus überhaupt erst entstehen ließen. Und gemessen mit diesen neuen Maßstäben, nach denen im Nachhinein auch die ältere Vorgeschichte neu vermessen wird, erscheinen Zionismus und Schoah je für sich als Umbrüche im jüdischen Dasein, in der jüdischen Geschichte und im jüdischen Denken. Jedes dieser beiden Ereignisse für sich genommen lässt im Licht des neuen Denkens schon einen solchen Umbruch erkennen, um wieviel mehr, wenn man sie beide zusammen betrachtet. Wiewohl beide Ereignisse schon chronologisch eine gewisse Verflechtung besaßen, wurden sie in den
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nachherigen reflektierenden Bewertungen der conditio judaica durch die jüdischen Denker zu einer dialektischen Einheit verbunden, so dass sie beide zusammengenommen als die große und umfassende Wende im jüdischen Dasein und Bewusstsein erscheinen mussten. Um es auf einen ersten Begriff zu bringen, der von den Autoren beider Themen gebraucht wurde: Das Judentum ist durch Zionismus und Schoah wieder in die Geschichte zurückgekehrt, sei es als wollendes Vorausdenken oder als resümierendes Nach-Denken. Das Dasein des Judentums als Exilsdasein ist und musste mit den beiden Ereignissen als zuende gekommen betrachtet werden.
2.
Nationales und zionistisches Denken
2.1
Vorbemerkung
Der Zionismus, oder das nationale jüdische Denken, setzte schon tief im 19. Jahrhundert ein, erfuhr mit der von Theodor Herzl beim ersten Zionistenkongress in Basel vom 29.–31. August 1897 gegründeten zionistischen Weltorganisation1 seinen ersten Höhepunkt, der dann durch die Gründung des ersten jüdischen Staates nach fast 2000 Jahren vom 14. auf den 15. Mai 1948 (5. Ijjar 5708) gekrönt wurde. Das nationale jüdische Denken ist im Kontext des europäischen Völkerfrühlings des 19. Jahrhunderts aufgebrochen und hatte seit dieser Zeit, bis in das beginnende 20. Jahrhundert hinein den Charakter des Utopischen, eines Denkens, das mit den bisherigen Denktraditionen brechen wollte, um im Rahmen der Geschichte Neues, bisher nicht Denkbares zu konzipieren und um daraus zur Tat, zur politischen Veränderung aufzurufen – konkret zur Rückkehr der Juden in das in ihrem Bewusstsein und in der religiösen Tradition stets als Hoffnungsziel bewahrte Heilige Land, das Land der Väter Israels. Haupttriebfeder dieser Phase des erwachenden nationalen politischen Denkens im Judentum war zum einen die beklagenswerte, ja katastrophale Lebenssituation der Juden in den europäischen Ländern und darüber hinaus, und zum andern der Versuch, die jüdische Exilssituation nicht nur als liturgisch-theologisches Bewusstsein zu zelebrieren, sondern als politisch-soziale Realität. Letzteres sollte dazu führen, die Lage der Juden als Politikum darzustellen, ein Politikum das in die Handlungsvollmacht der lebenden und agierenden Juden und Staaten gehört, also nicht als ein gottgewolltes Schicksal hinzunehmen sei. Das Volk Israel sollte, wie dies Moses Hess 1
Die zionistische Weltorganisation war, so Alex Bein, zunächst eine formale Klammer für die nationalen zionistischen Organisationen, die jeweils nach den Rechten ihrer Wohnländer zu gestalten waren, vgl. A. Bein, Theodor Herzl. Biographie, Wien 1934, S. 350–353; A. Böhm, Die zionistische Bewegung bis zum Ende des Weltkrieges, Berlin 1935, S. 183; 211–229.
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einmal formulierte, wieder auf das Gleis der Geschichte gestellt werden. Es war der Aufruf, aus der Fremdbestimmung unter den nichtjüdischen Völkern zur Selbstbestimmung im eigenen Land zurückzukehren.
2.2
Die Ursachen des neuen Denkens
Das Denken verändert die Menschen, es verändert die Welt und auch den Lauf der Geschichte. Auf keine Epoche der jüdischen Geschichte trifft diese Beobachtung mehr zu als auf die Entdeckung der »Nation« als sozialer und vor allem politischer Kategorie. Diente das ältere, vorzionistische, jüdische Denken meist der Deutung der conditio judaica, welches die vorfindliche Situation der Juden zu verstehen und ihr Sinn zu geben versuchte, wodurch es natürlich auch stabilisierenden Einfluss auf das Leben des Einzelnen und größerer oder kleinerer Kreise der Gemeinschaft genommen hatte, so hat das neue »nationale Denken« eine Sprengkraft entfaltet, die den Lauf der jüdischen Geschichte als Ganzes verändert, ja umgekrempelt hat. Das nationale Denken führte das jüdische Selbstverständnis und das darauf bezogene Denken aus einem bald zweitausendjährigen modus interpretandi des status quo zu einer Neubetrachtung der jüdischen Lage, die sich nicht länger nur mit der Deutung der jüdischen Geschichte und des gegebenen jüdischen Daseins begnügte, sondern dazu aufrief, diese Geschichte und dieses Dasein mit eigenen Kräften, wider die inneren und äußeren Ideologien, zu verändern und auf eine neue Grundlage zu stellen. Der philosophisch und literarisch prononcierteste Autor des neuen Denkens, Achad Haam, alias Ascher Ginzberg, hat dies in seinem epochemachenden ersten zionistischen Aufsatz »Nicht dies ist der Weg!« von 1892 so formuliert: »Nach vielen Jahrhunderten der Armut und Niedrigkeit von außen und des blinden Glaubens und der Hoffnung auf die Gnade des Himmels von innen trat in unserem Zeitalter ein neuer, folgenschwerer Gedanke in Erscheinung: den Glauben und die Hoffnung vom Himmel herunterzuholen und sie in lebendige, reale Kräfte umzusetzen; auf die Erde die Hoffnung und auf das Volk den Glauben zu gründen …«.2 Das alte Tabu, dass eine Änderung des jüdischen Schicksals alleine vom Himmel und mittels des Messias zu erhoffen sei, wurde nun aufgegeben. Man sah jetzt die Chancen und Möglichkeiten, selbst in das Schicksal des jüdischen Volkes einzugreifen und zum Besseren zu wenden.
2
Achad Haam, Nicht dies ist der Weg!, in: Achad Haam, Am Scheidewege. Gesammelte Aufsätze, dt. von I. Friedländer u. H. Torczyner, Berlin 1923, Bd. 1, S. 41.
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Die grundlegende Veränderung im jüdischen Denken war demnach, dass die tatsächliche Realität des jüdischen Lebens in der Zerstreuung des Exils nun selbst Gegenstand der Betrachtung wurden und nicht mehr den Ausgangspunkt für theologische oder metaphysische Deutungen des Grundes oder der Ursachen des Exils bildeten – die bedrückende conditio judaica also weder als göttliche Strafe für eine Schuld, noch als Auswirkung metaphysischer Ereignisse verstanden wurde. Man wollte Schluss damit machen, mit Hilfe der Theologie die jüdische Situation als einen Preis für die »Auserwählung« zu betrachten, oder mittels einer Heilsgeschichte beziehungsweise der Hegelschen Geschichtsphilosophie die Juden als Träger einer bestimmten Mission in der Völkerwelt zu sehen,3 oder gar als Besitzer einer besonderen höheren Erkenntnis. Demgegenüber wurde von den neuen zionistischen Denkern die jüdische Lebenssituation jetzt als solche in ihrer Realität betrachtet und aus dieser Realität zu erklären versucht. Ein wichtiges Instrument dafür war die neu entstandene wissenschaftliche Soziologie, derer sich alle nationalen Denker bewusst oder unbewusst bedienten, allen voran Achad Haam. Diese soziologische Wende hat schon der Jerusalemer Philosoph Nathan Rotenstreich in seiner 1945 erschienenen Darstellung des modernen jüdischen Denkens herausgehoben, indem er dieses moderne Denken von den älteren theologischen Erklärungen des jüdischen Exils abhob: »die typische erste Besonderheit des Nachdenkens über das Exil ist [nun] die Beschränkung [der Erklärungen] auf die Soziologie. Das moderne nationale Denken beschränkt sich darauf, das Wesen des Exils von seiner nationalen Seite her aufzudecken, auf das, worin es die Lebensrealität der Gesellschaft als Gesellschaft erkennt. […] es stellt nicht die Frage nach dem ›woher‹ des Exils, sondern nimmt es als Realität, als die Wirklichkeit des Volkes, in der es sich tatsächlich befindet. Das moderne nationale Denken versucht, diese Wirklichkeit von ihren Wurzeln her zu verstehen, mit dem Ziel, eine Grundlage für veränderndes und verbesserndes gesellschaftliches Handeln zu gewinnen. Das Exil ist demnach so zu beschreiben: Das Exil ist die Entfernung des Volkes von seinem Heimatland, ist die Zerstreuung des Volkes in der weiten Diaspora, ist die Fremdheit des Volkes in seiner gegenwärtigen Umgebung und dessen Verknechtung unter diese. All diese Grundsätze der Definition des Exils sind Elemente aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die keinerlei Bedeutung jenseits von ihnen haben.«4
3
Vgl. dazu Samson Raphael Hirsch und Abraham Geiger, Jüdisches Denken Bd. 3, S. 510–515.
4
N. Rotenstreich, Ha-Machschava ha-jehudit ba-‘Et ha-ḥadascha, Tel Aviv 1945, Bd. 1, S. 161.
605–613.
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Trotz dieser diametral umgewendeten Neuausrichtung des jüdischen Denkens darf man allerdings nicht den Fehler begehen, zu behaupten, dass hier eine neue soziologische Realität, ein neues Volk, oder eine neue Nation geschaffen, oder gar erfunden worden sei, wie dies unter anderen das unsägliche Buch des israelischen Historikers Shlomo Sand mit seinem reißerischen Titel Die Erfindung des jüdischen Volkes5 behauptet. Nicht das jüdische Volk ist hier erfunden worden, sondern eine innovative Weise, über die seit Jahrtausenden bestehende Volksgruppe nachzudenken. Diese neue Denkweise, die wie viele neue Denkansätze in allen Bereichen der Kultur und Wissenschaft neue Lösungen für alte Probleme sichtbar machte, die den bisherigen Denkweisen nicht gelungen waren, war also das Novum, nicht das jüdische Volk als solches. Wie schon unzählige Male in der langen Geschichte dieses Volkes – jeder Leser dieser Darstellung des Jüdischen Denkens wird das wahrgenommen haben –, vermochten eine ganze Anzahl von jüdischen Denkern des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, ihr eigenes Philosophieren von den neuesten Debatten der Zeit befruchten zu lassen und so das eigene Schicksal, die Lage ihres Judentums neu und präziser zu verstehen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Sie haben nicht, ich betone dies ein weiteres Mal, das jüdische Volk neu erfunden, sondern sie haben das vorhandene Volk mit neuen Denkkategorien gesehen und beschrieben. Durch die Definition des
5
S. Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010. Dieses Buch habe ich selbst einer eingehenden Kritik unterzogen, die man auf der Homepage der Scholars for Peace in the Middle East (SPME) vom 6. Juli 2010 unter dem Titel: »Geschichtsschreibung als politischer Kampf« nachlesen kann. Die wesentlichen Kritikpunkte waren die, dass Sand, nachdem er selbst eine Mehrzahl von möglichen und im 19.–20. Jahrhundert verbreiteten und akzeptierten Definitionen von »Nation« vorstellt, selbst eine eigene Definition von Nation vorlegt, die seinem engen politischen Programm entspricht. Mit dieser eigenen engen Definition will Sand alle die anderen, von seiner eigenen Definition abweichenden Definitionen, die auch von den Zionisten rezipiert worden waren, vergessen machen, um dem Zionismus seine Legitimität abzusprechen. Sand behauptet wider besseres Wissen, der Zionismus vertrete aus der Vielfalt der möglichen Definitionen nur ein genetisches Modell von Nation, welches historisch für das Volk der Juden nicht zutreffe. Um dies zu beweisen, trägt Sand ein breites historisches Panorama vor, das bestätigen soll, dass die Juden eben keine genetische Einheit bildeten, woraus folge, dass der zionistische Gründungsmythos auf falschen Voraussetzungen beruhe. Da Sand bei seiner historischen Darstellungen sämtliche anders gearteten auch von vielen Zionisten vorgetragenen nationalen Merkmale, die tief und fest in der jüdischen Geschichte verankert sind, ausblendet, kommt seine Darstellung einer politisch und ideologisch inspirierten Geschichtsklitterung gleich. Er will für den Zionismus partout keine anderen nationalen Merkmale anerkennen als solche, die er durch sein einseitiges Geschichtsbild glaubt widerlegen zu können. Sands Buch ist ein klassisches Beispiel nationalpolitisch einseitiger Mythologie, die er vorgibt hinter sich lassen zu wollen.
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Volkes als Nation, Le’om,6 (auch wenn sie dazu gelegentlich den hebräischen Begriff ‘Am, »Volk«, als Synonym für »Nation« weiter verwendeten), konnten sie die in ihrer Zeit in Europa mit Hilfe dieser nationalen Denkkategorie gewonnenen Einsichten auch auf das Judentum beziehen und die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen wie auch die daraus abzuleitenden politischen Forderungen erheben. In welchem Maße diese neue in Europa sich ausbreitende Denkkategorie das jüdische Denken des 19. Jahrhunderts prägte, kann man an den Vertretern des antinationalen assimilatorischen Kontrastprogramms erkennen, die im dritten Band dieser Darstellung vorgestellt wurden. Paradigmatisch hierfür ist Abraham Geiger – der darum auch wiederholt in die Schusslinie der nationalen Denker geraten war –, der sein Verständnis als Deutscher jüdischen Glaubens nicht besser auszudrücken verstand als mit der expliziten Zurückweisung der nationalen Definition des Judentums, die folglich nicht einmal mehr Platz im hebräischen Gebet haben sollte.7 Das Auftreten eines nationalen Denkansatzes bei den Juden kam indessen nicht von ungefähr, worauf alle Autoren selbst hinwiesen. Da waren zum einen die aktuellen nationalen Bewegungen und Gründung von Nationalstaaten, die im Zuge der Auflösung der europäischen und nahöstlichen Großreiche möglich wurden – genannt werden Italien, Griechenland, Serbien, Polen, Ungarn –, und zum anderen die einschlägige philosophische Literatur etwa von John Stuart Mill und Ernest Renan oder das politische Manifest von Ernest Laharanne. Zu nennen sind des Weiteren die einschlägigen Gedanken christlicher Autoren und auch Staatsmänner, welche von einer Rückführung der Juden in ihr angestammtes Vaterland sprachen. Letztere wurden von N. M. Gelber in seinem aufschlussreichen Buch Zur Vorgeschichte des Zionismus. Judenstaatsprojekte in den Jahren 1695–1845 zu Recht neben die zahlreichen messianischen Bewegungen des jüdischen Mittelalters gestellt, die in ihrer Weise die Rückkehr der Juden nach Zion und die Wiedererlangung einer politischen Dimension des jüdischen Volkes verwirklichen wollten.8 Gelber zählt dort insgesamt fünfundzwanzig Instanzen konkreter Staatsgründungs-Projekte und Aufrufe zur Rückkehr der Juden nach Palästina auf.9
6
Dies ist ebenfalls schon ein biblischer Begriff, der dort als Synonym zu ‘Am zu verstehen war.
7
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3. S. 611–613.
8
N. M. Gelber, Zur Vorgeschichte des Zionismus. Judenstaatsprojekte in den Jahren 1695– 1845, hrsg. im Auftrage der Exekutive der zionistischen Weltorganisation, London 1927 durch den Phaidon-Verlag in Wien; Th. Rahe, Frühzionismus und Judentum. Untersuchungen zur Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897, Frankfurt a.M. et al. 1988.
9
Vgl. auch Böhm, Zionistische Bewegung, S. 62–80.
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2.3
27
Definitionen von Nation
Die Frage, was denn das Wesen einer Nation ausmache, war unter den Juden ebenso umstritten wie bei den nichtjüdischen Denkern der Zeit. Der Vater der deutschen Soziologie, Max Weber, sagte dazu: »›Nation‹ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: dass gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität zu resultieren habe, herrscht Übereinstimmung.«10 Im Einzelnen werden und wurden zum Beispiel folgende Merkmale für die Existenz einer Nation angeführt: Genetisch-ethnische Gemeinsamkeiten, gemeinsame Sprache, gemeinsame Kultur, die Religion, politische Schicksalsgemeinschaft, Zugehörigkeit zu einem Herrschaftsbereich etc. Aber keines dieser Elemente ist letztlich konstitutiv. Es gibt ja unterschiedliche Nationen, welche dieselbe Sprache sprechen, Nationen, deren Mitglieder unterschiedlichen Religionen angehören usw. Die Meinungsdifferenzen über die Definition des Judentums als Nation waren den jüdischen Akteuren sehr wohl bekannt. So schreibt der unten ausführlich dargestellte Ahron David Gordon in seinen Essay »Selbsteinschätzung« (Haʽarachat ʽazmenu): »selbst in der Definition des Nationalen und des nationalen Problems kommt man da, wo man nach nationaler Erneuerung strebt, zu keinerlei übereinstimmender Auffassung. Die einen gründen die Nationalität hauptsächlich auf das Wirtschaftsleben der Nation und die anderen auf ein spezifisches geistiges Leben, wieder andere auf ein nationales Leben in der Diaspora und jene auf die absolute Abschaffung des Exils, andere auf das Land Israel und andere auf irgend ein Land, wieder andere auf die hebräische Sprache und Literatur, und nochmals andere auf die Sprache und Literatur des Jargon [Jiddisch] und so weiter. Die Hauptsache ist, dass jede dieser Definitionen teil-
10
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. J. Winckelmann, Tübingen 1972, S 528.
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Einführung weise oder ganz den übrigen Definitionen in einer Weise widerspricht, die keine Möglichkeit zu gemeinsamer Arbeit lässt.«11
Die jüdischen nationalen Denker beteiligten sich an diesen unterschiedlichen Definitionsversuchen und produzierten dabei dieselben Meinungsverschiedenheiten wie die nichtjüdischen Denker. Man fragte zum Beispiel ob die jüdische Nation eine einzige Sprache sprechen müsse, etwa das Hebräische, oder das Jiddische oder gar Deutsch. Muss ein Angehöriger der jüdischen Nation auch die jüdische Religion bekennen oder darf er Atheist oder gar Christ sein? Diese Meinungsverschiedenheiten über die Merkmale der jüdischen Nation waren aber letztlich für die damalige Debatte auch von Vorteil, weil eben der Begriff der Nation gerade wegen seiner Unbestimmtheit dazu geeignet war, die großen Unterschiede der jüdischen Gemeinschaften als sekundär erscheinen zu lassen und das Nationale, jenseits solcher Differenzen, als Gemeinsamkeit anzuerkennen.
2.4
Die unterschiedlichen zionistischen Richtungen
Außer den im Folgenden im Einzelnen vorgestellten Autoren traten noch weitere Schriftsteller mit zionistisch-nationalen Konzepten auf, von denen die Wichtigsten sogleich genannt werden sollen. Die hier getroffene Auswahl zur detaillierteren Darstellung verfolgt, wie in den vorausgegangenen Bänden des Jüdischen Denkens, das Ziel, paradigmatische und besonders herausragende Beispiele vorzustellen, welche die unterschiedlichen nationalen Konzeptionen repräsentieren oder gar inaugurierten und welche mutatis mutandis bis in das heutige moderne Israel nachwirken.12 Diese sind die im Folgenden aufgezählten.
11
A. D. Gordon, Kitve A.D. Gordon be-schloscha Kerachim: Ha-ʼUmma we-haʽAvoda, HaʼAdam we-ha-Tevaʽ, Michtavim u-Reschimot, herausgegeben von S. H. Bergmann und A. Schochat, Jerusalem 1951–1954 (Sonderausgabe 1957, danach wird hier zitiert als: Kitve Gordon); Kitve Gordon, Bd. 2, S. 265–266.
12
Zu den verschiedenen zionistischen Richtungen s. auch Z. Braiterman, Zionism, in: Cambridge History of Modern Jewish Philosophy, (Hg.) M. Kavka, Z. Braiterman, D. Novak, Cambridge 2012, Vol. 2: The Modern Era, S. 606–634. Braiterman teilt den Zionismus in folgende Richtungen: 1. Politischer Zionismus (außer Herzl u. Pinsker nennt er hier noch Max Nordau sowie die Bewegungen der Poʽale Zion, Ha-Poʽel ha-Zaʽir und den rechten Flügel der Revisionisten, 2. Kulturzionisten (nach Achad Haam nennt er die Nietzscheaner Micha Berdyczewsky (1865–1921), Ḥajjim Ḥazaz (1898–1973) und Joseph Ḥajjim Brenner, (1881–1921). 3. Sozialistischer Zionismus oder Arbeits-Zionismus (hier nennt er Nachum Syrkin, (1867–1924), Ber Borochow, (1881–1917) und die verschiedenen sozialistischen Bewegungen, d.h. Kibbuz, Verkaufskooperative und Verteidigungsgruppen; hier wird auch A. D. Gordon rubriziert. 4. Religiöser Zionismus (hier nennt er natürlich Rav Kuk, dann für die Zeit nach dem Sechsta-
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2.4.1 Der politische Zionismus Unter politischem Zionismus versteht man diejenige Richtung, deren Hauptziel es war, eine politische Organisation für alle Juden in der Welt zu errichten, welche die Belange der Juden gegenüber den Machthabern und Regierungen dieser Welt vertreten und die zugleich das Ziel verfolgten, die Juden als politische Größe darzustellen, mit der Absicht der Errichtung einer jüdischen Heimstatt oder gar eines Staates für die bedrängten Juden in aller Welt, möglichst in Palästina. Diese Zielsetzungen wurden von den verschiedenen Autoren mit durchaus unterschiedlichen Denkkategorien, Denkmustern und Motivationsmustern beschrieben. Zentrales Motiv dieser Denkkategorie ist die sogenannte »Judennot«, das heißt die Verfolgungs- und Entrechtungssituation der Juden in ihren Gastländern. Hier werden im Detail vorgestellt: 1. Der sozialdemokratisch-genetisch-dynamische Ansatz von Moses Hess (1812–1875). Er ist eine Art naturwissenschaftliche Entwicklungstheorie von Kosmos und menschlicher Gesellschaft, die zu einer sozialdemokratischen Weltgesellschaft führen soll, zu der aber auch die Rückkehr der Juden in ihr altes Heimatland gehört. Das Judentum wird nun als Nation gesehen, deren Religion und Literatur Schöpfungen des nationalen jüdischen Genius sind, wie dies entsprechend für alle Nationen gilt. Die Religion ist der Nationalkultus der jüdischen Nation. 2. Der sozialpsychologisch-territorialistische Ansatz von Leon Pinsker (1821–1891). Er argumentiert völkerpsychologisch und sieht nur in der räumlichen Trennung der jüdischen Nation von den anderen Nationen eine Heilung von der Judaeophobie der Weltvölker. Die Religion mit ihrem messianischen Erlösungsglauben hat nach seiner Auffassung solche Einsichten eher vernebelt. Eine Lösung ist nur durch die Ursachenbehandlung möglich, das heißt die Beseitigung der Anomalität der Situation des jüdischen Volkes unter den Völkern der Welt. Es müssen die Ursachen der Psychosen bei Juden wie Nichtjuden – Judenhass und mangelndes Selbstbewusstsein – beseitigt werden. Dafür ist ein grundsätzlicher Neuanfang erforderlich, nicht die Rückkehr in ein »Heiliges Land« 3. Der soziologisch-staatsrechtliche Ansatz von Theodor Herzl (1860–1904). Er glaubt, nur in einem jüdischen Nationalstaat sei eine freie Entfaltung jüdischen Lebens möglich. Herzl begründet dies mit den staatsrechtlichen Theorien seiner Zeit und verfolgte dieses Ziel mit den Mustern der damals üblichen staatlichen Monopol-Gesellschaften.
gekrieg Meʼir Kahane und Jeschajahu Leijbowitz. 5. Schließlich, folgt der Revisionistische Zionismus von Vladimir Jabotinsky, (1880–1940), den er wegen seiner militärischen, hierarchischen und uniformistischen Tendenzen dem Faschismus nahegerückt sieht.
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2.4.2 Der Kulturzionismus Das zentrale Anliegen der Kulturzionisten ist nicht die Not der Juden in ihren Exilsländern, sondern die desolate Situation des »Judentums« als Kultur und auch Religion. Ausgangspunkt ist hierbei der offenbare Zerfall jeglicher eigenständiger jüdischer Kultur seit der Aufklärung und der Emanzipation, dem es zu steuern gälte, wenn nötig, nicht aber in erster Linie mit politischen Mitteln. Hier wird der klassische Vertreter dieser Richtung, Achad Haam, vorgestellt. Das Ziel des dezidiert kulturellen zionistischen Ansatzes von Achad Haam (1856–1927) ist im Wesentlichen und vor allem bemüht, die Wiederherstellung einer eigenständigen jüdisch-nationalen Kultur zu erlangen. Er geht dabei so weit, dass er sogar die Religion als sine qua non der Zugehörigkeit zum Judentum verwirft. In seiner Behandlung der Probleme der jüdischen Nation entwirft Achad Haam ein neues Menschenbild, das wesentlich gesellschaftsbezogen ist, wie er auch die Ethik – revolutionär für jüdisches Denken – nicht mehr in der Offenbarung der Tora oder der Vernunft begründet. Dort, wo nur, wie bei Herzls Ansatz, die »Juden-Politik« im Vordergrund steht, sieht Achad Haam gar eine Gefahr für das kultur-politische Anliegen, weshalb er zu einem der schärfsten Kritiker der Herzlʼschen Staatspolitik wurde, aber auch schon der Siedlungspolitik der ostjüdischen Ḥoveve Zion (Zionsfreunde) vor Herzl.
2.4.3 Zionismus als Selbstfindung in Natur und Arbeit Eine ganz eigenwillige Form des Zionismus ist das individualzionistische Modell der Selbstfindung vor allem durch die Arbeit in der Natur des Landes Israel. Für die lebensphilosophischen Konzeption von Ahron David Gordon (1856–1922) ist der Zionismus recht besehen nicht eine kollektive nationale Aufgabe, sondern ein Medium für die Selbstfindung des Menschen, das heißt des Individuums, eine Stufe auf dem Weg zum selbstbestimmten »Ich«. Allerdings sieht Gordon dieses Ich wie Achad Haam in die Nation eingebettet und von ihr geprägt. Aber auch die Nation als Ganzes ist ein kollektives Individuum, das seinerseits in einen größeren Kontext eingebettet ist, der sie prägt und ihr Ziele vorgibt, nämlich die Natur und der gesamte Kosmos. Gordon hat sein Programm im Gefolge seiner Einwanderung nach Palästina entwickelt und dort vor allem gelebt und ist so zum Vater dessen geworden, was man als »Religion der Arbeit« bezeichnet hat, die dann in der Arbeiter- und Kibbuzbewegung ihre Heimat fand. Diese neue Religion der Arbeit in der Natur des Landes Israel hat die traditionelle Religion Israels ersetzt. Die jüdische Geschichte und Kultur wirkt nunmehr über die Nation auf den Einzelnen, während der Einzelne aus der Selbstfindung im Raum der Natur die Nation gestaltet.
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2.4.4 Der religiöse Zionismus Der religiöse Zionismus schöpft vor allem aus der religiös-rabbinischen Tradition und ringt mit der Frage, inwieweit der Zionismus mit den überkommenen messianischen Erwartungen in Kollision oder in Übereinstimmung steht. Sein wesentliches Ziel ist die Beförderung der jüdischen Religion insbesondere nach deren Rückzug im Gefolge der Aufklärung und der Emanzipation. In der Mitte seines Interesses steht die Errichtung eines religiösen jüdischen Gemeinwesens und dies insbesondere in der Gesellschaft der Palästina-Kolonisten und späteren jüdischen Bürger des Staates Israel. Dargestellt werden: 1. Der apokalyptisch-messianische Ansatz des serbischen Rabbiners Jehuda Alkalai (1798–1878). Dieses Modell ist eine Verbindung aus der traditionell religiös-messianischen Sicht mit nationalpolitischen Elementen. Es ist das beispielhafte Grundmodell des »religiösen Zionismus«. Alkalai hat ein dezidiert apokalyptisches Weltbild, nach welchem die Geschichte gerade 400 Jahre vor dem Ende ihrer 6000 jährigen Dauer steht. Dieser apokalyptische Zeitfaktor führt ihn zu einer konsequenten Neudeutung der rabbinisch-messianischen Eschatologie, mit dem Ziel, moderne aktivistische, politische und demokratische Elemente in sie einzuführen, um so einen religiös motivierten Zionismus anzustoßen. Alkalai verbindet sein apokalyptisches Geschichtsverständnis mit den politischen Konstellationen und Politikmodellen seiner Gegenwart. 2. Religiöser Zionismus im Jischuv, das heißt unter den vorstaatlichen Kolonisten und im heutigen Staat Israel. Die unter dieser Rubrik zusammengefassten Konzeptionen wollen, wie der israelische Philosophiehistoriker Dov Schwartz in mehreren bedeutsamen Büchern und Aufsätzen darstellte,13 eine eigene neue jüdische »Weltanschauung« vortragen, in welcher die traditionellen Topoi der jüdischen »Dogmatik« mit den neuen historischen Realitäten in Übereinklang gebracht werden sollen. Dies bedeutet vor allem eine neue und verstärkte Hinwendung zu den theologisch-philosophischen Seiten des Judentums, die im bewussten Gegensatz zur vor allem halachisch ausgerichteten Religion des nichtzionistischen orthodoxen Judentums, der sogenannten Ḥaredim, der Gottesfürchtigen, steht. Im Vordergrund figuriert hier demnach die denkerische Erfassung des »Jüdischen«, dessen theologische und philosophische Deutung, in deren Rahmen das »Halachische« allenfalls als eine nachgeordnete Funktion erscheint. Im Rahmen dieser Neudeutung der jüdischen Theologie werden die Gotteslehre, die Kosmologie, das Menschenbild und die Bedeutung des menschlichen Tuns neu 13
D. Schwartz, ʼEmuna ʽal Paraschat Derachim. Ben Raʽajon le-Maʽase ba-Zijonut ha-datit, (engl. Nebentitel: The Theology of the Religious Zionist Movement), Tel Aviv 1996; ders., Ha- Zijonut ha-datit ben Higajon le-Meschichijut (Religious Zionism between Logic and Messianism), Tel Aviv 1999; ders., ʼErez ha-Mamaschut we-ha-Dimajon. Maʽamadah schel ʼErez Jisraʼel ba-Hagut ha-zijonit ha-datit (The Land of Israel in Religious Thought), Tel Aviv1997.
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beschrieben, wie überhaupt alle Lebensäußerungen des Menschen in dieses Weltbild integriert werden sollen, eingeschlossen die moderne Kultur, die Wissenschaft wie auch das Phänomen des Säkularen. Als wichtigster Vertreter dieser Gruppe wir hier der erste aschkenasische Oberrabbiner des Jischuv, Avraham Jizchak Kuk (Kook) (1865–1935), und in einem Unterkapitel dessen Sohn Zwi Jehuda (1891–1982) vorgestellt. Kuk erstrebt eine Erneuerung des Judentums an Geist und Leib. Er entwickelt zu diesem Zweck eine ausgefächerte Erkenntnis- und Glaubenslehre, deren Ziel es ist, alle Bereiche der menschlichen Kultur, Wissenschaft, Alltag und körperliche Ertüchtigung ernst zu nehmen und als religiöse Aufgabe zu definieren. Er greift dazu tief in die philosophische und esoterische Tradition des Judentums hinab, setzt sich aber auch mit modernen Philosophen wie Henri Bergson und Arthur Schopenhauer auseinander. So gelang es ihm, auch die säkularen und antireligiösen Zionisten seiner Tage zu gewinnen.
2.4.5 Zionismus-Kritik und »Postzionisten« Anlässlich der in der zum Ende des 20. Jahrhunderts vermehrt und vehement einsetzenden Kritik am Zionismus – vor allem von jüdischer Seite – und dem Aufkommen der sogenannten Neuen Historiker, welche das zionistische historische Narrativ in Frage stellten und noch stellen, wurde ein Kapitel zu solchen Kritiken eingefügt. Es zeigt zunächst am Beispiel von zwei herausragenden Gestalten des Zionismus, dem Philosophen und Religionshistoriker Martin Buber und dem Ökonomen Heinrich Margulies, dass Kritik am Zionismus ein Phänomen war, das die Bewegung von der ersten Stunde an begleitete. Hier wurden zwei solche Kritiker ausgewählt, die zum einen gestandene und beharrliche Zionisten waren und zum anderen das Denken der Bewegung aus unterschiedlichen, ja diametral entgegengesetzten Positionen heraus kritisierten. Heinrich Margulies, der philosophisch gebildete Ökonom, hat sich gegen die ideologische Zersplitterung und Engführung einzelner Richtungen innerhalb des Zionismus ausgesprochen und forderte eine ökonomisch wie soziologisch realistische und damit Extrempositionen relativierende Konzeption des Zionismus, einen synthetischen oder erweiterten Zionismus. Das zentrale Anliegen seines Denkens war, sowohl die Galut (das Exil) wie auch das »Heimatland« Palästina aus ihren negativen (Galut) und positiven (Palästina) Idealbildern zu befreien und eine realitätsnahe zionistische Arbeit für die beiden komplementären Grundsäulen des neuen Judentums zu entwickeln. Demgegenüber hat Martin Buber den pragmatisch-politischen Zionismus abgelehnt und forderte eine spirituelle Erneuerung nicht nur des jüdischen Volkes, sondern auch des jüdischen Individuums. Die zentrale Aufgabe des Zionismus
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sah er darin, die seit der Bibel dem Judentum auferlegte religiöse Weltmission der »Verwirklichung« des Göttlichen in der Welt durch Gerechtigkeit und Gemeinschaft voranzubringen. Politik und Staatsgründung sah er hierfür grundsätzlich als störend und hinderlich. Beide Denker, die eine je in ihrer weise vorgeführte Konzeption zur Handlungsmaxime des Zionismus erklärten, wurden durch die historische Wirklichkeit ein- und überholt. Margulies durch den Zusammenbruch der Illusion einer der jüdischen Staatlichkeit gleichwertigen Galut-Existenz angesichts der neuerlichen Verfolgung der Juden in Deutschland ab 1933, und Martin Buber durch die Staatsgründung, durch die alleine gesichert werden konnte, die vielen Tausende Überlebenden der Schoah in ein sicheres neues Heimatland zu bringen. Diese beiden Beispiele der vorausdenkenden Konzeptionierung und zionistischen Theoriebildung, die letztlich an der historischen Realität scheiterten, sind als Mahnzeichen für die in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart sich neuerlich als vorausschauende Theoretiker gebärdenden Denker gedacht, als eine Erinnerung an die Macht des Faktischen und der geschichtlichen Entwicklungen, wie auch als Bestärkung einer angebrachten Skepsis solchen Theorien gegenüber angesichts der politischen und gesellschaftlichen Realitäten und des daraus resultierenden Sicherheitsbedürfnisses. Nach diesen beiden Beispielen innerzionistischer Kritik folgt ein nur kursorischer Überblick über die moderne, meist von außen kommende, Zionismuskritik durch Autoren aus Israel, den USA und Deutschland, benennt deren wichtigste Thesen und die damit involvierten Probleme. Eine Schlussbetrachtung stellt schließlich die Frage, ob, gemessen an den von den unterschiedlichen zionistischen Richtungen gesteckten Ziele, das bisher Erreichte dazu berechtigt, vom Ende des Zionismus zu sprechen.
2.4.6 Zionismus nach der Gründung des Staates Israel Als gleichsam vorweggenommene Antwort auf die modernen Zionismuskritiker folgt schließlich die Sicht des Jerusalemer Philosophen Eliezer Schweid (geb. 1929), der seine Beurteilung der kontrovers diskutierten Fragen ausschließlich auf historische Fakten und geschichtsphilosophische Schlussfolgerungen stellt. Er erörtert das Problem des palästinischen Heimatrechts der Juden und was es ist, das die Juden weltweit über alle Differenzen hinweg zu einem Volk macht. Schweid diskutiert die Frage, ob nach der Staatsgründung die Ziele des Zionismus erreicht sind und damit eine zionistische Politik obsolet geworden wäre und wenn nicht, was die noch bestehenden alten oder neuen Ziele des Zionismus als gesamtjüdischer Aufgabe sind, oder sein sollten.
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2.4.7 Weitere Autoren aller Richtungen Weitere hier nicht eingehend besprochene bedeutsame zionistische Autoren sind:14 Joseph Salvador mit seiner Schrift Paris, Rom, Jerusalem von 1830, der (im Kapitel zu Moses Hess mit einem wichtigen Programm zitierte) Thorner Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer (1795–1874),15 dessen Buch Derischat Zion (Zionssuche) von 186216 vor allem halachische Belege aus der reichen rabbinischen Traditionsliteratur für die Pflicht im Lande Israel zu siedeln, zusammenträgt, aber auch konkrete Vorschläge macht, wie dieses Ziel praktisch durchzuführen sei,17 Isaak Rülf (1831–1902),18 Moses Leib Lilienblum (1843–1910),19 Nathan
14
Die meisten von ihnen werden von Th. Rahe, Frühzionismus und Judentum, behandelt; u. s. J. H. Schoeps, Pioneers of Zionism: Hess, Pinsker, Rülf: Messianism, Settlement Policy, and the Israeli-Palestinian Conflict, Berlin 2013.
15
Rahe, Frühzionismus, S. 127–139.
16
Deutsch erschienen als: Hirsch Kalischer, Drischat Zion oder Zions Herstellung in hebräischer Sprache. Übersetzt in’s Deutsche von Dr. Popper, Rabbiner in Czarnikau, Berlin 1905 (2. Aufl.). Der letzte Teil Ma’amar ha-‘avoda, der die Wiedereinrichtung des Opferdienstes behandelt, wird hier allerdings nur auszugsweise referiert. Ursprünglich war die Schrift der dritte Teil eines umfassenden »religionsphilosophischen« Werkes ’Emuna Jeschara (Richtiger Glaube), das 1862 in Lyck (Teil I schon Krotoschin 1843) erschienen war; separate Abdrucke u.a.: Thorn 1874, Posen 1895; zu Kalischer s. noch: J. Ticker, The Centrality of Sacrifice as an Answer to Reform in the Thought of Zvi Hirsch Kalischer, New York 1975; I. Klausner, Rabbi Zvi Kalisher’s Derishat Zion, in: Dispersion and Unity (1966); Y. Samon, Tradition and Modernity in Early Religious-Zionist Thought, in: Tradition 18 (1979).
17
»Sein Programm war, daß von den großen jüdischen Philanthropen eine Kolonisationsgesellschaft gegründet und daß von dieser Geld zum Ankauf von Terrains in Palästina gesammelt werden solle. Auf den Terrains sollten mittellose Ostjuden angesiedelt werden, die unter fachlicher Anleitung in der Landwirtschaft auszubilden wären. Der Boden hätte im Besitz der Gesellschaft zu bleiben, die Siedler wären nur Pächter. Landwirtschaftliche Schulen für die heranwachsende jüdische Jugend sollten in Palästina oder in einem Lande, das ähnliche Früchte hervorbringt, gegründet werden. Wehrhafte Jünglinge hätten eine Schutz- und Polizeitruppe für die Kolonien zu bilden. Alle hätten sich aus eigener Kraft zu erhalten, die Aktion dürfe mit Wohltätigkeit nichts gemein haben.«, Böhm, Zionistische Bewegung, S. 75–76; ein ausführliches Zitat zu seinem praktischen Programm s. Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, I, 7.
18
Rahe, Frühzionismus, S. 201–221; R. Michael, Israels Heilung. Isaak Rülf und die Anfänge des Zionismus in Deutschland, in: Bulletin des Leo Baeck Institutes 22 (1963); Th. Rahe, Die politische und soziale Theorie bei Isaak Rülf: das Erbrecht als Erbübel im Hinblick auf die zukünftige Entwickelung der menschlichen Gesellschaft, in: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts 79 (1988), S. 75–87; Isaak Rülf, Aruchas Bas-Ammi. Israels Heilung. Ein ernstes Wort an Glaubens- und Nichtglaubensgenossen, Frankfurt a.M. 1883; ders., Der Zionismus in der altjüdischen Literatur und neuzeitlichen Geschichte, in: Jüdischer Volkskalender für das Jahr 5659 (1898–99); ders., Sind wir noch Juden?, in: Die Welt 8.2 (1901).
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Birnbaum (1864–1937),20 Gustav G. Cohen (1830–1906)21 und Isaak Turoff (1874–1929).22 Ein wichtiger Grund und Ausgangspunkt für ihr neues national ausgerichtetes Denken, auf den alle diese Autoren zu sprechen kommen, ist die verfehlte oder in Russland erst gar nicht vollzogene Emanzipation, die den Juden Gleichstellung verheißen hatte, aber dann doch wieder in gesellschaftliche Ausgrenzung, Antisemitismus und Verfolgung mündete. Für manche dieser Autoren steht noch die andere Folge der Emanzipation im Vordergrund, nämlich die Auflösung der jüdischen Identität und der Niedergang einer eigenen jüdischen Kultur wie der Religion.23
3.
Jüdisches Denken zur Schoah
3.1
Die Verwendung des Begriffs »Holocaust« – eine notwendige Vorbemerkung und das Beispiel der Treblinka-ʽAkeda
Ich verwende den Begriff »Holocaust« in den folgenden Darstellungen nur, weil er in der in diesem Band besprochenen Literatur meist als terminus technicus für den Genozid am europäischen Judentum Verwendung findet. Der wohl zum ersten Mal von Elie Wiesel für die Schoah verwendete Begriff, der in der lateinischen Bibel als holocaustum, das »all-Verbrannte« Opfer, das Ganzopfer bezeichnet,24 suggeriert die falsche und für modernes Denken nicht mehr annehm-
19
Rahe, Frühzionismus, S. 222–234; L. Simon, Moses Leib Lilienblum, Cambridge 1912; A. Mintz, Guentzburg, Lilienblum and the Shape of Haskala Autobiography, in: Association for Jewish Studies Review 4 (1979); Moses Leib Lilienblum, The Regeneration of Israel and the Land of His Forefathers, London o. D.
20
Rahe, Frühzionismus, S. 235–250; Birnbaums frühe zionistische Schriften sind bequem zugänglich in: Nathan Birnbaum, Die jüdische Moderne. Frühe zionistische Schriften. Mit einem Vorwort von H. M. Broder, Augsburg 1989; J. Fraenkel, Mathias Acher’s Fight for the »Crown of Zion«, in: Jewish Social Studies 16 (1954); A. E. Kaplan – M. Landau (Hg.), Vom Sinn des Judentums. Ein Sammelbuch zu Ehren Nathan Birnbaums, Frankfurt a.M. 1925 (hier weitere Bibliographie); J. Doron, Jüdischer Nationalismus bei Nathan Birnbaum (1883–1897), in: W. Grab (Hg.) Jüdische Integration und Identität in Deutschland und Österreich 1848– 1918, Tel- Aviv 1984.
21
Rahe, Frühzionismus, S. 251–261; R. Lichtheim, Geschichte des deutschen Zionismus, Jerusa-
22
Rahe, Frühzionismus, S. 262–271.
23
Eine hilfreiche Anthologie mit Texten dieser und noch weiterer Autoren findet man bei H. J.
lem 1954; G. G. Cohen, Die Judenfrage und die Zukunft, Hamburg 1891.
Schoeps, Zionismus. Vierunddreißig Aufsätze, München 1973; eine reichhaltige Biographie bei Th. Rahe, Frühzionismus und Judentum. 24
Hebräisch ʽOlah (Aufstiegsopfer); griechisch: holokauston, holokautoma: Das Opfer, das ganz verbrannt wurde.
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bare Vorstellung, der Judenmord sei gleichsam ein Gott dargebrachtes wohlgefälliges Opfer, wie dies für ein traditionell-typologisches Geschichtsdenken noch durchaus denkbar war. Der Ausdruck »Holocaust« ist abzulehnen, auch wenn es in der jüdischen Tradition sehr wohl Möglichkeiten gab, die in Pogromen hingeschlachteten Juden als Opfergabe vor Gott zu verstehen.25 Die zu diesem Verständnis führende Linie ist die Deutung der ʽAkeda, der Opferbindung Isaaks, als Brandopfer, lateinisch: holocaustum. Nach Genesis 22, 2 sprach Gott zu Abraham: »Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, den Jizchak, und gehe hin in das Land Moria und opfere ihn daselbst als Brandopfer.« Im Hebräischen steht für das Brandopfer das das Wort ʽOlah (Aufstiegsopfer). In der lateinischen Vulgata lautet der Text: »Tolle filium tuum unigenitum quem diligis Isaac et vade in terram Visionis atque offer eum ibi holocaustum.« Der Begriff des holocaustum / ʽOlah war demnach auch mit der ʽAkeda verbunden. In diesem Sinne bringt zum Beispiel der mittelalterliche Rabbi Efrajim Ben Jaʽakov aus Bonn in einer Poesie die ʽAkeda mit den Pogromopfern der Kreuzzüge in Verbindung. Die Poesie trägt den Titel »Die Akeda« und lautet unter anderem: »Gedenke doch der vielen ʽAkedot um unseretwillen, / der Heiligen, der Männer und Frauen, / die hingeschlachtet sind um deinetwillen. / Gedenke der Märtyrer von Juden, der Gerechten / der Kinder Jakobs, die gebunden waren.«26 Manche orthodoxe jüdische Denker verwendeten die ʽAkeda-Typologie auch wieder für die Schoah. Ein besonders bewegendes Beispiel dafür ist die im Jahre 1946 in Schanghai von dem orthodoxen Rabbiner Simcha Elberg27 auf Hebräisch verfasste ʽAkedat Treblinka (Treblinka-ʽAkeda) – eine große Gedenk-Klage.28 Die Verwendung der ʽAkeda als Symbol für die Verfolgung und Ermordung von Juden geschieht auch hier im Rahmen der rabbinischen typologischen Geschichtsdeutung. Nach ihr schreitet die jüdische Geschichte nicht linear voran, 25
Vgl. K. E. Grözinger, Gründe und Grenzen des Kiddusch ha-Schem – Heiligung des Gottesnamens, in: Martyriumsvorstellungen in Antike und Mittelalter. Leben oder streben für Gott?, hrsg. S. Fuhrmann & R. Grundmann, Leiden, Boston 2012, S. 241–254.
26
Zitiert nach: T. Beyrich, Zeichen aus Asche. Lyotard und Derrida zum »Holocaust«, NZSTh 44, S. 218–236, Berlin 2002; u. vgl. Hymnen und Gebete/Ephraim von Bonn. Ins Deutsche übersetzt und kommentiert von Hans-Georg von Mutius, Hildesheim, Zürich, New York 1989.
27
Simcha Elberg (1911–1996). Er floh 1939 nach Schanghai, später in die USA.
28
Wieder veröffentlicht als: ʽAkedat Treblinka, in: Ha-Modia 35 (18. Mai 1984), und online: http://www.hebrewbooks.org/pagefeed/hebrewbooks_org_52416_4.pdf; Digitalisat aus: HaPardes 77, 4, S. 2. Die digitalisierte Version in Pardes 58, 7 bricht nach den Worten: (›Boten des Todesengels‹, bTalmud Avoda Sara 28) ab, was indessen am Digitalisat liegen kann, dem die nächste Seite fehlt.
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sondern wiederholt sich gleich einer Spirale in immer neuen Verfolgungen und der Selbsthingabe im Kiddusch ha-Schem sowie den gegebenenfalls anschließenden Teil-Rettungen. Die hier im Folgenden als Übersetzung ganz wiedergegebene Treblinka-ʽAkeda bezieht sich auf beide Motive, die stete Wiederholung des Geschehens, bei dem dieses Mal aber offenbar die rettende Hand Gottes ausgeblieben ist: »Treblinka-ʽAkeda Zum Gedenken an meine Eltern, Brüder und Schwestern, die ihren Nacken zur Heiligung des großen, ehrwürdigen, und furchterregenden Namens hingestreckt haben. Sie wurden aufgeschichtet Blut auf Blut, das Blut der Eltern und ihrer Kinder, die auf den Feuerherd im Tale der Tötung gestiegen sind – in Treblinka. Die ʽAkeda Isaaks und die Treblinka-ʽAkeda, die erste für einen Einzigen gedacht und die zweite, für das gesamte Volk. Beide haben gleichermaßen das Geschehen unserer Tage und unseres Bestehens auf Erden auf ewig geheiligt! Ist Treblinka nicht die konsequente und ununterbrochene Fortsetzung dessen, was auf dem Berg Moria einst begann. Nun, eine ›Säule‹29 stand bei der Bindung (ʽAkeda) Isaaks zur Prüfung und machtvollen Erprobung zur Seite. [Hingegen hier] hieben und meißelten aus Zungen die roten Feuersflammen Stimmen von Millionen. Eine Heroldsstimme aus dem Stöhnen, Weinen und Schrecken zerschnitt und brach mit einem ›Höre Israel‹ alle sieben Himmel auf. Denn zum ersten Mal wurden sie im Himmel der Himmel vor Schrecken aufgerüttelt angesichts dessen, was sie sahen, und der riesigen Zahl der Scharen Israels, die man zur Heiligung des Namens [Gottes] zur Tötung führte! Es scheint, dass Isaak, der Jude, niemals vom Brandaltar herabgenommen wurde. Vielmehr wurde der Berg Moria ausgerissen und ist dann von Land zu Land geirrt: Von Spanien nach Frankreich, von Frankreich nach Deutschland und nach Polen. Denn der Beginn unseres Volkes ist an die ʽAkedat-Jizchak gebunden; dieses Ereignis wird auch weiter gehen, weiter ziehen, auch nach dieser unendlich großen ʽAkeda, die mit dem Namen Treblinka benannt wird. Und so wie die Bindung Isaaks, die erste, nach dem Gebot Gottes und nach seinem Willen geschehen ist, so auch dieses Mal bei der ʽAkedat-Treblinka. Aber bei Isaak erschien der Engel des Erbarmens und im letzten Augenblick erscholl der Befehl ›recke deine Hand nicht aus‹, so war Isaak nur eine 29
Das heißt der Erzvater Abraham.
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Einführung kurze Weile auf dem Altar gebunden. Doch als die sechs Millionen Jahr nach Jahr aufgebunden wurden und die Feuersflammen züngelnd brannten, vernahmen wir keine Stimme die da rief: ›Schlachte nicht‹! Den Isaak brachte Abraham zu seiner Bindung. Und welch eine Freude war es, als man erfuhr, dass es ein Abraham sei, der ihn zur Bindung bringt. Aber es war ein Zittern und Erbeben als man sah, wer die Boten für die sechs Millionen sind! Dämonische Nattern, Menschenblut verschlingende Schlächter! Und darüber schmerzt uns das Herz! Weil Abraham der Bote war, der Isaak zur Bindung brachte, wurde dieser nicht getötet. Denn wenn immer der Bote ein gewisser Abraham ist, wird keinem Juden ein Leid geschehen. Aber bei der Treblinka-ʽAkeda, wer waren da die Zornes-Boten?! Opferbindungen (ʽAkedot) schrecken uns nicht! Bei der Opferbindung Isaaks hatte Gott dem Abraham schon angezeigt, dass ein großes Volk aus seinem Samen entstehen wird, trotz der Opferflammen, auch wenn sie stark und mächtig werden. Was unsere Herzen dieses Mal so schmerzt, ist dies: Wer sind diese Geister des Bösen und der Falschheit, die es frech wagten, unsere Vernichtung durchzuführen?! Schon viele Zeiten von Schmach und Mangel haben wir erlitten, doch Mal um Mal wurden wir getröstet, denn die Künder der Strafe waren Moses, Jeremia und ihre Genossen (›Boten des Todesengels‹, Babylonischer Talmud, ʽAvoda Sara 28).30 Doch wehe uns bei diesem Mal, Hitler haben wir vernommen, der im Namen Gottes spricht. Und dies ist für uns der bittere Wermut in den Qualen unserer Strafe! Nicht der Tod macht uns bedrückt, bittrer ist, [zu sehen,] wer der Henker ist, der Bote unsres Todes. Wie erniedrigt und verhasst wir sind, denn den Deutschen wurde zuteil, Todesbote für uns zu sein, Strafrichter und Scharfrichter zugleich!«
Diese sehr traditionelle Klage über das schreckliche Geschehen in der Schoah enthält all jene Gedanken und Motive, welche von den moderneren, unten ausführlich zu besprechenden Denkern mit allem Nachdruck zurückgewiesen wurden: Da ist die typologische Geschichtsdeutung, die keine wirkliche Veränderung in der Geschichte Israels sehen will, sondern nur den steten Zyklus von Verfolgung und Rettung und erneuter Verfolgung. Dieser zyklische Geschichtsverlauf ist, so meint der Rabbiner Elberg, dem Volk Israel mit der ʽAkedatJizchak, der Opferbindung Isaaks, in die Wiege gelegt. Sie ist der Urtypus der 30
An der genannten Talmudstelle wird von Krankheiten gesprochen, die zum Tode führen, z. B.: »Rabbi Safra sagte: Die Beerenblatter ist ein Vorbote des Todesengels.«, L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Berlin 1934, Bd. IX, S. 520.
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Geschichte Israels, der auch mit der Schoah nicht zu Ende gehen wird. Ein weiterer zentraler Gedanke ist der, dass diese zyklische Geschichte, wie dies ähnlich das biblische Richterbuch beschreibt, ein von Gott so bewirktes und gewolltes Geschehen ist – wo Israel sündigt, folgt die göttliche Strafe. Hier ist dies mithilfe der ʽAkeda als ein Opfer vor Gott gedeutet, das auch von einem von Gott beauftragten, in seinem Dienst stehenden Todesboten durchgeführt wird. Gerade an diesem Punkt sieht Simcha Elberg die besondere Schmach der Heimsuchung in der Schoah, weil der Todesbote nicht der seinem Volk stets beistehende Erzvater Abraham ist, sondern die blutrünstigen Deutschen mit ihrem Führer Hitler. Die andere Deutungsformel, die seit den Kreuzzugs-Verfolgungen auch mit der ʽAkeda verbunden wurde, ist die des Kiddusch ha-Schem (Die Heiligung von Gottes Namen im Martyrium), die auch für Elberg eine zentrale Rolle spielt. Der Kiddusch ha-Schem ist gleichsam die Sühneleistung im Bekenntnis, welche für das Volk die Wendung bringen wird. Das in dieser ʽAkedat-Treblinka vorgetragene Geschichtsbild, die Deutung der Schoah im Lichte dieser unentrinnbaren Struktur, ist zum einen Klage, will aber zugleich auch Tröstung sein, Hilfe dazu, sich mit dem Unabänderlichen abzufinden. Ganz ähnlich verhält es sich mit den wenigen ḥasidischen Lehrern die in diesem Band in einem eigenen längeren Kapitel zu Wort kommen sollen.31 Es sind dies vor allem zwei Zeugnisse, das eine kurz nach dem Ende der Todesmaschinerie, als die Überlebenden in den DP-Lagern in Europa ihrem weiteren Schicksal entgegenharrten, und das andere mitten aus der Not im Warschauer Ghetto. Beide Autoren sind noch dem ererbten rabbinischen und kabbalistischen Denken verpflichtet, das ganz gottergeben die Leiden hinnimmt und –im Sinne der rabbinischen Theologie – auf die göttliche Erlösung hofft, oder auf die theurgischen Mittel der Kabbala vertraut. Dies ist noch kein Nachdenken über das Geschehen der Schoah, sondern das Ringen mit der schrecklichen Wirklichkeit mit Hilfe der von den Vätern überlieferten Mittel. Die unten ausführlich vorgestellten moderneren Denker haben sich von diesem Geschichtsbild der rabbinischen Tradition verabschiedet und treten dessen Verstehenskonsequenzen mit allem Nachdruck entgegen. Die Aussagen der wenigen hier im Anschluss kurz skizzierten traditionellen Denker, welche das Problem der Schoah mit den überkommenen Denkmustern verarbeiten wollten, demonstrieren, zu welch kaum erträglichen Resultaten man damit gelangt. Dagegen haben sich die Modernen mit allem Nachdruck zur Wehr gesetzt. Dieser Widerstand geht sogar so weit, dass selbst die Möglichkeit des Kiddusch ha-Schem in der Schoah umstritten war. Von einigen Denkern wurde diese Möglichkeit des Kiddusch-ha-Schem in der Schoah bestritten, weil in den Todeslagern keine 31
Siehe unten, Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, I.
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Möglichkeit bestanden habe, das Martyrium statt der Konversion zu wählen (Emil Fackenheim). Demgegenüber meint Eliezer Berkovits, dass der Begriff durchaus noch verwendbar sei, da der Kiddusch ha-Schem auch noch andere Bedeutungen als die von Fackenheim herausgestellte habe. Wie dem auch sei, gravierender ist die für modernes Denken absurde Konsequenz, die sich aus der Verwendung des Begriffs Holocaust (Opfer) und der Parallelisierung der Schoah mit der ʽAkeda ergibt, wie dies Jean-François Lyotard in seinem Buch Der Widerstreit drastisch vor Augen führte. Er sagt dort: »Wenn man vom Holocaust spricht, so bedeutet dies, daß Gott der Hand des Nazi-Henkers befahl und das jüdische Volk die Stelle Isaaks einnimmt. Es ist wohl zuzugeben, daß der Herr Abrahams dessen Gottestreue prüfen wollte, wenn er vom Vater die Opferung seines Sohnes verlangte. Wollte Gott die Gottestreue der SS prüfen? Hatten sie einen Bund geschlossen? Und liebte die SS den Juden wie der Vater seinen Sohn? Wenn nicht, wie könnte das Verbrechen in den Augen des Opfers den Wert einer Opferung haben? Und in den Augen des Henkers? Und des Nutznießers? Oder bot Gott selbst das Leben eines Teils seines Volkes zum Opfer dar? Welchem Gott aber konnte er es anbieten? Ebenso behauptet man, daß Israel für seine Fehler bestraft werden mußte, für seine Schuld, den Stolz. Keinen einzigen dieser Sätze, welche die göttliche Absicht (prüfen, strafen) beschreiben, um das Opfer zu erklären, kann man widerlegen. Keiner kann als Erklärung des Tötungsbefehls, als seine Rechtfertigung gelten. Nur mittels Rhetorik könnte man aus dem Tod von ›Auschwitz‹ einen schönen Tod machen.«32 Wer wie Lyotard und die anderen erwähnten Denker sich von dem antikmittelalterlichen Denken im Sinne eines typologischen Geschichtsverlaufs und von den Kategorien von Opfer und Sühnung wie von Sündenschuld hinsichtlich der Opfer der Schoah verabschiedet hat, sollte den Begriff »Holocaust« nicht mehr verwenden. Wenn ich es hier dennoch tue – so bitte ich um Nachsicht – denn als Chronist und Historiker, der seine Quellen getreu wiedergeben will, konnte ich die von den dargestellten Autoren verwendeten Begriffe nicht einfach eliminieren. Demgegenüber trifft der biblische Ausdruck Schoah das Geschehen sehr viel besser. Man denke an Jes 47,11: »Und Unheil wird über dich kommen, das du nicht verhindern kannst, Verderben wird dich überfallen, das du nicht wenden kannst. Ungekannte Verwüstung (Schoah) wird dich plötzlich überfallen.« 32
J. F. Lyotard, Der Widerstreit, München 1989 (1987), S. 186–187 (§ 168); Übersetzung auf dieser Grundlage verändert mithilfe der englischen Übersetzung: The Differend. Phrase in Dispute, trsl. G. van Den Abbeele, Univ. of Minnesota 1988, S. 109.
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3.2.
41
Der Beginn der theologischen und philosophischen Reflexion zur Schoah
3.2.1 Theodizee und Anti-Theodizee Das jüdische philosophische und theologische Nachdenken über das Verbrechen an den europäischen Juden hat erst in den 1960iger Jahren eingesetzt, nachdem man bis dahin erst sprachlos die Nachrichten von Überlebenden, deren Klagen und Schreien in Bericht, Erzählung und Gedichten zur Kenntnis nehmen musste. Ein entscheidender Anstoß war, das sagen viele der hier zu Wort kommenden Autoren wiederholt, der Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten im Jahre 1967, bei dem während banger Wochen die Gefahr eines zweiten »Holocaust« am nahöstlichen Himmel aufgezogen war. Doch schon vor diesem bedrohlichen Ereignis hatte vor allem Richard L. Rubenstein, mit seinem 1966 erschienenen Buch After Auschwitz33 den Bann gebrochen und damit seinerseits eine neue Phase des jüdischen Denkens eröffnet und geschaffen – ich sage dies trotz des schon 1965 in Amsterdam veröffentlichten Buches von Ignaz Maybaum, das den Titel The Face of God after Auschwitz trug.34 Was rechtfertigt es dennoch gerade Rubenstein als den Initiator einer neuen theologisch-philosophischen Denkrichtung zu bezeichnen? Zachary Braiterman hat in seinem Buch (God) After Auschwitz. Tradition and Change in Post-Holocaust Jewish Thought35 dafür die richtige Formel gefunden. Er sieht mit Rubenstein, und ihm folgend Eliezer Berkovits36 und Emil Fackenheim,37 Denker am Werke, die sich von der traditionellen religiösen Denkformel der Theodizee zur Erklärung des Bösen in der Welt verabschiedet haben und stattdessen eine Anti-Theodizee in das jüdisch religiöse Denken einführten. Während die traditionellen orthodoxen Denker wie auch der liberale Maybaum noch nach der alten Gebets-Formel »um unserer Sünden willen sind wir aus unserem Land ins Exil gezogen und sind von unserem Erdboden entfernt worden«38 Gott als gerechten Richter und Lenker der Geschichte darstellten und somit letztlich auch den Genozid am europäischen Judentum als Gottes Willen verstehen wollten oder mussten, haben die AntiTheodizee Theologen diese Formel für ein solches Desaster als undenkbar verworfen, oder gar, wie dies Rubenstein einmal ausdrückte, als »obszönen« Ge-
33
R. L. Rubenstein, After Auschwitz. Radical Theology and Contemporary Judaism, Indiana-
34
I. Maybaum, The Face of God after Auschwitz, Amsterdam 1965.
35
Z. Braiterman, God After Auschwitz. Tradition and Change in Post-Holocaust Jewish
36
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, V, I.
37
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, III.
38
Musafgebet für die drei Wallfahrtsfeste (Aschkenas), z. B. Siddur Safa berura, S. 220.
polis, New York, Kansas City 1966, zu Rubenstein siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, II.
Thought, Princeton 1998.
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danken voller Schauder zurückgewiesen. Das neue Anti-Theodizee-Denken, verzichtet darauf, diesem Geschehen noch irgendeinen Sinn, eine mögliche Erklärung abringen zu wollen und zieht daraus seine unterschiedlichen Konsequenzen. In den folgenden Darstellungen jüdischer Denker zur Schoah werden vor allem diese Gegner einer Sinnerklärung der Schoah ausführlicher zu Wort kommen, weil nur sie etwas wirklich Neues in das jüdische Denken einführten. Dies bezeugen die orthodoxen Denker ausdrücklich selbst, wenn sie in der Schoah verglichen mit der Katastrophe der Tempelzerstörung, der Judenmassaker im mittelalterlichen Rheinland, der Vertreibung aus Spanien und Portugal oder den Chmielnicki Massakern im Jahre 1648 nichts wirklich Neues sahen, weshalb sie eben auch die Schoah mit den traditionellen Theodizee-Angeboten zu bewältigen suchten. So verfahren auch noch die hier unten paradigmatisch aufgenommenen »Ḥasidischen Stimmen«, oder der Autor der Treblinka-ʽAkeda.39 Zur Verdeutlichung des Kontrastes zwischen altem und neuem Denken sollen hier zunächst wenigsten in einigen wenigen Strichen solche traditionelle Erklärungsversuche skizziert werden.
3.2.2 Ignaz Maybaum (1897–1976) Ignaz Maybaum wurde in Wien geboren, das Studium zur Rabbinerordination (1926) absolvierte er in Berlin an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. 1935 wurde er von der Gestapo verhaftet und sechs Wochen inhaftiert. 1939 verließ er Deutschland mit einem Kindertransport nach England. Zuvor war er Rabbiner in Bingen, Frankfurt (Oder) und Berlin. 1949 wurde er Rabbiner der Edgware and District Reform Synagogue in London. Seine Mutter und Schwester wurden in der Schoah ermordet. Die zentralen Gedanken Maybaums zur Ermordung der europäischen Juden hat er in Predigten vor seiner Gemeinde vorgetragen, die er zusammen mit Anderem in seinem Buch The Face of God after Auschwitz 1975 publizierte.40 Wie-
39
Eine hilfreiche Zusammenstellung dieser und anderer Denkmodelle bietet die Anthologie von M. Brocke & H. Jochum, Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust, Gütersloh 1993 (zuvor) 1982.
40
Zu Ignaz Maybaum sagt Thomas Meyer in seiner bedeutenden Studie Zwischen Philosophie und Gesetz Jüdische Philosophie und Theologie von 1933 bis 1938, Leiden Boston 2009: »Eine Würdigung Maybaums steht weitgehend aus. Sein Schüler Nicholas de Lange brachte 2001 einen ›Reader‹ heraus, der vor allem die sehr umstrittenen Thesen Maybaums zur Shoah versammelt. Siehe Nicholas de Lange (Hg.), Ignaz Maybaum: A Reader, Oxford New York 2001. Für eine erste Information die knappen Hinweise bei: Christian Wiese, Ignaz Maybaum, in: Andreas Kilcher, Otfried Fraisse (Hg.), Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophi-
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wohl liberaler Rabbiner, argumentiert Maybaum mit den traditionellen Vorstellungen des rabbinischen Judentums, versäumt aber nicht, zugleich das liberale Reformjudentum als die neue Morgenröte nach der Schoah darzustellen. In seinen historiosophischen Predigten greift Maybaum auf die beiden Tempelzerstörungen zurück, die er mit dem biblischen Ausdruck Ḥurban (von Maybaum als churban transkribiert) bezeichnet, den ersten und den zweiten Ḥurban. Diesen beiden Ereignissen gibt Maybaum messianische Untertöne, indem er sie gleichsam als Wehen einer messianischen Zeit beschreibt, nach denen dann jeweils das helle Licht einer neuen Zeit aufschien. Die Zerstörung war nach diesem Denkmuster eine notwendige, von Gott herbeigeführte und gewollte Beseitigung des alten überlebten Zustandes, der durch die Zerstörung einer neuen, besseren Zukunft Raum machte: »Wie wunderbar sind die Werke Gottes!« Denn: »Der erste churban, die Zerstörung des salomonischen Tempels, machte uns zum Volk der Diaspora. Zum ersten Mal hatte die Menschheit in ihrer Mitte ein Volk ohne Land und Staat, das dennoch einen geschichtlichen Auftrag hatte, eine heilige Mission, erfüllte. […] Der zweite churban, die Zerstörung des herodianischen Tempels, führte zur Synagoge. Zum ersten Mal sah die Menschheit eine Weise der Gottesverehrung, bei der kein Blut vergossen wurde; das Gebet trat an die Stelle des Opfers; der Gottesdienst bestand einzig aus dem gesprochenen Wort.«41 Und nun betrachte man die Fortsetzung, die Schlussfolgerung für den dritten Ḥurban: »Und dann der churban unserer Tage, der dritte churban. Es war eine bittere gesera, eine bittere Fügung. Aber dem churban wohnt die messianische Kraft inne, Fortschritt zu bewirken. Wenn wir ihn in diesem Licht sehen, können wir unsere Tränen trocknen und sagen: Maʽassej Elohenu: wunderbar und ehrfurchtgebietend sind die Werke Gottes, der barmherzig den Weg durch die Wüste bereitet und uns zu dem versprochenen Ziel geleitet. Der dritte chur-
sches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart Weimar 2003, S. 387f«. 41
Maybaum, The Face of God, S. 61–62; die Übersetzung hier nach M. Brocke & H. Jochum, Wolkensäule und Feuerschein, S.9–10; fast dieselben Gedankengänge nochmals Maybaum, The Face of God, S. 66: Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 14.
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Einführung ban zerstörte das Mittelalter, welches wegen unserer eigenen Sünden und wegen der Sünden der Christenheit dem Fortschritt im Wege stand.«42
Zu Recht vernimmt man den hier formulierten puren Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhundert mit Schmerzen. Die neuen Segnungen welche das ›reinigende Gewitter‹ der Schoah brachte, sind nach Maybaum, dass die Juden nun, aus dem Ghetto entlassen, in einer westlichen Welt leben, und dass sie von der Last der jüdischen Gesetze befreit sind – sprich das Reformjudentum ist der Lohn für die Schoah!43 Das mittelalterliche Judentum ist nun vom Körper des jüdischen Volkes abgetrennt, stellt Maybaum wie erleichtert fest. Der Gott dieses Reformrabbiners ist auch nach der Schoah als barmherziger Gott zu sehen, »trotz Hitler, trotz der Konzentrationslager, trotz der sechs Millionen jüdischen Märtyrer«.44 Maybaum schreckt auch nicht vor der Analogie von Hitler und dem biblischen Nebukadnezar zurück, der den Ersten Tempel zerstörte, und von dem der Prophet Jeremia Gott sagen lässt: »Nebukadnezar, mein Knecht« (Jer 27,6).45 Einen Seitenhieb auf den nach seiner Auffassung einer mittelalterlichen Geisteshaltung entstammenden Zionismus, den der Reformrabbiner natürlich ablehnte, kann sich Maybaum auch nicht verkneifen, »Aber wir erkennen jetzt, daß unser Heiliges Land nicht ein Staat an den Küsten des Mittelmeeres ist. Wir erkennen jetzt, daß unser heiliges Land die Zukunft der Menschheit ist.«46 Schließlich bringt Maybaum auch noch das rabbinische Motiv vom stellvertretenden Leiden der Gerechten – hier also der sechs Millionen ermordeten Juden – für die Sünden der Welt.47 Man muss sich nicht wundern, wenn Rubenstein und Fackenheim derartige Aussagen als obszön und als eine Verhöhnung der ermordeten Menschen, voran der gewiss unschuldigen Kinder verwerfen.
3.2.3 Menachem Immanuel Hartom (1916–1992) Der aus Italien 1939 nach Palästina (Israel) eingewanderte orthodoxe Rabbiner Menachem Immanuel Hartom publizierte 1961 anlässlich des Jerusalemer Eichmann Prozesses einen Zeitungsartikel unter dem Titel »Gedanken zur Schoah«,48 42
Maybaum, The Face of God, S. 62; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 10.
43
Maybaum, The Face of God, S. 63; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 11.
44
Maybaum, The Face of God, S. 13; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 13.
45
Maybaum, The Face of God, S. 67; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 14.
46
Maybaum, The Face of God, S. 68; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 15–16.
47
Maybaum, The Face of God, S. 67; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 15.
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Im Internet: http://www.daat.ac.il/daat/kitveyet/deot/hartoum.htm: gedruckt in: Deʽot 18, Winter 5722 (1961) Jerusalem, S. 28–31; deutsch bei Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 20–26.
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in welchem er in scharfer Form die Sündentheologie der Theodizee-Lehre wiederholt. Danach war die Schoah eine Strafe für die Sünde der Assimilation in Europa, insbesondere in Deutschland, weshalb die Strafvollzieher gerade die Deutschen waren. Die assimilationswilligen Juden in Europa verließen die Tora, fühlten sich nicht mehr im Exil und lehnten es ab, sich als Volk und das Heilige Land als ihre Heimat zu betrachten, stattdessen fühlten sie sich in den neuen Heimatländern wohl. Die Schoah war demnach eine von Gott verhängte Strafe, die wie alles Geschehen in dieser Welt dem Willen Gottes folgt. Und, so schreibt Hartom – unbegreiflicherweise –, eigentlich hätte es dieses Volk verdient, ganz vernichtet zu werden, aber die Gnade Gottes hat noch einen Teil am Leben gelassen, um ihm die Chance der Umkehr zu geben. Diese Chance aber ergriffen die Diasporajuden auch nach der Schoah nicht, auch nicht die Zionisten, deren Rückkehr in die angestammte Heimat zwar positiv zu bewerten ist, die aber dennoch weiterhin auch dort ein assimiliertes, das heißt westlich-europäisches Leben führen. Darum muss nach Hartoms Auffassung wohl noch eine weitere Schoah als Zuchtrute kommen, denn »In unserer gegenwärtigen Haltung verdienen wir kein Existenzrecht, nicht als einzelne und nicht als Staat.« Die einzige Hoffnung ist Gottes Erbarmen und die Einsicht der Juden zu den Grundsätzen des Judentums zurückzukehren.
3.2.4 Jizchak Hutner (1906–1980) Jizchak Hutner war Jeschivavorsitzender der Jeschivat Ḥajjim Berlin in Brooklyn und Mitglied des Rates der Großen der Tora von Amerika. Seine Äußerungen zur Schoah geschahen auf eine Anfrage amerikanisch-jüdischer Jeschivot und Schulen, die von ihm wissen wollten, wie die Schoah an Lehrstätten zu unterrichten sei – als separates herausstehendes Ereignis oder als »normales« Geschehen der Geschichte. Die Antwort Hutners erfolgte in Gestalt eines geschichtsphilosophischen Vortrags.49 Jizchak Hutner lehnt die gesamte Deutung der Geschichte der Schoah, wie sie in der Geschichtswissenschaft erforscht und von der öffentlichen Meinung in Israel gesehen wird, ab, denn diese Forschung suche nach Ursachen, Gründen oder nach Schuld. Demgegenüber meint Hutner, dass es in der Geschichte Israels seit der Bibel ein festes Muster des Verlaufs der Dinge gebe, das unabhängig von je gegenwärtigen Zufällen ist: »Durch die Jahrhunderte hindurch heißt das Muster der jüdischen Geschichte churban – galut – geʼula, Zerstörung – Exil – Erlösung, und kein Ereignis macht neue Denkkategorien oder Begriffsbestimmungen
49
J. Hutner, »Holocaust«, in: Jewish Observer, New York, Oktober 1977, S. 3–9; deutsch: Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 27–42.
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erforderlich.«50 Hutner huldigt also dem alten typologischen Geschichtsbild, nach welchem es eine ontologische Struktur der jüdischen Geschichte gibt. Diese Auffassung weist die Suche nach einer Einzigartigkeit der Schoah ab, sie wirft hingegen Israel nach dem biblischen Muster vor, sich von den Völkern zu deren Leben verleiten lassen, wofür dann eben nach dem bestimmten Gesetz die Strafe folge. Ein überaus klarer Beleg für das voraufklärerische typologische, ja apokalyptische Denken Hutners zeigt sich da, wo er die Schoah als den Beginn eines solchen dreistufigen geschichtlichen Zyklus mit einer Schriftstelle aus der Tora beweisen will. In einem Unterkapitel seiner Ausführungen unter dem Titel »Ost und West begegnen sich« legt Hutner dar, dass die Juden bis zum zweiten Weltkrieg zum einen von den Christen und zum anderen von den Muslimen unterdrückt und verfolgt wurden, nie aber in einer gemeinsamen Aktion der beiden. Das hat sich nach seiner Auffassung geändert, als der Großmufti von Jerusalem, Hadsch Amin el-Husseini, nach Berlin kam, sich mit Hitler, seinen Vertretern, darunter auch mit Eichmann, zusammentat, um die Judenvernichtung zu beschleunigen. Hutner stellt zu diesem Zusammengehen von Christen, dem biblischen Esau, und Muslimen, dem biblischen Ismael, die Frage: »Was verbindet also diese beiden Tendenzen, welche in unserer Generation auf so bezeichnende Weise zusammenzutreffen scheinen? Eine Stelle der Tora kann uns die Antwort geben: ›Und Esau ging zu Ismael und nahm sich die Machalat, die Tochter Ismaels, des Sohnes Abrahams, die Schwester Nebajots, zu seinen Frauen als weitere Frau hinzu.‹ (Gen 28,8) Da die Taten der Patriarchen ein Vorzeichen dafür sind, was später mit den Nachfahren geschehen wird, und jedes Geschehen im chumasch (Pentateuch) auf ewig bedeutsam ist, können wir dieser Stelle entnehmen, daß es unausweichlich zu einer Vereinigung der Macht Esaus und Ismaels kommen mußte. Wir leben heute mitten in dieser Zeitenwende der jüdischen Geschichte.«51 Der Text spricht für sich: Nach Auffassung Hutners war die Schoah ein unausweichliches Geschehen, das dem voraus festgesetzten göttlichen Ablaufplan der Geschichte entspricht – unabhängig von einer Schuld der deutschen Täter oder der jüdischen Opfer. Dies ist, so könnte man sagen, eine Neutralisierung der Geschichte durch deren Mythologisierung.
50
Brocke-Jochum, Wolkensäule S. 41.
51
Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 39. Der ganze Zusammenhang ab S. 37.
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3.2.5 Arthur A. Cohen (1928–1986) Aber selbst solche Ansätze wie der von dem Essayisten und Publizisten Arthur A. Cohen, der ganz deutlich von einer Zäsur durch den »Holocaust« spricht und die alten Gottesvorstellungen verabschieden will, fällt mit dem Vorhaben einer »Theological Interpretation of the Holocaust«, dem Untertitel seines Buches The Tremendum,52 letztlich doch wieder in die Theodizee-Falle zurück. Cohen versucht mit Hilfe des von dem Marburger Theologen und Religionswissenschaftler Rudolf Otto eingeführten Begriffs des mysterium tremendum,53 als einer Form der Offenbarung oder des Widerfahrnisses des »Heiligen« vor den Menschen, die deutschen Todeslager als tremendum zu begreifen, das heißt als ein irdisch widerfahrendes Phänomen des Göttlichen, das jenseits aller personalistischen Theismen steht. Cohen greift für seine Deutung zum einen auf die von Gershom Scholem vorgestellte lurianische Kabbala und vor allem auf die damit nicht unverwandte Philosophie von Friedrich Wilhelm Schelling54 zurück, um das Böse in der Welt als eine »Ver-äußerung« innergöttlicher Entwicklungen darzustellen. Das heißt, die innergöttlichen Entwicklungen finden ihr zwangsläufiges Echo im irdischen Geschehen. Eine »Rechtfertigung« Gottes erübrigt sich damit natürlich, denn nun ist die Gottheit recht eigentlich belanglos für den Menschen geworden, sie ist nur der ohne Willen ablaufende transzendente Motor des irdischen Geschehens. Wo immer man einen unverrückbaren Drang zur Theologie und theologischer Deutung hat und nicht den Mut besitzt, sie zu verabschieden, bleibt die Frage der Theodizee angesichts der Ermordung der europäischen Juden durch die vielleicht doch nicht ganz so »banalen« Mörder aus Deutschland und ihre Verbündeten virulent und nötig, so sehr man versucht, sie überflüssig erscheinen lassen zu wollen – dies zeigen auch die unten vorgestellten Deutungen von Fackenheim, Berkovits und Lévinas.
4.
Neues Denken nach der Schoah
4.1
Das Ringen um Judentum und Religion ohne Theodizee
Während das Denken der unten besprochenen ḥasidischen Lehrer, noch ganz der überkommenen Denkweise der göttlichen Weltlenkung verhaftet blieb, haben alle weiteren Denker, die hier ausführlich zu Wort kommen, den Versuch unter52
A. A. Cohen, The Tremendum. A Theological Interpretation of the Holocaust, New York
53
R. Otto, Das Heilige. Über das irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum
54
Dazu siehe unten, Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, VI, und ausführlicher Jüdisches Denken
1981. Rationalen, (1. Aufl. 1917), Breslau 1922 (8. Aufl.). Bd. 5, Das Kapitel zu Franz Rosenzweig.
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nommen, Gott und Religion neu zu denken, um ohne das Dilemma einer Theodizee auskommen zu können, wenn sie nicht gar ganz von theologischen Gottesvorstellungen Abschied nahmen. Die ḥasidisch-rabbinischen Konzeptionen, werden hier, trotz der vorangegangenen Skizze einiger weniger »rabbinischer« Deutungsversuche, ausführlicher besprochen, weil sie unmittelbar aus der Schoah herkommen und die Tragik der »alten« Theologie schmerzlich vor Augen führen. Demgegenüber hat der erste »neue« Theologe Richard L. Rubenstein keinen anderen Ausweg aus dem Dilemma gefunden, als mit Nietzsche den Tod Gottes zu verkünden, wobei er allerdings, präziser ausgedrückt, den Tod des »Geschichtsgottes« meint, nicht eines göttlichen Wesens schlechthin. Deshalb will Rubenstein von der jüdischen Religion nicht völlig lassen, verabschiedet einen Gott als Lenker der Geschichte und sucht stattdessen den Ausweg in einem rituell-paganen Religionsverständnis, wie er es in den älteren biblischen Schichten noch zu finden glaubt. Emil Fackenheim versucht demgegenüber einen doppelten Weg. Er schlägt zunächst eine theologische Lösung in Gestalt eines neuen »fideistisch« fundierten Gottesbegriffs vor, um hernach in einem zweiten Anlauf eine philosophische Lösung ohne Gott, ganz auf anthropologischer Grundlage, zu suchen. Der theologische Ansatz versucht, die Präsenz Gottes in der Welt und in der Geschichte ganz der Zwei- oder Vieldeutigkeit des weltlichen Geschehens auszuliefern, das man nur mit Hilfe des Glaubens durchschauen und so Gott sehen kann, wiewohl dieser nicht wundermächtig in das Weltgeschehen eingreift. Gott lebt nur durch den Glauben, unabhängig vom realen historischen Geschehen, das dieser göttlichen Präsenz folglich nicht zu widersprechen vermag. Der philosophische Versuch, der Fackenheim mit voranschreitenden Jahren allerdings wegen seines philosophischen Gewährsmannes zunehmend auf den Nägeln brennt, ist die Suche nach der Möglichkeit eines »authentischen« oder mit dem genannten philosophischen Gewährsmann, Martin Heidegger, eines »eigentlichen« Lebens nach der Schoah. »Eigentlich« heißt dabei ein Leben aus dem eigenen Selbst, das nicht von fremden gesellschaftlichen Formen bestimmt ist. Hier ergibt sich jedoch ein Problem der Verwendung der Heideggerschen Denkfigur für Fackenheim. Denn in der Heideggerschen Philosophie wird für das existentiell »eigentliche« Nacherleben, das heißt die existenzielle Rezeption früheren Geschehens, eine Kontinuität gefordert, die das ursprüngliche existenzielle Erleben des früheren Menschen und das später durch Erinnerung wieder aufnehmende »nachleben« verbindet, das dann unter dieser Bedingung ebenfalls als »eigentlich« oder »authentisch« gelten kann. Eine solche authentische Reaktion oder Antwort (response) auf die Schoah durch die Nachgeborenen scheint laut Fackenheim jedoch nicht mehr möglich, weil durch die Schoah jegliche geschichtliche, kulturelle und denkerische Kontinuität zwischen ihr und den Nach-
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geborenen zerbrochen wurde. Die Lösung angesichts dieses Dilemmas sieht Fackenheim – nach einem Begriff der lurianischen Kabbala – erst in einem noch in der Schoah selbst wurzelnden Tikkun ʽOlam, das heißt in einer Wiederherstellung einer »eigentlichen« Lebensgrundlage, auf der eine solche Kontinuität neu aufgebaut werden könnte. Dass aus dieser Restituierung folglich auch eine neue Gestalt des Judentums erwachsen würde, ja müsse, ist für Fackenheim eher selbstverständlich. Wie grundlegend verändert das Judentum aus dieser neu zu wachsenden Kontinuität aussehen wird, zeigt sich paradigmatisch daran, dass Fackenheim als unverzichtbare »eigentliche« Lebensgrundlage des neuen Judentums die Existenz eines jüdischen Staates erachtet. Dies gilt nach seiner Auffassung nicht nur für die in diesem Staat lebenden Juden, sondern für die Juden weltweit, aber genauso für die nichtjüdischen Völker dieser Welt, welche am jüdischen Volk schuldig geworden sind. Ein selbstbewusstes und würdiges jüdisches Leben muss demnach ohne völlige Solidarität mit diesem Staat Israel als ausgeschlossen gelten. Der konservative Rabbiner Irving Yizchak Greenberg sieht in der Schoah das Ende des Galut-Judentums, das seit der Zerstörung des Zweiten Jerusalemer Tempels als Exils-Existenz konzipiert war. Greenberg entwickelt eine Theologie der voranschreitenden Selbstverbergung Gottes und einer komplementär dazu verlaufenden Zunahme der Verantwortung der Menschen für ihr irdisches Schicksal. Greenberg konstruiert dafür drei große Epochen der jüdischen Geschichte, die biblische, die rabbinische und die nach Schoah- und Staatsgründung einsetzende dritte. Nach dem Ende der zweiten Epoche, die das Exilsdasein Israels beendete, gilt es wie einst nach dem Ende der ersten, der biblischen Epoche durch die Zerstörung des Zweiten Tempels, ein völlig neues jüdisches Selbstverständnis und Leben zu konzipieren. Mit der vorangeschrittenen Verlagerung der Verantwortung am Geschehen in dieser Welt von Gott auf den Menschen, müssen auch die dafür nötigen Veränderungen in Institutionen und Gesellschaft vorgenommen werden. An die Stelle der bisher sakralen Institutionen und Amtsträger des Judentums müssen nunmehr säkulare Einrichtungen und Personen treten, welche die Repräsentanten der gewachsenen menschlichen Eigenverantwortung sind. Die drei nächsten Denker, Eliezer Berkovits als orthodoxer Rabbiner, Emmanuel Lévinas als zwar orthodox denkender Jude doch Philosoph und schließlich der »gottlose« Hans Jonas, der ganz der Philosophie verpflichtet ist, stehen sich trotz dieser unterschiedlichen Provenienz eigenartig nahe. Alle drei so verschiedenen Lagern zugehörige Denker sind sich doch in dem einen wesentlichen Punkt einig, dass wenn man von Gott reden will, man nur von einem aus der Welt und ihrem geschichtlichen Geschehen vollständig zurückgezogenen Gott sprechen kann. Die ersteren greifen zu der Formel des Hester Panim, dem Verbergen des göttlichen Antlitzes, (Berkovits und auch Lévinas), wodurch dem
50
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Menschen die Verantwortung für das irdische Geschehen vollständig anheimgestellt sei. Ethisch betrachtet, stellt sich dies auch bei Hans Jonas so dar, wonach der Mensch gleichfalls für das Geschehen in der Welt verantwortlich ist. Allerdings, kleidet Jonas dies in einen an den Philosophen Schelling erinnernden modernen Mythos. Laut ihm wird durch das Tun der Menschen in dieser Welt zugleich die Gestalt einer mythischen Gottheit geformt und weitergebildet, die seit ihrer Selbstentäußerung in die Welt, sprich seit der Weltschöpfung, in einem kontinuierlichen Wachstumsprozess begriffen ist, der vollkommen der Evolution und dem menschlichen Handeln ausgeliefert und von ihm abhängig ist. Berkovits hat allerdings seinem ersten, mit der Gottesfinsternis arbeitenden, theologischen Entwurf einen zweiten folgen lassen, dessen Grundlage die Lehre von einem doppelten Exil, einem göttlich-kosmischen und einem menschlichgeschichtlichen bildet. Laut diesem Entwurf stellt sich die Schoah doch in einem neuen Licht dar, sie bekommt nun die Züge der Einzigartigkeit und ist nicht nur eine weitere Instanz des Verbergens des göttlichen Antlitzes, wie es in der Geschichte schon mehrfach zu erfahren war. Das Besondere von Lévinas im Vergleich zu Berkovitsʼ erstem Modell ist dies, dass die verborgene Präsenz des Göttlichen in dieser Welt sich für Berkovits in der wunderbar andauernden Existenz des machtlosen jüdischen Volkes manifestiert, während Lévinas die Manifestation des verborgenen Gottes in der Welt in der Lehre, der Tora, erkennen will. Von all diesen Denkern verschieden ist der zionistische Historiker und Philosoph Eliezer Schweid, der von solch spekulativen religiösen wie philosophischen Konzepten nichts wissen will. Er konzentriert sich bei seinen Beobachtungen ganz auf den Verlauf der jüdischen Geschichte und fragt nach den politischen und gesellschaftlichen Faktoren, die über die langen Judenverfolgungen hin schließlich zur Schoah geführt haben. Entsprechend sind die Schlussfolgerungen für die Gegenwart und Zukunft, die einzig der Sicherung der physischen und kulturellen Eigenständigkeit des jüdischen Volkes in einem eigenen politischen Gemeinwesen, dem Staat Israel, gelten – dies sind für ihn die unausweichlichen Lehren aus der Geschichte.
4.2
Eine satirisch sarkastische Zurückweisung theologischer Deutungen des Holocaust – Adi Ofir (geb. 1951)
Man muss sich zunächst nicht wundern, wenn angesichts der skizzierten religiösen und philosophischen Deutungen und Erklärungen zur Schoah der Tel Aviver Philosoph Adi Ofir 2003 einen sarkastisch-polemischen Artikel unter dem Titel: »Ḥiddusch ha-Schem (Erneuerung des Namens) – ein anti-theologischer Trak-
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tat« publizierte, in welchem er ironisierend polemisch den altehrwürdigen Kiddusch-ha Schem (Heiligung des Gottesnamens im Martyrium)55 und Spinozas Tractatus Theologico-Politicus aufnimmt.56 In diesem Artikel attackiert Ofir die sakrale und metaphysisch gestimmte Haltung gegenüber der Schoah bei vielen Autoren – er meint damit auch die israelische Öffentlichkeit. Ofir sagt dort unter anderem: »Niemand unter uns leugnet die drei oder vier Gebote, Gebote die aus jenem Wolkendunkel widerhallen, das aus der eisernen Erde zu dem leeren erzenen Himmel Europas emporsteigt. Die vier Gebote sind: Du sollst keine andere Schoah neben der Schoah der Juden Europas haben. Mach dir keine Gestalt und Abbild. Du sollst den Namen der Schoah nicht vergeblich führen. Gedenke des Schoah-Tages um ihn zu heiligen. […] Diese Gebote findet man gleich einer Definition auf der rechten wie auf der linken politischen Seite, jenseits aller ideologischen Auseinandersetzungen, jenseits der Interessengegensätze und Weltanschauungen. Sie bestimmen die Grenzen der jüdischen Legitimierung. Sie stellen die Schoah als transzendentes Ereignis dar, das jeglichem Versuch eine moderne jüdische Identität zu bestimmen, vorangeht und ihn bestimmt. Wer hat den Mut, sich öffentlich von ihnen abzuwenden? Wer traut sich die Einzigartigkeit der Schoah zu leugnen? Wer wagt es zu sagen, er habe sie durch seine Forschung oder Kunst so verstanden, wie sie wirklich war?«57 Natürlich greift Ofir mit dieser Polemik weit über die ultra-orthodoxen und auch liberal-religiösen Deutungen der Schoah hinaus und polemisiert damit sogar gegen die philosophischen Autoren wie Emil Fackenheim und Hans Jonas oder auch den zionistischen Philosophen Elieser Schweid. Immerhin zeigt Ofir mit dieser Satire das Unwohlsein einer neuen israelischen Generation bei dem Gedenken und den politischen identifikatorischen Deutungen und Konsequenzziehungen aus der Schoah, die man psychologisch zwar verstehen mag, die sich ansonsten aber doch auch als sehr geschichtsvergessen erweist. Wer die Verfolgungsgeschichte der Juden vergisst und in leichtfertigem Optimismus glaubt,
55
Zum Kiddusch ha-Schem siehe K. E. Grözinger, Gründe und Grenzen des Kiddusch ha-
56
A. Ofir, ʽAl Ḥiddusch ha-Schem – Masechet anti-theologi, in: ʽAvodat ha-Howe, Tel Aviv
57
Zitiert nach: Ḥ. Ben-Pasi, Ha-Siach ha-jehudi ha-ʼuniversali. Mikumo ha-meḥudasch schel ha-
Schem, S. 241–254. 2003, S. 12–21. Siach ha-Filosofi be-ʽIkvot ha-Schoah (Der universale jüdische Diskurs. Der neue Ort des philosophischen Diskurses nach der Schoah), Akdamut 18 (2006), S. 189–197. (Auch im Internet).
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solches werde nicht nochmals möglich sein, mag zu solchen Überzeichnungen fähig sein. Immerhin macht diese Kritik gerade auch der öffentlichen Gedenkriten hellhörig dafür, dass es für die Menschen offenbar nicht ausreicht historiographische Befunde und wissenschaftliche Ergebnisse vorgesetzt zu bekommen, sie vielmehr religionsähnliche Erzählungen und Begehungen brauchen, um mit der Geschichte umzugehen und ein gemeinsames Leben zu gestalten – der Elfenbeinturm mag dann den Philosophen überlassen bleiben. Solche Begehungen sind der staatliche Jom ha-Sikkaron la-Schoah u-la-Gevura (Tag des Gedenkens an die Schoah und der Heldenhaftigkeit) am 27. Nissan und die zugeordnete Erinnerungs- und Gedenkstätte Jad wa-Schem (Denkmal und Namen) in Jerusalem, die neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Schoah zugleich für die »rituelle« Ausgestaltung dieses Gedenkens zuständig ist. Zur Notwendigkeit solchen Gedenkens, auf das auch Eliezer Schweid in seinem Beitrag hinweist, sollen im Folgenden noch einige Gedanken eines Schoah-Überlebenden und wichtigen Zeugen der Schoah, Primo Levi folgen.
5.
»Das Exil wird länger, des Vergessens wegen, aber im Erinnern liegt das Geheimnis der Erlösung«
5.1
Die Bedeutung von Erinnern – Vorbemerkung
Die als Überschrift dieses Kapitels dienende Formel ist nicht nur in vielen jüdischen Publikationen und Äußerungen, sondern weltweit präsent – oft als schon etwas abgenutzte Münze.58 Ihr verbreiteter Gebrauch ist dennoch ein Hinweis darauf, wie sehr das Gedenken an die Schoah nicht nur zu einem konventionellen Brauch geworden ist, sondern dass das Gedenken und Erinnern an dieses grauenvolle Ereignis für viele Menschen, Juden wie Nichtjuden ein inneres Anliegen ist, das nicht einfach in einer so schnoddrigen Weise abgetan werden kann, wie dies die vorangestellte Satire von Adi Ofir versucht. Es ist darum an dieser Stelle der Ort, einen der wichtigsten Zeugen und Überlebenden des Holocaust, der allerdings inzwischen einen tragischen – vielleicht gar selbst gewählten – Tod gefunden hat, den Turiner Schriftsteller und Chemiker Primo Levi zu Wort kommen zu lassen. Levi hat neben seinen den Leser stets bewegenden Schilderungen des Lager- und Flüchtlingslebens auch eine Reihe von Äußerungen hinterlassen, die bezeugen, wie sehr für die direkt Betroffenen das Erinnern unentrinnbar und zugleich lebenswichtig war – wenn auch das Vergessen als Stütze des Überlebens zuweilen helfen musste. Es sollen hier einige Zeugnisse von Primo Levi 58
Die oft gehörte Meinung, die Sentenz zu Exil und Erlösung finde sich als Inschrift am Jerusalemer Holocaust-Gedenkzentrum Jad wa-Schem, ist falsch, wie mir aus Jad wa-Schem ausdrücklich mitgeteilt wurde.
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zum Erinnern angeführt werden, auch die offenbare Bevorzugung oder vielleicht gar Notwendigkeit religiöse Formen dafür zu wählen, wiewohl sich Levi mehrfach als Ungläubigen bezeichnete. Auch die Bedeutung von sichtbaren Zeichen des Erinnerns werden in diesen Bemerkungen erkennbar – all dies sind Formen des Erinnerns, wie sie in der jüdischen Religion seit der Bibel nicht nur belegt, sondern geboten waren. Den Gedanken von Primo Levi sollen zu Sichtbarmachung dieser langen Linie kurze Hinweise auf das Gebot des Erinnerns von der Bibel bis zu der oben genannten Formel von der Verbindung von Erlösung und Erinnern beigegeben werden.
5.2
Primo Levis Bemerkungen zum Erinnern im Kontext der jüdischen Tradition
»Und gedenke, daß du Sklave warst im Lande Ägypten« – das Erinnern ist das zentrale Thema des Pesach-Festes, mit welcher der Volkwerdung Israels gedacht wird.59 Im Erinnern reiht sich der Jude in die große Geschichte der Befreiung ein, in die Reihe jener, die aus dem Exil befreit wurden. Mit dieser Verbindung von Erinnerung und Befreiung, von Erinnerung und Erlösung, spricht die Pesach-Haggada ein Thema an, das nicht nur die Juden angeht, sondern schlechthin alle Menschen. Ob das Erinnern allerdings befreiend ist, oder hingegen bedrückend und ob es die Menschen gefangen nimmt, ist eine Frage, die nicht mit dem moralischen Zeigefinger beantwortet werden kann. Beides hat eine Bedeutung für das menschliche Leben, ist Bedürfnis, das man nicht durch Dekret verordnen kann, beides sind Bedürfnisse, die zum menschlichen Leben gehören wie das Brot. Die Menschen brauchen offenbar beides, um leben zu können. Diese beiden, Erinnern und Vergessen, bilden allem Anschein nach einen Grundwiderspruch des menschlichen Daseins. Dieses Paradox, das Schmerzliche und zugleich Erlösende, spricht auch aus den Texten von Primo Levi, der sein Werk der Erinnerung an Auschwitz gewidmet hat. Erinnern kann Schmerz bedeuten, sagt Primo Levi, andererseits gehört es zugleich zu dem, was des Menschen Ich bewahrt und erhält. Den Schmerz der Erinnerung schildert Levi in seinem Buch Ist das ein Mensch?60 anlässlich einer Begebenheit aus den Anfangstagen seiner Lagerhaft in Auschwitz: 59
Zum Folgenden vergleiche meine beiden Aufsätze: K. E. Grözinger, Erinnern und Vergessen – Primo Levi und die jüdische Tradition, in: B. Sändig (Hg.), Zwischen Adaption und Exil. Jüdische Autoren und Themen in den romanischen Ländern, Wiesbaden 2001, S. 31–44; ders., Gedenken, Erinnern und Fest als Wege zur Erlösung des Menschen und zur Transzendenzerfahrung im Judentum, in: Alltag und Transzendenz, hrsg. v. B. Casper und W. Sparn, Freiburg i. Br. 1992, S. 19–49.
60
Primo Levi, Ist das eine Mensch?, Frankfurt a. M. 1979 (1961).
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»Wir Italiener wollten uns jeden Sonntagabend in einem Winkel des Lagers treffen, aber das lassen wir gleich wieder bleiben, denn es ist traurig, uns nachzuzählen und feststellen zu müssen, daß wir jedesmal weniger sind und unförmiger und elender von Gestalt. Und es ist so mühsam, diese wenigen Schritte zu gehen. Und wenn wir uns treffen, so geschieht uns ja überdies, daß wir uns erinnern und nachdenken: und das tut man besser nicht.« und: »Die Holzbaracke, dicht belegt mit leidender Menschheit, ist der Worte, der Erinnerung und eines anderen Schmerzes voll […]«61 Das Erinnern schmerzt, es zeigt dem Menschen die Wahrheit über seine eigene Gegenwart. Und so tut man besser daran, nicht die schmerzlichen Erinnerungen an die besseren Tage zu aufzuwühlen. Das Verdrängen der schmerzhaften Erinnerung hat seit dem Kriegsende und der Befreiung der Todeslager alle Seiten geprägt, die geschundenen Häftlinge, die Überlebenden und die Täter gleichermaßen. So waren sich nach der Diagnose Levis die Opfer und die Täter seltsam einig, dass sie die Erinnerung verdrängen wollten: »Die Erinnerung an ein Trauma, ob es nun erlitten oder zugefügt wurde, ist an sich schon traumatisch, denn es schmerzt oder stört zumindest, wenn man es ins Gedächtnis zurückholt. Wer tief verletzt worden ist, neigt dazu, die Erinnerung daran zu verdrängen, um den Schmerz nicht zu erneuern; und derjenige, der diese Verletzung zugefügt hat, drängt seine Erinnerung in die Tiefe ab, um sich von ihr zu befreien, um sein Schuldgefühl zu beschwichtigen.«62 Demgegenüber birgt das Vergessen offenbar eine heilsame Kraft in sich, die das ruhige Weiterleben möglich macht. Um dieses wohltuende Vergessen zu befördern, spinnen sich die Menschen oft und gerne eine neue Vergangenheit – und wie oft ist das nach jener schrecklichen Zeit geschehen. Aber so wohltuend die Menschen das Vergessen auch empfinden mögen, so wenig können sie sich ihm auf die Dauer wirklich anvertrauen. Das Erinnern ist quälend, der Mensch muss dafür seine ganze Kraft aufwenden. Aber gerade darin liegt das Paradox. Die Erinnerung braucht zwar des Menschen ganze Kraft, aber eben diese Fähigkeit zum Kraftaufwand ist es, die sein Ich bewahrt, die ein
61
Levi, Ist das ein Mensch?, S. 57.
62
P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1993, S. 20.
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Zeichen seiner unzerstörten menschlichen Identität ist. Primo Levi sagt dies unüberbietbar schmerzvoll in seinem Gedicht »Ist das ein Mensch?« »Ihr, die ihr gesichert lebet In behaglicher Wohnung; Ihr, die ihr abends beim Heimkehren Warme Speise findet und vertraute Gesichter: Denket, ob dies ein Mann sei, Der schuftet im Schlamm, Der Frieden nicht kennt, Der kämpft um ein halbes Brot, der stirbt auf ein Ja oder Nein. Denket, ob dies eine Frau sei, Die kein Haar mehr hat und keinen Namen, Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat, Leer die Augen und kalt ihr Schoß Wie im Winter die Kröte. Denket, daß solches gewesen.«63 Wo das Erinnern erlischt, da erlischt auch das Menschsein. Kraft zur Erinnerung bedeutet für Primo Levi die Fähigkeit für ein menschliches Leben. Und weil – so sagt er – Hitler das Menschsein ausrotten wollte, galt sein Kampf diesem fundamentalen Symptom des Menschseins. »Im übrigen«, sagt daher Levi in seinem Essay über das Erinnern, »kann die gesamte Geschichte des kurzlebigen ›Tausendjährigen Reiches‹ als Krieg gegen das Erinnern neu gelesen werden, als Orwellsche Fälschung der Erinnerung, Fälschung der Wirklichkeit … [Hitler] hatte seinen Untergebenen den Zugang zur Wahrheit verboten und verweigert und betrieb so eine Verseuchung ihrer Moral und ihrer Erinnerung.«64 Die Erinnerung ist nach Levis Auffassung ein lebenswichtiges, aber zugleich schwieriges Geschäft, deshalb braucht der Mensch oft sichtbare Zeichen, konkrete Dinge, die ihm helfen, die Erinnerung festzuhalten und ihn davor zu bewahren, in die schmerzlindernde Illusion des Vergessens abzugleiten. Auch die lange jüdische Tradition vor Auschwitz wusste um die Notwendigkeit von sichtbaren Zeichen, welche die Erinnerung stützen konnten, wie unten noch deutlich werden soll. Für die Lagerhäftlinge in Auschwitz waren dies meist ganz unbedeutende kleine Dinge: 63
Levi, Ist das ein Mensch?, S. 11. Hervorhebung KEG.
64
Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, S. 28f.
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»ein Taschentuch, ein alter Brief, die Fotografie eines lieben Menschen. Diese Dinge sind Teile unser selbst, sind fast wie Glieder unseres Körpers; es ist auch in unserer Welt nicht denkbar, daß sie einem genommen werden, denn gleich würden wir andere dafür finden, andere Dinge, die uns gehören, weil sie unsere Erinnerungen erhalten und wecken«.65 Für diese Notwendigkeit sichtbarer Zeichen, welche das Erinnern nicht nur zu einem intellektuellen Akt, sondern zu einem sinnlich erlebbaren Ereignis macht, bietet die jüdische Religion schon immer unübersehbare Symbole und Handlungen. Da ist das zum Beispiel das Seder-Mahl der Pesachfeier mit seinen sichtbaren Zeichen: Verschiedene Speisen, Knochen, Ei, Bitterkraut, vier Becher Wein, Mazza und der gesamte Ritus. Aber auch das zerschmetterte Weinglas bei Hochzeitsfeiern, ein nur halb aufgelegtes Gedeck bei Festmahlen, ein unverputzter Teil an Häusern, die Gebetsriemen, die Schaufäden, die Mesusa. Sie alle zeigen, dass das Erinnern sicht- und greifbare Zeichen braucht, Wort und Tat. Das Erinnern, das gegen die eigene Sehnsucht nach Vergessen und Schmerzlosigkeit festgehalten werden muss, ist für Primo Levi offenbar nicht nur eine Frage der menschlichen Selbstachtung und Würde. Es ist noch mehr, noch grundsätzlicher. Es ist so grundsätzlich für das Menschsein, dass eine normale Sprache offenbar nicht ausreicht, um dies auszudrücken. Und wie so oft, wo sie etwas mit der normalen Sprache nicht auszudrücken vermögen, greifen die Menschen zur Sprache der Religion. Mit ihr lassen sich offenbar Dinge ausdrücken, die jenseits der Alltagserfahrung liegen, Dinge die man mit gewöhnlichen Worten nicht auszudrücken vermag, wie dies auch Richard Rubenstein nachdrücklich betont.66 So greift auch Primo Levi in seinen Texten – trotz seines mehrfach beteuerten Unglaubens – oft zur Sprache der Religion, der jüdischen Religion, um etwas über die kraftaufwendige Erinnerung zu sagen, wofür es keine säkularen Worte gibt. Er erinnert mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis, dem Schmaʽ Jisrael daran, dass das Erinnern ein göttliches Gebot ist, eine heilige Pflicht, die untrennbar zum Menschsein hinzu gehört. Das Schmaʽ Jisrael ist ja zugleich das Gebet, welches die Märtyrer im Augenblick des Sterbens rufen: »Höre Israel«. Und es ist gewiss nicht zufällig, daß Levi in seinem Gedicht aus dem Totenhaus Auschwitz gerade zum Schmaʽ Israel seine Zuflucht nimmt. In diesem Gebet wird dem frommen Juden die Pflicht zur Erinnerung auferlegt: »Es sollen sein diese Worte, die ich dir heute gebiete, in deinem Herzen. Und du sollst sie einschärfen deinen Kindern und davon reden, wenn du sitzest in deinem Hause und wenn du gehst auf dem Wege 65
Levi, Ist das ein Mensch?, S. 26.
66
Siehe unten, Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, II, 4.
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Und wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.«67 Mit fast denselben Worten führt Primo Levi das oben angeführte Gedicht »Ist das ein Mensch?« zu Ende. Das Gedicht, in dem er die Gräuel der Lager beschreibt, den Mann und die Frau, die keine Kraft zum Erinnern mehr haben, endet mit diesen Worten: »Denket, daß solches gewesen. Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen. Ihr sollt darüber sinnen, wenn ihr sitzet in einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen, Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht; Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern.«68 Im ursprünglichen Text des jüdischen Glaubensbekenntnisses sind es die Gebote Gottes, die Tora und die Liebe zu dem einzigen Gott, die in Erinnerung gerufen werden sollen, denn sie sind es, die das Leben Israels verbürgen, aber auch die Geschichte ist danach Gegenstand des Erinnerns. In Primo Levis Version sind es die Gräuel der Vernichtungslager, die man im Gedächtnis bewahren soll. Nur wer sie bewahrt, wird ein heiles Leben haben. Wer dies hingegen nicht tut, dem gilt nach Levi der Fluch: »Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen, Krankheit soll euch niederringen, Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.«69 Levi findet offenbar kein ausdrucksvolleres Mittel, um die Zentralität der Erinnerung zum Ausdruck zu bringen als den Text, der das Herzstück jedes jüdischen Gottesdienstes bildet, und einen geradezu göttlichen Fluch, der denjenigen trifft, der diese Erinnerung nicht festhalten will. Es ist wert darauf hinzuweisen, dass in Levis Schmaʽ Jisraʼel die Schoah an die Stelle der Toragebote als Gegenstand des Erinnerns tritt. Diese Ausrichtung auf einen neuen Erinnerungspunkt, der jüdisches Bewusstsein und Selbstverständnis fortan prägen soll, wird in der einen oder anderen Weise bei allen im Folgenden vorgestellten Autoren erkennbar. Die Schoah ist nach ihnen zwar nicht das einzige Fundament künftigen jüdischen Lebens, aber doch ein unverzichtbarer Stein in der neu zu errichtenden Grundlage jüdischen Lebens. 67
5. Mose 6, 6–7.
68
Levi, Ist das ein Mensch, S. 11.
69
Levi, Ist das ein Mensch?, S. 11.
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Nachdem Primo Levi selbst zur Sprache der jüdischen Religion greift, um den fundamentalen Wert des Erinnerns gerade auch für die Überlebenden und Nachgeborenen auszudrücken, ist es angezeigt, einen kurzen Blick auf die Bedeutung des Erinnerns in der jüdischen Religion zu werfen.70 Man spürt in Primo Levis Worten eine ähnliche Auffassung wie sie ganz nachdrücklich gerade auch der areligiös argumentierende Eliezer Schweid zum Ausdruck bringt,71 nach welcher der Schoah-Gedenktag als ein Gedenktag neben Pesach und dem 9. Av für Ereignisse steht, die eine eigene und neue Epoche in der jüdischen Geschichte einleiteten. Das Erinnern an die Schoah tritt als eigener Gegenstand des Gedenkens neben die Hauptgedenktage des Judentums, er markiert eine neue Epoche im jüdischen Selbstverständnis.
5.3
Erinnern in der jüdischen Religionsgeschichte – bis zur Formel vom Vergessen und Erinnern als den Insignien von Exil und Erlösung
Für die jüdische Religion ist das Erinnern nicht einfach eine Tugend unter anderen. Es ist ein biblisches Gebot. Das jüdische Bekenntnis gebietet dem Juden, sich an die Geschichte zu erinnern, an jene Ereignisse, welche das Volk Israel zum Gottesvolk machten, den Auszug aus Ägypten, die Offenbarung am Sinai. Aber nicht nur daran. Das Volk soll sich auch an die Sünde und die Missetat erinnern, samt deren Folgen. Denn das Erinnern sagt dem Menschen, wer er ist, es führt ihm vor Augen, was die Folgen des Frevels sind – und vor allem, was Gott Gutes an den Menschen getan hat. Das Erinnern der Geschichte ist also nach der Auffassung der jüdisch-talmudischen Tradition das Fundament der Religion: »Das Vergessen ist die Wurzel aller Übertretungen und das Erinnern ist der Grund für jegliches Verdienst«72 wird der jüdische Gelehrte des 13. Jahrhunderts, Mosche de Coucy, sagen. Das Erinnern hilft dem Menschen, vor Gott zu bestehen – das Vergessen treibt ihn hingegen in den Ungehorsam. Das Erinnern soll nach der traditionellen jüdischen Auffassung aber, wie oben schon gesagt, nicht nur ein stummes Nachdenken sein. Es soll mit dem Mund geschehen, im Handeln und im Gestus, das Erinnern hat seine Riten. Sehr eindrucksvoll sind die geräuschvollen Erinnerungsriten beim Purimfest, bei dem jedes Mal, wenn der Bösewicht Haman genannt wird, die Rätschen rasseln. Eine wichtige Grundlage dieser Gebote des Gedenkens ist eine Episode aus der Zeit
70
Für das Folgende verweise ich auf meinen schon genannten Aufsatz Gedenken, Erinnern.
71
Vgl. unten, Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, VII, 1.
72
Sefer Mizwot ha-gadol, Jerusalem 1960/1, Avoda Sara 12a; vgl. Grözinger, Gedenken, Erinnern, S. 22.
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der Wüstenwanderung. Dieses Ereignis soll nach göttlichem Gebot nie vergessen werden, nämlich der hinterlistige Überfall des Volkes Amalek auf die in der Wüste wandernden Israeliten (2.Mose 17). Seit jener Zeit ist Amalek zum Symbol aller Verfolger der Juden geworden, so der Haman des Estherbuches und so auch Adolf Hitler mit seinen Helfern. Diese Tradition nimmt Levi in einem der Partisanengespräche auf: »›Überhaupt sind wir ziemlich vergesslich, außer einer Sache.‹ ›Und die wäre?‹ fragte Mendel. ›Erinnere dich daran, was Amalek dir tat auf dem Weg, als ihr aus Ägypten zogt.‹«73 Und bezüglich solchen Erinnerns behauptet nun die jüdische Religion, daß es eine besonders heilsame Macht besitzt. Jährlich – zu Neujahr – soll laut, mit Schofartönen, die Opferbindung Isaaks in Erinnerung gerufen werden.74 In diesem Fall soll Gott daran erinnert werden, was die Väter Israels, Abraham und Isaak, Gutes taten – und aus diesem Erinnern kann Er seinem Volk vergeben. Das Erinnern, so sagt der Talmud, hat sühnende Kraft, es entlastet den Menschen von seiner Schuld. Zu diesem Erinnern gehört aber auch das Erinnern der eigenen Vergehen im Bekenntnis. Menschliches Erinnerungshandeln und Selbsterinnern sühnt die Sünden und eröffnet neues Leben.75 Die mittelalterlichen Kabbalisten ab dem 13. Jh., die nach dem Wesensgrund aller Dinge suchten – haben die Gegensätze, das Vergessen und Erinnern, als die Grundkategorien von Heil und Unheil in der Welt erkannt. Erinnern und Vergessen sind nach ihrer Meinung im Weltengrund, in der Gottheit selbst verankert. Für den Kabbalisten erwirkt die Erinnerung die göttliche Einheit, während das Vergessen den Zustand der innergöttlichen Spaltung verursacht. Letzteres ist zugleich das Exil und das Böse schlechthin. Nur wo Erinnerung ist, so glaubt der Kabbalist, ist die göttliche Welt in harmonischer Einheit in sich verbunden – und dann sind auch das Heil und der Segen für die Menschenwelt gesichert. Erinnern heißt, dass der Segen sich in die Welt ergießt. Demgegenüber bringt das Vergessen Gottes Exil und Böses in die Welt.76 Primo Levi sagt in seinem Gedicht »Ist das ein Mensch?« im Grunde dasselbe, wenn er es auch im Stile einer biblischen Fluchliturgie tut. Nach der Auffor-
73
5. Mose 25, 17; P. Levi, Wann, wenn nicht jetzt?, München-Wien 1986, S. 166.
74
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 242; Grözinger, Kafka und die Kabbala, S. 300 (Glossar); K. E. Grözinger, Musik und Gesang in der Theologie der frühen jüdischen Literatur, Tübingen 1982, S. 148. 150. 151. 165.
75
Siehe Grözinger, Gedenken, Erinnern, S. 20–25.
76
Vgl. Grözinger, Gedenken, Erinnern, S. 25–28.
60
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derung zum Gedenken und Belehren der Kinder endet das Gedicht mit der schon zitierten Strafandrohung – wo nicht erinnert wird, kommt Unheil in die Welt. In der späteren jüdischen Religionsgeschichte, in der Kabbala des 16. Jahrhunderts und später im osteuropäischen Ḥasidismus findet man Aussagen zum Erinnern, die auch den modernen Menschen, denen der Glaube an einen transzendenten Gott abhandengekommen ist, noch ansprechen können. Diese Gedanken der späten Kabbala und des Ḥasidismus können Hinweise dafür geben, wie moderne Juden auch nach dem Verlust der Transzendenz die religiöse Sprache des Judentums verstehen können. Das Wesentliche dieser mystischen Lehren zur Bedeutung von Erinnern und Vergessen ist, dass sie deren Auswirkung in besonderem Maße in der menschlichen Seele wiederfinden. Und gerade hier kommen diese Texte der späten Kabbala dem modernen Denken nahe, auch wenn sie selbst noch in den großen Mythen zuhause sind. Nach den Lehren von Jizchak Lurja, dem Begründer der nach ihm benannten Kabbala,77 war die Ursünde, der Sündenfall des ersten Menschen, der Anfang des Vergessens – oder anders herum ausgedrückt, das Vergessen war die Ursünde. In diesem Sündenfall, so die lurianischen Texte, ist die große Adamsseele, das heißt die Seele der Menschheit in viele Teile zerborsten. Die Erlösung wird erst kommen, wenn diese Seelenfunken wieder gesammelt sind zur großen Adamsseele, das heißt zur großen Menschenseele. Dies gelingt aber nur, wenn jeder einzelne Seelenfunke seine Einheit wieder errungen hat. Diese Einheit, diese Heilung der Seele, ist das Erinnern. Die noch nicht geheilte, die befleckte Seele ist noch im Vergessen. Erinnern ist Heil, Vergessen das Exil. Hier scheint schon der Gedanke am Horizont auf, der heute in vieler Munde ist, nämlich, dass die Erinnerung das Geheimnis der Erlösung sei. Der viel zitierte Satz wird bei Lurja noch nicht gesagt, er wird erst vom Baʽal Schem Tov, dem Begründer des Ḥasidismus im 18. Jahrhundert gesprochen werden.78 Aber doch so viel sagt der Kabbalist des 16. Jahrhunderts: Vergessen ist die Ursünde des Menschen, wer ihr verfallen ist, hat eine nicht geheilte Seele, der ist noch in der Ursünde verfangen. Dies ist die Erbsünde, wie sie das Judentum seit Jizchak Lurja kennt. Das Erinnern ist die Heilung einer jeden Seele. Und wenn sich die Einzelseele heilt und läutert, hilft sie mit am großen Erlösungswerk, das die große Menschenseele wieder vollkommen macht. Erinnern bereitet so das Werk der Erlösung vor, führt die Seelen in die Einheit zurück, die vorher zerbrochen war – ist dies erreicht, kann der Messias kommen und die Welt ist wieder heil, ist erlöst. Bei Jizchak Lurja ist das Erinnern und Vergessen in den großen Mythos von der
77
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 619–681.
78
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 709–807.
Einführung
61
Erlösung der Menschheitsseele aus dem Bruch der Ursünde eingefügt. Der Heilungsprozess ist ein großes umfassendes seelengeschichtliches Drama. 79 Zweihundert Jahre später erfährt der Gedanke eine Fokussierung auf das Individuum. Der Baʽal Schem Tov sieht die Menschen, und zwar jeden einzelnen, in einem selbstverschuldeten Exil. Jeder, der hier und heute lebt – ist in Ägypten in der pharaonischen Gefangenschaft. Und dies ist begründet in seiner Gottvergessenheit. Die Gottvergessenheit ist das Exil. Jeder, der vergisst, liefert sich damit in das persönliche ägyptische Exil.80 Wer aber Gottes eingedenk ist, wer sein Denken stets auf Gott gerichtet hat, der ist dem Exil entkommen und findet in Gottes Gegenwart seine eigene persönliche Erlösung. Und dies ist das Erinnern. In diesem Sinne sagt der Ba’al Schem Tov: »Das Erinnern bringt die Erlösung […] und das Vergessen das Exil.«81 Eliezer Steinmann bringt in seinem Buch Rabbi Jisrael Baʽal Schem Tov im Namen des Baʽal Schem Tov die leider nicht aus den Quellen belegte Formulierung: Ha-Galut nimschechet min-ha-Schechecha we ha-Sechira hi schoresch haGeʼulla, »Das Exil zieht sich hin, des Vergessens wegen, aber das Erinnern ist die Wurzel der Erlösung«.82 Für den Baʽal Schem Tov bedeutet diese Erlösung die Ganzwerdung der Einzelseele in der Gottheit. Die Erlösung im Erinnern befreit den Menschen aus den Nöten und Lasten der materiellen Welt – nicht, dass er von den physischen Leiden verschont würde. Nein! Aber diese haben für ihn keine Bedeutung mehr. Die Erinnerung – an Gottes Gegenwart – sie befreit die Seele aus ihrer Verfallenheit und aus dem Leidensdruck der Weltwirklichkeit. Gewiss, der Baʽal Schem Tov konzipierte eine pantheistisch-mystische Heilslehre. Aber es ist doch bezeichnend, dass er dies mit den Kategorien von Erinnern und Vergessen tat. Es ist die alte biblisch–talmudische Tradition, die sich hier geltend macht. Sie will das Erinnern nicht etwas sein lassen, was dem Belieben des Menschen anheimgestellt ist. Für diese altjüdische Tradition ist das Erinnern eine zentrale religiöse Kategorie, das Erinnern gehört zum menschlichen und auch zum göttlichen Heilszustand, so wie das Vergessen der Stand des Unheils ist, die Gefangenschaft und das Exil. Von diesem Reden des Baʽal Schem über Erinnern und Vergessen ist es nur noch ein Schritt zu der allenthalben viel zitierten Formel:
79
Vgl. Grözinger, Gedenken, Erinnern, S. 28–30.
80
Vgl. Grözinger, Gedenken, Erinnern, S. 30–33.
81
Ben Porat Josef, Pietrkov 1883/4, Bl. 73c.
82
E. Steinmann, Rabbi Jisrael Baʽal Schem Tov, Jerusalem 1960, S. 26; ähnlich ders., Gan haḤasidut, Jerusalem 1957, S. 47.
62
Einführung »Das Exil zieht sich hin, des Vergessens wegen, aber im Erinnern liegt das Geheimnis der Erlösung.«
Was die modernen Autoren oder all die vielen Redner, welche diese Sentenz zitieren, darunter verstehen, vermag ich nicht zu sagen. An die lurianische Seelenlehre denken sie dabei gewiss nicht, so wenig wie an die mystischen Deutungen des Ba’al Schem Tov. Aber doch wird beim Zitieren dieses Satzes eine Ahnung davon mitgeteilt, dass das Erinnern für das Wohl des Einzelnen wie für das Wohl der Gemeinschaft heilsam ist – gerade entgegen der als so heilsam erachteten Flucht in das Vergessen und Verdrängen. Wie immer die jüdischen Denker ihr Judentum beschrieben, ob mit der Ethik, der Philosophie oder der Mystik – stets blieb das Erinnern auf der Seite des Heils, während das Vergessen die Insignien des Unheils waren. Warum das so ist, wird nicht eigentlich erläutert – es ist Gottes Gebot oder auch Erfahrung, ein Geheimnis bleibt es allemal. Die Mahnung zum Erinnern gilt indessen nicht nur für die Ereignisse der Geschichte, sondern ebenso sehr für die Gedanken, welche die Menschen im Sinne hatten und die sie bewegten. Dies gilt in ganz besonderem Maße auch für das Denken der vorstaatlichen zionistischen Denker, denn zu leicht vergisst man in unseren Tagen, was es war, das diese Männer zum nationalen und zionistischen Denken führte, Dinge, die auch heute nach der zionistischen Staatsgründung noch Gewicht und Bedeutung haben – um wieviel mehr gilt es für das Nachdenken über die Bedeutung der Schoah.
TEIL I DER ZIONISMUS
I.
DER SOZIALDEMOKRATISCH-GENETISCH-DYNAMISCHE ANSATZ MOSES MORITZ (MAURICE) HESS (1812–1875) EINGESCHLOSSEN DIE PRAKTISCHEN FORDERUNGEN ZUR PALÄSTINAARBEIT VON ZWI HIRSCH KALISCHER (1795–1874)
1.
Biographisches
Die hier im Titel genannten Namen von Moses Hess sind symptomatisch für das räumlich wie kulturell unstete Leben eines Mannes, der für zwei sehr unterschiedliche Lebensbereiche und historische Entwicklungen den Ehrentitel »Vater« erhielt, nämlich den des »Vaters der deutschen Sozialdemokratie« – zu lesen auf seinem Grabstein in Deutz bei Köln – und den des »Vaters des politischen Zionismus«. Theodor Herzl, der schließliche Begründer des politischen Zionismus, schrieb am 2. Mai 1901 über Hess und sein epochales Buch Rom und Jerusalem in sein Tagebuch: »Welch ein hoher edler Geist. Alles, was wir versuchten, steht schon bei ihm. Lästig nur das Hegelianische seiner Terminologie. Herrlich das Spinozistisch-Jüdische und Nationale. Seit Spinoza hat das Judentum keinen größeren Geist hervorgebracht als diesen vergessenen verblaßten Moses Heß.«1 Auf die »lästige« philosophische Zuordnung Hessens durch Herzl wird später noch zurückzukommen sein. Dem am 21.1.1812 in der Bonner Judengasse geborenen Moses Hess war diese doppelte Laufbahn, die durch eine ausgedehnte journalistische und literarische Tätigkeit zusammengehalten wurde, nicht in die Wiege gelegt. Die Eltern von Hess, David und Helene (Jeanette), verlegten 1816/17 aus geschäftlichen Gründen ihren Wohnsitz von Bonn nach Köln. Den Knaben Moses ließen die Eltern indessen bei den Großeltern in Bonn zurück, wo er vom Großvater in den traditionellen jüdischen Fächern, voran dem Talmud, erzogen wurde. »Welche Bildung habe ich genossen?« notierte Hess einmal in seinem Tagebuch, »In der Judengasse geboren und erzogen; bis in mein fünfzehntes Jahr über den Talmud schwarz und blau geschlagen; Unmenschen für Lehrer, schlechte Kameraden für Gesellschafter, zu geheimen Sünden verführt, mit geschwächtem Körper und rohem Geiste, so trat ich mein Jünglingsalter an.«2 Dies berichtet Edmund Silber-
1
Theodor Herzl, Tagebücher, Berlin 1923, Bd. 2, S. 599.
2
Hess Tagebuch, IML (Institut für Marxismus-Leninismus Moskau) – IGF (Istituto Giangiacomo Feltrinelli Mailand), 16.9.1836.
Moses Hess
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ner in seiner überaus lesenswerten Biographie3 von Hess, der ich die folgende kurze Skizze entnehme, aus der man auch erfährt, dass Hess nie eine reguläre Schule besuchte, geschweige denn ein Abitur erlangt habe. Dennoch erlaubte ihm sein weit ausladendes emsiges Selbststudium, am 3. Juni 1837 an der Universität Bonn immatrikuliert zu werden, ein Studium, das er mit dem Ausgang des Wintersemesters 1838/9 schon wieder abbrach. Zeugnis des beharrlichen Selbststudiums des Knaben ist die Tatsache, dass in eben dem Jahr der Immatrikulation Hessens erstes Buch, Die heilige Geschichte der Menschheit, im Druck erschien, das Werk eines Autodidakten. Moses war seinem Vater erst nach dem frühen Tod der Mutter im Jahre 1825 nach Köln nachgezogen, aber das Verhältnis zwischen dem geschäftsorientierten Vater und dem nach Philosophie und Sozialpolitik strebenden jungen Hess blieb bis zu des Vaters Tod 1851 gespannt. Der Vater, ein erfolgreicher Kolonialwarenhändler, gründete 1833 mit einem christlichen Partner eine erfolgreiche Zuckerraffinerie, Geschäfte in die der junge Moses sich mehrfach an unterschiedlicher Stelle erfolglos zu integrieren versuchte. Nach misslungenen Heiratsversuchen im Rahmen des traditionellen Musters, lernte Hess im Jahre 1842/43 seine lebenslange, von ihm höchst geliebte christliche Lebenspartnerin, Sibylle Pesch, eine Putzmacherin und Stickerin, kennen. Sie war wohl kein Mädchen ohne Vergangenheit, ob sie allerdings, wie es vielleicht nur aus Böswilligkeit oder gemäß noch sehr rigiden Sexual-MoralVorstellungen kolportiert wurde, gar eine Hure gewesen war, wagt Silberner immerhin in Frage zu stellen.4 Auf alle Fälle heiratete sie Hess erst nach dem
3
E. Silberner, Moses Hess. Geschichte seines Lebens, Leiden 1966, S. 2.; die erste Biographie stammt von Theodor Zlocisti, Moses Hess. Der Vorkämpfer des Sozialismus und Zionismus 1812–1875. Eine Biographie, Zweite vollkommen neu bearbeitete Auflage, Berlin 1921; die erste Auflage trug den Titel: Moses Heß. Eine biographische Studie, Berlin 1905 und bildete die Einleitung zu den von Zlocisti herausgegebenen »Jüdischen Schriften« von Hess, die unten noch zu nennen sein werden; Georg Lukács: Moses Hess. 1926; Bruno Frei: Im Schatten von Karl Marx. Moses Hess – Hundert Jahre nach seinem Tod, Wien 1977; Shlomo Avineri: Moses Hess, Prophet of Communism and Zionism, New York University Press, 1985; Kay Schweigmann-Greve: Jüdische Nationalität aus verweigerter Assimilation. Biographische Parallelen bei Moses Hess und Chajm Zhitlowsky und ihre ideologische Verarbeitung. In: Trumah. Zeitschrift der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Band 17, 2007, S. 91–116; M. Shulman, Moses Hess. Prophet of Zionism, London 1963; Th. Rahe, Frühzionismus und Judentum. Untersuchungen zur Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897, Frankfurt a.M. et al. 1988, S. 140–174.
4
S. Na’aman, Emanzipation und Messianismus. Leben und Werk des Moses Heß, FrankfurtNew York 1982, S. 299, meinte dazu: »Sybille Pesch, die er vor dem Bordell bewahrte und zur Lebensgefährtin machte«.
Zionismus
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Tod seines Vaters 1851 im Mai 1852 und lebte dann vorübergehend in Lüttich, wo gemischte Ehen, anders als im preußischen Köln, nicht verboten waren. Im Gegensatz zu vielen in diesem Band besprochenen Autoren war das Leben von Moses Hess höchst bewegt. Es war geprägt durch rastloses Publizieren von Büchern, Aufsätzen und Zeitungsartikeln für viele unterschiedliche Zeitungen in Französisch und Deutsch, von sozialistischer und kommunistischer Agitation, von Vereins- und Gruppenbildungen, an denen Hess beteiligt war, die den Verfechter kommunistischer und sozialpolitischer Anliegen alsbald zum Beobachteten und Gejagten der staatlichen Behörden machte. Es waren diese politischen Aktivitäten an der Speerspitze im Kampf für die Arbeiterrechte gegen das Kapital, wie auch die eigene Rastlosigkeit und Unstetigkeit, die dafür sorgten, dass Hess, mit seiner Lebensgefährtin, ein ruheloses Wanderleben zwischen Köln, Paris, Straßburg, Marseille, Brüssel, Antwerpen, Genf, Basel und Zürich und anderen europäischen Exilsorten führte, an denen er aber stets aktives oder führendes Mitglied sozialrevolutionärer Gruppierungen war. Ein wegbestimmender erster Höhepunkt in Hessens Leben war seine Mitarbeit an der fast legendären oppositionell radikalen Rheinischen Zeitung, die maßgeblich durch Hessens Betreiben ins Leben trat, aber nur vom 1. Januar 1842 bis zu deren Verbot durch die preußischen Behörden im März 1843 existierte. Wiewohl Hess zunächst auf das Versprechen bauen konnte, dass seine vorübergehende Leitung der Zeitung zu einer dauerhaften würde, haben dies die Kommanditäre der Zeitung zu verhindern gewusst. Die Zeitung war sodann für kurze Zeit die wesentliche Bühne der Zusammenarbeit mit Karl Marx, den Hess in den höchsten Tönen lobte, sowie mit anderen führenden Köpfen der Arbeiterbewegung, unter ihnen Junghegelianer wie Friedrich Engels. Es gibt berechtigte Argumente dafür, dass Hess die beiden späteren Führer und Autoren des Kommunistischen Manifests in dieser Zeit wesentlich beeinflusste, ja sie gar erst für den Sozialismus gewann. Shlomo Na’aman sagt dazu in seiner umfassenden Biographie von Hess: »Moses Heß war unbestritten der erste philosophische und publizistische Vertreter des gesellschaftskritischen- und gesellschaftsreformerischen Kommunismus in Deutschland. Als solcher hat er Friedrich Engels gewonnen und sind von ihm Impulse ausgegangen, die Karl Marx erreicht haben, aber damit endet seine Bedeutung für die Frühgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des Sozialismus keineswegs, wie häufig unterstellt wird: Heß hat bei der Umbildung des reformerischen Kommunismus in den historisch orientierten Fortschrittskommunismus, der bald Marxismus getauft wurde, in Zusammenarbeit mit dem Marx-Kreis aktiv teilgenommen; er hat ihn konzeptionell und agitatorisch gefördert. Dabei endete er als das intellektuelle Haupt eines Oppositionskommunismus, der sich zwar der Marxschen Geschichtsauffassung, wie sie das Kommunistische Manifest vertrat, verhaftet fühlte, aber gegen die Revolutions-
Moses Hess
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auffassung von Marx und Engels Einspruch erhob.«5 Diese Zusammenarbeit endete in einem fast totalen Zerwürfnis mit den beiden, die 1848 im Kommunistischen Manifest die Positionen von Hess aufs schärfste attackierten, ohne ihn allerdings beim Namen zu nennen. Nach dem Bruch mit Marx und Engels blieb Hess im Deutschen Arbeiterverein, als Vizepräsident, tätig, wandte sich naturwissenschaftlichen Studien zu, aus denen eine Reihe von Artikeln und die in Paris posthum durch seine Witwe, Sibylle Hess, veröffentlichte Dynamische Stofflehre 6 hervorgingen. Mit der zweiten Hälfte des Jahres 1860 begann Hess an seinem Buch Rom und Jerusalem zu arbeiten, nahm Kontakt und intensive Gespräche darüber mit dem bekannten jüdischen Historiker Heinrich Graetz in Breslau auf,7 nachdem eine Amnestie in Preußen ihm die Rückkehr dahin ermöglichte. Graetz half Hess einen Verlag für dieses aus seinem gesamten bisherigen schriftstellerischen Œuvre herausfallende Buch zu finden, es erschien schließlich 1862 bei Eduard Engler in Leipzig in Kommission für den Breslauer Buchhändler Robert May, der als der eigentliche Verleger zu betrachten ist.8 1862 wird Hess auswärtiges Mitglied der »Philosophischen Gesellschaft« zu Berlin und ab 1864 literarischer und agitatorischer Unterstützer des »Allgemeinen deutschen Arbeitervereins« und dessen Vorsitzenden Ferdinand Lassalle. Lassalle kam allerdings im August 1864 bei einem Duell zu Tode, worauf es, letztlich auch wegen Hessens eigener Weigerung, erfolglose Bestrebungen gab, Hess zu seinem Nachfolger zu wählen – Letzteres alles aus der Ferne des von 1863–70 im Pariser Exil lebenden Hess. Nach einer vorübergehenden Ausweisung wegen des deutsch-französischen Krieges kehrte Hess 1871 wieder nach Paris zurück, wo er bis zu seinem Tode am 6. April 1875 verblieb. Auf seinen eigenen Wunsch wurde er aber auf dem alten jüdischen Friedhof zu Deutz beerdigt und am 9. Oktober 1961 auf den Friedhof der israelischen Moschava Kinnereth überführt.
5
Na’aman, Emanzipation, S. 5. Auch in der Behandlung der Judenfrage ist Marx wohl von dem frühen Hess beeinflusst, dessen Schrift Über das Geldwesen (geschrieben 1843, publiziert 1845) Marx bei dessen Ausarbeitung seines Aufsatzes Zur Judenfrage (1844) vorlag; s. H. J. Becker, Fichtes Idee der Nation und das Judentum, Amsterdam 2000, S. 290.
6
Der vollständige Titel lautete: Dynamische Stofflehre. I. Teil. Allgemeine Bewegungserscheinungen und ewiger Kreislauf des kosmischen Lebens. Von M. Hess. Mit dem Porträt des Verfassers, nebst Himmelskarten, Abbildung unserer Planeten, Kometen und Nebelflecken, Paris 1877 (Verlag Mme Syb. Hess Wittwe).
7
R. Michael, Graetz and Hess, in: Leo Baeck Institute Year Book 9 (1964), S. 91–121.
8
Silberner, Hess, S. 392.
Zionismus
69
Diese nur sehr fragmentarische Skizze eines reichen schriftstellerischen und politischen Werkes, das fast ausschließlich dem Kommunismus und Sozialismus gewidmet war, sollte vor allem darauf hinweisen, dass mit Moses Hess ein Mann das erste säkulare national jüdische Buch schlechthin verfasste, von dem das aufgrund seiner politischen Verortung und religiöser wie kultureller Distanz von seinem angestammten Judentum anscheinend nicht zu erwarten war. Das 1862 erschienene Rom und Jerusalem ist ein Buch, das mit gutem Recht als eine für seine Zeit verfrühte, von vielen jüdischen Zeitgenossen zwar diskutierte, gelobte, letztlich aber verworfene Prophetie genannt wird, die erst mit dem Entstehen des politischen Zionismus unter Theodor Herzl wirklich Anerkennung fand. Darum wurde das Buch erst 1899 in Leipzig von Herzls engem Mitstreiter Max Isidor Bodenheimer in zweiter unveränderter Auflage wieder herausgegeben.
2.
Hess-Deutungen
Da die vorliegende Darstellung des jüdischen Denkens, wie schon mehrfach vermerkt, keine Autorenprofile, sondern zentrale Texte vorstellen will, die den Duktus des jüdischen Denkens bestimmten, kann es auch im Falle von Moses Hess nicht das Ziel sein, sein gesamtes philosophisch-politisches Werk mit all seinen Brüchen und offenbaren Widersprüchen nachzuzeichnen, sondern nur den Teil, der das Judentum betrifft und der als ein Schrittmacher für die jüdische Ideengeschichte zu betrachten ist. Und dies ist vor allem sein 1862 erschienenes Büchlein mit dem Titel Rom und Jerusalem die letzte Nationalitätsfrage. Briefe und Noten. Von M. Heß, Correspondirendes Mitglied der Berliner philosophischen Gesellschaft. Redakteur der ehemaligen Rheinischen Zeitung etc., Leipzig Eduard Wengler 1862. Zu dieser grundlegenden »jüdischen« Publikation Hessens gesellen sich noch nachfolgend einige deutsche und französische Zeitschriftenbeiträge, in denen er unter anderem die Grundthesen seines Buches verteidigte und weiter erklärte.9 Theodor Zlocisti hat in der von ihm verfassten ersten Biographie von Moses Hess das Dilemma, vor dem sich die spätere Hess-Deutung sah, noch in einen Titel zusammengespannt: »Der Vorkämpfer des Sozialismus und Zionismus«. Angesichts des fast unvermittelten Auftretens von Hess als »Prophet« der »Wie-
9
Sie findet man zusammengefasst und auch ins Deutsche übersetzt in: Moses Hess. Jüdische Schriften. Herausgegeben und eingeleitet von Theodor Zlocisti, Berlin 1905 (die Einleitung zu dieser Sammlung bildete die oben genannte »erste Auflage der 1921 erschienenen Biographie durch Zlocisti).
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70
dergeburt Israels« (so der ursprünglich geplante Titel des Buches)10 als historischer »Nation«, nachdem Hess sich über zwanzig Jahre der sozialistischen Internationale verschrieben hatte, machte den späteren Historikern nicht wenige Probleme, die sich in zwei Lager spalteten, in Historiker des Sozialismus und Historiker des Zionismus, welche sodann die je eigene Thematik als die Wesentliche am Denken von Hess herausstellten und die je andere Seite eher als eine Entgleisung empfanden. Mit Shlomo Naʼaman: »Für die klassische Sozialdemokratie gilt seit jeher das abgewandelte Engelswort ›Welchen Stich hat denn der arme Moses, daß er sich mit Zionismus abgibt?‹: Rom und Jerusalem wurde als eine Verirrung angesehen, verschieden gewertet, meist als gerechte Strafe für schlechtes Betragen und mangelnden Fleiß in den Aneignungen des Marxismus.«11 In seinem innovativen Buch Moses Hess and Modern Jewish Identity12 zur Deutung von Hess, fasst Ken Koltun-Fromm die beiden divergierenden Deutungen einmal so zusammen: »Zwei grundlegende Fragen bestimmen die wissenschaftliche Debatte: wie gut passt Rom und Jerusalem in Hess’ literarisches Werk und in welcher Hinsicht ist dieses Buch die ›Rückkehr‹ zu früher schon untersuchten aber noch nicht entwickelten Fragestellungen? Die unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen scheinen in zwei gegensätzliche Lager gespalten, die man die ›sozialistische‹ und die ›zionistische‹ Deutung nennen kann.«13 Die Historiker des Sozialismus, so Koltun-Fromm, verorteten Hess in der sozialistischen Tradition des 19. Jahrhunderts, so vor allem aufgrund von Hessens zweitem Buch Die europäische Triarchie (Leipzig 1841). In diesem Buch – wie auch in seiner Philosophie der Tat -14 kritisierte Hess Hegels Philosophie als Phi10
S. Silberner, Hess, S. 388. 391. Ein weiterer erwogener Titel lautete »Der Völkerfrühling«. Der endgültige Titel ist in ausführlichen Diskussionen mit Heinrich Graetz entstanden, s. Silberner, ebenda.
11
Na’aman Emanzipation, S. 334. Zum Verhältnis der Sozialisten zum Judentum s. E. Silberner, Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914, Berlin 1962.
12
K. Koltun-Fromm, Moses Hess and Modern Jewish Identity, Bloomington 2001.
13
Koltun-Fromm, Hess, S. 14.
14
Eine bequeme Zusammenstellung dieser Texte bietet H. Lademacher, Moses Hess. Ausgewählte Schriften, Köln 1962 (Nachdruck Wiesbaden o.D.); A. Cornu u. W. Mönke, Moses Hess. Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850. Eine Auswahl, Berlin 1961; eine zweite, von W. Mönke besorgte Auflage erschien 1980 in Vaduz, bei der nur die Einführung überarbeitet ist; D. Horster, Moses Heß, Ökonomische Schriften. War Moses Heß Vorläufer des Marxschen »Kapital«?, Darmstadt 1972; Zlocisti, Moses Hess: Sozialistische Aufsätze
Zionismus
71
losophie des Geistes, welche der Materie und der Tat keine entsprechende Bedeutung zuerkenne. Die Historiker des Sozialismus hätten sich insbesondere auf Hessens Hegel-Kritik und seine Beziehung zu Marxens dialektischem Materialismus konzentriert. Entsprechend hätten sie sogar Rom und Jerusalem als eine Reaktion auf die von Karl Marx und Bruno Bauer in den 1840igern aufgebrachte Debatte der »Judenfrage« gedeutet. In dieser Sichtweise sei Hess fortan nur danach bewertet worden, wie gut, oder eher wie schlecht, er Marxens Analyse des Sozialkonfliktes erhellt habe. Man nehme zum Beispiel die beiden sozialistischen Herausgeber von Hessens Philosophischen und sozialistischen Schriften des Ostberliner Akademie Verlages von 1961, A. Cornu und W. Mönke: »Sowohl der Versuch einer Zusammenarbeit mit Napoleon III. als auch seine Schrift ›Rom und Jerusalem‹, die die zionistische Bewegung einleitete, kennzeichnen den Mangel an politischer Prinzipienfestigkeit wie auch die theoretische Konfusion von Heß. […] Diese zionistische Schrift steht theoretisch tief unter dem, was Heß vor der Revolution geschrieben. Er konstruiert darin eine außerhalb der ökonomischen und klassenmäßigen Determiniertheit der bürgerlichen Gesellschaft stehende selbständige Kraft: die Nationalität. […] Es bedarf keiner Erklärung, daß diese Theorie unverträglich ist mit der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx.«15 Demgegenüber hätten die Historiker des Zionismus, teilweise als Reaktion auf diese beschränkte »sozialistische« Sichtweise, vor allem das Motiv der »Rückkehr« von Hess zum Judentum herausgestellt. Hier sei dann die Frage nach den Gründen dafür brennend geworden, was Hess plötzlich motiviert habe, eine nationale Wiedergeburt des Judentums zu fordern. Des Weiteren wurde von den zionistischen Deutern die Frage gestellt, ob Rom und Jerusalem ein radikaler Bruch mit Hessens früheren Werken bedeute oder nur die reifere Antwort auf ungelöste intellektuelle Konflikte. Kurz, die Texte von Hess wurden, je nach Lagerzugehörigkeit, entweder zur Erhellung des Marxschen Werkes oder aus der Sicht des späteren Zionismus gelesen:16 »Die zionistischen Deutungen glauben, dass Rom und Jerusalem entweder eine Wiederbelebung und Neubearbeitung früherer Überlegungen [von Hess] seien und darum die früheren Texte im Rahmen einer breiteren jüdischen (1841–1847), Berlin 1921; E. Silberner, The Works of Moses Hess. An Inventory of His Signed and Anonymous Publications, Manuscripts and Correspondence, Leiden 1958. 15
Einleitung zu: Moses Hess. Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850, S.LXVII.
16
Koltun-Fromm, Hess, S. 14–15.
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72
Perspektive enthalte, oder aber dass es mit seinem Aufruf zur Begründung eines jüdischen Staates ein radikal neuer Ansatz sei und somit einzigartig in seiner Erörterung der Frage nach jüdischer Identität. Die sozialistischen Herangehensweisen behaupten entweder, Rom und Jerusalem sei eine Reaktion auf die Dilemmata des Sozialismus der 1840iger Jahre, sodass das Buch eine Rückkehr von Hess zu seinen sozialistischen Schriften dieser Jahre bedeute, oder schließlich, dass das Buch für die Geschichte des sozialistischen Denkens allenfalls nebensächlich und somit keinesfalls eine neuerliche Hinwendung zu diesem sei.«17
17
Koltun-Fromm, Hess, S. 15. Zionistische Deutungen: I. Berlin, The Life and Opinions of Moses Hess, Cambridge 1959; M. Buber, Der erste der Letzten (Über Moses Hess), in: Der Jude und sein Judentum: Gesammelte Aufsätze, Köln 1963, S. 406–419; ders., Moses Hess, in: Jewish Social Studies 7,2 (1945), S. 137–148; M. Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933, S. 262–266; E. Silberner, Moses Hess, in Historia Judaica 13 (1951); S. Blumenfield, Moses Hess, Dreamer of Realism, New York 1962; G Winer, The Founding Fathers of Israel, New York 1971. Sozialistische Positionen: G. Lukács, Moses Hess und die Probleme in der idealistischen Dialektik, Leipzig 1926 (engl.: in Telos 10 (1971), S. 3–34; ders., Moses Hess, 1926; B. Frei, Im Schatten von Karl Marx. Moses Hess – Hundert Jahre nach seinem Tod, Köln 1977; H. Lademacher, Moses Hess in seiner Zeit, Bonn 1977; ders., Die politische und soziale Theorie bei Moses Hess, in: Archiv f. Kulturgeschichte 42,2 (1960), S. 194–230; ders. Apostel und Philosoph, Einleitung zu M. Hess, Ausgewählte Schriften, s. o.; J. Weiss, Moses Hess, Utopian Socialist, Detroit 1960; I. Goitein, Probleme der Gesellschaft und des Staates bei Moses Hess, Leipzig 1931; A. Cornu, W. Mönke, Einleitung zu: Philosophische und Sozialistische Schriften, s. o. Vermittelnde Positionen: S. Avineri, Moses Hess: Prophet of Communism and Zionism, New York 1985; ders. Socialism and Judaism in Moses Hess’ »Holy History of Mankind«, in: The Review of Politics 45, 2 (1983, S. 234–253; ders., Socialsim and Nationalism in Moses Hess, in: Midstream 22,4 (1976), S. 36–44; Weitere Literatur: D. Bar-Nir, The Modernism of Moses Hess, in Me’asef 16 (1986), S. 51–60 (Hebr.); G. Benussan, Moses Hess: la philosophie, le socialisme (1836–1845), Paris 1985; J. Bloch, Moses Hess: »Rom und Jerusalem« – jüdische und menschliche Emanzipation, in: Kölner Zeitschrift f. Soziologie und Sozial Psychologie 16, 2 (1964), S. 288–313 (wieder in: ders. Judentum in der Krise. Emanzipation, Sozialismus und Zionismus, Göttingen 1966, S. 50–80; J. Carlebach, The Problem of Moses Hess’s Influence on the Young Marx, in: Leo Baeck Institute Year Book 18 (1973), S. 27–39; I. Cohen, Moses Hess, Rebel and Prophet, in: The Zionist Quarterly, Fall (1951); A. Cornu, Moses Hess et la gauche hegelienne, Paris 1934; A. Fishman, Moses Hess on Judaism and Its Aptness for a Socialist Civilization, in: The Journal of Religion 63 (1983), S. 143–158; J. Frankel, The Communist Rabbi, in: Commentary June (1966), S. 77–80; M. Graetz, On the Return of Moses Hess to Judaism: The Background to »Rome and Jerusalem«, in: Binah: Studies in Jewish History, ed. J. Dan, Westport-London,
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Jochanan Bloch,18 sieht demgegenüber in Hessens Schrift eine »nötige« Erwiderung auf Karl Marxens Zur Judenfrage von 1844, zu dem es geradezu eine Antithese bilde.19 Gemäß der Zielsetzung der vorliegenden Darstellung können diese biographischen Fragen, weshalb Hess diese Wende zum »Zionismus« vollzogen habe, auch das Verhältnis von Rom und Jerusalem zu Hessens »sozialistischen« und naturwissenschaftlichen Schriften im Folgenden in den Hintergrund treten. Sie sollen nur insofern herangezogen werden als sie für das Verständnis von Hessens national-jüdischem Denken, sein Rom und Jerusalem, und den hierzu komplementären Schriften und Gedanken nötig erscheinen.
3.
Rom und Jerusalem die letzte Nationalitätsfrage
3.1
Das Neue und der unmittelbare Anlass
Dasjenige Werk von Moses Hess, das hier im Mittelpunkt steht und das Hess zu dem jüdischen Denker macht, auf den eine Darstellung wie die vorliegende nicht verzichten kann, ist sein mit großem Pathos vorgetragenes »Jüdisches Manifest« schlechthin, das den vollständigen Titel Rom und Jerusalem die letzte Nationalitätsfrage20 trägt. Dieses Buch weicht – zusammen mit den hebräischen Texten
S. 159–171 (hebr. In: Zion 42,2 (1980), S. 133–153; S. Hook, Karl Marx and Moses Hess, in: New International 1 (1934), S. 140–144; S. Na’aman, Moses Hess and the Needs of Zionist Ideology Today: A Re-examination of »Rome and Jerusalem«, in: Kiwwunim 14 (1982), S. 21–35 (Hebr.); ders., Moses Hess explains His »Rome and Jerusalem« to the Public, in: HaZijonut 17 (1993), S. 9–37; H. Parzen, The Centenary of a Book: Moses Hess’ Rome and Jerusalem, in: Jewish Year Book Annual 19 (1961/2), S. 75–79; Z. Rosen, Moses Hess und Karl Marx: Ein Beitrag zur Entstehung der Marxschen Theorie, Hamburg 1983; R. Sanders, Moses Hess: the Hegelian Zionist, in: Midstream 8, 1 (1962), S. 57–69; J. H. Schoeps, Moses Hess – ein Vorläufer des modernen Zionismus, in: Emuna 10 (1975), S. 65–71; W. Schuffenland, Zur Entwicklung von Moses Hess zum »wahren« Sozialismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 14, 5 (1968); E. Silberner, Moses Hess: An Annoted Bibliography, New York 1951; ders. Moses Hess, Briefwechsel, Gravenhage 1959; S. Volkov, Moses Hess: Problems of Religion and Faith, in: Zionism 3 (1981), S. 1–15; dies., Religion and Faith in the Thought of Moses Hess, in: Zionism 2, 1 (1981), S. 1–16; F. Weltsch, »Rom und Jerusalem« – nach 100 Jahren, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 5, 20 (1962), S. 225–266; S. Lundgren, Moses Hess on Religion Judaism and the Bible, Abo 1992. 18
Moses Hess: »Rom und Jerusalem« – jüdische und menschliche Emanzipation, in: ders., Ju-
19
Bloch, Moses Hess, S. 58. 62.
20
Ich zitiere hier nach der zweiten unveränderten Auflage: Rom und Jerusalem die letzte Natio-
dentum in der Krise, Emanzipation, Sozialismus und Zionismus, Göttingen 1966, S. 50–80.
nalitätsfrage. Briefe und Noten. Von M. Hess, herausgegeben von Dr. [Max Isidor] Boden-
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von Jehuda Alkalai – von allen in den vorausgegangenen Bänden des Jüdischen Denkens behandelten jüdischen Schriften ab, weniger wegen seiner Briefform (als Briefe an eine anonym bleibende Freundin),21 zu der ja auch Samson Raphael Hirsch gegriffen hatte,22 als vielmehr wegen seines politischen Programms, das zu unmittelbarem Tun aufruft, zu einem aktiven Eingreifen in die Geschichte des jüdischen Volkes. Wesentlich ist dabei, dass Hess seine politischen Aufrufe nicht apokalyptisch-religiös wie Alkalai begründet, sondern von dem neuen Begriff der Nation ausgehend, mit der sich allemale politische Konsequenzen verbinden. Die kleine Schrift von Moses Hess, die neben den genannten Briefen in einem Epilog sechs kleine Essays versammelt und außerdem zehn »Noten«, also mehrseitige Exkurse zu einzelnen Themen der Briefe bietet, will mithilfe der nationalen Grundlegung seines Denkens etwas bewirken, was bis dato für die jüdischen Schriften als unerhörtes Tabu galt, nämlich, wie er dies selbst mehrfach sagt, das jüdische Volk wieder »ins Geleise der Weltgeschichte«23 zu heben. Diese Rückkehr des Judentums unter die Völker, die eine politische Geschichte haben und gestalten, war traditioneller Weise der messianischen Zeit vorbehalten, die allerdings -außer nach Alkalai und Kalischer – nicht durch menschliches politisches Tun herbeigeführt werden dürfe.24 Diesem Novum muss hier, wie bei Alkalai, dadurch Rechnung getragen werden, dass eines der folgenden Kapitel den von Hess gestellten politischen Aufgaben gewidmet werden muss, in denen Hessens Plan und politische Strategie zur Erreichung dieses Zieles gezeichnet werden wird. Unmittelbarer Anlass und historischer Kontext, der sich schließlich in der Titelgebung des Buches wiederfindet, sind die nationalen Befreiungskriege jener Tage: »Im Jahre 1859 brach der sogenannte ›Italienische Krieg‹ aus: Die Truppen von Sardinien-Piemont verbündeten sich mit französischen Truppen gegen Österreich, das norditalienische österreichische Reich wurde zerschlagen. Im Jahre 1860 drangen sardinische Truppen in den Kirchenstaat ein, die päpstliche Herrschaft blieb auf die Stadt Rom beschränkt, in der Napoleon III. eine Schutzheimer, Leipzig 1899; diese Ausgabe ist in digitalisierter Form von der Universitätsbibliothek Frankfurt a.M. ins Internet gestellt worden; weitere Ausgaben: Wien und Jerusalem 1935 mit einem Nachwort von Th. Zlocisti, »ungekürzte« Ausgabe, aber mit orthographischer Neuerung; das selbe in Jerusalem 1935; (Neudruck, VDM Verlag, s. Internet); u. die schon genannte Ausgabe von H. Lademacher, Moses Hess, Ausgewählte Schriften, Wiesbaden o.D. 21
E. Silberner hat die Identität der Ungenannten gelüftet. Es war Josephine Hirsch, die Schwester der damals gerade verstorbenen Emile Hess, der Gattin von Hessens Bruder Samuel, die sich der beiden verwaisten Kinder annahm und dann Samuels zweite Frau wurde. S. E. Silberner, Moses Hess, S. 403.
22
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 496–498.
23
Rom und Jerusalem, 7. Brief, S. 36.
24
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 194–198. 288–298. 479–480.
Zionismus
75
truppe beließ. 1861 wurde König Viktor Emanuel II. zum König von Italien ausgerufen.«25 Im Vorwort zu Rom und Jerusalem weist Hess selbst auf diese allgemeine Situation des »Völkerfrühlings« hin: »Der Völkerfrühling hat mit der französischen Revolution begonnen; das Jahr 1789 war das Frühlingsäquinoxium der Geschichtsvölker. Die Auferstehung der Todten hat nichts Befremdendes mehr zu einer Zeit, in welcher Griechenland und Rom wieder erwachen, Polen von Neuem aufathmet, Ungarn zum letzten Kampfe rüstet, und eine gleichzeitige Erhebung aller jener unterdrückten Racen sich vorbereitet, die abwechselnd von asiatischer Barbarei und europäischer Civilisation, von stupidem Fanatismus und raffinirter Berechnung misshandelt, missbraucht und ausgesogen, dem barbarischen und civilisirten Hochmuthe der herrschenden Racen im Namen eines höhern Rechts das Herrscherrecht streitig machen. Zu den todtgeglaubten Völkern, welche im Bewusstsein ihrer geschichtlichen Aufgabe ihre Nationalitätsrechte geltend machen dürfen, gehört unstreitig auch das jüdische Volk, das nicht umsonst zwei Jahrtausende hindurch den Stürmen der Weltgeschichte getrotzt, und wohin auch die Fluth der Ereignisse es getragen, von allen Enden der Welt aus den Blick stets nach Jerusalem gerichtet hat und noch richtet.«26
3.2
Gründe von Hess für die neuerliche nationale Wende
Am Anfang jeder Darstellung der der national-zionistischen Briefe in Hessens Rom und Jerusalem muss die Eröffnung des ersten Briefes stehen, in welcher Hess seine Rückwendung zum Judentum rechtfertigt. Es ist dabei nicht entscheidend, ob Hess hier biographisch korrekt berichtet, sondern nur wie er diese Rückkehr als Einleitung zu seinem folgenden nationalen politisch-messianischen Programm inszeniert und welche Gründe er für die Notwendigkeit einer nationalen jüdischen Politik anführt: »Da steh’ ich wieder nach zwanzigjähriger Entfremdung in der Mitte meines Volkes und nehme Antheil an seinen Freuden- und Trauerfesten, an seinen Erinnerungen und Hoffnungen, an seinen geistigen Kämpfen im eigenen Hause und mit den Culturvölkern, in deren Mitte es lebt, mit welchem es aber, trotz eines zweitausendjährigen Zusammenlebens und Strebens, nicht organisch verwachsen kann.
25
J. Bloch, Moses Hess, S. 50.
26
Rom und Jerusalem, Vorwort, S. XIV.
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Ein Gedanke, den ich für immer in der Brust erstickt zu haben glaubte, steht wieder lebendig vor mir: Der Gedanke an meine Nationalität, unzertrennlich vom Erbteil meiner Väter, dem heiligen Lande und der ewigen Stadt, der Geburtsstätte des Glaubens an die göttliche Einheit des Lebens und an die zukünftige Verbrüderung aller Menschen.«27 In diesen pathetischen Eröffnungsworten ist schon die gesamte Palette der folgenden Themen versammelt. Da ist die vorübergehende Abkehr vom jüdischen Volkstum, das sich seinerseits in Festen, gemeinsamen Erinnerungen und Hoffnungen manifestiert, im Engagement nach Innen und im Kampf nach außen, sowie schließlich die »bittere Einsicht«, dass es ein organisches Verwachsen mit der vermeintlichen Heimat bei den Völkern nicht geben könne. Demgegenüber steht das Bewusstsein an die von den »Gastvölkern« geschiedene Nationalität, welche sich an der Erinnerung an die traditionelle Heimaterde des Volkes Israel festmacht. Hinzu kommt schließlich, dass gerade in dieser nationalen Absonderung der Schlüssel für das Verstehen der eigentlichen Einheit allen menschlichen Lebens und die darum erwartete Verbrüderung aller Menschen liegt. Das nationale Programm von Hess ist kein nationaler Separatismus, sondern Besinnung auf sich selbst mit dem Zwecke der Vereinung der »Individuen« zu einem Brüderbund. Doch welche Gründe führt Hess für die Notwendigkeit dieses doppelten Weges zur Einheit aller Menschen an, der zuerst über die nationale Konsolidierung und Sonderung führen muss? Die Argumente in Rom und Jerusalem liegen auf zwei Ebenen. Da ist zum einen die reale Erfahrung des Juden zur Zeit der anscheinenden vollen Emanzipation und zum anderen greift Hess zu Argumenten aus der Völkerpsychologie, welche im Rahmen von Hessens genetischer Weltanschauung zu einer Lehre von den geschichtlichen Rassen und deren Aufgaben in der Entwicklung der Menschheit mutierten.28
3.3
Das Judentum als Volk und Nation
Mit Alkalai und Kalischer ist das wirklich neue an Hessens »Jüdischem Manifest«, wie gesagt, sein politisches Programm, sein Aufruf zum selbsttätigen Eingreifen in die Geschichte des jüdischen Volkes durch die Juden selbst. Demgegenüber fügen sich die dafür angeführten Begründungen und Argumente eher in den Duktus des bisher Dargestellten ein, auch wenn Hess dafür neben seinem
27
Rom und Jerusalem, 1. Brief, S. 1.
28
M. Graetz, Humanismus, Sozialismus und Zionismus: Moses Hess und die Rückkehr zum Judentum, in: M. Yardeni, (Hg.), Les Juifs dans l’histoire de France. Leiden 1980.
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77
allgemeinen hegelianischen Hintergrund29 mit seiner neuen Philosophie der »genetischen Weltanschauung« und der »Dynamischen Stofflehre« eine bislang in dieser Darstellung nicht angezogene Philosophie zur Begründung seines Denkens heranzieht. Grundlage all der später noch aufzuzählenden konkreten, für die Durchführung seines zionistischen Programms zu ergreifenden politischen Strategien ist die Forderung von Hess, das Judentum als Nation zu erkennen und anzuerkennen, nicht nur als Religion oder gar Konfession, wie dies zur Zeit von Hess Mode geworden war.30 So schreibt Hess am 15. Mai 1862, als Rom und Jerusalem gerade im Druck war, an seinen Freund Johann Philipp Becker über den wesentlichen Grundzug seines Buches: »Ich fasse das Judentum nur von seiner nationalen Seite auf, entwickle daraus sein ganzes Wesen und seine Berechtigung auf nationale Wiedergeburt.« 31 Dies ist das Schibbolet von Hessens gesamter Argumentation, ist auch, wie noch deutlich werden wird, sein hermeneutischer Schlüssel für sein Verständnis der jüdischen Literatur, von Bibel und Talmud, wie auch der gesamten jüdischen Geschichte. Man erinnere sich demgegenüber an die Worte eines Abraham Geiger, der die Entfernung aller »nationalen« Elemente aus dem täglichen Gebetbuch damit begründete, dass es nicht mehr dem eigenen jüdischen Bewusstsein entspreche, über die »verlorene volksthümliche Selbständigkeit Israels« zu klagen oder die »Sammlung der Zerstreuten in Palästina« zu erflehen, sondern dass man als Messiasreich nur noch das Herrschen der Gottesidee erwarte, die »sich befestigende Frömmigkeit und Gerechtigkeit, nicht aber als auf die Zeit der Erhebung des Volkes Israel«.32 Es ist angesichts solcher Auffassungen Geigers nicht verwunderlich, dass gerade dieser und die von ihm vertretene Richtung,
29
Ich verweise dafür auf Jüdisches Denken, Band 3, S. 477–488, und D. Westerkamp, Die philonische Unterscheidung, Aufklärung, Orientalismus und Konstruktion der Philosophie, München 2009, und speziell das dortige Kapitel zu Moses Hess; eine umfassende Darstellung von Formen jüdischen Geschichtsverständnisses, auch zu M. Hess, bietet S. Spero, Holocaust and Return to Zion. A Study in Jewish Philosophy of History, Hoboken 2000.
30
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 477–488. Zur Konzeption des Judentums als Nation siehe Ph. Lenhard, Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782–1848, Göttingen 2014.
31
Becker war »einer der Redner auf dem Hambacher Fest 1832, […] einer der hervorragendsten militärischen Führer des badischen Aufstandes von 1849; Organisator der deutschen Sektion der internationalen Arbeiter-Assoziation […]«, Moses Hess Briefwechsel, hrsg. E. Silberner u. W. Blumenberg, S-Gravenhage 1959, S. 386.
32
S. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 612.
Moses Hess
78
ohne sie beim Namen zu nennen, in Rom und Jerusalem mehrfach verspottet und kritisiert werden.33
3.4
Argumente für das Verständnis des Judentums als Nation
3.4.1 Das traditionell religiöse Bewusstsein – die Gebete und das Hebräische Für seine Auffassung des Judentums als Volk und Nation beruft sich Hess, zu Recht, auf die zahlreichen traditionellen jüdischen Gebete, welche gerade vom Volk Israel sprechen, wie auch auf die täglich im synagogalen Gebet erflehte messianische Rückführung in das Land der Väter34 und das Bewusstsein aller traditioneller Juden, die ihr Leben außerhalb des Heiligen Landes als Leben im Exil betrachten – eine Auffassung die Abraham Geiger, nach der Ansicht von Hess, durch seine Begründungen zur Änderung des Gebetbuches nolens volens bestätigte.35 Dabei ist zu beachten, dass die Religion des Judentums für Hess nicht von einer anderen Kategorie als die jüdische Nationalität ist. Hess will nicht die Religion zugunsten der Nation verdrängen oder abschaffen, vielmehr sind ihm beide unzertrennlich miteinander verwoben, beide brauchen einander, das eine ist Funktion des anderen: »Das Judenthum ist keine passive Religion sondern eine aktive Erkenntniss, welche mit der jüdischen Nationalität organisch verwachsen ist. – Das Judenthum ist vor allen Dingen eine Nationalität, deren Geschichte, Jahrtausende überdauernd, mit jener der Menschheit Hand in Hand geht, eine Nation, die schon einmal das geistige Regenerationsorgan der socialen Welt war, und welche heute, nachdem der Verjüngungsprozess der Weltgeschichtlichen Culturvölker seiner Vollendung entgegenreift, mit der Wiedergeburt derselben ihre eigene Auferstehung feiert.«36 Als sichtbares Zeichen für den Nationalcharakter des Judentums stehen für Hess zunächst die hebräischen Gebete der Synagoge, die »durchgängig Collectivgebete für die ganze jüdische Stammesgenossenschaft sind.« Dies hat zur
33
Rom und Jerusalem, 7. Brief, S. 37. 38. 41. 43; 4. Brief, S. 15. Zwischen Hess und Hirsch ist es sodann auch zu einem offenen Austausch von »Artigkeiten« gekommen, der auf Hessens Seite sogar in einem »offenen Brief an Abraham Geiger« mündete, abgedruckt in: Moses Hess. Jüdische Schriften, hrsg. und eingeleitet von Th. Zlocisti, Berlin 1903, S. 9–11.
34
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 288–298.
35
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 611–613. Für Geiger war das Judentum in erster Linie Religion,
36
Rom und Jerusalem, 2. Brief, S. 5.
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 583–593.
Zionismus
79
Folge, dass das Bewusstsein des frommen Juden ganz auf dieses Kollektiv ausgerichtet ist: »Der fromme Jude ist vor allen Dingen jüdischer Patriot.« Dies ist es auch, was die traditionelle jüdische Erziehung vermittelt. Darum ist der jüdische Patriotismus ein »naturwahres Gefühl.«37 Hess führt für dieses fromme Bewusstsein und für die darauf ausgerichtete Erziehung, die er selbst genossen hat, jene rührende Betrachtung aus dem Haus des Großvaters an: »Mein Grossvater zeigte mir Oliven und Datteln: ›Diese Früchte,‹ belehrte er mich mit leuchtenden Blicken, ›wachsen in Erez Jisroel‹ (in Palästina). – Alles, was an Palästina erinnert, wird mit demselben Gefühl der Liebe und Verehrung, gleich uralten Erinnerungen des väterlichen Hauses von den frommen Juden angeschaut. Bekannt ist, dass jedem im Exil gestorbenen Juden ein wenig Erde aus dem Land der Väter ins Grab mitgegeben wird, da der Todte sonst, wie es heisst, sich unter der Erde bis zum heiligen Lande fortwälzen müsste, um zur Ruhe und dereinstigen Auferstehung zu gelangen. […] der ganze jüdische Cultus und sein durchgreifender Einfluss auf das häusliche Leben der Juden, sie haben ihre Begründung im Patriotismus des jüdischen Volkes.«38 Gleichermaßen berichtet Hess von der Trauer des Großvaters am Fastentag des 9. Av, dem Tag der Tempelzerstörung, die nichts anders als ein Tag der Nationaltrauer sei. Neben solchen zweifellos richtigen Hinweisen auf das an der Tradition geschulte Bewusstsein von der Volkhaftigkeit des Judentums führt Hess nun auch noch eigens Spinoza und Moses Mendelssohn an,39 die das Judentum als Nationalität aufgefasst hätten.40 Auch die durch die Aufklärung erfolgte Wiederbelebung der hebräischen Sprache für außerreligiöse Bereiche, deren Verwendung in Zeitungen und in der Literatur, aber auch die Hinwendung zur jüdischen Vergangenheit bei jüdischen Schriftstellern in der modernen jüdischen Romanliteratur und Dichtung in anderen Sprachen, sind für Hess Zeugnisse dieses nationalen Bewusstseins,41 ebenso die neuerlich erwachte jüdische Historiographie, insbesondere die seines alsbaldigen Freundes und Förderers, Heinrich Graetz, dem Vater der modernen jüdischen Geschichtsschreibung. Im Vorwort zu Rom und Jerusalem zitiert Hess eigens Graetz mit den Worten: »Die Geschichte des nachtalmudischen Zeitraums […] hat also noch immer einen nationalen Charakter;
37
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 14.
38
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 14–15.
39
Zu Spinoza und Mendelssohn vgl. Jüdisches Denken Bd. 3, S. 158–227. 380–416.
40
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 15.
41
Rom und Jerusalem, Vorwort, S. XVII.
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80
sie ist keineswegs blosse Religions- oder Kirchengeschichte.«42 Was all dies für den Religionsbegriff von Hess bedeutet, soll später noch erörtert werden.
3.4.2 Die verfehlte Emanzipation Die Tatsächlichkeit des Judentums als Nation sieht Hess auch durch die geschichtliche und soziale Realität bestätigt, in der die Juden trotz Emanzipation und rechtlicher Gleichstellung dennoch stets als Fremde betrachtet werden. Einen Grund für den mangelnden Respekt der Nichtjuden gegenüber den Juden sieht Hess nicht zuletzt darin, dass die Juden selbst ihre eigene Nationalität verleugnen. »Trotz aller Aufklärung und Emancipation wird doch der Jude im Exil, der seine Nationalität verleugnet, nicht die Achtung der Nationen gewinnen, in deren Mitte er wohl als Staatsbürger naturalisirt, aber nicht der Solidarität mit seiner Nation enthoben werden kann.«43 Sogleich in dem den Briefen vorangeschickten »Vorwort« kommt Hess auf die Verweigerung der politischen und sozialen Gleichstellung der Juden als Begründung für einen aufzunehmenden nationalen Diskurs des Judentums zu sprechen. Die Notwendigkeit, die jüdische Nationalitätsfrage zu erörtern, ist gerade in Deutschland brennend, »wo die Juden seit Mendelssohn, trotz der Verleugnung ihres Nationalcultus, trotz aller Bemühungen, sich zu germanisiren, vergebens die politische und sociale Gleichstellung mit ihren deutschen Brüdern anstreben!«44 Als Grund dieser Verweigerung der Gleichstellung sieht Hess vor allem eine oft unbewusste »Racen-Antipathie« von Seiten der »Deutschen« gegenüber den Juden, die selbst unter einer angeblichen »humanistischen« Gesinnung noch hervorbricht.45 Hess weiß sogar persönliche Zurückweisungen solcher Art anzuführen. »Ich selbst habe es nicht nur bei Gegnern, sondern bei meinen eigenen Gesinnungsgenossen erfahren, dass sie in jedem persönlichen Streite von dieser Heppwaffe Gebrauch machen, die in Deutschland selten ihre Wirkung verfehlt.«46 Oder als er einmal in einer deutsch-nationalen Aufwallung das nationalistisch deutsche Lied von Nikolas Becker »Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein« vertonte und an den Autor schickte, bekam er dessen Abweisung mit der Bemerkung zurück: »Du bist ein Jud’«.47 Es ist nach Hess eine Selbsttäuschung der deutschen Juden, wenn sie in den partikularen politischen und gesellschaftlichen Erfolgen einen wirklichen Durch42
Rom und Jerusalem, Vorwort, S. XVII.
43
Rom und Jerusalem, 5. Brief, S. 22.
44
Rom und Jerusalem, Vorwort, S. XV.
45
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 11.
46
Rom und Jerusalem, 6. Brief, S. 34.
47
Rom und Jerusalem, 5. Brief, S. 20f. Vgl. Silberner, Hess, S. 64.
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bruch durch die rassistischen Schranken sehen. »Was hilft ihnen die Emancipation, was verschlägt es, wenn auch hie und da ein Jude Gemeinderath oder auch Volksvertreter, ja Minister wird, so lange dem Namen ›Jude‹ ein Makel anklebt, den jeder hochnäsige Bursche, jeder obscure Zeitungsschreiber, jeder dumme Junge mit sicherm Erfolg ausbeuten kann?«48 Dieser Zurückweisung von deutscher Seite steht andererseits die Verblendung der deutschen »Culturjuden« gegenüber, die diese Grenze zwischen Deutschen und Juden nicht wahrhaben wollen und gar wie Abraham Geiger49 das nationale Element aus dem traditionellen Synagogengottesdienst eliminieren wollen, weil »die modernen Juden gar kein nationales Gefühl mehr« besäßen. Im vierten Brief gießt Hess seine volle Verachtung über solche »Reformatoren« aus: »Erst in neuester Zeit hat man aus ganz äusserlichen Emanzipationsrücksichten die jüdische Nationalität verleugnen zu müssen geglaubt, und dabei so sehr allen Wahrheitssinn eingebüsst, dass man sich noch einbilden konnte, den Fortbestand des Judenthums durch diese Verleugnung seines innersten Wesens nicht im Geringsten zu gefährden. Ja, liebe Freundin, was auch unsere germanisch-christelnden Reformatoren dagegen vorbringen mögen: die jüdische Religion ist vor allen Dingen jüdischer Patriotismus.«50 Diese Selbstverleugnung der jüdischen Nationalität kommt, so Hess, indessen nicht von ungefähr, denn »Der deutsche Jude ist wegen des ihn von allen Seiten umgebenden Judenhasses stets geneigt, alles Jüdische von sich abzustreifen und seine Race zu verleugnen. Keine Reform des jüdischen Kultus ist dem gebildeten deutschen Juden radikal genug. Selbst die Taufe erlöst ihn nicht von dem Alpdruck des deutschen Judenhasses. Die Deutschen hassen weniger die Religion der Juden, als ihre Race, weniger ihren eigenthümlichen Glauben, als ihre eigenthümlichen Nasen. – Weder Reform, noch Taufe, weder Bildung, noch Emancipation erschliesst den deutschen Juden vollständig die Pforten des socialen Lebens, sie suchen daher ihre Abstammung zu verleugnen.«51
48
Rom und Jerusalem, 5. Brief, S. 22.
49
Rom und Jerusalem, 5. Brief, S. 20; u. s. Jüdisches Denken, Bd. 3., S. 611–613.
50
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 15.
51
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 11.
82
Moses Hess
3.4.3 Die genetischen Bedingungen Die Argumente von Hess, welche eine nationale Politik der Juden fordern, werden in den verschiedenen Teilen seines Rom und Jerusalem mehrfach mit Hinweisen auf die unterschiedliche Rassenzugehörigkeit von Juden und unter anderen den Deutschen begründet. Um diese rassebezogenen Argumente von Hess richtig verstehen und bewerten zu können, müssen sie in die damalige »dynamische Weltanschauung« von Hess eingeordnet werden, auf die er in diesem Buch mehrfach Bezug nimmt. Diese Zuordnung wird besser gelingen, wenn man diese Weltanschauung von Hess zunächst an der posthum erschienenen Schrift zur Dynamischen Stofflehre im Zusammenhang betrachtet und anschließend die verstreuten Elemente in Rom und Jerusalem in dieses Gesamtbild einfügt. Hier soll darum zunächst Hessens »genetische Weltanschauung«, die er mehrfach als die jüdische Weltanschauung schlechthin apostrophiert,52 aus dem Zusammenhang der posthumen Schrift betrachtet werden. Als das Wesen dieser Weltanschauung nennt Hess in einer »Note« von Rom und Jerusalem, »das Sein als das Werden« zu begreifen, »welches den Gegensatz von Leben und Tod in sich enthält, und dessen Wahrheit und Wirklichkeit die ewige Geburt und Wiedergeburt ist.«53
4.
Was ist eine Nation? – Definitionen
Angesichts der gegenwärtigen sehr stark polarisierenden Debatte um die Selbstdefinition des modernen Staates Israel als Staat der Juden, das heißt der jüdischen »Nation«, in welcher etwa der schon genannte israelische Historiker Shlomo Sand gar von einer »Erfindung des jüdischen Volkes« spricht,54 gilt es, mit besonderer Sorgfalt die Entstehungsumstände des modernen jüdischen nationalen Denkens aus seiner Zeit zu verstehen und nicht – wie zum Beispiel Sand – mit modernen und verkürzenden Schlagwörtern seinen gegenwärtigen Unwillen und die Kritik an den sozialen und politischen Umständen in der schwierigen politischen Situation des Staates Israel in die Vergangenheit zu projizieren und dadurch gar dem Zionismus seine Berechtigung abzusprechen. Dabei gilt es im Auge zu behalten, dass die von Moses Hess vorgetragenen Argumente für die nationale Konstituierung des jüdischen Volkes nur eine Auswahl aus den damals gängigen Auffassungen der internationalen Debatte um die Nationalisierung der europäischen Politik und Staatenbildung darstellen. Die Frage, was denn eine Nation sei, wurde in der genannten Debatte zu Hessens Zeiten und wird bis heute überaus vielfältig beantwortet. Da gibt es ethni52
Z. B. Rom und Jerusalem, Noten II u. VI, S. 169. 179.
53
Rom und Jerusalem, Note VII, S. 181.
54
Dazu s. unten Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, VIII, 2.1.
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sche, kulturelle, religiöse, politische und noch anders geartete Begründungen, und die moderne Nationalismusforschung ist seit dem diese Debatte eröffnenden Aufsatz des französischen Religionswissenschaftlers Ernest Renan unter dem Titel Qu’est que c’est une nation? (Was ist eine Nation?) von 188255 noch zu keinem einheitlichen Schluss gekommen, wie eine Nation zu definieren sei. Dies zeigt zum Beispiel die forschungsgeschichtliche Arbeit Nation und Nationalismus von Rolf-Ulrich Kunze,56 welche zahllose überaus kontroverse Definitionsversuche für den Begriff Nation vorstellt. Stellvertretend sei hier die, gewiss nicht neueste, 1922 formulierte, Sicht von Max Weber angeführt, welche die Vielfalt der Ansätze des nationalen Selbstverständnisses wenigstens anzeigt: »›Nation‹ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: dass gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an. Weder darüber aber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität zu resultieren habe, herrscht Übereinstimmung. ›Nation‹ im üblichen Sprachgebrauch ist zunächst nicht identisch mit ›Staatsvolk‹, d.h. der jeweiligen Zugehörigkeit einer politischen Gemeinschaft. […] Sie ist ferner nicht identisch mit Sprachgemeinschaft, denn diese genügt keineswegs immer (wie bei Serben und Kroaten, Amerikanern, Iren und Engländern), sie scheint andererseits nicht unbedingt erforderlich (man findet den Ausdruck ›Schweizer Nation‹ auch in offiziellen Akten neben ›Schweizer Volk‹), und manche Sprachgemeinschaften empfinden sich nicht als gesonderte ›Nation‹ […], aber sehr verschieden intensiv (z.B. mit sehr geringer Intensität in Amerika und Kanada). Aber ebenso kann auch den Sprachgenossen gegenüber die ›nationale‹ Zusammengehörigkeit abgelehnt und dafür an Unterschiede des anderen großen ›Massenkulturguts‹: der Konfession (so bei Serben und Kroaten), ferner an Differenzen der sozialen Struktur und der Sitten (so bei den Deutschschweizern und Elsässern gegenüber den Reichsdeutschen, bei den Iren gegenüber den Engländern), als an ›ethnische‹ Elemente, vor allem aber an Erinnerungen an politische Schicksalsgemeinschaft mit anderen Nationen (bei den Elsässern mit den Franzosen seit dem Revolutionskriege, welcher ihr gemeinsames Heldenzeitalter ist, wie bei den Balten mit den Russen, deren politische Geschicke sie mitgelenkt haben) angeknüpft werden. Daß ›nationa-
55
Paris 1882, dt. E. Renan, Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, Wien 1995.
56
R. U. Kunze, Nation und Nationalismus, Darmstadt 2005.
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le‹ Zugehörigkeit nicht auf realer Blutsgemeinschaft ruhen muß, versteht sich vollends von selbst […]«57 Bei den Beschreibungen der »jüdischen Nation« von Moses Hess findet sich eine ganze Reihe von Gesichtspunkten, die hier von Max Weber aufgeführt werden. Da ist zunächst das Solidaritätsempfinden zu nennen, die nicht (mehr) vorhandene aber eben nicht ausschlaggebende Staatlichkeit der jüdischen Nation, die mangelnde Sprachgemeinschaft, – die aber durch die zu Hessens Zeiten auch außerhalb der religiösen Literatur wieder verwendete hebräische Sprache relativiert wird –, die Religion, eine, wenn auch weit zurückliegende, politische Gemeinschaft und schließlich, das für Hess wichtigste, die ethnische Gemeinsamkeit. E. Silberner sagt zu Letzterem einmal sehr pointiert und auch ein wenig einseitig: »Bei Hess gründet sich die jüdische Nationalidee auf seinen Begriff der Rasse. In seinen Schriften könnte man zwar in vielen Fällen das Wort ›Rasse‹ durch ›Nation‹ ersetzen, ohne dadurch seine Gedankengänge wesentlich zu stören; man darf aber nicht vergessen, daß Hess, seitdem er Naturwissenschaften zu treiben begonnen hatte, dem Rassenbegriff immer große Bedeutung beimaß.«58 Diesem »naturwissenschaftlich« begründeten »Rassenbegriff« von Hess wird im Folgenden noch nachzugehen sein. Zuvor muss allerdings angemerkt werden, und darin ist Shlomo Sand rechtzugeben, dass eine »rassische« Definition der jüdischen Nation aus rechtlichen wie historischen Gründen keinesfalls zu halten ist und Hess darin sicher ein Kind seiner Zeit war. Die historischen Gründe für eine nicht ausschließlich ethnische Definition der jüdischen Nation, sind zunächst die Tatsache, dass es schon in der Antike wie auch im Mittelalter59 zum Teil massenhafte Übertritte zum Judentum gegeben hatte und dass, dies ist der rechtliche Grund, die Zugehörigkeit zum Judentum eben nicht nur durch Geburt, sondern auch durch Konversion erlangt werden kann. Aber weder für Hess und noch weniger für eine gegenwärtige historisch differenzierende Betrachtung kann das Entfallen der »rassischen« Begründung der jüdischen Nation das Ende einer solchen bedeuten, da die Juden, wie oben schon vermerkt, eine Vielzahl von Qualitäten aufweisen, welche in der Nationenbildung seit dem 18. Jahrhundert von vielen sich neu definierenden Nationen als legitime Begründungsmuster gebraucht wurden. Im Folgenden muss es nun darum gehen, Hessens naturwissenschaftliche »Rassenlehre« näher kennen zu lernen, die niemals einen »Nationalismus« im abwertenden Sinne anderen gegenüber beinhaltete, sondern eine positiv zu se57
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1922), hg. J.
58
Silberner, Hess, S. 404.
59
Zur Konversion der Chasaren s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 587–588.
Winckelmann, Tübingen 5. Aufl. 1980, S. 528f.
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85
hende »Naturerscheinung« darstellt, die von der Geschichte ausdrücklich zu überwinden ist.
5.
Die genetische Weltanschauung oder die Dynamische Stofflehre – Basis des »rassischen« Verständnisses von Nation
5.1
Ontologischer Monismus und das Ende des Idealismus
Den Begriff der »genetischen Weltanschauung« verwendet Hess in der Überschrift eines Artikels in der Zeitschrift der Berliner philosophischen Gesellschaft von 1862.60 Die dort angelegten Gedanken mündeten dann in die erst posthum durch seine Frau verlegte Schrift Dynamische Stofflehre.61 Diese Schrift gehört im weiteren Rahmen zum »naturwissenschaftlichen Materialismus« des 19. Jahrhunderts,62 wie ihn zum Beispiel der von Hess mehrfach angeführte Arzt und Physiologe Jacob Moleschott (1822–1893) propagierte, der diese »materialistische« Auffassung unter anderen in seinem Hauptwerk Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s chemische Briefe, Mainz 1852, niederlegte. Allerdings vertritt Hess, und er folgt darin Moleschott und Ernst Haeckel /1834–1919), recht eigentlich einen ontologischen Monismus, worin er sich, teilweise zu Recht, auf Spinoza beruft, als dessen »Schüler« sich Hess schon in seinem Heiligen Weg bezeichnet. Das heißt, nach Hess sind Materie und Geist nicht unterschiedliche Kategorien, sondern sind ein und dasselbe, wenn auch in unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Allerdings erfährt Spinoza in Hessens Auffassung dennoch eine »materialistische« oder besser physikalisch-dynamistische Wendung. Waren bei Spinoza Materie und Geist zwei unterschiedliche Modalitäten der einen göttlichen »Substanz«,63 so sind beide bei Hess Erscheinungen der zwei die Welt verwirklichenden Grundphänomene Bewegung und Wärme, die im Folgenden noch näher betrachtet werden müssen. Für die Einheit allen Seins zitiert Hess zunächst den Grundsatz »ordo, et connexio idearum idem est, ac ordo, et connexio rerum«, »Die Ordnung und
60
Die Genetische Weltanschauung, als Resultat der Philosophie und der Erfahrungswissenschaf-
61
Dynamische Stofflehre I Kosmischer Theil. Allgemeine Bewegungserscheinungen und ewiger
ten, in: Der Gedanke III (1862), S. 103–112. Kreislauf des kosmischen Lebens von M. Hess. Mit dem Portrait des Verfassers, nebst Himmelskarten, Abbildung unsrer Planeten, Kometen und Nebelflecken. Paris (Verlag von Mme Syb. M. Hess Wittwe) 1877. Mehr ist nicht erschienen. 62
Zu den »Naturalistischen Strömungen« im 19. Jh. s. W. Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. II,
63
S. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 202–207.
17. Bis 20. Jahrhundert, München 1996, S. 322–328.
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Verknüpfung der Vorstellungen ist dieselbe, wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge«.64 Dieser Grundsatz betrifft bei Spinoza die Gottheit, und das heißt die einzige existierende Substanz, nämlich die Welt als Ganzes. Daraus folgt, dass in der einen göttlichen, die gesamte Welt ausmachenden, Substanz Denken und Ausdehnung nur zwei unterschiedliche Modi oder Aspekte desselben Dinges sind, keines ist primär, oder gar die Ursache des anderen.65 Mit Hilfe dieses spinozanischen Grundsatzes vollzieht Hess den Bruch mit der idealistischen Philosophie seiner Zeit – er nennt Fichte und Hegel –, nach welcher die Ideen das Primäre, Wesentliche seien, und die konkreten Dinge nur deren Abbild oder Realisierung. Den Idealisten wirft Hess vor, dass sie, wie die mittelalterlichen Philosophen,66 glaubten, »dass die nur durch Erfahrung zu gewinnenden Resultate der Wissenschaft aus dem logischen Denken allein gewonnen und entwickelt werden könnten,«67 das heißt, man glaubte, dass das von der Logik des menschlichen Denkens Erschlossene der ontologischen Wirklichkeit entsprechen müsse,68 da ja das Denken, hier das Denken Gottes, Ursache von allem sei. Demgegenüber betont Hess die Priorität der Empirie, die alleine über die Wirklichkeit der Welt Auskunft geben könne, weil die materiellen Dinge nicht vom Denken verursacht, sondern nur ein anderer Aspekt derselben Sache, nämlich der denkenden Substanz sind. Das Denken kann demnach nicht vom materiellen Sein abgelöst werden. Hess huldigt folglich auch nicht wie seine neuzeitlichen jüdischen Vorgänger einer Lehre von zwei Wahrheiten.69 Er betont vielmehr, dass »die Wahrheit keine andere in der Erfahrungswissenschaft, als in der Philosophie, und in dieser keine andere, als in der Religion sein kann.«70 Hessens eigene Erklärung für den Zusammenhang von Erfahrung und menschlichem Denken, sprich der Übereinstimmung von denkerischer und Seins-Ordnung, ist bezeichnend für seine physiologisch-materialistische Denkungsweise.71 Er erklärt diese Übereinstimmung von menschlichen Ideen und Wirklichkeit so: »Thatsachen können nicht erfunden werden. Nur dadurch dass sie Sinneseindrücke auf uns machen, von den Sinnesorganen unserm Centralnervensystem 64
Spinoza, Ethik II, Propositio (Lehrsatz) VII, Ausgabe Blumenstock, S. 168–169.
65
Spinoza Ethik, II, Scholium zur Propositio VII, S. 170–171.
66
S. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 378. 383. 449.
67
Dynamische Stofflehre, S. 9.
68
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 383; Bd. 2, S. 323. 636; Bd. 3, S. 638.
69
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 68–75.
70
Rom und Jerusalem, 10. Brief, S. 65.
71
Rom und Jerusalem, Note VII, S. 183 sagt Hess: »Die Wissenschaft findet […] dass aber das Organische aus dem Anorganischen, das Materielle aus dem Immateriellen ursprünglich entsteht […].«
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87
zugeführt werden, sich hier anhäufen, condensiren und zu einem geordneten Ganzen organisiren, entstehen aus Sinneseindrücken Gefühle, Gedanken, Ideen und Systeme von Ideen. Wir gewinnen unsere Ideen ursprünglich von Aussen. Allerdings ziehen wir aus den so gewonnenen Ideen Induktionsschlüsse, aber diese bleiben Hypothesen bis sie wieder durch die Erfahrung bestätigt worden sind.«72 Das Ideelle, das wird schon aus diesen Aussagen deutlich, ist nichts anderes als das Ergebnis physiologischer Prozesse. In dieser Übereinstimmung von Physiologie und Kognition drückt sich die Einheit von Geist und Materie aus. Es ist diese Identität, welche die Identität der »Denk- und Naturgesetze« begründet.73 Diese Übereinstimmung von Geist und Materie ist die Grundlage für das, was Hess als die »dynamische oder mechanische Weltanschauung« bezeichnet, die er in seinem Buch beschreiben will. Dies ist eine »genetische Descendenzlehre, welche den inneren Zusammenhang der Phänomene an die Stelle einer bloss beschreibenden Klassifikation setzt.«74 Die Dinge, so Hess, werden nicht dadurch erkannt, dass man sie beschreibt und klassifiziert, sondern alleine dadurch, dass man ihr Woher und Wohin erkennt. Für Hess gibt es keine unveränderlichen oder gar ewigen Dinge, das einzige, das ewig ist, ist ein ununterbrochener Wandlungsprozess, also gibt es keine ewige Materie, noch gar einen ewigen Geist. Sie beide sind nur Erscheinungsweisen eines endlosen Bewegungs- und Wandlungsprozesses, der im Grunde nur zwei Basisrichtungen kennt, die zentripetale Kondensierungsbewegung und die zentrifugale Expansionsbewegung, wozu sogleich noch mehr zu sagen sein wird. Seinen spinozistisch verankerten Monismus grenzt Hess eigens gegen den Dualismus der »Materialisten« ab, welche zwei sich gegensätzlich gegenüberstehende Ursachen alles Seienden annehmen, nämlich einerseits eine »unerschaffene, d.h. unsterbliche, unendliche, unbegrenzte, unbestimmte und dennoch wieder bestimmte, wirkliche und wirksame Kraft, andrerseits einen ebenso unerschaffenen, präexistirenden, und dennoch wieder ebenso bestimmten, in Atome differenzirten Stoff […], um schliesslich diese beiden getrennt von einander aufgefassten Kräfte und Stoffe als untrennbar mit einander verbunden ansehen zu müssen.«75 Dieser hier von Hess bekämpfte »materialistische Dualismus« ist im Grunde nur eine Variante des mittelalterlichen »idealistischen« Dualismus, der das in der Weltwirklichkeit miteinander verschlungene aber doch grundsätzliche Gegensatzpaar von Materie und Geist kannte, der bei den modernen Materialis72
Dynamische Stofflehre, S. 9.
73
Dynamische Stofflehre, S. 10.
74
Dynamische Stofflehre, S. 10.
75
Dynamische Stofflehre, S. 16.
Moses Hess
88
ten durch die gegensätzlichen Seins-Ursachen von Materie und Kraft ersetzt ist.76 Aber auch den im 19. Jahrhundert aufkommenden neuen »Spiritualismus«77 kritisiert Hess wegen seines Dualismus von »Leblosem« oder »Geistlosem« auf der einen Seite, aus dem sodann wunderbarerweise, angeblich durch einen übernatürlichen Eingriff, das »Belebte« und das »Bewusstsein« hervorgehe. Beide Richtungen, Materialismus und Spiritualismus, erscheinen Hess als völlig an der Wahrheit vorbeigehende einseitige Verklärungen der Materie hier und des Geistes dort, die jeweils als ewige Substanzen betrachtet werden. Demgegenüber vertritt Hess seine »dynamische Stofflehre«, in welcher es nur ein einheitliches Grundprinzip gibt, nämlich das der Bewegung. Diese ewige Bewegung äußert sich als ein unendlicher »Kreislauf des Entstehens und Vergehens alles wirklichen Daseins«, eine unendliche Wiederholung derselben Prozesse des Auftretens und Verschwindens von wirklichen durch Raum und Zeit begrenzten Individuen. Hess rechnet also nicht mit einer ewigen Substanz von Materie oder Geist.78
5.2
Die dynamische Stofflehre
Wie soeben vermerkt, kann es laut Hess weder eine ewige präexistente Materie geben, von der man seit Aristoteles und im Mittelalter sprach, aber auch keinen ewigen Geist oder auch keine ewige Kraft, keine ewige »Lebenskraft«, ein Begriff, der im 19. Jahrhundert gängig wurde.79 Um die Welt wirklich verstehen zu wollen, darf man folglich nicht nach festen und ewigen Substanzen suchen und solche beschreiben. Erkannt hat man das Wesen der Dinge erst wahrhaftig, wenn man sie auf Bewegungsformen reduziert, »welche nach mechanischen Gesetzen wirken.«80 Das Dasein der Dinge besteht also nicht in konstanten in sich ruhenden Substanzen, wie Geist, Materie oder Kraft, sondern ausschließlich in Bewegung. Alles Wirkliche, alles Begrenzte und somit alles von uns Wahrnehmbare sind nur Erscheinungen (Phänomene) dieses ewigen Bewegungsstromes, dieser unendlichen Veränderung. Sie realisieren sich in der Welt durch die beiden Grundphänomene der Schwere und der Wärme. »Schwere und Wärme sind unzertrennlich miteinander verbundene, aber einander entgegengesetzte, daher sich selbst begrenzende Bewegungserscheinungen, also wirkliche Phänomene, aber 76
Vgl. dazu z. B. Jüdisches Denken Bd. 3, S. 355. 357–359.
77
Vgl. zu ihm, W. Röd, Weg der Philosophie, S. 328–332.
78
Dynamische Stofflehre, S. 17.
79
Zu einer unzerstörbaren Kraft redet z. B. Herbert Spencer (1820–1903), bei Röd, Weg der Phi-
80
Dynamische Stofflehre, S. 22.
losophie, S. 326.
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89
fundamentale Phänomene, die allen Bewegungserscheinungen des kosmischen, organischen und geistigen Lebens zu Grunde liegen.«81 Aber selbst die beiden Grundphänomene (fundamentalen Phänomene)82 der »Schwere« und der »Wärme« sind nicht als solche unabhängige Grundsubstanzen zu verstehen, sondern eben nur als Erscheinungen der ewigen Veränderung, der ewigen Bewegung: »Erklärt sind die Phänomene erst dann, wenn sie auf Bewegungsformen reduzirt sind, welche nach mechanischen Gesetzen wirken. So lassen sich die Erscheinungen der Schwere und Wärme auf Aktionen und Reaktionen zurückführen, die sich gegenseitig hervorrufen, […]. Das Phänomen der Schwere zeigt sich auf diese Weise, als das Uebergewicht, welches die zusammenziehende Bewegung über die ausdehnende hat, […]. Wärmequellen und Schwerpunkte sind, […] Aktions- und Reaktionscentren, die im Grossen wie im Kleinen existiren. – Centren, nach welchen hin Bewegung convergirt, und von welchen aus sie wieder, nach mechanischen Gesetzen, divergirt; es sind mit anderen Worten, Gravitations-, oder genauer Rotationscentren, denn nur durch die rotatorische Bewegung setzt sich die centripetale, convergirende, mit der centrifugalen divergirenden, ins Gleichgewicht.«83 Es versteht sich von selbst, dass diese Welt keinen Anfang hatte, keine Schöpfung aus dem Nichts war, und auch kein Ende haben wird. Es ist vielmehr dieser ewige Bewegungsprozess, der durch seine Kontraktionen und Expansionen die vorübergehend existierenden begrenzten Dinge oder Phänomene hervorbringt, die aber alsbald wieder verschwinden und in den Kreislauf von Vergehen und Entstehen zurückkehren.84»Nichts ist unsterblich im Sinne der Fortdauer, Alles ist unsterblich im Sinne der Reproduktion. Das Universum ist ewig, weil es in einem steten Verjüngungs- oder Reproduktionsprozesse begriffen ist, dem auch seine kleinsten Bestandteile unterworfen sind.«85 Auch die Materie ist demnach nichts ewig Seiendes, sondern gleichfalls etwas, das entsteht und vergeht, durch Zeit und Raum begrenzt ist.86 »Der Stoff, sagt Moleschot[t], ist die Summe seiner Eigenschaften, und diese sind Erscheinungen, Bewegungserscheinungen, Phänomene.«87 Diese Aussage betrifft auch
81
Dynamische Stofflehre, S. 13.
82
Dynamische Stofflehre, S. 12.
83
Dynamische Stofflehre, S. 22–23.
84
Dynamische Stofflehre, S. 18.
85
Dynamische Stofflehre, S. 10.
86
Dynamische Stofflehre, S. 15.
87
Dynamische Stofflehre, S. 14.
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90
die von den Materialisten angenommenen Atome, oder die von den Panspermisten ins Spiel gebrachten organischen Keime oder schließlich die von den Spiritualisten behaupteten unsterblichen Seelen.88 Alles ist nur Phänomen jener Urbewegungen. Sie alle gibt es nicht als dauernde Substanzen. Alles in der Welt Existierende wird durch die beiden Grundbewegungen hervorgebracht, die in stetem Ringen miteinander liegen. Je nach Überwiegen der zentripetalen oder der zentrifugalen Kräfte entstehen daraus die stofflichen Elemente in ihren drei Aggregatszuständen, des Festen, des Flüssigen und des Gasförmigen. Solange sich die beiden Kräfte die Waage halten, kann man nicht von Stoff oder Materie sprechen, allenfalls mag man diesen Zustand mit dem traditionellen Begriff des Äthers bezeichnen. Diesen Zustand der Ausgeglichenheit der beiden gegensätzlichen Bewegungskräfte nennt man den vierten Aggregatszustand. »Der vierte Aggregatszustand ist umgekehrt, seiner Natur, seinem Wesen nach, noch kein bestimmter Stoff; unsere Elemente sind in ihm noch nicht vorhanden; sie entstehen erst durch die Condensierung des Aethers, d.h. durch das Uebergewicht, welches die zusammenziehende über die ausdehnende Bewegung […] erlangt.«89 Der hier Äther genannte ausgewogene Bewegungszustand vertritt in diesem dynamischen Weltbild gleichsam die aristotelische steresis90 also jenen Zustand des noch Nicht-Seins, der aber alles Sein trägt und durch den jede substantielle Veränderung hindurchgehen muss. Das Geistige, dies wurde aus den bisherigen Darlegungen schon deutlich, gehört also keiner gesonderten Kategorie an, sondern ist nur eine bestimmte Entwicklungsstufe innerhalb der durch die Bewegungsmechanismen hervorgebrachten Phänomene. Dies betont Hess einmal nachdrücklich: »Der angebliche Abgrund zwischen den physikalischen oder unbewussten, und den geistigen oder bewussten Bewegungsformen und Beziehungen existirt nur für den, der ihn selbst gräbt. – Jeder Naturforscher wird zugeben, dass das Bewusstsein, oder wenn man will, das Gefühl der Lebensbeziehungen nicht erst im Menschen beginnt, dass es sich vielmehr stufenweise und continuirlich sowohl in der Reihe der Organismen, wie im menschlichen Embryo und Kindesalter entwickelt. – Wo fängt in den Organismen die Fähigkeit an, gegen Eindrücke von Aussen zu reagiren, sie mehr oder weniger zu empfinden, und die Reaktion mit mehr oder weniger Bewusstsein und Willen zu vollziehen? […] Von hier an sehen wir nirgend einen Sprung in der continuirlichen Entwicklung des Empfindens, Wollens und Denkens.«91
88
Dynamische Stofflehre, S. 11.
89
Dynamische Stofflehre, S. 24.
90
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 818; Bd. 3, S. 79.
91
Dynamische Stofflehre, S. 27.
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91
Also auch die kognitiven Fähigkeiten der Menschen und Tiere sind nichts anderes als chemisch-physiologische Vorgänge, welche letztlich auf die beiden physikalischen Grund-Bewegungen, Kontraktion und Expansion, zurückgehen, in deren Verlauf verschiedene Temperaturen entstehen, welche Anlass zu unterschiedlichen »Verbrennungsvorgängen« sind.92
5.2.1 Die Existenzbereiche und deren Lebensrhythmen Das bislang beschriebene durchgängige Modell des Entstehens und Vergehens zeichnet sich allerdings durch eine Binnengliederung in unterschiedliche Lebenssphären und Entwicklungsepochen aus. Auch wenn alles Existierende in dieser Welt aus den beiden Urbewegungen und den daraus hervorgebrachten Grundphänomenen, den oben schon genannten Phänomenen Schwere und Wärme, entsteht, so geschieht dies doch in drei zu unterscheidenden Lebenssphären, nämlich der kosmischen, der organischen und der selbstbewussten sozialen. Die erstere Lebenswelt ist die kosmische Sternenwelt mit ihren sterbenden und neu entstehenden Gestirnen, die zweite ist die Welt der Pflanzen und Tiere, inklusive der menschlichen »Racen«, und schließlich folgt der Bereich des sozialen menschlichen Lebens, der sich über das rein biologische Menschsein erhebt.93 Die drei Lebensbereiche stehen in einem hierarchischen Entwicklungsverhältnis zueinander. Der kosmische Bereich ist der niedrigste, der organische der höher entwickelte, auf den ganz oben in der Hierarchie der soziale Bereich folgt. Die Vollendung dieser drei Lebensbereiche ist allerdings zeitlich gestaffelt. So hatte der kosmische Bereich schon längst in den Sonnen seinen Höhepunkt erreicht, als sich das organische Leben auf den Planeten erst zu entwickeln begann. Das organische Leben seinerseits hatte seinen Entwicklungshöhepunkt mit dem Entstehen der »welthistorischen Menschenracen« erreicht, einem Zeitpunkt, zu dem das soziale Leben erst mit seiner Entwicklung begann, die zu Hessens Zeit noch längst nicht abgeschlossen ist.94 Allerdings sind diese Entwicklungen aller drei Lebensbereiche nicht unendlich, sondern sie werden einem neuerlichen Niedergang verfallen, denn, in allen drei Lebensbereichen gibt es die drei klar umgrenzten unausweichlichen internen, im vorigen Band schon erwähnten,95 hegelianischen Entwicklungs-Epochen, nämlich eine Entstehungsgeschichte, eine Entwicklungsgeschichte, und schließlich die Epoche der Reproduktion, die in allen dreien, dem Naturgesetz gehorchend, aufeinander folgen – bei Hess folgt die-
92
Dynamische Stofflehre, S. 28.
93
Vgl. z.B. Dynamische Stofflehre, S. 5.6.29 u.ö.
94
Dynamische Stofflehre, S. 19.
95
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 470. 557. 572.
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sen drei hegelianischen Entwicklungsstufen allerdings dann die Rückbildung, die den Kreis zu einem neuen Anfang schließt: »Die Entstehungsgeschichte fängt mit der ersten Lebensregung an und ist abgeschlossen mit der Geburt eines selbstständigen, aber noch nicht vollkommen ausgebildeten Körpers. – Von der Geburt an beginnt die zweite, die selbstständige Entwicklungsgeschichte, in welcher sich das zur Welt gekommene Leben ausbildet bis zur Zeit, in welcher es ein neues Leben produziren, oder richtiger sich selbst, mit allen Differenzirungen oder Qualitäten, die es bis dahin gewonnen hat, reproduziren kann. Nun beginnt die dritte Epoche, die der Reproduktion, welche überall den Höhepunkt des Lebens, sein Maximum bezeichnet, und welche von der ihr folgenden Rückbildung begrenzt ist, die selbst wiederum bis zur gänzlichen Erstarrung, bis zum Ende alles Lebens fortgeht. – Mit der Auflösung des Erstarrten, die, wie gesagt nur durch eine Einwirkung von Aussen erfolgen kann, kehrt das Ende wieder in den Anfang zurück.«96 Diese drei- beziehungsweise vierstufige, beziehungsweise vierstufige, zyklische Entwicklung spielt sich, wie gesagt, in allen drei Lebenssphären, der kosmischen, organischen und sozialen, ab, allerdings mit zeitlicher Versetzung. Der Kreislauf des organischen Lebens vollzieht sich in der Rückbildungsphase der kosmischen Welt, entsprechend entfaltet sich das soziale Leben vom Höhepunkt des organischen Lebens bis zu dessen einstigem Niedergang. Für das Verstehen von Hessens nationalem und Rassendenken ist vor allem das Geschehen im organischen und sozialen Bereich ausschlaggebend, das im folgenden Abschnitt zu behandeln sein wird.
5.2.2 Ziele des organischen und sozialen Lebens – Rasse und soziale Demokratie Das organische Leben auf diesem Planeten hatte, wie oben schon kurz vermerkt war, in der Herausbildung der »welthistorischen Menschenracen« seine Klimax erreicht. Erst mit dem Erreichen dieses organischen Entwicklungshöhepunktes setzte die Entstehung der sozialen Lebenssphäre ein. Denn für alle Organismen in der organischen Lebenssphäre gilt das schon genannte Prinzip, dass sie erst eine Entstehungsphase durchlaufen, dann »geboren werden«, um von da an ihre selbstständige Entwicklung zu verfolgen. Für den Bereich der Menschheit heißt
96
Dynamische Stofflehre, S. 29–30.
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dies, »erst mit der Geburt der »welthistorischen Menschenracen« fängt die selbstständige Entwicklung der organischen, und mit ihr die Entstehungsgeschichte der sozialen Sphäre an.«97 Mit anderen Worten, nachdem die organische Sphäre mit dem Entstehen der welthistorischen Menschenrassen ihren Abschluss oder Höhepunkt erreicht hat, ist die Welt der Pflanzen und Tiere, das ist das »unbewusste« Leben, vollendet und kann sich nun selbst entwickeln. Zugleich setzt mit diesem Abschluss, biblisch gesprochen zum Ende des sechsten Schöpfungstages, die Entstehungsphase der sozialen Welt ein. Die Entstehung der menschlichen Rassen gehört demnach zum organischtierischen Bereich, nach dessen Vollendung der soziale Lebensbereich erst zu entstehen beginnt. Als eigener Lebensbereich hat er andere Zielsetzungen als der organische Rassenbereich. Es gibt nach Hessens Vorstellung zwar vielerlei menschliche Rassen, aber nur zwei »welthistorische«, nämlich jene »aus deren kulturhistorischen Bestrebungen die moderne Gesellschaft, welche heute schon durch Wissenschaft und Industrie die Welt beherrscht, direkt hervorgegangen ist. Erst mit der Geburt der Arier und der Semiten ist die organische Lebenssphäre zu ihrer selbständigen Entwicklung gelangt.«98 Diese beiden Rassen sind ihrerseits wieder in unterschiedliche Volksstämme geteilt, wobei allerdings die Hellenen und die Hebräer die jeweils begabtesten ihrer respektiven Rasse sind.99 Beide genannte Volksstämme, wie auch die anderen nicht genannten, gehören noch zur Phase der Entstehung der sozialen Lebenssphäre, also zur embryonalen, vorgeburtlichen, paläontologischen Phase der sozialen Lebenssphäre. Ihre Geburt, und damit der Beginn der eigenständigen Entwicklung hin zu ihrem zu erstrebenden Höhepunkt, erfuhr die soziale Lebenssphäre erst durch die Französische Revolution.100 In der Beschreibung dieser beiden Rassen, Ariern und Semiten, samt ihren begabtesten Völkerstämmen, folgt Hess den in seiner Zeit verbreiteten Stereotypen, welche der hier im dritten Band101 skizzierten Völkerpsychologie entstammt: »Die Arier haben in ihren klassischen Vertretern das Leben zu erklären und zu verschönern, – die Semiten haben es in ihren ebenfalls klassischen Vertretern zu versittlichen und zu heiligen, d.h. zu heilen, zu bessern, zu vervoll-
97
Dynamische Stofflehre, S. 31.
98
Dynamische Stofflehre, S. 32–33.
99
Dynamische Stofflehre, S. 37.
100
Dynamische Stofflehre, S. 33.
101
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 486.
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kommnen gesucht. Die Einen hatten an der Welt ein objektives, theoretisches, – die Andern hatten an ih[r] ein subjektives, praktisches Interesse.«102 Beide Bestrebungen, dies betont Hess mit allem Nachdruck, haben für die Geschichte der Menschheit ein gleich hohes Interesse,103 wie auch die Feststellung eines Unterschieds zwischen den Rassen keine Wertunterscheidung beinhalte, dies umso mehr als diese beiden Rassen sich vielmehr tatsächlich ergänzten.104 Sie beide verhalten sich zueinander wie das das vegetative und das animalische Leben im organischen Bereich, die unbedingt zusammengehören.105 Darum muss das Ziel der sozialen Entwicklung eine Synthese der beiden welthistorischen Rassen und ihrer Eigenschaften sein, wie sie während der vorgeburtlichen sozialen Entwicklungsphase im alten Ägypten und in der christlichen Kultur schon einmal, wenn auch noch unvollkommen, versucht wurde.106 Seit der Geburt der sozialen Lebenssphäre in der Französischen Revolution muss das soziale Leben diese Synthese der Rassen anstreben, muss es das wissenschaftlich beschreibende und das sozial arbeitende Prinzip der beiden welthistorischen Rassen zusammenführen. Es ist die Zusammenführung von Wissenschaft und Arbeit des Menschen, welche zu dem der sozialen Welt gesetzten Ziel, das heißt zur »sozialen Demokratie«, führen wird. Die Verbindung der beiden Prinzipien unterliegt allerdings einer Entwicklung, die von den schon skizzierten Naturgesetzen der Entwicklung in den beiden anderen Lebenssphären abhängt. Und jedes einzelne Volk muss diesen »sozialdemokratischen« Weg für sich selbst beschreiten. Hier bricht sich der »sozialdemokratische« Denkansatz von Moses Hess seine Bahn, der dem gesamten genetischen Weltansatz übergestülpt wird. Da Hessens Schrift über die Dynamische Stofflehre aber auch ein Buch ist, das zugleich mit oder bald nach Rom und Jerusalem entstand, wird am Schluss der zusammenfassenden Einleitung der Stofflehre die »nationale« Komponente dieses Entwicklungsprozesses eigens nochmals unterstrichen: »Jedes Volk, das auf Selbständigkeit und Reife für die moderne Gesellschaft Anspruch macht, hat durch eine Revolution wie die französische hindurch zu gehn, ohne welche der sozialen Demokratie die feste Grundlage fehlt. – Dank
102
Dynamische Stofflehre, S. 38.
103
Dynamische Stofflehre, S. 39.
104
Dynamische Stofflehre, S. 36.
105
Dynamische Stofflehre, S. 44.
106
Dynamische Stofflehre, S. 39. 45.
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der französischen Revolution ist der grosse Befreiungsakt allen Völkern zwar erleichtert worden; er kann keinem einzigen erlassen werden.«107 Will sagen, auch nicht dem jüdischen Volk, dessen nationale Wiedergeburt für Hess eben in eine sozialdemokratische Verfassung münden soll. Dies sind die wesentlichen Grundlinien von Hessens genetischer Weltsicht, wie er sie in der Einleitung seiner posthum erschienenen Schrift Dynamische Stofflehre skizzierte. Erwähnenswert ist daraus noch, dass er in diese Einleitung, angelehnt an Spinozas Theologisch-politischen Traktat,108 einige bibelkritische Abschnitte einfügte, in denen er die biblischen Texte als Mythologie aus der embryonalen Entstehungsphase des semitischen hebräischen Volkes behandelt, in der schon die soziale ethische und messianische Ausrichtung der semitischen Eigenart im Gegensatz zur ästhetisch wissenschaftlich geprägten Mythologie der Hellenen sichtbar wird. In diesen Bemerkungen zur Entwicklung der hebräischsemitischen Eigenart zeigt sich Hess auch in der zeitgenössischen religionsgeschichtlichen Literatur seiner Zeit bewandert, welche die Entstehung des jüdischen Monotheismus erst als späte Entwicklung erkannte und in den Texten der hebräischen Bibel noch sehr deutlich den Glauben an die Existenz einer Vielzahl von Gottheiten wahrnahm. Dieser Glaube verstand die Ausrufung der Einzigkeit des jüdischen Gottes, etwa im Schma‘ Jisrael, allenfalls im Sinne einer Monolatrie, das heißt der Verpflichtung Israels zur Verehrung nur eines Gottes aus der bestehenden Vielzahl von Göttern.109 Im Folgenden wird noch zu zeigen sein, inwieweit sich die hier skizzierte genetische Weltanschauung von Hess in seiner für die hiesige Darstellung des Jüdischen Denkens wichtigeren Schrift Rom und Jerusalem widerspiegelt.
6.
Die Lehren von Volk, Rasse, Nation, Gott und Kosmos in Rom und Jerusalem
6.1
Die Menschheit und ihre genetischen Rassen
Die oben skizzierte genetische Weltanschauung von Hess ist es, die den Hintergrund für Hessens genetische Argumentation zugunsten eines nationalen Verständnisses des Judentums bildet. Dabei nimmt er zuweilen nur halachische Auffassungen aus der Tradition auf und fügt sie in sein neues genetisches Weltbild ein, das ihm mithin recht eigentlich nur als Argumentationshilfe für Auffassun107
Dynamische Stofflehre, S. 47.
108
Zu ihm s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 158–191.
109
Dynamische Stofflehre, S. 36–43; zur Entstehung des Monotheismus im biblischen Israel, s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 127. 152–153.
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gen dient, die er auch ohne »Rassenlehre« vertreten würde und könnte. So zum Beispiel in der folgenden Äußerung: »In der That, das Judenthum hat als Nationalität eine Naturbasis, die nicht wie ein Glaubensbekenntniss durch ein andres verdrängt werden kann. Ein Jude gehört seiner Abstammung nach stets dem Judenthum an, gleichviel, ob er oder seine Vorfahren Apostaten geworden sind. – Das mag nach modernen Religionsbegriffen paradox erscheinen. In der Praxis wenigstens habe ich diese Ansicht bewährt gefunden. Auch der getaufte Jude bleibt Jude, wie sehr er sich auch dagegen sträuben mag. Heute ist kaum noch ein Unterschied wahrzunehmen zwischen den aufgeklärten und den getauften.«110 Im neunten Brief von Rom und Jerusalem begründet Hess diese Auffassung, dass es aus genetischen Gründen keinen Austritt aus dem Judentum geben kann mit seiner oben dargestellten Auffassung, nämlich dass es in dieser Welt nicht einfach Menschen gebe, sondern unterschiedliche Völker, die ihren je eigenen Typus haben. Kein Zweifel, hier nimmt Hess die schon erwähnte verbreitete völkerpsychologische Argumentation seiner Zeit auf. Er verbindet sie allerdings mit seiner genetisch-naturalistischen Weltanschauung, wenn er sagt: »Wie die Natur keine allgemeinen Blumen und Früchte, keine allgemeinen Thiere und Pflanzen, sondern nur Pflanzen- und Thiertypen produzirt, so der Schöpfer in der Geschichte nur Volkstypen. In der Menschheit soll allerdings der Plan des Pflanzenund Thierreichs zum Abschluss gelangen.«111 Es ist also im Menschenreich nicht anders als im Tier- und Pflanzenreich, es gibt da nur unterschiedliche Typen, nicht eine allgemeine Menschheit. Diese Auffassung kann Hess sogar einmal dahingehend pointieren, dass der »jüdische Stamm« seinen Typus durch die Jahrtausende immer wieder in seiner Integrität reproduzierte. So schreibt er im vierten Brief an seine Freundin: »Für die Unverwüstlichkeit der jüdischen Race in Mischehen mit indogermanischen Stämmen kann ich Ihnen aus eigener Anschauung ein Beispiel citiren.« Das angeführte Beispiel handelt sodann von einem russisch adligen Freund von Hess, der eine polnische Jüdin geheiratet habe »und mit ihr viele Söhne bekommen, welche sämmtlich einen auffallend jüdischen Typus haben.«112 »Die jüdische Race ist eine ursprüngliche, die sich trotz klimatischer Einflüsse in ihrer Integrität reproducirt. Der jüdische Typus ist sich im Laufe der Jahrhunderte stets gleich geblieben.«113 Diese klaren rassentheoretischen Ansagen von Hess muss man allerdings im Sinne des dort Ausgeführten ergänzen. Sie gelten zunächst nur für den »organischen« Bereich, also für die 110
Rom und Jerusalem, 7. Brief, S. 40.
111
Rom und Jerusalem, 9. Brief, S. 58.
112
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 12–13.
113
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 12.
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Menschen insofern sie auch »tierisch«, biologisch sind, nicht aber für die soziale Lebenssphäre, wie sogleich deutlich werden wird. Mit dieser Auftrennung in unterschiedliche Volkstypen ist nämlich nach dem Vorgang der oben dargestellten »genetischen Weltanschauung« das letzte Wort über das Verhältnis dieser unterschiedlichen Volkstypen zueinander noch nicht gesprochen, denn wie man aus dem oben Ausgeführten weiß, beginnt die Entwicklung des eigentlich menschlichen Bereichs, der sozialen Lebenssphäre erst nach der Ausbildung des organischen Bereichs. Für die unterschiedlichen Volkstypen gilt daher trotz der ererbten Unterschiede nicht das Gesetz der biologischen Trennung, sondern das Gesetz der sozialen Kooperation. Allerdings kann man dabei das Gesetz der Natur nicht überspringen. Ganz im Sinne der beschriebenen genetischen Trennung in drei Lebenssphären fährt Hess auch an dieser Stelle fort: »Aber die Menschheit ist als selbständige Lebenssphäre, als die Sphäre des socialen Lebens, noch in der Entwicklung begriffen. Wir finden hier eine ursprüngliche Verschiedenheit von Volkstypen, die zuerst, wie im Pflanzenreich, nur nebeneinander existirten, die sich sodann, nach dem Plane der Thierwelt, gegenseitig bekämpften und absorbirten, um schliesslich wieder frei zu werden, friedlich neben einander und solidarisch für einander zu leben, ohne deshalb ihre typischen Unterschiede aufzugeben.«114 Es wäre demnach ein Fehler, wollte man um des Zieles des friedlichen Nebeneinanders der Menschen willen die genetischen Unterschiede in Abrede stellen. Vielmehr sind sie im Rahmen der naturgesetzlichen Entwicklung der Welt eine unabdingbare und nicht bestreitbare Zwischenstufe, die erst in der Entwicklung der sozialen Lebenssphäre durch eine neuerliche soziale Gemeinsamkeit überwölbt werden sollen: »Man verwechselt die solidarische Organisation des socialen Lebens, welche erst durch eine lange und mühevolle Arbeit im Laufe der geschichtlichen Entwicklung errungen wird, mit einer von vorn herein gegebenen anorganischen Gleichheit, wenn man die Gleichberechtigung aller Menschen auf eine ursprüngliche Gleichartigkeit der Racen und Typen stützen will, die um so weniger vorhanden ist, je weiter man in der Geschichte zurück geht. Die Versöhnung der Racen geht nach Naturgesetzen vor sich, die wir nicht willkürlich machen oder abändern können.«115
114
Rom und Jerusalem, 9. Brief, S. 58.
115
Rom und Jerusalem, 9. Brief, S. 58.
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Diese Weltanschauung und Argumentation von Hess sollte man nicht »rassisch« oder gar »rassistisch« nennen, weil sie das politische Handeln in der Geschichte, die Zielsetzungen des sozialen Tuns nicht nach Rassegesichtspunkten definiert. Vielmehr geht es in der Geschichte und im sozialen Handeln nach Hess darum, die biologischen Unterschiede der organischen Lebenssphäre durch die Entwicklung in der »socialen Lebenssphäre«, sprich im staats- und sozialpolitischen Handeln zu überwinden und dadurch erst die Vollendung letztlich auch der differenzierten selbstbewussten Sphäre zu erringen. Menschliche Politik muss das Ringen um Gemeinsamkeit aller Menschen sein, nicht aber die Missachtung und Verleugnung genetischer Unterschiede. Diese nichtrassistische Lehre von den Rassen unterstreicht Hess ein weiteres Mal durch seine Vorstellung, dass die gesamte Menschheit ein einziger lebendiger Organismus sei. Diese Vorstellung dient ihm auch dazu, das bei den anderen jüdischen Hegelianern116 angesprochene Problem zu lösen, dass es nach der Herder-Lessing-Hegelschen Vorstellung in der Geschichte der Völker für alle Völker irgendwann eine Blütephase gegeben habe, in der sie ihren Beitrag zum Menschheitsgeist beitrugen, dann aber untergingen, eine Vorstellung, der sich allerdings die jüdischen Denker nicht beugen wollten, die doch an die Weiterexistenz des jüdischen Volkes und seiner Mission in dieser Welt glaubten. In diesem Sinne sagt Hess mit der »Organismus«-Vorstellung: »Die Menschheit ist, wie das universale, kosmische Leben, welches erst in ihr zum Abschluss gelangt, und wie das individuelle, mikrokosmische Leben, in welchem alle Blüthen und Früchte des Geistes erst zum Dasein kommen, ein lebendiger Organismus, von dem die ursprünglichen Racen und Volksstämme die Organe und Glieder sind. – In einem Organismus können gewisse Theile, die während der embryonischen Entwicklung hervorragten, in dem Maasse wieder zurück treten und schwinden, als der Organismus seiner Vollendung entgegen schreitet. Andere Organe, die früher ein unscheinbares, kümmerliches Dasein hatten, erlangen erst Einfluss und Bedeutung, nachdem der Organismus zur Reife gediehen ist. Zu diesen letztern, eigentlich schöpferischen Organen der Menschheit scheint auch das jüdische Volk zu gehören.«117 Mit dieser Formel vom Organismus erklärt Hess nicht nur das neuerliche notwendige Hervortreten des jüdischen Volkes, sondern bereits dessen Wiedererstehen nach der ägyptischen und der babylonischen Gefangenschaft, seine Kraft, 116
Zu ihnen s. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 444–476 (Nachman Krochmal). 496–537 (S. R.
117
Rom und Jerusalem, 9. Brief, S. 59.
Hirsch). 538–577 (S. Formstecher). 578–616 (A. Geiger).
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den Griechen und Römern zu widerstehen, so dass es schließlich »in den letzten Kämpfen der antiken Welt, die es allein als Nation überlebte, die Menschheit mit seinem Geiste [befruchtete], um gleichzeitig mit deren geistigen Wiedergeburt sich selbst zu verjüngen.«118
6.2
Die Rhythmen der kosmischen und weltgeschichtlichen Entwicklung
Mit der Französischen Revolution, das wurde oben schon gezeigt, hat nach Hess die letzte Phase der sozialen Lebenssphäre begonnen. In dieser Revolution geschah die Geburt der sozialen Lebenssphäre, während die Jahrtausende davor als deren embryonale Phase zu betrachten sind. Nach der Geburt beginnt die selbständige Entwicklung, deren Ziel die Einheit der Menschheit sein wird. In Rom und Jerusalem verschiebt Hess die Geburtsstunde der sozialen Lebenssphäre etwas nach vorne, ins Mittelalter, das er hier die »Geburtsepoche« der modernen Gesellschaft nennt. Nach dieser Geburtsepoche beginnt für Hess nunmehr – mit der Französischen Revolution – das Zeitalter der Reife der sozialen Epoche, sie nennt Hess auch die »Messiaszeit«.119 »Die Messiaszeit ist das gegenwärtige Weltalter, welches mit Spinoza zu keimen begonnen hat, und mit der grossen französischen Revolution in’s weltgeschichtliche Dasein getreten ist. Mit der französischen Revolution begann die Wiedergeburt der Völker […].«120 Die Entwicklung der sozialen Lebenssphäre vollzieht sich analog zur kosmischen und organischen gemäß dem allgemeinen Naturgesetz in drei Phasen: »Die sociale Lebenssphäre entwickelt sich, wie die kosmische und organische, in drei Epochen, welche in den drei Lebenssphären ganz analog sind. Die erste Offenbarungsgeschichte,121 jene des alten Judenthums und Heidenthums, ist die paläontologische Epoche des socialen Lebens. […]
118
Rom und Jerusalem, 9. Brief, S. 60.
119
Hess stand mit solchen Vorstellungen auch dem Saint Simonismus nahe, vgl. dazu Ph. Lenhard, Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782–1848; K. Schreiner, Jüdische Messiasvorstellungen im Zeitalter der Aufklärung und Emanzipation, in: K. Hildebrand (Hg.), Zwischen Politik und Religion: Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München 2003, S. 1–44 (hier bes. S. 14).
120
Rom und Jerusalem, 10. Brief, S. 70.
121
Mit Offenbarung meint Hess wohl die Erkenntnis des »Naturgesetzes«, das sich in Natur und Geschichte gleichermaßen manifestiert; vgl. Rom und Jerusalem, 10. Brief, S. 69; dies sind »Offenbarungen des heiligen Geistes; ebda. S. 70.
100
Moses Hess
Die zweite Offenbarungsgeschichte, jene des mittelalterlichen Judenthums, Christenthums und Islamismus, ist die Geburtsepoche der modernen Gesellschaft […] Die dritte Offenbarungsgeschichte, das gegenwärtige Weltalter der socialen Lebenssphäre, entspricht der Epoche der vollendeten Organismen in der organischen Lebenssphäre […] Dieses Zeitalter der Reife, welches […] in der organischen Lebenssphäre, von den vorgeschichtlichen bis zu den geschichtlichen Menschenracen reicht, und hier zur Vollendung kommt: es entwickelt heute im socialen Leben seinen letzten Racen- und Klassenkampf, um zur Versöhnung aller Gegensätze, zum Gleichgewicht zwischen Produktion und Consumtion, und zu einem vollendeten Kreislauf des Lebens zu gelangen, der überall das Mannesalter charakterisirt.«122 Die Vollendung der gegenwärtigen messianischen Zeit wird mit dem erwarteten »Geschichtssabbath« eintreten, der, analog zum organischen »Natursabbath«, von welchem die biblisch-jüdische Mythologie in der Schöpfungsgeschichte erzählt, die Vollendung der sozialen Lebenssphäre bezeichnet: »Wie erst nach Vollendung der organischen Lebenssphäre, nach der Schöpfung des Menschen, der Natursabbath begann, so kann der Geschichtssabbbath erst beginnen nach der Vollendung des socialen Lebens, nach der Schöpfung einer harmonischen socialen Organisation, in welcher Produktion und Consumtion sich das Gleichgewicht halten. – Wir stehen am Vorabend dieses Geschichtssabbaths.«123 In dem beschriebenen Rhythmus der naturhaften Entwicklung des sozialen menschlichen Bereichs, die zur Einheit der Menschheit führen soll, das muss an dieser Stelle noch betont werden, ist die Trennung der Völker in unterschiedliche Nationen nicht ein Rückschritt. Vielmehr gehört nach Auffassung von Hess das Wiederhervortreten der Nationen zum notwendigen Prozess hin zum GeschichtsSabbat, das heißt der Vollendung der sozialen Sphäre. Die Wiederkehr der jüdischen Nation auf die Bühne der Weltgeschichte ist für Hess nicht eine Frage der Judentums-spezifischen Problematik der Verfolgung und Entrechtung der Juden. Letztere erscheinen hier nur als die zu erwarten gewesenen Durchgangsphasen einer globalen Menschheitsentwicklung. Das Wiederhervortreten des Volkes Israel ist der nächste und unabdingbare Schritt in der Entwicklung der Gesamtmenschheit, hin zum friedlichen Miteinander der genetisch unterschiedlichen 122
Rom und Jerusalem, 10. Brief, S. 70–71.
123
Rom und Jerusalem, Epilog 4. Der letzte Antagonismus, S. 148–149.
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Rassen und Völker. Die Erlösung Israels ist hier Teil und Voraussetzung für die Erlösung des gesamten Organismus namens Menschheit. Diese Menschheitserlösung wird der Abschluss der »heiligen Geschichte« der Menschheit sein – bevor dann ein neuer Weltzyklus einsetzt, über den Hess aber nicht weiter spekuliert. Der von Hess geforderte jüdische Nationalismus ist demnach nicht ein aus der Judennot geborener Selbstbefreiungswille der Juden, sondern ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Vervollkommnung der gesamten Menschheit. Er betont darum: »Ich glaube, dass das nationale Wesen des Judenthums die Humanität und Civilisation nicht nur nicht ausschliesst, sondern zur nothwendigen Consequenz hat.«124
6.3
Religion und Nation
Ganz im Gegensatz zu unseren modernen Erwartungen erstrebt Hess keine Trennung von Religion und Politik. Eine solche Trennung zu betreiben wirft er geradezu den jüdischen Reformern seiner Zeit vor,125 was er aber für eine Sünde wider den Geist des Judentums betrachtet. Das Judentum ist, wie oben deutlich wurde, für Hess zunächst Nation und darum ist ihr die Religion zugeordnet. »Das Judenthum ist keine passive Religion sondern aktive Erkenntniss, welche mit der jüdischen Nationalität organisch verwachsen ist.«126 Die jüdische Religion ist für Hess ein »nationaler Geschichtscultus«, nicht ein Gebäude von Dogmen, welches der individuellen Frömmigkeit dient. Diese Definition der Religion als nationaler Geschichtskultus ist für Hess der hermeneutische Schlüssel für seine Deutung der traditionellen Aussagen aus der und über die Religion. Die hier im ersten Band schon genannte Tatsache, dass die Hebräische Bibel keinen Glauben an eine Unsterblichkeit oder auch Auferstehung kennt,127 nimmt Hess einmal zum Anlass, seiner fiktiven Briefpartnerin gegenüber das herauszustellen, was er unter einem solchen nationalen Geschichtskultus versteht: »Ich leugne die Tatsache nicht, dass im alten Testamente von einer solchen Unsterblichkeit keine Rede ist. Wenn Sie aber dieses Stillschweigen über einen so wichtig scheinenden Punkt unsern heiligen Schriften zum Vorwurfe machen, so vergessen Sie wieder den Gesichtspunkt, von welchem aus der jüdische Genius diese Schriften produzirt hat, den Gesichtspunkt der heiligen Geschichte, den genetischen Gesichtspunkt, der niemals das Individuum von
124 Rom und Jerusalem, 9. Brief, S. 56. 125
Rom und Jerusalem, Vorwort, S. XVIII.
126
Rom und Jerusalem, 2. Brief, S. 5.
127
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 108–109. 131. 159. 198–208.
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102
seinem Stamme, die Nation von der Menschheit und die Schöpfung vom Schöpfer trennt.«128 Der entscheidende Punkt ist demnach der, dass die Juden die heiligen Schriften zu einer Zeit hervorgebracht haben, als die »jüdische Nation« noch nicht untergegangen war. Das heißt, als die jüdische Nation noch in ihrem Land als souveränes Volk lebte, brauchte sie keinen Gedanken an eine Wiederauferstehung oder Unsterblichkeit dieses Volkes, dieser Nation, zu formulieren. Denn wo die jüdische Tradition aus späterer Zeit von Unsterblichkeit spricht, bedeutet dies nach Hessens »geschichtscultischem« Deutungsschlüssel eben nur, dass die Nation unsterblich sei – ein Gedanke, der zur biblischen Zeit noch nicht denknötig war. Ganz anders war das aber in der talmudischen Zeit, als die Nation »untergegangen« war. Jetzt musste man den Gedanken der Unsterblichkeit formulieren, der laut Hess aber natürlich Folgendes bedeutete: »Der jüdische Unsterblichkeitsglaube ist von seinem national-humanitären Messiasglauben unzertrennlich. Erst mit dem Messias und seinem Reiche, sagt R. Jochanan, ist das Ziel der Schöpfung erreicht. – Alle Propheten, fügt er hinzu, haben in ihren Verkündigungen das Messiasreich vor Augen […] – Auch im späteren rabbinischen Judenthum konnte die Idee des zukünftigen Lebens, obgleich von den Rabbinen stets urgirt, niemals zu einem ausgeprägten Unterschiede von der Idee des Messiasreiches gelangen. Nachmanides hat sogar die Identität dieser beiden Zukunftshoffnungen gegen Maimuni129 entschieden aufrecht zu erhalten gesucht.«130 Das bedeutet laut Hess: Richtig verstanden meinen die Rabbinen, wo sie von Auferstehung und künftigem Leben reden, stets nur die Wiederauferstehung des Volkes Israel und sein Leben in der messianischen Zeit. Dass Hess damit die wirkliche rabbinische Auffassung von der Auferstehung missdeutet ist offenbar, denn für die Rabbinen waren die individuelle Erlösung in der Auferstehung und die kollektive messianische Erlösung als nationales Ereignis klar geschieden.131 Die gesamte jüdische Religion, der gesamte »jüdische Geschichtscultus«, dient nach Auffassung von Hess richtig besehen einzig und alleine der Begründung des jüdischen Patriotismus.132 Religion ist für Hess nicht, wie man dies bei
128
Rom und Jerusalem, 3. Brief, S. 6.
129
Zu ihm s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 471–479.
130
Rom und Jerusalem, 3. Brief, S. 6–7.
131 Vgl. dazu Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 288–298. 263–272. 198. 208. 132
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 15.
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103
den jüdischen Reformern des 19. Jahrhunderts hörte,133 dazu da, die persönliche individuelle Glückseligkeit zu befördern, sondern steht ausschließlich im nationalen Interesse »die jüdische Religion ist vor allen Dingen jüdischer Patriotismus.«134 Dies ist keine jüdische Spezialität, denn nach Auffassung von Hess brauchen alle Nationen einen solchen Nationalkultus, der das Band zwischen den Menschen einer solchen Nation festigt.135 Es ist gerade darum das traditionelle Judentum, vor allem im Orient und im Osten Europas, welches in den Augen von Hess in seiner Religion das Nationalbewusstsein bewahrt und weitergetragen hat, dessen Anhänger »Tag und Nacht die inbrünstigsten Gebete für die Wiederherstellung des jüdischen Reiches zum Gotte der Väter emporsteigen lassen. Sie haben den lebendigen Kern des Judenthums, ich meine die jüdische Nationalität, treuer bewahrt, als unsere occidentalen Brüder, die Alles im Glauben unsrer Väter neu beleben möchten, nur nicht die Hoffnung, die diesen Glauben geschaffen, und durch die Stürme der Zeiten hindurch lebendig erhalten hat, die Hoffnung auf die Wiederherstellung unserer Nationalität.«136 Hess würde darum ganz anders als die Reformer seiner Tage keinen synagogalen Brauch abschaffen, nicht das Hebräische aus den Gebeten verdammen, keinen Feiertag reduzieren, denn in ihnen allen sieht er deren das Nationalbewusstsein erhaltende Kraft.137 Nicht Dogmatik oder Glaubensaussagen, wie dies die modernen »Ketzerriecher« wollen, sondern das Brauchtum und die Gesetze des jüdischen Volkes waren es, welche die Einheit des jüdischen Volkes erhielten.138 Es ist diese geschichtliche soziologische Einsicht, welche den vom traditionellen jüdischen Lebensstil selbst vollkommen entfremdeten Hess seinen reformerischen Zeitgenossen zurufen lässt: »Ihr, die Ihr die Lehren und Vorschriften unsrer Weisen für Thorheit erklärt, sagt an, was wäre aus dem Judenthum geworden, wenn sie sich nicht bis zum Tage der nationalen Auferstehung wie eine Raupe in ihre talmudische Gelehrsamkeit eingesponnen hätten, um erst nach vollendeter geistiger Wiedergeburt als freier Schmetterling neben den übrigen frei gewordenen Nationen ihren Aufschwung zur Sonne zu nehmen?«139
133
S. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 151. 386. 389. 405. 410. 438. 499.
134
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 15..
135
Rom und Jerusalem, 7. Brief, S. 39.
136
Rom und Jerusalem, 5. Brief, S. 24.
137
Rom und Jerusalem, 7. Brief, S. 41–42.
138
Rom und Jerusalem, 7. Brief, S. 40–41.
139
Rom und Jerusalem, 8. Brief, S. 51.
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104
Die hier deutlich formulierte Kritik am Reformjudentum, welches das Herz des Judentums nach Hessens Meinung, die Nationalität des Judentums, aufgaben, macht indessen auch nicht vor der alten und neuen Orthodoxie seiner Tage Halt. Auch dieses Judentum, das durch die Jahrhunderte als nationale Klammer gedient hatte, ist in einen Erstarrungszustand geraten, welcher die eigentliche Religion des Judentums, die nationale, hemmt. Dieses »erstarrte« orthodoxe Judentum ist jenes, welches »jede Verfolgung und jede Demüthigung als eine Strafe Gottes im Vertrauen auf die einstige Wiederherstellung seiner Nation ertrug […]«.140 Es ist diese traditionelle Auffassung vom Sinn des jüdischen Leidens und Exils als Strafe für die Sünden Israels,141 welches den eigentlichen Sinn und Ursprung der Religion verkennt. Für Hess, wie für die anderen jüdischen Hegelianer, ist die Religion nicht eigentlich eine Reaktion auf eine Ansprache aus der Transzendenz, sondern die Religion ist nach dieser Auffassung ein Produkt des jeweiligen nationalen Genies. Die jüdische Religion ist also eine Schöpfung des jüdischen Geistes, so wie alle Religionen, alle sozialen Einrichtungen, Moral und Lebensanschauungen »typische und ursprüngliche Raceschöpfungen« sind.142 Und die Stagnation des orthodoxen Judentums ist eben ein Zeichen, dass dieses jüdische Genie mit seiner Religion, seiner Gesetz und Lebensformen erzeugenden Kraft zum Erliegen gekommen ist. Darum, so glaubt Hess, werden die althergekommenen Traditionen allenfalls bis zur Vollendung der nationalen Wiedergeburt unverändert bestehen, wenn der Schmetterling dieses Genies wieder der Sonne zufliegen wird.143 Dann aber, wenn die nationale Wiedergeburt erfolgt ist, wird der nationale Genius des Judentums wieder von jenem Geist beflügelt sein, der schon nach dem ägyptischen und nach dem babylonischen Exil die kreativen jüdischen Schöpfungen im Bereich des Gesetzes hervorbrachte.144 Es ist eben jene Beschäftigung mit der nationalen Legislation, welche das Judentum immer, gerade auch während der Exile, am Leben erhielt: »Dieser Beschäftigung verdankte das Judenthum seine nationale Wiedergeburt nach dem babylonischen Exil und seinen gleichzeitigen Fortbestand in der Zerstreuung; ihr verdankte es später seine heroischen Kämpfer gegen
140
Rom und Jerusalem, 5. Brief, S. 21.
141
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 90. 143. 173. 180; J. H. Schoeps, Die Tempelzerstörung des Jahres 70 in der jüdischen Religionsgeschichte, Uppsala 1942; und ausführlich dazu oben, Jüdisches Denken, Bd. 4, Einführung 3.2.1.
142
Rom und Jerusalem, Epilog, 5., Die letzte Racenherrschaft, S. 156; Epilog 1., S. 109; Note
143
Rom und Jerusalem, 7. Brief, S. 41.
144
Rom und Jerusalem, 7. Brief, S. 44.
VII, S. 190; u. s. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 458–462. 423. 480–484. 486. 593–604.
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griechische und römische Nationalfeinde; ihr verdankte es endlich nach dem Untergange des zweiten Reichs seinen Fortbestand in einem fast zweitausendjährigen Exil. Ihr wird es auch seine zukünftige nationale Wiedergeburt verdanken.«145 Es ist frappierend zu sehen, wie nahe Hess mit seinen Gedankengängen vom fortlebenden jüdischen Genie, das sich in der legislativen Arbeit an der »Mündlichen Tora« erwies, seinem Erzrivalen Abraham Geiger steht,146 aber gemäß seinem eigenen anderen, sprich nationalen Deutungsschlüssel, zu völlig anderen Schlussfolgerungen kommt: Hier bei Hess die Konzentration auf die Nation und deren soziale Gestaltung, dort bei Geiger auf eine individuelle Sittlichkeit und die Aufgabe jeglicher separater jüdischer Nationalität. Aus alledem folgt natürlich die Konsequenz, dass die ererbten Religionsformen zur Zeit der nationalen Wiedergeburt gewiss neuen Gestaltungen weichen müssen, wenn Hess auch eine Wiederaufnahme des Jerusalemer Opferkultus akzeptieren könnte, falls er überzeugt wäre, dass dieser für die jüdische Nationalität unabdingbar ist – wovon er allerdings nicht überzeugt ist:147 »Aber trotz meiner individuellen Ueberzeugung mag ich mich nicht vermessen, der Geschichte vorgreifen zu wollen. Es gibt Fragen, die a priori, d.h. vor der Praxis, unlöslich sind, sich aber im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung von selbst lösen. Zu diesen Fragen gehört die des Cultus überhaupt, und ganz besonders die Herausbildung bestimmter Formen und Normen des Gottesdienstes aus dem sittlich-religiösen Geiste desjenigen Volkes, welches in jeder Epoche seiner Entwicklung der eigene Schöpfer seiner Religion war.«148 Dennoch wagt Hess am Ende der »Note VIII« eine erste Prognose in dieser Sache, wenn er sagt, dass eine einfache Rückkehr zum altjüdischen Opferkultus ein überaus großer Rückschritt wäre. Ja er geht sogar noch weiter, wenn er, ohne eine diesbezügliche Bemerkung von Maimonides zu erwähnen,149 meint »Aber auch ein Stehenbleiben des Cultus bei dem Gebete ist nach der Auferstehung der jüdischen Nation nicht denkbar, […] – Die neue Gestaltung des Cultus wird nothwendig mit jener der Nation Hand in Hand gehen.«150 Dies ist nur die kon-
145
Rom und Jerusalem, 7. Brief, S. 44–45.
146
S. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 593–601.
147
Rom und Jerusalem, 11. Brief, S. 74.
148
Rom und Jerusalem, 11. Brief, S. 74.
149
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 480–481.
150
Rom und Jerusalem, Note VIII (Ende), S. 1 94.
106
Moses Hess
sequente Folgerung aus einer Auffassung, welche die Religion gänzlich als eine Funktion des Nationalen ansieht.
6.4
Gott in Kosmos und Geschichte
Für seine geschichtsbezogene Definition der jüdischen Religion kann sich Hess natürlich auf den alten Topos berufen, nach welchem die jüdische Theologie schon immer Gott nicht in der philosophischen und kosmischen Spekulation gefunden habe, sondern in der Geschichte, in Gottes Handeln an Israel und den andern Völkern. Zentral für diese geschichtsbewusste Ausrichtung des Judentums ist dabei traditionellerweise das jüdische Bekenntnis zum Gott Israels, der sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens führte, wie dies das erste Gebot des Dekalogs eindrücklich formuliert. Moses Hess, dies wurde schon bei der Darstellung seiner »dynamischen Weltanschauung« deutlich, hat diesen Topos aufgenommen und dahingehend erweitert, dass die jüdische Religion, ›die Mutter aller genetischen Weltanschauung‹, Gott nicht nur im Handeln der Geschichte, sprich in der »sozialen Lebenssphäre«, sondern auch in den beiden andern, der kosmischen und organischen, zu erkennen sucht. »Die Tendenz, Gott in der Geschichte zu erkennen, und zwar nicht nur in der Geschichte der Menschheit, sondern auch in der Geschichte des kosmischen und organischen Lebens, ist eine wesentlich jüdische Geistesrichtung.«151 Denn, so betont Hess mehrfach, es besteht ein einziges Welt- oder Naturgesetz in allen drei Lebensbereichen dieser Welt, nur dass man dies wissenschaftlich noch nicht ganz zu erkennen vermag, wohingegen der religiöse Genius der Juden dieses schon längst in seinen »göttlichen Erfahrungen« erkannt hat und seither der Welt vermittelte: »Das Weltgesetz ist das Gesetz der Entstehung und Entwicklung, oder um den landläufigen Ausdruck zu gebrauchen, das Gesetz des ›Fortschritts‹. – Vollständig, und in allen drei Lebenssphären, ist dieses Gesetz noch nicht erkannt. Zur vollständigen Erkenntniss desselben fehlt noch ein Theil des Objekts: der Schluss der socialen Entwicklung. Das Gesetz der Geschichte kann darum heute noch nicht wissenschaftlich erkannt werden: die Wege der Vorsehung sind noch dunkel für uns. – Wohl aber sind sie, Dank dem religiösen Genie der Juden und ihren göttlichen Offenbarungen, vom Beginne ihrer Geschichte an, zunächst in prophetischer, sodann in mystischer Weise, endlich auf dem Wege der philosophischen Spekulation dem menschlichen Geiste
151
Rom und Jerusalem, Note VI, S. 179.
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107
immer näher gebracht worden. – Es bleibt noch übrig, das Gesetz der Geschichte auf dem Wege der Erfahrungswissenschaften zu erforschen.«152 Mit den hier genannten drei sukzessiven Erkenntnismethoden des Weltgesetzes scheint Hess die religionsgeschichtliche Folge von biblischer Prophetie, mittelalterlicher Kabbala und schließlich jüdischer Philosophie andeuten zu wollen, die sich je mit ihren Mitteln dieser urjüdischen Erkenntnis versicherten: Gott ist im Geschehen der Welt zu finden. Es ist diese Botschaft von der Einheit allen Seins und dem Wirken eines göttlichen Gesetzes in dieser Welt, welche das jüdische Genie durch alle seine Phasen der geistig-religiösen Entwicklung getragen hat. Und dieses Wissen der Welt zu vermitteln, macht den Beruf und die Mission des jüdischen Volkes im Rahmen des Völkergemisches aus. Diese Botschaft wird, so meint Hess, zum Beispiel dargestellt im Sabbat-Gesetz, denn es »gibt uns schon das Sabbathgesetz die Gewissheit von dem in der Natur und Geschichte waltenden, einmüthigen und ewigen Gottesgesetze.«153 Was Hess unter dieser vom Judentum verkündeten Einheit verstanden hat, ist natürlich nicht die des biblischen,154 rabbinischen,155 kabbalistischen156 oder mittelalterlich philosophisch157 verstandenen synagogalen »Einheitsbekenntnisses« des »Schma‘ Jisrael«. Erklärtermaßen steht Hess hierbei Spinozas Einheitsgedanken des deus sive natura näher.158 Hess ist aber mehr als Spinoza soziologisch interessiert und zwar im mikro- wie makrosoziologischen Bereich. Darum formuliert er sein jüdisches Einheitsbekenntnis einmal so: »Das Judenthum trennt nirgend das Individuum von der Familie, die Familie von der Nation, die Nation von der Menschheit, die Menschheit von der organischen und kosmischen Schöpfung, und diese vom Schöpfer. Das Judenthum hat kein anderes Dogma, als seine Einheitslehre. Aber dieses Dogma ist bei ihm kein starres, kein äußerlich gegebenes und daher unfruchtbares, kein todter Glaube, sondern eine stets von Neuem aus seinem Geiste sich reproduzirende, lebendige, schöpferische Erkenntniss, welche in der Familienliebe
152
Rom und Jerusalem, 10. Brief, S. 68.
153
Rom und Jerusalem, 10. Brief, S. 67; u. vgl 1. Brief, S. 5.
154
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 117–122.
155
Für das rabbinische Judentum gilt die jesajanische Formel von Gott als Erschaffer von Licht und Finsternis, die im täglichen Synagogengebet rezitiert wird, u. vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, 187.
156
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 37. 59. 72. 202 u. ö.
157
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 379. 410–414 u. ö.; Bd. 2, S. 71.
158
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 206–210.
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wurzelt, im Patriotismus ihre Blüthen, und in der regenerirten menschlichen Gesellschaft ihre reifen Früchte trägt.«159 In diese Interpretation des »Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist ein Gott« fließen soziologische Elemente aus Familie, Nation und Menschheitsmythen ebenso ein wie dei Elemente der »Dynamischen Stofflehre« und des spinozanischen Einheitsgedankens. In dem allumfassenden Geschehen gemäß dem Weltgesetz, dies betont Hess auch in seinen Briefen, ist alles im Fluss, oder richtiger, auf einer der natürlich aufeinander folgenden Entwicklungsstufen alles Weltlichen. Nichts ist bleibend, alles wird geboren und vergeht in diesem ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens. Es ist kaum verwunderlich dass Hess in diesem Zusammenhang, in seiner national-jüdischen Schrift, anders als etwa in der Dynamischen Stofflehre aber durchaus im Duktus seiner Heiligen Geschichte der Menschheit, bewusst traditionell religiöse Terminologie aufnimmt, auch Andeutungen darauf macht, was man denn in einem solchen Weltbild unter »Gott« verstehen könnte. Dies tut er ganz pointiert an der Stelle, wo er von der Vergänglichkeit von allem Seienden gesprochen hatte. Am Ende dieser Ausführungen sagt er in durchaus religiös-philosophischer Diktion: »Wir kennen nur ein einziges, ewiges zeit- und raumloses absolutes Wesen; wir erkennen es durch das einzige, absolute Gesetz im Natur- und Geschichtsleben, von welchem das Judenthum allein göttliche Offenbarungen hat. Aus der widerspruchslosen Erkenntnis dieses Gesetzes folgt mit Nothwendigkeit das widerspruchslose Leben nach demselben. Erkennen und Handeln oder Lehre und Leben sind unzertrennlich. Zwiespalt, Kampf und Sieg der Tugend existiren nur während der geschichtlichen Entwicklung der Erkenntnis Gottes. – Während dieser Entwicklung können und sollen wir nach Sittlichkeit streben; nach vollendeter Ausbildung der Erkenntnis Gottes oder seines Gesetzes müssen wir sittlich leben. Diese sittliche Nothwendigkeit ist die Heiligkeit.«160 Hier wird zunächst nur angedeutet, dass man das absolut raum- und zeitlose »Wesen« am absoluten Weltgesetz erkennt. Dies ist ein Wesen, das im Gegensatz zu allem Übrigen nicht diesem Gesetz des Werden und Vergehens unterworfen ist. Es wird nicht gesagt, dass dieses Wesen das Weltgesetz selbst sei, doch die Nähe der beiden ist überaus groß. 159 Rom und Jerusalem, 2. Brief, S. 4–5. 160 Rom und Jerusalem, 10. Brief, S. 69.
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Im Epilog zu Rom und Jerusalem, in welchem er wiederum über die Dialektik des Weltgeschehens spricht, das sich notwendigerweise in stets neuen Antagonismen entwickelt, Feudalherren versus Knechte, die industriellen und wissenschaftlichen Produzenten gegenüber den spekulierenden Herren, Arbeit gegenüber der Spekulation, Philosophie versus Erfahrungswissenschaften, kommt Hess abermals auf die Gottheit zu sprechen. Dergleichen Antagonismen müssen in der Entwicklung der sozialen Lebenssphäre zum Ausgleich, in ein »Gleichgewicht« gebracht werden, so wie im organischen Bereich das Entstehen der »welthistorischen Racen« die Kräfte der Natur harmonisch vereinte, so sollen es dereinst die Bestrebungen der Geschichte in der »vollendeten menschlichen Gesellschaft zum harmonischen Zusammenwirken«, dann wenn »nach der Vollendung des socialen Lebens, nach der Schöpfung einer harmonischen socialen Organisation, in welcher Produktion und Consumtion sich das Gleichgewicht halten.«161 Im weltanschaulichen Bereich äußert sich die Kette der Antagonismen in dem letzten Antagonismus von spekulativer Philosophie und von Erfahrungswissenschaften, von »Idealismus und Materialismus«. Auch diese Antagonismen sollen durch die weitere Entwicklung in ein Gleichgewicht gebracht werden. Es ist, wie gesagt, an dieser Stelle, an welcher Hess wieder vom Absoluten als einem jenseitigen Wesen spricht, aber so, dass es die traditionelle religiöse Anschauungsweise gewesen sei, welche diesen zu erstrebenden Idealzustand des Gleichgewichts in ein jenseitiges Wesen hypostasierte. Er meint da, dass es die weltanschauliche Kritik sein müsse, welche den Menschen von den »traditionellen Vorstellungen« trennt und zu neuen freien Schöpfungen des Geistes führt, der sich dann »wie die Revolution, einen Augenblick für losgebunden [halte] von dem einigen schöpferischen Wesen selbst, weil sie dieses Wesen, das Gleichgewicht, welches uns die traditionellen Vorstellungen als ein jenseitiges vorstellten, noch nicht in sich selbst wiedergefunden hat. – Die meisten unserer Zeitgenossen hören nicht auf, das als jenseitiges Wesen vorgestellte Absolute zu verwerfen, ohne dem wirklichen Absoluten, zu dem Schöpferischen, zum Schwerpunkte alles Lebens, der nur im Gleichgewicht und Gleichmaass aller geistigen Kräfte zu finden ist, fortzuschreiten.«162 Das Absolute, das Schöpferische ist demnach der Schwerpunkt, das Gleichgewicht und Gleichmaß aller Kräfte, die im Veränderungsprozess aller Entwicklungen wirksam sind. Das Schöpferische war nach der Lehre der Dynamischen Stofflehre das als Äther bezeichnete Gleichgewicht der zentripetalen und zentri161
Rom und Jerusalem, Epilog, 4. Der letzte Antagonismus, S. 144–149.
162
Rom und Jerusalem, Epilog, 4, S. 150.
Moses Hess
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fugalen Kräfte. In diesem Gleichgewicht ruhte der Ausgangspunkt allen kreativen Wirkens, zu ihm muss alles zurückkehren, um sich in neue Schöpfungen zu wandeln. Es ist das, was schon oben als das Erbe der aristotelischen steresis erkannt wurde und im Denken des hasidischen Mystikers Dov Ber aus Mesritsch das kreative göttliche Nichts war.163 Es ist dieser Ruhepunkt hinter allem Weltgeschehen, den man in der älteren Vorstellungsweise als »jenseitiges« Wesen begriffen hatte, es ist der Gott der genetischen Weltanschauung. Die Gottesvorstellung ist nach Auffassung von Hess eine »embryonale« Denkweise, bei welcher die unterschiedlichen Völkergenies das ihnen zentral erscheinende Wesentliche, welches die Welt bestimmt und hervorbringt in eine göttliche Person hypostasierten. Dies zeigt er am Beispiel der drei großen für das europäische Denken konstitutiven Kulturen: »Hatten die Griechen die gesammte Natur mit Einschluss des Menschen als vollendeten Naturproduktes, die Juden die ganze Geschichte mit Einschluss jener des kosmischen und organischen Lebens, so hatten die Christen das isolirte menschliche Individuum als göttliche Person geheiligt. Die Individualität ist in der That erst in Folge ihrer Apotheose durch das Christenthum zu ihrem Rechte gelangt.«164 Natürlich spricht hier kein Religionshistoriker, wofür ein Vergleich seiner Theorien mit dem in der vorliegenden Darstellung des Jüdischen Denkens Vorgetragenen Zeugnis genug sein mag, sondern ein religionsgeschichtlich argumentierender Historiosoph, wie sie aus dem hier in Band drei Vorgetragenen einschlägig bekannt sein dürften.165 In seiner siebenten Note lässt Hess den Schleier schließlich ganz fallen und behauptet, dass in dem Weltgesetz der »Erhaltung der Kraft«, das heißt in dem richtig aufgefassten »Gravitationsgesetz«, die Wissenschaft die »Bestätigung der jüdischen Idee von der Einheit und Einzigkeit des schöpferischen Wesens« gefunden habe. Denn dieses Gesetz erschließe alle physischen, chemischen, vitalen, geistigen und socialen Phänomene.166 Man muss über eine solche theologisch-empiristische Schlussfolgerung nicht erschrecken. Sie ist, wenn man so will, letztlich nur eine in die moderne empirische physikalisch-chemische Wissenschaft übertragene Auffassung von Gott als der prima causa, wie sie im Mittelalter auch von den jüdischen Philosophen vertreten wurde.167
163
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 819.
164
Rom und Jerusalem, Note VI, S. 179–180.
165
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 498–502. 485–488.
166
Rom und Jerusalem, Note VII, S. 190.
167
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 375. 454. 459. 580.
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Die sachgerechte Folgerung aus seiner Auffassung von der noch niedrigen und vorläufigen Entwicklungsstufe des religiösen Denkens in den drei genannten Kulturen zieht Hess darum am Ende dieser »Note«, nämlich dass diese embryonalen religiösen Offenbarungen nunmehr in die moderne Wissenschaft zu übertragen seien. Diese Aufforderung verbindet er mit der anderen, dass diese völkerpsychologisch begründeten entwicklungsgemäßen Differenzen und Antagonismen nunmehr in die vom Judentum stets propagierte und schließlich von dem Juden Spinoza philosophisch vollzogene Einheit hinüberzuführen seien: »Diese höhere Einheit der historischen Culten ist nur in dem zur Wissenschaft erhobenen jüdischen Geschichts-Cultus möglich. Der zur Wissenschaft erhobene jüdische Geschichtscultus ist aber nichts Anderes, als die zur wissenschaftlichen Genesis des kosmischen, organischen und socialen Lebens erhobene Bibelreligion, zu deren Ausbildung das Genie der Juden nach der Wiedergeburt des Judenthums als selbstständige Nationalität berufen zu sein scheint.«168 An anderer Stelle betont es Hess mit ausgesprochen selbstbewusstem jüdischem Stolz ein weiteres Mal, dass es eben dieser jüdische »Geschichts-Cultus« ist, worin die bedeutende Rolle des jüdischen Volkes im Konzert der Völkerwelt besteht: »Es ist nichts in der christlichen Sittenlehre, nichts in der scholastischen Philosophie des Mittelalters, nichts in der modernen Philanthropie und, wenn ich die letzte Manifestation des Judenthums, den Spinozismus, hinzunehme, auch nichts in der modernen Philosophie, was nicht im Judenthum wurzelte. Das jüdische Volk ist bis zur französischen Revolution das einzige Volk der Welt gewesen, welches zugleich einen nationalen und humanitären Cultus hatte. Durch das Judenthum ist die Geschichte der Menschheit eine heilige Geschichte geworden, ich meine ein einheitlicher, organischer Entwicklungsprozess, der, mit der Familienliebe beginnend, nicht eher vollendet ist, bis die ganze Menschheit eine einzige Familie sein wird, deren Glieder ebenso solidarisch durch den heiligen Geist, den schöpferischen Genius der Geschichte, verbunden sein werden, wie die verschiedene[n] Organe eines lebendigen Körpers es mittelst einer ebenso heiligen, schöpferischen Naturkraft sind. – So lange noch kein anderes Volk, als das jüdische, diesen national-
168
Rom und Jerusalem, Note VI, S. 180.
Moses Hess
112
humanitären Geschichtscultus hatte, waren die Juden allein das Volk Gottes.«169
7.
Das nationale zionistische Programm – Hess – Laharanne – Kalischer
Außer der Idee, das Judentum im Sinne der neu entstandenen Nationalismen gleichfalls in erster Linie als Nation zu definieren und zu verstehen, gebührt Moses Hess, dem Autor der Philosophie der Tat, das Verdienst, nicht bei einer Philosophie des Nationalen stehen geblieben zu sein, sondern daraus politische Handlungs-Konsequenzen gefordert zu haben. Er entwickelte in seinem Rom und Jerusalem Ideen und Aktionspläne, von denen Theodor Herzl später einmal sagte: »Alles, was wir versuchten, steht schon bei ihm.« Dem überaus belesenen Hess war es nicht entgangen, dass es solch politisch-zionistische Schriften auch schon vor und neben ihm gab, auf die er nun ausgiebig zurückgriff, um seine fast aberwitzig erscheinenden Forderungen als dem Geiste der Zeit angemessen herauszustellen. Dazu zitiert er in seinem elften und zwölften Brief ausgiebig aus zwei offenbar extrem weit auseinanderliegenden Positionen, aus der des Franzosen Ernest Laharanne und aus der des orthodoxen Rabbiners aus Thorun (Thorn), Zwi Hirsch Kalischer. Im Spätsommer oder Herbst des Jahres 1860 veröffentlichte der dem Sekretariat Napoleons I. angehörige Ernest Laharanne anlässlich der französischen Militärexpedition nach Syrien170 eine Schrift mit dem Titel La nouvelle question d’Orient. Empires d’Egypt et d’Arabie. Reconstitution de la nationalité juive.171 Haupttenor der Schrift war die anzustrebende Aufteilung des »barbarischen« osmanischen Reiches, in dem zum Beispiel die Christen verfolgt wurden. Laharanne schlug an seiner Stelle die Neubildung eines ägyptischen und eines großarabischen Staates vor, der ganz Anatolien und die arabische Halbinsel umfassen sollte. Als Puffer zwischen den beiden sollte ein neu zu errichtendes Judäa geschaffen werden, das von Suez bis nach Smyrna reichen sowie den gesamten Libanon umfassen sollte.172 Laharanne ging mit seinen Vorschlägen so weit, die Juden aufzurufen, nicht erst den Zerfall des osmanischen Reiches abzuwarten, sondern die besagten Landstriche aufzukaufen und umgehend einen eigenen Staat zu gründen. 169
Rom und Jerusalem, 9. Brief, S. 57.
170
Vgl. E. Silberner, M. Hess, S. 400; u. N.M. Gelber, Ḥaside Ummot ha-Olam bi-Mevassere haTeḥijja (1931), 75–80; idem, in: Ha-Po‘el ha-Ẓa‘ir (July 26, 1960); E. Laharanne, La nuova questione d'Oriente (1952), 3–10, preface by D. Lattes.
171
Paris 1860.
172
Silberner, Hess, S. 401.
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113
Hess kam ein solcher Aufruf von Seiten eines katholischen Christen so sehr entgegen, dass er Laharanne in seiner eigenen durchaus parteiischen Übersetzung173 ausführlich in seinem Rom und Jerusalem wiedergab und so seine jüdisch-nationalen Forderungen als zwar »schwerlich im Auftrage der französischen Regierung, sicher aber im Geiste des französischen Volkes« ausgeben konnte. Hess betonte bei dieser Gelegenheit ausdrücklich, dass Laharannes Forderungen »nicht etwa aus religiösen Gründen, sondern aus rein politischen und humanen Motiven« erhoben worden seien, wenn er »unsere Stammesgenossen auffordert, ihren alten Staat wieder herzustellen.«174 Laharanne sagt in dem ausführlichen Exzerpt von Hess, unter Verweis auf die neuerlichen orientalischen Verwicklungen, unter anderem: »Diese Frage wird heute nicht zum ersten Male aufgeworfen.175 Man hat von der Loskaufung Palästina’s durch die in der ganzen Welt verbreiteten jüdischen Banquiers, oder besser noch von der edlern und würdigern Loskaufung auf dem Wege einer allgemeinen Subscription gesprochen, an welcher sich alle Juden betheiligen könnten.«176 Die Schuld daran, dass eine wie immer organisierte Rückkehr der Juden in ihr angestammtes Heimatland noch nicht längst schon erfolgt war, schreibt Laharanne der christlich-islamischen Allianz zu, die eine solche Rückkehr der Juden mit Weltuntergangsszenarien und Verfolgungen zu verhindern strebten. Aber auch die modernen europäischen Juden werden nicht von Schuld freigesprochen, die sich ganz den neuen europäischen Vaterländern verschrieben hätten und ihre alten Wurzeln verleugneten: »Man kann nicht auf das unbestreitbarste und unverjährlichste Recht Verzicht leisten, nicht zugleich seine Vergangenheit und seine Eltern verleugnen, besonders in einem Augenblicke nicht, wo die europäischen Verhältnisse einer Restauration des jüdischen Staates nicht nur keine Hindernisse in den Weg legen, sondern sie erheischen.«177
173
Silberner, Hess, S. 402.
174
Rom und Jerusalem, 11. Brief, S. 79.
175
N. M. Gelber, Zur Vorgeschichte des Zionismus. Judenstaatsprojekte in den Jahren 1695– 1845, Wien 1927, berichtet von mehr als 20 solcher Projekte in der genannten Zeit, die bis in die höchste europäische Politik, etwa eines Napoleon I, deutscher Fürsten, des Kaisers von Russland, Oesterreichs und des preußische Königs sowie Englands reichten.
176
Laharanne nach Rom und Jerusalem, 11. Brief, S. 80.
177
Laharanne, Rom und Jerusalem, 11. Brief, S. 82.
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Nachdem Laharanne mit pathetischen Worten den Mut und die Beharrlichkeit der über achtzehn Jahrhunderte verfolgten Juden herausstellte, deren Tränen und Leid beschwor, bestärkt Laharanne die Juden, dass sie noch stark genug seien, »um die Pforten Jerusalems wieder aufzurichten. Das ist Eure Aufgabe.«178 Laharanne sieht in den Juden im wiedererrichteten Judäa die Vermittler der europäischen Zivilisation zu »den noch unerfahrenen Völkerschaften«, um ihnen die europäischen Wissenschaften zu bringen, als Vermittler zwischen Europa und Asien. Laharanne steht nicht an, die Juden zu einem besonnenen Handeln und etwa Abwarten zu ermahnen. Ganz im Gegenteil er ruft den Juden zu: »Der Augenblick ist für Euch gekommen, Euer Vaterland, das bis jetzt von der Türkei in den Staub getreten worden, wieder zu reklamiren, sei es auf friedlichem Wege der Entschädigung, oder auf jedem anderen Wege. […] Schreitet voran! Bei Eurem Verjüngungswerke werden unsre Herzen Euch folgen, unsere Armeen179 Euch helfend zur Seite stehen. Schreitet voran, Juden aus allen Ländern! Das alte Vaterland ruft Euch, und wir werden stolz darauf sein, Euch seine Thore zu öffnen.«180 Während Hess von Laharanne die weltpolitischen und historischen Argumente für eine Rückkehr der Juden nach Palästina und dessen emotionalen Aufruf für die historisch einmalige Verantwortung, übernimmt, zieht er ausgerechnet die hebräische Schrift Drischat Zion (Streben nach Zion) des orthodoxen Thorner Rabbiners Zwi Hirsch Kalischer für konkrete praktische Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele heran. Nachdem Hess die seit langem bestehende Besiedlung mancher palästinischer Orte durch einzelne fromme Juden und deren philanthropische Unterstützung aus der Diaspora als einen wenig hilfreichen Weg zur nationalen Rückkehr der Juden nach Erez Jisrael kritisiert, fordert er mit Kalischer: »Die Erwerbung eines gemeinschaftlichen vaterländischen Bodens, das Hinarbeiten auf gesetzliche Zustände, unter deren Schutz die Arbeit gedeihen kann, die Gründung von jüdischen Gesellschaften für Ackerbau, Industrie und Handel nach mosaischen d.h. socialistischen Grundsätzen, das sind die Grundlagen, auf welchen das Judenthum im Orient sich wieder erheben, aus
178
Laharanne, Rom und Jerusalem, 11. Brief, S. 83. 84.
179
Hier ist eine der geschicktesten Veränderungen des französischen Textes durch Hess zu sehen. Im französischen Original stand da: »nos coers vous suivrons et nos bras [also Arme, nicht Armeen] vous serviront d’aide!«, s. Silberner, Hess, S. 402, FN 3.
180
Laharanne, Rom und Jerusalem, 11. Brief, S. 85.
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115
welcher das unter der Asche eines todten Formalismus glimmende Feuer des altjüdischen Patriotismus wieder hervorbrechen, durch welche das ganze Judenthum neu belebt werden wird.«181 Hess zitiert an dieser Stelle ausführlich die praktischen Forderungen zur Palästinaarbeit, aus Zwi Hirsch Kalischers hebräischer Schrift Drischat Zion (Streben nach Zion),182 die hier in Hessens Übersetzung folgen sollen. Natürlich geht Hess dabei nicht auf Kalischers religiöse Argumentationen ein, die zum Teil den Auffassungen von Jehuda Alkalai folgen, hauptsächlich aber das Gebot der Besiedlung des Heiligen Landes als Voraussetzung für die messianische Erlösung herausstellt.183 Diese Übernahme des praktischen Programms von Kalischer, das Hess »in allen Punkten unterschreiben kann«, ist ein beredtes Zeugnis dafür, dass sich unter dem national-zionistischen Banner Männer von sehr unterschiedlicher ideologischer Herkunft treffen konnten. Hess zitiert Kalischer mit den folgenden Forderungen: »Wenn auch noch nicht die Zeit der Gnade gekommen ist, auf Mittel zu sinnen, wie wir den Altar des Herrn auf Zion errichten sollen, – wenn auch die Hoffnung noch fern liegt, die Erlaubniss dazu vom türkischen Sultan zu erlangen, – so dürfte doch folgender Vorschlag rathsam sein zu einer Zeit, in welcher mit der Hülfe Gottes hochgeachtete Männer in Israel politischen Einfluss gewonnen haben, oder den goldenen Herrscherstab führen, Männer wie Montefiore, Albert Cohn, Rothschild, Fould u. A., wahre jüdische Fürsten, wie solche seit dem Untergange des jüdischen Reiches nicht mehr aufgefunden werden. Gott erhalte sie! Sie mögen eine Gesellschaft zum Anbau des heiligen Landes, eine Chebrath Erez Noschabeth ins Leben rufen! Mit ihnen mögen sich verbinden angesehene und begüterte Israeliten aus allen Welttheilen, Juden, welche das heilige Land lieben. – Die Thätigkeit derselben könnte darin bestehen: a) Geldspenden zu sammeln, um viele öde Städte, Felder und Weinberge im heiligen Land anzukaufen, damit die Wüste zum Libanon, der Trümmerhaufe zum Fruchtgefilde werde, und das unbewohnte, öde Land wieder aufblühe, wie eine Lilie, und Früchte trage zum Genusse, wie das Feld, das der Herr gesegnet hat. Berge, Thäler, Dörfer und öde Städte werden so allmälig
181
Rom und Jerusalem, 1297–98. Brief, S. 82.
182
Die vom Czarnikauer Rabbiner Dr. Poper 1905 in Berlin in zweiter Auflage publizierte deut-
183
Siehe z. B. den Auszug aus Kalischers Schrift bei H. J. Schoeps (Hg.), Zionismus. Vierund-
sche Übersetzung trägt den Titel: Drischat Zion, oder Zions Herstellung. dreißig Aufsätze, München 1973, S. 46–50.
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in den Besitz der Gesellschaft gelangen, welche Aktien ausgeben könnte, die sich ohne Zweifel nicht sofort, aber später wohl auch rentieren würden. b) Viele Juden aus Russland, Polen und Deutschland sollten von der Gesellschaft, der sie sich anschliessen müssten, unterstützt und, unter der Leitung Solcher, die im Feldbau unterrichtet worden sind (sofern sie den Ackerbau nicht schon selbst verstehen), Parzellen Landes, zunächst unentgeltlich, zugetheilt bekommen, bis sie im Stande sein würden, nachdem das Land mit Hülfe des Gesellschaftscapitals urbar gemacht worden, dasselbe als Pächter zu exploitiren. c) Militärisch geschulte Stammesgenossen müssten angestellt werden, um die räuberischen Einfälle der Beduinen abzuwehren, die Polizei auszuüben, dem Gesetze Kraft zu geben, und die Ordnung im Lande herzustellen. d) Eine landwirthschaftliche Schule sollte errichtet werden, um jüdische Knaben und Jünglinge für den palästinensischen Ackerbau praktisch zu erziehen. Diese Schule, in welcher auch andre Wissenschaften und Künste gelehrt werden könnten, die dem erhabenen Zwecke unserer Religion nicht entgegen stehen, könnte in Palästina, oder auch im Auslande, jedenfalls aber nur in einem solchen Lande gegründet werden, welches (wie z. B. Frankreich) Wein, Oel, die Früchte des heiligen Landes hervorbringt, damit die Zöglinge für die spezielle Cultur, die in Palästina heimisch ist, praktisch ausgebildet werden können. Gott wird uns alsdann mit seiner Gnade beistehen, und wir werden, wenn auch klein anfangend, nach und nach immer mehr Besitz im heiligen Lande erwerben, wie der Prophet geweissagt hat. Von unserer Seite aber muss der Anfang gemacht werden, wie ich dafür die Beweise gebracht habe aus dem Talmud und Midrasch.«184 Hess ist im Übrigen Realist genug, um zu sehen, dass es in seiner Zeit und auch in nähere Zukunft keine jüdische Massenauswanderung nach Palästina geben werde, insbesondere nicht aus dem assimilierten Judentum des Westens.185 Auch erschreckt ihn nicht der Gedanke, dass es wohl immer neben dem künftigen jüdischen Land oder Staat eine ausgedehnte Diaspora geben wird, was ja schon in der Zeit der Antike so war.186 Angesichts dessen sieht Hess die nationale Aufga-
184
Rom und Jerusalem, S. 98–100; Hess übersetzt den Text aus Kalischers umfassenden dreiteiligen Werk ’Emuna jeschara (Rechter Glaube), Lyck 1862, dessen dritten Teil die Schrift Drischat Zion bildet (der gesamte Text ist im Internet bei hebrewbooks.org zu finden). Der von Hess zitierte Abschnitt steht dort auf der Seite 17b im Unterkapitel Ma’amar kaddischin – Ḥatimat Ma’amarim; in seiner Note 10, S. 200–201 bietet auch Hess den hebräischen Text.
185
Rom und Jerusalem, Note IX, S. 197. 193.
186
Rom und Jerusalem, Note IX, S. 198.
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117
be schon in der je eigenen Gegenwart im Bewahren der alten Nationalsprache Hebräisch187 – die Hess selbst sehr gut beherrschte, wie der Fußnoten und Notenanhang demonstrieren. Außerdem sieht Hess in der Pflege der jüdischen Familie, der Volksgeschichte wie der Nationalliteratur eine wichtige Aufgaben zur Pflege und Vorbereitung des wiedererwachenden Nationalbewusstseins.188 Alleine schon das Erwecken der nationalen Hoffnung sei von großer Bedeutung: »Was wir heute für die Wiederherstellung der jüdischen Nationalität zu thun haben, besteht zunächst darin, die Hoffnung auf unsere politische Wiedergeburt lebendig zu erhalten, und sie da, wo sie schlummert, wieder zu erwecken.«189 Was immer Hess hier als Ziele und Maßnahmen vorschlägt, hinter allem steht seine dezidierte Auffassung, dass eine Erneuerung des Judentums nur auf seinem eigenen Boden gelingen kann. Er sagt dies in seinem Schlussbrief unter nochmaliger Berufung auf seine holistische genetische Weltanschauung, aus der sich ihm auch die »verächtliche« Rolle der Juden in deren »bodenloser« Diaspora erklärt: »Bei den Juden weit mehr noch, als bei Nationen, die auf ihrem eigenen Boden unterdrückt sind, muss die nationale Selbständigkeit jedem politischsocialen Fortschritte voran gehen. Ein gemeinsamer heimathlicher Boden ist für sie die Bedingung gesunderer Arbeitsverhältnisse. Der gesellige Mensch bedarf, wie die geselligen Pflanzen und Thiere, zu seinem Gedeihen und Fortkommen eines weiten, freien Bodens, ohne welchen er zum Schmarotzer herabsinkt, der sich nur auf Kosten fremder Produktion ernähren kann.«190
187
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 14.
188
Rom und Jerusalem, 4. Brief, S. 17.
189
Rom und Jerusalem, 11. Brief, S. 76; 12. Brief, S. 90.
190
Rom und Jerusalem, 12. Brief, S. 92 u. vgl. S. 93.
II.
DER SOZIALPSYCHOLOGISCH-TERRITORIALISTISCHE ANSATZ LEON (JUDAH LEJB) PINSKER (1821–1891)
1.
Biographisches
Leon Pinsker, geboren im polnischen Tomaszow, ging bei seinem Vater, dem Wissenschaftler und hebräischen Haskala-Schriftsteller Simḥa Pinsker in Odessa zur Schule, studierte an der dortigen Universität zunächst Rechtswissenschaft, wechselte dann nach Moskau, um Medizin zu studieren. Zurück als Arzt in Odessa, gehörte er zu den Gründern der jüdischen Zeitschrift Rasswjet (Morgendämmerung) und der Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden, deren Ziel es war, die kulturelle Russifizierung der jüdischen Bevölkerung zu betreiben. Die Pogrome in Odessa 1871 und vor allem jene nach der Ermordung des Zaren Alexander II. 1881/82 ließen Pinsker jedoch an dieser Zielsetzung irre werden, er trat aus der Gesellschaft aus und wandte sich einer anderen Lösung der »Judenfrage« zu, der nationalen Separation. 1882, bei einer Reise nach Wien, Berlin und London trug er seine neuen Auffassungen vor, fand aber nur bei dem Briten Arthur Cohen Sympathien, der ihn anregte, seine Ideen schriftlich niederzulegen. Dies führte zu seiner für die jüdische Geschichte und das jüdische Denken revolutionären kleinen Schrift Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden, die er 1882 – wegen der russischen Zensur und angeblich besserer Deutschkenntnisse – anonym in deutscher Sprache in Berlin erscheinen ließ.1 Die Schrift fand vor allem bei den Ḥoveve Zion (Zionsfreunde), die seit 1882 in unterschiedlichen Städten gegründet worden waren, große Aufmerksamkeit. Pinsker versammelte die Führer der verschiedenen Gruppen in seinem Haus und es kam zur Gründung eines zentralen Exekutivkommitees, dessen Vorsitzender Pinsker wurde. Dieses Komitee organisierte schließlich am 6. November 1884 eine Konferenz in Kattowitz, zu der die Delegierten der Ḥibbat Zion (Zionsliebe)2 aus ganz Russland und anderen Ländern kamen. Nach einem vorübergehenden Rückzug von der Leitung ließ Pinsker sich nach der Legalisierung der Bewegung durch die russische Regierung 1890 nochmals überzeugen, die nunmehr Gesellschaft zur Unterstützung
1
Ich verwende hier die Ausgabe des Jüdischen Verlages, Berlin 1934 und in Klammern die im Internet (Universitätsbibliothek Frankfurt a. M.) zugängliche von Berlin 1917. Eine Neuausgabe publizierte J. H. Schoeps unter dem Titel »Palästinaliebe. Leon Pinsker, der Antisemitismus und die Anfänge der nationaljüdischen Bewegung in Deutschland, Berlin/Wien 2005. Eine digitalisierte Version der Ausgabe Berlin 1917 findet man unter Universitätsbibliothek (Senckenbergische Bibliothek) Frankfurt a.M.
2
Alternativ für Hoveve Zion, Zionsfreunde.
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jüdischer Bauern und Handwerker in Syrien und Palästina genannte Bewegung erneut zu leiten. Wegen der türkischen Siedlungsverbote für Juden in Palästina und dem oft geringen Erfolg der Gesellschaft bekam Pinsker erneut Zweifel an der Nützlichkeit der Kolonialarbeit in Palästina, von der er sich ohnehin erst unter dem Einfluss der Ḥoveve Zion hatte überzeugen lassen, nachdem er in seiner Autoemancipation anfangs durchaus noch an ein beliebiges Territorium zur Ansiedlung von Juden irgendwo im Orient oder in Nordamerika gedacht hatte. Pinsker starb 1891, seine sterblichen Überreste wurden 1934 nach Jerusalem auf den Skopus-Berg überführt.3
2.
Der neue Denkansatz von Pinsker
Im Gegensatz zur mittelalterlichen Vorstellung weiß man heute, dass das Denken der Menschen nicht aus der transzendenten Welt der Götter oder Engelwesen stammt, sondern seinen je eigenen irdischen Kontext hat, nämlich die Erfahrungen der Tage und die Einsichten der Zeit. Dies gilt in eminentem Maße auch für den russisch-jüdischen Arzt Leon Pinsker, dem das Verdienst gebührt, die Einsichten der Zeit, die bei allen in diesem Abschnitt behandelten Autoren spürbar sind, bewusst formuliert und sprachlich auf den Punkt gebracht zu haben. Die Ereignisse seiner Zeit, die sich wiederholenden schrecklichen Pogrome gegen die Juden im Balkan und in Russland, die Selbstbefreiung der Nationen, wie Serben und Rumänen, und schließlich die Flucht russischer Juden nach Palästina, um sich im Land der Väter in Sicherheit zu bringen. All diese Ereignisse haben Leon Pinsker die Augen für eine neue Sicht auf das Judentum und sein Verhältnis zu den Völkern der Welt geöffnet, haben ihm, und das ist das Entscheidende, neue Kategorien zur Analyse der conditio judaica an die Hand gegeben. Wo die anderen Autoren vor allem die Selbstbefreiung unterdrückter Nationen als Motivationsschub für ihr neues nationales Denken wirken ließen, werden diese Ereignisse für Leon Pinsker in erster Linie der Anlass für eine grundlegende Analyse der jüdischen Situation. Das Resultat ist bedrückend, grundsätzlich, wissenschaftlich emotionslos und gerade dadurch bestürzend. Das Resultat dieser Analyse zeigt Pinsker, dass alle bislang eingeschlagenen Wege zur »Lösung der Judenfrage«, seien sie Vertreibung, Duldung, rechtliche Gleichstellung oder Emanzipation, nutzlos und falsch waren, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgegangen waren. Erst wo die Ursachen der Judennot richtig erkannt werden, davon war
3
Zur Biographie s. noch: B. Netanyahu, Introduction, in: Road to Freedom. Writings and Adresses by Leo Pinsker, New York 1944 (Neudruck Westport 1975); J. Klausner, Doktor Jehuda Lejb Pinsker, in: Sefer Pinsker. Sefer Sikkaron le-Mele’at Me’a Schana le-Holedet Dr. Jehuda Lejb Pinsker, 1821–1921; ed. J. Klausner, Jerusalem 1921, S. 5–50 (hebr.).
120
Leon Pinsker
Pinsker überzeugt, können wirklich wirksame und nachhaltige Lösungen gefunden werden. Auch Pinskers Ansatz ist der, dass er in nationalen Kategorien denkt. Dies tut er allerdings nicht zuallererst als Nationalist pro domo, sondern dahingehend, dass er ähnlich wie Hess das Leben der Menschen und Völker in dieser Welt grundsätzlich als ein Leben in nationaler Verfasstheit sieht. Nationale Verfasstheit menschlichen Lebens ist als die Normalität zu betrachten, wo eine solche nicht statt hat, ist dies als Anomalie zu beurteilen. Und wie im individuellen menschlichen Leben Anomalien unausweichlich Ursachen für Krankheiten sind, welche die entsprechenden Krankheitssymptome zur Folge haben, so ist dies auch im Völkerleben. Und solche Krankheiten mit ihren unausweichlichen und schmerzlichen Folgen können alleine durch die Beseitigung der Ursachen, niemals aber durch Kuren an den Symptomen beseitigt werden. Seine kurze Kampfschrift eröffnet Leon Pinsker darum mit einem flammenden Aufruf, nicht weiter den Kopf in den Sand zu stecken oder weiterhin an den »Symptomen«, das heißt der elenden rechtlichen, gesellschaftlichen, psychischen und physischen Lage der Juden herumzudoktern, trotz der scheinbaren Verbesserung durch die Emanzipation – im Westen- und deren Erwartung – im Osten –, und trotz des vorübergehenden Nachlassens der Pogrome: »Auf den Jammer blutiger Gewalttätigkeiten ist ein Moment der Ruhe gefolgt und Hetzer wie Gehetzte können eine Weile verschnaufen. Unterdessen werden die jüdischen Flüchtlinge mit eben jenem Gelde, das zum Zwecke der Auswanderung gesammelt wurde ›repatriiert!‹ Die Juden im Okzident aber haben den Hepp-Hepp-Ruf wieder ertragen gelernt, wie ihre Väter in vergangenen Tagen. Der flammende Ausbruch der Entrüstung über die erlittene Schmach hat sich in einen Aschenregen verwandelt, der den glühenden Boden allgemach bedeckt. Schließt nur die Augen und versteckt den Kopf wie der Strauß – ein dauernder Friede ist Euch nicht beschieden, wenn Ihr den flüchtigen Moment der Ruhe nicht benützt und radikalere Heilmittel ersinnt als jene Palliative waren, mit denen an unserem unglücklichen Volke seit Jahrtausenden herumgepfuscht wird!«4 Ausgangspunkt und Hauptmotivation des Pinskerschen Aufrufes ist die himmelschreiende »Judennot«, die Verfolgungen, Unterdrückungen, Entrechtungen und Schmähungen der Juden weltweit, die selbst den Juden schon zu einer Art Selbstverständlichkeit, zur Veränderung der normalen menschlichen Natur geworden sei:
4
Autoemanzipation, Berlin 1935 (sechste Aufl.), S. 5, (1917: S. 8).
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»Wenn wir mißhandelt, beraubt, geplündert, geschändet werden, dann wagen wir es nicht, uns zu verteidigen und, was noch schlimmer ist, fast finden wir es so in der Ordnung. Schlägt man uns ins Gesicht, so kühlen wir die brennende Wange mit kaltem Wasser, und hat man uns eine blutige Wunde beigebracht, so legen wir einen Verband an. Werden wir hinausgeworfen aus dem Hause, das wir selbst gebaut, so flehen wir demütig um Gnade, und gelingt es uns nicht, das Herz unseres Drängers zu erweichen, so ziehen wir weiter und suchen – ein anderes Exil.«5
3.
Die Diagnose – Normalität und Anomalie
3.1
Die jüdische Seite des Problems
Das moderne nationale Denken hat Pinsker ein Instrument an die Hand gegeben, die notorische und fast zweitausend Jahre alte jüdische Notlage neu zu sehen, neu zu verstehen und schließlich eine neue Lösung für die »Judenfrage« in den Blick zu nehmen. Daher geht er die Frage völkersoziologisch an und meint, so lange noch nicht der ewige Friede über die Menschheit hereinbricht, der gewiss noch lange auf sich warten lassen werde, sei die Normalität des menschlichen Mit- und Nebeneinander das Leben in verschiedenen Nationen, die ihre Beziehungen untereinander »durch ein bedingtes Einvernehmen leidlich gut regulieren lassen – durch ein Einvernehmen, welches durch Völkerrecht, Verträge, besonders aber durch eine gewisse Ebenbürtigkeit der Stellung und der gegenseitigen Ansprüche sowie durch gegenseitige Achtung hergestellt wird.«6 Nach diesen Regelungen haben die Angehörigen der jeweiligen Nation nach innen die dort gewährten nationalen Rechte, während die als Gäste in einer Nation weilenden »Ausländer« zwar eine mindere Stellung, aber doch Ansehen als Mitglied einer anderen Nation genießen. Der Ausländer beansprucht von der gastgebenden Nation zwar Gastfreundschaft, die ihm auch gewährt wird unter der Maßgabe, dass er sie mit »gleicher Münze bezahlen kann,«7 das heißt ein Mitglied der Gastgebernation kann gegebenenfalls in der Nation des Gastes gleichfalls als Gast aufgenommen werden. Vom ausländischen Gast wird nicht erwartet dass er ein Patriot des Gastlandes ist oder auch nur den Anschein erweckt. Da nach diesem System jeder Mensch zugleich Nationalbürger wie Ausländer sein kann, ist dies ein System der Ebenbürtigkeit, welches die besagte leidliche Ausgewogenheit herstellt.
5
Autoemanzipation, S. 15, (1917, S. 19).
6
Autoemanzipation, S. 6, (1917, S. 9).
7
Autoemanzipation, S. 10f, (1917, S. 14).
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Leon Pinsker
Und gerade dies ist, so Pinsker, der entscheidende Punkt, der die Ursache der Judennot darstellt. Die Juden fallen aus diesem Gleichgewichts- oder Ebenbürtigkeitssystem heraus, weil man sie nicht als Nation betrachtet: »In den Beziehungen der Völker zu den Juden ist eine solche Ebenbürtigkeit der Stellung nicht zu erkennen. Man vermißt hier die Grundlage jener gegenseitigen Achtung, welche durch Völkerrecht oder Verträge reguliert und gesichert zu werden pflegt. Erst wenn die Ebenbürtigkeit der Juden mit den übrigen Nationen eine Tatsache geworden ist, kann das Problem der Judenfrage als gelöst betrachtet werden.«8 An dieser Stelle muss nun die Frage gestellt werden, was Pinsker als die Bedingungen für die Konstituierung als Nation erachtet. Also die Frage, was den Juden ermangelt, dass sie nicht als Nation geachtet werden und folglich sich nicht in die Normalität menschlichen Lebens einreihen lassen. Pinsker meint, dass den Juden zwar nicht alle, aber doch die meisten Merkmale zur Erkennung als Nation fehlen. In seiner Desideratenliste des jüdischen Volkes zur Anerkennung als Nation zählt Pinsker die folgenden auf: »Es fehlt ihm jenes ureigene Leben, das ohne gemeinsame Sprache und Sitte, ohne räumliche Zusammengehörigkeit nicht denkbar ist. Das jüdische Volk hat kein eigenes Vaterland, wenn auch viele Mutterländer; es hat kein Zentrum, keinen Schwerpunkt, keine eigene Regierung, keine Vertretung. Es ist überall anwesend und nirgends zu Hause. Die Nationen haben es nie mit einer jüdischen Nation, sondern immer nur mit Juden zu tun. Für eine jüdische Nationalität fehlt es den Juden an einer gewissen, jeder anderen Nation innewohnenden charakteristischen Volkstümlichkeit, welche durch das Zusammenwohnen auf einem Staatsgebiete bedingt ist.«9 Pinsker zählt hier die auch von Max Weber in dem oben zitierten Text genannten Elemente auf,10 die in den Diskussionen um den Nationen-Begriff in seiner Zeit zu den geläufigen Requisiten gehören, die gemeinsame Sprache, Sitte und »ureigenes Leben«, er lässt diese alle aber durch die territoriale Grundlage bedingt sein. Das bedeutet, dass er gerade im Fehlen eines gemeinsamen Siedlungsgebietes der Juden die Hauptursache für das Fehlen der anderen genannten Desiderata sieht, weshalb sein Lösungsvorschlag, wie unten noch deutlich werden wird, eine rein »territoriale« Lösung sein wird. 8
Autoemanzipation, S. 6, (1917, S. 10).
9
Autoemanzipation, S. 6, (1917, S. 10).
10
Jüdisches Denken, Bd. 4, Einführung 2.3; Zionismus, I, 4.
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Diese unnatürliche Situation des jüdischen Lebens hat nach Auffassung Pinskers schließlich bewirkt, dass sich auch das diesbezügliche Bewusstsein der Juden selbst verändert habe. Die Juden hätten anscheinend die Erinnerung an ihre gemeinsame Heimat verloren, hätten sich darum geschmeidig an all die verschiedenen Gastvölker angepasst, hätten ihre traditionelle Originalität aufgegeben und sich »kosmopolitische Tendenzen« angeeignet, haben ihre eigene Nationalität aufgegeben und seien trotzdem nirgends als »ebenbürtige Eingeborene« anerkannt worden. Den Grund für dieses unveränderliche Ausgeschlossensein sieht Pinsker zum anderen in einem gleichsam positiven Element, nämlich darin, dass die Juden trotz der durch ihre Territoriumslosigkeit verursachten Selbstaufgabe, nicht der totalen Vernichtung anheimfallen konnten, weil sie »geistig« als Nation weiterbestanden. Worin diese geistige Beständigkeit besteht, sagt Pinsker nicht, nicht einmal die so naheliegende Religion wird hier genannt, oder irgendwelche kulturgeschichtlichen Faktoren. Gravierender, ja ausschlaggebend für das jüdische Missgeschick, ist nach Pinsker aber das andere, nämlich dass die Juden »nach einer solchen [eigenen nationalen] Existenz kein Bedürfnis fühlen. Ja, sie fühlen nicht nur kein Bedürfnis danach, sondern leugnen sogar die Berechtigung eines solchen Bedürfnisses.«11 Mit dieser abschließenden Bemerkung hat Pinsker natürlich vor allem die westlichen und hier insbesondere die Reformjuden im Blick, die ja – wie dies im Band drei dieser Darstellung ausführlich vorgeführt wurde – mit philosophischen oder religiösen Argumenten ein Selbstverständnis der Juden als Volk vehement in Abrede stellten.12 Dieses ist in den Augen des Arztes Pinsker nicht weniger als eine »Krankheit«, ohne deren Heilung keine Veränderung des jüdischen Schicksals zu erwarten ist. Die Tatsache, dass Pinsker die Religion nicht als ein verbliebenes Element der »geistigen Nation« des Judentums anführt, kommt nicht von ungefähr. Denn nach seiner Auffassung ist gerade auch die jüdische Religion daran schuld, dass sich das Judentum von der politisch-nationalen Bühne der Welt verabschiedet hat, nämlich insbesondere durch seinen Messiasglauben: »Zudem hat der Messiasglaube, der Glaube an die Einmischung einer höheren Macht zugunsten unserer politischen Auferstehung, und die religiöse Annahme, daß wir eine über uns von Gott verhängte Strafe geduldig ertragen müssen, uns jeder Sorge um unsere nationale Befreiung, um unsere Einheit und Unabhängigkeit enthoben. Wir verließen daher faktisch jeden Vaterlandsgedanken und taten dies um so williger, je mehr wir für unser materielles Fortkommen zu sorgen hatten. So sanken wir immer tiefer und tiefer. Die 11
Autoemanzipation, S. 7, (1917, S. 11).
12
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 477 ff.
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Vaterlandslosen wurden vaterlandsvergessen. Ist es nicht endlich an der Zeit, einzusehen, wie schimpflich dies für uns ist?«13 Es ist diese Situation, die Pinsker nicht nur schmerzvoll empfindet, sondern schmachvoll, eine Situation, in der die Juden erbärmlich und kläglich dastehen.14
3.2
Die nichtjüdische Seite des Problems
Die andere Seite der Medaille des Problems beschreibt Pinsker mit den folgenden Worten: »In dem unscheinbaren Umstande, daß die Juden den Völkern nicht als selbständige Nation gelten, liegt zum Teil das Geheimnis ihrer Ausnahmestellung und ihres endlosen Elends. Die bloße Zugehörigkeit zu diesem Volke ist ein unauslöschliches Brandmal, abstoßend für den Nichtjuden und peinlich für den Juden selbst. Und dennoch ist diese Erscheinung in der Natur des Menschen tief begründet.«15 So wie die unnatürliche Lage des jüdischen Volkes fast zwangsläufig die zuvor beschriebenen Folgen auf das jüdische Bewusstsein zeitigten, so wirkt diese Situation entsprechend auf die nichtjüdischen Völker. Es scheint da kein Entrinnen zu geben, weil nach Pinsker diese nichtjüdische Reaktion gleichermaßen »in der Natur des Menschen« begründet ist. Das bedeutet, für Pinsker hilft gegen die Verachtung und Diskriminierung der Juden durch die Völker nicht eigentlich ein Erziehungs- oder Aufklärungsprogramm, das bestrebt ist, die Menschen zu ändern, sondern alleine die Beseitigung der Ursachen, welche die »natürlichen« Reaktionsweisen der Menschen hervorbringen, die Krankheitssymptome verursachen. Das Problem ist nicht pädagogisch sondern nur »medizinisch« zu lösen. Die Symptomatik der Krankheit des Antisemitismus auf der nichtjüdischen Seite ist nach Pinsker die, dass die Welt in den Juden »die unheimliche Gestalt eines Toten, der unter den Lebenden wandelt«, erblickt. Dieses fremdartige »Unvolk« machte auf die Völker einen eigentümlichen und beängstigenden Eindruck, schafft eine Unsicherheit wie man dies Gespenstern gegenüber empfindet. Es ist also die Anomalität, das Ungewöhnliche, die den anderen Nationen nicht entsprechende Verfasstheit, was Unsicherheit beim Betrachter schafft, etwas wie 13
Autoemanzipation, S. 17, (1917, S. 21). Zum Messiasglauben s. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 288–298.479–480. Zur Exilstrafe als rabbinischem Selbstverständnis, s. H. J. Schoeps, Die Tempelzerstörung des Jahres 70 in der jüdischen Religionsgeschichte, Uppsala 1942.
14
Autoemanzipation, S. 16 (1917, S. 16).
15
Autoemanzipation, S. 7 (1917, S. 11).
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eine Gespensterfurcht erregt. »Und wenn die Gespensterfurcht etwas Angeborenes ist und eine gewisse Berechtigung findet im psychischen Leben der Menschheit – was Wunder, daß sie sich auch angesichts dieser toten und dennoch lebenden Nation in hohem Grade geltend machte? Es hat sich eine Scheu vor dem Judengespenst durch Geschlechter und Jahrhunderte vererbt und befestigt.«16 Es ist diese eigentlich natürliche psychische Reaktion, welche die unausrottbare Voreingenommenheit den Juden gegenüber schuf, was man mit Fug und Recht »Judophobie« nennen kann.17 Nach diesen Überlegungen formuliert Pinsker seine zusammenfassende Diagnose: »Im Verein mit allen anderen unbewußten und abergläubischen Vorstellungen, Instinkten und Idiosynkrasien hat auch die Judophobie bei allen Völkern der Erde, mit denen die Juden verkehrten, das volle Bürgerrecht erworben. Die Judophobie ist eine Abart der Dämonopathie, nur mit dem besonderen Unterschiede, daß das Judengespenst dem ganzen Menschengeschlechte und nicht bloß einzelnen Völkerschaften zu eigen geworden ist, und daß es nicht wie andere Gespenster wesenlos ist, sondern aus Fleisch und Blut besteht und selber von den Wunden, welche ihm von der scheuen, sich bedroht wähnenden Menge beigebracht werden, die qualvollsten Schmerzen erduldet. Die Judophobie ist eine Psychose. Als Psychose ist sie hereditär, als eine seit zweitausend Jahren vererbte Krankheit ist sie unheilbar.«18 Es ist dieses phobische Bild der Menschen vom Juden, welches dazu führt, dass individuelles jüdisches Fehlverhalten oder negative Eigenschaften einzelner Juden zwangsläufig verallgemeinert und dem ganzen gespenstischen Unvolk zugeschrieben werden. Hieraus resultierten die allfälligen Vorwürfe gegen die Juden, nämlich die Kreuzigung Jesu, dass sie Christenblut trinken, Brunnen vergiften, Wucher treiben, die Bauern ausbeuten und vieles mehr. Diese phobischen Vorwürfe dienen den Nichtjuden andererseits zugleich dazu, ihre Gewalt gegen die Juden zu rechtfertigen, »daß der Jude (richtiger das Judengespenst) verbrannt werden müsse.«19 Pinsker diagnostiziert, dass aus den besagten Gründen der Judenhass niemals aussterben wird, er wird diesen »Ahasver« auf seinen ewigen Wanderungen stets begleiten. Diese Abneigung gegenüber den Juden, so fährt Pinsker fort, ist mehr als die übliche »ethnologisch« begründete Abneigung gegenüber allen Fremden oder Ausländern. Denn die Ausländer, welche einer definierten Nation angehören sind 16
Autoemanzipation, S. 8, (1917, S. 12).
17
Autoemanzipation, S. 8, (1917, S. 12).
18
Autoemanzipation, S. 8, (1917, S. 12).
19
Autoemanzipation, S. 9, (1917, S. 13).
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immerhin rechtlich in das Völkerrecht und die gegenseitige Ebenbürtigkeitsregelung einbezogen. Bei den Juden sei dies anders. Da sie von den phobischen Beobachtern keiner nationalen und allgemein üblichen Kategorie zugeordnet werden können gilt: »Für die Juden als für wahre Fremde ist das Gesetz nicht geschrieben. Dagegen existieren überall Judengesetze.«20 Diese Situation scheint sich aber nun, so könnte man einwerfen, seit der Emanzipation doch geändert zu haben, nachdem die Juden nicht mehr eigenen Judengesetzen unterworfen sind, sondern rechtliche Gleichstellung mit den übrigen Bürgern erlangt haben. Diesen möglichen Einwand kontert Pinsker mit einer weitergreifenden Argumentation, welche aufzeigt, was eigentlich der wahre Humus für die beschriebene Situation ist, nämlich die Gesellschaft. Gewiss, auch die Judengesetze sind Ausdruck einer Gesellschaftsordnung, aber es kann vorkommen, wie in der Emanzipation, dass das Recht den gesellschaftlichen Befindlichkeiten vorauseilt oder sich einfach von ihnen entfernt. Und dies beklagt Pinsker mit all den im vorliegenden Band besprochenen Autoren als die bittere Bilanz der Emanzipation: »Aber diese gesetzliche Emanzipation ist nicht die gesellschaftliche, und mit der Dekretierung der ersten sind die Juden noch bei weitem nicht von der Ausschließlichkeit ihrer gesellschaftlichen Stellung emanzipiert.«21 Auch da, wo die rechtliche Emanzipation der Juden durch die Logik der Vernunft ihre Rechtfertigung erfahren müsste, wird doch das verbreitete »Gefühl« davon nicht berührt. Und weil diese Emanzipation nicht aus dem spontanen Gefühl der Nationen kommt, empfindet Pinsker jegliche den Juden geschenkte Emanzipation als eine Demütigung, als ein Almosen, das man dem Bettelvolk hinwirft. »Resümieren wir das Gesagte, so ist der Jude für die Lebenden ein Toter, für die Eingeborenen ein Fremder, für die Einheimischen ein Landstreicher, für die Besitzenden ein Bettler, für die Armen ein Ausbeuter und Millionär, für die Patrioten ein Vaterlandsloser, für alle Klassen ein verhaßter Konkurrent.«22 Mit diesen bitteren Worten beendet Pinsker seine Diagnose der jüdischen Lage und macht damit deutlich, dass es kein Entrinnen gibt, dass den Juden alle nur denkbar widersprüchlichen Eigenschaften als typisch jüdisch zugeschrieben werden. Den Grund dafür sieht er, wie schon deutlich wurde, nicht eigentlich in einer willentlichen Boshaftigkeit der Menschen, sondern in einem »naturgemä20
Autoemanzipation, S. 11, (1917, S. 15).
21
Autoemanzipation, S. 11, (1917, S. 15).
22
Autoemanzipation, S. 13, (Hervorhebung von Pinsker; 1917, S. 17, steht der Abschnitt nicht kursiv).
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ßen Antagonismus«, der aus einer Reihe beiderseitiger Missverständnisse resultiert. Die Missverständnisse konnten deswegen entstehen, weil man nicht deren wahre Ursachen erkannte. Die Kategorie der »Nation« ist für den medizinisch geschulten Analytiker ein neues heuristisches Mittel, um die Ursache der Krankheit zu diagnostizieren. Allerdings ist natürlich, wie bei allen Krankheiten, das Übel durch die richtige Diagnose noch nicht beseitigt und kann dadurch auch niemals beseitigt werden, sondern alleine durch die tatsächliche Beseitigung der wirklichen Ursache. Ob Pinskers medizinische Qualifizierung der Judenfeindschaft als eine unheilbare »hereditäre« Psychose (erbliche Angstneurose) trägt, ist aus der Sicht der modernen medizinischen Psychiatrie umstritten, worauf J. H. Schoeps in seiner Ausgabe der Autoemanzipation hinweist. Danach könne man eine Phobie keine Psychose nennen und andrerseits seien Psychosen nicht vererbbar. Immerhin gibt der von Schoeps angeführte Kritiker M. R. Löwenstein zu, dass Pinskers Auffassungen den zeitgenössischen psychiatrischen Theorien entsprechen.23 Andrerseits glaubt Schoeps, dass die Bemerkung des gleichfalls beigezogenen Alexander Mitscherlich Pinsker in gewisser Weise recht gibt, der meinte, der Antisemitismus sei »ein endemisch pathologisches Geschehen unserer Kultur mit epidemischen Wellen der Ausbreitung und Verschärfung des Krankheitszustandes.«24 Die hiermit gestreifte psychiatrische Debatte ist indessen für das Verständnis von Pinsker nicht wirklich entscheidend. Dies wird deutlich, wenn man beispielsweise noch andere Erklärungsmuster anfügt. Der Fachmann für jüdische und christliche Magie und Aberglauben des Mittelalters, Joshua Trachtenberg, hat in seiner bis heute überaus lesenswerten Studie The Devil and the Jews. The medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Antisemitism von 1943 auf eine andere Deutungskategorie des Judenhasses zurückgegriffen. Trachtenberg zieht zur Erklärung des rational nicht begründbaren Judenhasses die Freud’sche Lehre vom »Unbewussten« heran. Er ist der Auffassung, dass die 23
J. H. Schoeps (Hrsg.), Palästinaliebe. Leon Pinsker, der Antisemitismus und die Anfänge der nationaljüdischen Bewegung in Deutschland, Berlin-Wien 2005, S. 28. Schoeps zitiert da R. M. Löwenstein, Psychoanalyse des Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1968, S. 12: »Wir wollen nicht bei Pinskers Irrtum über die direkte Vererbung der Psychosen einhaken, er ist den psychiatrischen Theorien seiner Zeit zuzuschreiben; auch täuscht er sich vom psychiatrischen Standpunkt aus, wenn er die Judophobie eine Psychose nennt. Eine Phobie ist keine Psychose.«; s. noch J.H. Schoeps, Leon Pinsker: »Autoemancipation!« – Ein Mahnruf von 1882, in: M. Brocke (Hg.), Beter und Rebellen. Aus 1000 Jahren Judentum in Polen, Frankfurt a. M. 1983; ders. Briefe Leon Pinskers an Isaak Rülf. Zur Vorgeschichte der jüdischen Nationalbewegung, in: ZRGG 34 (1982).
24
Schoeps, Palästinaliebe, S. 28, nach A. Mitscherlich, Die Vorurteilskrankheit, in: Psyche. Eine Zeitschrift für psychologische und medizinische Menschenkunde, Bd. XVI (1962/3), S. 241.
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von der mittelalterlichen christlichen Volksreligiosität erzeugten antijüdischen abergläubischen Judenbilder im Unterbewusstsein der Menschen bis in die Gegenwart weiterwirkten und das Urteil über die Juden bestimmten: »Nein, der Judenhass hat keine rationale Basis. Wenn alles nur Denkbare über die psychische Xenophobie gesagt ist, welche ›Unterschiede‹ zurückweist, und Vorurteile gegen die Kulturen von Minderheiten hegt, über die ökonomischen und sozialen Friktionen, welche die gesellschaftlichen Beziehungen vergiften, über scharfsinnige und überzeugende Propagandatechniken anarchischer Demagogen, über das Bedürfnis nach einem ›Sündenbock‹ für die Erleichterung sozialer Spannungen, über die Unvollkommenheit der Juden selbst und ihre abnormale wirtschaftliche Situation – und all dies sind unmittelbare Stimuli für aktiven Judenhass – die letztliche, tief im Unterbewusstsein der Massen verborgene Quelle ist damit noch nicht berührt. Unter den vorhandenen Stimuli, sie und ihre explosive Macht unterstützend, liegt das Gewaltpotenzial der emotionalen Prädisposition einer Vorstellung vom Juden, die nichts mit Fakten oder Logik zu tun hat.«25 Trachtenberg meint demnach, dass jenseits aller möglichen Erklärungsmuster, der psychischen Xenophobie, der sozialen Konkurrenz-Ursachen, der Demagogie des Bösen, des Verlangens nach Sündenböcken, die Unzulänglichkeiten von Juden und ihre abnormale ökonomische Stellung, der wahre Grund doch in einer emotionalen Prädisposition ruht, die ihre Ursachen im Unbewussten hat. Sie wiederum, so fährt er fort, habe ihren Ursprung in den mittelalterlichen Judenbildern, zu denen der »inkarnierte Teufel«, der Antichrist, das Wesen mit Hörnern und Schwanz, der Magier, der Ritualmörder und Hostienschänder und dergleichen mehr gehören. Ich selbst habe in meinem Aufsatz »Die ›Gottesmörder‹« die konsequente kirchliche Entfaltung der neutestamentlichen theologischen Judenbilder als Grund für die Verbreitung des christlichen Judenhasses dargestellt. Andere Autoren desselben Bandes Antisemitismus. Vorurteile und Mythen haben noch weitere Argumente gefunden.26 Aus alledem folgt, dass es wohl kaum eine erschöpfende eindimensionale Erklärung des Judenhasses geben wird. Andrerseits ist
25
J. Trachtenberg, The Devil and the Jews. The medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Antisemitism, Neudruck Philadelphia 1983, S. 2. Das komplementäre Buch ist das schon in Bd. 2 des Jüdischen Denkens, S. 76. 175. 317. 349. 355. 420. 454. 565. 732 genannte Buch von J. Trachtenberg, Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion 1939 (Neudruck New York 1974).
26
S. den Band: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, hrsg. J.H. Schoeps u. J. Schlör, München-Zürich 1995 (und Augsburg 1999).
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auch deutlich, dass sich jede Zeit ihre und jeder Autor seine eigene Erklärung sucht, welche das Unbegreifliche mit den ihr oder ihm plausiblen Erklärungsmustern begreifbar zu machen sucht. Für Pinskers Erklärungsversuch macht dies deutlich, dass er neben seinen medizinischen Einsichten zur Deutung des Judenhasses vor allem eine Kategorie heranzieht, die in seiner Zeit allgemein als Erklärungsmuster für die Friktionen und Verfolgungen, Ab- und Ausgrenzungen zwischen Menschen und Völkerschaften dienten, nämlich die Kategorie der »Nation«. Sie bleibt meines Erachtens allerdings auch in einer Zeit »nach der Ära des Nationalismus« zumindest eine unter anderen plausiblen Erklärungsformen der Judophobie. Dies mag man dadurch bestätigt sehen, dass sich die Sichtweise vom »Juden« nach der Errichtung des Staates Israel weltweit bei vielen Menschen veränderte, wenn auch nicht bei allen, was die unselige Debatte um die Berechtigung der »Israelkritik« in unserer Gegenwart zeigt. Seine Erörterung der Ursachen des »uralten Problems der Judenfrage« eröffnet Pinsker mit zwei Sätzen, welche das bislang Dargelegte zusammenfasst und das nun Folgende eröffnet: »Nach unserer Auffassung besteht der Kernpunkt des Problems in Folgendem: Die Juden bilden im Schoße der Völker, unter denen sie leben, tatsächlich ein heterogenes Element, welches von keiner Nation gut vertragen werden kann. Die Aufgabe besteht nun darin, ein Mittel zu finden, durch welches dieses exklusive Element dem Völkerverbande derart angepaßt werde, daß der Judenfrage der Boden für immer entzogen sei.«27
4.
Die nötigen Lösungen – ein jüdisches Territorium
Nach Pinsker muss eines der wesentliche Ziele sein, das »entwürdigende Abhängigkeitsverhältnis des ewig fremden Juden zum Nichtjuden« zu beenden. Die Voraussetzungen dafür, so glaubt er, sind in seinen Tagen besser als je zuvor. Paradoxerweise hätten die Ereignisse in den gebildeten europäischen Ländern wie Deutschland, Rumänien, Ungarn und Russland in Form neuer Antisemitismen etwas bewirkt, was es im blutigen Mittelalter so noch nicht gegeben hatte, nämlich das Erwachen eines jüdischen Volksbewusstseins, welches russische und rumänische Juden dazu brachte, nach Palästina zu streben und nicht mehr still ihr Schicksal zu erdulden. Pinsker stellt dieses neue Bewusstsein in den
27
Autoemanzipation, S. 5, (1917, S. 9).
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Rahmen des allseits in Europa erwachenden Nationalbewusstseins und folgert daraus: »Heutzutage, seitdem unsre Stammesgenossen auf einem kleinen Teil der Erde zu Atem gekommen und für die Leiden ihrer Brüder teilnahmsfähiger geworden sind;28 heutzutage, seitdem man eine Anzahl untergeordneter und erdrückter Nationalitäten ihre Selbständigkeit wieder gewinnen ließ, dürfen auch wir nicht einen Augenblick mehr die Hände im Schoß ruhen lassen, dürfen wir nicht zugeben, daß wir auch in Zukunft dazu verdammt sein sollen, die aussichtlose Rolle des ›ewigen Juden‹ fortzuspielen.«29 Die Aussicht auf eine Veränderung der jüdischen Lage, so betont Pinsker, kann nur erfüllt werden, wenn auch die Juden wieder ein eigenes Heim haben, wie die übrigen Nationen dieser Welt. Und um dies zu erreichen dürften die Juden nicht wie bisher flehentlich auf die Völker dieser Welt blicken, sondern müssten nun selbst ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Die Juden müssten auch von der Wahnvorstellung Abschied nehmen, dass sie mit ihrer Zerstreuung eine »providentielle Mission erfüllen«30 – wie dies fast alle der hier im dritten Band dargestellten deutsch jüdischen Denker behaupteten.31 Darum, so meint Pinsker, sei es an der Zeit, dass die Juden nun für sich selbst sorgten, die »Autoemanzipation« durchzuführen.32 Und er betont in diesem Zusammenhang noch einmal, dass die Juden alle erforderlichen Qualitäten einer Nation besitzen und sie daher nicht länger aufgehalten werden dürften: »Wenn die nationalen Bestrebungen mancher unter unseren Augen entstandenen Völker eine innere Berechtigung hatten, kann es dann noch fraglich sein, ob auch den Juden diese Berechtigung zukomme? Mehr als jene greifen sie in das internationale Kulturleben ein; mehr als jene haben sie sich um die Menschheit verdient gemacht, haben sie eine Vergangenheit, eine Geschichte, eine gemeinsame unvermischte Abstammung, eine unverwüstliche Lebenskraft, einen unerschütterlichen Glauben und eine beispiellose Leidensge-
28
Gemeint ist der Einsatz von Männern wie Moses Montefiori, Adolphe Crémieux u. Salomon Munk zugunsten der verfolgten Juden während der sogenannten Damaskusaffäre von 1840 und Crémieux’ Einsatz für die Juden in Rumänien und Russland, vgl. z. B. H. H. Ben-Sasson (Hrsg.), Geschichte des Jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1992, S. 1040.
29
Autoemanzipation, S. 18, (1917, S. 22).
30
Autoemanzipation, S. 19, (1917, S. 23).
31
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 481. 486–487. 501. 513–514. 541. 574–577. 648. 656.
32
Autoemanzipation, S. 20. 29, (1917, S. 25. 34).
Zionismus
131
schichte aufzuweisen; mehr als an jeder anderen Nation haben an ihnen die Völker sich versündigt. Ist das noch immer zu wenig, um sie vaterlandswürdig zu machen?«33 Es ist darum nicht nur berechtigt, sondern höchste Zeit, dass die Juden selbst erkennen, dass sie nirgends zu Hause sind, und »daß wir endlich doch irgendeine Heimat, wenn nicht ein eigenes Vaterland haben müssen.«34 Schon die soeben angeführte Formulierung Pinskers und seine oben dargelegten Gedanken waren Hinweis darauf, dass es Pinsker vor allem um ein gemeinsames jüdisches Territorium geht, also die Gleichstellung mit den übrigen Nationen der Welt, damit da in einem geschlossenen Siedlungsraum der Juden jenes vermisste urwüchsige jüdische Leben sich entwickeln könne. Und dies ist die Hauptsache, dies ist der erforderliche Schritt in eine neue jüdische Zukunft. Dieser Schritt erscheint Pinsker so essentiell neu, dass er dabei nicht an eine Rückkehr in das Land der Väter, das Land Israel denkt, sondern an einen wahrhaften Neuanfang: »Wenn wir nun um eine sichere Heimat besorgt sind, um das ewige Wanderleben aufzugeben und unsere Nation in eigenen und fremden Augen aufzurichten, so dürfen wir vor allem nicht davon träumen, das alte Judäa wieder herzustellen. Wir dürfen nicht dort wieder anknüpfen, wo einst unser Staatsleben gewaltsam abgebrochen und zertrümmert worden ist. Unsere Aufgabe, wenn sie einmal gelöst sein soll, sei eine bescheidene. Ohnehin ist sie schwierig genug. Nicht das ›heilige‹ Land soll jetzt das Ziel unserer Bestrebungen werden, sondern das ›eigene‹. Wir brauchen nichts als ein großes Stück Landes für unsere armen Brüder, welches unser Eigentum bleiben soll, aus dem kein fremder Herr uns verdrängen könnte. Dorthin wollen wir das Heiligste mitbringen, was wir aus dem Schiffbruch unsres einstigen Vaterlandes gerettet: die Gottesidee und die Bibel. Denn nur diese sind es, welche unser altes Vaterland zum Heiligen Lande gemacht, nicht etwa Jerusalem oder der Jordan. Möglicherweise könnte auch das heilige Land unser eigenes werden. Dann um so besser, aber es muß vor allem festgestellt werden – und darauf kommt es nur an – welches Land uns überhaupt zugänglich und gleichzeitig geeignet ist, den Juden aller Länder, welche ihre Heimat verlassen müssen, eine sichere, unangefochtene, produktionsfähige Zufluchtstätte zu bieten.«35
33
Autoemanzipation, S. 19, (1917, S. 24).
34
Autoemanzipation, S. 21, (1917, S. 26).
35
Autoemanzipation, S. 21, (1917, S. 26).
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Leon Pinsker
Im Zentrum des Pinskerschen Denkens steht der verfolgte ewig fliehende Jude, nicht – wie dies bei Achad Haam sich zeigen wird – das Judentum mit seiner Kultur und seinen überkommenen Lebensformen, mit seiner Geschichte, zu der unabdingbar die staatliche Vergangenheit im Heiligen Land gehört. Pinskers Judentum sind die verfolgten Juden, welche durch die Exile irren und sich alleine an ihrer Gottesidee und ihrer Bibel aufrichten konnten, diese gilt es an einen neuen verlässlichen Zufluchtsort zu bringen, er soll im Vergleich zur bisherigen Geschichte neu und sicher sein, er soll mit der bisherigen Leidensgeschichte brechen, darum soll es auch ein neues Land sein. Mit der alten Vergangenheit, auch mit dem zerstörten judäischen Staat, soll ein für alle Male gebrochen werden. Unter dieser Voraussetzung ist dann natürlich auch Palästina ein denkbarer Ort, aber er ist nicht unbedingt die erste und schon gar nicht die einzige Wahl, wie das die meisten Ḥoveve Zion gesehen haben. Das neue Land der Juden soll ein neues Ufer im wirklichen Sinne sein, die Juden sollen mit ihrer unsäglichen Vergangenheit ein für alle Male brechen können. Dies ist Pinskers Lösung, die nachher mutatis mutandis auch Theodor Herzl und die sogenannten »Territorialisten« unter den Zionisten vertraten.36 Der Bruch mit der Vergangenheit ist das Wesentliche, und ist ein Zeichen der Zeit: »Die großen Ideen des 18. und 19. Jahrhunderts sind auch an unserem Volke nicht spurlos vorübergegangen. Wir fühlen uns nicht allein als Juden; wir fühlen uns als Menschen. Als Menschen wollen wir auch leben und eine Nation sein wie die anderen. Und wenn wir das ernstlich wollen, dann müssen wir vor allem uns dem alten Joch entwinden und uns männlich aufrichten. Dann müssen wir vorerst uns selbst helfen wollen. Dann erst wird auch die fremde Hilfe nicht auf sich warten lassen.«37
5.
Die praktischen Folgerungen
»Was sollen wir tun, wie den Anfang machen?« Mit dieser drängenden Frage eröffnet Pinsker den Teil mit konkreten Schlussfolgerungen, in dem er auf nur sechs Seiten im Grunde das gesamte Kolonisationsprogramm entwickelt, welches 1896 Theodor Herzl – ohne die Kenntnis von Pinskers Schrift – in seiner Broschüre Der Judenstaat auf fünfundfünfzig Seiten darlegte.38 Das erste was Pinsker forderte ist das, was Herzl schließlich tatsächlich ins Werk setzte, nachdem sein ursprünglicher Plan, seine Pläne mit Hilfe weniger wohlhabender und
36
Zu ihnen vgl. A. Böhm, Zionistische Bewegung, S. 261. 309–311.
37
Autoemanzipation, S. 23, (1917, S. 28).
38
Autoemanzipation, S. 24–29, (1917, S. 29–35).
Zionismus
133
einflussreicher Notabeln zu verwirklichen, misslungen war.39 Er berief einen alljüdischen »Nationalkongreß« ein, der sich eine Art Regierung, ein nationales Direktorium gab, das alle weiteren Schritte in die Wege leiten sollte. Auch Pinsker hatte seine Hoffnungen zuerst auf die gerade gegründeten Alliance Israélite Universelle und die Anglo-Jewish Association gesetzt, aber deren Unfähigkeit oder Unwillen für sein revolutionäres Vorhaben vorausgeahnt. Die vordringlichste Aufgabe eines solchen zu begründenden Direktoriums müsse es nach Pinsker sein, ein geeignetes Stück Land auf der Erde auszusuchen, das fürderhin als sicheres Asyl für alle aus ihren »Vaterländern« oder Exilsorten vertriebenen Juden dienen könnte. – Auch Pinsker ging nicht davon aus, dass alle Juden sogleich in dieses Land umsiedelten, sondern er dachte zuerst an die bedrängten Juden, welche aus Ihren Orten vertrieben wurden, weil sie den zahlenmäßigen »Saturationspunkt« der Duldsamkeit von Juden in den einzelnen Ländern überschritten hätten. – Das zu suchende Territorium müsse zusammenhängend und als wirtschaftliche Basis geeignet sein. Dieses sollte dann mit »nationalen Mitteln« erworben werden und in Parzellen unterteilt an jüdische Kolonisten verkauft werden. Wie später Theodor Herzl denkt auch Pinsker für diesen Zweck an die Möglichkeit der Gründung eines Finanzinstitutes, an Subskriptionen und an eine Gewinnmaximierung der Grundstücksumsätze, die weiteren Erwerbungen und Infrastrukturmaßnahmen oder der Fluchthilfe für arme Emigranten zugutekommen könnten. Als mögliche Alternativen für die Landgewinnung erörtert Pinsker auf der einen Seite Palästina und Syrien oder auf der anderen Nordamerika, in welchem letzteren Falle aber Eile geboten wäre, da die Bevölkerungsdichte dort sich in einem rasenden Aufschwung befinde. Auch die Bedenken, ob sich denn die genannten Länder bereitfinden würden, eine fremde nationale Einrichtung auf ihrem Gebiet zuzulassen, spricht Pinsker an und meint, dass angesichts der jüdischen Not sich Einsicht bilden werde und dass jene Länder, aus welchen die Juden fortziehen, diesen Exodus der geliebten »Freunde« gerne unterstützen würden. Auf alle Fälle ist nach Pinskers Auffassung keine Zeit mehr zu verlieren, den Akt der Selbsthilfe auf den Weg zu bringen. Allen Bedenken gegenüber beteuert er abschließend: »Ob jedoch dieser Akt unserer Selbsthilfe ein mehr oder weniger gutes Geschäft werden wird oder nicht, kommt wenig in Betracht gegenüber der hohen Bedeutung, die ein solches Unternehmen für die Zukunft unseres unsteten Volkes haben müßte. Denn unsicher und prekär wird unsere Zukunft in Ewigkeit bleiben, so lange in unserer Lage nicht ein radikaler Umschwung eintritt. Nicht die bürgerliche Gleichstellung der Juden in dem einen oder an39
Vgl. Böhm, Zionistische Bewegung, S. 157–167.
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Leon Pinsker
deren Staate vermag diesen Umschwung herbeizuführen, sondern einzig und allein die Autoemanzipation des jüdischen Volkes als Nation, die Gründung eines eigenen jüdischen Kolonistengemeinwesens, welches dereinst unsere ureigene, unveräußerliche Heimat, unser Vaterland werden soll.«40 Es ist das Bewusstsein der Notwendigkeit eines radikalen Umschwungs, eines Bruches mit der bisherigen leidvollen jüdischen Geschichte samt all den sie prägenden Faktoren, welches die in Pinskers Broschüre sichtbar werdende »Traditionsvergessenheit« gegenüber der jüdischen Kultur bewirkte. Nur auf einer völlig neuen Basis, aus einem bislang nicht dagewesenen Neubruch wird sich das jüdische Schicksal wenden lassen, davon war Pinsker zutiefst überzeugt, nicht aus der Wiederbelebung seiner Kultur, welche ja die Trägerin des von Pinsker beklagten Zustandes war. Pinsker steht damit in diametralem Gegensatz zu Achad Haam, wie unten noch deutlich werden wird.
40
Autoemanzipation, S. 28–29, (1917, S. 34).
III. DER SOZIOLOGISCH-STAATSRECHTLICHE ANSATZ THEODOR BINJAMIN SE’EV HERZL (1860–1904) 1.
Biographisches
Nach seiner Rückkehr vom ersten Zionistischen Weltkongress in Basel, vom 29.31. August 1897, schrieb Theodor Herzl am 3. September in sein Tagebuch: »In Basel habe ich den Judenstaat gegründet.«1 Mit diesem selbstbewussten Satz ist eigentlich das Wesentliche dieser Biographie gesagt.2 Am 14. Februar 1896 war Herzls Broschüre Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage in Leipzig und Wien erschienen, nachdem es Herzl nicht gelungen war, den reichen Magnaten Baron Maurice de Hirsch (1831– ) in einem persönlichen Gespräch vom 2. Juni 1895 von seinen Auffassungen zu überzeugen, ebensowenig, in unbeantwortet gebliebenen Schreiben (vom 22.6.1895) an Reichskanzler Bismarck und Albert de Rothschild (Wien). Auch der Plan, den Wiener Rothschilds durch Vermittlung des dortigen Oberrabbiners Moriz Güdemann in einem Vortrag seine Idee einer selbstständigen jüdisch-politischen Aktivität zur Lösung der Judenfrage vorzutragen, war erst gar nicht zustandegekommen. Nach solchen vergeblichen Versuchen, seine neue jüdische Politik mit Hilfe der Mächtigen »von oben« ins Werk zu setzen, ging er den Weg »von unten« und suchte die breiteren Massen zu erreichen. Mit seiner Broschüre hat Herzl großes Aufsehen erregt, neben höhnischer Ablehnung aber auch mächtigen Zuspruch, vor allem aus dem zionistisch gesonnenen Lager, erhalten. Zahlreichen Aufrufen und Unterschriften folgend, machte sich Herzl an die Aufgabe, den ersten zionistischen Weltkongress zusammenzurufen, an dem 197 Delegierte aus vielen Ländern mit größerer jüdischer Bevölkerung teilnahmen. Auf diesem Kongress wurde die Zionistische Weltorganisation gegründet, zu deren Präsidenten Theodor Herzl gewählt wurde. Auch wurde dort das Baseler Programm formuliert, dessen Grundaussage lautete: »Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlichrechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.«
1
Tagebücher II, 3.9. 1897, zit. Nach Böhm, Zionistische Bewegung, S. 184. Nach Böhm auch
2
Von den zahlreichen Biographien seien hier genannt: A. Bein, Theodor Herzl. Biographie,
das Weitere. Wien 1934; J. H. Schoeps, Theodor Herzl 1860–1904, Eine Text-Bild-Monographie, Wien 1995, S. 176–181; ders., Theodor Herzl. Wegbereiter des politischen Zionismus, Göttingen 1975; weitere bei Schoeps in der Text-Bild-Monographie.
Theodor Herzl
136
Dieser Grundsatzerklärung wurden folgende Ausführungsbestimmungen beigefügt: »Zur Erreichung dieses Zieles nimmt der Kongreß folgende Mittel in Aussicht: 1. Die zweckdienliche Besiedelung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden. 2. Die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen. 3. Die Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewußtseins. 4.Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.«3 Herzls Hauptbemühungen auf unzähligen kräfteraubenden Reisen bis zu seinem frühen Tod am 3. Juli 1904 galten von da an in erster Linie dem vierten Punkt, dessen Bedeutung unten im Abschnitt zur Jewish Company ersichtlich werden wird, aber auch in der Zusammenführung der widerstreitenden Parteien der jährlich tagenden Zionistischen Kongresse. Über deren letzten Zwist, begonnen beim sechsten Kongress von 1903, nämlich das Angebot der britischen Regierung, Uganda als Territorium für einen Judenstaat anzunehmen, dem Herzl, wider heftigsten Protest zuneigte, ist Herzl gestorben.4 Alles Weitere kann schnell berichtet werden. Am 2. Mai 1860 im ungarischen Pest als Sohn eines erfolgreichen Bankiers geboren, studierte Herzl ab 1878 Rechtswissenschaft in Wien, die er im Mai 1884 mit der Promotion abschloss. Schon als Schüler literarisch tätig, begleitete er seine juristische Berufstätigkeit stets mit nur teilweise erfolggekrönter Theaterschriftstellerei5 und dem Verfassen von Feuilletons für verschiedene Zeitungen. 1891 wurde er der Pariser Korrespondent der angesehenen Neuen Freien Presse in Wien, wo er neben Politik und Kultur vor allem mit dem erstarkenden Antisemitismus konfrontiert wurde, der in dem Prozess gegen den jüdisch-französischen Offizier Alfred Dreyfus allenfalls einen gewissen Höhepunkt erreichte und auf Herzls ohnehin schon lange sensibilisierte Wahrnehmung des erstarkenden gesamteuropäischen Judenhasses traf. Gemäß seinem letzten Willen, wurden die Gebeine des Vaters des »Judenstaates«, Theodor Herzl, nach Gründung des jüdischen Staates im August 1949 von Wien nach Jerusalem umgebettet.
3
Zit. Nach Böhm, Zionistische Bewegung, S. 181–182.
4
A. Bein, Theodor Herzl, S. 619–685; Böhm, Zionistische Bewegung, S. 254–266.
5
Alex Bein zählt 16 publizierte Schauspiele Herzls auf, 5 Sammlungen von Feuilletons, Erzählungen und Skizzen sowie fünf Sammelbände und Einzelschriften zum Zionismus. Bein, Herzl, S. 702–703.
Zionismus
2.
137
Der Judenstaat
Der vollständige Titel dieses epochemachenden Büchleins von Theodor Herzl lautete: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Von Theodor Herzl. Doctor der Rechte, Leipzig-Wien 1896. Es ist wert auf diesen vollständigen Titel zu verweisen, der in späteren Ausgaben oft nur verkürzt wiedergegeben ist, weil Herzl mit seinem Untertitel seine Schrift in einer Weise charakterisiert, die meist unbeachtet bleibt.6 Diese Schrift Herzls, die im Vergleich zu den übrigen hier vorgestellten zionistischen Texten zunächst einen sehr spröden und wenig inspirierenden Eindruck macht und an den sonst so viel erörterten Fragen der Kultur dieses jüdischen Projektes wenig bis kein Interesse zeigt, ist aber doch wirklich der »moderne« Lösungsvorschlag für die »Judenfrage« schlechthin. Etwas präsenter ist das jüdisch kulturelle Element in Herzls 1902 nachgeliefertem Roman Altneuland, 7 in dem das neue Leben im Staat der Juden im »Gelobten Land« beschrieben wird. Hier gibt es mancherlei Elemente einer jüdisch-bürgerlichen Religiosität, wie die »Passah«-Feier, an deren Höhepunkt allerdings die Erzählung der Entstehung des neuen Staates steht.8 Auch der wiedererbaute Tempel in Jerusalem glänzt da als Symbol von »Freiheit und Gemeingefühl«, das die Zurückgekehrten endlich wieder gewonnen haben.9 Insgesamt tritt aber auch in Altneuland das Moderne, die Technik und Arbeitsorganisation der neuen Gesellschaft, in den Vordergrund, wohingegen die Frage der Landessprache geflissentlich im Unklaren bleibt. Doch hier sollte die Modernität des Herzlʼschen Lösungsvorschlages im Vordergrund stehen. Herzl hat eine klar definierte Problemstellung und schlägt dafür eine ebenso eindeutige Lösung vor. Das zu lösende Problem sieht er in der »Judennot«, das heißt der nimmer enden wollenden Verfolgung und Ausgrenzung der Juden, und dies trotz Aufklärung und Emanzipation. Die Lösung sieht Herzl in einer staatlichen Souveränität der Juden. Zwar betrachtet Herzl die Juden gleichfalls als eine Nation, aber die nur nationale Lösung, die ja, wie andere Autoren, unter ihnen Moses Hess und Achad Haam, vorführten, mit einer ganzen Fülle von Seitenfragestellungen belastet ist – das heißt, was denn eine Nation sei 6
Theodor Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Von Theodor Herzl. Doctor der Rechte, Leipzig-Wien 1896. Diese Erstausgabe ist im Digitalisierungsprojekt der Universitäts-Bibliothek, Frankfurt a.M. als PDF-Datei im Internet abrufbar. Ich gebe hier die Referenzen zu dieser und zu der 1975 in Jerusalem erschienenen 13. Auflage; zum Werk s. Th. Rahe, Frühzionismus und Judentum. Untersuchungen zur Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897, Frankfurt a.M. et al. 1988, S. 296–328.
7
Theodor Herzl, Altneuland. Roman., Berlin-Wien 1902. Einen Neudruck »on demand« bietet
8
Altneuland, 4. Buch.
9
Altneuland, S. 291, Neudruck ha-Galil, S. 222.
ha.galil.com an.
138
Theodor Herzl
und ihr Wesen ausmache, und ob die Juden unter dieser Kategorie zu rubrizieren seien – diese Lösung erscheint Herzl in ihrer Komplexität offenbar wenig geeignet, den gordischen Knoten der Judennot durchzuschlagen. Aber auch die rein territoriale Lösung von Leon Pinsker, der ja meist mit Herzl als »Territorialist« zusammengestellt wird, erscheint Herzl nicht genügend, denn sie sieht zunächst nur eine räumliche Trennung von Juden und Nichtjuden vor. Ebensowenig konnte Herzl die infiltrierende Kolonisation der Ḥoveve Zion akzeptieren, die ja die Abhängigkeit von anderen Mächten nicht verhindert, sondern eher noch verstärkte.10 Die religiös-messianischen Konzeptionen kommen wegen ihrer Befangenheit im alten religiösen Denkmuster für ihn ohnehin nicht in Frage. Das einzige, was Herzl eine Lösung zu versprechen scheint, ist die staatliche Souveränität des jüdischen Volkes, der jüdischen Nation. Dafür bedarf es nach seiner Auffassung einer politischen Lösung mit weltpolitischen Garantien: »Ich halte die Judenfrage weder für eine soziale, noch für eine religiöse, wenn sie sich auch noch so und anders färbt. Sie ist eine nationale Frage, und um sie zu lösen, müssen wir sie vor allem zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird. Wir sind ein Volk, ein Volk.«11 »Man gebe uns die Souveränität eines für unsere gerechten Volksbedürfnisse genügenden Stückes Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen.«12 »Die Auswanderung hat folglich nur dann einen Sinn, wenn ihre Grundlage unsere gesicherte Souveränität ist.«13 Herzl glaubt demnach, dass für all seine Vorschläge ein den Juden »völkerrechtlich zugesichertes Land«14 vonnöten ist, international gültige »Bürgschaften«.15 Doch auch dies alleine genügt noch nicht, es muss ein jüdischer Staat sein, dies ist für Herzl eine zutiefst anthropologisch-politische Grundauffassung, wie im Folgenden noch deutlich werden soll. Was Herzl vorträgt, er sagt dies an mehreren Stellen, ist eine »Judenstaats-Idee«16 und er will damit zu einer »staatsbildenden Bewegung« aufrufen.17
10
Judenstaat, Jerusalem, S. 7.15, Leipzig, S. 5. 15.
11
Judenstaat, Jerusalem, S. 11, Leipzig, S. 11.
12
Judenstaat, Jerusalem, S. 25, Leipzig, S. 27.
13
Judenstaat, Jerusalem, S. 27, Leipzig, S. 28.
14
Judenstaat, Jerusalem, S. 32, Leipzig, S. 35.
15
Judenstaat, Jerusalem, S. 17, Leipzig, S. 16.
16
Judenstaat, Jerusalem, S. 15.16, Leipzig, S. 15.
17
Judenstaat, Jerusalem, S. 14, Leipzig, S. 14.
Zionismus
3.
139
Judennot und Judenfrage
Der Ausgangspunkt für Herzls Initiative ist einzig die verbreitete und auch von ihm selbst erfahrene »Judennot«. Gleich zu Beginn seines Kapitels »Die Judenfrage« benennt Herzl diesen Ausgangspunkt: »Die Notlage der Juden wird niemand leugnen. In allen Ländern, wo sie in merklicher Zahl leben, werden sie mehr oder weniger verfolgt. Die Gleichberechtigung ist zu ihren Ungunsten fast überall tatsächlich aufgehoben, wenn sie im Gesetze auch existiert. Schon die mittelhohen Stellen im Heer, in öffentlichen und privaten Aemtern sind ihnen unzugänglich. Man versucht sie aus dem Geschäfteverkehr hinauszudrängen: ›Kauft nicht bei Juden!‹ Die Angriffe in Parlamenten, Versammlungen, Presse, auf Kirchenkanzeln, auf der Straße, auf Reisen – Ausschließung aus gewissen Hotels – und selbst an Unterhaltungsorten mehren sie sich von Tag zu Tag. Die Verfolgungen haben verschiedenen Charakter nach Ländern und Gesellschaftskreisen. In Rußland werden Judendörfer gebrandschatzt, in Rumänien erschlägt man ein paar Menschen, in Deutschland prügelt man sie gelegentlich durch, in Oesterreich terrorisieren die Antisemiten das ganze öffentliche Leben, in Algerien treten Wanderhetzprediger auf, in Paris knöpft sich die sogenannte bessere Gesellschaft zu, die Cercles schließen sich gegen die Juden ab. Die Nuancen sind zahllos.«18 Herzl lässt keinen Zweifel daran, dass nach seiner Erfahrung der Antisemitismus viele Gesichter hat und darum allgegenwärtig ist. Er erkennt, dass weder die formale Gleichberechtigung, Emanzipation und Assimilation an dieser Diagnose etwas ändern werden. Der Antisemitismus herrscht in allen Gesellschaftsschichten, seien sie hoch oder niedrig. Der Unterschied der Stände wirkt sich nur auf den Unterschied der Methoden aus, in denen der Antisemitismus sich äußert. »Tatsache ist, daß es überall auf dasselbe hinausgeht und es lässt sich in dem klassischen Berliner Rufe zusammenfassen: Juden raus!«19 Eine wichtige Beobachtung ist für Herzl, wie schon für Pinsker,20 dass der Antisemitismus insbesondere da besteht, wo die Juden in merklicher Anzahl präsent sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird der Antisemitismus mit der wachsenden Judenimmigration eingeschleppt.21 Dies ist so, glaubt Herzl, weil sich der neue Antisemitismus vor allem an wirtschaftlichen Faktoren kristallisiert:
18
Judenstaat, Jerusalem, S. 19, Leipzig, S. 21.
19
Judenstaat, Jerusalem, S. 20, Leipzig, S. 22.
20
S. o. Jüdisches Denken, Bd. 4, II, 5.
21
Judenstaat, Jerusalem, S. 11, Leipzig, S. 11.
140
Theodor Herzl
»Wir sprechen jetzt nicht mehr von den Gemütsgründen, alten Vorurteilen und Borniertheiten, sondern von den politischen und wirtschaftlichen Gründen. Unser heutiger Antisemitismus darf nicht mit dem religiösen Judenhasse früherer Zeiten verwechselt werden, wenn der Judenhaß auch in den einzelnen Ländern noch jetzt eine konfessionelle Färbung hat. Der große Zug der judenfeindlichen Bewegung ist heute ein anderer. In den Hauptländern des Antisemitismus ist dieser eine Folge der Juden-Emanzipation. […] Wir hatten uns im Ghetto merkwürdigerweise zu einem Mittelstandsvolk entwickelt und kamen als eine fürchterliche Konkurrenz für den Mittelstand heraus. So standen wir nach der Emanzipation plötzlich im Ringe der Bourgeoisie und da haben wir einen doppelten Druck auszuhalten […]«22 Es ist die nun aufstrebende jüdische Mittelschicht, die reiche mittlere Intelligenz, welche der christlichen Bevölkerung als lästige Konkurrenz erscheint, die sie deshalb in ihrem Weg nach oben verhindert und ins Proletariat – zu den Sozialisten – nach unten abdrängt. Herzl warnt nachdrücklich vor der Illusion, dass sich bessernde Umstände ein Verschwinden des Antisemitismus bewirkten. »Man wird uns nicht in Ruhe lassen. Nach kurzen Perioden der Duldsamkeit erwacht immer und immer wieder die Feindseligkeit gegen uns. Unser Wohlergehen scheint etwas Aufreizendes zu enthalten, weil die Welt seit vielen Jahrhunderten gewohnt war, in uns die Verächtlichsten unter den Armen zu sehen.«23 Nur in einem Punkt hat sich auch Herzl geirrt, wenn er glaubte, dass mit der Errichtung des Judenstaates oder schon mit der Auswanderung der Juden in diesen Staat das »Ende des Antisemitismus gekommen sei.«24 Die von ihm sarkastisch gepriesene Vielgesichtigkeit und Wandelbarkeit des Antisemitismus hat sich in unseren Tagen in die Gestalt des Hasses auf den Judenstaat verwandelt, in die verharmlosende Formel des Antizionismus und die weltweite Kritikobsession an der Politik dieses Staates. In Herzls Augen ist die nimmer enden wollende Judennot auch der Faktor, welcher die immer wieder auseinanderstrebenden Juden an den alten Stamm zurückpresst. »Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unsern Willen dazu, wie das immer in der Geschichte war. In der Not stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft.«25 Aber Herzl sieht nicht nur den äußeren Druck, der die Juden als Volk zusammenhält. Er erkennt auch den eigenen inneren Willen dieses Volkes, Volk zu bleiben. Er sieht in ihm eine Volks22
Judenstaat, Jerusalem, S. 23, Leipzig, S. 24–25.
23
Judenstaat, Jerusalem, S. 24, Leipzig, S. 26.
24
Judenstaat, Jerusalem, S. 17, u. vgl. S. 79, Leipzig, S. 16, u. vgl. S. 85.
25
Judenstaat, Jerusalem, S. 25, Leipzig, S. 26.
Zionismus
141
persönlichkeit und diese ist in den Augen Herzls »geschichtlich zu berühmt und trotz aller Erniedrigungen zu hoch, als daß ihr der Untergang zu wünschen wäre.«26 Aber dennoch, die Kraft, welche die Juden aus ihrer Resignation und Lethargie angesichts ihrer Situation vorantreiben wird, ist nach Herzl vor allem »Die Judennot«. Sie wird gleich dem Dampf im Kochtopf und in der Dampfmaschine die zu begründende Staats-Maschine vorwärts treiben.27 Es ist die Judennot, die Herzl auch zu der juristischen Formel der negotiorum gestio, der Geschäftsführung ohne Auftrag, greifen lassen wird. Mit ihr versucht er staatsrechtlich zu begründen, wie einem leidenden Volk, das keinen schützenden Staat hat, ein solcher zu beschaffen ist, wozu unten noch das Nötige gesagt werden wird.
4.
Die wirtschaftlichen und politischen Schritte zur Lösung
4.1
Die politischen Schritte – die Society of Jews
Aus didaktisch-propagandistischen Gründen stellt Herzl in seinem Büchlein zunächst den geplanten wirtschaftlichen Akteur, die Jewish Company dar, wiewohl er selbst betont, dass zunächst der politische Träger, die Society of Jews entstehen müsse.28 Hier, wo es darum geht, die Grundlagen des Herzlʼschen Denkens sichtbar zu machen, erscheint es geraten, die Reihenfolge wieder umzukehren, weil Herzl gerade in dem Kapitel zur Society of Jews die anthropologischen und staatsrechtliche Auffassungen erläutert, welche seinen Vorschlag zur Lösung der »Judennot« tragen. Da das Ziel des ganzen vorgeschlagenen Unternehmens sein soll, einen eigenen jüdischen Staat zu gründen, bedarf es nach Herzls Auffassung einer »völkerrechtlich« anerkannten jüdischen Vertretung, die ein politisches Mandat besitzt, die Staatsgründung auf dem vorgesehenen Territorium zu betreiben. Diese jüdische Regierung vor der eigentlichen Staatsgründung soll nach Herzl die Society of Jews sein: »Die Juden, welche sich zu unserer Staatsidee bekennen, sammeln sich um die Society of Jews. Diese erhält dadurch den Regierungen gegenüber die Autorität, im Namen der Juden zu sprechen und verhandeln zu dürfen. Die Society wird, um es in einer völkerrechtlichen Analogie zu sagen, als staatbildende Macht anerkannt. Und damit wäre der Staat auch schon gebildet.«29
26
Judenstaat, Jerusalem, S. 24. 14, Leipzig, S. 26. 14.
27
Judenstaat, Jerusalem, S. 6, Leipzig, S. 4.
28
Judenstaat, Jerusalem, S. 18, Leipzig, S. 17.
29
Judenstaat, Jerusalem, S. 27, Leipzig, S. 28.
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Theodor Herzl
Man mag sich die Frage stellen, weshalb Herzl in seinen Vorschlägen zur Lösung der Judenfrage von vorneherein das Maximum, nämlich die Errichtung eines souveränen Judenstaates, fordert und sich nicht mit den bescheideneren Konzepten etwa der Ḥoveve Zion, Leon Pinskers oder gar Achad Haams begnügt, eine Haltung die ihm seit der Versammlung des ersten Zionistenkongresses in Basel im Jahre 1897 zahlreiche Gegner bescherte. Es ist der Jurist Herzl und seine im Rechtsdenken begründete anthropologische Auffassung, welche ihn zu dieser Auffassung führten, wie sogleich gezeigt werden soll.
4.2
Die Theorie vom Rechtsgrund des Staates
4.2.1 Volk oder Land als Staatsgrundlage? Herzl bemerkt sogleich zu Beginn des entscheidenden fünften Kapitels Society of Jews und Judenstaat: »Diese Schrift ist nicht für Fachjuristen berechnet; darum kann ich meine Theorie vom Rechtsgrunde des Staates auch nur flüchtig andeuten, wie vieles andere. Dennoch muß ich einiges Gewicht auf meine neue Theorie legen, die sich wohl selbst in einer rechtsgelehrten Diskussion wird halten lassen.«30 Man wird die Frage stellen müssen, für wen denn diese Schrift berechnet sei. Auf alle Fälle nicht nur für Gebildete Juden und Christen, wie Herzl selbst klar macht.31 Seine Verwendung juristischer Gedankengänge, die einer rechtsgelehrten Diskussion standhalten sollten, ist gewiss nicht zuletzt auf jene christlichen Leser berechnet, also Politiker und Machthaber, die Herzl mit seinen fachjuristischen Erörterungen zu gewinnen suchte. Herzl sagt dies sogar einmal unverblümt: »Ich denke mir, daß die Regierungen diesem Entwurfe freiwillig oder unter dem Drucke ihrer Antisemiten einige Aufmerksamkeit schenken werden, vielleicht wird man sogar da und dort von Anfang an dem Plane mit Sympathie entgegenkommen und es der Society of Jews auch zeigen.«32 Bei diesen seinen Darlegungen griff Herzl auf die in seinen Tagen geläufigen rechtswissenschaftlichen Monographien zurück, die sich wenigstens für einen Fall genau bestimmen lassen, was zum Verständnis von Herzls Anliegen hilfreich ist. Das Buch, das den Ausgang von Herzls juristischen Überlegungen bildet, ist das 1865 in Leipzig erschienene System des deutschen Staatsrechts von Dr. Hermann Schulze, ord. Professor des Staatsrechts an der Universität zu Breslau.33 Dies ist deshalb erwiesen, weil Herzl dieses Werk, allerdings ohne es zu nennen, einmal wörtlich anführt, ein weiteres Mal paraphrastisch zitierend auf30
Judenstaat, Jerusalem, S. 63, Leipzig, S. 67.
31
Judenstaat, Jerusalem, S. 18. 7, Leipzig, S. 17. 5.
32
Judenstaat, Jerusalem, S. 74, Leipzig, S. 78.
33
H. Schulze, System des deutschen Staatsrechts, Leipzig 1865.
Zionismus
143
nimmt und schließlich in seiner Argumentation darauf Bezug nimmt, was im Folgenden noch eigens aufgezeigt werden wird. Aber nicht die Tatsache der Heranziehung von Schulzes Staatsrecht ist das Entscheidende, sondern das Anliegen Herzls, das dabei sichtbar wird. Und dieses ist offenbar die von ihm selbst benannte »Theorie vom Rechtsgrunde des Staates«, nämlich die von Herzl aus Schulzes Buch übernommene »Theorie der Vernunftnotwendigkeit« des Staates. Zu ihr sagt Schulze: »Diese Theorie in ihrer Einfachheit und Klarheit kann als die gegenwärtig herrschende angesehen werden; in verschiedenen Modificationen wird sie von den bedeutendsten Philosophen, Staatsgelehrten und Juristen ausgeführt, während die Vertragstheorie mehr und mehr an Anhängern verliert.«34 Und Herzl eröffnet seine Erörterung zu dieser Frage mit den Worten: »Rousseaus heute schon veraltete Auffassung wollte dem Staat einen Gesellschaftsvertrag zugrunde legen,«35 um anschließend Argumente gegen die Gesellschaftsvertragstheorie vorzutragen. Schließlich resümiert Herzl, angelehnt an Schulze: »In der Wissenschaft vom Staate herrscht gegenwärtig die Theorie der Vernunftnotwendigkeit. Diese Theorie reicht aus, um die Entstehung des Staates zu rechtfertigen […] Soweit es sich um die Entstehung des Judenstaates handelt, befinde ich mich mit dieser Schrift vollkommen auf dem Boden der Vernunftnotwendigkeits-Theorie.«36 Um diese Auffassung Herzls zu verstehen, ist es tunlich, Schulzes Theorie zunächst näher zu betrachten. Zu dieser Theorie sagt Schulze: »Man kann den Grundgedanken dieser Theorie kurz dahin zusammenfassen: der Staat ist an sich nothwendig und vernünftig, dies ist sein Grund und seine Rechtfertigung. Weil nach dieser Theorie das Bewusstsein dieser Nothwendigkeit hinreicht zur Rechtfertigung des Staates und der Staatsgewalt, nennen wir sie die Theorie der Vernunftnothwendigkeit, weil sie von der Idee und dem Zwecke des Staates ausgeht, heisst sie die ideale, weil sie besonders auf die vernünftige Natur des Menschen Rücksicht nimmt, die rationale Theorie. Während allen anderen Theorien einzelne historische Momente zu Grunde liegen, […] stützt sich diese Theorie auf die volle vernünftige Totalität des menschlichen Daseins.«37 Schulze erklärt weiterhin, dass diese Staatsgrund-Theorie »als eine ursprünglich gegebene, menschliche Ordnung der Dinge« anzusehen ist, die »von der Totalität 34
Schulze, Staatsrecht, S. 153.
35
Judenstaat, Jerusalem, S. 63, Leipzig, S. 67.
36
Judenstaat, Jerusalem, S. 64, Leipzig, S. 68.
37
Schulze, Staatsrecht, S. 152–153.
Theodor Herzl
144
des geistigen Wesens der Menschheit« ausgeht, »von dem zwingenden Gebote der Vernunft, denn sie betrachtet den Staat als »einen nothwendigen, ächt menschlichen Zustand«.38 Und weiter sagt Schulze: »Die Begründung der Staatsordnung ist nicht nur ein Naturbedürfniss, sondern eine ethische Pflicht, weil die Menschen ausserhalb des Staates ihre Bestimmung nicht erfüllen und das Gesetz der Gerechtigkeit nicht zur Herrschaft bringen können. Damit ist vollständig dargethan, dass es überhaupt Staaten geben muss und dass jeder Einzelne sich einer staatlichen Ordnung unterwerfen soll.«39 Angesichts einer solchen Auffassung vom Staat, der notwendig zur Erfüllung des menschlichen Daseins hinzugehört, ohne den menschliches Leben und Gerechtigkeit nicht möglich erscheinen, wird es verständlich, weshalb Theodor Herzl, der diesen von Schulze vorgetragenen Rechtsgrund des Staates offensichtlich teilte, nicht unterhalb der Forderung nach einem Judenstaat bleiben konnte, wenn er eine dauerhafte und menschlich verheißungsvolle Lösung der Judenfrage anstrebte. Das heißt, nur in einem rechtsförmigen jüdischen Staat wird sich jüdisches Leben in all seinen Möglichkeiten entwickeln können. Aber trotz Herzls zuvor angeführter Übereinstimmung seiner Auffassungen mit jenen der Vernunftnotwendigkeits-Theorie, setzt er ihr gegenüber einen neuen Akzent, der mit der spezifischen außergewöhnlichen Situation des jüdischen Volkes zu tun hat. Die Besonderheit des geplanten Judenstaates besteht laut Herzl weniger darin, dass die Juden diesen Staat erst noch gründen wollen – Staatsneugründungen seien in Herzls Gegenwart ja ein üblicher Vorgang –, sondern sie bestehe vielmehr darin, das diesem erstrebten Staat noch ein Territorium fehle: »Daß neue Staaten noch immer entstehen können, wissen wir ja, sehen wir ja. Kolonien fallen vom Mutterlande ab, Vasallen reißen sich vom Suzerän los, neuerschlossene Territorien werden gleich als freie Staaten gegründet. Der Judenstaat ist allerdings als eine ganz eigentümliche Neubildung auf noch unbestimmtem Territorium gedacht.«40 Es ist diese vorläufige Land-Losigkeit des zu begründenden Judenstaates, die Herzl mit einem Teil von Schulzes Konzeption in Konflikt bringt, denn Schulze ist bei seiner »Vernunftnotwendigkeits-Theorie« allemale von einem vorhande38
Schulze, Staatsrecht, S. 154.
39
Schulze, Staatsrecht, S. 154.
40
Judenstaat, Jerusalem, S. 63–64, Leipzig, S. 67–68.
Zionismus
145
nen Territorium ausgegangen, auf dem das Volk lebt, das einen Staat gründet. Darum sagt Schulze: »Das Volk ist die persönliche, das Land die dingliche Grundlage des Staates. Ohne festen Grund und Boden ist keine Einheit und Stetigkeit des Lebens möglich. Es kann wandernde Völker, aber keine wandernden Staaten geben.«41 Gegenüber dieser Auffassung Schulzes betont Herzl: »Aber nicht die Länderstrecken sind der Staat, sondern die durch eine Souveränität zusammengefassten Menschen sind es.«42 Und gleich danach nimmt Herzl Schulzes Formulierung auf, allerdings mit einer sofortigen Interpretation im Sinne der Sondersituation des jüdischen Volkes. Herzl sagt hier: »Das Volk ist die persönliche, das Land die dingliche Grundlage des Staates. Und von diesen beiden Grundlagen ist die persönliche die wichtigere. Es gibt zum Beispiel eine Souveränität ohne dingliche Grundlage, und sie ist sogar die geachtetste der Erde: es ist die Souveränität des Papstes.«43 Herzl ist gegen Schulze sichtlich bemüht, die territoriale Seite der staatlichen Grundlage in ihrer Bedeutung gegenüber der persönlichen zurückzudrängen, weil eben erstere für das jüdische Volk noch nicht gesichert oder gar geklärt ist. Für ihn sind die Personen als Grundlage für eine Staatsgründung wichtiger als das Land. Damit bekundet Herzl, dass es zur Erfüllung eines menschenwürdigen Lebens für die Juden nötig ist, einen Staat zu gründen, auch wenn dafür die Landfrage noch nicht geklärt ist. Damit beugt Herzl dem naheliegenden Einspruch vor, dass es sinnlos sei, die Gründung eines Judenstaates zu fordern, wo es doch kein Land dieses Volkes gebe.
4.2.2 Ein nicht greifbares Volk als Staatsgrundlage? Mit der Vorrangstellung des Volkes vor dem Land als Grundlage eines Staates handelt sich Herzl natürlich sogleich die nächste Gegenrede ein, nämlich dass dieses Volk ja über die ganze Welt verstreut sei, »ein wanderndes Volk« ohne sichtbare Kohärenz und ohne berufene Vertretung sei. Diesem Dilemma sucht Herzl dadurch zu entkommen, dass er der Meinung Schulzes, die Vernunftnot-
41
Schulze, Staatsrecht, S. 159.
42
Judenstaat, Jerusalem, S. 64, Leipzig, S. 68.
43
Judenstaat, Jerusalem, S. 64, Leipzig, S. 68.
146
Theodor Herzl
wendigkeits-Theorie sei ein hinreichender Rechtsgrund für einen Staat, teilweise widerspricht oder ihr zumindest einen Mangel zuschreibt, indem er behauptet, diese Theorie weiche der Bestimmung eines Rechtsgrundes letztlich doch aus. Um nun seinerseits diesem Mangel der Vernunftnotwendigkeits-Theorie aufzuhelfen, greift Herzl zu dem in der Rechtsliteratur seiner Tage viel erörterten altrömischen Rechtskasus, nämlich die oben erwähnte negotiorum gestio, das heißt der »Geschäftsführung ohne Auftrag«. Eine solche unbeauftragte GeschäftsFührung findet dann statt, wenn ein Mensch die Güter eines anderen (des Besitzers, lat. Dominus) in Gefahr sieht und der betroffene Besitzer oder Herr dieser Güter handlungsunfähig ist. Der unbeauftragte Gestor (Akteur) trifft ungefragt Vorkehrungen, um die Angelegenheiten des handlungsunfähigen Betroffenen zu sichern. Die zugehörige Rechtsliteratur erörtert dann breit, inwieweit der Gestor für einen ihm eventuell durch sein Tun entstandener Schaden vom Besitzer entschädigt werden muss, oder inwieweit der unbeauftragt Handelnde selbst verpflichtet ist, Schaden zu ersetzen, der dem Besitzer durch sein Handeln entstanden ist. Herzl definiert die negotiorum gestio, zum Teil in Anlehnung an die Formulierungen des Pandekten-Lehrbuches von Ludwig Arndts,44 so: »Wenn das Gut eines Behinderten in Gefahr ist, darf jeder hinzutreten und es retten. Das ist der Gestor, der Führer fremder Geschäfte. Er hat keinen Auftrag, das heißt keinen menschlichen Auftrag. Sein Auftrag ist ihm von einer höheren Notwendigkeit erteilt. Diese höhere Notwendigkeit kann für den Staat auf verschiedene Weise formuliert werden und wird auch auf den ein-
44
Ludwig Arndts, Lehrbuch der Pandekten, München 1868, §§ 297–299, S. 480–483, S. 480: »Wenn Jemand ohne Auftrag oder ohne ein gültiges Mandat, sey es auch in irrthümlicher Voraussetzung eines solchen, Geschäfte eines anderen besorgt, so ist er, als negotiorum gestor, dem letzten, d.i. dem dominus negotiorum, quasi ex contractu, analog dem Mandatar, verpflichtet und findet dieserhalb actio negotiorum gestorum directa gegen denselben statt. Er haftet für jede Fahrlässigkeit, auch wegen verschuldeter Nichtvollendung der einmal übernommenen Geschäfte und Versäumung dessen, was damit in wesentlichem Zusammenhange steht, selbst für zufälligen Nachtheil, sofern er etwas Neues gegen diese Weise des Geschäftsherrn begonnen hat, nur für grobes Verschulden dagegen, wenn er sich der Güter des Anderen unter solchen Umständen angenommen hat, daß sie ohne seine Dazwischenkunft für diesen verloren gewesen wären.«; u. vgl. noch F. L. von Keller, Pandekten. Vorlesungen, hrsg. V. E. Friedberg, Leipzig 1861, §§ 318–319, S. 596–601, S. 596: »Negotiorum gestio ist die Besorgung fremder Angelegenheiten ohne Auftrag und Vollmacht, wie solche durch ein Mandat oder Amt gegeben sein können. Was dort als Pflicht erscheint, geschieht hier aus freiem Willen des Handelnden, und die Befugniss, welche aus Amt und Auftrag entsteht, muss hier dem Interesse und Nutzen dessen, welchen das Geschäft angeht, ihre Begründung finden.«; H. Dankwardt, Die Negotiorum Gestio, Rostock 1855.
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147
zelnen Kulturstufen verschiedenartig formuliert. Gerichtet ist die Gestio auf das Wohl des Dominus, des Volkes, zu dem ja auch der Gestor selbst gehört. Der Gestor verwaltet ein Gut, dessen Miteigentümer er ist. Aus seinem Miteigentum schöpft er wohl die Kenntnis des Notstandes, der das Eingreifen, die Führung in Krieg und Frieden erfordert; aber keineswegs gibt er sich als Miteigentümer selbst einen gültigen Auftrag. Er kann die Zustimmung der unzähligen Miteigentümer im günstigsten Falle nur vermuten. Der Staat entsteht durch den Daseinskampf eines Volkes. In diesem Kampfe ist es nicht möglich, erst auf umständliche Weise einen ordentlichen Auftrag einzuholen. Ja es würde jede Unternehmung für die Gesamtheit von vorneherein scheitern, wenn man zuvor einen regelrechten Mehrheitsbeschluss erzielen wollte. […] Darum setzt der Gestor einfach den Hut auf und geht voran. Der Staatsgestor ist genügend legitimiert, wenn die allgemeine Sache in Gefahr und der Dominus durch Willensunfähigkeit oder auf andere Art verhindert ist, sich selbst zu helfen. Aber durch sein Eingreifen wird der Gestor dem Dominus ähnlich wie aus einem Vertrage, quasi ex contractu, verpflichtet. Das ist das vorbestandene oder richtiger: mitentstehende Rechtsverhältnis im Staate. Der Gestor muß dann für jede Fahrlässigkeit haften, auch wegen verschuldeter Nichtvollendung der einmal übernommenen Geschäfte und Versäumung dessen, was damit in wesentlichem Zusammenhange steht usw.«45 Herz überträgt hierbei, wie er selbst betont, eine Rechtsfigur aus dem privaten Sachenrecht auf den Staat: »Ich will die negotiorum gestio hier nicht weiter ausführen und auf den Staat übertragen. […] Nur das eine sei [wörtlich aus Arndts]46 noch angeführt: ›Durch Genehmigung wird die Geschäftsführung für den Geschäftsherrn in gleicher Weise wirksam, als wenn sie ursprünglich seinem Auftrag gemäß geschehen wäre‹«.47 Mit dieser Übertragung der gestio hat Herzl dem Staat einen Rechtsgrund hinzugefügt, den er in der Vernunftnotwendigkeits-Theorie vermisst hatte und der natürlich gerade für sein Anliegen vonnöten war, nämlich einem Volk ohne legitimierte politische Vertretung eine rechtsförmige Staatsgründung zu ermöglichen. Und dass eine solche vonnöten sei, konnte er aus der oben schon angezeigten Auffassung ableiten, dass menschliches Leben per definitionem recht eigentlich nur in einem Staat möglich sei. Das Resümee Herzls lautet demnach folgerichtig: 45
Judenstaat, Jerusalem, S. 64–65, Leipzig, S. 68–69.
46
Arndts, Lehrbuch, S. 481, § 298.
47
Judenstaat, Jerusalem, S. 66, Leipzig, S. 69.
Theodor Herzl
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»Das Judenvolk ist gegenwärtig durch die Diaspora verhindert, seine politischen Geschäfte selbst zu führen. Dabei ist es auf verschiedenen Punkten in schwerer oder leichterer Bedrängnis. Es braucht vor allem einen Gestor. Dieser Gestor darf nun freilich nicht ein einzelnes Individuum sein. Ein solches wäre lächerlich oder – weil es auf seinen eigenen Vorteil auszugehen schiene – verächtlich. Der Gestor der Juden muß in jedem Sinne des Wortes eine moralische [das heißt: juristische] Person sein. Und das ist die Society of Jews.«48 Um von der juristischen Diktion für die Ohren der juristisch gebildeten Juden und Nichtjuden wieder auf eine innerjüdisch traditionelle Redeweise umzuschwenken lässt Herzl den Satz folgen: »Diese Society of Jews ist der neue Moses der Juden.« Nach innen, so Herzl, muss dieser neue Moses um Anerkennung ringen dann die sozialen und organisatorischen Keimzellen eines künftigen Staates schaffen und nach außen bestrebt sein »als staatsbildende Macht anerkannt zu werden.«49
4.2.3 Die wirtschaftlichen Schritte – die Jewish Company Herzl hat für seine Forderung der Neugründung eines Judenstaates auf einem erst noch zu gewinnenden Territorium auch schon das in der Neuzeit von vielen Staaten, insbesondere England, zum Zwecke der Erschließung neu gewonnener Ländereien beziehungsweise Kolonien verwendete Instrument parat, nämlich das einer »Chartered Company«.50 Die Chartered Company ist nachweisbar seit dem ausgehenden 13. Jh. ein Instrument der englischen Politik.51 Sie hat im Prinzip die Form einer Aktiengesellschaft, die aber dank eines Charters (Charta, Papier) durch die Krone oder das Parlament einen semi-staatlichen Status erhält. Die Regierungen beauftragten solche zunächst privatrechtlich organisierten und Finanzmittel bereitstellenden Companies mit Aufgaben, die man gemeinhin als Staatsaufgaben betrachtet, zum Beispiel im Handel, aber auch zur Erstellung von Infrastrukturen wie Elektrifizierung oder Gasversorgung von Städten, Eisenbahnlinien, Schifffahrtslinien oder Bergwerksbetreibergesellschaften. Die Gewinne, die sich aus solchen Geschäftsunternehmen ergaben, wurden sodann zwi48
Judenstaat, Jerusalem, S. 66, Leipzig, S. 69.
49
Judenstaat, Jerusalem, S. 66–67, Leipzig, S. 70–71.
50
Judenstaat, Jerusalem, S. 30, Leipzig, S. 33; vgl. Böhm, Zionistische Bewegung, S. 191–198.
51
Vgl. dazu George Cawston & A.H. Keane, The Early Chartered Companies (A.D. 1296– 1858), London-New York 1896; s. auch Encyclopaedia Britannica (online), s. v. Chartered company.
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schen Company und Regierung geteilt. George Cawston & A. H. Keane, beschreiben in ihrem grundlegenden Werk The Early Chartered Companies (A.D. 1296–1858), die Bedeutung eines Charters einmal so: »Eine Charta (Charter), so genannt nach dem Material auf dem sie geschrieben ist (Lat. Charta, Papier), kann als ein Instrument beschrieben werden, durch welches der Staat gewisse Privilegien auf Körperschaften überträgt, entweder um sie in der Ausübung ihrer legalen Tätigkeiten im Heimatland zu schützen, oder um sie in ihren risikoreicheren ausländischen Unternehmungen zu ermutigen und stützen.«52 Solche Charters wurden zunächst an Stadtverwaltungen und Gilden vergeben,53 um den Handel in unsicheren Umständen zu sichern, wie die deutsche Hanse, um in Grenzregionen die staatlichen Interessen durchzusetzen, wodurch die begünstigten Gesellschaften häufig mit Monopolen ausgestattet wurden, welche beiden Seiten, Staat und Gesellschaft, Gewinne erbrachten. In diesem Zusammenhang wurden den Gesellschaften auch Befugnisse übertragen, die sonst staatliches Vorrecht waren, wie Ordnungskräfte und Truppen aufzustellen, so dass sie oft wie ein Staat im Staate handelten. Solche Gesellschaften, wie zum Beispiel die »Russia Company« wurden privilegiert, die See- und Wasserwege für den Russlandhandel auszubauen und zu sichern, ähnlich die »Eastland Company« für den Ostseehandel, die »Turkey (Levant) Company« für die genannte Region, die »East India Company« im 17. Jh. Der für die East India Company 1599 ausgestellte Charter zeigt, wie nach und nach dieses semistaatliche Geschäftsmodell zu dem schlechthin geeigneten Instrument der Kolonialisierung wurde.54 Dort wird den Gesellschaftern das Recht zugesprochen: »dass sie auf eigene Kosten und Verantwortung eine oder mehrere Reisen in die East Indians, in diesem Land und in Teilen von Asien und Afrika samt den dort gelegenen Inseln unternehmen können, dass sie politisch und geschäftlich eine Körperschaft unter dem Namen Governor and Company of 52
Cawston-Keane, S. 1.
53
Nach Cawston & Keane.
54
Vgl. noch: Ch. Johnson, The Sorrows of Empire: Militarism, Secrecy and the End of the Republic, London 2004, S. 30f: »The multinational corporation partly replicates one of the earliest institutions of imperialism, the chartered company. In such classically mercantilist organizations, the imperialist country authorized a private company to exploit and sometimes govern a foreign territory on a monopoly basis and then split the profits between government officials and private investors. The best known of these were the English East India Company, formed in 1600; the Dutch East India Company, created in 1602; the French East India Company in 1664; and the Hudson’s Bay Company in 1670.«
Theodor Herzl
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Merchants of London trading to the East Indies seien, dass sie dies auf Dauer tun können, Land ohne Beschränkung erwerben dürfen, einen Governor haben und 24 jährlich zu wählende Personen haben, welche GemeinschaftsKommitees genannt werden sollen, welche die Reisen leiten und das gesamte Geschäft der Kompanie verwalten […]«55 Diese Privilegien wurden nach und nach auf alle Weltmeere und Kontinente ausgedehnt, so dass Cowson-Keane feststellen, dass die Angestellten der Companies alsbald zu einer Art Staatsbeamter wurden, die den staatlichen Eid auf sich nehmen mussten und zunehmend der staatlichen Politik unterworfen wurden. Spätestens im Jahr 1623 wird diese Entwicklung zum veritablen kolonialen Instrument, als »die Position der Company als ein politischer Staat, ein imperium in imperio, de facto formal von König James anerkannt wurde, der zum Zwecke der effektiveren Verwaltung ihres indischen Territoriums, deren Präsidenten und Räte ermächtigte alle kapitalen und anderen Verbrechen entweder mit Kriegs- oder Allgemeinem-Recht zu bestrafen, die in Indien auf dem Land begangen worden waren, […] ähnliches scheint ihnen schon bezüglich der Vergehen an Bord der Schiffe gestattet worden zu sein.«56 In der Einleitung zu ihrem Werk zu den Chartered Companies kommen die beiden Autoren zu dem Schluss. »Alle alten und die erfolgreichsten britischen Kolonien in Amerika, Virginia, Massachusetts, Connecticut, Rhode Island, Pennsylvania, Maryland, and Georgia, welche die Basis für jenes wundervolle Land, die Vereinigten Staaten von Amerika, bildeten, wurden von einzelnen Männern gegründet, deren öffentliches Engagement, Klugheit und Entschlusskraft durch nichts anderes von Seiten ihrer Regierung unterstützt wurde. Der Charter aus der Hand der Krone machte aus all jenen einzelnen Menschen eine Körperschaft, ausgestattet mit einer Autorität, die zur Erreichung […] ihrer großzügigen und edlen Ziele nötig war.«57 Herzl ist sich dieser Bedeutung der Chartered Company sehr wohl bewusst, wenn er seinen Lesern erklärt: »Die Jewish Company ist zum Teil nach dem Vorbilde der großen Landnahmegesellschaften gedacht – eine jüdische Chartered Company, wenn man will. Nur steht ihr nicht die Ausübung von Hoheitsrechten zu, und sie hat nicht allein koloniale Aufgaben.«58 Die Jewish Company soll als eine Aktiengesellschaft gegründet werden, »mit der englischen Rechtssubjektivität, nach Gesetzen und unter dem Schutze Englands. Der Hauptsitz ist London.«59
55
Cawston-Keane, S. 87.
56
Cawston-Keane, S. 95.
57
Cawston-Keane, S. VIII.
58
Judenstaat, Jerusalem, S. 30, Leipzig, S. 33.
59
Judenstaat, Jerusalem, S. 30, Leipzig, S. 33.
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151
Die Jewish Company soll, das wird im Folgenden noch zu beschreiben sein, die geschäftlichen, finanziellen, sozialen und technischen Transaktionen durchführen, die für die vorgesehene generalstabsmäßig zu planende Überführung ganzer jüdischer Gesellschaften und Individuen in das neue Land nötig sind, alles mit der rechtlichen Monopolausstattung, welche die Chartered Companies gewöhnlich haben. Im Herzl Archiv in Wien fand sich der Entwurf einer solchen Charta aus der Hand Herzls, die im Wesentlichen solche semistaatlichen Rechte der jüdischen Compagnie für Palästina formulierte, die Herzl vom türkischen Sultan, zu dessen Reich Palästina gehörte, zu erlangen hoffte. Die Charta trägt den Titel: »Übereinkommen über die Privilegien, Rechte, Schuldigkeiten und Pflichten der Jüdisch-Ottomanischen Land-Compagnie (J.O.L.C.) zur Besiedlung von Palästina und Syrien.«60 In elf Paragraphen wird dort alles geregelt, vom Landerwerb, der verkehrstechnischen und infrastrukturellen Erschließung zu Land und zu Wasser, der rechtlichen und militärischen Sicherung bis zur Finanzierung des Ganzen und der Erlegung der allfälligen Zahlungen an die Staatskasse der Hohen Pforte. Der Entwurf ist ein sprechender Beweis dafür, wie konkret das in Herzls Judenstaat Formulierte für ihn politisch reales Programm war, das er durch mehrfache politische Gespräche mit dem türkischen Sultan und dem deutschen Kaiser zu verfolgen suchte.61 Es zeigt aber zugleich, dass Herzl mit dieser »CharterPolitik« letztlich scheiterte und die Infiltrationspolitik der Hoveve Zion zunächst die tragende Säule bleiben musste, bis schließlich Chaim Weizmann (1874– 1952), der spätere Präsident der Zionistischen Organisation (1920–1931. 1935– 1946) und erste Präsident des Staates Israel (1949–1952) dank seiner wissenschaftlichen Erfolge und seinem politischem Geschick vom damaligen britischen Außenminister Lord Arthur James Balfour im Jahre 1917 die nach ihm benannte Balfour Declaration erlangte, welche Herzls Forderung nach öffentlich rechtlicher Anerkennung des jüdischen Heimrechtes in Palästina zu ersten Mal mit den Worten formulierte: »H.M. Government views with favour the establishment in Palestine of a national home for the Jewish people, and will use their best endeavours to facilitate the achievement of this object […]«62
60
Der gesamte Text ist abgedruckt bei Böhm, Zionistische Bewegung, S. 705–709; zur Entste-
61
Vgl. dazu das Kapitel Charterpolitik, Ugandaprojekt, Charlower Konferenz bei, J. H. Schoeps,
hung des Entwurfs, s. Bein, Theodor Herzl, S. 592–594. Theodor Herzl 1860–1904, Eine Text-Bild-Monographie, Wien 1995, S. 176–181; u. s. ders., Theodor Herzl. Wegbereiter des politischen Zionismus, Göttingen 1975. 62
Text bei Böhm, Zionistische Bewegung, S. 667.
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4.2.4 Die Aufgaben der Jewish Company Die Jewish Company wird nach dem Vorbild der oben genannten Chartered Companies eine Brückenfunktion zwischen der jüdischen Diaspora und dem zu gründenden Judenstaat in dem dafür vorgesehenen Territorium einnehmen, das erst noch zu finden ist, wozu später noch einiges zu sagen sein wird. Das bedeutet, die Jewish Company wird die rechtlichen Bedingungen und Modalitäten der geplanten Emigrationsbewegung der Juden in den Ländern der Diaspora, aus denen die Juden auswandern, ebenso schaffen wie in dem Land der Immigration, in dem die Grundlagen für die Staatsgründung zu schaffen sind. Ebenso muss sie die Transferwege und Strukturen bereitstellen und zwar für Menschen, Kapital und intellektuelle Güter gleichermaßen. Sie wird das tun, bis dereinst der Staat an ihre Stelle tritt. Insofern ist sie bis zur schließlichen Staatsgründung ein »Übergangs-Institut«.63 Herzl legt für diesen von ihm ins Auge gefassten groß angelegten Bevölkerungstransfer eine Art Generalstabsplan vor, der für einen geordneten, rechtlich abgesicherten, Kapital- wie Sozialstrukturen bewahrenden Übergang aller Menschen und Güter sorgen soll. Herzl ist an dieser mehrfachen Absicherung gelegen, weil er mit seinem Plan nicht nur die Juden zur Auswanderung gewinnen will, sie versichern will, dass sie keine Verluste an Rechten, Kapitalien, Sozialstrukturen und den »gemütlichen« Gewohnheiten erleiden werden, sondern er auch die Herrscher und betroffenen Bevölkerungsteile der von den Juden hinterlassenen Ländern beruhigen will, dass sie durch den Abzug der Juden in keinem der genannten Bereiche Schaden nehmen, sondern allenfalls Gewinn haben werden. Der Umzug soll für die betroffenen Juden kein sozialer und materieller Abstieg werden, sondern im Gegenteil, ein Umzug in bessere, modernere und in jeder Hinsicht angenehmere Bedingungen.64 Dies soll in aller Öffentlichkeit geschehen, mit der Unterstützung der Behörden in den Auszugsländern wie im geplanten Aufnahmeland und soll insofern eine globale Welt-Angelegenheit sein zu allerseitigem Nutzen – nicht wie die bisherige halblegale InfiltrationsKolonisation Palästinas durch die Ḥoveve Zion. Zur Durchführung all dessen, werden von Herzl alle Möglichkeiten des modernen Wirtschaftens eingeplant, Immobilienverwaltung, treuhänderische Geschäftsbetreuung, Banken, Reiseunternehmungen, Baufirmen, Städteplaner, Fabrikunternehmungen, Planungen von Gruppenemigration, »seelsorgerliche« Betreuung durch Rabbiner und was alles zum modernen Leben hinzugehört, voran die neueste Technik, insbesondere der Dampfmaschinen und der Elektrizität, an-
63
Judenstaat, Jerusalem, S. 30, Leipzig, S. 33.
64
Judenstaat, Jerusalem, S. 16, Leipzig, S. 16.
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gesichts von deren Möglichkeiten Herzl geradezu ins Schwärmen gerät.65 Herzl will mit der »neuen Judenwanderung« zugleich einen Innovationsschub verbinden: »Die neue Judenwanderung muß nach wissenschaftlichen Grundsätzen erfolgen. […] So muß das neue Judenland mit allen modernen Hilfsmitteln erforscht und in Besitz genommen werden. […] Von vorneherein wird alles auf eine planvolle Art festgestellt sein. An der Ausarbeitung dieses Planes, den ich nur anzudeuten vermag, werden sich unsere scharfsinnigsten Köpfe beteiligen. Alle sozialwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Zeit, welche in die langwierige Ausführung des Planes fallen wird, sind für den Zweck zu verwenden. Alle glücklichen Erfindungen, die schon da sind und noch kommen werden, sind zu benützen. So kann es eine in der Geschichte beispiellose Form der Landnahme und Staatsgründung werden, mit bisher nicht dagewesenen Chancen des Gelingens.«66 Es ist keine Frage, dass Herzl mit seiner modernistischen, technikbegeisterten Zukunftsvision jenen zionistischen Stimmen nichts abgewinnen kann, die in der körperlichen Arbeit und in der Rückkehr zur Scholle, in der Bearbeitung des Bodens mit den eigenen Händen, den für die Juden nötigen Heilungsprozess sehen wollen, deren glühendster Vertreter Aharon David Gordon (1856–1922) werden sollte.67 Herzl polemisiert offen gegen solche »Therapievorschläge«: »Die künstlichen Mittel, die man bisher zur Ueberwindung des Judennotstandes aufwandte, waren entweder zu kleinlich – wie die verschiedenen Kolonisierungen – oder falsch gedacht, wie die Versuche, die Juden in ihrer jetzigen Heimat zu Bauern zu machen. […] Wer aber die Juden zu Ackerbauern machen will, der ist in einem wunderlichen Irrtume begriffen. Der Bauer ist nämlich eine historische Kategorie, und man erkennt das am besten an seiner Tracht, die in den meisten Ländern Jahrhunderte alt ist, sowie an seinen Werkgerätschaften, die genau dieselben sind wie zu Urväterzeiten. Sein Pflug ist noch so, er sät aus der Schürze, mäht mit der geschichtlichen Sense und drischt mit dem Flegel. Wir wissen aber, daß es jetzt für all’ das Maschinen gibt. Die Agrarfrage ist auch eine Maschinenfrage […] Der Bauer ist also eine auf den Aussterbeetat gesetzte Figur. Wenn man den Bauer künstlich konserviert, so geschieht das wegen politischen Interessen, denen er zu dienen hat. Neue Bauern nach dem alten 65
Judenstaat, Jerusalem, S. 9–10, Leipzig, S. 9–10.
66
Judenstaat, Jerusalem, S. 68–69, Leipzig, S. 71–72.
67
Zu ihm siehe unten, Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, V.
Theodor Herzl
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Rezept machen zu wollen ist ein unmögliches und törichtes Beginnen. Niemand ist reich oder stark genug, die Kultur gewaltsam zurückzuschrauben.«68 In seinem Roman Altneuland wird der Leser durch Herzl eingehend in diese schöne neue, von der Technik geprägte, Welt eingeführt.
4.2.5 »Die Landergreifung« – Beginn der Umsiedlungsarbeiten – Wahl des Territoriums Unter der Überschrift »Die Landergreifung« macht Herzl nochmals deutlich, dass er den Weg zum Judenstaat nicht als kontinuierlichen Wildwuchs oder als sukzessive »Infiltration« im Sinne der Ḥoveve Zion verstehen will, sondern als einen öffentlichen rechtlichen Akt, der mit einem klar definierten Datum beginnt, von dem an zunächst die Erkundungs-, dann die Erschließungs- und schließlich die Umsiedlungsarbeiten in Gang gebracht werden. Er stellt dem die Wildwüchse der vierzig Jahre zurückliegenden Goldgräberstürme in Kalifornien gegenüber, in denen Raub und Diebstahl das Gesetz des Handelns war und sieht ein Vorbild in der südafrikanischen Erschließung der Goldfelder seiner Tage, in welcher Geologen, Ingenieure und Maschinen die Wegbereiter sind und nichts dem Zufall überlassen sei: »So muß das neue Judenland mit allen modernen Hilfsmitteln erforscht und in Besitz genommen werden. Sobald uns das Land gesichert ist, fährt das Landnahmeschiff hinüber. Auf dem Schiff befinden sich die Vertreter der Society, der Company und der Ortsgruppen. Diese Landnehmer haben drei Aufgaben: 1. Die genaue wissenschaftliche Erforschung aller natürlichen Eigenschaften des Landes, 2. Die Errichtung einer straff zentralisierten Verwaltung, 3. Die Landverteilung.«69 Was dann folgt, die gruppenweise Einwanderung und Landnahme, wird auch nicht wie im zeitgenössischen Amerika vonstattengehen, wo alle zu einer bestimmten Zeit losstürzen und das greifen, was sie vermögen. Nein, im neuen Judenland wird alles geregelt sein, Territorien werden versteigert und zwar nicht für Geld, sondern für zu übernehmende Verpflichtungen der Landerschließung und des Baues von Infrastruktur.
68
Judenstaat, Jerusalem, S. 21, Leipzig, S. 23; u vgl. Judenstaat, Jerusalem, S. 9. 26, Leipzig,
69
Judenstaat, Jerusalem, S. 68, Leipzig, S. 72.
S. 9. 27.
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Herzl macht sich Gedanken, wie die großen Gemeinschaftsaufgaben, Universitäten, Fachschulen, Hochschulen und Versuchsanstalten über das gesamte Land zu verteilen sind – für alles wird es eine vorweggenommene Planung geben.70 »Palästina oder Argentinien« überschreibt Herzl eines seiner Kapitel. Dort definiert er als Leitfaden jeglicher diesbezüglicher Politik: »Die Society wird nehmen, was man ihr gibt und wofür sich die öffentliche Meinung des Judenvolkes erklärt.«71 Dies war auch noch Herzls Position, als ihm die englische Regierung das afrikanische Uganda als Territorium eines Judenstaates anbot, worüber die zionistische Bewegung in den Jahren 1903–1904 fast zerbrochen wäre.72 Nachdem Herzl zunächst die wirtschaftlichen und geographischen Vorzüge Argentiniens preist stellt er aber dennoch fest: »Palästina ist unsere unvergeßliche historische Heimat. Dieser Name allein wäre ein gewaltig ergreifender Sammelruf für unser Volk. Wenn Seine Majestät der Sultan uns Palästina gäbe, könnten wir uns anheischig machen, die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln. Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen. Wir würden als neutraler Staat im Zusammenhange bleiben mit ganz Europa, das unsere Existenz garantieren müßte.«73
4.2.6 Struktur, Institutionen und Symbole des neuen Judenstaates Herzls Planungsfaible zeigt sich schließlich schon an den Überschriften des letzten Teiles seines Büchleins: Verfassung, Sprache, Theokratie, Gesetze, Das Heer, Die Fahne, Reziprozität und Auslieferungsverträge. Ganz Kind seiner Zeit, hält Herzl die »demokratische Monarchie« und die »aristokratische Republik« für die »feinsten Formen des Staates«.74 Wobei er die monarchischen Einrichtungen favorisiert, »weil sie eine beständige Politik ermöglichen«. Denn »Die Demokratie ohne das nützliche Gegengewicht eines Monarchen ist maßlos in der Anerkennung und in der Verurteilung, führt zu Parlamentsgeschwätz und zur häßlichen Kategorie der Berufspolitiker. Auch sind die jet-
70
Judenstaat, Jerusalem, S. 69, Leipzig, S. 72.
71
Judenstaat, Jerusalem, S. 27, Leipzig, S. 20.
72
Böhm, Zionistische Bewegung, S. 254–266.
73
Judenstaat, Jerusalem, S. 28, Leipzig, S. 29.
74
Judenstaat, Jerusalem, S. 69, Leipzig, S. 73.
156
Theodor Herzl
zigen Völker nicht geeignet für eine unbeschränkte Demokratie, und ich glaube, sie werden zukünftig immer weniger dazu geeignet sein.«75 Doch Herzl weiß wohl, dass die Juden nicht mehr an ihre alte Monarchie anknüpfen können und neigt daher zu einer »aristokratischen Republik«, wobei allerdings der Weg von unten für alle dazu Geeigneten offen sein müsse. Die Society wird sich dieser Frage in gebührendem Maße widmen müssen. Die Frage der Landessprache für den neuen Judenstaat ist natürlich angesichts der Polyglossie der verstreuten Judenschaften ein brennendes Problem, dem sich Herzl durch die salomonische Auskunft zu entziehen sucht: »Die dem allgemeinen Verkehre am meisten nützende Sprache wird sich zwanglos als Hauptsprache einsetzen.«76 Nur in einem Punkt ist sich Herzl gewiss, dass diese zu erwartende Sprache nicht das Hebräische sein könne: »Wir können doch nicht hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillett zu verlangen? Das gibt es nicht.«77 Hinsichtlich der Religion, von der Herzl überzeugt ist, dass einzig sie es war und noch ist, welche ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den verstreuten Juden gewährleistete, betont Herzl mit allem Nachdruck, dass der neue jüdische Staat keine Theokratie, sondern ein weltlicher Staat sein wird, in welchem Staat und Religion getrennt und die Rabbiner im »Tempel« festgehalten werden.78 Die nötigen Staatsgesetze werden von einem durch die Society eingesetzten Juristenkollegium erarbeitet werden, um nach und nach Rechtseinheit unter den mit den Einwanderern hereingebrachten und lokal vorhandenen verschiedenen Rechtstraditionen zu erreichen. Das Heer wird ein Berufsheer sein, dessen Aufgabe es ist, nach innen wie nach außen die Ordnung zu wahren. Ein Bürgerheer wird nicht vonnöten sein, weil der Judenstaat als ein neutraler Staat gedacht ist.79 Die Frage der Nationalfahne ist besonders aufschlussreich für Herzls Denken. In seinem Staat wird die Arbeitswelt modern, fortschrittlich und sozial organisiert sein:
75
Judenstaat, Jerusalem, S. 70, Leipzig, S. 74.
76
Judenstaat, Jerusalem, S. 71, Leipzig, S. 75.
77
Judenstaat, Jerusalem, S. 71, Leipzig, S. 75.
78
Judenstaat, Jerusalem, S. 71–72. 33–34, Leipzig, S. 75–76. 36–37.
79
Judenstaat, Jerusalem, S. 72, Leipzig, S. 76.
Zionismus
157
»Der Normalarbeitstag ist der Siebenstundentag! […] Man wird vierzehn Stunden arbeiten. Aber die Arbeitstrupps werden sich nach je dreieinhalb Stunden ablösen. […] Dreieinhalb Stunden hindurch kann ein gesunder Mann sehr viel konzentrierte Arbeit hergeben. Nach dreieinhalb Stunden Pause – die er seiner Ruhe, seiner Familie, seiner geleiteten Fortbildung widmet – ist er wieder ganz frisch. Solche Arbeitskräfte können Wunder wirken. Den Siebenstundentag aber brauchen wir als Weltsammelruf für unsere Leute, die ja frei herankommen sollen. Es muß wirklich das Gelobte Land sein …«80 So wie Herzl den religiösen Begriff das »Gelobte Land« aus seiner ursprünglich biblisch-rabbinischen Tradition löst und mit einer neuen sozialen Konnotation erfüllt, so greift sein Vorschlag für eine Staatsfahne gleichfalls nicht auf ein traditionelles jüdisches Symbol zurück, deren es ja genug gegeben hätte, sondern blickt ganz in die Zukunft. Der neue Staat soll, wie dies schon Pinsker forderte, ein völliger Neuanfang sein, auch wenn er den Rabbinern und dem »Tempel« darin eine erzieherische und funktionale Aufgabe (zum Beispiel zur Verkündung der ›Regierungsverordnungen‹) zubilligt.81 Darum lautet der kurze Passus zur Fahne in Herzls Programm: »Wir haben keine Fahne. Wir brauchen eine. Wenn man viele Menschen führen will, muß man ein Symbol über ihre Häupter erheben. Ich denke mir eine weiße Fahne mit sieben goldenen Sternen. Das weiße Feld bedeutet das neue, reine Leben; die Sterne sind die sieben goldenen Stunden unseres Arbeitstages. Denn im Zeichen der Arbeit gehen die Juden in das neue Land.«82 Theodor Herzl glaubte an die neue Zeit, an den Kairos, der herbeigekommen ist und eine Chance zur Verwirklichung seiner Pläne bietet wie keine Epoche je zuvor. Mit der Schaffung des neuen Judenstaates, so glaubte er, werde die ganze Welt von einem alten Druck befreit, »unter dem alle litten«.83 Mit dem Auszug der Juden aus den Ländern des notorischen Antisemitismus hin in einen neuen eigenen Staat, darauf vertraute Herzl, wird die gesamte Welt beglückt werden. Mit dieser Zuversicht beendet er seinen für die Staatsgründung Israels grundlegend gewordenen Aufruf:
80
Judenstaat, Jerusalem, S. 35–36, u. vgl. S. 79, Leipzig, S. 38–39, u. vgl. S. 84.
81
Judenstaat, Jerusalem, S. 53, Leipzig, S. 57.
82
Judenstaat, Jerusalem, S. 73, u. vgl. S. 78, Leipzig, S. 76–77, u. vgl. S. 84.
83
Judenstaat, Jerusalem, S. 80, Leipzig, S. 85.
158
Theodor Herzl
»Noch einmal sei das Wort des Anfangs wiederholt: Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben. Wir sollen endlich als freie Männer auf unserer eigenen Scholle leben und in unserer eigenen Heimat ruhig sterben. Die Welt wird durch unsere Freiheit befreit, durch unseren Reichtum bereichert und vergrößert durch unsere Größe. Und was wir dort nur für unser eigenes Gedeihen versuchen, wirkt machtvoll und beglückend hinaus zum Wohle aller Menschen.«84
84
Judenstaat, Jerusalem, S. 80, Leipzig, S. 86.
IV. DER SÄKULAR-SOZIOLOGISCH-KULTURELLE ANSATZ ASCHER (USCHER) ZWI HIRSCH GINZBERG – DAS IST ACHAD HAAM (1856–1927) 1.
Biographisches und Persönliches
Ascher Ginzberg (oder Ginsberg), seit seinem ersten weit beachteten »zionistischen« Artikel Nicht dies ist der Weg! (Lo seh ha-derech) von 1889 fast nur noch unter seinem schriftstellerischen Pseudonym Achad Haam (Einer aus dem Volke) bekannt, ist ein wahrhafter nationaljüdischer Mythos. Von den einen hoch verehrt, wurde er vor allem von den Vertretern des Herzlʼschen politischen Zionismus als Gegner, Nörgler und notorischer Pessimist bekämpft.1 Von den Männern seines Geistes, wie etwa dem Jerusalemer Universitätsrektor und Inhaber der Achad Haam (’Ahad Ha-‘Am) Professur für Philosophie, Nathan Rotenstreich (1914–1993), wurde er als der Philosoph des Zionismus tituliert, von andern gar als ein Prophet,2 oder als der Lehrer seiner Generation schlechthin, wie dies Martin Buber in den pathetischen Geburtstags- und Gedenkreden zum Tode des Meisters 1927 ausdrückte: »Als der Lehrer ist er vom Dichter angerufen worden. Und so wollen wir ihn auch in dieser Stunde anrufen und sagen: Du, der du uns der Lehrer gewesen bist, der bezeugende und zeugende Lehrer, der Mann der Wahrheit, unser Vater in der Lehre, dir würden wir nicht genug tun, wenn wir gelobten, den Ruhm deiner Person und deines Werkes im Gedächtnis zu bewahren. Du willst, daß wir deinen Glauben an die eine Wahrheit und Deinen Dienst an der einen Wahrheit in unserem Leben, in unserer Tat bewähren.«3 Demgegenüber schreibt Leon Simon im Resümee seiner umfassenden Biographie Achad Haams: »Die Geschichte seines privaten Lebens ist weitgehend ein Bericht des Misslingens und der Frustration. Bei all seiner intellektuellen Brillanz und morali-
1
Dazu siehe A. Böhm, Die zionistische Bewegung bis zum Ende des Weltkrieges, Berlin 1935
2
Vgl. L. Simon, Aḥad ha-’Am, Asher Ginzberg, Philadelphia 1960, S. 326–327.
3
Gedenkrede in Berlin am 9. Januar 1927; Achad-Haam-Gedenkrede in Basel bei der Eröff-
(2. Aufl.), insbes. Das sehr lesenswerte Kapitel über Achad Haam, S. 116–134.
nungsrede des XV. Zionistenkongresses am 30.8. 1927; Geburtstagsreden zum 60. und 70. Geburtstag, 1916 u. 1926; alle abgedruckt in: M. Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Mit einer Einleitung von Robert Weltsch, Köln1963, S. 755–770, hier S. 761.
Achad Haam
160
schen Kraft, hatte er doch nicht genügend Selbstbewusstsein oder Selbstbehauptungsvermögen, um andere seinem Willen zu unterwerfen und so seinen Weg zu bahnen. Die Umstände waren stets stärker als er und seine Tugenden, seine klaren Visionen, seine grundlegende Vernunftorientiertheit und Nachsicht anderen gegenüber, standen seiner Selbstverwirklichung zu oft im Wege.«4 Ascher Ginzberg, der Vater des sogenannten Kulturzionismus, war kein politisch denkender und handelnder Mensch und stand der uneingeschränkt politischen Staatskonzeption eines Theodor Herzl diametral entgegen. Eine Vermittlung der beiden Positionen, des Politischen und des unter dem Stichwort »Kulturzionismus« laufenden Kampfes um mehr kulturelle Elemente im Zionismus, trat erst nach dem frühzeitigen Tod von Theodor Herzl 1904 ein, als der sogenannte »Achad Haamismus« auch in den westlichen zionistischen Kreisen an Boden gewann.5 Ascher Ginzberg wurde 1856 in der Kleinstadt Skvira bei Kiew geboren, die zur Hälfte jüdisch und vom Ḥasidismus geprägt war.6 Als er zwölf Jahre alt war, gelang seinem Vater, einem geschäftstüchtigen Handelsmann, die Steuerpacht eines Gutes bei dem Dorf Hoftschiza (Gopitshitza) bei Berdytschew zu erwerben, so dass die Familie fortan unter guten wirtschaftlichen Verhältnissen lebte und der junge Ascher teilweise mit Privatlehrern, meist aber als Autodidakt sich im abgelegenen Gutshaus in der väterlichen Bibliothek bilden konnte. Das geistige Leben der Familie war vom Ḥasidismus, vor allem von dem des Hofes von Sadagora, und dessen Gründer Rabbi Israel Ruschiner geprägt, mit dem der Großvater mütterlicherseits in vertrauter Beziehung gestanden hatte, und dessen Sohn Abraham Jakob, den der junge Ascher bei einem Besuch1886 am »Hofe« selbst kennengelernt hatte. Das Gebaren an diesem galizischen ḥasidischen Hof rief alsbald die Kritik des jungen Ascher hervor, der sich nun vermehrt – aber im 4
Simon, Ahad ha-’Am, S. 313f; ders., Ahad ha-’Am, Essays, Letters, Memoirs, trsl. a. ed., Oxford 1946, hier die biographische Translators’s Introduction; eine durchaus kritische Biographie neueren Datums: S. Zipperstein, Elusive Prophet. Aḥad ha-’Am and the Origins of Zionism, University of California 1993; hebräisch: Navi Ḥamakmak. Aḥad ha-’Am u-Mekorot ha-Zijonut, Tel Aviv 1998; ebenso die hebräische Einführung von H. J. Roth, Kol Kitve ’Aḥad ha-’Am, Tel Aviv-Jerusalem 1965 (8. Aufl.); Th. Rahe, Frühzionismus und Judentum. Untersuchungen zur Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897, Frankfurt a.M. et al. 1988, S. 272–295.
5
Böhm, Zionistische Bewegung, u.a. S. 133f.
6
Ich folge hier S. Zipperstein nach der hebräischen Ausgabe seiner Biographie von Achad Haam und L. Simon; ebenso der autobiographischen Skizze von Achad Haam, die allgemein als die Grundlage für die frühen Lebensabschnitte dienen: Pirke Sikhronot, in: Kol Kitve ’Aḥad ha-’Am, S. 466–470.
Zionismus
161
Verborgenen – mit Aufklärungstexten und westeuropäischen Sprachen befasste, die ihn zunehmend vom Denken des Ḥasidismus und dem religiösen Judentum entfernten. Mit sechzehn Jahren mit einem fünf Monate jüngeren, gleichfalls ḥasidischen, Mädchen verheiratet, lebte er aber weiter als »Gelehrter« in und vom Haus seiner Eltern. Versuche, im westeuropäischen Ausland ein Studium aufzunehmen, scheiterten. Stattdessen versuchte Ginzberg 1884 mit seiner jungen Frau der geistigen Enge des elterlichen Hauses zu entkommen und sich in Odessa niederzulassen. Der Versuch scheiterte nach kurzer Zeit und konnte erst 1886 realisiert werden, als auch die Eltern, aus rechtlichen Gründen aus der Gutspacht vertrieben, sich in Odessa geschäftlich niederließen. Ginzberg verdiente sich seinen Lebensunterhalt bei der Arbeit im väterlichen Geschäft, einer Ölmühle samt Destillerie, bis diese im Jahre 1894 niederbrannte und ein Jahr später vor dem Ruin stand. Mit der Übersiedlung nach Odessa, 1886, begann für Ascher Ginzberg ein neuer, sein wichtigster, Lebensabschnitt. Er verkehrte dort nicht nur mit den jüdischen Intellektuellen, sondern mit Männern der 1882 gegründeten jüdischen »Nationalbewegung«, Ḥoveve Zion (Zionsfreunde),7 die in Odessa unter der Führung von Leon Pinsker stand. Ginzberg rückte alsbald in das Zentralkomitee der Bewegung auf, wodurch seine damals einsetzende schriftstellerische Tätigkeit zugleich öffentlich-politischen Charakter bekam. Der Durchbruch seiner Publizität erfolgte mit seinem Artikel »Nicht dies ist der Weg«, einer grundlegenden Kritik an den Arbeitsweisen und Zielsetzungen der Ḥoveve Zion, in welchem er nicht nur seinen Schriftstellernamen Achad Haam einführte, sondern seine grundlegenden Auffassungen zur nationalen Wiederbelebung des Volkes Israel darlegte, die fortan seine Auseinandersetzungen mit der Ḥibbat Zion (Zionsliebe) seiner Freunde und hernach mit dem von Herzl gegründeten »politischen Zionismus« wie auch dem Autonomie-Nationalismus seines Freundes Simon Dubnow (1860–1941) prägen sollte.8 Seine kritischen Positionen, vor allem hinsichtlich der Palästina-Kolonisation, verschafften ihm alsbald den Auftrag, im Dienste der Ḥoveve Zion 1891und 1893 Inspektionsreisen nach Palästina zu unternehmen, die er mit beißenden Kritiken an der geleisteten Aufbauarbeit unter dem Titel »Die Wahrheit aus dem Lande Israel« abschloss.9 Die nächsten Auseinandersetzungen begannen
7
Böhm, Zionistische Bewegung, S. 99; neben Ḥoveve Zion war auch Ḥibbat Zion, als Name der
8
Dazu vgl. Encyclopaedia Judaica, Bd. 3. Art. Autonomism.
9
Die Aufsätze von Achad Haam erschienen unter dem Titel ‘Al Paraschat Derakhim in vier
Bewegung üblich.
Bänden, Odessa 1895, 1903, 1904, 1913, sodann wieder in Kol Kitve Aḥad ha-ʽAm, S. 23–40; Deutsch in: Achad Haam, Am Scheidewege, Gesammelte Aufsätze, Autorisierte Übertragung aus dem hebräischen von I. Friedländer und H. Torczyner, Berlin 1923; von den angekündig-
Achad Haam
162
mit dem Erscheinen von Theodor Herzls Buch Der Judenstaat im Februar 1896 und dem ersten Zionistenkongress im August 1897 in Basel, die beide den unten noch zu zeichnenden Anschauungen Achad Haams widersprachen. Wegen seiner Unzufriedenheit mit der ideologischen und praktischen Ausrichtung der Ḥoveve Zion gründete Achad Haam 1889 nach dem Erscheinen seines Grundartikels »Nicht dies ist der Weg« einen »geheimen« Logen-artigen Orden einer »zionistischen Elite« unter dem Namen Bne Mosche (Mosis Söhne), deren »Mutterloge« in Odessa ansässig war, und der nach und nach weitere »Büros« in anderen Städten folgten.10 Die Loge hatte einen streng hierarchischen, fast autoritären, Aufbau, einen geradezu rituellen Aufnahmemodus, mit einem Mitgliedsbeitrag von zwei Prozent des eigenen Familienbudgets.11 Ziel der versammelten Logen-Elite, die des Hebräischen mächtig sein musste – es waren immer nur wenige Mitglieder, wenigsten fünf pro »Büro« – war die »Wiederbelebung unseres Volkes im Lande unserer Väter«, allerdings auf Wegen, welche sich von denen der Ḥoveve Zion durch ihren kulturpolitischen Hauptakzent unterschieden. In den Gründungspapieren dieser zuweilen auch ḥasidisch anmutenden Vereinigung, deren »spirituelles« Haupt Achad Haam war, sind die gesamten späteren Darlegungen von Achad Haams in nuce schon angelegt, sie sollen deswegen hier im Zusammenhang der Darstellung von dessen Auffassungen herangezogen werden. Der Vereinigung war allerdings kein allzu langes und schon gar nicht spektakuläres, wenn auch nicht ganz erfolgloses, Wirken beschieden,12 weshalb Achad Haam diese Phase seiner zionistischen Tätigkeit in einem Artikel unter dem vielsagenden Titel »Ein misslungener Versuch« zusammenfasste.13 Aus Mangel an praktischer Perspektive kam diese Vereinigung im Gefolge des ersten zionistischen Kongresses von 1897 von selbst zu Ende. Von bleibender Dauer der Logentätigkeit war die Gründung des hebräischen Verlages Achi’asaf (1892),14 dessen gering bezahlter Direktor Achad Haam nach ten deutschen vier Bänden der ursprünglich gleichfalls vierbändigen hebräischen Aufsatzsammlung ‘Al Paraschat Derakhim 1894–1922 sind nur die beiden ersten erschienen u. z. Bd. I in erster Auflage Berlin 1905, in zweiter erweiterter 1913 u. der II. Bd. 1916 als Fortführung des Bandes I. von 1913; wieder aufgelegt wurden beide zusammen 1923 in Berlin, der genannte Aufsatz hier Bd. I, S. 84–137–152. Ein von Chr. Wiese herausgegebener Neudruck ist für 2015 in Berlin angekündigt. 10
S. Simon, Aḥad ha-’Am, S. 76–94.
11
Die Satzung ist abgedruckt in Kol Kitve ’Aḥad ha-ʽAm, S. 139.
12
Immerhin geht auf die Bne Mosche die Gründung der Kolonie Reḥovot, der ersten hebräischen Mittelschule für Mädchen in Jaffa und weiterer Kolonieschulen in Palästina und Reform- Ḥadarim (Grundschulen) in Rußland zurück, Böhm, Zionistische Bewegung, S. 126.
13
Kol Kitve ’Aḥad ha-ʽAm, S. 437–450.
14
Außerdem kann der Tuschi‘jah Verlag genannt werden, der aus diesem Umkreis entstand.
Zionismus
163
seinem Geschäftsfiasko ab 1896 wurde.15 Dort begründete er auch die hebräische Zeitschrift Haschiloach. Für die Amtsführung als Verlagsdirektor von Achiʼasaf war er allerdings gehalten, in Warschau zu wohnen, was er aber nicht einhielt, um alsbald nach Odessa zurückzukehren. In Odessa führte er die Herausgabe der Zeitschrift Haschiloach bis 1902 weiter, die wegen der russischen Rechtslage allerdings zunächst in Berlin und hernach in Krakau erscheinen musste und erst ab 1907 in Odessa. Die Finanzierung der Zeitschrift hatte anfangs der russischjüdische Teehändler und »Zionsfreund« Kalman Wissotzki16 übernommen, um sie dann dem Verlag Achi’asaf zu überlassen, der die Zeitschrift aber Ende 1902 wegen ihrer anhaltend defizitären Finanzlage einstellte. Von 1903–1919 wurde sie von Joseph Klausner herausgegeben und von ebendem von 1919–1927 in Jerusalem.17 Aus seinem neuerlichen finanziellen Dilemma wurde Achad Haam abermals von seinem Freund Wissotzki gerettet, der ihm 1903 eine Stelle in seiner Teehandelsfirma anbot. Dies hatte allerdings zur Folge, dass er im Geschäftsinteresse 1907 nach London übersiedeln musste. Während der vierzehn Jahre in London wurden seine sozialen, zionistischen wie literarischen Aktivitäten in erheblichem Umfang eingeschränkt. Aber dank einer Stiftung Wissotzkis von 1904, zu deren Mitkurator Achad Haam ernannt wurde, konnte Achad Haam wieder stärker und in den Dienst der nationalen Palästinaarbeit integriert werden, in Pläne für Schul- und Hochschulgründungen sowie in Beratungen seines Freundes Chaim Weizmann (1874–1952)18 zur Erlangung der für die Palästinaniederlassungen entscheidenden Balfour-Erklärung im Jahre 1917. Die letzte Phase dieses Lebens kam mit der Übersiedlung des gesundheitlich stark angeschlagenen Achad Haam nach Tel Aviv, wo er viele seiner alten Freunde aus Odessa wieder traf, was ihm die vertraute Anerkennung, die ihm in London gefehlt hatte, zurückgab. Mit großem Kraftaufwand bereitete der geschwächte Achad Haam dort auf Drängen seiner Freunde eine sechsbändige Auswahl seiner Briefe vor, die er noch vor seinem Tod am 2. Januar 1927 abschließen konnte.
15
S. Simon, Aḥad ha-’Am, S. 127–149.
16
Kalonymos Se’ev Wolf (1824–1904).
17
Zu den hier angegebenen Daten siehe auch das hebräische Leksikon ha-Sifrut ha-ʽIvrit ha-
18
Biochemiker, Erster Präsident des Staates Israel, Präsident der Zionistischen Weltorganisation
ḥadascha, hg. The Ohio State University (online), Art. Haschiloah von 1920–1931 u. 1935–1946.
Achad Haam
164
2.
Grundlagen und Voraussetzungen
Wenn der Soziologe J. P. De Vos in seiner professoralen Inaugural-Rede zu »Herbert Spencer as Positivist-Organicist« meinte, »jeder Soziologe wird August Comte, Herbert Spencer, Emile Durkheim und Max Weber als die zentralen Gestalten in der Entwicklung der modernen Soziologie anerkennen«,19 so darf man für die »hebräische Soziologie« hier mit gutem Recht Achad Haam anfügen. Gewiss, Ascher Ginzberg hat keine systematischen umfassenden Arbeiten zur Philosophie oder Soziologie geschrieben, aber seine zahlreichen soziologisch geprägten Essays zu einzelnen Fragen der jüdischen Geschichte und der jüdischen Nation entsprechen in vielem vergleichbaren Aufsätzen von Max Weber (1864–1920). Aus der von De Vos genannten Liste ist es sodann vor allem Herbert Spencer (1820–1903), den Achad Haam eigens als eine seiner Quellen hervorhebt, außerdem den von De Vos nicht genannten John Stuart Mill (1806– 1873) und, vermittelt durch ihn, natürlich auch Auguste Comte (1798–1857), die für das Denken von Achad Haam ausschlaggebend wurden. Die Berechtigung, Achad Haam in die Reihe dieser Gründungssäulen der modernen Soziologie mit seiner im Vergleich zu diesen Riesen eher bescheidenen literarischen und soziologischen Produktion einzuordnen, besteht darin, dass er es war, der als erster die »Gesellschaftswissenschaft« zur Selbstbeschreibung von Geschichte und Gegenwart des jüdischen Volkes in die jüdische, oder noch richtiger in die hebräische Literatur einführte. Und dies hatte keine geringen Konsequenzen für die hier dargestellte jüdische Geistesgeschichte. Denn mit den Methoden der modernen Soziologie hat Ascher Ginzberg zugleich grundlegende philosophische Auffassungen der genannten Autoren in sein jüdisches Selbstverständnis hereingetragen. An diesen neuen philosophischen Auffassungen war er nicht um deren selbst willen interessiert, sondern er nutzte sie zur Darstellung und Begründung seiner nationalen Philosophie des Judentums. Ginzberg ist keinem dieser Autoren in allen Punkten gefolgt, sondern hat deren Auffassungen selektiv für seine eigenen Zielsetzungen herangezogen, weshalb es hier nicht die Aufgabe sein kann solche Abhängigkeiten im Einzelnen nachzuverfolgen. Dies soll hier und da wohl geschehen, aber wichtiger ist es, zunächst einige wenige Grundpositionen dieser neuen Soziologen voranzustellen, welche das Denken von Achad Haam bestimmt haben. Da ist vor allem des von diesen Denkern gehuldigten Positivismus zu gedenken, auch wenn es hier unterschiedliche Nuancierungen gibt. Nach Auffassung des Positivismus darf keine Wissenschaft, auch nicht die Philosophie, irgendwel-
19
J. P. De Vos, Herbert Spencer as Positivist-Organicist: Contradictions in His Theories, Fort Hare Univ. Press 1971, S. 3.
Zionismus
165
che Aussagen enthalten, welche nicht auf die »Erfahrung« gegründet sind.20 Entscheidend dafür ist, dass erkenntnisschaffende Aussagen im Wege der »Induktion«, das heißt aus der Beobachtung der vor Augen liegenden Phänomene gewonnen werden, aus den experimentell wiederholbaren Abläufen, aus denen die in ihnen wirkenden Kausalgesetze zu erschließen sind. Die »Deduktion«, das heißt die Schlussfolgerung aus schon vorliegenden Erkenntnissen muss demgegenüber ganz zurücktreten, oder ist nur unter gewissen Prämissen als »wahrheitskonservierende« Erkenntnisweise zulässig. Ein wichtiger Gesichtspunkt bei diesem Erkenntnisverfahren, den John Stuart Mill unterstreicht, ist hierbei, dass in diesem Erkenntnisverfahren als Ursachen ebenfalls nur »reale« Dinge, das heißt Ursachen aus dem Bereich der vor Augen liegenden Phänomene, anerkannt werden, nicht aber »intelligible« Ursachen, das heißt, hinter den realen Dingen stehende geistige Ursachen wie dies im Mittelalter üblich war:21 »Eine Ursache ist ein empirisches Phänomen, dem ein anderes empirisches Phänomen als Wirkung unveränderlich und unbedingt folgt.«22 Dass bei einer solchen Auffassung natürlich auch jegliche göttliche Verursachung ausgeschlossen ist, versteht sich von selbst. Es ist dieser »Atheismus« oder doch wenigstens Agnostizismus, welcher auch das Denken von Achad Haam prägt. Dass mit diesem »Atheismus« der Religion nicht jeglicher Sinn genommen ist, wird im Rahmen der soziologischen Erörterungen noch deutlich werden, eine Position die mutatis mutandis auch Achad Haam teilt. Ein nächster wichtiger Gedanke ist der von der Evolution, der von allen diesen Denkern geteilt, vor allem aber von Herbert Spencer auf alle Erscheinungen in dieser Welt ausgedehnt wird, worauf Achad Haam eigens hinweist.23 Das heißt, die Evolution ist nicht, wie dies Charles Darwin später für die Biologie darlegt, nur auf diese beschränkt, sondern bezieht sich gleichermaßen auf die Gesellschaft, die Psychologie, wie auch die Entwicklung der Religionen. Dies war das zentrale Thema von Spencers mehrbändigem Werk System der syntheti20
Zum Folgenden siehe: W. Röd, Der Weg der Philosophie, München 1996, Bd. II, S. 311–328; L. Eley, Auguste Comte, in: Die Philosophen des 19. Jahrhunderts, hrsg. M. Fleischer u. J. Hennigefeld, Darmstadt2004, S. 144–159; R. Lüthe, John Stuart Mill, ebenda. S. 160–178; R. P. Anschutz, The Philosophy of J.S. Mill, Westport 1986 (Oxford 1953); R. Schumacher, John Stuart Mill, Frankfurt a.M. 1994; O. Gaupp, Herbert Spencer, Stuttgart 1900 (2. vermehrte Aufl.); W.H. Hudson, An Introduction to the Philosophy of Herbert Spencer, New York 1974.
21
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1. S. 407–410. 451–461. 502–506, Bd. 3, S. 79–84.
22
J. S. Mill, A System of Logic. Being a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Investigation, in: Collected Works of John Stuart Mill, ed. J. M. Robson, London Toronto 1973, Bd. VII, S. 327. 332ff. 338ff, zitiert nach Schumacher, Mill, S. 87.
23
Kol Kitve Aḥad ha-ʽAm, S. 374a.
Achad Haam
166
schen Philosophie, 24 in welchem er aus der Ethnologie seiner Zeit reiches Material zitierte, um die Evolution in allen erreichbaren Phänomenen dieser Welt nachzuweisen. Ein auch von Achad Haam herangezogenes und variiertes Entwicklungsbeispiel, das schon Auguste Comte formulierte, von Mill und in gewisser Weise der Sache nach auch von Spencer übernommen wurde, war das »Dreistadiengesetz«, das besagt, »daß jede unserer fundamentalen Auffassungen, jeder Zweig unseres Wissens, sukzessive drei verschiedene theoretische Zustände durchläuft: den theologischen oder fiktiven, den metaphysischen oder den abstrakten und den wissenschaftlichen oder positiven Zustand.«25 Das bedeutet nach Wolfgang Röd: »Im theologischen Stadium machen die Menschen Annahmen über das wahre Wesen der Dinge und identifizieren es mit göttlichen Mächten. In den Erscheinungen sehen sie Wirkungen übernatürlicher Mächte, die willkürlich handeln, so daß begründete Vorhersagen nicht möglich sind; man kann nur versuchen die Götter durch Opfer und Gebet gnädig zu stimmen. Das theologische Denken entwickelt sich vom Fetischismus über den Polytheismus zum Monotheismus, mit dessen Auftreten die Einbildungskraft zugunsten der Rolle des abstrakten Denkens zurückgedrängt wird und der Übergang zum metaphysischen Stadium einsetzt. Im metaphysischen Stadium treten an die Stelle übernatürlicher Agentien abstrakt gedachte Kräfte, die nicht jenseits der Erscheinungen angesiedelt sind, sondern in diese verlegt werden. Sowohl im theologischen als auch im metaphysischen Stadium gelten Erscheinungen als erklärt, sofern sie auf etwas bezogen werden, das selbst nicht mehr Erscheinung ist, sondern sich in den Erscheinungen äußert. Für beide Stadien ist der Anspruch typisch, zu absolut sicheren Erkenntnissen gelangen zu können. Diese Betrachtungsweise wird im dritten, dem positiven Stadium, überwunden, da nun die Erkenntnis auf die Feststellung von Zusammenhängen zwischen Erscheinungen beschränkt und somit nichts von ihnen Verschiedenes – Gründe der Phänomene oder Wesenheiten – gesucht wird. Der Anspruch des definitiven Wissens wird aufgegeben. Eine Erscheinung gilt als erklärt, wenn
24
H. Spencer, A System of Synthetic Philosophy, London – Edinburgh 1862–1893. Das Werk erschien in dieser Zeit in mehreren Schüben zum Teil mit erweiterten Neuauflagen einzelner Bände. Nach einem Prospekt sollte es aus fünf mehrbändigen Teilen bestehen, von denen allerdings nur die ersten vier realisiert wurden: Tl. 1: First Principles, Tl. 2: The Principles of Biology, Tl. 3: The Principles of Psychology, Tl. 4: The Principles of Sociology, Tl. 5. The Principles of Morality; die autorisierte deutsche Ausgabe unter dem Titel »System der synthetischen Philosophie«, übersetzt von B. Vetter, war in Stuttgart während der 1870iger Jahre in mehreren Auflagen erschienen.
25
Zit. Nach Röd, Weg, S. 313.
Zionismus
167
sie sich als Fall einer allgemeinen, aus den Erscheinungen durch Induktion gewonnenen Gesetzmäßigkeit darstellen lässt.«26 Ein weiterer wichtiger Grundsatz des Evolutionsmodells, das schon Auguste Comte formulierte, das dann aber das ganze System Spencers beherrschen wird, ist der, dass die Entwicklung in den unterschiedlichen Aggregaten, das heißt zum Beispiel im menschlichen Individuum wie auch in der Gesellschaft, analog verläuft. Wieder mit Röd: »Die Entwicklung des individuellen Denkens verläuft analog: Wir alle sind in der Kindheit Theologen, in der Jugend Metaphysiker und als reife Menschen Positivisten. Das bedeutet, daß jemand, der noch als Erwachsener theologischen Gedanken nachhängt, geistig infantil, und jemand, der metaphysisch denkt, in der Pubertät stehengeblieben ist. […] Den Stadien der intellektuellen Entwicklung entsprechen die Stadien der Sozialentwicklung. Für das theologische Stadium sind die Verbindung von weltlicher und geistlicher Macht in Form der Priesterherrschaft (Theokratie) sowie die Vorherrschaft einer Kriegerkaste kennzeichnend. Im metaphysischen Stadium dominieren die Beamten bzw. Juristen, und im positiven Stadium sollen die Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft, gestützt auf die Macht des Proletariats, als Entscheidungsträger fungieren.«27 Herbert Spencer sieht gegenüber diesem einfachen Dreistadienmodell eine sehr viel kompliziertere Struktur der Entwicklung, in der zahlreiche äußere und innere Kräfte als Ursachen wirken und bei der es auch Rückschritte geben kann wie auch nach der Erreichung einer Vollendung die Auflösung beginnt, um sodann einen neuen Zyklus zu eröffnen.28 Wichtig für Achad Haams Denken wird dann vor allem derjenige Zug in Spencers Modell, den de Vos als »Organizismus« bezeichnete. Danach sind alle Aggregate, also das tierische oder menschliche Individuum wie dann auch die menschlichen Gesellschaften in sich abgerundete Organismen, die mehr sind als nur eine Addition der in ihnen versammelten Individuen. Innerhalb eines solchen Organismus gibt es nach Spencer nunmehr auch Funktionsglieder, welche im Rahmen des Organismus eine bestimmte Funktion zu übernehmen haben und damit im Dienste der gesamten Gemeinschaft, oder des gesamten Aggregats stehen. Allerdings gibt es hier einen Unterschied zwischen dem tierischen /menschlichen Organismus und dem sozialen Organismus: Die tierisch26
Röd, Weg, S. 313–314.
27
Röd, Weg, S. 314.
28
Spencer, Die Principien der Sociologie, Stuttgart 1877, Bd. I.
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Achad Haam
menschlichen Organismen sind ein »Conkretes Ganzes«, während der soziale Organismus ein »discretes Ganzes« sind.29 Dieser Unterschied hat zur Folge, dass im konkreten Organismus, die Funktionsglieder, das Hirn, das Auge, so spezialisiert sind, dass sie nur die ihnen spezifische Funktion wahrnehmen können, während im sozialen discreten Organismus theoretisch jedes Glied alle möglichen Funktionen wahrnehmen kann.30 Trotz dieses Unterschiedes bleiben die Analogien zwischen den verschiedenen Aggregaten erhalten, so dass man sehr wohl das Wachstum eines Individuums mit dem Wachstum einer Gesellschaft in Analogie sehen darf, eine Möglichkeit, der sich Achad Haam mehrfach bedient. Der entscheidende Grundsatz in diesem Zusammenhang ist, gerade für Achad Haam, dass auch Gesellschaften wachsen, und diese Wachstumsprozesse ihren eigenen Rhythmus haben, wofür sie je ihre angemessene Zeit benötigen.31 Es ist eben dieses Beharren und der feste Glaube an ein »organisches Wachstum« von menschlichen Gesellschaften, den Achad Haam im Blick auf die jüdische Nation niemals aufgab. Und dieses Beharren auf natürlichen Entwicklungsprozessen, gerade auch der nationalen Wiederbelebung des Volkes Israel, das nicht auf politischen Aktionismus setzte, ist es, das die Gegner und Mitstreiter von Achad Haam irritierte und ärgern musste. Denn im Rahmen eines solchen Gesellschaftsbildes konnte es keine Entwicklungs-Sprünge geben, keine großen von außen bewirkten Umwälzungen wie sie Herzl mit seinem politisch-diplomatischen Zionismus erreichen wollte oder auch die Ḥoveve Zion mit ihren landwirtschaftlichen Palästinaaktivitäten und Kolonien. Achad Haam glaubte an ein natürliches Wachstum, das noch einige Generationen brauchte und das man vor allem mit dem dafür allein geeigneten Mittel befördern konnte, nämlich durch beharrliche Erziehung und Kulturarbeit. Die organizistische Soziologie Achad Haams hat auch die Feder bei seinen Aufsätzen über die Funktionseliten in der jüdischen Geschichte und Nation, über die Rollen von Prophet, Priester und Ackersmann geführt, sie hat ihm die Werkzeuge an die Hand gegeben, die Rolle der Religion im Judentum neu zu bestimmen und überhaupt, das Judentum neu zu definieren, nicht als eine von einem Volk getragene Religionsgemeinschaft, sondern als sozialen Organismus einer Nation, zu dessen verschiedenen kulturellen Erzeugnissen unter anderen die jüdische Religion gehört. Diese Neudefinition des Judentums, das soll im Folgenden im Einzelnen noch vorgestellt werden, wird für Achad Haam auch zum hermeneutischen Schlüssel und zum Auslegungsparadigma für eine neue Sicht der jüdischen Geschichte und ihrer Quellen. Das neue soziologische Denken des »positivistischen Organizismus« wurde für Achad Haam zum Instrument seiner 29
Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, S. 15.
30
Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, S. 18–21.
31
Spencer, Die Principien der Sociologie, Bd. II, S. 22–30.
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nationalen Philosophie, um die Geschichte dieses Volkes als das Wachstum eines sozialen Organismus, als jüdische Nation, zu formulieren. Achad Haam war kein systematischer Denker, sondern Essayist, der seine Texte meist aus konkreten Anlässen verfasste und dazu einzelne Grundgedanken in den Mittelpunkt stellte, ohne ein Gesamtsystem entwickelt zu haben. Es wird demnach im Folgenden die nicht einfache Aufgabe sein, aus diesen situationsbezogenen »Gelegenheitsschriften« Grundlinien eines Denkens zu erheben, die nach dem Zusammenfügen der kleinen Mosaiksteine sichtbar werden, Schriften, die aber auch für sich genommen sehr lesenswerte und gewinnbringende Miniaturen sind.
3.
Die Situation des Judentums in der Gegenwart – die Analyse
Ausgangspunkt aller Reflexionen Achad Haams ist eine kritische Beschreibung des Zustandes des Judentums seiner Tage. Dieser Zustand wird gemessen an den Verhältnissen der Vergangenheit von der Bibel bis zur eigenen Gegenwart und wird differenziert in eine jüdische Befindlichkeit im Westen Europas sowie in dessen russisch-polnischem Osten, außerdem mit verschiedenen Blicken in den Orient und insbesondere nach Palästina, das seit 1881/1882 Ziel einer neuerlichen nationalen jüdischen Kolonisation geworden war.32 Es muss in diesem Zusammenhang betont werden, was Achad Haam selbst mehrfach unterstrichen hatte, dass es ihm bei all seinen Überlegungen zuallererst um das Judentum als einer nationalen kulturellen Gemeinschaft geht, weniger um das Schicksal, die wirtschaftliche und persönliche Not der einzelnen Juden, wiewohl er diese sehr nachdrücklich beklagte. Diesen Akzent all seines Strebens umschreibt er einmal in einem Exposee zur Erstellung einer jüdischen Enzyklopädie in hebräischer Sprache an seinen Freund und dafür als Mäzen zu gewinnenden Teehändler K. Z. Wissotzki: »nach meiner Auffassung ist die Existenz des Judentums in einer angemessenen Gestalt das einzige Hauptziel unserer Bemühungen, das, was die Gesamtgemeinschaft betrifft, und alle übrigen Ziele, die wir uns als Juden / Israeliten (Bne Jisra’el)33 setzen können, sind ihm gegenüber sekundär und nur erwünscht, sofern sie zu seiner Erlangung dienlich erscheinen.«34 Das bedeutet, dass Achad Haam, im Gegensatz zu den Denkern des »politischen Zionismus« um Theodor Herzl, seine Analyse des beklagenswerten jüdischen Zustandes 32
Siehe Böhm, Zionistische Bewegung, S. 96–115.
33
Achad Haam benutzt den hebräischen Ausdruck »Jehudim« nur selten und bevorzugt stattdes-
34
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 108b, Essay: Über eine jüdische Enzyklopädie in hebräischer
sen den biblischen Begriff »Israeliten«. Sprache, Scheideweg, I, S. 393–407; vgl. noch Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 35b. 36b. 137b.
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Achad Haam
nicht auf die wirtschaftlichen und leiblichen Folgen der Verfolgung und Unterdrückung von zahllosen jüdischen Individuen, auf die physische Judennot, ausrichtet, sondern auf den geistig kulturellen Zustand des Judentums als Kulturgemeinschaft in Ost und West. Bei seiner Analyse der gegebenen Situation des Judentums folgt Achad Haam dem in seinem soeben genannten Exposee schon angeführten Kriterium, nach welchem das als »gut« zu bezeichnen ist, was dazu beiträgt, das Judentum in einer angemessenen Form zu erhalten. Achad Haam illustriert dies einmal in seinem Aufsatz »Wunden von Freundeshand«35 am Beispiel des jüdischen Krieges gegen die Römer (im Jahre 70 d. Z.), in dessen Folge der Tempel in Trümmer gesunken und die jüdische Staatlichkeit zu Ende gekommen waren. In jenen Tagen, so Achad Haam, als die Helden Judäas im Kampf ihr Leben für die Freiheit Judäas opferten, zogen die Pharisäer, unter der Führung von Jochanan Ben Sakkai, nach Javne um das halachische Recht zu erörtern. Welches damalige Tun, so fragt Achad Haam, hat das Judentum schließlich erhalten, der Heldentod der jungen Kämpfer auf den Mauern von Jerusalem, oder die Rechtskonsolidierung durch die Gelehrten im Weinberg von Javne? Achad Haams Antwort lautet: »Doch wir wissen jetzt, daß diese Pharisäer im Rechte waren; daß die jüdischen Helden, die sich dem ›zeitlichen Leben‹ geopfert, zwar den Heldentod erlitten und sich mit unsterblichem Ruhme bedeckt haben, daß aber nicht sie es waren, die durch ihren Kampf das jüdische Volk vor dem Untergang gerettet, sondern jene sanften Pharisäer, die mit ihrem Fernblick voraussahen, daß jede Hoffnung ihres Volkes, sich durch das ›zeitliche Leben‹ emporzuarbeiten, gänzlich aussichtslos war, und die sich daher dem ›ewigen Leben‹ zuwandten, um für die kommenden Generationen eine neue Welt zu bauen, in der sie inmitten der Völker leben konnten.«36 Dieses Beispiel lehrt im Sinne Achad Haams, dass das Judentum dann in einem guten Zustand zu erachten ist, wenn etwas getan wird, was den Erhalt des Judentums für die Zukunft sichert. Denn tatsächlich hat die pharisäischrabbinische Halacha die Eigenart des Judentums auch außerhalb des Landes Israel, in der Zerstreuung, bewahrt. Die Halacha hat den Juden ein abgesondertes Leben in einem »schützenden Ghetto« verordnet, hat eigene soziale und politische Institutionen, Kultur und Ethik getragen und so die Eigenart des Judentums bewahrt. Das heißt für den in evolutionistischen Kategorien denkenden Achad Haam, dass die »Evolution« dem Diasporajudentum wie »jedem Lebewesen im Laufe seiner Entwicklung diejenigen Waffen liefert, die ihm zu seiner Existenz notwendig sind und seiner Stellung in der Welt entsprechen.«37 Die Entstehung 35
Scheideweg, I, S. 74; Piz‘e ’Ohev, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 20a.
36
Scheideweg, I, S. 74; Piz‘e ’Ohev, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 20a.
37
Scheideweg, I, S. 76; Piz‘e ’Ohev, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 20b.
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des Korpus rabbinischen Rechts war demnach das der neuen Diasporasituation angemessene Instrument, um das Judentum als nationale Einheit zu bewahren. Diese Situation hat sich allerdings, und damit kommt Achad Haam zur Bewertung der eigenen Gegenwart, grundlegend geändert und zwar durch die Aufklärung und die Emanzipation. Die Juden wurden nun gleichberechtigt und oder bekamen Zugriff auf die modernen Ideen der Aufklärung und sie glaubten darum irrtümlicherweise, dass die von der bisherigen Entwicklung des Judentums geschaffenen Vorkehrungen, das »schützende Ghetto«, die kulturellen Einrichtungen, welche die Väter Israels in dieser Zeit geschaffen hatten, nunmehr »als wertloses Gerümpel« beiseite geräumt werden könnten, um sich ganz der neu eröffneten europäischen Kultur mit argloser Sorglosigkeit hinzugeben. Doch mit einem Mal hat sich das Rad zurückgedreht, der Antisemitismus hat sich wieder erhoben, die rechtlichen und kulturellen Erwartungen der Emanzipation wurden nicht erfüllt und das Judentum steht nun ohne die bewährten Schutzmauern der rabbinischen Einrichtungen da. In einem Brief an die Zeitschrift Ha-‘Omer (Die Garbe) beschreibt Achad Haam die somit eingetretene Situation so: »Unser Exil hat zwei Gesichter: Ein materielles und ein geistiges. Auf der einen Seite bedrückt es die einzelnen Menschen unseres Volkes in ihrem materiellen Leben, indem es ihnen die Möglichkeit verweigert in voller Freiheit wie die anderen Menschen ihren Existenzkampf zu bestreiten, jeder gemäß seinen Fähigkeiten; und andrerseits bedrückt es nicht weniger die Gesamtheit unseres Volkes in seinem geistigen Leben, indem es ihm die Möglichkeit verweigert, sein nationales Wesen gemäß seinem Geiste zu bewahren und zu entwickeln. Dieser geistige Druck […] wird insbesondere in unserer Zeit besonders schwer, nachdem das Leben die kunstvolle ›Mauer‹ eingerissen hat, welche den Geist unseres Volkes in den vergangenen Generationen beschützte, um ein Leben gemäß seines eigenen Wesens zu führen. Wir aber und unser nationales Leben sind nun dem Geist der uns umgebenden Völker versklavt, so dass wir unser eigenes nationales Wesen nicht mehr vor einer grundlegenden Zerstörung bewahren können, dies weil wir gezwungen sind uns dem Geist des fremden Lebens zu unterwerfen, das stärker ist als wir.«38 In seinem großen Essay zur »Wiederbelebung des Geistes« beklagt daher Achad Haam, dass die jüdische Kultur wegen solcher äußerer Beschränkungen in einem beklagenswerten Zustand sei und nicht auf die Höhe zu klimmen vermöge, die den Begabungen dieses Volkes angemessen sei.39
38
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 380b.
39
Teḥijat ha-Ruach (Die Wiederbelebung des Geistes), Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 184a.
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Achad Haam
Mit all seiner Klage um die gefallenen Schutzmauern der Vergangenheit will Achad Haam indessen nicht einer kulturellen Abkapselung Israels das Wort reden, im Gegenteil. In seinem Essay »Nachahmung und Assimilation«40 zeigt er, dass es zwei Weisen der Nachahmung gibt, von denen die eine zur Selbstauflösung, zur Assimilation, und die andere zur Bereicherung des eigenen Wesens dient. In diesem Aufsatz, argumentiert Achad Haam ganz in dem Argumentationsschema von Herbert Spencer, nach welchem es eine Analogie zwischen dem Verhalten und der Entwicklung des Individuums und seiner Gruppe oder seiner Nation gibt, wie auch zwischen den Entwicklungsstufen der verschiedenen Nationen dieser Welt. Zunächst zeigt er dort deshalb, dass die Nachahmung eine der Grundvoraussetzungen der Entstehung von Sprache und Kultur ist, da ein Kind seine Sprache und Kultur eben nur durch Nachahmung der kulturell Stärkeren oder Erwachsenen erwirbt, also eine grundsätzlich positive Verhaltensweise ist. Im Blick auf die Kultur einer ganzen Gruppe hat diese positive Nachahmung zugleich ein retardierendes und konservierendes Element der jeweiligen Gruppenkultur. Diese Form der Nachahmung nennt Achad Haam die assimilatorische Nachahmung, in welcher sich der kulturell Schwächere dem Stärkeren anpasst. Neben diese assimilatorische Form der Nachahmung tritt aber in der menschlichen Gesellschaft, wenn eine Mehrzahl gleich befähigter Individuen miteinander lebt, die andere Form der Nachahmung, welche die Vorzüge des anderen zwar nachahmt, nicht aber in individueller Selbstaufgabe, sondern um sich die fremden neuen Fähigkeiten anzueignen. Durch eine derartige Aneignung fremder Vorzüge werden diese in die eigene Persönlichkeit integriert und stärken sie. Der Mensch verfolgt dabei das Ziel, den anderen, dessen überlegene Eigenschaften man zunächst nachahmt, schließlich zu überholen und besser als er zu werden. Diese Nachahmung nennt Achad Haam die konkurrierende Nachahmung. Eine solche doppelte Bewegung von assimilatorischer und konkurrierender Nachahmung sieht Achad Haam auch in der jüdischen Kulturgeschichte mehrfach verwirklicht – sie ist nach seiner Auffassung das Geheimnis der Dauer der jüdischen Nation. Wenn immer die Juden in ihrer Geschichte kulturell stärkeren Völkern begegneten, gab es zunächst von Seiten der herrschenden Kreise zwar den Versuch durch eine Abkapselung das Volk vor der Assimilation zu behüten, was aber auf die Dauer nicht gelang. Stattdessen folgte solch einer anfänglichen assimilatorischen Nachahmung dann in der Regel die konkurrierende Nachahmung, sprich die »Judaisierung« und Integration der fremden überlegenen Kulturgüter in die eigene Kultur. So ist es zur Zeit der Hellenisierung des Judentums vor der Tempelzerstörung geschehen,41 dann wieder im Mittelalter mit dem Auf-
40
Ḥikkuj we-Hitbolelut, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 86–89, Scheideweg, I, S. 328–342.
41
Zu ihr s. Jüdisches Denken, Bd. 1., S. 141–220. 221–298.
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kommen der griechisch-arabischen Philosophie42 – wie Achad Haam dies an anderer Stelle erläutert – und so erscheint es Achad Haam auch wieder in der eigenen Gegenwart zu geschehen. Achad Haam, ein heftiger Kritiker der »assimilatorischen« Nachahmung durch die deutsch-jüdischen Reformer um Abraham Geiger,43 ist darum sogar geneigt, anzuerkennen, dass selbst in dieser Reform, wenn auch unbewusst, sich letztlich ein Streben weg von der assimilatorischen und hin zur konkurrierenden Nachahmung bemerkbar mache.44 Wenn Achad Haam demnach in der Nachahmung fremder Völker durch das jüdische Volk, wegen dessen Fähigkeit, solches fremdes Gut zu judaisieren und sich dadurch selbst zu bereichern, keine dauernde Gefahr sieht, so sieht er doch durch die Emanzipation eine neue größere Bedrohung entstanden als sie bisher gegeben war. Die Juden und ihr Judentum, so glaubt Achad Haam, träten nun zum ersten Mal aus ihrem Ghetto hinaus, um sich dort den jeweiligen sie umgebenden unterschiedlichen Nationalkulturen anzugleichen. Dies habe aber zur Folge, dass sie verschiedene Kulturgüter von außen aufnähmen und »judaisierten«, was schließlich zu voneinander abweichenden Formen von Judentum und damit zu einer Aufsplitterung des einen Israel führte. Jeder aufmerksame Leser der vorliegenden Darstellung des »Jüdischen Denkens« wird erkennen, dass Achad Haam hier die jüdische Geistesgeschichte durch eine einfarbige Brille sieht, die er erst im Blick auf die eigene Gegenwart abnimmt, wodurch ihm nun eine anscheinend nie dagewesene kulturelle Vielfalt und damit Zersplitterung des Judentums erscheint und die angeblich bis dahin bestehende Einheit bedrohe.45 Auch vor der Emanzipation und Aufklärung hat es, wie die vorausgegangenen Bände des vorliegenden Buches zeigen, unterschiedliche jüdische Kulturen gegeben und Achad Haam erliegt hier der Illusion einer jüdischen Einheitskultur, die es so nie gegeben hat, die aber auf der Agenda seines eigenen kulturpolitischen Handelns steht. Gewiss, durch die weltweite Aufgabe oder Schwächung der rabbinischen Religionskultur, worüber später noch zu handeln sein wird, war in der Gegenwart Achad Haams zugestandenermaßen ein bis dahin wirksamer diasporaweiter Vereinheitlichungsfaktor im Verschwinden begriffen, so dass seine Befürchtung nicht völlig unberechtigt erscheint. Es ist diese bis hier vorgestellte Analyse Achad Haams hinsichtlich des kulturellen Zustandes des Judentums und der damit verbundenen Einschätzung von dessen Überlebensfähigkeit als kulturelle und nationale Größe, die Achad Haam dasjenige Heilmittel vorschlagen ließ, das zu seinem Markenzeichen und zu sei42
Zu ihr s. Jüdisches Denken, Bd. 1., S. 355–613.
43
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3., S. 578–616.
44
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 89a, Scheideweg, I, S. 340–341.
45
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 89b, Scheideweg, I, S. 341.
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nem ceterum censeo geworden ist. Dieses Remedium zur künftigen Bewahrung des Judentums angesichts der beschriebenen Situation ist für ihn die Errichtung eines kulturellen oder geistigen Zentrums im Land der Väter, eines Merkas ruchani, welches das nachahmenswerte kulturelle Vorbild für die in der Welt vorerst verstreut bleibenden Judenschaften werden sollte – wozu unten noch weiteres zu sagen sein wird. Ein letzter Gedanke der Analyse des Zustandes des Judentums muss hier noch angeführt werden. In einem anderen gesellschaftswissenschaftlichen Aufsatz zur Bedeutung der »allgemeinen öffentlichen Meinung« (Haskama kelalit) mit ihren positiven wie negativen Seiten für die Gestaltung einer Gesellschaft, kommt Achad Haam auf die jüdische Selbstachtung zu sprechen.46 Und auch hier sieht er verheerende Gefahren für das Judentum. Da die öffentliche Meinung, beziehungsweise der gesellschaftliche Konsens, die Eigenart von menschlichen Gruppen prägt und zugleich deren Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen formuliert, ist ein solcher Meinungskonsens für die Konsolidierung von menschlichen Gruppen oder Nationen konstitutiv. Solange sich nun die Juden als eigenständige Gruppe, als Volk, empfanden, konnten ihnen die Schmähungen von Seiten ihrer Feinde nichts anhaben, da der eigene jüdische Gruppenkonsens, nämlich dass Israel das erwählte Volk sei, das eigene Selbstbewusstsein sicherte und der Jude stolz jede Schmähung zurückweisen konnte. Seit nun aber mit der Emanzipation die Gruppengrenzen zwischen Juden und Nichtjuden eingerissen wurden, die Juden sich nicht mehr als das abgetrennte auserwählte Volk, sondern als Konfession im Rahmen einer der europäischen Nationen verstanden, wurde plötzlich der nichtjüdische europäisch-nationale Konsens, der die Juden verachtete, recht eigentlich zum eigenen Konsens der assimilierten Juden, die nun selbst begannen die Juden zu verachten und die antisemitischen Vorurteile zu übernehmen.47 Dies musste natürlich als ein sehr gravierendes, das Judentum aufs Äußerste bedrohendes Phänomen beurteilt werden, stärkte es doch die Neigung, sich gänzlich vom Judentum loszusagen. Angesichts all dieser bedrückenden Einsichten in den desolaten Zustand des Judentums und der jüdisch-nationalen Kultur stellt Achad Haam zu Ende seines Aufsatzes »Schelilat ha-Galut« (Verneinung des Exils)48 die naheliegende Frage: »Was also ist die neue Mauer, die in Zukunft als Schutzraum für unser nationales Leben anstelle der alten Mauer, die vor unseren Augen zerfällt, dienen
46
Vgl. o. zu L. Pinsker und dessen »medizinische Erklärung«, wohingegen Achad Haam sozio-
47
Essay: »Ḥazi Neḥama« (Ein halber Trost), Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 70–72.
48
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 399–403.
logisch argumentiert.
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kann? Die Vertreter einer nationalen Autonomie49 müssen bedenken, dass wir mit der Formulierung ›anstelle der alten Mauer‹ fordern, dass die neue Mauer ihre nationale Aufgabe mit derselben Vollkommenheit und im selben Umfang erfüllen müsse, wie es unseren Vätern mit ihrer Mauer gelungen war. Und jede Antwort, die nicht verspricht diese Bedingung zu erfüllen, kann uns nicht befriedigen. Und die Vertreter der nationalen Autonomie wissen sehr wohl, dass es seit nunmehr zwanzig Jahren in unserer Mitte eine ›zionistische‹ Gruppierung gibt, die wie folgt auf die gestellte Frage antworten: ›Die neue Mauer für unser nationales Leben im Exil muss außerhalb des Exils erbaut werden – im Land unserer Väter.‹ Diese Gruppierung unterscheidet sich von den sogenannten ›wahrhaften‹ Zionisten [um Theodor Herzl] dadurch, dass sie nicht an eine [geradezu messianische] Einsammlung der jüdischen Exile glaubt und die jüdische Existenz in der Diaspora nicht in Frage stellt. Im Gegenteil, da sie die jüdische Diaspora als dauernde Option anerkennen, die wir nicht aus der Welt schaffen können, fordert sie, unserem nationalen Leben im Exil eine Stärkung zu geben. Sie sieht aber den einzigen Weg dahin in der Erschaffung eines dauernden Zentrums unserer Nationalität an dem ihr natürlichen Ort. […]. Dieses soll auf alle [in der Welt verstreuten jüdischen Zellen] wirken durch seine ihm eignende Anziehungskraft. Dadurch werden all die in der Welt verstreuten jüdischen Zellen zu einem natürlichen ›Leib‹ mit einer steten klar umrissenen Form.«50 Was sich Achad Haam unter dieser, dann meist Merkas le’umi ruchani (Nationales geistiges Zentrum) genannten, Einrichtung im Einzelnen vorstellte, soll später noch erörtert werden.
4.
»Wir sind ein Volk« – Das Judentum als Nation
4.1
Die nationbildende Grundlage
In seinem Essay »Zeit ist’s!«51 polemisiert Achad Haam gegen die deutschjüdischen Reformer, weil sie die Erinnerung an das konkrete Land Israel zu einer
49
Sie fordern eine nationale Autonomie des jüdischen Volkes im Rahmen der verschiedenen Staaten Europas. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Richtung war der jüdische Historiker Simon Dubnow. Achad Haam lehnte dieses Modell eines nationalen Judentums in der Diaspora ab.
50
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 402b-403a.
51
»Higi‘a ha-Scha‘a«, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 379–390.
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liturgischen Chimäre verblassen ließen und das nationale Selbstbewusstsein des Judentums als eine Gefahr für die Integration der Juden in die europäischen Nationen betrachteten. Die Gedankengänge dieser »Reform-Assimilanten« sind laut Achad Haam die Folgenden: »Wenn wir sagen, dass wir ein nationales Land haben, in welches wir tatsächlich zurückkehren wollen und nicht nur im Gebet –, dann gestehen wir ein und wollen, dass auch die anderen dies eingestehen, nämlich dass wir ein Volk sind und nicht nur eine Betergemeinde. Und wenn wir ein Volk sind, dann brauchen wir auch einen nationalen Geist, durch den wir uns von den anderen Völkern unterscheiden, den wir verehren und bewahren müssen, wie dies alle Völker mit ihrem nationalen Geist tun.«52 Und eben dies sei es, was die Reformer offenbar nicht wollen. Achad Haam wirft hier den assimilatorischen Reformern des Judentums vor, dass sie, wie Abraham Geiger, die nationalen Elemente des Judentums – das heißt Jerusalem als künftigem Mittelpunkt eines jüdischen Staates, regiert von einem politischen Königsmessias – nur als spirituelle Größen betrachten wollten, die keinerlei politische oder gar nationale Bedeutung mehr hätten,53 weil sie mit einem richtigen Gespür die nationale Sprengkraft solcher liturgischer Formulierungen erkannt hatten. Sie hatten diese nationalen Elemente der Liturgie deswegen entweder ganz eliminiert oder eben spirituell umgedeutet. Achad Haam sieht in solchen »Reformen« nichts weniger als eine Selbstaufgabe des Judentums und eine Preisgabe der jüdischen Kultur und ihrer Schätze. Achad Haam, der in diametralem Gegensatz zu solchen entnationalisierenden Deutungen des Judentums steht, ist demgegenüber vollkommen überzeugt, dass die Juden als Volk und Nation gerade ihren eigenen nationalen Geist erhalten und pflegen müssen. Er fährt deshalb fort und sagt: »Und wenn wir unseren nationalen Geist verehren, wo sollen wir diesen denn finden, wenn nicht in unseren historischen Besitztümern, insbesondere in unserer nationalen Sprache und Literatur, in denen jede Generation ihren geistigen Schatz aufbewahrte und in denen die Väter den Söhnen das Beste ihres Denkens zum Erbe hinterlassen haben, das Geheimnis ihrer innersten Zwiesprache und das Echo ihres Seufzens. – Darum hat die Bewegung der Ḥibbat Zion (Zionsliebe), sobald sie zur ›Wiederbelebung des Geistes‹ erwachte, die Hebung des Niveaus der Sprache und der Literatur, die Gründung von natio52
Kol Kitve Aḥad ha-’Am, S. 379b-380a.
53
Zu Abraham Geigers Entnationalisierungsprogramm siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 611– 613.
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nalen Schulen und dergleichen veranlasst, – nicht als ein in sich selbstständiges Ziel, sondern als ein unverzichtbares Element für ein Leben in Frieden im Lande Israel, als eine Art Beweis dafür, dass wir tatsächlich eine eigenständige Nation sind und wir alles besitzen, was zum Begriff ›Nation‹ gehört. Und aus diesem Grunde müssen wir, berechtigterweise, auch das erlangen, was wir bislang nicht besitzen: ein nationales Territorium.«54 In diesen programmatischen Zeilen hat Achad Haam das gesamte Programm der Ḥibbat Zion-Bewegung, wie er sie – allerdings nicht mit ungeteilter Zustimmung – verstanden hatte, niedergelegt, das Programm der Richtung, die gemeinhin »Kulturzionismus« genannt wurde, dessen Ziele mit dem Slogan ›ein Volk, eine Nation, eine Kultur und ein Land‹ umschrieben werden kann. Achad Haam begnügte sich indessen nicht mit solchen bekenntnishaften Proklamationen zur Umschreibung seines Bildes von einer jüdischen Nation. Es war ihm daran gelegen, seine Forderungen auch wissenschaftlich zu begründen. Er tat dies mehrfach, aber in besonders eindrücklicher Weise in seinem kurzen Essay mit dem Titel »Vergangenheit und Zukunft«.55 In diesem schönen Aufsatz greift er wiederum zu der organizistischen Analogie Spencers und stellt am Beispiel der Definition eines individuellen »Ich« die unverzichtbaren Elemente eines »nationalen Ich« dar. In diesem Zusammenhang verweist er außerdem auf die nationalismustheoretischen Arbeiten von J.S. Mill56 und E. Renan,57 womit er seine Teilhabe am gesamteuropäisch nationalen Diskurs dokumentiert. In dem genannten Essay stellt Achad Haam zunächst die ›von vielen Philosophen erörterte‹ Frage, was denn das »Ich« einer Person ausmache. Ohne jedoch in die Tiefe solcher Erörterungen hinabtauchen zu wollen, gibt er seine Definition der Konstituenten eines solchen individuellen Ichs. Man könne, so meint er, sagen: »daß das ›Ich‹ eines jeden Menschen die Summe bildet aus der Addition seines Gedächtnisses und seines Willens, aus der Verbindung [hitachdut, Vereinung] der Vergangenheit mit der Zukunft. Denn in der Tat, wenn der Mensch ›Ich‹ sagt, dann meint er nicht seine Haare oder seine Nägel, die heute zu seinem Körper gehören und morgen auf dem Misthaufen liegen […] und die übrigen Teile seines Organismus […], sondern jenen Geist oder jene innere
54
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 379b-380a.
55
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 81–83; Scheideweg, Bd. I, S. 303–316.
56
J.S. Mill, Utilitarianism, Liberty and Representative Government, London 1910; ders., Considerations on Representative Government 1861 (2006); u. s. E. J. Hobbsbawm, Nations and Nationalism since 1780, Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990.
57
S. oben Jüdisches Denken Bd. 4, Einführung, 2.2, Zionismus I, 4.
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Achad Haam
Kraft, die auf geheimnisvolle Weise alle Eindrücke und Erinnerungen der Vergangenheit mit den Wünschen und Hoffnungen der Zukunft verbindet und aus all dem zusammen ein einheitliches, vollkommen ausgeprägtes organisches Gebilde schafft.«58 Die hier aufgezählten Grundbausteine des »Ich« sind nach Auffassung von Achad Haam nicht willkürlich gewählt, sondern sind konstitutiv, sofern ein Ich ein wirkliches »Ich« sein soll. Dies wird insbesondere deutlich, wenn Achad Haam die Analogie zum »nationalen ›Ich‹« beschreibt. Wo ein solcher IchOrganismus, sei es der individuelle Mensch oder der soziale Organismus der Nation, eines dieser beiden Grundelemente aufgibt oder vernachlässigt, ist das »Ich« in Gefahr und droht unterzugehen. Das heißt, wo immer ein Ich seine Vergangenheit vergisst, vergisst es das, was sein Ich erst gebildet und konstituiert hat. In einem nachfolgenden Aufsatz59 vergleicht Achad Haam diesen Vorgang der Ich-Bildung mit einem Menschen, der sich hat hypnotisieren lassen und während der Hypnose eine Reihe von Befehlen erhielt, die er sodann nach seinem Erwachen ausführt und glaubt, aus freiem Willen zu handeln. Entsprechend, so meint Achad Haam unter Berufung auf Henri Bergson,60 gehe es jedem Menschen, der in einer bestimmten Gesellschaft aufwachse, die ihm aus ihrer Tradition auf dem Wege der bewussten wie unbewussten Erziehung Verhaltensweisen aufpräge, von denen das Individuum dann zwar glaubt, dass sie seinem eigenen Wollen entspringen, die aber doch letztlich nichts anderes sind als jene Befehle des Hypnotiseurs, die den Menschen in seinem Wachzustand ohne sein eigenes Zutun bestimmten. Das bedeutet, Denken und Handeln des Menschen, eingeschlossen seine ethisch-moralischen Konzepte, sind ihm allemale schon in weitem Maße durch die jahrhundertelange Tradition seiner eigenen Gruppe, Familie, Stamm oder Nation, vorhergeprägt: »Jeder Kulturmensch,61 der in irgendeiner sozialen Gruppe geboren und erzogen ist, befindet sich sein ganzes Leben hindurch in dem Zustande eines Menschen, der von einem andern Willen unbewußt gelenkt wird. Der Kreis, der ihn umgibt, versetzt ihn gleich beim Eintritt ins Leben in einen hypnoti-
58
Scheideweg, Bd. I, S. 307; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 379b
59
»Schte Raschujot« (Zwei Gewalten, oder Herrschaften), Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 83–86;
60
Kol Kitve Aḥad ha-ʽAm, S. 83a; Scheideweg, Bd. I, S. 317. Siehe Henri Bergson, Matière et
61
Das Hebräische spricht hier von einem Menschen, der in einer »geordneten Gesellschaft«
dt.: »Autonome Provinzen«, Scheideweg, Bd. I, S. 316–328. Memoire 1896; dt. Materie und Gedächtnis (Jena 1908), Hamburg 2001. (ḥevra mesudderet) lebt, also auch in einfachen Stammesgesellschaften.
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schen Schlaf [tardema hypnotit], und in Gestalt der Erziehung suggeriert er ihm eine Anzahl von Befehlen, die von vornherein die Entwicklung seines Geistes bestimmen und seinen Verstand und Gemüt, seinen Neigungen und Willensentscheidungen feste Formen aufzwingen. Diesen Einfluß erweitert und befestigt die Umgebung in rastloser Tätigkeit auch an den Erwachsenen. Die Sprache und die Literatur, die Religion und die Moral, die Gesetze und die Sitten – diese und ähnliche Mittel wendet die Gesellschaft an, um das Individuum zu hypnotisieren und ihm so lange ihre Gebote zu suggerieren, bis es ihnen rettungslos verfallen ist.«62 Mit seinem Vergleich zur Hypnose will Achad Haam zeigen, dass der eine Teil des menschlichen Ich, der aus der Vergangenheit schöpft, nicht nur durch persönliche Erinnerung, sondern durch die »Erinnerung« von vielen Generationen seiner Vorfahren und seiner kulturellen Gruppe geprägt ist. Kehren wir nun zur Analogie von Individuum und Gesellschaft zurück, die Achad Haam in seinem oben angesprochenen Essay »Vergangenheit und Zukunft« eingeführt hatte, so bedeutet dies: Das »Ich« des Menschen ist durch eine doppelte Vergangenheit bestimmt, durch die ihm meist unbewusste Vergangenheit seiner Gruppentradition wie auch durch eigene direkte Erinnerungen, seien diese selbst Erlebtes oder Geschehnisse, Bilder und Gedanken, welche ihm im Laufe seiner Erziehung von seiner Gruppe mitgeteilt wurden. Neben dieser »Vergangenheit« gehört als zweiter Bestandteil eines Ich nun auch noch eine »Zukunft« hinzu, das heißt seine Wünsche, sein Wollen und Planen für die Zukunft. Und diese beiden Grundelemente eines »Ich« – hier beruft sich Achad Haam auf J.S. Mill und E. Renan – bestimmen analog auch ganze Gruppen oder Nationen. Gleich einem Individuum wird demnach ein solches nationales »Ich« ebenfalls von einer »Mischung der Vergangenheit und Zukunft dargestellt: Erinnerungen und Eindrücke einerseits und Hoffnungen und Wünsche andererseits, die sich miteinander verknüpfen und verschlingen und allen Volksangehörigen gemeinsam sind.«63 An dieser Stelle seiner Argumentation führt Achad Haam das ihm gewiss von Nachman Krochmal bekannte64 dreistufige Herder-Hegelsche Wachstumsschema von Jugend, Mannesalter und Greisenalter ein, dem alle Völker wie menschliche Individuen unterlägen, um nach deren Durchschreitung unterzugehen. Gleichfalls an Nachman Krochmal angelehnt, übernimmt Achad Haam die Auffassung, dass manche ins Alter gekommene Völker mitten aus dem Alter heraus wieder einen Schub der Erneuerung erfahren
62
Scheideweg, Bd. I, S. 316–317; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 83a.
63
Scheideweg, Bd. I, S. 309; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 81b.
64
S. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 444–476.
180
Achad Haam
können und nicht zugrunde gehen, was Krochmal allerdings nur von Israel behauptete. Derjenige Faktor, der die drei Altersstufen in der Entwicklung von IchOrganismen prägt und voneinander unterscheidet, ist laut Achad Haam das Maß, in welchem Vergangenheit und Zukunft in ihnen wirksam sind, also ob Vergangenheit oder Zukunft, sprich Erinnerung oder Zukunftsplanung, im Vordergrund oder Hintergrund des Bewusstseins stehen: »Das ›Ich‹ des Jünglings ist arm an Erinnerungen der Vergangenheit und reich an Hoffnungen und Wünschen für die Zukunft, die seine Seele ausfüllen, seine Phantasie […] und seine Kräfte zur Betätigung anspornen, beides in ungehemmter und unbegrenzter Weise. Wenn er erwachsen ist und im kräftigen Mannesalter steht, einen reichen Schatz von Erfahrungen und Erinnerungen der Vergangenheit gesammelt hat, aber dann noch immer genügend Kraft in sich verspürt, um Wünsche zu haben und die Erfüllung seiner Wünsche anzustreben, dann befinden sich die beiden Teile seines ›Ich‹ im Gleichgewicht: die Zukunft regt in ihm die Willensbewegung an, und die Vergangenheit setzt dieser Bewegung eine Grenze und zeichnet ihr die Bahn vor. […] Ist aber der Mensch ins Greisenalter eingetreten und hat keine Kraft mehr, um sich seine Zukunft selbst zu bereiten, dann wird sein ›Ich‹ von allen Wünschen und Hoffnungen verlassen, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in das Meer der Vergangenheit zu versenken, sich ausschließlich mit der Analyse seiner während des vergangenen Lebens gewonnenen Eindrücke und Erinnerungen zu beschäftigen […] und findet seine Befriedigung darin.«65 Und natürlich gilt das Gesagte per analogiam auch für jedes nationale »Ich«. Das Maß an Präsenz von Vergangenheit und Zukunft ist demnach ein Maßstab zur Beurteilung des Zustandes einer Nation. Und Achad Haam zögert nicht, diesen Maßstab auf die jüdischen Gruppen seiner Zeit anzuwenden und sie mit beißender Kritik zu überschütten. In Reformern vom Schlage eines Abraham Geiger sieht Achad Haam Leute, die dem nationalen Ich seine Zukunft wegnehmen und die historische, das heißt messianisch-politische, Zukunft durch ein »Nirwana«, ein völliges Nichts ersetzen wollen.66 Die Vertreter der Wissenschaft des Judentums, wenden sich demgegenüber ganz der Geschichte, sprich der Vergangenheit, zu und vergessen oder bestreiten gar eine jegliche Zukunft dieses nationalen Ich. Beide Gruppen halbieren das nationale Ich und machen es deshalb lebensuntüchtig. Nicht besser sind schließlich jene jungen Pioniere der sogenannten Bi65
Scheideweg, Bd. I, S. 307–308; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 81a.
66
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 611–613.
Zionismus
181
lu,67 die eine neue Zukunft suchen, ohne sich mit der Last der Vergangenheit beladen lassen zu wollen. Darum, so schließt Achad Haam diesen Essay, kann es für das Judentum als Nation nur da eine Zukunft geben, wo Vergangenheit, in Gestalt der jüdischen Tradition, und die Zukunft im Streben nach der Weiterentwicklung und Gestaltung einer kulturellen nationalen Zukunft, zu der auch die Wiedergewinnung des Landes der Väter gehört, zusammengehalten werden. Stellt man nun die Frage, was aus der jüdischen Vergangenheit für Achad Haam das Nation-bildende Gut sei, so fällt zuallererst ins Auge, dass bei ihm die ethnisch-biologische Definition des Judentums, etwa im Sinne der rabbinischen Bestimmung, dass Jude sei, wer von einer jüdischen Mutter abstammt, keine Rolle spielt. Demgegenüber hebt Achad Haam ganz auf das kulturelle Erbe ab, von dem, wie sich weiter unten noch zeigen wird, die Religion nur ein Teil, nicht aber das Ganze ist.68 In seinem Essay »Der Weg des Geistes«69 zitiert Achad Haam aus den Brüll’schen Populär-wissenschaftlichen Monatsblättern70 mit freudiger Zustimmung einen kleinen Beitrag unter der Überschrift »Warum sind wir Juden?« aus der Feder des Rabbiners Dr. Caesar Seligmann aus Hamburg, der sich von den diesbezüglichen dogmatischen Argumenten seiner deutschen Glaubensgenossen distanziert. Man liest dort Sätze wie »Man ist nicht Jude, weil das Judenthum das oder Jenes lehrt, das oder Jenes hofft.« Seligmann fährt fort und meint, ein Argument für das Judesein könne niemals die Behauptung sein, ›weil das Judentum die beste aller Religionen‹ sei. Auch gelte nicht die Formel von Gabriel Riesser, der meinte, man müsse aus Ehrgefühl Jude bleiben, oder von anderen, welche die Gewissenhaftigkeit oder die Pietät anführten. Alle diese Gründe seien aber nicht der Grund für das Beharren im Judentum. Darum schreibt Seligmann: »Warum wir Juden sind? Warum wir Juden sein müssen? Warum? Thörichte Frage! Frage das Feuer, warum es brennt! Frage die Sonne, warum sie scheint! Frage den Baum, warum er wächst! Frage den Löwen, warum er brüllt! Frage den Menschen, warum er liebt! So frage den Juden, warum er Jude ist. Wir können nicht anders! Es ist in uns ohne unser Zuthun! Es ist da, 67
Erste Einwanderungsgruppen nach Palästina, meist russische Studenten, die nach der Schaffung des Ansiedlungsrayon und der zahlreichen Pogrome schon im Sommer 1882 auswanderten. Bilu sind die hebräischen Initialen des Jesajaverses 2,5: »Haus Jakob, kommt, wir wollen gehen«.
68
S. Scheideweg, Bd. II, S. 143; Kol Kitve, S. 160b.
69
In dessen zweiter Gruppe unter dem Titel »Drei Stufen«, Scheideweg, Bd. II, S. 102–115; Kol
70
Populär-wissenschaftliche Monatsblätter zur Belehrung über das Judentum für Gebildete aller
Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 150–153. Konfessionen, vom 1.1.1898, 18. Jg. Nummer 1, S. 1–4; einsehbar im Internet bei compact memory.
Achad Haam
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urlebendig und gottesgewaltig; Es ist das Gesetz unserer Natur! […] Wir können uns nicht […] losreißen von den Wurzeln unseres Seins. […] Dreitausend Jahre Weltgeschichte haben es bewiesen, daß es unmöglich ist, die jüdische Volksseele zu vernichten.«71 Weiter unten im Text betont Seligmann nochmals, dass es nicht eine jüdische Lehre, nicht ein jüdisches Bekenntnis sei, was an erster Stelle des Judeseins rangiere, sondern das »jüdische Empfinden, das Instinktive, Undefinirbare, nennt’s wie ihr wollt, nennt’s Gemeinschaft des Blutes, nennt’s Stammesgefühl, nennt’s Volksseele, am liebsten aber nennt’s: Das jüdische Herz! […] Es ist ein Stück unserer Persönlichkeit, unser erweitertes Ich, es ist ein Erzeugnis des Blutes und der Erziehung, halb angeboren, halb anerzogen.«72 Für Achad Haam ist dies ein Zeugnis dafür, dass echtes jüdisch-nationales Bewusstsein sich auch außerhalb von definierten zionistischen Bewegungen findet und dies ist für ihn das entscheidende Zeugnis dieses Seligmannʼschen Textes. Seligmann kommt auch darin Achad Haam entgegen, dass er das Judesein nicht über die Religion, nicht über Dogmatisches oder Lehraussagen definiert, sondern über emotionale, existentielle Befindlichkeiten, die nicht intellektuell, sondern vom gefühlten Bewusstsein her bestimmt werden. Achad Haam, der im Folgenden allerdings weniger mit Schleiermacher und Abraham Geiger73 in den Kategorien von Gefühl und Bewusstsein argumentiert als mit Hegel und Nachman Krochmal74 in Kategorien, nach denen der »Geist« das Entscheidende ist, kommt am Ende seines Aufsatzes deshalb zu einem anders benannten Kern menschlicher Gemeinschaft, der entsprechend für die jüdische Nation gilt. Demnach meint Achad Haam, dass es nicht ausschlaggebend ist, ob ein Jude Zionist, Ḥovev Zion (Zionsfreund) oder Anhänger sonst einer jüdischen Richtung ist, was über die Gemeinsamkeit entscheidet, sondern die gemeinsame geistige Wurzel: »Und darum wiederhole ich hier, daß wir östlichen Zionsfreunde es jenen Zionisten [der Herzlʼschen Richtung] nicht gleichtun dürfen, die an dem bekannten Grundsatz festhalten: ›wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.‹ Unser Nationalismus [Le’umijut] ist viel weiter [reḥava, breiter, offener] als der ihrige und hat Raum für viele und vielfältige Tätigkeit. […] Nicht die Übereinstimmung in der praktischen Durchführung einer Methode verbindet Menschen innerlich und wirklich, sondern die Einheit der geistigen Wurzel, der alles entstammt. Unsere Alten haben diese Wahrheit 71
Seligmann, Monatsblätter, S. 2.
72
Seligmann, Monatsblätter, S. 3.
73
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 583–590.
74
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 458–465.
Zionismus
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erkannt und gesagt: ›Wer vom Götzendienste sich lossagt, hat gleichsam die ganze Thora anerkannt.‹ Auch wir sagen nun in unserem Sinne: ›Wer von der Assimilation sich lossagt, hat gleichsam der ganzen zionistischen Lehre beigepflichtet.‹ Wenn das ›Ich‹ da ist – ist alles da!«75 Das, was alle Juden verbindet und zur Nation macht, ist demnach nicht die jüdische Religion, sondern die Einheit der geistigen Wurzel, also jene eminent kulturelle Kategorie, von der oben schon die Rede war. Achad Haam, wohl wissend, dass zur Zeit der Vorherrschaft der rabbinischen jüdischen Religiosität der zuerst zitierte Satz von der Ablehnung des Götzendienstes die Einheitsformel des »offiziellen« Judentums war, hat das klare Bewusstsein, dass dieser Satz nunmehr neu, gemäß der säkularen nationalen Konzeption des Judentums, zu formulieren ist. Die Hauptsache ist in der Gegenwart die Verweigerung der Assimilation. Trotz dieser hegelianischen Formulierung des Kerns des jüdischen Nationalismus als »Geist«, verwendet Achad Haam in seinen anderen Texten auch ohne Zögern den Bewusstseins- oder Gefühlsbegriff Regesch jehudi, »das jüdische Gefühl« oder »Bewußtsein« zur Benennung des national-jüdischen Kerns.76 Es ist dieser Geist der jüdischen Tradition, der Geist des jüdischen Volkes, welcher die alle Juden verbindende Kultur hervorgebracht hat und auch künftig hervorbringen wird. Es war dieser Geist, welcher die biblischen Propheten mit ihrer extremen Moral hervorbrachte – nicht eine himmlische Offenbarung –, der den Talmud schuf und den Schulchan Aruch mit ihrem extremen Werkeprinzip. All dies ist für Achad Haam Zeugnis, dass die Schaffenskraft des jüdischen Volkes nie zuende gegangen war.77 Trotz dieser Formeln vom jüdischen Geist oder vom jüdischen Bewusstsein, nennt Achad Haam an verschiedenen Stellen einige konkrete Bereiche, die zu den Fundamenten dieser jüdischen Kultur aus dem jüdischen Geist gehören. Da ist an allererster Stelle das Hebräische als Nationalsprache zu nennen, von der Achad Haam glaubt, dass sie die natürliche Sprache Israels ist, Israels wesenhafte Sprache,78 die von keiner anderen Sprache der Juden verdrängt werden kann.79 75
Scheideweg, Bd. 2, S. 115; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 153b.
76
Z. B. Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 367a. 66b. 151b.
77
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 176a.
78
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 405a. In seinem Aufsatz zur nationalen Ethik begründet Achad Haam diese Einschätzung: »Man streitet zum Beispiel gar nicht darüber, daß Kenntnis und Gebrauch der nationalen Sprache eines der besten Mittel sind zur Stärkung des nationalen Geistes im Herzen des Volkes […] Doch unterliegt es keinem Zweifel, daß wenn wir auf die Sprache als auf ein Mittel der Annäherung an den nationalen Geist hinweisen, wir uns auf folgenden Schluß stützen: Die Bildung und Entwicklung der Sprache ist durch den Geist des Volkes bewirkt, und da jeder Schöpfer etwas von seiner Wesenheit auf das Geschöpf überträgt, oder, wie es in der chassidischen Lehre heißt, ›die Kraft des Wirkenden in dem Gewirk-
Achad Haam
184
Achad Haam sagt dies in bewusster Konfrontation zum »Jargon«, wie er seine eigene Muttersprache, das Jiddische konsequent nennt, und wider seine osteuropäischen Mitstreiter und Gegner, welche das Jiddische zur Nationalsprache der Juden in Russland erklärten.80 Und er betont in diesem Zusammenhang mit allem Nachdruck, dass eine jüdische Nationalliteratur alleine in hebräischer Sprache geschrieben werden könne.81 Denn das Jiddische, so glaubt er, werde wie viele von den Juden gebrauchte Sprachen, in wenigen Generationen als lebendige Sprache zu Ende gehen – womit er tragischer Weise Recht behalten sollte –, so sehr anderseits das Hebräische seinen Erfolg gerade einer zionistischen Tendenz verdanken musste, die Achad Haam heftig bekämpfte, nämlich der des politischen Zionismus von Herzl und noch mehr seiner Nachfolger, die in dieser Hinsicht eher als »synthetische Zionisten« zu bezeichnen sind, weil sie die beiden Extreme, den politischen mit dem kulturellen Zionismus, auch Achad Haamismus genannt, zu verbinden wussten. Außer der Sprache nennt Achad Haam in den oben schon von ihm angeführten Texten als die wesenhaften Ausdrucksformen des jüdischen Geistes die Literatur, die Moral, die Gesetze, die Sitten und auch die Religion, deren Konsolidierungs-Medium natürlich die jüdische Erziehung ist.82 Wichtig für Achad Haam ist aber, das zeigt sich schon an dieser Aufzählung, der Gedanke, das Ziel müsse sein, dass alle menschlichen Lebensbereiche, die der niedrigen wie der hohen Kultur, schließlich ihren Ausdruck in den genannten nationalen Gütern finden sollten. Alles Denken und alle Aktivitäten der jüdischen Nation und all ihrer Mitglieder müssen hier einbezogen sein. Achad Haam ist überzeugt, dass alles menschliches Wissen und alle menschliche
ten ist‹, – so enthält notwendigerweise jede Sprache etwas von den besonderen Eigentümlichkeiten jenes Geistes in sich, aus dem sie entsprang, und darum, wenn wir auch unvermögend sind zu zeigen, welche Eigentümlichkeiten der Sprache eingeprägt sind, so wird es uns doch klar, daß der Gebrauch der nationalen Sprache die Herzen dem nationalen Geiste näherbringt.« Scheideweg, Bd. II, S. 151–152, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 162b. 79
Vgl. dazu auch K.E. Grözinger, Sprache und Identität – Das Hebräische und die Juden, in: ders. (hrsg.), Sprache und Identität im Judentum, (Jüdische Kultur Bd. 4), Wiesbaden 1998, S. 75–90.
80
Die Tschernowitzer Konferenz von 1908 proklamierte das Jiddische als eine der jüdischnationalen Sprachen; vgl. Encyclopaedia Judaica, Bd. 5, Sp. 1211–1212. Die fernöstliche sowjetische Region Birobidschan wurde 1934 zur »Autonomen Jüdischen Region« erklärt, deren offizielle Sprache das Jiddische war; s. EJ, Bd. 4, Sp. 1044–1050; A. Kuchenbecker, Zionismus ohne Zion. Birobidzʼan: Idee und Geschichte eines jüdischen Staates in Sowjet-Fernost, Berlin 2000.
81
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 405a.
82
Vgl. Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 139a.
Zionismus
185
Kultur immer und überall nur in nationaler Gestalt realisiert werden können, bei allen Nationen.83
4.2
Nationale Moral und Religion
In seinem Essay »Nationale Ethik«84 erinnert Achad Haam seine Leser daran, dass sich die Stellung der Religion innerhalb des Judentums in jüngster Zeit bei vielen Juden, die sich als nationale Juden betrachten, und das heißt dem Judentum zugehörig, grundlegend geändert hat, denn: »Ehedem hielt es jeder Jude für eine einfache und selbstverständliche Sache, daß ein wahrer Jude – der Ausdruck: ›ein nationaler‹ war damals bei uns noch unbekannt – ein solcher ist, der mit dem ganzen Herzen an die Grundsätze der jüdischen Religion glaubt und alle Gebote derselben, der leichten wie der schweren, sorgsam achtet (oder wenigstens sorgsam zu achten sich bemüht). […]. Nun hat sich aber die Situation geändert. Tausende Juden, manche, die außerhalb der Grenzen des Judentums erzogen waren und sein Joch in ihrem Leben niemals getragen hatten, sowie auch manche, welche erst als Erwachsene gegen dasselbe revoltiert und sein Joch abgeworfen hatten, sind jetzt zu ihrem Volke zurückgekehrt und haben das Banner des jüdischen Nationalismus mit Begeisterung ergriffen, ohne damit auch zur jüdischen Religion zurückzukehren, ihre Anschauungen sich zu eigen zu machen und ihre Gebote zu erfüllen. Und diese neuen Juden fühlen sich wegen der Differenz in Sachen der Religion mitnichten vom Volke geschieden und empfinden darum auch gar nicht die Notwendigkeit nun ihrerseits, in allem, was Glauben und Religion betrifft, das Volk auf ihre Seite zu ziehen.85 Sie sehen im jüdischen Nationalismus nur das Stammesgefühl, das seinen Trägern keine andere Pflicht auferlegt als die Liebe zu ihrem Volke […]. Diese neue Erscheinung hat nun mit Notwendigkeit auch die neue Frage wachgerufen: Juden solcher Art – worin besteht ihre Legitimierung? Kann ein Mensch 83
Scheideweg, Bd. II, S. 56; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 137b.
84
Scheideweg, Bd. II, S. 139–159; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 159–164.
85
Die deutsche Übersetzung ist an dieser Stelle schwer verständlich und ist deshalb aufgrund des hebräischen Originals verändert. Achad Haam nennt diese ideologische Neutralität des neuen jüdischen Nationalismus an anderer Stelle »Toleranz« gegenüber allen ideologischen Richtungen aller verschiedener Gruppierungen oder Individuen innerhalb des jüdischen Volkes, seien es religiöse oder wissenschaftliche Meinungen, in der Hoffnung, dass die ideologischen Trennungen nicht die Arbeit am gemeinsamen nationalen Ziel verhindern müsse; Scheideweg, Bd. I, S. 217–221; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 56b-57b; s. die Satzung der Bne Mosche, »Der Weg des Lebens«, Millu’im, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 440a.
Achad Haam
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wirklich ein ehrlicher Jude seiner Nationalität nach sein, wenn er zugleich ein ›Anderer‹ ist in seinem übrigen Wesen?«86 In diesen Worten Achad Haams ist nicht weniger angelegt als eine Revolution der jüdischen Denk-Geschichte. Es ist die Trennung der jüdischen Religion von der Definition des »Judentums«. Was bisher identisch war, Judentum und jüdische Religion, wird hier aufgekündigt. Das Judentum wird nicht mehr über die Religion definiert, sondern über die Nationalität.87 Und auch diese, so wurde schon oben festgestellt, wird nicht expressis verbis oder gar prinzipiell an die halachische Regel der matrilinearen Abkunft von einer Jüdin geknüpft. Nach dieser grundstürzenden Aussage stellt sich natürlich notwendigerweise die Frage, wo man denn da noch von einem guten Juden reden könne, wo er die Religion, die Mutter der jüdischen Ethik und Moral, verwirft und ein »Anderer« geworden ist, was im hebräischen Sprachgebrauch nicht weniger heißt, als ein Häretiker.88 Die Antwort auf diese tatsächlich sehr ernste Frage gewinnt Achad Haam in der Erkenntnis, dass Ethik und Religion nicht identisch sind, auch wenn sie gewöhnlich eine so enge Bindung eingehen, dass der normale Mensch nicht zwischen ihnen zu unterscheiden weiß und gar zu der – auch heute noch verbreiteten – irrigen wenn nicht bösartigen Behauptung kommt, es gebe ohne Religion keine Ethik und Moral. Im Blick auf entsprechende Äußerungen aus der klassischen griechisch-römischen Literatur (Plato, Lukrez und andere) stellt Achad Haam fest, »Daß Religion und Sittlichkeit zwei getrennte Lebensbäume darstellen, von denen jeder seine besonderen Wurzeln hat in der Natur des Menschengeistes«.89 Für die Trennung von Religion und ethischen Prinzipien kann Achad Haam auf die klassischen europäisch-antiken Autoren verweisen, die beklagen oder gar spotten, dass die in ihren Zeiten gepflegten Götterideale mit den Moralstandards ihrer eigenen Zeit nicht mehr übereinstimmten, die Götter demnach keineswegs ethische Vorbilder sein könnten. Achad Haam weiß aber auch Beispiele aus der jüdischen Literatur anzuführen, für die sich diese Frage ja in besonderer Schärfe stellt. Denn nach dem allgemeinjüdischen Grundsatz, dass der Mensch durch die imitatio dei zum Ebenbild Gottes werden könne, muss, wie im rabbinischen
86
Scheideweg, Bd. II, S. 140–141. Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 159–160a.
87
Diese Position beschreibt Achad Haam als die aller nicht religiösen Zionisten, sie stimmen der Forderung nicht zu, »die Nationalität auf dem religiösen Glauben zu fundieren, dessen Bestand an Dingen hängt, von denen kein Mensch heute weiß, ob er sie morgen noch anerkennen wird«. Aufsatz »Nationale Ethik«, Scheideweg, Bd. II, S. 143; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 160b.
88
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 311.
89
Scheideweg, Bd. II, S. 146; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 161a.
Zionismus
187
Denken geschehen, Gott als das absolute moralische Vorbild des Menschen verstanden werden.90 Angesichts dieser anscheinenden Identität von Religion und Sittlichkeit im rabbinischen Judentum bringt Achad Haam in einem anderen Essay Belege dafür, dass auch im Judentum Religion und Ethik häufig getrennte Wege gingen, so dass es eine tiefe Kluft zwischen dem göttlichen Ideal und den ethischen Anschauungen der Menschen gab, weshalb durch die nachträgliche Änderung des Gottesbildes, Gotteslehre und Ethik wieder miteinander in Einklang gebracht werden mussten, ein Vorgang der dem Leser dieser Darstellung der Geschichte des Jüdischen Denkens gleichfalls nicht unbekannt sein dürfte.91 Achad Haam zeigt diesen Sachverhalt am Beispiel der viel erörterten Talionsformel, »Auge um Auge, Zahn um Zahn« und unterstreicht dabei, dass er an eine »Entwicklung der Religion« glaubt, wie auch an eine solche der Ethik, die allerdings nicht immer im Gleichtakt abliefen.92 Ungeachtet neuerer Deutungen der biblischen Bedeutung dieser Formel, ob sie wörtlich oder nur substitionell als Ersatz-Regelung zu verstehen war,93 geht Achad Haam davon aus, dass die Formel im biblischen Text, wie bei vielen anderen Völkern, wörtlich gemeint war und führt dazu sogar einen Beleg aus dem Talmud an,94 der zeigt, dass sie von manchen auch zur Zeit der Mischna (bis 200 d. Z.) noch wörtlich gedeutet wurde, während nach Josephus es dem Geschädigten anheimgestellt war, ob er sich entschädigen lassen wollte oder die strenge Talion forderte: »Wer einem Menschen einen körperlichen Schaden zufügt, der muß dasselbe erleiden und dasjenige Glied, das er verstümmelt, muß auch an ihm verstümmelt werden, es sei denn, daß sich der Verstümmelte mit einem Sühnegeld zufrieden gibt.«95 Da aber, so Achad Haam, schon in persisch-hellenistischer Zeit das gewachsene ethische Empfinden die strenge Talion als grausam empfunden habe, sei schon damals der Ersatz bevorzugt worden. Deshalb waren schließlich die rabbinischen Gelehrten gezwungen, den Schrifttext so zu deuten, dass er den neuen ethischen Vorstellungen entsprach, also die Religion im Nachgang an die ethische Ent-
90
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 280–288.
91
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 209–213. 280–288. 384–385. 462–479. 480–487, Bd. 2, S. 145 –149. 326–333. 437–447. 579–603; zum Ganzen, Scheideweg, Bd. II, S. 145–151. Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 161a-162a.
92
Vgl. Scheideweg, Bd. I, S. 228; Bd. I, S. 1199; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 59a. 52a.
93
Vgl. A. Alt, Zur Talionsformel, in: ders. Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, München 1959, Bd. I, S. 341–344. Bei Achad Haam in den Aufsätzen, Bd. I, »Die Lehre des Herzens«, S. 195–210, hier S. 199; und »Worte des Friedens«, S. 215–235, hier S. 228–230. Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 51–54. 56–60.
94
Babylonischer Talmud, Baba Kamma 84a.
95
Scheideweg, Bd. I, S. 230, nach Josephus, Antiquitates, IV, 8, 35; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 59b.
Achad Haam
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wicklung anpassten: »Dadurch war man gezwungen, den Wortsinn des Verses96 trotz seines ausdrücklichen Wortlautes fallen zu lassen, nicht aus mangelndem Glauben, sondern aus festem Glauben an den heiligen göttlichen Ursprung der Thora.«97 Nach dieser Trennung von Ethik und Religion kann Achad Haam die eingangs aufgekommene Frage, wie ein Jude ohne Religion denn ein guter Jude sein könne, beantworten. Seine Antwort kann nun lauten, indem er sich an die nationale jüdische Ethik hält, der er ungeachtet seines Unglaubens und seiner Religionsferne treu sein kann. Die Trennung von Ethik und Religion provoziert konsequenterweise die weitere Frage, welche Bedeutung dann die jüdische Religion für das Judentum hat, deren Zugehörigkeit zur jüdischen Kultur Achad Haam ja nicht in Abrede stellen will. Diese und die Frage nach dem Inhalt einer jüdischen Ethik sollen im Folgenden getrennt voneinander betrachtet werden.
4.2.1 Die jüdisch-nationale Ethik Wenn die jüdische Religion nicht das gemeinsame Fundament des jüdischen Nationalismus sein kann, die Ethik hingegen eine eigene Ausdrucksform der menschlichen oder der nationalen Kultur darstellt, muss die Frage gestellt werden, worin die Lehren dieser nationalen Ethik bestehen und woher man sie erfahren kann. Als erstes nennt da Achad Haam zwar als Konsens der Ost-Zionisten, dass die Kenntnis und Vermittlung der hebräische Sprache, der hebräischen Literatur sowie der Geschichte zu den unbedingt nötigen Geboten des jüdischen Nationalismus, gehörten. 98 Aber nicht nach diesen mehr für die äußerliche Aufbauarbeit nötigen Geboten, welche dann vor allem auch eine Aufgabe der Bildungseliten ist, fragt hier Achad Haam, sondern nach der Ethik, die das gewöhnliche Leben des einzelnen draußen im Leben stehenden Menschen betrifft. Achad Haam könnte an dieser Stelle, so sollte man glauben, sich einfach auf eine universale Ethik der Vernunft berufen, aber dazu ist er zu sehr »Soziologe«, der das Entstehen von Verhaltensnormen im gesellschaftlichen Leben angesiedelt sieht, nicht in der logischen Spekulation. Darauf geht er in seinem Aufsatz zur nationalen Ethik eigens ein und meint: »Den in der Geschichte der Ethik Bewanderten ist es bekannt, daß die sittliche Entwicklung von vielen verschiedenen Ursachen abhängt und nicht im-
96
Exodus 21, 24; Dtn 19, 21.
97
Scheideweg, Bd. I, S. 230; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 59b.
98
Scheideweg, Bd. II, S. 143f; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 160b.
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mer einen einzigen Weg einschlägt. […]99 Hier genüge nur eine Bemerkung, daß, obwohl es gewisse sittliche Grundgesetze gibt, welche von allen Kulturvölkern in übereinstimmender Weise anerkannt werden, doch auch wieder jedes einzelne Volk seine besondere Ethik besitzt, entsprechend seiner nationalen Geistesart und seinem historischen Lebensgange. Es kann eine sittliche Verpflichtung oder Versündigung geben, welche schwer wiegt in den Augen des einen Volkes, das es damit genauer nimmt als die anderen, während sie bei einem anderen Volke leicht genommen wird und keine besondere Beachtung findet. Und nicht nur in Bezug auf den Grad der Wertschätzung verschiedener sittlicher Gegenstände, sondern auch im Wesen der Unterscheidung des Guten und Bösen finden wir große Unterschiede von Volk zu Volk: was dem einen für gut, gilt dem andern für böse, was der eine als sittliche Pflicht betrachtet, der er sein Leben weiht, rechnet der andere für eine gleichgültige Sache. […] Die Eigenart und die Bedürfnisse jedes Volkes, sein materieller und geistiger Zustand, die Ereignisse, die es in verschiedenen Zeiten durchlebt hat, all dies bedingt seine besondere Form seiner Beziehung zu den Erscheinungen des Lebens und natürlich auch seiner sittlichen Anschauungen und ihrer praktischen Verwirklichung. Die Sittlichkeit als solche, das heißt: die Art der Unterscheidung des Guten und Bösen in allen Verzweigungen des persönlichen und sozialen Lebens – ist vielleicht mehr als alle übrigen Kulturgebiete eine nationale Errungenschaft, welche die Spuren aufweist vom Leben des Volkes und seinem Zustande in allen Zeiten und worin der Wert des nationalen Geistes und die Art seiner Beziehung zur umgebenden Welt und zu den sich stetig ändernden Lebensbedingungen in Erscheinung tritt.«100 Mit dieser Begründung der Ethik als nationaler partikularer, durch Bedürfnisse und Geschichte geformter und hervorgebrachter Handlungsnormen, ist ein vollkommen neues Paradigma der Begründung von Ethik in das jüdische Denken eingeführt. Zwar hat die Begründung der jüdischen Gebote mit der Offenbarung der Tora, die nur für das Volk Israel gilt, schon das Bewusstsein von separaten eingegrenzten Teilbereichen des Ethischen bezeugt. Allerdings wird das Toragesetz als religiöse Sonderbedingung der Erwählung des Volkes Israel zu besonderen Pflichten durch seinen Gott verstanden. Sondergebote kann es folglich nur für das Volk Israel dank seiner Erwählung geben. Demgegenüber formuliert Achad Haam hier ein ethisches Grundprinzip, das mutatis mutandis für alle menschlichen Gesellschaften gilt. Die nur für das jüdische Volk geltenden Gebote sind für Achad Haam nicht mehr Separatoffenbarungen des Gottes Israel für 99
Hier verweist Achad Haam auf W.E.H. Lecky, History of European Morals, I, London 1888,
100
Scheideweg, Bd. II, S. 149–150; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 162a.
S. 130–160.
190
Achad Haam
sein Volk, sondern natürliche Ergebnisse der Geschichte und Sozialstrukturen dieses Volkes, wie auch die anderen Völker abweichende eigene ethische und gesetzliche Normen aufgrund ihrer eigenen Geschichte und Sozialstrukturen besitzen. Ethik als Ganzes wird hier im Rahmen des jüdischen Denkens zum ersten Mal ganz auf die Geschichte und Struktur einer Gesellschaft begründet, nicht mehr auf die göttliche Offenbarung, oder auf Wirkungen des Weltgeistes101 oder auf Vernunfterkenntnisse.102 Mit dieser Fundierung der Ethik in der nationalen Geschichte und Gesellschaft wird zugleich auf diejenige Quelle verwiesen, aus welcher man die Werte und Normen dieser Gesellschaft erkennen kann. Es sind die geistigen Schöpfungen, die Kulturgüter Israels, des geistigen wie praktischen Lebens, die in Anschauung, Überlieferung, Brauchtum und Texttraditionen aufbewahrt und dort zu finden sind. Zu diesen Volkstraditionen gehört natürlich auch die religiöse Tradition, denn in ihrem Gewand verbirgt sich, wie oben schon gesagt, ebenfalls die ethische Tradition Israels.103 Allerdings bedarf es bei der Einbeziehung der Religion als Quelle der Ethik einer sorgsamen Scheidung von »Religion« und »Ethik«, der Trennung der Glaubensvorstellungen, die der Einzelne beiseitelassen kann, von den auch für den areligiösen Juden verbindlichen jüdischen Normen. Diese Arbeit ist, so Achad Haam, allerdings erst noch zu leisten. Einen ersten, wenn auch wenig gelungenen und zu abstrakten Anfang, eine jüdisch nationale Ethik ohne Unterordnung unter die Religion zu entwerfen, sieht er in der 1898 erschienenen Ethik des Judentums von Moritz Lazarus.104 Immerhin gibt Achad Haam einige wenige Hinweise, wie er sich eine solche jüdisch-nationale Ethik vorstellt, ohne zu bemerken, wie er sich dabei selbst dogmatischen Positionen nähert. Er veranschaulicht dies einmal an zwei Theaterstücken, die von den beiden Führern des westlichen politischen Zionismus, Theodor Herzl und Max Nordau verfasst wurden. Es sind die Stücke Neues Ghetto von Herzl und Doktor Kohn von Nordau. In beiden Stücken begeben sich die beiden Helden, Doktor Samuel und Doktor Kohn, am »Ende in ein Duell, in dem sie umkommen, um ihre geschändete ›Ehre‹ zu retten, das heißt: um ihren deutschen Freunden den Anlass zu nehmen, die Juden ›Feiglinge‹ zu nennen, ›welche ihre Schmähung anhören, ohne darauf mit Schwert und Blut zu reagie-
101
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 458–462. 549–555. 593–600.
102
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 365. 419–422. 468–470.
103
Scheideweg, Bd. 2, S. 151; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 162b.
104
M. Lazarus, Ethik des Judenthums, Frankfurt a. M. 1898, das persönliche Exemplar von Simon Dubnow, von ihm gekauft am 10.9.1898 in Odessa ist mir in einem Jerusalemer Antiquariat in die Hände gefallen; Scheideweg, Bd. II, S. 156; Kol Kitve Achad Haam, S. 163b.
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ren‹«.105 Während die westlichen zionistischen Autoren dieses Verhalten offenbar ehrenvoll finden, urteilt Achad Haam: »Ich brauche nicht auseinanderzusetzen, wie sehr diese Handlungsweise den Grundlagen unserer nationalen Sittlichkeit, das heißt nicht nur dem religiösen Gebot, sondern demjenigen sittlichen Empfinden, das in unseren Herzen lebt, widerstreitet. […] Indes der wahre Jude, bei dem die nationale Ethik die Saiten seines Herzens rührt, erkennt und fühlt innerlich, daß eine Jahrtausende alte Kultur ihn hoch über solchen Wildheitsakt erhebt, einen Rest von Rohheit und Grausamkeit aus längst vergangenen Tagen; sein ›Ehrgefühl‹ bleibt unbewegt und wird nicht im geringsten durch die Beschimpfung irgendeines Rohlings geschmälert. Er antwortet darauf mit einem Blick der Verachtung und geht seines Weges weiter.«106 Die Helden der beiden Theaterstücke begehen nach dem Urteil Achad Haams Verrat an ihrem Volke und schmälern dessen wahre Ehre. »Was also ist Doktor Kohn?«, fragt Achad Haam abschließend, ist er ein »nationaler Jude?« Und als Antwort folgt ein wahrhaft religiöses Anathema: »Kann ein Mensch als national gelten, wenn er vom Geiste seines Volkes so weit entfernt ist, daß er selbst dort, wo er in Treue seine sittliche Pflicht gegenüber seinem Volk erfüllen will, von den Empfindungen eines fremden Volkes sich leiten läßt und ihnen sein Leben hingibt, ohne überhaupt zu empfinden, daß er damit an dem Geiste des Volkes sich versündigt, in dessen Namen er spricht?«107 Dass er sich hier nahe am Rande einer religiösen Diktion bewegt, die er doch eigentlich von der ethischen trennen wollte, fühlte Achad Haam aber wohl selbst, wenn er sogleich im Anschluss nochmals darauf hinweist, »Die nationale Ethik hat sich bei uns mit religiösen Gegenständen so vollkommen vermischt, daß es in vielen Dingen sehr schwer sein wird, zwischen beiden zu unterscheiden, genau die Grenze zu ziehen zwischen den Fragen der sittlichen und der religiösen Entwicklung.« Diese Verschlingung zeigt sich sogleich ein weiteres Mal, wenn zwar der jüdisch-national gesonnene Doktor Kohn, der um ein nichtjüdisches Mädchen wirbt, dem erhofften Schwiegervater beteuert, dass er gegen eine Mischehe nichts einzuwenden hätte, Achad Haam dies aber dann so kommentiert:
105
Scheideweg, Bd. II, S. 152f; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 162b.
106
Scheideweg, Bd. II, S. 153–154; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 163a.
107
Scheideweg, Bd. II, S. 155; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 163b.
Achad Haam
192
»Nehmen wir nun an, daß dem wirklich so wäre, daß im Geiste der jüdischen Sittlichkeit an und für sich nichts einer solchen Ehe widerstreitet – so bleibt doch noch die schwere Frage, ob im Zustande der Zerstreuung und Zersplitterung, in dem wir uns gegenwärtig befinden, derartige Ehen nicht eine Gefahr für den Bestand des Volkes bedeuten? Und wenn dem so ist, hätte dann der Nationale nicht die sittliche Pflicht, den Bestand seines Volkes zu schützen und hierfür sogar sein persönliches Glück zum Opfer zu bringen?«108 Ebenso beklagt Achad Haam, dass jüdische Künstler ihre Schaffenskraft anderen Nationen zur Verfügung stellen, anstatt ihre Fähigkeiten im Rahmen der jüdischen Kultur zu entfalten, der sie doch alle ihre Fähigkeiten zu verdanken haben.109 Das Ziel, das Nationale selbst zu einem ethischen Wert zu erheben, hatte Achad Haam schon im Jahre1889 in das Gründungsdokument seiner »Loge« Bne Mosche unter dem Titel Derech ha-Hajjim geschrieben. Auch wenn er seine späteren Erinnerungen an diese Gründung mit dem Titel »Ein fehlgeschlagener Versuch« überschrieb,110 haben sich die dort formulierten Grundsätze, wenn zum Teil auch von der Wirklichkeit etwas abgemildert, durch Achad Haams gesamtes Werk hin durchgehalten. Im § 5 dieser Grundsatzerklärung nennt Achad Haam seiner Maxime, die als cantus firmus sein gesamtes Schrifttum prägt, nämlich, dass die ganze Generation und insbesondere die von ihnen nach Palästina ausgesandten Kolonisten würdige Vertreter des nationalen Gedankens sein müssten. Darum sei es die Aufgabe der »Loge« »die Bedeutung der ›Nationalen-Einstellung‹ (Le’umiut) zu verbreiten und sie zu einem hohen und wertvollen Begriff zu machen, zu einem moralischen Ideal, in dessen Mitte die Liebe zu Israel steht und um sie her jegliche Tugend und ehrenhafte Einstellung; um dem Attribut ›national‹ seine gegenwärtige materielle Gestalt zu nehmen […] und es in den Augen des Volkes auf die Stufe eines moralischen, ehrenhaften und geliebten Attributs zu heben, dessen nicht jeder Mensch würdig ist und der seinen Inhaber dazu verpflichtet, die Fahne die er trägt, vor jeder Entweihung durch ihn oder andere zu behüten.«111
108
Scheideweg, Bd. II, S. 155; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 163b.
109
Essay »Wiederauferstehung des Geistes«, Scheideweg, Bd. II, S. 206; Kol Kitve ʼAḥad ha-
110
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 437.
111
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 438b-439a.
ʽAm, S. 177a.
Zionismus
193
4.2.2 Der Gesellschaftsmensch Die moralischen Ziele des Menschen in dieser Welt sind stets eine Funktion des Menschenbildes. Wo der Mensch als ethisches Abbild der Gottheit konzipiert ist, oder ein solches werden soll, wie im rabbinischen Denken, ist die menschliche Aufgabe in dieser Welt, der eigenen individuellen Gerechtigkeit nachzustreben, die er in der Erfüllung der Gottesgebote erlangen kann. Ist der Mensch aber in seinem Wesen Intellekt, wie etwa bei Maimonides, so ist die oberste Verpflichtung des Menschen, intellektuelle Erkenntnis zu erlangen. Entsprechend muss man bei einem Denker wie Achad Haam, der die nationale Ethik zum obersten Ziel des Juden erhebt, auch ein hierzu passendes Menschenbild erwarten. Und dies ist in der Tat so. Schon in seinem ersten Aufsatz unter dem Pseudonym Achad Haam, mit dem er die Bühne als nationaler Essayist (Schriftsteller) betrat, unter dem Titel »Nicht dies ist der Weg« von 1889,112 trägt er die Grundzüge dieses Menschenbildes vor, die er dann in ausgereifterer Form in seinem Aufsatz Basar wa-Ruach, »Fleisch und Geist« von 1904113 breiter entfaltete. Der Ausgangspunkt dieses letzteren Aufsatzes sind die beiden allgemeinmenschlichen extremen antagonistischen Weltanschauungen der »Askese« und der natürlichen »hedonistischen« Weltbejahung. Beide Möglichkeiten versteht Achad Haam als eine Reaktion auf die brennende menschliche Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens, das voller Leiden und Beschwernisse ist. Als extreme Antworten auf diese Fragen sieht Achad Haam auf der einen Seite den verzweiflungsvollen Hedonismus nach der Maxime »lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot« und auf der anderen die Spiritualisierung des menschlichen »Ich«, dessen Erfüllung erst in einer nachtodlichen körperlosen Welt erlangt wird und die die Leiden des Körpers als letztlich belanglos abtut und den fleischlichen Körper als Feind des geistigen »Ich« betrachtet. Darum, so Achad Haam, halte diese Richtung es auch für tunlich das Leibliche in der Askese abzutöten.114 Diese beiden sich gegenüberstehenden Extreme von »Materialismus« und »Spiritualismus« sind die Ausgangslage, von der aus Achad Haam sein Menschenbild entwickelt, das er zugleich für das originäre biblische Menschenbild hält und das sich, mit gewissen Abweichungen in einzelnen jüdischen Gruppen oder bei verschiedenen jüdischen Autoren im Grunde immer wieder durchgesetzt habe, das aber doch auf alle Fälle zu befördern ist. Der Kern dieses biblischen Menschenbildes ist nach Auffassung von Achad Haam der, dass sich das biblische Israel vor diesen beiden Extremen gehütet habe und stets den mittleren 112
Scheideweg, Bd. I, S. 41–64; »Lo se ha-Derech«, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 11–16.
113
Kitve Ahad ha-’Am, S. 348–352; eine englische Übersetzung bietet L. Simon in seiner Antho-
114
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 349.
logie zu Ahad ha-’Am unter dem Titel »Judaism and Ascetism«, S. 116–126.
Achad Haam
194
Weg, den Ausgleich zwischen diesen beiden Positionen, gesucht habe. Diese Zurückweisung der Extreme drückt sich nach Achad Haam in der von ihm zu Recht konstatierten Monotomie des biblischen Menschenbildes aus.115 Das heißt, dass nach biblischer Auffassung der Mensch kein Kompositum aus Leib und Seele ist, sondern ein einheitliches lebendes und intellektuelles Wesen, das am Ende seines Lebens als Ganzes stirbt. Und, so fährt Achad Haam fort, trotz dieser anscheinend betrüblichen Tatsache habe sich das biblische Judentum weder der fleischlichen-hedonistischen Verzweiflung hingegeben noch der Sehnsucht auf ein jenseitiges himmlisches Leben. Und wie hat dieses Judentum, die bestürzende Frage nach dem Sinn dieses doch begrenzten Lebens beantwortet? Indem es das »ewige Leben« in dieser Welt verwirklicht sah. Dies war möglich – und jetzt folgt der Kern von Achad Haams Analyse – dank der Stärkung des »Gesellschaftsbewusstseins« (ha-Regesch ha-ḥevrati) beim einzelnen Menschen, »damit er sich nicht als abgetrenntes Wesen betrachtet, dessen Existenz mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet, sondern als Teil eines größeren und ehrwürdigeren Wesens, als Glied am Körper der Gesellschaft, zu welcher er gehört. Nach dieser Auffassung wandert das Zentrum des ›Ich‹ nicht vom Fleisch zum Geist, sondern vom Individuum zur Allgemeinheit (ha-Klal). Und damit wandert zugleich die Frage nach dem [Sinn des] Lebens vom Leben des Individuums zum Leben der Gesellschaft. Wofür lebe ich? Für die Erhaltung und das Wohlergehen (Hazlacha) der Allgemeinheit, von der ich ein Teil bin. Weshalb sterbe ich? Um für neue Menschen Platz zu machen, welche die Gestalt der Allgemeinheit erneuern, und um zu verhindern, dass sie erstarrt und für immer in demselben Zustand sich befindet. Und wenn der Einzelne die Allgemeinheit liebt ›wie sich selbst‹ und für deren Wohlergehen bestrebt ist als wäre es sein eigenes Wohlergehen – dann findet sein Herz darin seine Befriedigung und er empfindet die Bitternis des eigenen persönlichen Lebens weniger, weil er das Ziel kennt, um dessen willen er lebt und leidet.«116 Eine solche soziologische Definition des »Ich«, oder besser ein solch vergesellschaftetes »Ich« hat im Judentum mutatis mutandis zum ersten Mal der Erfinder des kommunalisierten mystischen Ich, der ḥasidische Meister Ja‘akov Josef aus Polna’a, der direkte Schüler des Ba‘al Schem Tov formuliert.117 Auch Ja‘akov Josef war der Auffassung, dass der Jude erst zum Menschen wird, wenn er sich in die ḥasidische Gemeinschaft einordnet, im Bewusstsein, dass er ein Teil des 115
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 129–139. 198–212.
116
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 350a.
117
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 865–870.
Zionismus
195
Gemeindeleibes ist, dessen Seele der Rabbi war. Aber gerade mit dem letzten Halbsatz wird auch die Differenz zwischen den beiden Denkern deutlich. Der Gesellschaftskörper Achad Haams kennt eben im biblischen Sinn keine Dichotomie, keine Trennung in Körper und Seele. Dennoch ist es wert, auf diese Verbindung hinzuweisen, ist doch der junge Ascher Ginzberg (Achad Haam) im Geiste dieses Ḥasidismus aufgewachsen und hat am Hofe des Rebben von Sadagora diesen Gemeindeleib erlebt, sich dann aber schon als Jugendlicher mit Abscheu vom Gebaren der »Seele« am Hof des Rebben abgewandt, wie Achad Haam in seinen autobiographischen Notizen selbst vermerkt.118 Das gesellschaftliche »Ich«, das Achad Haam hier zeichnet, hat sein Pendant in der Darstellung des schon genannten Aufsatzes »Vergangenheit und Zukunft«,119 nach welchem sich das individuelle »Ich« aus den eigenen und den kollektiven Erinnerung seiner Gruppe konstituiert. Hier geht Achad Haam noch einen Schritt weiter, indem er die Sinngebung des individuellen Lebens aus dem Wohlergehen des Kollektivs ableitet, in dem und aus dem und für das er lebt. Der Mensch bezieht danach seinen eigenen Lebenssinn daraus, dass er für das Wohlergehen dieser Gemeinschaft lebt und darüber sogar die eigenen Leiden weniger empfindet, weil sie einen Sinn erhalten durch das Leben der Gemeinschaft zu welcher er gehört. Achad Haam ist sich sehr wohl bewusst, dass mit dieser Antwort auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens, diese Frage recht eigentlich nur um eine Stufe weiter nach oben verschoben wurde, nämlich zu der anderen: Und was ist dann der Sinn des Lebens des Volkes Israel? – wovon die individuelle Sinnfrage ja getragen werden soll. Hier kann Achad Haam nur auf jene Antwort verweisen, welche die jüdische Tradition selbst auf diese »höhere« Frage gegeben hat, nämlich, dass das Volk Israel »ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk« sein solle. Dies bedeute, Israel als Volk sei von Anbeginn seiner Existenz dazu geheiligt, mit seiner Tora ein Zeichen für die ganze Menschheit zu sein. Achad Haam kommentiert diese Aussage der Tradition nicht weiter. Erstaunlich ist dies immerhin insofern, als er den deutsch-jüdischen Autoren, welche hier im dritten Band des »Jüdischen Denkens« beschrieben wurden, vorwirft, sie hätten die unsinnige Idee erfunden Israel habe eine Mission unter den Völkern der Welt zu erfüllen.120 Hier Stimmigkeit zu verlangen, wäre bei einem Essayisten, der kein Systematiker sein wollte, wohl zu viel gefordert. Die Akzentuierung des jüdischen Menschenbildes auf den vergesellschafteten Menschen ist für Achad Haam indessen nicht nur wegen der spezifischen his118
»Pirke Sichronot, Reschimot ḥadaschot«, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 479b. 480a; Zippperstein, Navi, S. 24.
119
Scheideweg, Bd. I, S. 306–315; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S, 81–83.
120
Scheideweg, Bd. I, S. 254–262; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 66a-68a.
196
Achad Haam
torischen Umstände der eigenen Zeit, der Zeit des europäischen Nationalismus, geboten. Der vergesellschaftete Mensch ist für Achad Haam vielmehr das die Zeiten übergreifende und immer geforderte Idealbild des jüdischen Menschen. Dies zeigte er schon dadurch, dass er das altbiblische Menschenbild in diesem Sinne interpretierte und als das Ur-Ideal der jüdischen Anthropologie herausstellte. Noch deutlicher wird diese Heroisierung des nationalen Menschen an Achad Haams heftiger Kritik an dem biblischen Propheten Ezechiel. Mit Ezechiel trat nach Auffassung von Achad Haam nämlich die »individualistische« Ursünde im israelitischen Denken ein, welche das Ergehen des Individuums über das der Nation stellte. Bei Ezechiel trat nämlich, wie auch hier im ersten Band herausgestellt,121 der ethische Individualismus, die rigorose Verantwortung des Einzelnen für sein und nur für sein eigenes Tun, in den Mittelpunkt des ethischen Denkens, und damit zugleich die Befreiung des Einzelnen von jeglicher Kollektivschuld. Die Söhne sind nicht länger für die Sünden ihrer Väter verantwortlich zu machen wie auch nicht die Väter für die Schuld ihrer Kinder. Jeder steht im göttlichen Vergeltungshandeln völlig für sich alleine da. Für Achad Haam ist diese individualisierte Verantwortung des Menschen, wie gesagt, eine Verirrung des Propheten, die Preisgabe des altbiblischen nationalen Paradigma. Dies alles formuliert Achad Haam schon in seinem ersten Essay »Nicht dies ist der Weg!«, der ihn schlagartig zu dem Autor des jüdisch-nationalen Denkens schlechthin gemacht hatte. Er beschreibt dort zunächst das nationale Ideal, wie es nach seiner Auffassung in allen Äußerungen der altbiblischen Gesetze sowie in Segen und Fluch zum Ausdruck komme unter anderem so: »In allen Gesetzen und Vorschriften, Segens- und Fluchformeln, die in den fünf Büchern Moses’ enthalten sind, tritt uns überall nur der eine Zweck entgegen: das Wohlergehen der nationalen Gemeinschaft, während das Glück des einzelnen außer acht gelassen wird. Jedes jüdische Individuum ist nach dieser Anschauung lediglich ein Glied des jüdischen Volkes, und das Gute, das der Gemeinschaft zuteil wird, ist auch der Lohn für die Leistungen des Individuums. […] Denn das Volk bleibt in allen seinen Generationen dasselbe und die Individuen, die in jeder Generation entstehen und verschwinden, sind wie die Zellen im lebenden Körper, die jeden Tag neu entstehen, ohne im geringsten die Einheitlichkeit des ganzen Körpers anzutasten.«122 Diese auf die Gesamtheit Israels ausgerichtete Gesinnung der altbiblischen Literatur hat sich laut Achad Haam über die gesamte Zeit bis zur Zerstörung des ersten Tempels in ungebrochener Form erhalten. Als aber im Jahre 587 vor der 121
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 148–150.
122
Scheideweg, Bd. I, S. 47–48; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 12b.
Zionismus
197
Zeitrechnung der Tempel durch Nebukadnezar zerstört und den Menschen jegliche Hoffnung auf ein Weiterbestehen des Volkes als Gesamtkörper abhanden gekommen war, da hätten sich die Ältesten des Volkes an den Propheten Ezechiel gewandt und ihre Hoffnungslosigkeit beklagt. Es war, so Achad Haam, diese Zeit in welcher sich nun die Klagen erhoben über das Schicksal des einzelnen Juden, »der trotz seiner Gerechtigkeit zugrunde geht« und des »Bösen, dem es gut geht«. »Und in dieser Zeit gelangten schließlich viele, denen die gegebenen Antworten nicht genügten, zur Überzeugung, daß es ›eitel sei, Gott zu dienen‹,123 daß das Festhalten am Judentum ohne Aussicht auf Belohnung zwecklos sei. Fast scheint es, als ob erst damals, als das Wohlergehen der Gesamtheit nicht mehr hinzureißen und zu begeistern vermochte, dem Individuum plötzlich ein Licht aufging, daß es auch außerhalb des Lebens der Gemeinschaft noch ein Sonderleben gibt, welches ihm allein gehört, und daß es auch in diesem einen Anspruch auf Genuß und Glück besitzt, daß es daher, wenn es gerecht handelt, auch gerechte Belohnung für sich selbst beanspruchen darf.«124 Die Antworten, welche die Weisen jener Tage auf diese Ansprüche des Individuums gaben, waren nach Achad Haam all jene religiösen Konzeptionen von einer jenseitigen Welt mit ihren ausgleichenden Belohnungsangeboten, von der Auferstehung der Toten und der Herabstufung des Lebens in dieser Welt zur »Vorhalle« für das eigentliche Leben im Jenseits.125 In seinem Aufsatz »Fleisch und Geist« sieht Achad Haam in den Tagen nach der ersten Tempelzerstörung ebenfalls jene Epoche, in welcher im Judentum die Denkmöglichkeit aufgekommen war, den Menschen als Kompositum von Fleisch und Geist zu betrachten, das heißt die Tendenz einer Abwertung des Fleisches gegenüber dem Geist, der das entscheidende am Wesen des Menschen sei. Zwar hätten die damaligen Väter mit der Lehre von der Auferstehung des
123
Maleachi 3, 14.
124
Scheideweg, Bd. I, S. 48; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 12b-13a. Zu den sich wandelnden Begriffen vom Glück im Judentum s. K.E. Grözinger, Glück im Judentum. Menschenbild als Ebenbild Gottes, in: D. Thomä, Ch. Henning, O. Mitscherlich-Schönherr (Hg.), Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart-Weimar 2011, S. 346–350; u. ebda, S. 20–21: Glück im Hebräischen.
125
Scheideweg, Bd. I, S. 48–49; Kol Kitve Aḥad ha-’Am, S. 13a. Zu den jüdischen Jenseitsvorstellungen s. K.E. Grözinger, Das Jenseits – zwischen Geschichte und Ontologie, in: E. Goodman-Thau (Hg.), Vom Jenseits. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1997, S. 47–59; u. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 208. 267. 291. 472–478. 523. 605–609, Bd. 2, S. 361. 445–447. 451, Bd. 3, S. 89. 276.
Achad Haam
198
Fleisches den Wert beider, Fleisch und Geist, noch gleich hoch gehalten,126 aber im Gefolge der weiteren Geschichte habe es dann einzelne Gruppen im Judentum gegeben, welche zwischen Geist und Fleisch trennten. Diese Trennung habe sich dann auch auf das nationale Denken übertragen, also auf eine Trennung zwischen nationalem Körper und nationalem Geist. Die Vertreter des »körperlichen« Nationalismus seien schließlich die Vertreter eines politischen Nationalismus geworden, die ihren Akzent auf die physische Staatsbildung gelegt hatten, während die Vertreter eines »geistigen« Nationalismus kein Interesse an einer Staatsbildung zeigten, sondern nur dem Geist und der Kultur der Nation lebten. Zu den »physischen« Nationalen gehörten in der Antike demnach die Sadduzäer, welche kein Leben nach dem Tode anerkannten, während die Essener ihr Augenmerk ganz auf die Vorherrschaft des Geistes gerichtet und die RabbinenPharisäer die ausgleichende Mitte gewählt hätten. Im Mittelalter hätten die Kabbalisten die »Geist-Richtung« propagiert, während Moses Maimonides den pharisäischen Ausgleich favorisiert habe.127 In welchem Maße Achad Haam mit diesen Feststellungen sein Geschichtsbild seinem »nationalen« Auslegungsparadigma unterwirft, wird jedem deutlich, der an das vollkommen einseitig intellektualistische Menschenbild von Maimonides denkt128 oder auch bedenkt, in welchem Maße gerade die Kabbalisten gegen die Philosophen das Körperliche wieder zur Ehre bringen wollten.129 In der eigenen Gegenwart sieht Achad Haam die Partei Herzls auf der Seite der »Leib-Verehrer«, während die Reformer vom Schlage Abraham Geigers, welche den nationalen Körper entsorgen wollten, die neuen Essener seien, die sich nur vom Geist her definieren wollten.130 Mit diesen letzteren Erklärungen Achad Haams sind wir indessen schon in das Thema des folgenden Kapitels hinübergeschritten, welches die Beurteilung des Phänomens Religion und dessen Funktion im nationalen Leben durch Achad Haam behandeln muss.
5.
Wesen und Funktion der Religion im Rahmen der jüdischen Kultur
In seiner Auffassung vom Wesen der Religion war Achad Haam wie in vielen seiner anderen Gedanken ein Schüler der westeuropäischen Philosophie, die er sich in reichem Maße als Autodidakt angeeignet hatte. Seine eigene Aufgabe sah er nun darin, das dort Gelernte auf die spezielle Situation seines Judentums zu 126
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 198–205. 263–272.
127
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 350b-351a.
128
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 462–478.
129
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 437–443. 490–495. 579–589.
130
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 352.
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199
übertragen, ohne dabei zu verbergen, wo die Ausgangspunkte seiner Erörterungen hergenommen sind. Im Falle seiner Sicht vom Wesen der Religion war dies in erster Linie der schottische Philosoph David Hume (1711–1776), insbesondere dessen Schrift The Natural History of Religion von 1757.131 Hume hat in seinem Nachdenken über die Möglichkeiten menschlichen Erkennens die bis in seine Tage geläufige Erkenntnistheorie in Frage gestellt, was sich entsprechend auf die Betrachtung des Religiösen auswirkte, vor allem hinsichtlich der Ablehnung jeglicher Metaphysik. War die bisherige Erkenntnistheorie davon ausgegangen, dass »sich bestimmte Vorstellungen bzw. Urteile [der Menschen] auf denkunabhängige Dinge beziehen«, sah Hume keine Möglichkeit, dies zu beweisen.132 Das heißt, im Bereich der menschlichen Erkenntnis gibt es nach Hume keine Begründungen. Was wir zum Beispiel als kausale Zusammenhänge verstehen, ist in Wahrheit nur die Erfahrung zeitlich aufeinander folgender Abläufe, die wirkliche Kausalität ist damit nicht erwiesen. Das Ziel von Hume hinsichtlich der Formulierung einer Erkenntnistheorie war demnach, eine Erklärung dafür zu finden, weshalb die Menschen glauben, ihre Vorstellungen besäßen eine von diesen unabhängige Objektivität. Die Frage nach der Erkenntnis ist nun keine Frage der Außenbeziehung zwischen einem möglichen unabhängigem Objekt und der zugehörigen menschlichen Vorstellung, sondern eine in den Menschen hinein verlegte Frage. Hume will wissen, »wie der Glaube, daß unseren Wahrnehmungsvorstellungen denkunabhängige Dinge entsprechen, entsteht.«133 Die bisher geläufige »Erkenntnistheorie« wird somit durch eine »Erkenntnispsychologie« ersetzt, die nach den inneren Vorgängen im Menschen fragt, nicht nach einer realen Beziehung nach außen. Und gerade dies ist der Punkt, in welchem Achad Haam David Hume auch in seiner Darstellung des Entstehens von Religion folgt.
131
David Hume, The Natural History of Religion, London 1757; deutsch: David Hume, Die Naturgeschichte der Religion (Meiner), Hamburg 1984/2000, übs. U. hrsg. Von L. Kreimendahl.
132
Röd, Weg, Bd. 2, S. 92.
133
Röd, Weg, Bd. 2, S. 92. Wolfgang Röd konstruiert ebenda für diese Verschiebung der Erkenntnistheorie zur Psychologie folgendes Beispiel: »So glauben wir […], daß jemand hinter der Tür steht, wenn wir es an ihr klopfen hören. Die Wahrnehmung des Klopfens beruht auf einem lebhaften Eindruck, die Vorstellung eines Klopfenden wird von der Einbildungskraft hinzugefügt. Weil wir aus der Erfahrung wissen, daß das Klopfgeräusch in der Regel von jemandem stammt, der den Raum betreten will, sind die Vorstellungen des Klopfens und einer klopfenden Person aufs engste miteinander verknüpft. Auf Grund dieser Verknüpfung strahlt die Intensität des Eindrucks auf die Vorstellung aus und bewirkt, daß sich der Realitätsglaube auch auf diese bezieht.«
Achad Haam
200
In seinem Essay »Verfrühte und veraltete Gedanken«,134 wiederholt Achad Haam die Grundthese aus Humes Natural History of Religion mit den folgenden Worten: »Durch einleuchtende Argumente haben David Hume und seine Schüler bewiesen, daß nicht das Staunen über die Herrlichkeit der Natur und die Erhabenheit ihrer Erscheinungen, sondern die Angst und der Schrecken vor den plötzlich hereinbrechenden Unfällen und Katastrophen den Menschen zuerst zur Annahme eines göttlichen Wesens führte.135 Der Urmensch, der ruhelos umherirrte, um Nahrung zu suchen, der ohne Schutz vor dem Regen, ohne Hülle vor der Kälte von elementaren Katastrophen und reißenden Tieren unaufhörlich verfolgt wurde, war wenig disponiert, sich in die Betrachtung der Naturgesetze zu versenken, die Erhabenheit des Weltgebäudes anzustaunen und für dasselbe einen Weltenbaumeister zu postulieren. Alle seine Sinne, Empfindungen und Gedanken waren auf einen Wunsch konzentriert: auf den Wunsch der Selbsterhaltung: das Gute und das Böse, das seiner Erhaltung Nützliche und das derselben Schädliche. […] Doch das Böse, das häufiger und greifbarer zum Vorschein kommt, – wohin vor diesem sich flüchten? – Diese Frage, die ihm zuerst, fast unbewußt, den großen Gedanken erzeugte, daß die Naturerscheinungen ihre Herren haben; Herren, die man durch Bitten versöhnen und durch Geschenke freundlich stimmen kann […].«136 Achad Haam fährt fort und meint, nicht nur die Gefahren der Natur ließen den Menschen zu solchen Naturgöttern ihre Zuflucht nehmen, sondern auch die Bedrohungen von Seiten der Menschen, vor denen sie sich beim eigenen Familiengott schützen wollten, der sich beim erweiterten Wahrnehmungshorizont der bedrohten Menschen schließlich zum »Volksgott« entwickelte. Mit dieser Darstellung pflichtet Achad Haam, wie er des Weiteren darlegt, Humes These zu, dass am Anfang der Religion nicht der Gott der Vernunft, sondern ein doppelter Polytheismus von Natur- und Familien- bzw. Nationalgöttern stand. Dieser primitive Polytheismus, so Achad Haam, »wurzelt tief in den Seelenbedürfnissen und Lebensbedingungen der primitiven Menschheit.«137 Es waren demnach die bedrohlichen Lebensumstände und die aus ihnen erwachsenden »Seelenbedürfnisse«, welche den Ursprung der Religionen bildeten, nicht eine aus der Transzendenz kommende göttliche Offenbarung, ja nicht einmal die
134
Scheideweg Bd. I, S. 296–306; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, »Mukdam u-meuḥar ba-Ḥajjim«,
135
Im Hebräischen steht etwas traditioneller formuliert: »Seinen Schöpfer zu erkennen.«
136
Scheideweg, Bd. I, S. 299; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 79a.
137
Scheideweg, Bd. I, S. 300; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 79b.
S. 78–80.
Zionismus
201
menschliche Vernunft, der man ja auch im Mittelalter zumindest eine transzendent-angelische Herkunft zuschreiben konnte.138 Das Entstehen von Gottesvorstellungen ist ganz auf Psychologie reduziert. Damit hat sich Achad Haam nicht nur von der biblischen und rabbinischen, sondern auch von der mittelalterlichen und aufklärerischen Religionsauffassung verabschiedet. Der Ursprung der Religion sei psychisch begründet, ein »Kulturerzeugnis« der menschlichen Spezies, nicht eine Antwort auf eine reale und objektive Anrede aus dem Außen oder gar Transzendenten. Das somit allgemein Festgestellte gilt, laut Achad Haam, natürlich auch für die israelitische Religion, die, wie noch im biblischen Richterbuch und aus den prophetischen Polemiken erkennbar, eben jenem urtümlichen doppelten Polytheismus verhaftet war. Die Versuche der Propheten, die Israeliten zum Monotheismus zu bekehren, blieben in deren eigener Zeit demnach nur der vergebliche Versuch einer kleinen Elite, die weitgehend ungehört verhallten. Aber »Erst nach der Zerstörung des Tempels, als der Gesamtgeist des Volkes [Mazaw ha-Ruach ha-kelali] im Exil eine tiefgreifende Umwandlung erfahren und die nötige Empfänglichkeit für den monotheistischen Gedanken gewonnen hatte,139 – erst jetzt war es den Propheten jener Epoche möglich, ohne Mühe und in kurzer Zeit den vulgären Glauben auszurotten und dem monotheistischen Gedanken zur ausschließlichen Alleinherrschaft im gesamten Leben und Treiben des Volkes zu verhelfen.«140 Achad Haam betrachtet die israelitische Religionsgeschichte mit den Augen eines Religionshistorikers, der mit David Hume die Auffassung vertrat, dass sich auch Religionen entwickeln141 und verschiedene Stadien durchlaufen, hier vom zwiefachen Polytheismus zum schließlichen Monotheismus, was frühestens nach dem babylonischen Exil eingetreten sei. Das entscheidende Erklärungsparadigma für die eintretenden Veränderungen ist für ihn dabei die Psychologie, das heißt die Reaktionen der menschlichen Psyche auf die sich verändernden historischen, politischen und gesellschaftlichen Umstände. 138
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1. S. 419–422. 451–453. 462–471. 542–546.
139
Im Hebr. wörtlich: »als sich die Lage des allgemeinen Geistes in der Exilsgemeinde in einer
140
Scheideweg, Bd. I, S. 302; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 79b.
141
Vgl. noch Scheideweg, Bd. I, S. 227; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 58b: »Ich glaube an eine
Weise geändert hatte, die für den Einheitsglauben nötig ist.«
Entwicklung der Religion!« Von einer legitimen natürlichen Entwicklung müsse indessen die illegitime willentliche Reform unterschieden werden, wie sie in Westeuropa betrieben wurde, die nachdrücklich abzulehnen sei. Denn sie werde von Menschen durchgeführt, die den Glauben schon eigentlich verloren haben und nur noch an den Hüllen flicken, Scheideweg, Bd. I, S. 256–257. 224–226; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 66b.58a-b.
Achad Haam
202
Die Attraktivität des Monotheismus, so erläutert Achad Haam, war nach der Zerstörung des ersten Tempels und des letzten israelitischen Staates, Juda, dadurch gewachsen, weil man nun die Sorge über dem nationalen Unglück nur durch den Glauben an die Alleinherrschaft des eigenen Nationalgottes aufzufangen vermochte.142 Allein, nach der Errichtung des zweiten Tempels sei dann der Monotheismus, der zunächst eine seelische Stütze für die nationale Hoffnung war, zum Selbstzweck mutiert, er habe den nationalen Gedanken in den Hintergrund gedrängt und durch messianische Hoffnungen ersetzt, die nicht die Gegenwart des Volkes bestimmten, sondern in eine utopische Zukunft verlegt waren, wodurch das nationale Denken vergreiste. Achad Haam betrachtet die Religion also nur als eine Funktion des Volkslebens und das heißt für ihn als eine Funktion des nationalen Denkens. Und damit wird auch ihr Wert beurteilt, dient sie dem Leben des Volkes, ist sie wertvoll, hindert sie es, wie dies Achad Haam für die eigene Zeit empfindet, ist sie bedeutungslos oder zumindest neutral. In seinem großen Essay zum siebenhundertsten Todestag des Maimonides143 lässt Achad Haam einmal Maimonides sagen wie und womit die Religion ihre Aufgabe richtig erfüllt, indem sie dem einfachen Volk 1. Die richtigen Meinungen gemäß seiner Auffassungsgabe vermittelt, 2. diejenigen Moralgesetze für das Individuum wie die Gesellschaft vertritt, die der Gesellschaft Frieden und dem Einzelnen Gelingen verschaffen. Schließlich soll die Religion 3. dem Volk die Regeln des religiösen Dienstes vermitteln, die das Volk erziehen, und zwar mittels der beiden vorausgegangenen Punkte, um diese zu stärken. Dadurch hebt die Religion das »kulturelle Niveau« des Volkes, um die persönlichen und gesellschaftlichen Ziele erlangen zu können.144 Achad Haam ist jedoch der festen Überzeugung, dass die jüdische Religion seiner Tage nicht mehr die Macht besitzt die Einheit des jüdischen Volkes zu gewährleisten,145 dies umso mehr als die Grundlagen der Religion durch die neueren Wissenschaften und die »Ketzerei, die an den Namen Darwin anknüpft«, ins Schwanken geraten sind und auch die jüdische »religiöse Kirche« der westlichen Reformer nur ein Anzeichen dafür ist, dass die Religion nicht mehr eine lebendige Lebenswirklichkeit darstellt.146 Darum erscheint es Achad Haam auch ungerechtfertigt die Juden ein Volk der Bücher oder ein Volk der Literatur, zu nennen, denn sie sind nur ein Volk des einen Buches, das sie beherrscht, wiewohl seine Inhalte längst vergangen sind. Lebendige Literatur kommt und geht mit ih-
142
Scheideweg, Bd. I, S. 302–203; Kol Kitve Aḥad ha-ʽAm, S. 80a.
143
»Herrschaft der Vernunft«, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 355–369; englisch bei Simon, Ahad ha-’Am, Essays, Letters, Memoirs, S. 138–182.
144
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 360b.
145
Scheideweg, Bd. I, S. 82. 256–257; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 22b. 66b.
146
Scheideweg, Bd. I, S. 257; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 66b. 404b.
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ren Inhalten, sie entspricht stets den lebendigen Bedürfnissen des Volkes. Nicht so die Heilige Schrift, denn das »Volk der Schrift ist ein Sklave der Schrift, eine Gemeinschaft, aus deren Herzen das Leben entflohen ist und sich gänzlich in die Worte der Schrift eingesponnen hat.«147 All diese negativen Urteile über die gegenwärtige Ohnmacht der Religion wie auch Achad Haams Auffassung von der psychischen Grundlegung und Ursache der Religion haben ihn jedoch nicht dazu verleitet, die Religion als Ganze zu bekämpfen, sie abschaffen oder deren Bedeutung für die nationale Kulturarbeit vollkommen in Abrede stellen zu wollen – im Gegenteil. Für Achad Haam ist die Religion ein Teil des jüdischen Erbes, ein Teil der kollektiven nationalen Erinnerung. Ja selbst der Gottesglaube muss auch von dem, der selbst ein Gottesleugner ist, als eine »historische Macht« als historische Wirklichkeit in der Geschichte des jüdischen Volkes anerkannt werden. So schreibt er in seinem Aufsatz »Tora vom Zion« dazu ganz grundsätzlich und mit großem Nachdruck: »Schon vor mehreren Jahren hatte ich darauf hingewiesen,148 dass alles, dessen Wirkung im Leben erkennbar ist, auch wenn es nur ein Gedankenbild ist, im historischen Sinne wirkliche und reale ›Existenz‹ besitzt. Darum kann niemand, auch wenn er selbst nicht an Gott glaubt, dessen Wirklichkeit als historisch-realer Macht leugnen. Deshalb kann ein nationaler Jude, selbst wenn er ein Gottesleugner ist, nicht sagen: Ich habe keinen Anteil am Gott Israels, an jener historischen Macht, die unser Volk am Leben erhielt und die Gestalt seines Geistes und seine Lebensgestaltung während tausender Jahre beeinflusste. Wer tatsächlich keinen Anteil am Gott Israels hat und in seiner Seele keinerlei Geistesnähe zu jener ›oberen Welt‹ verspürt, in die unsere Väter ihr Hirn und Herz in allen Generationen investierten und aus der sie ihre moralische Kraft schöpften, der kann zwar ein guter Mensch, aber kein nationaler Jude sein, selbst wenn ›er im Land Israel wohnt und die heilige Sprache spricht‹.«149 Dasselbe, so fährt Achad Haam fort, gilt auch für die heiligen Schriften des Judentums. Während der Gläubige in diesen Schriften natürlich die göttliche Offenbarung sieht, welche diese Schriften von allen anderen Büchern abheben, so muss doch auch der ungläubige Jude, wenn er ein nationaler Jude sein will, zu diesen Schriften mehr als nur ein literarisches Verhältnis haben, er muss zu diesem Literaturgut eine literarische und nationale Beziehung haben, ein inneres Gefühl, das ihn an sie bindet. Diese Bindung ist jedoch nicht einfach eine Bin147
Scheideweg, Bd. I, S. 197f; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 51b-52a.
148
Vgl. den Aufsatz »Moses«, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 342a.
149
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 408a.
Achad Haam
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dung zu einem historischen Zeugnis aus der Vergangenheit Israels, denn die Bibel besitzt in Achad Haams Augen eine »Hypnose, die sie von der Stufe eines historischen Denkmals einer bestimmten Zeit auf die Stufe einer historischen Macht aller Epochen hebt […], sie [die Bücher der Bibel] sind ein wesentlicher Teil unseres nationalen ›Ich‹, das ohne sie nicht darstellbar ist. Sie sind ›Heilige Schriften‹ im religiösen wie im nationalen Sinne.«150 Die jüdische Religion samt ihren heiligen Schriften sind daher für den nichtreligiösen nationalen Juden im Sinne der nationalen Kulturtradition und im Sinne der Grundlagen der kollektiven Erinnerung und als Grundsteine des kollektiven »Ich« heilige und damit unaufgebbare Traditionen, die er kennen und lieben muss, auch wenn er nicht mehr an Gott glaubt und die heiligen Schriften nicht als Gottesoffenbarung betrachtet, sondern als Kulturschöpfungen seines eigenen Volkes, des Geistes des Volkes Israel.
6.
»Priester und Prophet«
»Priester und Prophet« lautet ein kleiner Essay Achad Haams aus dem Jahre 1893,151 ein weiterer aus dem Jahre 1891 »Priester und Volk«,152 und schließlich folgte noch 1904 ein Artikel unter dem Titel »Mosche« (Moses), dem »Meister aller Propheten«.153 Achad greift hier ohne Zögern die religiöse Terminologie der jüdischen Tradition auf, in der er offenbar wichtige Gestalten erblickte, die ihn während einer langen Zeit seiner Schriftstellertätigkeit beschäftigten. Nach der im voranstehenden Kapitel sichtbar gewordenen zwiefältigen Haltung zur Religion von Achad Haam muss auch hier eine doppelte Konnotation erwartet werden. Und dies ist in der Tat so. Zunächst muss man feststellen, dass Achad Haam mit dieser Bezugnahme auf die biblischen religiösen »Spezialisten« sein oben herausgestelltes Programm verwirklicht, nämlich dass auch dem Ungläubigen die religiöse Tradition als nationale Tradition heilig sein muss. Aus diesem Grunde wird selbst für den säkularen jüdischen Denker mit den beiden genannten Menschentypen ein Teil seines eigenen Ich in Erinnerung gerufen, dem er sich nicht ungestraft entziehen darf. Allerdings, und dies ist das Entscheidende, wird diese religiöse Tradition in den Händen des Agnostikers zu einer Typologie für individuelles und gesellschaftliches Handeln. In seiner anthropologisch-soziologischen Deutung dieser beiden biblischen Funktionäre weicht Achad Haam von allen vorausgegangenen Deutungen ab. 150
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 408a.
151
Scheideweg, Bd. I, S. 343–354; Kohen we-Navi, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 90–92.
152
Scheideweg, Bd. I, S. 65–73; Kohanim wa-‘Am, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 17–19.
153
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 342–347; engl. bei Simon, Ahad ha-ʽAm, Essays, Letters, Memoirs, S. 102–115.
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205
Nicht, dass die Neudeutung dieser Gestalten, insbesondere der Propheten das Neue wäre, dies hat es in der jüdischen Denktradition schon immer gegeben. Das Neue bei ihm ist der klare soziologische Deutungsrahmen in den er diese hier nun wahrlich »Funktionsträger« zu nennenden Gestalten stellt. In biblischer Zeit war der Prophet ein Jedermann, der eines Tages unvermittelt und oft auch gegen seinen Willen »vom Geist Gottes« überfallen wurde und Haus und Hof verließ, um seine Botschaft vor Volk und Königen zu verkünden. Nach der rabbinischen Deutung war die Prophetie mit der Zerstörung des Ersten Tempels zuende gekommen, weil nämlich die Schechina, das heißt die Gottesgegenwart auf Erden, sich in den Himmel zurückgezogen hatte und damit auch der Heilige Geist, der von der Schechina ausging und die Prophetie bewirkte. Man kann dies als eine Domestizierung und Institutionalisierung des vorher eruptiv ekstatischen und packenden Phänomens verstehen. Die mittelalterlichen Denker haben die Prophetie als die höchste Stufe der Vernunfterkenntnis erklärt, die von der transzendenten angelischen Vernunft (Intellekt) dank eigener Bemühungen um Erkenntnis von Seiten des Menschen erlangt wurde.154 Die Priester (hebr. Kohanim, Cohen, Kogan etc.) hingegen gehörten einem alten Erbadel an, der einen »character indelebilis«, eine ererbte Heiligkeit besaß, die es ihnen erlaubte, sich dem Allerheiligsten im Tempel zu nähern. Dort übten Sie ihre Kultfunktionen gemäß den überkommenen Regeln und Heiligkeitsvorschriften aus. Auch in der nachbiblischen Zeit, als die Kultfunktionen weggefallen waren, verblieb den Priestern nach rabbinischem Recht ein besonderer Status, der sich auf die Ehefähigkeit, auf Reinheitsvorschriften und lange noch auf das Privileg des Priestersegens auswirkte. Nichts mehr von alledem ist bei Achad Haam geblieben. Nach ihm sind Priester und Propheten keine auf die biblische Zeit beschränkten religiösen Spezialisten, sondern gesellschaftliche Funktionsträger, die in allen Zeiten bis in die eigene Gegenwart vorhanden und vonnöten sind. Ergänzend zur gesellschaftlichen Funktionalität tritt allerdings ein individualanthropologisches Element, durch welches die Befähigung zu einer der beiden Funktionen vorbereitet und bedingt ist. Nicht jeder ist zum Propheten oder Priester befähigt, es sei denn seine natürlichen individuellen Veranlagungen prädestinieren ihn dazu. Um das Resultat kurz vorwegzunehmen: Der Prophet ist der polarisierende, auf ein Thema sich konzentrierende Extremist, der die Gesellschaft spaltet und mit beißender Kritik überschüttet, während der Priester der Mann des Ausgleichs ist, der die unterschiedlichen Kräfte der Gesellschaft, auch das prophetische Momentum, in einen gesellschaftsfähigen Kompromiss hinüberführt. Diesen »uralten Typus« des Propheten sieht Achad Haam gewiss in sich selbst verwirklicht, was insbesondere aus seinen Beschreibungen des Propheten 154
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 419–424. 468–470. 524–525.
Achad Haam
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in seinem Aufsatz »Mosche« deutlich wird. Dort zählt er die zwei herausragenden Eigenschaften eines Propheten auf: »1. Der Prophet ist ein Mann der Wahrheit. Er sieht das Leben wie es tatsächlich ist und nimmt seine Eindrücke davon ohne persönliche Vorlieben auf, und was er sieht, sagt er wie er es sieht, ohne irgendwelche Seitenabsichten. Er sagt die Wahrheit nicht weil er dies so will, nicht weil er die Dinge untersucht und sie herausgefunden hat, weil er dazu verpflichtet wäre, nein, sondern weil er es einfach tun muss, weil dies die spezifische Eigenart seines Geistes ist, eine Eigenart, von der er sich nicht befreien kann, selbst wenn er dies wollte. […] 2. Der Prophet ist ein Mann der Extreme. Er konzentriert sein Denken und sein Herz auf sein Ideal, in dem er das Ziel des Lebens sieht und dem er das Leben ohne Ausnahme und bis zum Äußersten unterwerfen will. In seinem Herzen trägt er eine vollkommene Welt, ein Ideal, gemäß dem er kämpft, auch die äußere sichtbare Welt zu vervollkommnen. Er hat die klare Erkenntnis, dass es so sein müsse, und dies ist ihm genug, um mit allem Nachdruck zu fordern, dass es so sei, ohne jede Ausrede. Er kann keinen Kompromiss akzeptieren und lässt nicht ab von seinem Grimm und seiner Zurechtweisung, auch wenn alle gegen ihn stehen. Und aus diesen beiden grundlegenden Eigenschaften folgt eine dritte, die aus ihrer Verbindung hervorgeht, nämlich die Herrschaft der einen kompromisslosen Gerechtigkeit in seiner Seele, in all seinem Reden und all seinem Tun.«155 Das hier gezeichnete Bild eines Propheten ist das Psychogramm eines Menschen, wie man ihn in allen menschlichen Gesellschaften finden kann. Ein Mann mit hoher Sensibilität für die Probleme seiner Gesellschaft, mit einem Gerechtigkeitswahn, der keiner gesellschaftlichen Realität standhält und der nicht mit sich diskutieren lässt, weil er von seiner Idee besessen ist. Weil der Prophet so ist, findet er unter seinen Zeitgenossen meist kein Gehör. Er ist, wie dies schon der biblische Jeremia von sich sagte, ein Mann des Zankes,156 dessen Kritik die Zeitgenossen nicht hören wollen. Denn dieser Extremist ist keinen Argumenten zugänglich, denn er hört nur, wie dies Achad Haam formuliert, »auf die ›Stimme Gottes‹ aus seinem Innern«,157 auf das» ›Feuer‹ das in seinen Gebeinen
155
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 343 a-b. U. vgl. Scheideweg, Bd. I, S. 348; »Kohen we-Navi«,
156
Scheideweg, Bd. I, S. 348; »Kohen we-Navi«, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 91a; nach Jeremia
157
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 344a. b.345a.
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 91a. 15, 10.
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brennt«.158 Mit der Rede von der »Stimme Gottes« nimmt Achad Haam wieder die traditionelle Begrifflichkeit in Anspruch, versäumt aber nie, sie durch den Zusatz »in seinem Innern« zu ergänzen. Der Prophet ist ein Mensch, der von seinen eigenen gesellschaftlichen Idealen getrieben ist, eine gesellschaftliche »Urkraft«, die aneckt und treibt, deren Gedanken aber meist erst später, wenn die Gesellschaft dafür reif ist, von dieser angenommen werden, wenn auch in einer herabgemilderten Form. Der Prophet ist ein Mann, der einen Gedanken konsequent verfolgt und ihn ohne Abstriche durchsetzen möchte: »Kein großer Gedanke ist je in der Geschichte zu einer treibenden Kraft geworden, ohne daß ihm in seinem Anfangsstadium Männer erstanden wären, die mit dem ganzen Einsatz ihrer seelischen und körperlichen Kräfte ihm und nur ihm gedient hätten. Diese Männer blicken auf das ganze Leben lediglich durch das Prisma dieses ihres Gedankens, den sie sich zur alleinigen Richtschnur ihrer weltreformierenden Tätigkeit nehmen, ohne den übrigen Kräften, die sich jenem Gedanken nicht unterordnen, irgendwelchen Raum zu gönnen, ja selbst ohne sich um die ihn hemmenden Naturgesetze zu kümmern – fiat justitia, pereat mundus!«159 Die für die Rezeption des prophetischen Extrems erforderliche Herabmilderung und gesellschaftliche Domestizierung zu bewerkstelligen ist nun, nach Achad Haam, die Aufgabe der Priester. Der Priester ist ein Mann, der im Volke steht, dessen Kompromisszwänge versteht, der aber auch die Botschaft der Propheten begreift und fähig ist, diese in einer Form an das Volk weiter zu geben, die für die Menge annehmbar ist.160 Diese gesellschaftliche Mittlerfunktion beschreibt Achad Haam wieder am biblischen Beispiel von Moses und seinem Bruder Ahron. Moses, der sich nicht in der Lage sieht, vor dem Volk und dem Pharao zu reden, wendet sich an Ahron, seinen Bruder, der ihm als »Priester«, das heißt hier als Vermittler, zur Seite steht: »Und schließlich findet der Prophet, was er sucht, den Kanal, der seine Botschaft an das Volk weiterleitet. Er hat einen erhabenen Bruder in Ägypten, aus dem Stamme Levi, der versteht, sein Wort gemäß den Notwendigkeiten von Ort und Zeit auszurichten. […]. Er – der künftige ›Priester‹ – verstand es, den Schlüssel zum Herzen aller zu finden […].«161 Wenn erst der Priester, die prophetische Botschaft dem Volk nahebringt, kann der Prophet in den Hintergrund oder gar abtreten, denn dann hat er nichts mehr auszurichten, weil nun der Kompromiss herrscht, der nicht seine Sache ist. Wenn 158
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 345a.
159
Scheideweg, Bd. I, S. 347; »Kohen we-Navi«, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 91a.
160
Scheideweg, Bd. I, S. 348; Kohen we-Navi, Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 91b.
161
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 345a.
Achad Haam
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man jene Zeilen über den Rückzug des biblischen Moses nach der vierzigjährigen Wüstenwanderung und vor dem Eintritt in das verheißene Land aus der Feder von Achad Haam liest, glaubt man ein Stück autobiographische Reflexion von Achad Haam selbst zu lesen: »Und warum starb der Prophet und weshalb war es ihm nicht vergönnt, selbst sein Werk zu vollenden? Die biblische Tradition blieb dazu bekanntlich etwas einsilbig. Aber mit gutem Gespür hat sie erkannt, dass es so sein musste. Als nämlich die Stunde herangekommen war, das Ideal durch die Tat zu verwirklichen, konnte der Prophet nicht mehr an der Spitze des Volkes stehen und musste seinen Platz für einen anderen frei machen. Denn mit dieser Stunde begann eine neue Epoche, die Zeit in der die Prophetie beiseite rücken musste, die Zeit der Verzichtleistungen und Kompromisse, welche in der Natur des Kampfes ums Dasein liegen. Denn schließlich erhält die Wirklichkeit eine völlig andere Gestalt als sie der Prophet in seinen Visionen sah, darum war es ihm leichter in der Wüste zu sterben, als dies alles mit eigenen Augen sehen zu müssen.«162 So darf man Achad Haams »Rückzug« nach London in die Geschäftswelt des Teehandels verstehen, als ein Macher vom Schlage eines Hajjim Weizman mit seinem »Synthetischen Zionismus« das Politische mit dem Kulturellen zu verbinden wusste.163
7.
Lösung und Ziel der nationalen Frage: Ein nationales geistiges Zentrum »Alles, was ich in Basel und in Erez Jisrael gesehen und gehört habe, stärkte in mir den Glauben, dass der ›Selbsterhaltungstrieb‹ im Grunde des Herzens unserer Nation nicht schlummert noch schläft und dieser, trotz all unserer unterschiedlichen Vorlieben, durch unsere Hände zunehmend das schafft, was unser nationales Bestehen im Augenblick am dringensten braucht, nämlich ein beständiges Zentrum für den Geist unseres Volkes und seiner Kultur, das als neues geistiges Bindeglied zwischen den zerstreuten Teilen unseres Vol-
162
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 346a.
163
J. Heller, Geschichte des Zionismus. Kurzgefasste Darstellung, Berlin 1935, S. 41–42; Böhm Zionistische Bewegung, S. 382–383. 494.
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209
kes dient und von seinem Geist auf sie ausströmt, um sie alle zu neuem nationalem Leben zu erwecken.«164 Mit diesen programmatischen Worten fasste Achad Haam im Jahre 1912, nach seiner erst zweiten Teilnahme an einem zionistischen Weltkongress, dem 10. Zionistenkongress im August 1911, und einer nachfolgenden fünfzigtägigen Palästinareise,165 seine schon mehrfach vorgetragene Auffassung vom wesentlichen Ziel der Zionsliebe zusammen, in einem resümierenden Artikel mit der Überschrift »Alles in Allem« (Sakh ha-Kol).166 Es ist diese Forderung nach einem Merkas le’umi ruḥani (Nationalen geistigen Zentrum), die wie ein cantus firmus Achad Haams Schreiben durchzieht und die ihm böse Kritiken, Anfeindungen und viel Spott vor allem von Seiten der »politischen« Zionisten einbrachte. Grundlage dieser Forderung nach einem nationalen geistigen Zentrum und zwar im Land der Väter – was in der obigen Zusammenfassung fehlt, sonst aber als Grundbedingung von Achad Haam mehrfach unterstrichen wird167 – ist sein vordringlichstes Anliegen, nämlich das Judentum zu erhalten und vor der vollständigen Assimilation zu retten und erst in zweiter Linie, den verfolgten jüdischen Individuen beizustehen. »Nicht die Juden allein sind aus dem Ghetto in die Freiheit hinausgezogen, sondern auch das Judentum.«168 Der Gewinn und die Gefahr die aus diesem Auszug folgen, ist für beide, die Juden und das Judentum, sehr unterschiedlich. Uneinheitlich zeigt sich das Bild bei den einzelnen Juden. Sie haben die politische und wirtschaftliche Freiheit in den verschiedenen Ländern in unterschiedlichem Maße schon erlangt, während andere noch um sie ringen müssen und diese teilweise durch Migration erst erlangen können, zum Beispiel nach Amerika,169 wo dies, laut Achad Haam am ehesten möglich ist, weil dort die wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen am besten sind, weit besser als zum Beispiel in dem osmanischen Palästina. Demgegenüber besteht die Gefahr für das Judentum als nationaler und kultureller Größe seit dem Anbruch der Neuzeit weltweit ohne Unterschiede. Denn das Judentum kämpft, unabhängig von der wirtschaftlichen und der gesellschaftlich-rechtlichen Situation seiner Mitglieder, schon und noch immer um seine Freiheit
164
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 421b.
165
Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 421a.
166
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 421–428.
167
»Judenstaat und Judennot«, Scheideweg, Bd. II, S. 57; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 138a; »Die Wahrheit aus Palästina«, Judenstaat und Judennot, Scheideweg, Bd. I, S. 86; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 23b.
168
Scheideweg, Bd. II, S. 55–56; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 137b.
169
Scheideweg, Bd. I, S. 86; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 23b.
210
Achad Haam
»überall dort, wo es mit der Kultur der Neuzeit in Berührung kommt. Dringt der Strom dieser Kultur in sein Inneres, so reißt er von da aus seine Verschanzungen nieder, es kann sich nicht mehr abschließen, um für sich ein Sonderdasein zu führen. Der Geist unseres Volkes strebt nach Entwicklung, danach, die Elemente der allgemeinen Kultur in sich aufzunehmen, die ihm von außen zuströmen, sie innerlich verarbeiten und zu einem Teile seines Selbst umzuwandeln, wie dies in verschiedenen Zeiten schon der Fall war, – aber seine Lebensbedingungen in der Diaspora machen diesen Prozeß unmöglich. In unserer Zeit hüllt sich die Kultur überall in das nationale Gewand des betreffenden Volkes und jeder Fremde, der sich naht, muß seine Eigenart aufgeben und in der Geistesart der herrschenden Nation aufgehen. Darum kann das Judentum in der Zerstreuung nicht seine Eigenart von innen heraus entfalten, und wenn es die Mauern des Ghetto verläßt, so läuft es Gefahr, sein eigenes Leben oder bestenfalls seine nationale Einheit zu verlieren: in so viele Arten von Judentum mit verschiedenem Charakter und verschiedenen Lebensformen zu zerfallen, als es Länder gibt, worin Juden wohnen.«170 Aus dieser Analyse aus dem Jahre 1889, als Reaktion auf den ersten Zionistenkongress in Basel (1897), wird deutlich, worum es Achad Haam als »Zionist« in erster Linie geht. Es ist das Judentum als kulturelle und soziale Größe, die seit der Neuzeit durch die Auseinandersetzung mit den neuen Wissenschaften und Philosophien zunehmend seine eigene Identität zu verlieren drohe, die in früheren Zeiten durch die Mauern des Ghettos und ihre sozialen Mechanismen und vor allem durch die Religion geschützt gewesen sei. Nachdem die Mauern des Ghetto gefallen waren und die Integration in die jeweiligen Mehrheitsgesellschaften voranschritt, sei es zunehmend schwieriger geworden, das eigene Bewusstsein seines Judentums noch zu begründen. Dass die Religion, nach Achad Haams Einschätzung, zunehmend ihre Autorität und Glaubwürdigkeit für viele Juden verloren hatte und auch die Reformtheologien nur als wässriger Abklatsch fremder Kulturen und Denksysteme erschienen, wurde oben schon gezeigt. Umso mehr galt es nun, dieses Judentum zu retten als eine Größe, welche dem einzelnen Juden, wie der gesamten Gruppe, als Juden ihre Identität bewahren konnte. Und dazu gehört eben, laut dem oben Dargestellten, für den Einzelnen wie für das gesamte Volkes die kollektive Erinnerung und die lange eigene Tradition, die im Zuge der Assimilation und der Neuzeit-Kultur zunehmend über Bord geworfen wurde. Nach alledem muss es klar sein, worin für Achad Haam das alleinige Remedium bestehen konnte. Anstelle der zunehmend einflusslosen Religion mit ihren einst so erfolgreichen sozialen und kulturellen Strukturen muss eine neue Struk170
»Judenstaat und Judennot«, Scheideweg, Bd. II, S. 56; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 137b.
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211
tur treten, welche die versprengten Glieder des jüdischen Volkes mental zusammenhalten kann. Und dies, davon ist Achad Haam überzeugt, vermag nur eine umfassende nationale Kultur zu leisten, die nicht die Religion als einzige oder gar ausschließliche Basis hat, zu der allerdings die Religion wie die Sprache und die Literatur als Teil des kollektiven Erbes hinzugehört. Achad Haam sieht sich in der Rolle eines neuen Jochanan Ben Sakkai,171 der die Weisen der Pharisäer im Weinberg zu »Javne« zusammengerufen hatte, um das kulturelle Erbe zu sammeln und zu ordnen, um es als Basis für die Gestaltung der Zukunft aufzubereiten. Demgegenüber musste die Gründung eines Judenstaates, wie sie der Herzl’sche Zionismus forderte, an zweiter Stelle stehen. Solange das Judentum nicht kulturell staatsfähig sei, könne ein solcher Staat nicht das leisten, was die politischen Zionisten von ihm erwarteten. Damit will Achad Haam die Gründung eines jüdischen Staates nicht ausschließen, für ihn ist dies aber eher der Endpunkt einer natürlichen Entwicklung, nachdem ein eigenes jüdisches Leben sich in allen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereichen entwickelt habe, das dann auch die geeigneten Politiker für eine Staatgründung hervorbringen werde. Demgegenüber hält Achad Haam die Voranstellung des staatspolitischen Zieles der westlichen Zionisten für nicht nur ungeeignet, sondern für fast gefährlich, weil Politiker, die dem Judentum schon ganz entfremdet seien, vielleicht einen Staat der Juden, nicht aber einen jüdischen Staat formen könnten.172 Die kulturelle Arbeit, an deren Endziel dann auch ein jüdischer Staat stehen mag, kann nach Auffassung Achad Haams nicht von den Massen oder von vielen der Palästinakolonisten geleistet werden, sondern nur von einer nationalen Elite. Es sind diese wenigen handverlesenen Menschen, welche das Zentrum aufbauen sollen, sie sind die Seele, der Mittelpunkt des Kreises, an deren Peripherie die vielen zahllosen anderen Punkte stehen. Der Mittelpunkt aber schenkt der Peripherie das Leben.173 Achad Haam konnte dieses sein Programm des kulturellen Aufbaus, sein Programm der Volksbildung, das alle Altersstufen erreichen muss, auch in einer sehr elitistisch klingenden Weise formulieren, die ihm den Vorwurf einbrachte, dass er einen geistigen Luftturm erbauen wolle, der keine reale Bodenhaftung mehr habe. Eine solche Formulierung bringt er in seinem breit angelegten Essay zur »Auferstehung des Geistes« von 1903.174 Er schreibt dort: »Deshalb nun sage ich, daß die Arbeit des Wiederaufbaus sich nicht auf die materielle Ansiedlung allein beschränken darf. Unsere Arbeit muß gleichzei171
Vgl. »Judenstaat und Judennot«, Scheideweg, Bd. II, S. 57; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 138a.
172
Judenstaat und Judennot, Scheideweg, Bd. II, S. 57; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 138a.
173
Scheideweg, Bd. I, S. 81; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 21b.
174
Scheideweg, Bd. II, S. 192–244; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 173–186.
212
Achad Haam
tig nach zwei Fronten gerichtet sein: während wir einerseits darauf hinarbeiten, im Lande unserer Väter eine große und geordnete Ansiedlung zu schaffen, dürfen wir uns andererseits der Pflicht nicht entziehen, dort auch ein gesichertes und unabhängiges Zentrum für unsere nationale Kultur, für Wissenschaft, Kunst und Literatur zu schaffen; und während einerseits nach und nach in unserem Lande sich fleißige Hände zusammenfinden werden, seine Ruinen aufzurichten und seine alte Pracht wiederherzustellen, – müssen wir andererseits auch Herzen hinrufen, Männer voll Wissen, Gefühl und Talent, die die Ruinen unseres Geistes wieder aufbauen und unserem Volke den Glanz seines Namens und die ihm zukommende Stellung im Tempel der menschlichen Kultur wiedergeben sollen. Die Gründung einer großen Hochschule in Palästina für Wissenschaft und Kunst, die Gründung einer Akademie für Sprache und Literatur, das sind meines Erachtens große, erhabene nationale Werke, die uns unserem Ziele näher bringen als hundert Bauernkolonien; denn diese Kolonien sind eben nur Steine für den Bau der Zukunft, können aber selbst noch nicht als zentrale nationale Kraft gelten, die dem Leben des ganzen Volkes ein neues Gepräge verleihen könnte. Ein großes wissenschaftliches Institut in Palästina hingegen, das eine Menge von Gelehrten und Talenten aus unserem Volke zu gemeinsamer Arbeit in jüdischem Geiste ohne Druck und allzu große Beeinflussung von außen zusammenrufen würde, wäre auch heute schon imstande, dem Geiste des ganzen Volkes neue Impulse zu geben und unseren nationalen Gütern wieder wahres Leben einzuhauchen.«175 Nicht nur einmal musste Achad Haam darauf hinweisen, dass auch er, wie in dem vorliegenden Text, den physischen Aufbau des Landes Israel als notwendiges Fundament für die Kulturarbeit fordere. Aber die Gewichte, die er hier legt, zeigen doch deutlich wo er die wirklich zukunftsträchtigen Aktivitäten der nationalen Aufbauarbeit sieht. In einem Aufsatz von 1907176 nimmt er das Thema der Bedeutung des nationalen geistigen Zentrums nochmals nachdrücklich auf, und erklärt, was er unter dem nationalen geistigen Zentrum versteht. Hier macht er am Beispiel der polnischen Hauptstadt Warschau deutlich, dass diese für die Polen eben nur in geistig-kultureller Hinsicht nationales Zentrum sei, nicht aber in wirtschaftlicher Weise. Zwar brauche auch diese Stadt eine starke wirtschaftliche Basis, um ihre kulturelle Bedeutung zu bewahren, aber deshalb sei sie nicht das wirtschaftliche Zentrum für die Polen, die neben Warschau noch weitere wirtschaftlich bedeutende Orte besitze. Also, so Achad Haam, die Forderung nach dem Aufbau eines nationalen geistigen Zentrums setze auch dessen Wirtschafts175
Scheideweg, Bd. II, S. 223–224; Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 181a-181b.
176
»Millim u-Mussagim« (Worte und Begriffe), Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 392–394.
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kraft voraus, aber dieses als solches wird niemals das nationale Zentrum für alle Juden in der Welt sein können, die solche wirtschaftliche Bastionen je an der Orten ihrer Diasporawohnsitze haben. Aber die Kultur und der Geist eines solchen Zentrums können und sollen für alle Juden in der Welt prägend sein. Mit der zuletzt gemachten Bemerkung ist zugleich eine Grundsatzauffassung Achad Haams angesprochen, nämlich dass er der festen Überzeugung war, dass aus wirtschaftlichen, geographischen und demographischen Gründen immer nur ein kleiner Anteil aller Juden in der Welt tatsächlich ins Land Israel einwandern würden. Und gerade deshalb sei es ja nötig, ein solches kulturelles geistiges Zentrum zu schaffen, damit das über die Welt verstreute jüdische Volk nicht in eine Vielfalt von Judentümern zerfalle, sondern ein einigendes Band habe, welches die Religion, wie gesagt, nicht mehr zu bieten in der Lage ist. Dem Begriff Merkas le’umi ruḥani (nationales jüdisches Zentrum) gibt er darum in einem Artikel mit dem Titel »Worte und Begriffe« drei grundsätzliche Deutungen: »1. Das Wort ›Zentrum‹ ist ein Beziehungsbegriff. So wie es keinen Vater ohne Söhne gibt, so gibt es auch kein Zentrum ohne Peripherie. […] so ist auch das Zentrum ein solches nur in Beziehung zu seiner Peripherie, welche von ihm abhängt. […] 2. Aus dem Begriff ›Nationales Zentrum‹ – folgt logischerweise, dass es eine nationale Peripherie gibt, die, wie jede Peripherie, um vieles größer als das Zentrum ist. Will sagen, wer diesen Begriff gebraucht, sieht den größten Teil seines Volkes auch in der Zukunft in allen Ländern zerstreut, aber nicht mehr in unzählige zusammenhanglose Punkte getrennt. Da einer der Punkte – der im Lande Israel – künftig das Zentrum von allen sein wird und sie zu einer vollkommenen Peripherie verbinden wird. […] 3. Das Attribut ›geistig‹ bedeutet, dass die Beziehung zwischen dem Zentrum und der Peripherie, zwischen dem Land Israel und den Ländern der Diaspora, notwendigerweise auf das Geistesleben begrenzt ist: Der Einfluss des ›Zentrums‹ wird das nationale Bewusstsein in der Diaspora stärken, wird die Geister von der Demütigung des Exils reinigen und wird das geistige Leben mit einem wahren und natürlichen nationalen Inhalt erfüllen, nicht wie der künstliche Inhalt, mit welchem wir derzeit die Leere auffüllen. […]«177 In seinem oben schon erwähnten Aufsatz »Alles in Allem« von 1912, nach seiner neuerlichen Reise ins Land Israel, stellt Achad Haam mit Genugtuung fest, dass sein zwanzigjähriger Traum auf gutem Wege sei, in Erfüllung zu gehen, wenn auch mit gewissen Veränderungen. Er stellt fest, dass das Land Israel in der Zukunft das nationale geistige Zentrum des Judentums sein werde, vom ge177
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 393 a-b.
Achad Haam
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samten Volk geliebt, das es eint und alle verbindet, ein Zentrum der Lehre (Tora) und Weisheit (Wissenschaft), der Sprache und des Buches, der körperlichen Arbeit und der Reinheit der Seele, eine wirkliche Miniatur des Volkes Israel wie es sein sollte …«178
178
Kol Kitve ʼAḥad ha-ʽAm, S. 427a.
V.
INDIVIDUUM - NATION - NATUR UND KOSMOS AHARON DAVID GORDON (1856–1922)
1.
Biographisches
Eine zentrale These der Erkenntnislehre und damit des gesamten Denkens von Ahron David Gordon war: »Es gibt nichts in der Erkenntnis und im Gefühl, das zuvor nicht im unerkennbaren und unbewussten Leben vorhanden war.«1 Diese Auffassung Gordons rechtfertigt, dass hier zu Beginn der kurzen biographischen Skizze ein für die bisherige Darstellung des jüdischen Denkens ungewöhnliches persönliches Zeugnis des darzustellenden Mannes steht. Es war im Jahre 1904, als Gordon im für damalige Zeiten hohen Alter von 48 Jahren seine berufliche und familiäre Lebenswelt in Russland verließ, um zunächst alleine nach Palästina zu emigrieren. Bald nach seiner Ankunft im Heiligen Land schrieb er einen langen – hebräischen – Brief an seine in Russland zurückgelassenen Freunde, in dem Gordon seine ersten Eindrücke von dem neuen alten Land mitteilt, die alle bisherigen Konnotationen, welche ein frommer Jude über das ersehnte Land Israel mit sich getragen hat, beiseitelassen – also insbesondere die Heiligkeit des Landes, die ersehnte Stadt Jerusalem mit dem Ort des altbiblischen Tempels, dem Ort der erwarteten Erfüllung der Messiashoffnungen und dergleichen. Gordon sieht stattdessen vor allem die Natur. Seine von ihm selbst so benannte »befremdliche Stimmung« nach seiner Ankunft in Palästina versucht er in seinem Brief unter anderem so zu beschreiben: »Ich weiß nicht, was der Grund für diese Stimmung ist […] oder ist es, weil ich nicht die Natur von Russland vergessen kann, die mir so lieb ist und es mir schwerfällt mich so schnell an die Natur eines anderen Landes zu gewöhnen? […] Die Natur hier […] ist wunderschön, allerdings empfinde ich an dieser Schönheit einen Mangel. Vielleicht, weil diese Schönheit zu groß ist? Ich bin an keine solche Perspektive gewohnt, weil wegen der Klarheit der Luft alles, auch aus der Ferne, in einer so starken Helle erscheint, die das Auge sticht, so dass diese Schönheit aussieht, als wäre sie nicht natürlich, sondern künstlich. […] Ich bin nicht an diese besondere und ernste Stille gewohnt, welche die großen Weltgedanken und den großen Weltschmerz ausdrückt. In der Natur des Landes Israel fühle ich mich wie ein Gast, vielleicht als willkommenen Gast. […] Es ist nicht angemessen, in dieser Natur leicht-
1
Kitve A.D. Gordon be-schloscha Kerachim: Ha-ʼUmma we-haʽAvoda, Ha-ʼAdam we-haTevaʽ, Michtavim u-Reschimot, S. H. Bergmann we-A. Schochat (ʽOrchim), Jerusalem 1951– 1954 (Sonderausgabe 1957, danach wird hier zitiert als: Kitve Gordon), Kitve Gordon, Bd. 2, S. 43.
216
Aharon David Gordon
fertig zu sein, man traut sich dies nicht. Das ist nicht die Natur Russlands, an die man gewöhnt war und zu der man eine seelische Nähe verspürt. Die Natur Russlands versteht nicht nur dich, sondern auch du verstehst sie vollkommen […] wie eine einfache unschuldige und liebende Mutter. Nicht so ist die Natur des Landes Israel. Auch sie ist eine liebende und erbarmende Mutter, vielleicht ist ihre Liebe noch tiefergehend, aber sie ist unermesslich erhaben in ihrer geistigen Größe. […] Du fühlst dich von den zarten Armen einer weisen Mutter umschlossen, von einer herausragenden Königstochter, die dich wie einen geliebten Sohn anschaut, der in der Sklaverei aufgewachsen und nun zu ihr zurückgekehrt ist. […].«2 Alle Erwartungen, Hoffnungen und Tröstungen, welche bislang die rabbinische Literatur mit ihren Theologoumena, mit ihren heilsgeschichtlichen Erzählungen und endzeitlichen Erwartungen geboten hatte, sind hier auf die Natur übertragen. Der Jude Gordon schreitet nicht aus dem historischen Exil in das heilsgeschichtliche Reich der Erlösung. Der Jude Gordon, bisher geborgen in der Natur Russlands, findet eine neue, ihn letztlich noch mehr fesselnde und umfangende Mutter in der Natur des Landes Israel. Es sind diese vorrationalen Erlebens-Grunderfahrungen, welche das explizite Denken Gordons, gemäß der eingangs erwähnten These, prägten, worauf später noch zurückzukommen sein wird. Ahron David Gordon wurde im Jahre1856 in Troyanov in Russland als Sohn eines Verwalters auf den Gütern des verwandten Baron Josef Guenzburg geboren. Als einzig überlebendes und deswegen wohl behütetes Kind seiner Eltern erwarb er seine traditionelle und säkulare Bildung von Hauslehrern und als Autodidakt. Nachdem er wegen seines Gesundheitszustandes von der russischen Armee befreit blieb – was er nicht mit allen Mitteln erstrebte –, heiratete er und arbeitete fortan 23 Jahre ebenfalls auf den Gütern des Barons als Finanzverwalter. Er kümmerte sich in dieser Zeit nebenher um die Erziehung von Jugendlichen, insbesondere auch von Mädchen und initiierte die Gründung in einer hebräischen Schule. Im Jahre 1903 wurde die Dorfpacht und damit der Arbeitsplatz Gordons verkauft und er war ohne Anstellung. Diese berufliche Krise – wie auch Spannungen mit seiner hasidischen Umgebung – führten ihn zu dem Entschluss – zunächst alleine – nach Palästina zu emigrieren, wo er sich von da an, trotz anderweitiger Angebote, meist unter schwierigsten Umständen nur noch von der Arbeit seiner Hände als Lohnarbeiter in verschiedenen jüdischen Landwirtschaftskolonien ernährte – zuletzt in dem ersten Kibbuz Degania am See Genezareth. All das erinnert an die russische Bewegung der Narodniki, revolutionäre Intellektuelle, die ihre gewohnte Lebenswelt verließen, um in der dörflichen Gemeinschaftssiedlung als einfache Arbeiter das Volk aufzuklären und zum So2
Kitve Gordon, Bd. 1, S. 77–78.
Zionismus
217
zialismus zu führen – allerdings war Gordon ein scharfer Gegner des Sozialismus, der seiner Betonung des Individuums nicht entsprach. Gordons Frau Feigel und Tochter Yael (Jael) folgten ihm erst 1909 nach ʼErez Jisraʼel, wo die Gattin allerdings kurz darauf verstarb. Durch seine Arbeit mit den jungen Pionieren der zweiten ʽAlija (Einwanderungsbewegung, 1904–1914) wuchs Gordon unter den jungen Leuten alsbald zu einem spiritus rector heran, stand der politischen Bewegung des Ha-Poʽel hazaʽir (Der junge Arbeiter) nahe, für die er ab 1909 auch zunehmend politischphilosophische und sich mit Tagesfragen befassende Artikel schrieb. Sein geistiger Einfluss war so groß, dass eine 1923 in Osteuropa gegründete zionistische Jugendorganisation sich ab 1928 den Namen Gordonia gab.3
2.
Philosophische Voraussetzungen
2.1
Der allgemeine Rahmen
Ahron David Gordon wird zu Recht den »nationalen« Denkern des modernen Judentums zugerechnet, was nicht zuletzt durch seine beeindruckend konsequente Biographie und seinen Einfluss auf die Jugend der zweiten Alija und nachfolgender Generationen wie auf die zionistische Arbeiterbewegung unterstrichen wird. Dennoch kann man sagen, dass das nationale oder zionistische Denken Gordons nicht eigentlich sein primäres Anliegen war. Dieses sein Anliegen war vielmehr zuallererst ein »lebensphilosophisches«. Das nationale zionistische Element, das unbestritten von hoher Bedeutung für Gordon war, ist, systematisch betrachtet, erst eine Konsequenz, ein zweiter Schritt seines eigentliches philosophisches Programms, nämlich der Erneuerung des menschlichen Lebens generell und insbesondere des jüdischen Lebens. Diese Erneuerung, vor allem des jüdischen Lebens, muss nach Gordon so grundsätzlich sein, dass hierbei die jüdisch3
Zur Biographie vgl. außer dem diesbezüglichen Artikel der Encyclopaedia Judaica die für Gordons Biographie die grundlegende biographische Skizze von J. Ahronowitz, Reschimot leToldotaw, Kitve Gordon, Bd. 1, S. 73–77; deutsch in: A.D. Gordon, Auswahl aus seinen Schriften. Nach der von N. Tradjon unter Mitwirkung von E. Schochat bearbeiteten hebräischen Ausgabe übersetzt von V. Kellner, Berlin 1937; hier auch Ergänzungen v. der Tochter Jael Gordon, Von Gordons Leben im Lande, S. 270–290; und schon A.D. Gordon, Erlösung durch Arbeit, Ausgewählte Aufsätze, übs. und eingeleitet, V. Kellner, Berlin 1929; H. H. Rose, The Life and Thought of A. D. Gordon. Pioneer, Philosopher ans Prophet of Modern Israel, New York 1964; S. Avineri, Ha-Raʽajon ha-zioni li-Gewanaw. Perakim be-Toledot haMachschava ha-leʼumit ha-jehudit, Tel Aviv 1980, S. 174–181; deutsch: Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel. 17 Porträts, Gütersloh 1998, S. 177–186; amerikanisch: The Making of Modern Zionism. The Intellectual Origins of the Jewish State 1981; E. Schweid, Ha-Jaḥid. ʽOlamo schel A. D. Gordon, Tel Aviv 1970.
Aharon David Gordon
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rabbinische Tradition, die das Exil tragende »Philosophie«, keine zentrale Rolle mehr spielt. Diese Wendung Gordons ist umso erstaunlicher, als er in seiner russisch-jüdischen Lebensphase und auch noch einige Zeit danach ein praktizierender religiöser Jude und durch Achad Haams4 Texte von einer neuen Lebendigkeit der jüdischen Literatur und jüdischen Schreibens überzeugt worden war. Im Gegensatz zu Achad Haam war aber Gordon nicht der Meinung, dass die Erneuerung des jüdischen Lebens aus der exilisch-rabbinischen Kulturtradition gelingen könne – er forderte demgegenüber einen noch grundlegenderen Neuanfang. Das Werkzeug für seinen denkerischen Neuanfang benennt Gordon in seinen Texten an vielen Stellen, nämlich Lev Tolstoj, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Buddha, Karl Marx, Max Stirner,5 Immanuel Kant, also wenigstens zwei Philosophen des 19. Jahrhunderts, die man zu den Vertretern oder Vätern der »Lebensphilosophie« rechnet – hinzu kommt der von ihm nicht genannte Henri Bergson –, sowie Vertreter des Linkshegelianismus. Mit diesen Namen ist der denkerische Umkreis benannt, in den Ahron Gordon seine Vorstellungen von der nationalen Erneuerung des jüdischen Volkes einzeichnete. Er tut dies indessen nicht ohne aus dem reichen Schatz der rabbinischen und kabbalistischen Literatur zu schöpfen, wobei man den Eindruck gewinnt, dass diese Traditionen vor allem das sprachliche Medium bereitstellten, dessen sich Gordon mit großem Können und Gespür bediente. Es gelang ihm, Sprachmodelle und Strukturen aus dieser Literatur heranzuziehen, um sie in sein neues Denken einzufügen und nur zuweilen transzendiert er das philosophische Gedankengut mittels der Traditionssprache hin zu metaphysisch-mystischen Ansätzen. Die deutliche Verankerung Gordons im europäischen Denken seiner Zeit ist umso beachtenswerter, als der cantus firmus seiner gesamten Texte zugleich die Klage über eben jene Fremdbestimmung des Judentums durch die nichtjüdischen (vor allem europäischen) Kulturen war, wobei er trotz aller »Reinheitsforderungen« für das eigenständige jüdische Leben die Möglichkeit der Assimilation fremder Einflüsse nicht ausschließt, sofern sie sich in den eigenen Kanon einfügen lassen.6 Die von Gordon am nachhaltigsten erörterten Denker aus dem oben genannten Kreis sind indessen Friedrich Nietzsche und Max Stirner, die beide wichtige Motive für Gordons Denken bereitstellten. Während das Bild, das sich Gordon von Tolstoj machte, gewiss ein Idealbild ist, das von den Selbststilisierungen dieses großen Romanciers geleitet wurde, hat Gordon von den beiden deutschen,
4
Über ihn siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, IV.
5
Max Stirner (Pseudonym für Johann Kaspar Schmidt, 1806–1856) zu ihm s. Jüdisches Den-
6
Z. B. Kitve Gordon, Bd. 2, S. 222–225. 232. 239. 253. 258. 263. 330. 338. 360–363; Gordon
ken, Bd. 4, V, 3.1, 3.2. spricht oft von der europäischen Hypnose, z.B. Bd. 2, S. 237–238.
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219
Stirner und Nietzsche, ein durchaus ambivalent-dialektisches Bild, das von euphorischer Verherrlichung bis zur Bekämpfung der jüdischen Nietzscheaner Micha Josef Berdyczewsky (1865–1921) und Josef Hajjim Brenner (1881–1921) reicht, wozu unten Näheres zu sagen sein wird.
2.2
Gordon-Deutungen
Im Jahre 1929 erschien im Berliner Jüdischen Verlag ein Sammelband mit Schriften von A.D. Gordon – in deutscher Übersetzung- unter dem Titel Erlösung durch Arbeit.7 Mit Diesem Titel ist bis heute das geläufige Bild des Gordonʼschen Strebens und Denkens angezeigt. Viktor Kellner beschreibt das in seiner Einführung unter anderem wie folgt: »Gordons Werk ist die Tat; nicht die große, heroische Tat, sondern die schlichte, anspruchslose seines Alltags, erfüllt und geheiligt durch die Hingabe an die Wirklichkeit des Lebens. Der Mensch, der in inniger Verbundenheit mit Gleichstrebenden seiner Hände Werk tut, hilft das Geistige, das Göttliche in der Welt verwirklichen. Dieses Geistige ist kein Abstraktes, kein Losgelöstes; es ist an das Konkrete, das Körperliche geknüpft und mit ihm, durch es zu verwirklichen.«8 Hier spricht unverkennbar der Geist Martin Bubers, der es sich angelegen sein ließ, auch als Mitverantwortlicher und literarischer Leiter im Jüdischen Verlag, Gordon in Deutschland bekannt zu machen.9 Gordon fügt sich in Martin Bubers Bild vom Ḥasidismus, nach welchem dieser angetreten war, das Heilige in der Welt, im Alltag, zu verwirklichen.10 Neben dieser semireligiösen Deutung Gordons, die auch die nicht ganz unrichtige Meinung bestätigt, Gordon habe eine »Religion der Arbeit« verkündet, nennt Kellner andere Motive, die tatsächlich zentral für Gordons Denken sind: »Volk, Natur und Arbeit sind die Pfeiler, auf denen Gordons Gedankenbau ruht. Ihre organische Einheit strebt er an. Indem der Mensch in der Natur und 7
A.D. Gordon, Erlösung durch Arbeit. Ausgewählte Aufsätze. Aus dem hebräischen übersetzt und eingeleitet von V. Kellner, Berlin 1929. Zuvor war auf Deutsch erschienen: A. D. Gordon, Briefe aus Palästina, Berlin (Welt Verlag) 1919.
8
Kellner, in: Erlösung durch Arbeit, S. 7.
9
Vgl. Der Jude, Berlin/Wien, 1916–1917, Heft 1, S. 37–43: Die Arbeit; Heft 10, S. 643–649:
10
Vgl. K. E. Grözinger, Martin Bubers Chasidismusdeutung, in: Dialog mit Martin Buber,
Briefe aus Palästina; im Internet: Compact Memory. Arnoldshainer Texte Bd. 7, (1982), hrsg. v. W. Licharz, Frankfurt a. M., S. 231–256.
Aharon David Gordon
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mit ihr lebt und arbeitet […] bringt er seine tiefste Wesenheit zur Erscheinung, wird er schöpferisch. Und so wie das Individuum vor dem Geist verantwortlich ist, so ist es auch das Volk, das erweiterte Individuum […]. Durch Volk, Natur und Arbeit ist das Individuum mit dem Kosmos verbunden.«11 Hatte Kellner in seiner Auswahl »Erlösung durch Arbeit« die erst posthum publizierten philosophischen Texte Gordons ausgeklammert, wurden sie in der nachfolgenden Auswahl12 immerhin berücksichtigt. Deren konsequente Einbeziehung, die seit der 1925–1929 erfolgten Publikation13 aller hebräischer Texte Gordons möglich war, hat das denkerische Gebäude Gordons neu justieren lassen. Den Beginn dieser Revision unternahm S.H. Bergmann mit seiner »Einleitung zum Buch Ha-ʼAdam we-ha-Tevaʽ – Der Mensch und die Natur« im zweiten Band der dreibändigen Ausgabe, die den Titel Ha-ʼUmma we-Ha-ʽAvoda (Die Nation und die Arbeit) trägt.14 Zu einer grundsätzlichen Neubewertung des gordonischen Denkens führte das Buch von E. Schweid unter dem Titel HaJachid (Der Einzige),15 der schon durch seinen Titel, »Der Einzige«, das »Individuum« als zentralen Topos im Denken Gordons herausstellte und obendrein auf die weitreichende Bedeutung der »Erkenntnislehre« in Gordons Denken hingewiesen hat. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, sind es diese beiden kom-
11
Kellner, Erlösung durch Arbeit, S. 8.
12
Eine erweiterte, zunächst hebräisch erschienene, Auswahl, wurde, wieder im Jüdischen Verlag, 1937 unter dem weniger aufgeladenem Titel: A.D. Gordon, Auswahl aus seinen Schriften. Nach der von N.Tradjon unter Mitwirkung von E. Schochat bearbeiteten hebräischen Ausgabe übersetzt von. V. Kellner, Berlin 1937, herausgegeben.
13
Kitve A. D. Gordon be-ḥamischa Kerachim, J. Aharonoviz (ʽOrech), Tel Aviv, 1925–1929; die zweite Auflage ist die heute verbreitete und allgemein zitierte, wiewohl ʽEnat Tamon, Ḥajjim ḥadaschim, Dat, Immahut we-ʼAhava ʽeljona be-Haguto schel Aharon David Gordon, Jerusalem 2007, S. 20–26, deren Defizite gegenüber der ersten Ausgabe beklagt. Diese zweite Ausgabe ist: Kitve A. D. Gordon be-schloscha Kerachim: Ha-ʼUmma we-haʽAvoda, HaʼAdam we-ha-Tevaʽ, Michtavim u-Reschimot, S. H. Bergmann we-A. Schochat (ʽOrchim), Jerusalem 1951–1954 (Sonderausgabe 1957, danach wird hier zitiert als: Kitve Gordon); eine weitere Auswahl: A.D. Gordon, Mivchar Ketavim ʽim Mavo meʼet E. Schweid, Jerusalem 1983.
14
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 9–36; weitere hebräische Aufsätze von S.H. Bergmann u. N. Rotenstreich in der sehr ausführlichen Bibliographie bei E. Ramon, Ḥajjim ḥadaschim. Dat, ʼImmahut we-ʼAhava ʽeljona be-Haguto schel ʼAharon David Gordon, Jerusalem 2007; u. N. Rotenstreich, Jewish Philosophy in Modern Times: From Mendelssohn to Rosenzweig, New York et. al. 1968, S. 239–252.
15
E. Schweid, Ha-Jachid. ʽOlamo schel A.D. Gordon, Tel Aviv 1970.
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221
plementären Themen, die Erkenntnislehre und die Lehre vom Individuum, welche die Grundsäulen von Gordons Denkansatz sind, in die sich die übrigen oben genannten Themen einfügen lassen. Gordon tut seinen Lesern, wie oben schon vermerkt, den Gefallen, anzuzeigen, woher er die wichtigsten Anregungen für diese Orientierung seines Denkens empfangen hatte, welchen Philosophen er bei seiner Grundlegung all seiner Philosophie auf das »Ich« folgt, nämlich die beiden Deutschen Max Stirner und Friedrich Nietzsche, denen er einen ausführlichen Abschnitt und zahlreiche Hinweise in seinen Texten widmet.
3.
Gordons Lehre vom Individuum, vom »Ich« – und die Quellen aus denen er schöpfte
3.1
Max Stirners Lehre vom Ego
Max Stirners (1806–1856)16 epochemachendes Buch Der Einzige und sein Eigentum17 wird von Gordon ausführlich besprochen. Er gibt bei dieser Gelegenheit den Titel in hebräischer Übersetzung wieder.18 Dies ist ein glücklicher unwiderleglicher Beleg dafür, dass Gordons hebräische Bezeichnung für den schlechthin zentralen Topos seines Denkens, nämlich das Individuum, aus Stirner geschöpft ist. Stirners Der Einzige wird zu Gordons ha-Jachid. Auch Elieser Schweid hat den »Einzigen« als das zentrale Anliegen Gordons erkannt und seine Darstellung von Gordons Denken mit eben diesem Titel überschrieben: HaJachid. ʽOlamo schel A.D. Gordon19. Stirner trug in diesem seinem Buch eine Lehre des »Egoismus« vor, nach welcher der Mensch bestrebt sein soll, sich selbst als das Maß seines eigenen Lebens zu erkennen und danach zu handeln. Er soll Herr seiner selbst in jeder Hinsicht werden, unabhängig von gesellschaftlichen Verpflichtungen, unabhängig von einer von außen vorgeschriebenen Moral, ja auch unabhängig von vorgegebenen Meinungen, von menschlichen Idealen, er soll nicht einmal einem Ideal des »Menschen« nachstreben, sondern in sich selbst, in seinem je gegenwärtigen so-Sein, sein eigenes Gesetz des Handelns und Denkens sein. Nur dann ist der Mensch sein Eigener, der »Einzige«, wenn er sich all das selbst bestimmt, wenn er Freiheit nicht als geschenkte Freiheit annimmt, sondern sich selbst die 16
Sein bürgerlicher Name war Kaspar Schmidt.
17
Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1845; im Internet: Google Books und Deutsches Textarchiv: Max Stirner (Joh. Kaspar Schmidt), Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1929.
18
»Ha-Jachid we-Reschut ha-Jachid schelo« [sic!], Kitve Gordon, Bd. 2, S. 343.
19
E. Schweid. Ha-Jachid, ʽOlamo schel A.D. Gordon, Tel Aviv 1970.
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Aharon David Gordon
Freiheit nimmt, wie auch die Güter dieser Welt. Allerdings darf diese Haltung nicht zur Folge haben, dass der Mensch der Knecht seiner eigenen Begierden, seiner Habsucht und Herrschsucht wird – auch von solchen Begierden und Süchten soll er frei sein, immer das Heft des Handelns frei bestimmend in der eigenen Hand halten. Das eigene »Ich« in seiner Augenblicklichkeit und Vergänglichkeit, dies alleine ist das Selbst. Um nur einmal Stirner selbst zu Wort kommen zu lassen: »Wie nahe liegt die Meinung, daß Mensch und Ich dasselbe sagen, und doch sieht man z. B. an Feuerbach, daß der Ausdruck ›Mensch‹ das absolute Ich, die Gattung, bezeichnen soll, nicht das vergängliche, einzelne Ich. Egoismus und Menschlichkeit (Humanität) müßten das Gleiche bedeuten, aber nach Feuerbach kann der Einzelne (das ›Individuum‹) ›sich nur über die Schranken seiner Individualität erheben, aber nicht über die Gesetze, die positiven Wesensbestimmungen seiner Gattung‹. Allein die Gattung ist nichts, und wenn der Einzelne sich über die Schranken seiner Individualität erhebt, so ist dieß vielmehr gerade Er selbst als Einzelner, er ist nur, indem er sich erhebt, er ist nur, indem er nicht bleibt, was er ist: sonst wäre er fertig, todt. Der Mensch ist nur ein Ideal, die Gattung nur ein Gedachtes. Ein Mensch sein, heißt nicht das Ideal des Menschen erfüllen, sondern sich, den Einzelnen, darstellen. Nicht, wie Ich das allgemein Menschliche realisiere, braucht meine Ausgabe zu sein, sondern wie Ich Mir selbst genüge. Ich bin meine Gattung, bin ohne Norm, ohne Gesetz, ohne Muster u. dgl. Möglich, daß Ich aus Mir sehr wenig machen kann; dieß Wenige ist aber Alles und ist besser, als was Ich aus Mir machen lasse durch die Gewalt Anderer, durch die Dressur der Sitte, der Religion, der Gesetze, des Staates u. s. w. Besser — wenn einmal von Besser die Rede sein soll — besser ein ungezogenes, als ein altkluges Kind, besser ein widerwilliger als ein zu Allem williger Mensch.«20 Ahron David Gordon ist vom Mut Stirners, einen neuen Weg im menschlichen Selbstverständnis zu eröffnen, zutiefst beeindruckt und eröffnet seine Einschätzung von Stirners Buch mit den Worten:
20
M. Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, S. 239–240. Zu Stirner s. noch: M. Stirner, in: Stanford Encyclopaedia of Philosophy (online: plato.stanford.edu/entries/max-stirner); K. Vorländer, Geschichte der Philosophie, Paderborn 2011 (Neuausgabe in zwei Bänden, von 1921) Bd. 2 § 75 Die Philosophie des Individualismus; J. H. Mackay, Max Stirner, sein Leben und Werk 1898, 2. Aufl. 1910; A. Ruest, Max Stirner, Leben – Weltanschauung Vermächtnis, Berlin & Leipzig 1906; K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1950/1964/1969.
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»Wenn man Stirner zu Recht als den Vater der Lehre vom Individuum (haJachid) erachtet, oder, vielleicht richtiger, den Vater der Lehre vom ›Ich‹ oder des Egoismus, so hatte er dennoch einen neuen Weg des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst gewiesen, zur Gesellschaft, zum Leben. Sein Buch erschütterte die europäische Welt und sein Einfluss war überaus groß. Worin lag seine große Macht?«21 Gordon ist von Stirners großer Seelenruhe beeindruckt, von seiner inneren Sicherheit und seinem glänzenden Stil, von der inneren Ungebrochenheit des Autors, der nicht von Zweifeln angefochten wird. Er bescheinigt Stirner einen reinen, ja edlen Egoismus, der nicht von niederen Beweggründen getrieben ist. »Max Stirner war ein Mann mit Seele, mit Verstand und Schöpferkraft.«22 Mit großer Kraft, Furchtlosigkeit und Konsequenz habe Stirner die Rechte eines solchen Individuums eingefordert und dafür habe er wider alles Überlieferte und Überkommene gekämpft, wider alles Heilige und Hochgeachtete, gegen alles was als Grundstein und Fundament der Welt galt. Alles in ihm habe sich auf diese Forderung konzentriert. Der große Mangel an Stirners Konzeption ist nach Ansicht von Gordon jedoch, dass Stirners Egoismus keine Verantwortung für die Allgemeinheit und den Anderen besitze – als positives Beispiel dient Gordon hier stets die Mutter, die aus solchem Ego-Ismus, das eigene Leben aufs Spiel setzt, um die eigene Leibesfrucht zu beschützen. Was Gordon an Stirners Egoismus kritisiert, ist, dass er sich nur dem Realen zuwendet und nicht dem Idealen,23 also nicht nur den niederen und mittleren Bedürfnissen der menschlichen Seele, sondern auch den höchsten, den Idealen. Die Vernunft Stirners reiche nicht aus, alle Bedürfnisse des Ego zu erfüllen, die Gefühle in der Seele, wie sie sich in Kunst und Musik äußerten, deshalb ist der Egoismus Stirners in den Augen von Gordon defekt, so richtig sein Grundanliegen war. Eine bessere Beurteilung widerfährt hingegen Friedrich Nietzsche.
3.2
Nietzsche und der »Übermensch«
Friedrich Nietzsche hat nach Auffassung von Gordon diese zweite, geistigseelische, Seite des Ich sehr wohl mit bedacht, darum ist er der wahre Meister, wo Stirner mit dem besagten Mangel behaftet ist. Er meint damit vor allem den Nietzsche, der sich wider die »Sklavenmoral« erhebt und den Nietzsche des
21
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 343.
22
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 343.
23
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 344.
Aharon David Gordon
224
»Übermenschen« als eines Individuums, das über den Vielen steht. Im Vergleich von Stirner und Nietzsche sagt Gordon: »Beide sind sie extreme Individualisten, jedoch ist ihr Individualismus nicht derselbe. Der Individualismus Stirners ist die reine Ich-Sucht und der von Nietzsche die reine Menschlichkeit. Stirner kämpft für und im Namen des Einzelnen (Jachid) der nur sich selbst und sein eigenes Leben lebt, während Nietzsche um den Einzelnen im Namen der Menschlichkeit (ʼEnoschijut) kämpft, da die Menschlichkeit sich nicht von ihrer Niedrigkeit erheben kann, um sich zu dem erhabenen Typus zu entwickeln, außer mit Hilfe von großen, und starken Individuen (Jechidim), solchen die ganz oben stehen. Stirner forderte die Rechte des Einzelnen ein, insbesondere sein Recht, das zu tun, was sein Herz begehrt und seine Macht ihm zu tun erlaubt, ohne dabei auf die anderen, die Vielen, Rücksicht zu nehmen, selbst wenn sein Tun den Anderen oder der Mehrheit Schaden oder gar Zerstörung zufügen. Nietzsche hingegen forderte die Ehre, den Wert, den menschlichen Wert des Individuums ein und insbesondere die Wegbereitung für den Aufstieg des Einzelnen, damit er zu wachsen vermöge, seine physischen wie geistigen Kräfte bis zur höchsten Stufe zu entwickeln, äußerlich wie innerlich an Mut und an Schönheit, um aus sich selbst einen neuen Menschen zu erschaffen, einen Übermenschen (ʼAdam ʽeljon), selbst um den Preis dass andere darunter leiden und viele zu Fall kommen. Um es noch deutlicher zu sagen: Stirner forderte die realen Rechte des Einzelnen ein, das heißt seine Rechte im wirklichen Leben, während Nietzsche hauptsächlich seine idealen Rechte einforderte, das heißt seine Rechte in allen Sphären des menschlichen Welt-Lebens einforderte. Deswegen forderte er tatsächlich das Recht aller Einzelnen, wenn auch hauptsächlich der idealen Individuen, der kreativen und innovativen, die fähig sind, aus sich selbst den Hoch-Typus der Menschen zu schaffen.«24 Es ist diese Berücksichtigung des Geistigen im Individuum, die, so Gordon, Nietzsches Welt so reich, vollkommen, groß und wunderbar sein lassen. »Er hat nicht die höheren Welten in der menschlichen Seele zerstört, wiewohl er gegen viele höhere Welten kämpfte – er hat ihnen nur einen neuen Charakter verliehen, seinen eigenen Charakter. Darum findet man bei ihm, im Gegensatz zu Stirner, so viel Gesang in seiner Welt.«25 Nietzsches Macht und Wille, die so viele Systeme, Ansichten, Moralvorstellungen beiseite räumten, haben für alle, die eine ähnliche Kraft aufbringen können, den Wert ein großes Vorbild und ein mächtiger Anstoß zu sein, den eigenen 24
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 345–346.
25
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 347.
Zionismus
225
Weg konsequent zu verfolgen. Allerdings ist gerade hier der kritische Punkt, weshalb Gordon kein Nietzscheaner im Sinne seiner jüdischen Zeitgenossen Berdyczewsky und Brenner wurde. Vorbildlich kann nämlich nur der reiche Individualismus Nietzsches sein, sein Impetus und sein Wille aus sich selbst den Übermenschen zu schaffen, sein persönliches Vorbild, nicht aber der Inhalt seiner Lehre, etwa die Forderung nach dem physisch starken Menschen, der ganz Nietzsches Wahl bleiben muss. Jeder, der wie Nietzsche Individuum werden will und soll, muss aus sich selbst seine »Lehren«, seinen Weg, schöpfen – dies ist es was Gordon an zahlreichen Stellen seiner Texte fordert.26
3.3
Gemeinsame Motive des Individualismus bei Nietzsche und Gordon
Der zentrale Gedanke, den Gordon von Nietzsche übernimmt, sind die vor allem aus Nietzsches Zarathustra geschöpften Forderungen der Diesseitsverbundenheit, der Autonomisierung des »Ich« der Individuen und der damit verbundene Aufruf zur Neugestaltung des menschlichen Lebens bis hin zum angestrebten Ideal des Übermenschen. In Nietzsches von Gordon eigens genannten Werk Also sprach Zarathustra27 sagt Zarathustra in seiner Vorrede: »Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.«28 Der Mensch, wie er gegenwärtig ist, ist nach Nietzsche nicht das Ziel, ist nicht die schon vollendete Krone der Schöpfung, deren Ziel, sondern er ist der Mensch auf dem Weg zum vollkommenen Menschsein: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.«29
26
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 305.
27
Ich zitiere hier nach Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und kei-
28
Nietzsche, Zarathustra, I, Vorrede, 3, S. 11. Zum Folgenden siehe M. Fleischer, Friedrich
nen. Mit einem Vorwort von Werner Heilmann, (Goldmann) München1966. Nietzsche. Die dionysische Bejahung der Welt, in: M. Fleischer & J. Hennigfeld (Hrsg.), Philosophen des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2004, S. 179–198. 29
Nietzsche, Zarathustra, I, Vorrede, 4, S. 13.
226
Aharon David Gordon
Der gegenwärtige Mensch muss überwunden, ein neuer Mensch soll geschaffen werden. Dazu bedarf es einer neuen Ethik, nämlich eine Abwendung von allen überirdischen Hoffnungen – denn Gott ist tot – und stattdessen eine konsequente Hinwendung zur Erde und zum Leiblichen.30 Das bedeutet eine Umwertung aller bis dahin gültigen Werte und das Schaffen von neuen Werten. Dazu gehört insbesondere die Ablehnung alles überkommenen »Sollens« an dessen Stelle der eigene Wille des individuellen »Ich« treten muss. Der neue Mensch soll nicht dem Kamel gleich die Lasten der vergangenen Gebote auf sich nehmen.31 Er soll gleich dem Löwen »Herr sein in seiner eigenen Wüste.«32 »Welches ist der große Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heißen mag? ›Du-sollst‹ heißt der große Drache. Aber der Geist des Löwen sagt ›ich will‹.«33 Dieser große Drache des Gebotes will das »Ich will« des Menschen nicht gelten lassen, weil alle Werte schon geschaffen seien. Der Geist des Löwen schafft sich Freiheit von den alten Lasten. Aber dies reicht noch nicht zur Erschaffung des Übermenschen, er muss selber Neues schaffen, neue Werte schaffen. Der Mensch muss einem Kind gleich wie von Null beginnen und sich seine eigenen Werte schaffen: »Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Jasagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.«34 Die Ablehnung des fremden Gebotes, das Beharren auf dem eigenen Willen, sie sind es, die das eigene »Ich« des Menschen zur Geltung bringen und nur dies ist der geforderte Weg über das Seil, hin zum Übermenschen: »Ja, dieses Ich und des Ichs Widerspruch und Wirrsal redet noch am redlichsten von seinem Sein, dieses schaffende, wollende, wertende Ich, welches das Maß und der Wert der Dinge ist.«35
30
Nietzsche, Zarathustra, I, Vorrede, 3, S. 11f.
31
Nietzsche, Zarathustra, I, Von den drei Verwandlungen, S. 21f.
32
Nietzsche, Zarathustra, I, Von den drei Verwandlungen, S. 22.
33
Nietzsche, Zarathustra, I, Von den drei Verwandlungen, S. 22.
34
Nietzsche, Zarathustra, I, Von den drei Verwandlungen, S. 22.
35
Nietzsche, Zarathustra, I, Von den drei Verwandlungen, S. 26.
Zionismus
227
Es ist dieser Wille zum neuen Aufbruch, zum eigenen gestaltenden »Ich«, zum eigenen Selbst, das in Gordons Texten unzählige Male aufscheint. Es ist noch ein weiterer Gedanke, der in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss. Im Kapitel Von den Verächtern des Leibes deckt Zarathustra noch eine weitere Tiefenschicht hinter dem wollenden und Ich-sagenden Individuum auf, nämlich das »Selbst« des Menschen, das auch noch hinter dem Geist des Menschen steht und als unerkannte Macht im Menschen selbst dessen Geist steuert und bezwingt: »Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind Sie. Werk- und Spielzeug sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes. Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ichs Beherrscher.«36 Die Entdeckung und Verwirklichung des wollenden Ich kann von Nietzsche wie nach ihm von Gordon mit dem religiösen Begriff der »Erlösung« bezeichnet werden. Die Erlösung ist demnach bei beiden nicht mehr von einem doch toten Gott zu erwarten, sondern ist die frei schaffende Tat des Menschen selbst: »Die Vergangenen zu erlösen und alles ›Es war‹ umzuschaffen in ein ›So wollte ich es!‹ – das hieße mir Erlösung«.37 Eine weitere Erkenntnis von Zarathustra-Nietzsche, die mit der vom individuellen Willen eng zusammenhängt, ist die Erkenntnis, dass auch die verschiedenen Völker je ihre eigenen Maßstäbe von Gut und Böse setzten: »Viele Länder sah Zarathustra und viele Völker: so entdeckte er vieler Völker Gutes und Böses. […]. Leben könnte kein Volk, das nicht erst schätzte; will es sich aber erhalten, so darf es nicht schätzen, wie der Nachbar schätzt.
36
Nietzsche, Zarathustra, I, Von den Verächtern des Leibes, S. 28.
37
Nietzsche, Zarathustra, II, Von der Erlösung, S. 108. Und vgl. noch ebda. II, Von den Mitleidigen, S. 67: »aber mein Wollen kommt mir stets als mein Befreier und Freudenbringer. Wollen befreit […].«
Aharon David Gordon
228
Vieles, das diesem Volk gut hieß, hieß einem andern Hohn und Schmach: also fand ich’s. Vieles fand ich hier böse genannt und dort mit purpurnen Ehren geputzt.«38 Dies ist die normale Völkerrealität, die erst später durch ein Ziel der Menschheit überwölbt wird – solange es dieses eine Ziel nicht gibt, gibt es keine Menschheit, sondern nur Völker mit unterschiedlichen Wertsetzungen.39 Es ist diese Realität, die auch für Gordon wichtig war, wenn er sie dann auch ganz konsequent in sein nationales Paradigma einschrieb. Allerdings, so betont Margot Fleischer,40 wird auch bei Nietzsche dieses eine Ziel der Menschheit sich nicht als »Uniformität des Wertens« darstellen, wichtig. Denn »Auf das Ziel der Menschheit zugehen bedeutet im Einzelnen gerade ein höchst mannigfaltiges schöpferisches Wertsetzen, das allen menschlichen Möglichkeiten zuteil werden soll. […] ›Tausend Pfade giebt es, die nie noch gegangen sind […]. Unerschöpft und unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschen Erde.‹«41 Entsprechend betont Gordon, dass das Wollen eines Volkes nicht vom Kollektiv den Individuen aufgedrängt werden darf, sondern dass umgekehrt, das Wollen der Individuen das Wollen des Volkes bestimmt. Gordons Nietzsche-Bild ist enthusiastisch und distanziert zugleich. In seinem Kapitel »Der Übermensch« (Ha-ʼAdam ʽeljon) kritisiert Gordon Nietzsches Ideal vom Übermenschen zunächst mit allem Nachdruck, weil es die Herrschaft einzelner Über-Individuen über die anderen, schwachen propagiere. Die Größe des Übermenschen, also eines anzustrebenden menschlichen Ideals, dürfe, so Gordon nicht auf der Schwäche der andern aufbauen, nicht einen Menschentypus propagieren, der sich für die Kleinheit der Schwachen nicht verantwortlich fühle, als sei diese nicht eben auch seine eigene Kleinheit, eines Menschentypus, der die weit schöneren und höheren Gefühle des Menschen wie das Erbarmen, der Liebe gegen jeden Menschen und alles Lebewesen, das Gefühl der Einheit der vollkommenen Einheit des »Ich« mit allem Sein, für das erstrebte Ziel des Übermenschen opfere. Dennoch fügt Gordon sogleich hinzu: »Schaut man indessen auf die Lehre von Nietzsche vom Gesichtspunkt der einfachen Wahrheit, die sich nicht durch allerlei neue höhere Lichter verwischen lässt, ist es nicht schwer zu erkennen, dass die Kraft Nietzsches nicht
38
Nietzsche, Zarathustra, I, Von tausend und Einem Ziele, S. 46.
39
Nietzsche, Zarathustra, I, Von tausend und Einem Ziele, S. 47.
40
M. Fleischer, Friedrich Nietzsche. Dionysische Bejahung der Welt, in: Philosophen des 19.
41
Fleischer, Friedrich Nietzsche, S. 188 u. Nietzsche, Zarathustra, I, Von der schenkenden Tu-
Jahrhunderts, Hrsg. M. Fleischer & J. Hennigfeld, Darmstadt 2004, S. 188. gend 2, I, S. 60.
Zionismus
229
in seiner Lehre liegt, sondern in seinem mächtigen Wesen, das nicht höher sein könnte. Er lehrte eine Erkenntnis, lehrte sie durch sein eigenes Wesen und nicht durch seine Lehre, nämlich wie der Mensch sein Selbst bis zur höchsten Stufe erhöhen kann. Er hat durch sein Tun erwiesen, dass das Fundament der Welt des Individuums in ihm selbst liegt, und dass es von da aus beginnen muss, seine Welt zu erbauen, damit sie ein Bauwerk wird, das mit seinem Fundament übereinstimmt. Dass der Einzelne also alles beiseite zu drängen hat, das ihn von außen stört und nicht umgekehrt, er soll sein Bauwerk nicht von außen beginnen und dann das Fundament dem Bau anpassen. Nietzsche hat gezeigt, dass nichts, keine Meinung oder Tugend der höchst einzigartigen Welt des Einzelnen (Ha-Jachid) im Wege stehen darf. Dass man vielmehr alle Werte der Welt umstürzen müsse, wenn sie nicht mit den Werten des einzigartigen ›Ich‹ übereinstimmen können – die Hauptsache ist demgegenüber, sie umzustoßen mithilfe der eigenen guten Werte. Das war die Kraft von Nietzsche, und das gilt es von ihm zu lernen […]. Allerdings ist die Wurzel seiner Seele aus der Sphäre der Herrschaft und man muss schon ein Genie sein, um ein solches Wesen zum höchsten Wesen zu erklären, um so viele große Lichte in einer so niedrigen Sphäre zu offenbaren. Darum ist sein Übermensch auf keinen Fall ein Zeichen für den Übermenschen, nach dem die Menschheit strebt […].«42
4.
Grundstruktur des Denkens von A. D. Gordon
Schon Schmuel Hugo Bergmann hatte in seiner Einführung in Gordons Philosophie auf deren dualistische Grundstruktur verwiesen, die sich in einer alle Teile seines Denkens begleitenden Reihe von Gegensatzpaaren offenbart.43 Die Begriffe als solche schöpfte Gordon aus durchaus unterschiedlichen Quellen, aus der mittelalterlichen wie der modernen Philosophie, der rabbinischen Theologie und der Kabbala, ohne jedoch deren ursprüngliche Deutung beizubehalten. Das heißt, selbst da, wo Gordon zum Beispiel Begriffe aus der Kabbala aufnimmt, erhalten diese bei ihm einen völlig neuen Sinn, so dass man nur mit Vorbehalt von einem kabbalistischen Einfluss auf Gordon reden kann.44 Die dualistischen Begriffspaare sind: Sechel und Sechel neʽelam (Intellekt und Verborgener Intellekt) für den Bereich der Ontologie, Hakkara und Ḥawaja (rationale Erkenntnis und Er-lebnis, er-lebte Erkenntnis) sowie Hassaga sche-ba-Hakkara und Hassa42
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 145–146.
43
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 9.
44
Einen solchen versucht z.B. Avraham Schapira, ʼOr ha-Hajjim be-Jom Katnut, Mischnat A. D. Gordon u-Mekoroteha be-Kabbala u-va-Ḥasidut, Tel Aviv 1996, vgl. dazu Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, V, 7; u. vgl V, 4.1; 5.4.
Aharon David Gordon
230
gat-ha-Ḥajjim (Wahrnehmung durch die rationale Erkenntnis und Wahrnehmung durch das Leben) für den Bereich der Epistemologie, Zimzum und Hitpaschtut (Begrenzung und Ausweitung) für alle Bereiche des menschlichen Zugangs zum Leben, oder die Lebenseinstellung – entsprechend Tochen und Zura (Inhalt und Form), mechanisches und organisches natürliches Leben. Diese Dualismen prägen das menschliche Dasein in allen Bereichen, sind aber nicht als Gegensätze gedacht sondern als komplementäre Modi, die allerdings in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen sind, damit das Leben gelingen kann.
4.1
Gordons Lehre vom Individuum – ha-Jachid
Der von Gordon angestrebte »Übermensch« ist das Individuum, das sich wie Nietzsche, nicht um die Werte der Tradition und der Welt schert, sondern sein eigenes Leben ausschließlich auf sein inneres Selbst baut. Allein von solchen Individuen hängt auch das nationale Schicksal des Judentums ab: »Die Lehre vom Individuum (Torat ha-Jachid), das heißt die Klärung des Wesens des Individuums, konnte uns nur zum Segen dienen. Unsere nationale Welt […] steht nunmehr einzig auf dem Individuum, das heißt alleine auf dem Einzelnen. Unser nationales Wesen hat heutzutage […] keinen anderen Erlöser außer dem ›Ich‹ eines jeden Einzelnen von uns.«45 Das damit gemeinte Individuum ist ein Mensch, der nach dem Vorbild von Nietzsche seine Welt nur aus sich selbst baut und sich nicht von außen verformen lässt. Von draußen übernimmt er allenfalls das, was seinem eigenen Wesen entspricht. Dieses Individuum hat keine verfestigte gleichbleibende Form, dies wäre ein innerer Widerspruch. Es zeichnet sich vielmehr durch sein je einzigartiges »Ich« aus. Darin erweist sich seine Qualität als Ebenbild Gottes. In einem solchen Ich kann man die großen Beziehungen finden: »Nur in der Seele des Individuums gibt es Raum für große Beziehungen. Eine große Beziehung zu sich selbst, das bedeutet zugleich große Beziehungen zu allem – zur Natur, zum Menschen, zu allem, was lebt, und zu allem das existiert.«46 »Das Wesen des Individuums ist sein Selbst-Sein (ʽAzmuto), ›Ich gehöre mir selbst und meine Welt gehört mir‹ – eine großartige Beziehung, eine vollkommen wahrhafte Beziehung zwischen dem individuellen ›Ich‹ und dem Welten-›Ich‹ zwischen der eingeschränkten (be-Zimzum) und der sich [un-
45
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 233.
46
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 233.
Zionismus
231
endlich] ausweitenden (be-Hitpaschtut) Welt. Die Klärung dieser Beziehung ist der gesamte Lebensinhalt des Individuums.«47 Zu Beginn dieser Worte klingt ganz deutlich Max Stirner an, um allerdings sogleich durch die Ausweitung auf die Welt den Egoismus Stirners hinter sich zu lassen. Das Besondere des Gordonʼschen Individualismus ist seine Einbettung in die Natur, oder in die Welt im spinozanischen Sinne von deus sive natura, die Welt als göttliches Gesamtwesen.48 Wer in einer solchen ausgeweiteten Weise nach dem Wesen des Individuums fragt, ist, so fährt Gordon fort, wie ein Mensch – wie Nietzsche –, der nach den Prioritäten seines Lebens fragt, ob dies seine eigene Kreativität, oder die Rezeption des Zeitgeistes ist: »Wie und woher muss der Mensch den Bau seines eigenen Lebens errichten: Ob von unten nach oben und von innen nach außen, ob vom Fundament des unerkennbaren Bereiches seiner Seele hin zum Erkennbaren und Erlernbaren – dahingehend, dass das, was nicht zu diesem Fundament passt, auch wenn es für die anderen den Eckstein bildet, in den Wind zu werfen, oder ob er von außen in seine Seele hinein bauen soll und von oben nach unten – vom Gelernten und Bekannten hin zum Fundament seiner Seele und selbst das Unpassende hobeln und hinzufügen soll, um das Fundament dem Bau anzupassen? Das Individuum wird darauf antworten: Das Selbst-Sein ist das Wesentliche! Es gibt keinerlei Bildung in der Welt und kein Ideal, die den Schaden am ›Ich‹ wert sind […]. Der Mensch erschafft seine Welt aus seinem Selbst, aus dem Verborgenen Intellekt seines Selbst, und hauptsächlich für sich selbst. […] Niemals hat und wird ein Mensch eine objektive Welt erschaffen, eine Welt, die jeder Seele gleichwert wäre. Es gibt nur eine einzige objektive Welt, die aber versteht der Mensch nicht, sie erkennt der Mensch nicht, außer aus der Welt heraus, die in seinem Herzen ist […] aus dem Verborgenen Intellekt in seiner Seele, in welchem der Verborgene Intellekt der Welt sichtbar wird.«49 Gordon verweist am Ende dieser Ausführungen eigens nochmals auf Friedrich Nietzsche, von dessen Verhalten – nicht von dessen Lehre – man diesen Individualismus lernen könne. Was aber über Nietzsche und über Max Stirner hinausweist, ist die doppelte Erwähnung eines Verborgenen Intellekts, den es im Innern 47
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 233.
48
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 202–213.
49
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 234.
Aharon David Gordon
232
der menschlichen Seele wie in der umfassenden Welt gebe. Ob Gordon mit diesem kabbalistisch-ḥasidischen Terminus tatsächlich einen kabbalistischen Immanenz-Gedanken aufnimmt und die Lehre von der menschlichen Seele als einem »Gottesfunken«, wird an späterer Stelle nochmals aufgenommen werden. Hier ging es zunächst nur darum, Gordons Individualismus in seinem zeithistorischen Umfeld herauszustellen. Dass mit einem solchen Persönlichkeitsideal die Fundamente der traditionellen jüdischen Religion – nicht aber der Religion schlechthin – erschüttert werden, soll weiter unten noch erörtert werden.50 Gleichermaßen wird daraus die Abneigung Gordons gegen das Gesellschaftsmodell des Sozialismus verständlich, in welchem die Gemeinschaft vor dem Individuum rangiert und ihm Moral und Werte diktiert.51
4.2
Selbst-Sein als imago dei
Mehrfach wurde im Laufe dieser Darstellung des jüdischen Denkens darauf verwiesen,52 dass die Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes das Schibbolet jüdischer Theologie und Anthropologie durch die Jahrtausende war. Auch Gordon hat dies so gesehen und preist diese biblische Lehre als den unvergänglichen Teil, als den Lebensquell des Judentums. Gordon weiß zugleich, dass diese Lehre von Generation zu Generation neu übersetzt werden muss, weil die Religion, die höchst subjektive und individuelle Religion, wie er sie versteht – dazu unten mehr im Kapitel »Die Religion« – mit dem Leben, der Lebenserfahrung des Menschen sich stets verändert. Er schlägt darum eigens und bewusst eine neue Übersetzung dieser jüdischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen vor und zeigt damit zugleich, was für ihn der innerste Kern dieser Lehre und damit jüdischer Religiosität geworden ist: »Will man diese Lehre in die Sprache unseres heutigen lebendigen Denkens übersetzen, und sie auf ihren archimedischen Punkt bringen, bedeutet sie dieses: Alles steht auf dem Selbstsein (ʽAzmut), auf dem menschlichen ›Ich‹, dem individuellen wie dem nationalen gleichermaßen. Das heißt, die wichtigste Bedingung, die erste und oberste Bedingung, um das Leben zu verstehen, das der Mensch, insoweit er Mensch ist, bewusst oder unbewusster Maßen sucht, ist, dass sein Selbst vollkommen sei, lebendig, rein, in seinem ganzen Wesen sich selbst treu sei, dass all seine Körper- und Seelenkräfte un-
50
S. unten Jüdisches Denken Bd. 4, Zionismus, V, 6.
51
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 146.
52
Siehe die Register in Jüdisches Denken, Bd. 1–4.
Zionismus
233
tereinander wie mit dem umfassenden Geist des Lebens, der alles umfasst, in vollkommener Harmonie leben und wirken. Kurz, dass der Mensch als Ebenbild Gottes, im Ebenbild des Lebens der Natur in seiner höchsten Gestalt lebt.«53 Ganz im Sinne der zentralen Rolle der Lehre vom menschlichen Gottesebenbild innerhalb der jüdischen Philosophie- und Religionsgeschichte, fügt Gordon in diese ins Moderne übertragene Lehre vom ZelemʼElohim (imago dei) die Grundsäulen seines Denkens ein. Da ist zum ersten die Lehre von der Selbstfindung des Menschen, vom Selbst-Werden des Ich, und zwar in individueller wie in kollektiv nationaler Hinsicht. Beide, der Einzelne, wie die gesamte Nation sollen im Ebenbild sein, oder zum Ebenbild werden. Neben diesen beiden Neuerungen in der Deutung der altbiblischen Formel ist es die, die im weitesten Maße mit der bisherigen jüdischen Tradition bricht. Das Pendant des Menschen, dessen Abbild er werden soll, ist nicht ein transzendenter Gott, sondern das Leben der Welt-Natur. In der Natur lebend, mit ihr und sie bearbeitend wird der Mensch zum »Ebenbild«. In seinem Aufsatz zur Differenz zwischen dem christlichen und jüdischen Denken gibt Gordon in einer analogen Erörterung des Themas folgende Begriffe zur Benennung des göttlichen Ur- und des menschlichen Abbildes. Er spricht da von einer Beziehung von: »Tropfen Leben zum Quell des Lebens«, vom »Funken des Seins zum verborgenen Licht des Seins, zum Fundament des Seins.«54 Diesem »göttlichen« Urbild soll der Mensch in seinem eigenen Tun entgegensteigen denn, »in dem Maße, in welchem er seine eigene Welt erschafft und sein Wesen/Selbst emporhebt, ist er selbst der oberste Wille (wie die jüdische Tradition sagt: ›Der Heilige, Er sei gesegnet verordnet und der Zaddik hebt die Verordnung auf!‹«55 Gordon nimmt hier tatsächlich ein rabbinisches wie kabbalistisches Motiv auf, das von der Wirk-Vollmacht des Menschen spricht, allerdings verzichtet er auf die Metaphysik und das überweltliche Pendant, wodurch der Mensch gleichsam nicht nur Abbild, sondern der oberste Wille selbst wird. Über das Postulat eines transzendenten Verborgenen Willes wird weiter unten noch zu handeln sein.
53
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 273.
54
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 293.
55
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 293.
234
Aharon David Gordon
5.
Das Individuum und seine Weltwahrnehmung
5.1
Arthur Schopenhauer und Henri Bergson
Ein weiteres Element das bei wenigstens zwei »Lebensphilosophen« eine zentrale Rolle spielte, prägt auch das Denken von A.D. Gordon, ohne dass hier eine direkte Filiation behauptet werden soll. Dieses ist die Lehre von der menschlichen Erkenntnis, die bei Gordon überaus präsent ist, so dass von ihr aus die anderen Topoi erst ihre richtige Beleuchtung erfahren. Im Zentrum dieser Erkenntnislehre steht die Unterscheidung von zweierlei menschlichen Weisen die Welt wahrzunehmen, die eine Weise ist die wissenschaftlich-intellektuelle, welche die Phänomene wahrnimmt, sortiert und zählt und sie der menschlichen Verfügung unterwirft, das andere ist die intuitive gelebte Weise die eigentliche Triebkraft die Welt zu »er-leben« – ein Terminus, der später noch erörtert werden wird. Bei Schopenhauer wird diese Unterscheidung plakativ im Titel seines philosophischen Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung angezeigt. Mit Wolfgang Röd: »Die Wirklichkeit läßt sich somit von zwei Seiten aus betrachten, auf die mit den Ausdrücken ›Vorstellung‹ und ›Wille‹ hingewiesen wird; die Welt als Vorstellung ist erkennbar, die Welt als Wille nicht.«56 Die allen weltlichen Erscheinungen zugrundeliegende Kraft ist nach Schopenhauer der »Wille«, der als solcher grundlos ist und nicht den Naturgesetzen unterworfen. Die Äußerungen dieses ziellosen Wollens, des Willens, sind die Willensäußerungen, die Erscheinungen, und sie können in der »Vorstellung« des Menschen in einem Zusammenhang gesehen werden, in dem Naturgesetze formuliert werden. »Nach Schopenhauer wird das Verhältnis zwischen dem Ansich (dem Willen) und den Erscheinungen, in denen sich das Ansich äußert, nicht erkannt, sondern nur deutend ›verstanden‹.«57 Noch näher an der unten noch darzustellenden Gordonʼschen Konzeption sind die Auffassungen des französischen Philosophen Henri Bergson. Seine diesbezüglichen Auffassungen resümiert J. E. Erdmann wie folgt: »Ganz ähnlich wie Schopenhauer trennt Bergson an der Wurzel Verstand und Instinkt oder Intuition und läßt durch ersteren die Welt der Erscheinung (die Welt als ›Vorstellung‹), durch die letzteren die Welt des Absoluten (die Welt als ›Wille‹) entstehen. Der Verstand erkennt nur mittelbar vermöge symbolischer Schemata, die irrationelle Intuition aber ergreift das Sein unmittelbar in seinem innersten Kern und Wesen (als ›Ding an sich‹) –, so heißt es auch hier. Der Intellekt nun ist nach Bergson ein wesentlich praktisches Vermögen, er setzt den Menschen instand, sich der Materie zu bemächtigen und 56
Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 280.
57
Röd, der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 282.
Zionismus
235
über sie zu herrschen. An sich aber fälschen die allgemeinen Begriffe und Gesetze des Verstandes die wahre Wirklichkeit um: sie verwandeln Lebendiges in Totes, Bewegliches in Starres, sich unausgesetzt Veränderndes und Entwickelndes in Unveränderliches und stets Gleichbleibendes. Im Gegensatz zur exakten Wissenschaft aber ergreift die philosophische Intuition die wahre Wirklichkeit als ›reine Dauer‹ (durée pure) und sieht im ganzen Weltall nur die unendliche Entfaltung eines ungeheuren ›Lebensschwunges‹ (élan vital) – so wie Schopenhauer seinen vitalen Willen auf den verschiedensten Seinsstufen sich allgegenwärtig manifestieren sah. Insofern die Materie gleichsam nur ein erstarrter Abfall des unendlichen schöpferischen Lebens ist, ist Bergsons Lehre psychischer Monismus: zeigt der Verstand von außen alle Dinge und Vorgänge streng determiniert, so sind sie für die Innenschau der Intuition absolut frei.«58 Aufgabe der Darstellung der Position Gordons wird es sein, die Äquivalente zu den hier skizzierten Philosophemen sichtbar zu machen, wie dies Erdmann zwischen Schopenhauer und Bergson tat, und zugleich auf die Gordon eigentümliche Abwandlung dieser Vorstellungen hinzuweisen, die weitgehend aus der jüdischen Philosophie und der Kabbala schöpften.
5.2
A. D. Gordon – zwei Weisen, die Welt wahrzunehmen
Die Erkenntnislehre A. D. Gordons unterscheidet sich von den geläufigen philosophischen Epistemologien dadurch, dass sie sich nicht nur auf die Logik des Denkens oder die Probleme der empirischen Weltwahrnehmung, deren Möglichkeiten und Grenzen bezieht, sondern dass sie erheblich weiter gefasst ist. In gewisser Weise setzt Gordon, ohne sie offenbar zu kennen, die jüdisch-neuzeitliche Debatte um die verschiedenen Wahrheiten59 fort, nach welcher es eben nicht nur die Wahrheit der Logik und der Empirie oder Tradition gibt. Gordon fragt sehr viel umfassender danach, wie, auf welche Weise und durch welche Medien der Mensch die Welt wahrnimmt. Man sollte bei ihm daher besser von einer Weltwahrnehmungs-Lehre sprechen als von dem enger gefassten Begriff der Epistemologie, mit dem die Beschreibung gemeint ist, wie menschliches Wissen zustande kommt. Und gerade hier ist gleichsam die Scheidelinie zu Gordons Ansatz. Denn in seiner Wahrnehmungslehre wird nicht nur nach dem menschlichen »Wissen« als begrifflich differenziertem und wiedergebbarem Wissen gefragt, 58
J. E. Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie (neu bearbeitet von F. Clemens), Ber-
59
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 68–75. 162–164. 243–251. 353–356. 404–411. 427–429.
lin-Zürich 1930, S. 686. 450–458. 544–554. 591–592.
Aharon David Gordon
236
sondern auch nach anderen nicht diskursfähigen Wahrnehmungsweisen. Das rationale und empirische Wissen ist hier nur eine Seite des vom Menschen Wahrzunehmenden und Wahrgenommenen. Zweifellos besteht in vielen Gelegenheitstexten Gordons noch nicht die strenge Klarheit wie in der teilweise späteren Schrift Der Mensch und die Natur (Ha-ʼAdam we-ha-Tevaʽ),60 dennoch ist auch deren Aufteilung in drei Wahrnehmungsweisen des Menschen schon in den früheren Texten angelegt. In dieser seiner wirklich philosophischen Schrift spricht Gordon durchgehend von drei beziehungsweise zwei Wahrnehmungsweisen des Menschen, nämlich: Auf der einen Seite die Erkenntnis (Hakkara) und das Gefühl (Hargascha) und auf der anderen Seite das Leben (Ḥajjim). Für die Letztere Weise der Wahrnehmung prägte Gordon eigens das neue hebräische Wort der Ḥawajja von der Verbalwurzel »leben«, weshalb das zugehörige Verbum und Nomen hier als »Er-Leben« und »er-leben« wiedergegeben wird.61 Damit soll gesagt werden, dass der Lebensvollzug dem Menschen einen Wahrnehmungsinhalt vermittelt, der analog zum Wissen und Gefühl, aber nicht identisch mit ihnen ist. Das »Er-leben« ist eine nicht wissbare und nicht als Gefühl beschreibbare Wahrnehmung der Welt. Aber alle drei Wahrnehmungsweisen prägen das Ich des Menschen: »Du fragst: Erkennt und erfühlt denn der Mensch die Natur (Welt) ausschließlich? Muss er sie denn nur erkennen und erfühlen, oder lebt er die Natur auch, so dass er sie auch er-leben muss? Er-lebt denn der Mensch die Welt nicht viel mehr, als dass er sie erkennt und erfühlt, wenn er sie in ihrer ganzen Fülle lebt?«62 Gordon geht indessen noch einen Schritt weiter und besteht darauf, dass alle diese zwei (drei) menschlichen Wahrnehmungsweisen unauflöslich mit dem menschlichen Dasein verbunden sind, sie unentrinnbare Faktoren des menschlichen Daseins bilden, wie zum Beispiel die Bewegung der Erde im Raum, welcher der Mensch ohne Entkommen ausgeliefert oder verbunden ist. Die drei Weltwahrnehmungs-Kräfte wirken nach Gordons Auffassung ohne Unterlass im menschlichen Dasein. Darüber hinaus, so glaubt er, besteht unter ihnen zugleich ein hierarchisches oder mehr noch essentielles Verhältnis:
60
Das gesamte Werk dieses Titels besteht aus drei Teilen. Der erste Teil wurde schon 1910 publiziert, 1913 der zweite Teil als Ha-Nezaḥ we-ha-Regaʽ (Die Ewigkeit und der Augenblick), während der Rest dieser Schrift erst posthum veröffentlicht wurde. S. H. Bergmann u. El. Schochat verbanden die drei Teile zu einer gesamten Schrift, ohne auf deren stufenweise Entstehung hinzuweisen; vgl. E. Ramon, Ḥajjim ḥadaschim, S. 21. 25.
61
Dazu im folgenden Kapitel.
62
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 42.
Zionismus
237
»Jedermann gibt heute zu, ›dass es in der menschlichen Erkenntnis nichts gibt, das zuvor nicht im Gefühl vorhanden war‹. Und hat man angesichts dessen nicht Grund zu sagen, dass es in der Erkenntnis und im Gefühl des Menschen nichts gibt, das nicht zuvor im nicht erkannten und nicht gefühlten Leben vorhanden war. Daraus erhellt, dass das ewige Sein (das weltweite-Sein),63 die unendliche Natur, sich in die Seele des Menschen, in sein Gefühl und in seine Erkenntnis ergießt, und zwar in doppelter Hinsicht: Von Seiten dessen, was er fühlt und erkennt, und von der Seite, die von ihm unerkannt und nicht erfühlt ist, die er aber er-lebt.«64 Was Gordon mit dieser Abhängigkeit des Gefühls und des Wissens vom »Erlebten« meint, verdeutlicht er mehrfach am Beispiel so unterschiedlicher Denker wie Friedrich Nietzsche und Karl Marx. Beide, so meint er, haben einen hohen Bildungs- und Intelligenzgrad, und beide blicken auf dieselbe Welt und dennoch kommen sie zu ganz unterschiedlichen Weisen, die Welt zu sehen, weil nämlich das von ihnen »er-lebte« gänzlich verschieden war, und dieses unterschiedliche »Er-lebnis« prägte entsprechend ihr Gefühl und ihr Denken. Gordon kann dieses unerkennbare Erlebte auch mit den Begriffen »Charakter« (ʼOfi) oder »Wurzel der Seele« benennen, das an der »Grenze der Gefühle«, oder im Bereich des Unerkennbaren und Unerfühlbaren liegt.65
5.3
Das »Er-leben« – die Ḥawaja
Der eben zuvor schon eingeführte Begriff des »Er-lebens« ist so zentral für Gordon, dass er hier noch ein wenig vertieft werden muss. Dieses »Er-leben«, Ḥawaja, ist, so führt Gordon in einem eigens dafür eingerichteten Kapitel aus,66 ein Mittelbegriff, was Gordon schon mit der hierfür gewählten Nominalbildungsform zum Ausdruck bringen wollte. Ḥawaja ist zum einen dem Wort Hawaja, dem »Sein«, nachgebildet und entspricht zum andern dem Wort Hakkara »Erkenntnis«. Das will laut Gordon sagen:
63
Das hier verwendete Attribut ʽolami, kann beides bedeuten, »weltweit« und »ewig«, worauf schon Martin Buber in seinen Bibelübersetzungen hingedeutet hatte. Er übersetzt das Wort ʽOlam, das die Bedeutung »Welt« und »ewig« haben kann, stets mit »Weltzeit«, vgl. Die Fünf Bücher der Weisung, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Heidelberg 1981 (Darmstadt 1984), z.B. Gen 9, 12. 16.
64
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 43.
65
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 43f.
66
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 85–96.
Aharon David Gordon
238
»Der Begriff Ḥawaja ist, im Sinne von ›Leben‹, zum einen parallel zu Hawaja, ›Sein‹, unter dem wir die gesamte Wirklichkeit verstehen, und zum anderen, im Sinne von ›Wahrnehmungskraft‹, parallel zu Hakkara, ›Erkennen‹. Der Begriff Ḥawaja steht gleichsam in der Mitte zwischen dem Begriff ›Sein‹ (Hawaja) und dem Begriff ›Erkennen‹ (Hakkara), sei es wegen seines kosmischen ausgebreiteten (wie logischen) Umfanges oder sei es weil die Ḥawwaja die Kraft ist, welche zwischen dem Sein und der Erkenntnis vermittelt.«67 Mit anderen Worten: Die Ḥawaja, das »Er-leben«, ist zum einen der unreflektierte in das Weltleben eingebettete Lebensvollzug und zum anderen eine Form der Wahrnehmung der Welt, die vom Erkennen und Erfühlen unterschieden ist. Es ist die Wahrnehmung der Welt im spontanen Lebensvollzug, die jedem Menschen in ganz persönlicher Weise eigen ist, die aber alle Individuen in das Gesamtleben der Welt eingebettet sein lässt. Die Wahrnehmungsweise der Ḥawaja, des Er-lebens, unterscheidet sich diametral von der Wahrnehmungsweise der Erkenntnis, der Hakkara. Die Erkenntnis-Wahrnehmung unterscheidet die aus dem gesamten Sein wahrgenommenen Dinge voneinander, sie differenziert und konzentriert sie auf einen Punkt (Zimzum), wodurch das wahrgenommene Ding klar und verstehbar wird.68 Demgegenüber ist die Wahrnehmung des Er-lebens eine Wahrnehmung der Ausweitung (Hitpaschtut) von dem je Wahrgenommenen aus bis hin ins Unendliche. Deshalb wird das in der Ḥawaja Wahrgenommene nicht erkannt und nicht gefühlt, sondern es hält die absolute Einheit zwischen dem von der Erkenntnis auf einen Punkt konzentrierten und zwischen dem ewigen/weltweiten Sein, das sich ins Unendliche ausbreitet. Dadurch wird das von der Erkenntnis Ausgesonderte wieder mit seinem unendlichen Kontext vereint:69 »Das ist die Wahrnehmung des absoluten Alls, der absoluten Einheit all dessen, was die Erkenntnis nur als einzelne Dinge wahrnimmt, sortiert, rubriziert und ihnen eine erkennbare Form verleiht. Diese Wahrnehmung des Er-lebens fasst nicht nur all das zusammen, was man als unterhalb der Schwelle des Bewusstseins bezeichnet, sondern auch alles was dem vorausgeht: Bei dieser Wahrnehmung sind nicht nur alle seelischen Kräfte und Lebenskräfte des menschlichen Körpers vereint, sondern auch alle physischen und chemischen Kräfte der Atome des Körpers […] Hier ist in der Wahrnehmung zusammen-
67
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 87.
68
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 180–181.
69
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 87.
Zionismus
239
gefasst […] nicht nur, was der Mensch an der Natur erkennt, sondern auch was der Mensch an Natur lebt. […] Die ewige / weltweite Natur, das unendliche Sein, ergießt sich in die Seele des Menschen, in sein Fühlen und in sein Erkennen in zweierlei Weise: In der Weise, in welcher er sie fühlt und erkennt, und in der Weise die er nicht erkennt und auch nicht fühlt, sondern die er lebt.«70 Leben, Fühlen und Erkennen kommen allesamt aus derselben Ursache, nämlich dem ewigen Sein, nur sind sie unterschiedliche Weisen, das ewige Sein wahrzunehmen. Das Erkennen und Fühlen greift immer nur begrenzte Phänomene heraus, um sie den Kategorien des Erkennens anzupassen (dies ist Wahrnehmen und Leben be-Zimzum, in der Einschränkung/Beschränkung),71 während das Leben, das Er-leben die Dinge im ganzen Natur-Lebenskontext, ausgeweitet bis ins Unendliche (be-Hitpaschtut, in der Ausweitung) lebt und so wahrnimmt. Das Erleben ist nicht differenzierende Reflexion sondern unreflektiertes Leben, in dem sich der Einzelne nicht als Gegenüber von Natur und Gesellschaft sieht, sondern mit ihnen spontan, ja instinktiv, lebt. Und es ist die dezidierte Auffassung Gordons, dass der Mensch ohne dieses Er-leben nicht vollkommen leben kann, er kann es verdrängen und Substitute an seine Stelle setzen, dann aber wird sein Leben ein krankes unheilvolles Leben sein.72 Bevor der religionsgeschichtliche Hintergrund der beiden Begriffe Zimzum und Hitpaschtut und ihr Verhältnis zum gordonischen Denken erörtert wird, muss im Zusammenhang mit der Ḥawaja noch auf ein letztes hingewiesen werden, das wiederum an die Auffassungen von Henri Bergson von der Intuition erinnert. Auch A.D. Gordon spricht einmal über die intuitive spontane Erkenntnis, den »Einfall«, der nach seiner Auffassung nichts als eine besonders intensive Konzentration der Ḥawaja darstellt. Er erläutert dies an der alten Anekdote von Archimedes, der im Bad sitzend das Gesetz von der Auftriebskraft entdeckt habe. Es war der plötzliche Einfall, der ihn aufspringen und rufen ließ »Ich habʼs gefunden, ich habʼs gefunden!« Diese »urplötzliche seelische Erleuchtung«, die man auch »eine Art Influx von oben« bezeichnen könne ist, so Gordon »beeinflusst durch eine besondere Konzentration des Er-lebens, durch jene Kraft, die man früher den Heiligen Geist nannte, Erleuchtung und dergleichen, und die man heutzutage Intuition nennt.«73 Die distanzierenden Bemerkungen zeigen klar an, dass die alten religiösen Termini nur als vertraute Metapher für einen Vorgang dienen, den man heutzutage psychologisch oder er-lebensphilosophisch erklären 70
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 87–88.
71
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 54. 61–62. 148.
72
Ich stimme hierin im Wesentlichen E. Schweid, Ha-Jachid, S. 126–128, zu.
73
Kitve Gordon, Bd. 2, 151.
240
Aharon David Gordon
muss – die traditionelle Religion bietet hier nur zeitbedingte, vergangene Erklärungsweisen.
5.4
Zimzum und Hitpaschtut – beschränkte und ausweitende Wahrnehmung
Bei der Verwendung der beiden Termini Zimzum und Hitpaschtut stellt sich, wie etwa bei dem unten noch zu besprechenden »Verborgenen« Intellekt, die naheliegende Frage nach dem Einfluss der Kabbala auf Gordon. Beide Begriffe sind spezifisch kabbalistisch und sind insbesondere in der lurianischen Kabbala außerordentlich präsent. Aber gerade an der Verwendung dieser beiden Termini wird die Differenz zur Kabbala überaus augenfällig. Beide sind in der Kabbala Gottesprädikate. Zimzum in seiner älteren neoplatonischen Bedeutung bezeichnet die Einschränkung der göttlichen Lichtemanation bei voranschreitender Entfernung von der Lichtquelle. Diese voranschreitende Abschwächung der Gottesemanation schafft die Differenzierungen und die Vielheit in der Welt und ermöglicht der niederen Welt das göttliche Licht überhaupt erst zu ertragen.74 In seiner zweiten, lurianischen Bedeutung ist der Zimzum ein Selbstrückzug der Gottheit aus seiner alles erfüllenden Präsenz, um in dem dadurch entstehende gottfreien Raum erst Platz für eine Schöpfung zu schaffen.75 Demgegenüber bezeichnet die Hitpaschtut, die zunächst ungebremste Ergießung der göttlichen Emanation hinaus in die Welt. Bei Gordon sind diese Gottesprädikate zu anthropologischen Kategorien geworden, zu epistemischen und vitalen Kategorien. Beide Begriffe prädizieren nun den Menschen, der im Zimzum die Welt in ihrer Differenzierung erkennt und in ihrer Vereinzelung lebt. Hingegen bezeichnet nun die Hitpaschtut, die Wahrnehmung der Welt im spontanen Lebensvollzug. Besteht hier also eine semantische Differenz zwischen Lurja und Gordon, ist die Nähe Gordons zur ḥasidischen Literatur sehr viel größer. Es wurde schon von verschiedenen Autoren und auch hier im Jüdischen Denken76 mehrfach festgestellt, dass es eine Eigenart der ḥasidischen Literatur ist, die theosophischen Termini der Kabbala in anthropologische zu übertragen. So spricht zum Beispiel der Enkel des Bescht, Efrajim aus Siedilkov in seinem Sefer Degel Maḥane Efrajim von einer Weise oder Tugend des Abraham, welche die Weise der Hitpaschtut mi-ʽEla (Ergießung von oben) gegenüber der Weise des Isaak, die der Zimzum sei. Hitpaschtut und Zimzum sind hier, wie bei Gordon, anthropologi-
74
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 496. 506; Bd. 2, S. 824–826. 768.
75
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 626–633. Zum Zimzum in der nachlurianischen jüdischen wie in
76
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 765–766.
der deutschen Philosophie siehe Ch. Schulte, Zimzum. Gott und Weltursprung, Berlin 2014.
Zionismus
241
sche Kategorien, bezeichnen menschliche Verhaltensweisen und zwar, wie sogleich zu erklären sein wird, Verhaltensweisen hinsichtlich der Erkenntnis Gottes, der Erkenntnis des ʼEn Sof (des Unendlichen). Die Verfahrensweise der beiden Menschentypen sind laut Efrajim aus Siedilkov: »Es gibt zweierlei Arten von Menschen: Der eine denkt sich, ›Da ich doch gehört habe, dass der Heilige, Er sei gesegnet, unendlich (ʼEn Sof) ist, warum sollte ich da erst nach ihm forschen‹. Und dieser glaubt daran ohne Forschung und ohne Untersuchen […]. Demgegenüber gibt es eine zweite Sorte Mensch. Ein solcher glaubt nicht, es sei denn durch Forschung und Nachprüfen, das heißt durch das Studium der Tora […] so dass er dadurch zu der Erkenntnis (makkir) gelangt […], dass Er [Gott] unendlich ist. Diese Sorte Mensch verlässt erst hinterher die Forschung […] aus Ehrfurcht vor dem ʼEn Sof […]«.77 Es ist offensichtlich, dass auch hier die beiden kabbalistischen Termini anthropologische Kategorien sind, die auch in ihrer inhaltlichen Deutung der Auffassung Gordons denkbar nahekommen. Die Weise der Hitpaschtut ist der spontane Glaube an die Unendlichkeit Gottes, während die Weise des Zimzum den Weg der Forschung beschreitet – der Erforschung der Tora –, um von daher zum Glauben an die Unendlichkeit Gottes zu gelangen. Aber mit diesen Aussagen ist die Gemeinsamkeit auch schon am Ende. Wiewohl bei Gordon die Forschung und das »wissenschaftliche« Erkennen ebenfalls den Zimzum vertritt und der fraglose Glaube an Gottes unendliche Allpräsenz die menschliche Hitpaschtut, so sind dies für den ḥasidischen Autor letztlich nur zwei unterschiedliche Wege, die schließlich zum selben Ziel des Glaubens führen, während für Gordon hier zwei kategorial verschiedene Wahrnehmungs- und Lebensweisen der Menschen gemeint sind, wie oben deutlich wurde. Für den ḥasidischen Autor handelt es sich hier um einen »quantitativen« Unterschied, für Gordon um einen qualitativen. Für Gordon sind Hitpaschtut und Zimzum zwei gegensätzliche aber komplementäre menschliche Verhaltensweisen, die einander nicht ablösen sollen und können, sondern die in einem ausgeglichenen Verhältnis den Menschen stets begleiten sollen.78 Demgegenüber soll nach dem ḥasidischen Verständnis eigentlich nur die Hitpaschtut, das fraglose Glauben gelten, der Weg des Zimzum ist eine zu überwindende Zwischenstufe für die Glaubensschwachen. Außerdem hält das hasidische Denken noch unverbrüchlich an einem – wiewohl auch immanenten –, aber letztlich transzendenten Gott im Sinne des 77
Efrajim aus Siedilkov, Sefer Degel Maḥane Efrajim, o. O. o. D., Par Lekh lekha ad voc.we-loʼ,
78
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 94–95.
S. 15a-c.
Aharon David Gordon
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Idealismus fest, im Sinne einer letztlichen Differenz zwischen göttlichem Geist und weltlicher Materie. Doch immerhin, soviel muss anerkannt werden, das ḥasidische Denken ist hier nicht nur terminologischer Ausgangspunkt für die nichtidealistische Religion Gordons, sondern ein sehr geeignetes Sprungbrett für sein eigenes nichtidealistisches Denken.
5.5
Das wegen falscher Wahrnehmungsprioritäten entfremdete Individuum
Das philosophische Thema, welches Ahron David Gordon an Max Stirner und Friedrich Nietzsche mehrfach lobend erwähnte, war auch für ihn die wesentliche Grundlage seines eigenen Denkens, nämlich die Konzentration auf das menschliche Individuum, wie schon oben deutlich wurde. Der Mensch als Einzelner, oder als Jachid, nach Stirner als »Einziger« zu übersetzen, ist der Dreh- und Angelpunkt, von dem aus Gordon sein Welt- und Menschenbild entwickelt, zu dem als wesentlicher Faktor auch die Nation gehört, dahingehend, dass man sagen darf: Das nationale Denken Gordons ist nur eine Funktion des Nachdenkens über das Individuum und hat nicht die primäre Stellung in seinem philosophischen Kosmos. Bevor man über Gordons nationales Denken spricht, ist es daher angezeigt, zunächst noch weiter zu klären, worin für Gordon das Wesen des Menschen als Individuum besteht, worin sich dieser Mensch vom Tier unterscheidet – Letzteres ist ja gewöhnlich die Frage, welche für Philosophen, Theologen wie auch die modernen Anthropologen das Schibbolet der Definition des menschlichen Wesens war und ist.79 Wenigstens seit Moses Maimonides galt auch den jüdischen Philosophen und philosophischen Theologen das menschliche »Denken«, und insbesondere die ratio, als das Hauptkriterium für das Menschsein.80 Auch für Gordon ist die menschliche Fähigkeit zu rationaler und empirischer Erkenntnis ein grundlegendes Element des Menschseins. Diese Auszeichnung des Menschen, so rühmt Gordon einmal fast schwärmerisch, hat gerade in den letzten Jahrhunderten bis auf seine eigene Tage in der Technik und Wissenschaft Erfolge errungen, von denen man zuvor kaum zu träumen wagte.81 Allerdings, und damit schränkt er seine Bewunderung für das menschliche Denken sogleich wieder ein, haben die schrecklichen Ereignisse des Ersten Weltkrieges, wie auch der nachfolgenden Friedensbemühungen gezeigt, dass dieser »denkende Mensch«, die denkende Menschheit zu einem Punkt gelangt ist, der eine grundstürzende Wende erforder-
79
Für das jüdische Denken vgl. z. B. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 453. 531. 586.
80
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 462–468.
81
Kitve Gordon, Bd. 2., S. 190.
Zionismus
243
lich macht. In seiner Analyse dieser desaströsen Situation der Menschheit kommt Gordon zu dem Schluss, dass die Auffassung, das Denken mache das menschliche Wesen schlechthin aus, ein Trugschluss sei. Das bedeutet, mit Lösungen, die sich alleine auf das Denken als menschlicher Eigenart stützten, wird man niemals einen Weg aus der Menschheitskatastrophe finden. Deswegen lehnt Gordon auch solche Lösungsvorschläge wie den Sozialismus samt seinen erstrebten neuen Gesellschaftsordnungen oder seiner neuen sozialistischen Erziehung als reine Palliative ab, welche nicht an die Wurzel des Übels greifen. Aber gerade hier, an der Wurzel des menschlichen Übels, müssten alle Verbesserungsvorschläge ansetzen. Die Wurzel des unheilvollen menschlichen Zustandes liege in einer falschen Anthropologie, die glaubt das Wesen des Menschen alleine über das Denken definieren zu können. Denn nicht der Intellekt allein macht, nach Gordons Auffassung, das Wesen des Menschen aus. Vielmehr sei der Mensch durch eine grundsätzliche Dualität bestimmt und zwar durch die oben schon beschriebene Dualität der Wahrnehmung der Welt und des eigenen Ich: Die eine Weise der menschlichen Weltwahrnehmung ist die rationale und empirische Erkenntnis – Gordon verwendet für diese Art der Erkenntnis die hebräische Wurzel nakar mit dem Verbum le-hakkir (erkennen) und dem Nomen Hakkara (Erkenntnis) – zuweilen steht neben der »Erkenntnis« auch das begrenzte alltägliche »Gefühl«.82 Die zweite Weise der Weltwahrnehmung des Menschen ist das Leben, das heißt der spontane vitale Lebensvollzug, in dem der Mensch nicht nur unreflektiert lebt, sondern zugleich lebend die Welt wahrnimmt, sie er-lebt. Dies ist die zuvor schon erörterte Ḥawaja, das »Er-leben«. Der Sinn von »er-leben« ist dann als Analogie zum »er-kennen« zu verstehen. So wie der Mensch die Welt im »erkennen« wahrnimmt, so kann er sie auch im »er-leben« wahrnehmen. Für Gordon bedeutet diese anthropologische Grunddualität des menschlichen Wesens, dass er für ein erfülltes oder ganzheitliches Leben beide Pole dieser Dualität in seinem Leben realisieren muss, er soll die Welt zugleich »er-kennen« und »erleben«. Allerdings liegen diese beiden grundverschiedenen Wahrnehmungsweisen des Menschen in einem geradezu tödlichen Ringen miteinander: »Der Vorzug des Menschen vor dem Tier ist ja seine umfassendere Erkenntnis (Hakkara) und sein umfassenderer Lebensvollzug (Ḥijjut),83 und diese beiden, die Erkenntnis und der Lebensvollzug widersprechen einander – sie würgen sich gegenseitig in einem Maße, das weder zum Tod noch zum Leben reicht.«84 Es ist vor allem
82
Gordon unterscheidet zuweilen das Einheitsgefühl des Er-lebens von einem mehr begrenzten alltäglichen und bewussten Gefühl, das kategorial neben dem Erkennen steht, und eine niedrige Form des Erkennens ist.
83
Dieser Begriff ist hier Synonym zur Ḥawaja, dem erkennenden Lebensvollzug.
84
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 161. 108–109. 110–111.
Aharon David Gordon
244
die rationale empirische Erkenntnis, die das Er-leben zu unterdrücken sucht, was bei den meisten Menschen fast vollständig gelingt. Und es ist, meint Gordon, gerade die Missachtung der lebensbegründeten Wahrnehmungsweise der Welt, des »Er-lebens«, und die Überschätzung der rationalen Erkenntnis, welche zu den oben schon angesprochenen Missständen in der Menschenwelt führt. Erst da, wo diese beiden Wahrnehmungsweisen in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen, kann ein Leben gelingen, erst dann werden die Hauptübel des menschlichen Zusammenlebens vermieden, nämlich die Verknechtung, die Bedrückung, die Lüge, Abscheulichkeit, Not und Schmach: »Die Grundursache der Verderbnisse im menschlichen Leben ist die einseitige Entwicklung der Natur des Menschen, der nach seiner Vervollkommnung strebt. Der Mensch wurde nicht nur dazu erschaffen, mehr als alle übrigen Lebewesen zu erkennen (le-hakkir), sondern vor allem, um mehr zu leben (in Wahrheit ist die erweiterte Erkenntnis (Hakkara) nichts weiter als die Vorbereitung für ein erweitertes Leben, nämlich all das zu leben, was man erkennt, dies ist noch wichtiger als dass man erkennt). Das Leben ist viel weiter / umfassender als die Erkenntnis – alle übrigen Lebewesen haben ein unmittelbares Erkennen nur ihrer selbst und ihrer eigenen Gattung, aber dies leben sie vollkommen aus. Darum ist deren Leben vollkommen, oder doch wenigstens natürlich und ist in dieser Weise gleichfalls vollkommen und natürlich. Der Mensch hingegen erkannte die Welt und ihre Fülle und er schreitet in seiner Erkenntnis fort, aber es fehlt ihm die Kraft, all dies zu [er-]leben und sie fehlt ihm immer mehr, je mehr er in seiner Erkenntnis voranschreitet. Das Problem ist also nicht die Not des zusätzlichen Wissens, sondern die Not des mangelnden Lebens.«85 Die besondere Auszeichnung des Menschen vor den übrigen Lebewesen liegt demnach nicht in seiner Fähigkeit zu erkennen. Auch jene besitzen eine solche Erkenntnisfähigkeit, wenn diese auch nur auf sich selbst und ihre Artgenossen begrenzt ist. Was den Menschen von diesen anderen Lebewesen zunächst unterscheidet, ist nach der positiven Seite eine nur quantitative Erweiterung seines Erkenntnisradius über sich selbst und seine Gattung hinaus. Nach der negativen Seite aber besteht der Unterschied darin, dass der Mensch das durch seine erweiterte Erkenntnisfähigkeit Erkannte nicht voll zu leben im Stande ist. Die Tiere erkennen weniger, aber leben dies weniger Erkannte voll aus, weshalb ihr Leben ein natürliches ist.86 Dem Menschen fehlt hingegen eine Lebensfähigkeit, die 85
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 190.
86
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 108–109.
Zionismus
245
seiner erweiterten Erkenntnisfähigkeit entspricht. Und darin besteht sein grundsätzlicher Mangel. Dieser Mangel des Menschen ist nach der Auffassung Gordons allerdings nicht das unausweichliche Schicksal des Menschen, sondern nur eine bedauerliche Fehlentwicklung. Angesichts dieser zunächst nur quantitativen Unterscheidung von Mensch und Tier bietet Gordon an anderer Stelle eine neuerliche Beschreibung der Differenz zwischen den beiden, welche die Definition des menschlichen Wesens in eine soziologisch-relationale Kategorie hinüberführt. Im Rahmen einer Erörterung der Entstehung des Gottesglaubens beim Menschen meint er, dass diese Frage jene andere, nämlich nach dem Entstehen des menschlichen »Ich« berühre. Und er fragt hier nochmals explizit: »Was also ist die Natur des Menschen im Unterschied von der Natur der übrigen Lebewesen?«87 Dieser Unterschied beruht nicht, so glaubt Gordon, in einer Andersartigkeit der Seelenkräfte, die Mensch und Tier tatsächlich gemeinsam haben. Den wesentlichen Unterschied sieht er in einem neuen Verhältnis oder einer neuen Beziehung des Menschen zur Natur: »Das was hier neu eintrat, ist das neue Verhältnis (Jaḥas) zwischen Mensch und Natur, das von der entsprechenden Beziehung der übrigen Lebewesen vollkommen verschieden ist. Diese besondere Beziehung wurde allem Anschein nach mit dem Aufleuchten des menschlichen Denkens (Machschava) geboren. Bis dahin ähnelte das menschliche Leben dem der übrigen Lebewesen, eingebettet im Leben der Natur, strömte es hin, wohin es getrieben wurde, stieg auf und nieder und hinterließ keinerlei erkennbare Spuren als ein besonderes Phänomen, als einer Welt für sich. Erst als der erste Lichtstreif des menschlichen Denkens aufleuchtete, wurde der erste Riss sichtbar, der die Seele des Menschen von der Seele der allgemeinen Schöpfung trennte, als Leben des Menschen, getrennt vom Leben der Welt. Der Lichtstreif dieses Denkens trat zugleich an der Stelle des Risses wie auch durch diesen Riss auf, durch die Trennung der Erkenntnis (Hakkara) von jenem Leben der Seele, das sie vor der Erkenntnis führte. Gleich dem elektrischen Funken, der an der Stelle der Unterbrechung und durch die Unterbrechung des Stromes aufblitzt. Die Erkenntnis ist in erster Linie Unterscheidung, ist ein bestimmter Abstand. Der Mensch begann sich selbst und die Welt zu erkennen (le-hakkir) und das heißt: Er begann gleichsam sein eigenes Bild in der Welt wie in einem Spiegel zu sehen und andrerseits die Welt in seinem Bilde. Das bedeutet des Weiteren: Er begann vor allem, einen Unterschied zwischen sich und der Welt zu erkennen. […] 87
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 68.
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Die Erkenntnis (Hakkara) ist wie ein Spiegel des Menschen, seines ›Ich‹, der all dem, was außerhalb sich befindet, zugewandt ist, um es in sich hinein einzufangen. Und je mehr Punkte von draußen die Erkenntnis einfängt, um so reicher wird sie, weitet sich aus und vertieft sich und umso mehr konzentriert sich das ›Ich‹, scheidet sich und vereinzelt sich, als ob all das, was es draußen erkannt hat, es von der großen Welt trennte, sein ›Ich‹ als ein Selbsteigenes abschiede und beleuchtete.«88 Das menschliche Denken, dessen Grundintention das Trennen und Differenzieren ist, um die Dinge als separate Wesenheiten zu beschreiben und zu benennen, hat auch das eigene menschliche Ich aus seiner Verwobenheit mit dem Lebenskontext der Natur herausgehoben und als eigenes ›Ich‹ gegenüber dem Fluss der Natur erkennen lassen. Nunmehr erkennt der Mensch die Welt mit seinen Augen, mit seinem ›Ich‹, als etwas ihm Gegenüberstehendes. Er nimmt die Welt immer mehr durch seine Erkenntnis wahr, zieht die Welt in seine Erkenntnis hinein, mit der Folge, dass er am Ende nur noch das als real existent erachtet, was er durch sein Erkennen in sich aufgenommen hat, ja er beginnt die Existenz all dessen zu leugnen, was er nicht mit seiner Erkenntnis wahrgenommen hat.89 Zum andern wächst mit seiner zunehmenden Erkenntnis (Hakkara) der Welt sein Distanzgefühl von dieser Welt, oder dieser Natur gegenüber – Natur im spinozanischen Sinne, als dem gesamten Weltleben.90 Des Menschenerscheint ein Diese erkenntnisbedingte Entfremdung vom Naturleben der Welt ist zugleich ein Entfremdungsprozess von sich selbst und von seinen Mitmenschen. Der Mensch hüllt sich – ein von Gordon viel gebrauchtes Bild – wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Der Panzer, mit dem sich der Mensch umgibt, ist, laut Gordon, alles, was die menschliche Kultur, im weitesten Sinne, hervorbringt: Die Kleidung, die Herrschsucht, das sich Verbergen vor dem Geist des Weltenlebens, vor den anderen Menschen und vor allem die voranschreitende Loslösung von der ihn unmittelbar umgebenden Natur. Gordon sieht in all dem Mauern der Kultur, die den Menschen ein mechanisches und nicht länger natürliches Leben führen lassen.91 Der Mensch unterscheidet sich durch den Erkenntnisprozess vom übrigen Leben. Die Pflanze, die mit dem Boden verbunden ist, lebt nichts als ein Naturleben, sie ist eine Art Entfaltung, ein Offenbarungsphänomen der Minerale. Das Tier, das sich von seiner Stelle bewegt, ist in physiologischer Hinsicht zwar vom Natur-Grund getrennt, aber in psychisch-voluntativer Hinsicht noch ganz mit 88
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 68–69.
89
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 69.
90
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 202–218.
91
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 111.
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ihm verschmolzen, insofern es ausschließlich seinen Instinkten folgt, wodurch es letztlich dem Pflanzenleben noch sehr nahe ist. Demgegenüber ist der Mensch auch in psychisch-voluntativer Hinsicht vom allgemeinen Natur-Grund getrennt. Was ihn auszeichnet, ist seine psychisch-voluntative wie erkenntnismäßig freie »Bewegung«. »Es ist, als wäre das gesamte Leben und das ganze Sein seiner Vollmacht anheimgestellt, als wäre das ganze unendliche Sein eingeschränkt, um in seiner lebenden und erkennenden Seele offenbar zu werden.«92 Die Folge ist: »Im Laufe dieses Prozesses […] begann die Seele mit tiefem Gefühl den Riss zu empfinden, der zwischen ihr und der Weltseele eingetreten war, zwischen ihrem eigenen und dem Leben der Welt. Der Mensch begann zu fühlen, dass er von allem übrigen Leben verschieden ist, verschieden in zwei gegensätzlichen Hinsichten: In positiver Hinsicht, wegen seiner Macht (hinsichtlich seiner größeren Erkenntnis, die ihn Verteidigungs- und Kampfmittel erfinden ließ, wie sie kein anderes Lebewesen hat) – und verschieden in negativer Hinsicht, wegen seiner Schwäche (hinsichtlich seines Mangels an Schutzund Kampfmitteln, welchen den übrigen Lebewesen von selbst eignen, wie auch hinsichtlich seines größeren Gefühls und den umfassenderen Bedürfnissen). […] Alle lebenden Geschöpfe außer dem Menschen sind ein Teil der Natur, sie sind gleich den Gliedern eines einzigen und vollkommenen ewigen Lebewesens (vollkommen im Sinne, dass es alles ist und außer ihm nichts existiert). Als Glieder an diesem vollkommenen Wesen, sind die Lebewesen in sich vollkommen, oder wenigstens natürlich, […] sind sie ewig, nicht im zeitlichen Sinne […], sondern ewig in all ihren Teilen und Grundlagen […]. Als Glied dieses einen einzigen Geschöpfes ist jedes einzelne Geschöpf, vollkommen eins mit allen übrigen Einzelnen […]. Nicht so der Mensch, wegen seiner umfassenderen Erkenntnis (Hakkara), welche die gesamte Welt samt ihrer Fülle zu erfassen vermag, ist er gänzlich anders. […] Da jeder einzelne Mensch in sich die Welt und ihre Fülle trägt, ist der Mensch eine Welt für sich […] Darum gibt es im Menschen zwei widersprüchliche Bestrebungen: Auf der einen Seite, das Streben nach Erkenntnis, das sich seiner völligen Einzigartigkeit, seiner totalen Begrenztheit bewusst ist, und deshalb auf die anhaltende Dauer seiner Individualität bedacht ist. Und auf der anderen Seite das verborgene Streben der Seele nach der Einheit mit dem ganzen ewigen Sein insgesamt und allen seinen Facetten.
92
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 69.
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Deshalb ist der Mensch zunächst in sich selbst zerrissen, und zum anderen ist er aus der Vollkommenheit des Welt-Seins, aus der Einheit gerissen.«93 Dem Menschen eignen demnach zwei grundlegende Strebungen. Die natürliche, die er mit der übrigen Natur teilt, ist das meist unbewusste Verlangen, mit der Natur, mit dem All der Welt, eins zu sein, und die andere Strebung, die Welt mit seiner Erkenntnis zu erfassen, sie zu teilen und zu differenzieren. Es sind diese beiden den Menschen konstituierenden Grundtriebe, die seinen inneren Riss verursachen. Der Riss kommt zustande, weil der Mensch seinen verborgenen Einheitstrieb nicht wahrnimmt und ganz dem Erkenntnistrieb nachgeht. Es ist dieser Trieb, der ihn schließlich verknechtet, unter seine Begierden, unter seine eigene Herrschsucht wie auch unter andere Menschen, die Gesellschaft, aber auch unter die Natur, über die er zu herrschen glaubt, insbesondere die eigene kleine menschliche Natur. Ein altes Zeugnis für diese seine Analyse sieht Gordon in der Geschichte von den beiden Paradiesesbäumen: Zunächst ist der Mensch ganz bei Gott, lebt mit ihm. Nachdem er vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, wurde er aus dieser heilen Welt gerissen – dies wird so bleiben, bis er schließlich vom Baum des Lebens gegessen haben wird.94
6.
Die Religion
6.1 Neue Wege des Religionsverständnisses Das Thema Religion spielt im Denken von A.D. Gordon eine große, wenn nicht zentrale Rolle. Die Häufigkeit mit der er auf die Religion zu sprechen kommt, und die Rolle die er ihr im menschlichen und nationalen Leben einräumt berechtigen zu der uneingeschränkten Aussage, Gordon sei ein religiöser Mensch und ein religiöser Denker. Was Gordon allerdings zur Definition der Religion und den daraus zu ziehenden Konsequenzen sagt, entfernt ihn weit von den traditionellen Positionen und Auffassungen des rabbinischen, des philosophischen oder gar der kabbalistischen religiösen Denkens des Judentums, auch von den agnostischen Positionen eines Achad Haam, welcher der jüdischen Religion in ihrer historisch gewordenen Gestalt immerhin eine kultur- und Ich-prägende Rolle zuschreibt.95
93
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 70–71; vgl. noch Bd. 2, S. 191.
94
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 71. 108–109; Bd. 1, S. 353.
95
Zu Achad Haams Religionsauffassung s. oben Jüdisches Denken, Bd. 4, IV, 5.
Zionismus
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Zwar besitzt auch für Gordon die Religion die Aufgabe, und die Macht, das persönliche Ich eines jeden Menschen zu prägen oder gar zu begründen, aber im Gegensatz zu Achad Haam ist dies für Gordon nicht die Religion der Tradition oder die Religion der Gesellschaft. Für Gordon ist die Religion in erster Linie ein individuelles Gefühl des jeweils Einzelnen, das sich tunlichst von den Beeinflussungen anderer frei halten soll. Zwar ist das Wesen der Religion, das Grundelement und der Bezug dieser Religion, nach Gordon für alle Menschen dasselbe, aber nur insofern jeder Einzelne sie in seiner höchst subjektiven Weise er-lebt. Alle diese Aspekte von Religion fasst Gordon einmal in einer sehr präzisen Definition von Religion zusammen, in einer Erörterung, in welcher er sich mit den beiden Extremen Nietzsche und Kant auseinandersetzt. Er schreibt dazu: »Soll die Religion das Fundament des höheren, fließenden und anschwellenden, sich stets erneuernden höheren menschlichen Lebens bilden, kann sie nicht unverändert feststehen, kann sie nicht von Glaubensauffassungen und wissenschaftlichen Meinungen (ʼEmunot we-Deʽot), von Gesetzen, die seit undenklichen Generationen überkommen sind, und ebenso ewig weitergegeben werden sollen, abhängig sein. Nicht die Glaubensauffassungen und die wissenschaftlichen Meinungen, nicht die Gesetze und die Traditionen sind die Religion. – Die Religion ist das religiöse Gefühl, das Gefühl der absoluten Einheit des menschlichen ›Ich‹ mit allem weltweiten Sein (ha-Hawaja ha-ʽolamit), eine er-lebte Wahrnehmung96 (Hassaga ḥawajatit), die der rationalen Wahrnehmung (Hakkara) vorangeht. Das ist der einzige Grundsatz (ʽIkkar) der Religion, der weltweit und ewig besteht. Aus diesem Grund kennt die Religion auch keine weiteren Gesetze außer jenen Verpflichtungen, die geradewegs aus diesem höchsten der Gefühle hervorgehen, Verpflichtungen, die sich auch stets mit diesem Gefühl erneuern.«97 Schon mit dem ersten Satz grenzt sich Gordon grundlegend gegen die gesamte jüdische Religionstradition ab. Unter Aufnahme des Buchtitels Sefer ha-ʼEmunot we-ha-Deʽot, des ersten jüdischen Philosophen und Theologen im dogmatischen Sinne, Saʽadja Gaʼon, der das Judentum auf Meinungen und Glaubenssätze gründete,98 weist Gordon die Auffassung zurück, dass die Religion auf vordefinierten Aussagen beruhe, seien sie philosophischer oder fideistischer Natur. Die nächsten Zurückweisungen betreffen natürlich die jüdischen Gesetze, die Halacha, die ja für viele Juden das einzig wirklich Verbindliche im Judentum darstellen. Schließlich werden noch die »Traditionen« unter Verwendung des dop96
Zum Er-leben s. o. Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, V, 5.3.
97
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 148.
98
Zu ihm und seinem Buch s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 355–400, insbesondere S. 361–363.
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pelsinnigen Begriffes Kabbalot zurückgewiesen, mit denen sowohl die jüdische Tradition im Allgemeinen als auch die Kabbala im Besonderen gemeint sein kann. Mit der schließlichen Definition der Religion als das »das religiöse Gefühl, das Gefühl der absoluten Einheit des menschlichen ›Ich‹ mit allem weltweiten Sein«, scheint Gordon auf eine Linie wie Abraham Geiger einzuschwenken, der von Schleiermacher die Auffassung übernommen hatte, Religion sei das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, angesichts der begrenzten menschlichen Vollmacht.99 Aber der Anschein trügt. Geiger hatte über das Medium des menschlichen Genies immerhin noch die gemeinschaftsprägende Offenbarung als wesentlichen Grundpfeiler der Religion festgehalten und damit in einem gewissen Maße die religiöse Autorität. Durch die Definition des Gefühls als Abhängigkeitsgefühl wird der Mensch einem »Etwas« gegenübergestellt, dem er zu Dank verpflichtet ist und dem er sich zu unterwerfen hat. Demgegenüber ist Gordons religiöses Gefühl das Gefühl der Partizipation, ein Gefühl, das dem Menschen eigene individuelle Vollmacht verleiht, das »Ich« nicht als abhängiges kleines Wesen sieht, sondern als ein Wesen, das als Teil des Ganzen Einen an seiner eigenen Stelle mit Vollmacht ausgestattet ist, die ihm kein anderer begrenzen kann und darf, es sei denn man will aus der Weite des religiösen Einheitsgefühls in die Begrenzung der rationalen Welt zurückfallen – ein deutliches Echo von Stirner und Nietzsche. Es ist dieses Einheitsgefühl, das Gordon die Qualifikation als »Mystiker« bescherte, gegen die sich Gordon allerdings stets wehrte und sein Denken von der Mystik abgegrenzt wissen wollte.100 Diese Abgrenzung gegenüber der Mystik ist insofern berechtigt, als das Gordonʼsche religiöse Einheitsgefühl in der normalen, nüchternen menschlichen Konstitution verankert ist, nämlich in der einen der beiden »normalen« und unabdingbaren Weisen der Wahrnehmung, die dem Menschen eignen, wie sie oben schon beschrieben wurden. »Wie kann man das Mystik nennen, was doch das Wesen des Menschen ausmacht. Denn der Kern des Wesens des Einzelnen, des ›Ich‹ – liegt gerade im Unerkennbaren und nicht Erfühlbaren, und schon gar nicht im Bereich der Erkenntnis (Hakkara).«101 Das heißt, dass das »Gefühl« der Religion nicht das Empfinden auserwählter und besonders begabter Mystiker ist, sondern eine für ein gesundes und reifes menschliches Leben unabdingbare Wahrnehmungsweise der Welt, der kein Mensch entraten kann, wie sehr er ihr auch durch seine ratio, die nichts als »Beschränkung« ist, entfliehen will.
99
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 3, S. 583–591.
100
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 43. 115. 184f.
101
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 43.
Zionismus
6.2
251
Form und Inhalt der Religion
Nach Gordons Auffassung hat die Religion eine innere und eine äußere Seite. Die Innenseite ist der Inhalt der Religion, während die Außenseite deren Form ist. Natürlich gehören beide stets zusammen, aber Wesentlich muss doch der Inhalt der Religion sein, und dieser ist, wie schon oben deutlich wurde, der ganz persönliche Besitz des Individuums. Erst aus diesem inneren, nicht sichtbaren und nicht erkennbaren Inhalt heraus kann sich die sichtbare und wahrnehmbare Außenseite der Religion entwickeln. Wesentlich ist aber nach Gordon stets der Primat der Innenseite. Das heißt, mit dem Leben des Menschen schreitet auch sein Er-leben voran, was den Inhalt des Er-lebten, das religiöse Gefühl, stets in Bewegung hält, beide wandeln sich mit dem Erlebensprozess des Individuums. Diese Innenseite der Religion darf sich keinesfalls von der aus ihr sich entwickelnden Form in die Knechtschaft zwingen lassen. Der persönliche Inhalt der Religion muss immer die Oberhand behalten und soll entsprechend die formale Außenseite gestalten. Die Außenseite der Religion, ihre Form ist eher ein Produkt der Phantasie, auch des Erkenntnisse formulierenden Denkens, muss aber als solches stets aus dem individuellen Erleben fließen und sich entsprechend verändern, wo dies nicht geschieht versteinert sich die Form und die Religion verkommt. Wenn nun aber die Innenseite der Religion, deren Inhalt, das Eigentum des Individuums ist, ist die formale Außenseite der Religion, nach Gordon eher das Werk der Gemeinschaft und vor allem der Nation als der Gemeinschaft der religiösen Individuen: »Die Religion […] entspross nicht der klaren Erkenntnis (Hakkara), sondern aus dem Staunen der Seele. Das Aufdämmern der Erkenntnis hingegen entsprang, wie dies natürlich geschehen musste, aus der offenbaren, konkreten Seite der Religion, von der Seite ihrer Form. Dies führte dazu, dass auch in der Weiterentwicklung der Religion sich die Form auf Kosten des Inhalts entwickelte. Der Inhalt der Religion, der ein dem Menschen vollkommen Inneres ist, dessen Wurzeln in der Tiefe der menschlichen Seele liegen, dessen Stamm und Gezweig hingegen sich in der gesamten Seele und Erkenntnis bis hin zum höchsten Denken ausbreiten und erblühen, er ist im Wesentlichen Teil des Individuums, jedes Einzelnen, jedoch nicht nur als Einzelnem schlechthin, sondern auch als Teil der Gesamtheit. Denn die Religion ist wahrlich der Punkt, der alle Personen der Nation zu einer einzigen kollektiven Persönlichkeit einigt, alle die persönlichen ›Ichs‹ zu einem nationalen ›Ich‹, welches nach seinem wahren Wesen dazu angetan ist, alle Nationen zu einer einzigen Menschheit zu vereinen und so weiter. Weil aber das Voranschreiten des Denkens und die Klärung des menschlichen Geistes vor al-
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lem durch Einzelne geschieht, ist der Inhalt der Religion dazu befähigt, Schritt für Schritt mit dem Denken und dem sich entwickelnden Geist voranzuschreiten und sich mit ihnen im selben Maße nach oben zu bewegen. Jedoch die offenbare und konkrete Form der Religion, die im Wesentlich eine Frucht der Phantasie ist, ist im Wesentlichen der Teil des Kollektivs, der Gesellschaft, der Nation.«102 Zur Rolle der Nation als Bildnerin und Trägerin der Form von Religion, nicht von deren Inhalt, stellt Gordon fest, dass die Entwicklung des Kollektivs allzeit schwerfälliger und langsamer vonstattengeht als die der Individuen, weshalb die Form aller Religionen, eingeschlossen der von Israel, stets der Gefahr ausgesetzt ist, zu versteinern und althergebrachte Formen für heilig zu erklären, die längst nicht mehr dem lebendigen Inhalt der individuellen Religion entsprechen. Die Form beginnt dann den Inhalt zu beherrschen und zu unterdrücken:103 »Auch das Volk Israel kam davon nicht frei, dass die Form den Inhalt beherrschte und es folglich nicht vom Ende der Entwicklung der Religion und deren Niedergang verschont blieb. […] So waren zum Beispiel die Propheten nicht weit davon entfernt, die Opfer abzuschaffen, während die aus dem babylonischen Exil Zurückkehrenden und deren Nachfolger […] die Darbringung der Opfer in einem Maße heiligten, so dass die Beter bis heute um die Wiedereinrichtung der Opfer im Tempel zu Jerusalem bitten. Und anstelle der Warnung vor der Furcht vor den Zeichen des Himmels und der Warnung vor der Wahrsagerei etc. entstand bekanntlich der Glaube an den Einfluss von Mond- und Sonnenfinsternis, an Wahrzeichen, Beschwörungen, Wundermittel und Amulette – welch eine Beschränkung (Zimzum) im Vergleich zu dem lebendigen und schöpferischen Geist der Propheten und der Dynamik von Tora und der Prophetenschriften.«104 All dies ist die Folge der fatalen Verwechslung von Form und Inhalt der Religion, der Vorrangstellung des überkommenen Rituals und Glaubensguts vor dem lebendigen und schöpferischen höchst individuellen Wahrnehmen der Einheit des Seins.105 Hinsichtlich des Judentums stellt Gordon diese Verwechslung von Form und Inhalt überaus drastisch dar. Nach der desillusionierenden Beschreibung des nachaufklärerischen Judentums, das auf dem Weg der Selbstaufgabe durch As102
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 124.
103
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 124–125.
104
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 125.
105
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 148.
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253
similation war, erinnert er daran, dass viele Juden sich damals auf die Suche nach dem den Juden verheißenen erlösenden »verborgenen Licht« machten und vermeinten, dies sei im Himmel oder im Garten Eden zu finden oder damit sei das »Licht der Tora« gemeint. Aber »Es kam uns nicht in den Sinn, dass dieses Licht in uns selbst verborgen sei, und dass dies ein wirkliches Licht ist, sei es groß oder klein. Aber es gibt kein größeres Licht für uns. Wir suchten das ›Licht in der Tora‹, oder das ›Licht im Judentum‹ und suchten nicht das Licht in den Juden, in den lebendigen Juden, das Licht das jeder lebende Jude nur in sich selbst und durch sich selbst finden kann. […] Fast zweitausend Jahre hielten wir uns für eine Formation für sich selbst, wir behüteten unser ›Ich‹ mit höchster Sorgfalt, wir wussten, dass unser ›Ich‹ in unserer Tora zu finden ist, aber wir wussten nicht, dass unsere Tora in unserem ›Ich‹ zu finden ist, dass sie in uns lebt, lebt und sich erneuert, wann immer und wie sehr auch immer sich das Leben erneuert. Und darum, kaum hatten wir ein neues Leben [die europäische Aufklärung] gesehen, vergaßen wir unsere Tora –vergaßen wir uns selbst.«106 Klarer könnte man es kaum sagen. Für das wahre Leben der jüdischen Menschen ist nicht die Jahrtausende alte Tora der Lebensquell, sondern die Tora im Innern eines jeden Juden. Es ist die Tora, oder – wie Gordon auf der nächsten Seite sagt – der Tanach,107 welcher in »Unserer Seele verborgen ist«, aus dem die Juden schöpfen müssen. Der Inhalt der Religion liegt in der Seele des Menschen, auch des jüdischen Menschen, die Form der jüdischen Religion hingegen liegt in der Tradition der überlieferten Tora und dadurch bemisst sich ihre – sekundäre – Stellung für die Gestaltung des neuen jüdischen Lebens.
7.
»Gott« oder der Verborgene Intellekt – die Grundlagen der Ethik
7.1
Die Grundlage der Ethik ein »kantisches« Postulat
Den Grund der Religion sah Gordon, so viel wurde oben schon deutlich, ganz im Individuum verschlossen, in seinem Gefühl der Einheit mit allem Sein. Über diese Grundaussage hinaus ging Gordon jedoch noch einen Schritt weiter und versuchte ein »Objekt« des individuellen Glaubens aufzufinden. Er tut dies unter anderem in einer Auseinandersetzung mit Immanuel Kant und weist dadurch auf die Quelle seiner Gedankengänge hin. Allerdings folgt er Kant nicht einfach, 106
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 363–364.
107
Abkürzung für: Tora, Neviʼim, Ketubbim (Tora, Propheten, Schriften).
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254
sondern setzt sich mit ihm buchstäblich auseinander, in dem er von diesem zwar eine grundlegende Gedankenfigur übernimmt, aber deren Objektive austauscht, oder noch besser, vertauscht. Immanuel Kant, der seine Ethik und sein Denken ganz auf die Vernunft stellte, hatte zur Begründung einer auf die Vernunft gegründete Ethik die Idee Gottes als Postulat eingeführt, worin ihm auch der Neokantianer Hermann Cohen gefolgt war.108 Kant zog aus diesem seinem Postulat die Folgerung, dass die Religion auf die Ethik begründet sei, nicht umgekehrt die Ethik auf die Religion, die Ethik also das Primäre und die Religion das darauf beruhende Sekundäre sei. Gordon gibt diese Sicht Kants so wieder: »Nicht umsonst hatte Kant sich zu beweisen bemüht, dass die Ethik / Moral das Fundament der Religion sei, nicht umgekehrt. Er, der alles auf die reine Erkenntnis (Hakkara) gestellt hatte, auf die Vernunft, die theoretische wie die praktische, musste so entscheiden. Ein kategorischer Imperativ oder das Bewusstsein einer absoluten Verantwortung in der menschlichen Seele nötigten die Vernunft (Hakkara) nach dem Gesetz der Logik, ein rationales kosmisches Fundament anzunehmen. Jedoch von Seiten der Ḥawaja, des Er-lebens, von Seiten der Existenz eben dieses Gefühls in der menschlichen Seele, geht die Religion voran, denn dieses Gefühl, das gerade die Wahrnehmung dieses rationalen kosmischen Fundamentes ist, ist eben die Religion, und dieses ist das Fundament und nicht umgekehrt.«109 Im Gegensatz zu Kant will Gordon, wie oben schon dargelegt, nicht der Vernunft den Primat im Wahrnehmungsinstrumentarium des Menschen einräumen, sondern dem »Er-leben«, also der Weltwahrnehmung aus dem spontanen Lebensvollzug. Daraus zieht Gordon den Schluss, dass die grundlegende Weltwahrnehmung des Er-lebens, welche den Kern der Religion bildet, das Primäre ist, der dann die vernunftbezogene Ethik erst nachfolgt. Also die Religion ist die Mutter der Ethik und nicht umgekehrt. Aber, und dies muss nochmals betont werden, die Religion ist nach Gordon absolut subjektiv, weshalb für sie die aus der Vernunft abgeleiteten Moralvorstellungen der Gesellschaft nicht wirklich bindend sind – darüber muss die subjektive Religion entscheiden.110 Nach diesem Widerspruch gegen Kant, nimmt Gordon allerdings dessen Denkformel vom Postulat eines Absoluten, eines Göttlichen auf, gründet dies al-
108
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 624; u.s. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft, Ausgabe W. Weischedel, KantStudienausgabe (1956), Sonderausgabe Darmstadt 1981, Bd. 6, S. 254–264.
109
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 148.
110
Ähnlich hatte sich auch der von Schleiermacher beeinflusste Abraham Geiger geäußert, s. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 610–616.
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255
lerdings nicht auf die praktische Vernunft, sondern auf die Ḥawaja, die Wahrnehmungsform des Lebens. Und diese Wahrnehmungsform des Lebens hat als ersten Inhalt die Bestimmung des Ich als Teil des gesamten Seins, also einen religiösen Inhalt. Mit diesem religiösen Inhalt ist nach Gordons Auffassung das Fundament des menschlichen Lebens gegeben. Und erst nach dieser Voraussetzung kann man über die Moral reden, die auf dem religiösen Fundament aufbaut. Gordon schaltet der kantischen vernunftpraktischen Argumentation zur Begründung eines Gottespostulates eine er-lebens-praktische Argumentation zur Begründung eines Sinns im menschlichen Leben voran, und erst danach kommt er auf die Moral zu sprechen, die er zuerst auf den religiösen menschlichen Lebenssinn und in zweiter Linie – mit Kant – auf die vernunftpraktische Argumentation stützt. Das Postulat Gordons ist nun das nach einem Verborgenen Intellekt (Sechel neʽelam), ein Begriff, der zwar aus der Kabbala oder dem Ḥasidismus geschöpft ist – »der Heilige, Er sei gesegnet, er ist der Verborgene Intellekt« sagt der Bescht-Enkel Efraim aus Siedilkov.111 Aber trotz dieser Herkunft des Begriffs ist er im Kontext des Gordonʼschen Denkens der Sache kantianisch:112 »Es gibt in Wirklichkeit nur zwei Fundamente des menschlichen Lebens, die Religion und die Schönheit [Ästhetik], ein Fundament von Seiten des Inhalts und eines von Seiten der Form. Ein solches inhaltliches Fundament ist natürlich nur dann möglich, wenn man die Existenz eines Inhalts im weltumfassenden Wesen des Seins annimmt, wenn man einen Verborgenen Intellekt als kosmischem Fundament postuliert. Bei einem blinden [das heißt: zufällig wirkenden] kosmischen Fundament gibt es keinen Raum für ein inhaltliches Fundament des menschlichen Lebens, und schon gar muss man an einem nur formalen Fundament dafür zweifeln, wenn man nach einer guten Form des elenden menschlichen Lebens sucht. Die Moral hat ihrerseits keinerlei Fundament ohne ein Fundament des menschlichen Lebens, ohne Raum für eine absolute Wahrheit, für einen kategorischen Imperativ oder das Gefühl absoluter Verantwortlichkeit als Fundament des menschlichen ›Ich‹. Eine Moral,
111
Sefer Degel Maḥane Efrajim, Par. Matot s. v. ʽAvadekha, S. 129a.
112
E. Schweid, Ha-Jachid, S. 110, will hier allerdings mehr ḥasidisch-kabbalistisches Erbe sehen als nur die Übernahme eines Begriffes; er verweist auf seinen Schüler A. Schapiro, dessen Buch ʼOr ha-Ḥajjim »be-Jom Katnut‹, inzwischen vorliegt. Schapiro, S. 118 ff, behandelt das Thema des Verborgenen Intellekts in seiner Doppelheit als psychologischem wie kosmologischem Terminus, hinsichtlich der Verbindung der beiden, was anscheinend tatsächlich kabbalistisch-ḥasidisches Gedankengut widerspiegelt, wozu im folgenden Kapitel noch die Rede sein wird. Im vorliegenden Kontext ist die Begründung eines solchen Verborgenen Intellekts zunächst in kantischer Analogie vorgenommen.
Aharon David Gordon
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die auf der Grundlage eines blinden Willens beruht, ist einfach absurd, denn da ist jegliche Gesetzmäßigkeit absurd, jegliche Logik und schon gar jegliche Verantwortlichkeit, jegliches Streben nach Vollkommenheit. Spricht man von Verantwortung, spricht man gezwungenermaßen von einen Verborgenen Intellekt. Noch mehr: Sagt man Einheit, Einheit des Seins, Einheit der Erkenntnis, Einheit des Gefühls, sagt man zwangsläufig: Verborgener Intellekt.«113 Einen Sinn des Lebens kann man demnach nur unter dem für das Er-leben notwendigen Postulat eines Verborgenen Intellekts hinter den Phänomenen der Natur, des kosmischen Seins, gewinnen. Erst wenn ein solches sinnstiftendes Postulat für das menschliche Leben gegeben ist, kann auch eine Ethik errichtet werden. Denn dieser postulierte Verborgene Intellekt allein kann auch die Forderung nach einer Verantwortlichkeit begründen, weil dieser Verborgene Intellekt – analog zum teleologischen Gottesbeweis (Ordnung, design, der Schöpfung) – alleine Quelle eines kategorischen Imperativ, eines planenden Willens ist. Dies soll im Folgenden noch weiter vertieft werden.
7.2
Der doppelte »Verborgene Intellekt«
Die doppelte Wahrnehmungsweise des Menschen, seine doppelte Veranlagung, zu erkennen und zu er-leben, bilden – oder richtiger: sollten bilden – ein doppeltes Band des Menschen zu der Welt, in welcher er lebt. Dies ist plausibel, nachdem Gordon an vielen Stellen seiner Texte betonte, dass »die Welt des Menschen auf seinem ›Ich‹ steht«.114 Ohne ein solches Band zur Welt hat der Mensch folglich keine Welt. Mittels seiner rationalen Erkenntnis, so meint Gordon, haftet der Mensch an den Phänomenen der Welt, an deren offenbaren Seite, als würden von all den von ihm erkannten Punkten Linien zu seinem ›Ich‹ führen, die er allesamt, in seiner Erkenntnis, zu einer Einheit zusammenfasst und sie so zu seiner vollkommenen Welt werden lässt. Entsprechendes muss nun, soll der Mensch in jeder Hinsicht vollkommen sein, auch für die Er-lebens-Seite des Menschen gelten, die von der nicht expliziten, vom Menschen selbst nicht erkennbaren Seite seines eigenen Wesens, von seinem unerkannten ›Ich‹ getragen wird. Denn so wie sich die offenbare Erkenntnisseite dieses Ich mit den erkannten Phänomenen dieser Welt in Beziehung setzt, so sieht sich nun auch »seine unerkennbare Seite an der Welt haf-
113
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 147.
114
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 77.
Zionismus
257
ten«115 und dies wird entsprechend die unerkennbare Seite der Welt sein, die Seite des »Seins«. Und auch hinsichtlich der unerkennbaren Seite will das menschliche Ich eine Zusammenführung und Konzentrationen der zahllosen Punkte in eins erreichen und zwar derart, dass es dort in dieser verborgenen Welt des Seins gleichsam einen archimedischen, das heißt angenommenen, Punkt gibt, der als Verbindungspunkt zur verborgenen Seite des menschlichen Ich dienen könnte, so dass »gleichsam die große Welt und die Welt des Menschen im ›Ich‹ zu einer vollkommenen Einheit vereint sind.« Und: »Es ist klar, dass dieser Weltenpunkt, nur ein Punkt absoluter Einheit sein kann, den man in keinerlei Weise erfassen kann, eine Art archimedischer Punkt, aber, wenn man so sagen darf, ein lebendiger archimedischer Punkt, denn das unerkennbare ›Ich‹, das aus dem Leben selbst fließt, aus dem Leben vor der Erkenntnis, dieses ›Ich‹ nimmt nur Leben wahr. Darum ist es das unbeschränkte Recht der lebendigen Seele, einen lebendigen Gott zu suchen, einen einzigen und einzigartigen, einen Verborgenen Intellekt, der vor jeglichem Gedanken verborgen ist, aber eine Persönlichkeit, ein oberstes ›Ich‹.«116 Bevor die Bedeutung dieses Verborgenen Intellekts weiter erörtert wird muss nochmals betont werden, dass für die menschliche Integrität gilt, dass diese nur vollkommen ist, wenn diese beiden Pole des menschlichen Ich, die Erkenntnis und das Er-leben, Hakkara und Ḥawaja, mit den entsprechenden beiden Seiten der Welt, nämlich deren Phänomene auf der einen, und deren unerkennbarem Wesen auf der anderen Seite, verbunden sind. Gordon betont nachdrücklich, dass er mit seiner Vorstellung vom Verborgenen Intellekt einen Begriff einführt, der von den Kategorien des Verstandes, oder wie Gordon im Rahmen dieser Erörterung, Kant aufnehmend, wiederholt sagt, von den Kategorien der reinen Vernunft (Hakkara zerufa) nicht erfasst werden kann – im selben Maße wie auch das unerkennbare, verborgene »Ich« des Menschen diesen Kategorien nicht entspricht. Soweit scheint Gordon ḥasidischen Auffassungen durchaus nahe, wenn etwa der Begründer der ḤaBaD-Bewegung, Schneur Salman aus Liadi, in seinem Buch Tanja zum Mysterium der göttlichen Sprache im Menschenmund sagt: »Jedem Verständigen ist ja klar und deutlich, dass die Aussprache der Buchstaben und Vokalzeichen etwas ist, das oberhalb des erfass- und verstehbaren
115
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 77.
116
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 77.
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258
Intellekts steht, dass sie vielmehr vom Verborgenen Intellekt herrührt [vermittelt über den] Ur-Intellekt in der sprechenden [rationalen] Seele«.117 Der göttliche Verborgene Intellekt, das ʼEn Sof senkt einen Funken Verborgenen Intellekt in die rationale-sprechende Seele des Menschen, und dies ist es was ihn zum Geheimnis des Sprechens der Sprache befähigt. Also auch hier wird ein doppelter Verborgener Intellekt vorausgesetzt, einer oberhalb jeglicher göttlicher Offenbarung und einer in der Seele des Menschen. Wenn Gordon vom verborgenen Ich des Menschen spricht, das so verborgen ist, wie der Verborgene kosmische Intellekt, mag er sich durchaus an diese ḥasidische Formel anlehnen können. Aber in Gordons Gedankenwelt wird aus diesem ḥasidischen Intellekte-Paar doch etwas ganz neues – er geht die Sache philosophisch, nicht esoterisch an. Schneur Salman denkt von Gott aus, vom Emanator des Verborgenen Intellekts. Er ist es, von dem das Geheimnis der Sprache im Menschen herrührt. Demgegenüber setzt Gordon konsequent von unten an, vom Menschen. Ausgangspunkt für Gordon ist die Tatsache, dass der Mensch mit seinem Verstand zwar alles in der Welt erkennen kann, außer sein eigenes Ich.118 Das, was im Menschen denkt, das die Vernunft und Erkenntnisfähigkeit trägt, also das wirkliche Ich, ist unserer Erkenntnis entzogen. Es ist nach seiner Auffassung mit den Mitteln der Vernunfterkenntnis auch nie zu erreichen. Denn schon der Begriff des »Ich«, betont Gordon, ist ein Begriff der Vernunfterkenntnis, ein Begriff der eingeschränkten (Zimzum) rationalen Wahrnehmungsweise, der nur durch das Vorhandensein eines »Nicht-Ich« definiert werden kann. Und dies beides, »Ich« und »Nicht-Ich«, kann es in einem Bereich nicht geben, der außerhalb der Kategorien der Vernunft steht. Die Rede von einem verborgenen »Welten-Ich« als Gegenüber eines verborgenen »Menschen-Ich« kann demnach nur eine uneigentliche, geborgte, Redeweise sein, welche in der Redeweise der Vernunft eigentlich keinen Platz hat. Darum ist die Vernunft nicht willens und auch nicht fähig, dies anzuerkennen und unterdrückt die Sehnsucht der Ḥawaja nach ihrem Pendant, nach einem »Verborgenen Intellekt«. Wenn nun die reine Vernunft, bedrängt durch das Beharren der reinen Seele, dennoch die Frage stellt, ob es einen solchen Verborgenen Intellekt gebe, tut sie dies mit den ihr eigenen Kategorien, sie fragt, ob ein solcher Intellekt existiert oder nicht existiert. Und schon dies ist der erste Fehler. »Sein« und »Nicht-Sein«
117
Likkute ʼAmarim – Tanja, Brooklyn 1979, S. 214; u. vgl. ebenda S. 189. Schneur Salman setzt hier noch das System der zehn Sefirot voraus. Der Verborgene Intellekt, der aus dem ʼEn Sof über die noch völlig ungreifbare erste Sefira Keter sich ergießt, kommt über die Sefira II, Ḥochma, die Quelle des Verstehens, bis zu Bina, Sefira III, wo der Verborgene Intellekt zu einer ersten Offenbarung gelangt. Vgl. Tanja, ʼIggeret ha-Kodesch, S. 213.
118
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 53.
Zionismus
259
sind Kategorien der Vernunft, wie auch Zeit und Raum, in denen solches Existieren stattfindet. Und diese Bedingungen können für einen Verborgenen Intellekt, der, besagter Maßen, jenseits der Kategorien der Vernunft liegt, nicht gelten. Es ist demnach eine absurde und falsche Frage, nach der Existenz oder Nichtexistenz eines Verborgenen Intellekts zu fragen, dies sind Kategorien, welche nicht auf ihn zutreffen können. Das einzige, was die reine Vernunft zu tun vermag, wenn sie sich dieser Frage überhaupt nähern will, ist nach einer neuen Begrifflichkeit zu suchen, welche die falsche Fragestellung nach Existenz oder Nichtexistenz überhaupt nicht berührt. Die Vernunft braucht hier eine Terminologie für etwas, das nicht den Kategorien der Vernunft unterliegt. Ein solcher Ausdruck ist zum Beispiel »Irgendetwas« (Davar mah) oder einfach »etwas« (mah – )מה, womit nichts der Vernunft entsprechendes ausgesagt wird, es ist etwas Unbestimmtes. Will die Sprache der Vernunft über diesen Verborgenen Intellekt nun dennoch unbedingt etwas sagen, so meint Gordon, könne man vorschlagen, von diesem unbestimmten Ausdruck ein Verbum abzuleiten, welche die Seinsweise dieses NichtVernünftigen »etwas« benennt. Er schlägt darum das neue Verbum maha ()מהה, also »etwasen«, vor. Dessen Bedeutung wäre dann: »es ›ist‹ in einer Weise, die für uns unerkennbar ist, es ›ist‹ in einer Weise, die nicht zur Kategorie des ›Existierens‹ (Jesch) gehört, aber auch nicht zur Kategorie der ›Nichtexistenz‹ (ʼAjin). Es ist ein ›sein‹, das von der Vernunft nicht erfassbar ist. Die für die Vernunft angemessene Frage für unseren Gegenstand ist demnach: ›Etwast ein Verborgener Intellekt?‹ oder ›Etwast ein Gott?‹ Die Bedeutung dieser Frage wäre dann etwa: ›Ist es vorstellbar?‹, oder auch: ›gibt es denn, existiert denn?‹ aber in einer Weise, die für uns unerkennbar ist. Mehr als dies kann die reine Vernunft kann nicht fragen! Weitere Fragen, etwa ›Wie ist ein solcher Verborgener Intellekt? Ist er außerhalb der offenbaren Natur oder in ihr, oder vielleicht ist er diese Natur selbst, allerdings nicht in ihrer Erscheinungsform? […] Hat er die Welt erschaffen, oder macht sein Sein das Sein der Welt notwendig? [etc.] – für all diese Fragen gibt es nach jener ersten, wichtigsten keinen Raum mehr.«119 Nach all dem, wird sich der Leser fragen, ob dieser Verborgene Intellekt, den man nach Gordon auch »Gott« nennen mag, für Gordon im Ende ein Postulat im strengen kantianischen Sinn bleibt, oder ob für ihn hinter diesem Begriff auch eine Realität irgend einer Art zu sehen ist. Avraham Schapira kommt, nachdem er einige Formulierungen Gordons mit ḥasidischen und kabbalistischen Quellen vergleicht, zu dem grundüberzeugten Resultat: »Aus all den Zitaten und den 119
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 82–83.
260
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oben vorgetragenen Erörterungen wird uns schon klar, dass der ›Gott‹ im Sinne Gordons der Gott Israels ist. Dieser Begriff dient ihm in keiner Weise als Metapher oder als Gefäß für irgendwelche andere Inhalte.«120 Es ist zugestandenermaßen keine Frage, dass Gordon in seinen Darlegungen kabbalistische und ḥasidische Begriffe aufnimmt, aber auch hier gilt das oben schon Gesagte: Mit der Übernahme der Begriffe wird noch lange keine kabbalistische oder ḥasidische Theologie übernommen. Einer der von Schapira für seine gutgläubige Schlussfolgerung beigebrachten Zeugen aus den Texten Gordons ist zum Beispiel ein sogleich anzuführendes Zitat. Zum besseren Verständnis meiner Skepsis an Schapiras Deutung füge ich all jene Worte Gordons in Kursivsatz bei, welche Schapira bei seiner Zitierung auslässt. Schapira lässt bei seiner Zitierung außerdem den hierfür nicht unwichtigen Kontext vollkommen aus. Gordon erörtert dort die gängigen Diskussionen über das Wesen von Religion, die sich meist an der Frage nach der Objektivität einer Gottheit orientieren. In dieser Debatte gelte die Regel, dass dann, wenn die Existenz einer Gottheit bejaht werde, auch die Religion bestätigt werden könne, wo nicht, würde auch die Religion in Zweifel gezogen. Und da mit Hilfe der Vernunft die Existenz einer Gottheit weder bewiesen noch widerlegt werden könne, wird geschlossen, dass die Religion etwas sei, das allemale in der Luft hänge und deswegen eine aussichtslose Angelegenheit darstelle. Das Problem solcher Erörterungen, so fährt Gordon fort, ist indessen, dass hierbei die Ausdrucksformen der Religion mit deren Wesen verwechselt würden, die Nebensache mit der Hauptsache. Und nun folgt Gordons Gegenposition – das von Schapira in diesem Zitat ausgelassene steht, wie gesagt kursiv: »Die Religion ist vollständig subjektiv (darum gibt es auch Religionen ohne Gottesglauben – zum Beispiel den Buddhismus). Allerdings ist diese Subjektivität von besonderer Art, darum wurde ihre wahre Form noch nicht genügend geklärt. Das bedeutet hier: Diejenige Seite der menschlichen Seele, die tatsächlich in das weltweite Sein eingesenkt ist, an dem Ort, an welchem die menschliche Seele an der Weltseele haftet und mit ihr eins ist, wenn man so sagen kann, erscheint als ob sie und das weltweite Sein eins seien, so scheint es, dass sie das, was sie ohne Vermittlung wahrnimmt, was sie fühlt und aufgrund der unvermittelten Lebens-Wahrnehmung denkt, das weltweite Sein, dass sie dies in sich hinein wahrnimmt, hineinfühlt und denkt. Hier liegt der ganze Schatz oder die ganze Quelle der Persönlichkeit, alles, was ihr die Möglichkeit verleiht, aus dem Sein selbst sie Selbst zu werden. Wenn sich der Mensch, insbesondere wenn er sich von den Fesseln der Menschen befreit, von deren Stricken und Eitelkeiten, wenn er sich als Einzigen/Individuum in der weltweiten Schöpfung sieht, und das Bedürfnis hat mit der Schöpfung al120
A. Schapira, ʼOr ha-Hajjim, S. 124.
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leine eins zu sein, oder wenn er an ihrem Schöpfungsprozess teilnimmt und das Gefühl hat, sich am Schöpfungsprozess beteiligen zu müssen … dann erfasst der Mensch diese unendliche Schöpfung, oder er wird von ihr erfasst, als etwas, das ganz mit ihr eins ist, dann sieht er sich von ein und demselben Geist des Lebens mit ihr belebt, lebt mit allem, was lebt, und in alles, das lebt […].121« Die nicht kursiv gesetzte, und von Schapira angeführte Textpartie, klingt ja in der Tat wie ein mystisches Programm im Sinne der neoplatonischen Philosophie, der Kabbala oder des Hasidismus.122 Nimmt man jedoch den weiteren Kontext der Erörterungen Gordons hinzu, so zeigt sich, dass es hier um die Selbstwerdung des Individuums geht und nicht um Mystik. Natürlich ist für Gordon der Prozess der Selbstwerdung das Gewinnen einer richtigen Beziehung zur WeltNatur, wie auch zur konkreten Natur, zugleich der Inbegriff der subjektiven Religion, worauf ich im Folgenden noch zurückkommen werde. Man darf hier also nicht die Form der Religion, also die Frage nach einem Gott oder nach einem Verborgenen Intellekt, zur Hauptsache erklären, sondern es geht um die Selbstfindung des Menschen im Lebensvollzug, in der Wahrnehmung des Lebens außerhalb der Schranken der reinen Vernunft. Die Distanz dieser Individualisierungs-Philosophie zur kabbalistisch-hasidischen Mystik wird in Schapiras Darstellung auch dadurch verdeckt, dass Schapira die distanzierenden Wortwendungen Gordons ausgelassen hat, also: »Das bedeutet hier«, »wenn man so sagen kann«, »so scheint es«. Die kabbalistisch-mystische Terminologie will Gordon nur uneigentlich verwenden. Er will keine Theologie im strikten Sinne vortragen, denn eine solche gehört, wie schon gezeigt, nach Auffassung Gordons zum Bereich der Vernunft, der aber für das hier Verhandelte, die Religion der Selbstwerdung, nicht adäquat ist. Aus alledem folgt, dass Gordon, wenn es um die Gottesfrage geht, strenger Kantianer bleibt und die Gottheit als ein Postulat, als virtuellen archimedischen Punkt sieht, der allerdings für die »Geometrie« der menschlichen Seele als »ingenieurtechnischer Punkt« (Nekuda handasit) – so nennt er in seinem Hebräischen, was ich hier als archimedischen Punkt übersetzte – für notwendig erachtet. Es ist ein Punkt, welchen die Ḥawaja, der selbstwerdende Lebensvollzug des Menschen braucht, nach dessen Existenz man aber nicht mit den Kategorien der Vernunft fragen darf. Auch die Frage, ob dieser archimedische Punkt, dieser Verborgene Intellekt, den man auch Gott nennen mag, irgendeine jüdische Spezifik ausweise, kann getrost verneint werden. Denn der Kern dieser Religion Gordons ist ein allgemein 121
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 112–113; bei Schapira, ʼOr ha-Ḥajjim, S. 123.
122
Vgl. z. B. Jüdisches Denken, Bd. 1. S. 525. 543. 544; Bd. 2., S. 300. 341. 449. 873. 874. 877.
Aharon David Gordon
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menschlicher. Es ist der höchst subjektive Bereich der Weltwahrnehmung durch den Lebensvollzug, der nach dem zuvor schon Gesagten, nicht von anderen Auffassungen getrübt werden dürfe. Dies ist der Inhalt und das Wesen dieser Religion. Wenn es hingegen um die Form der Religion geht, die man nach Gordons Warnung keinesfalls mit deren Wesen vertauschen darf, kann man sehr wohl von kulturspezifischen Unterschieden sprechen. Gordon spricht hier tatsächlich von Religion, aber eben im Sinne des spontanen Lebensvollzuges, der im Einklang mit der Natur der Welt-Natur geschieht. Die Begriffe Gott, Verborgener Intellekt, oder Weltseele, sind dabei allenfalls Redeweisen mit Hilfe der Vernunftkategorien und sind so als Postulate zu kennzeichnen. Der spontane Erlebensvollzug lebt von solch einem archimedischen Punkt, kann und will ihn aber nicht beschreiben oder benennen.
8.
Der Mensch und die Natur
8.1
Das einfache Leben – nach Lev (Leo) Tolstoj
Im Zusammenhang von A.D. Gordons Hinwendung zur Natur wird häufig auf den russischen Romancier und Grafen Leo Tolstoj hingewiesen, dessen Werk Gordon nicht nur kannte, sondern auch schätzte. Gordons Hochachtung vor Tolstojs Auffassungen ging so weit, dass er sich sogar an eine Übersetzung von dessen einflussreichem Buch Was ist Kunst? 123 machte, wozu er allerdings einen Einführungsessay verfasste, um sich von der Idealisierung des Ur-Christentums durch Tolstoj zu distanzieren.124 Im Übrigen verfolgt Tolstoj in diesem Buch eine antimodernistische Auffassung und seinen Glauben, dass das einfache Landleben die Erlösung nahebringe, und er preist den Ackerbau wie die Erzeugung der Nahrungsmittel für den eigenen Bedarf auf der eigenen Scholle.125 Letzteres ist umso erstaunlicher, als gerade Tolstoj hinsichtlich der Bewertung der Arbeit eine diametral entgegensetzte Auffassung als Gordon und die unten noch zu nennenden Verkünder eines neuen Arbeits-Ethos vertrat. Tolstoj ist sogar ausdrücklich und dezidiert dem gleichfalls unten noch zu nennenden Émile Zola entgegengetreten, der die Arbeit als seine zentrale Lebensstütze betrachtete. Für
123
L. N. Tolstoj, Was ist Kunst? – Übersetzt von M. Feofanoff, Leipzig 1902; ursprünglich auf
124
A. D. Gordon, Klärung des Unterschiedes zwischen Judentum und Christentum, Kitve Gor-
Russisch: 1898. don, Bd. 2, S. 271–296; dazu vgl. Rinna Lapidos, L. N. Tolstoj, A. D. Gordon, haḥaschat haGeʼulla we-ha-ʽIdan he-ḥadasch schel ha-Meʼa ha-ʽEsrim. Mavo le-Targumo schel A. D. Gordon »Mah hiʼ ʼEmuna« le-Lev Tolstoj, zu finden im Internet. 125
Zur Verherrlichung der selbstgezogenen Lebensmittel durch Tolstoj s. in »Was ist Kunst«, S. 302–305.
Zionismus
263
Tolstoj ist die Arbeit hingegen eher ein notwendiges Übel, das zur Beschaffung des Lebensunterhaltes nötig ist.126 Der Einfluss von Tolstoj auf Gordon lag daher mehr in der Verherrlichung des einfachen Lebens, der Hinwendung zur Natur und zum Ackerbau und der Ablehnung staatlicher Herrschaft – Haltungen in denen sich Tolstoj selbst zweifellos inszenierte, die aber von Gordon idealisiert wurden. Nach Dmitrij Tschižewskij vertrat Tolstoj hinsichtlich der idealen menschlichen Lebensgestaltung die folgenden Auffassungen: »Das höchste Gesetz des Lebens sei die Liebe, die auch ein Verzicht auf die eigenen Interessen und das eigene Wohl verlangen dürfe, solange das Wohl der anderen dies erfordere. Das heißt, daß man auf jede Anwendung von Gewalt verzichten müsse und sogar ›sich dem Bösen nicht widersetzen‹, mindestens aber das Böse nicht mit Gewalt bekämpfen dürfe. Die ganze Kultur aber sei auf Gewalt aufgebaut, Staat und Recht werden nur durch Gewalt erhalten. Das Recht verlange die Strafe, jede Bestrafung aber vergrößere nur das Böse. Der Staat sei nur eine ›Versammlung von Menschen, die den anderen Gewalt antun‹. Die Gesetze seien ›Erzeugnisse des Eigennutzes, des Betruges und der Parteikämpfe, sie können keiner echten Gerechtigkeit dienen.‹ […] Der Verstand verlange, daß alle Menschen gleich sein sollten. Die Gleichheit soll durch Vereinfachung des Lebens der höheren Schichten erreicht werden. Tolstoj verlangt vor allem das, was er mit dem schwer übersetzbaren Wort ›oproščenie‹ bezeichnet. Dieses (nur ungefähr mit ›Vereinfachung des Lebens‹ zu übersetzende Wort bedeutet, daß die Menschen auf die Befriedigung ihrer ›überflüssigen‹ und ›unnatürlichen‹ Bedürfnisse verzichten sollen, darunter verstand er alles, worauf der russische Bauer verzichten muß. […] Bei solchem Verzicht wird auch das Eigentum verschwinden, vor allem das Eigentumsrecht auf den Boden, der nur denen zur Verfügung stehen soll, die darauf arbeiten.«127 Auch Gordon vertrat eine höchst antizivilisatorische Position, war überaus kulturkritisch128 und gegen staatliche und insbesondere militärische129 Gewalt eingestellt. Das Ziel seines Zionismus war nicht die Errichtung eines Staates, der die Freiheitsrechte des selbstbewussten Individuums nur einschränken musste.130
126
Vgl. A. Rauber, Die Lehren, S. 8–9; Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, S. 313 u. Endnote 847.
127
D. Tschižewskij, Russische Geistesgeschichte, München 1974 (2. Aufl.), S. 276–277.
128
Vgl. Jüdisches Denken, Zionismus, V, 10.
129
Kitve Gordon, Bd. 1, S. 380–389: Kurze Studie über einen Konsens (Gedanken über die Ar-
130
Vgl. dazu E. Schweid, Ha-Jachid, S. 156–157.
mee).
264
8.2
Aharon David Gordon
Gordons Sicht der kosmischen Natur und des Menschen Stellung in ihr
Die für dieses Kapitel gewählte Hauptüberschrift »Der Mensch und die Natur« ist eben die, welchen der erste Essay Gordons im zweiten Band seiner gesammelten Schriften trägt. Es ist dieses Thema, welches gemeinhin das Bild Gordons prägt. So schreibt zum Beispiel S.H. Bergmann in der Encyclopaedia Judaica gleich zu Beginn der Darstellung von Gordons Denken: »Gordons Weltanschauung gründet in der Überzeugung, dass der Kosmos eine Einheit sei, dass Mensch und Natur eins seien und alle Menschen organische Teile des Kosmos sind. Der Mensch ist in zwei unterschiedlichen Weisen durch den Kosmos geprägt: Durch seine Kenntnis der Welt und durch seine intuitive Wahrnehmung der Welt.«131 Die beiden unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen der Welt durch den Menschen wurden oben schon dargestellt. In dem Zusammenhang von Mensch und Welt, oder Natur und Welt, haben diese beiden Wahrnehmungsweisen allerdings eine nicht nur epistemische Bedeutung, sondern eine ontologische. Wie dies S.H. Bergmann in seiner kurzen Charakteristik darstellt, sind es diese beiden Weisen der Wahrnehmung, mittels denen der Kosmos Einfluss auf den Menschen hat und ihn prägt. Mit den Worten Gordons: »Es ist deutlich, dass das weltweite Sein, die unendliche Natur sich in die Seele des Menschen, in sein Fühlen und in sein Erkennen, von zweierlei Seiten ergießt. Von der Seite, welche er fühlt und erkennt, und von jener anderen Seite, die er nicht erkennt und nicht fühlt, sondern die er lebt. […] Im Gleichnis gesprochen: Von Seiten des Gefühls und der Erkenntnis ergießt sich das Licht, das von der Flamme entzündet wird, und von Seiten des unerkannten und ungefühlten Lebens ergießt sich das Öl für das Licht, welches die Flamme nährt […], wobei die Instrumente des Fühlens und Erkennens die Lampe darstellen, die nur ein Gerät mit einem Behälter ist, um in sich aufzufangen, um eine Verbindung der beiden Ströme herzustellen, die von den beiden Seiten einströmen.«132 Mit diesem Gleichnis will Gordon das Verhältnis von Leben, Fühlen und Erkennen erläutern, das oben schon als Abhängigkeit des Gefühls und des Erkennens eines Menschen von dessen Er-leben beschrieben wurde. Das Primäre unter die-
131
S. H. Bergmann, Gordon, A. D., in Encyclopaedia Judaica, Bd. 7, S. 791.
132
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 43, Hervorhebungen KEG.
Zionismus
265
sen dreien ist das unerkannte Leben, der Lebensvollzug, der sich auf die beiden bewussten Seiten der menschlichen Wahrnehmungsweisen, das Fühlen und Erkennen, auswirkt. Und dieses Primäre des Lebens zu beschreiben und zu erläutern ist die Aufgabe eben dieses Kapitels, mit dem Gordon seine hier genannte Schrift eröffnet. Gordon will seinen Lesern vor Augen führen, dass der Mensch nicht eine eigenständige Welt auf dieser Erde darstellt, die aus dem übrigen Natur-Kontext herausgenommen ist. So wie der Fisch nicht ohne Wasser leben kann, nicht nur wegen des Sauerstoffs, sondern auch wegen des Wasserdrucks, der sich auf jeden Punkt seines Körpers auswirkt, so muss auch das Leben des Menschen in der Natur gesehen werden. Die nächste Analogie zum Fischbeispiel ist die Bedeutung der Luft für das menschliche Leben, denn die Luft dient dem Menschen nicht nur zum Atmen. Wenn nämlich der Mensch zum Beispiel in höhere Regionen aufsteigt, in denen die Luft dünner wird, wird ihm nicht nur das Atmen schwerer, sondern »auch sein Blut beginnt aus allen Öffnungen seines Körpers nach außen zu brechen.«133 Ein weiteres Beispiel für die Verwobenheit des menschlichen Lebens mit der Natur ist die Erdbewegung, die den Menschen unablässig mitträgt, auch wenn er davon keine Kenntnis hat. All dies zeigt, dass der Mensch die Natur nicht nur fühlt und erkennt, sondern dass er sie vor allem lebt. Und so wie die Bewegung der Erde nur eine der Naturkräfte ist, welche das menschliche Leben formt und bestimmt, so sind es auch die übrigen Naturkräfte, auch wenn wir diese nicht zur Kenntnis nehmen. Das menschliche Leben, sein Fühlen und sein Erkennen sind allesamt mit diesen Weltkräften verbunden: »Und wer weiß, ob der Mensch in der Lage wäre, zu erkennen, was er erkennt, zu fühlen, was er fühlt, oder ob es überhaupt eine Möglichkeit zu Denken oder zu Fühlen gäbe, wenn der Mensch nicht all das lebte, was er erkennt und fühlt, und wenn nicht alle jene weltlichen Kräfte und Bewegungen, die er erkennen und fühlen kann, grundlegend an der Erschaffung dessen, was wir Leben nennen, beteiligt wären.«134 Nach dieser sehr naturwissenschaftlich klingenden Formulierung kann Gordon – in der Fortsetzung dieses soeben angeführten Textpassus – auch zu einer mehr kabbalistischen Diktion greifen, zu der emanatistischen Sprache der Kabbala, nicht aber um sich als Kabbalist zu erweisen, sondern um das Gesagte auch in einer seinen hebräischen Lesern vertrauteren Terminologie anzubieten.
133
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 42.
134
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 42–43.
Aharon David Gordon
266
Vor diesem Hintergrund erscheint zugleich das oben von Schapira angeführte,135 aus dem Kontext genommene und sehr kabbalistisch klingende Zitat in einem neuen Licht. Denn auch hier, im hier besprochenen Kapitel, wo es um die Verflochtenheit des Lebens mit der gesamten Natur geht, greift Gordon zu Formulierungen, die an die Kabbala erinnern, die aber doch deutlich im Sinne eines spinozanischen Naturverständnisses gedeutet werden. Am Beispiel der beiden so herausragenden Denker Karl Marx und Friedrich Nietzsche, die trotz gleicher intellektueller Befähigung zu so unterschiedlichen Weltanschauungen gelangten, will Gordon dort zeigen, dass diese Differenz nicht vom offenbar zu Erkennenden, sondern von den unterschiedlichen unerkennbaren »Seelenwurzeln« oder »Ichs« der beiden Philosophen herrührt. Es ist diese unerkennbare Seite des menschlichen Ich, das unterschiedliche Er-leben, welches zu den unterschiedlichen Lebensanschauungen der beiden Denker führte. Denn: »Die unerkennbare Seite – sie ist offenbar der Ort des Haftens ()הדבק, an welchem die Seele des einzelnen Menschen an der Seele der gesamten Schöpfung haftet (tidbak), so dass sie zu einer lebenden Seele werden. Das ist der Raum, in welchen sich das Leben des einzelnen Menschen und der gesamten Schöpfung ergießen und sich vereinen und so zum Leben der Welt werden. Das ist die Natur selbst in der Seele des Menschen, und das ist der Quell des Lebens. […] Aus all dem Gesagten folgt: Der Mensch muss, sofern er Mensch ist, stets in der Natur sein, denn die Natur ist für den fühlenden und erkennenden Menschen tatsächlich das, was für den Fisch das Wasser ist. […]. Er braucht diese unvermittelte und ununterbrochene Verbindung zur der unendlichen Natur, als verborgenes Saugen, denn jedes Atom seines Körpers und seiner Seele saugt aus der unendlichen Natur […] er braucht das Leben der Welt.«136
135
Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, V, 7.2; Kitve Gordon, Bd. 2, S. 112–113; bei Schapira,
136
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 44. Es ist wert, an dieser Stelle zu vermerken, wie ähnlich ein moder-
ʼOr ha-Ḥajjim, S. 123. ner Neurophysiologe und Hirnforscher, der Frankfurter Professor Wolf Singer, die Abhängigkeit des Menschen, und gerade auch seiner geistigen Seite vom Geschehen der Natur beschreibt. Angesprochen auf seine These, dass der Mensch aus neurophysiologischer Sicht keinen freien Willen besitzt antwortete Singer: »Wenn die Entscheidung, die Sie treffen, von Ihrem Gehirn vorbereitet wird, werden verschiedene Informationen angeliefert. Dazu gehört Ihr aktueller körperlicher Zustand, ob Sie also etwa hungrig, übermüdet oder gestresst sind. Dazu kommen Dinge, die Sie in jüngster Zeit gehört oder gelesen haben, und diverse andere Argumente, die für die eine oder die andere Option sprechen. Aufgrund all dieser Faktoren treffen Sie eine Entscheidung. Als ich von der Nichtexistenz des freien Willens sprach, war gemeint: Sie haben keinen Einfluss darauf, welche Informationen Ihr Gehirn Ihrem Bewusstsein als
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267
Die Begriffe »haften«, »Vereinen« und »Quell des Lebens«, welche in der mystischen Literatur zur Beschreibung der unio mystica gehören,137 erhalten hier eine quasi naturwissenschaftliche Deutung: sie dienen als Metaphern für das unmittelbare Verbundensein des Menschen mit dem Natur-Leben.
8.3
Die konkrete Natur und der Mensch
Es war deutlich, dass in den bisherigen Erörterungen der Begriff »Natur« die weltumspannende Natur, alles existierende Sein, die spinozanische Natur des Gesamten bezeichnete. Gordon geht aber auch über diese nicht wirklich greifbare Natur hinaus und wendet sich den Phänomenen, den konkreten Realisierungen und Erscheinungsweisen dieser Welt-Natur in der tatsächlich uns unmittelbar umgebenden, Natur zu, durch die wir schreiten, die wir fühlen, riechen, sehen und vor allem, von der wir uns ernähren. Im Jahre 1920 schrieb Gordon seinen Aufsatz Hilchot Deʽot we-Milḥamot Deʽot (Sittengesetze und Meinungskämpfe), in welchem er deutlich den zweiten Teil von Moses Maimonides Sefer Ha-Maddaʽ (Das Buch der Erkenntnis) aufnimmt, der den Titel Hilchot Deʽot (Sittengesetze) trägt und von der Sittenlehre oder Ethik handelt. In diesem Artikel beklagt Gordon, dass die Mehrheit der Menschen, welche die Wahrnehmungsweise des Erkennens zur Leitschnur ihres Lebens gemacht hätten, zunehmend ein »mechanisches« Leben führten, das Leben nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten führen zu müssen vermeinten und zum andern den Willen zur Macht und Herrschaft als oberste Maxime betrachteten. Es ist diese Lebensgrundlage, so glaubt Gordon, welche die Völker Europas und Asiens in den schrecklichen Weltkrieg stürzten und in eine Situation brachten, aus der nur ein völliger Neuanfang führen könne:138 »Die größeren und mächtigeren Staaten Europas und eines großen Teils von Asien sind zerstört. Man muss alles von neuem beginnen. Man muss sich an die Quelle allen Besitzes und allen Schaffens wenden, an die allererste Quelle, an die Natur. Der Krieg lehrte die Völker eine wichtige Moral, dass jedes Volk sein Leben so einzurichten habe, dass es seine notwendigen Bedürfnisse nicht importieren muss, jedes Volk muss sich vielmehr bemühen, im weit Entscheidungsgrundlage bereitstellt. […] Ein Täter bleibt der Urheber seiner Tat und muss dafür die Konsequenzen tragen, auch wenn sich Entscheidungen Hirnprozessen verdanken, die von genetischen und epigenetischen Prägungen herrühren, die der Täter nicht beeinflussen konnte.« Nach: Süddeutsche Zeitung Nr. 296, Freitag, 23. Dezember 2011, S. 26. 137
Vgl. z.B. Jüdisches Denken Jüdisches Denken, Bd. 1. S. 525. 543. 544; Bd. 2., S. 300. 341.
138
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 312–315.
449. 873. 874. 877; und Bd. 2. Register sub voce: haften.
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268
möglichsten Maße sich von der Natur seines Landes zu ernähren. Dies ist ein klarer Fingerzeig, dass der Weg zur Erneuerung des Lebens die Rückkehr zur Natur ist. […] dies ist der einzige Weg zur Erneuerung der Menschheit, sei es in materieller, in körperlicher oder in geistiger Hinsicht. Der Mensch hat sehr wohl zu erkennen gelernt, die Natur zu kennen, er lernte, sie auszubeuten. Die Erkenntnis (Hakkara) entwickelte sich und tut dies fernerhin, sie entdeckte bis jetzt und fürderhin unendlich viele neue Welten, aber das Leben hat sie nicht erneuert, das Leben hat sie […] eingeschränkt (zimzem). […] Darum muss der Mensch von nun an lernen, die Natur zu leben, sich am Schaffen der Natur zu beteiligen. […] Die Natur und das Leben erfordern einen natürliche Lebensweise, eine lebensbestimmte, nicht eine mechanische.«139 Gordon sieht die Natur als Ganzes durch das Handeln der Menschen beschädigt, was gerade ihn dazu befähigt, diese Natur ganz konkret und lebensnah zu gestalten: »Das Feld, der Garten, der Wald, die Pflanzen, die Tiere, die Natur in der Stadt und im Dorf.«140 Das Verhältnis der Menschen zur Natur, so beklagt Gordon, richtet sich nur an der Wirtschaftlichkeit aus, an der Menge der Ernten an Getreide, Gemüse, Früchten, Bäumen, Fleisch, Häuten, Federn, Arbeitskraft, Ackerfläche, Baugrund für Wohnungen und Fabriken oder auch am ästhetischem Genuss.141 Anstelle dieses landläufigen und weltweiten Umgangs mit der Natur ist es geboten, in eine völlig neue Beziehung zu ihr zu treten, welche alle Lebensbereiche umfassen muss »angefangen von der Kleidung, den Wohnungen, den Werkstätten und Fabriken, den Schulen, den Städten und den Dörfern etc. Sie müssen so eingerichtet werden, dass der Mensch allezeit in die Natur eingesenkt ist – bis hin zum Lebensunterhalt des Menschen, in all seinem Tun und Handeln. All dies muss ein Ausdrucksmittel für diese neue Beziehung sein […] muss die Schönheit der Natur, ihre hohe kosmische Herrlichkeit bereichern und darf sie nicht beschneiden.«142 Es ist der oben schon beschriebene Fehler der »Verkopfung«143 des menschlichen Lebens, die Vorrangstellung der »Erkenntnis« vor dem »Er-leben« die Auffassung, dass die Schöpfungen des menschlichen Geistes weit über dem Leben der Natur stehen, dass die Natürlichkeit der Würde des Menschen nicht ge-
139
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 315–316.
140
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 194.
141
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 194.
142
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 194.
143
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 177. 46
Zionismus
269
nüge. All das ist nur Zeichen der Entfernung oder Entfremdung zwischen Mensch und Natur.144
8.4
Die »Umkehr«
Die für dieses Unterkapitel gewählte Überschrift ist seit der Bibel ein zentraler Begriff der israelitisch-jüdischen Religion. Gordon nimmt diesen Begriff, gelegentlich in seiner späteren rabbinischen Nominalform der Teschuva,145 mehr aber in seiner biblischen Verbalform schuv/schuvu »kehre/t um!« – auf. Er verwendet den Begriff dabei mitsamt seinen religiösen Obertönen, um den Menschen von der Außenseite der Natur wegzurufen, die er mit Wissenschaft, Detaillierung und Kulturtätigkeit für sich erobern will – und im richtigen Maße auch darf und soll –, hin zu der anderen menschlichen Neigung, die Harmonie in der Welt zu erfahren. Es sind die in diesem Zusammenhang von Gordon gewählten Worte aus der biblischen Tradition, die seiner Sprache und seinem Aufruf der Rückkehr zur Natur, der Abkehr von der menschlichen Kultur, von der Verwissenschaftlichung und Verstädterung,146 hin zur Natur und der Arbeit – vor allem in der Natur –, und seinem Denken den religiösen Teint verleihen, und zu der Charakterisierung dieses Denkens als »Religion der Arbeit« führten, eines Begriffes, den Gordon selbst in seinen Texten aber nie verwendete, aber immerhin greift er zu Formulierungen, die diesem sehr nahe kommen. Der Ruf »Kehre um zur Natur!« bedeutet nach Gordon jedoch nicht, dass man all das, was man gelernt und erarbeitet hat, alles Wissen und alle Kultur ablegen müsse, all das nimmt man mit, wie ein verlorener Sohn der nach einer Weltreise nach Hause zurückkehrt. Dieses gesamte angesammelte Gepäck darf man in seine Rückkehr zur Natur mitnehmen, allerdings nur sofern es dort einen Platz hat.147 Fast in prophetischer Heilsdiktion ruft Gordon seinen Lesern zu: »Und du, Mensch, wirst an diesem Tage [deiner Rückkehr zur Natur] deine Augen aufmachen und wirst geradewegs in die Augen der Natur schauen und wirst dort dein Bild erkennen. Und du wirst erkennen, dass du zu dir selbst zurückgekehrt bist, denn als du dich vor der Natur verbargest, hast du dich vor dir selbst verborgen. […] Und du wirst an jenem Tage mit der ganzen Kraft deines Herzens empfinden, wie die Mauern der Häuser in der Stadt – wie auf dem Dorf – auf dich drücken, deine Seele bedrücken. Du wirst das kleinste Hindernis spüren, das 144
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 275. 276.
145
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 204.
146
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 44–46. 49. 50.
147
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 49.
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270
zwischen deiner Seele und der Weite der Welt eine Trennung bildet. Und wenn du dir ein Haus baust, dann achte darauf, dass du nicht Zimmer über Zimmer baust, sondern achte darauf, dass nichts in ihm sein wird, das eine Trennung vor der Weite der Welt bildet, vor dem weltweiten Leben, denn ›wenn du in deinem Hause sitzest, wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst‹,148 allezeit sollst du ganz in dieser Weite sein, in diesem Leben. […] Und du sollst Tora vom Munde der Natur erlernen, die Tora des Bauens und des Schaffens, und du wirst lernen ihr nachzutun, in allem, was du baust und in allem was du schaffst. Und so auf ›all deinen Wegen‹,149 und in deinem ganzen Leben sollst du lernen, ihr Partner im Schöpfungswerk (Maʽase Bereschit) zu sein.«150 Schon durch das mehrfach wiederkehrende »an jenem Tage« (ba-Jom ha-huʼ), welches die »eschatologische« Redeweise der biblischen Propheten kennzeichnete, trägt Gordons Lehre von der Rückkehr zur Natur und der physischen Arbeit einen Geschmack von Erlösung. Außerdem bezeugen die Anklänge an das tägliche Bekenntnis des Schmaʽ Jisraʼel, sowie die Nennung der Natur als »Erschafferin« des Maʽase Bereschit (des Schöpfungswerkes), ein Epitheton, das sonst Gott vorbehalten ist, einen klaren Paradigmenwechsel. Schon zuvor hatte Gordon den täglichen, dem Schöpfergott geltenden, Segen aus dem morgendlichen Jozer-Gebet: »Und in seiner Güte erneuert er jeden Tag beständig das Schöpfungswerk (Maʽase Bereschit)«151 auf die sich täglich erneuernde und neuernde Natur bezogen.152 Des Weiteren sind hier die Anweisungen des Schmaʽ Jisraʼel, die Söhne allezeit die Worte der Tora zu lehren, auf die Tora aus der Natur übertragen. Die Natur ist für Gordon die neue, ewig alte, Tora-Spenderin, auf die der Mensch stets hören muss. Hier ist auch schon das klar gefordert, was man heute eine ökologische Lebensweise bezeichnet, die alle Schaffens- und Lebensbereiche, eingeschlossen die Architektur, umfassen soll. Der Mensch als Partner und letztlich als Teil dieser weltweiten Natur muss sein eigenes Leben deshalb als schöpferisches Tun verstehen, das wie die Gesamtnatur sich in einem nie abreißenden Erneuerungsprozess befindet: »So ist die Schöpfung im menschlichen Leben: Erneuerung und Neuschöpfung der [Er-]Lebens-Wahrnehmung gemäß der Erneuerung des Lebens der
148
Nach dem täglichen Schmaʽ Jisrael Gebet, Dtn 6,7.
149
Nach Dtn 6,7 (Schmaʽ Jisrael).
150
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 50.
151
Z.B. Siddur Sefat ʼEmet, S. 33. Nochmals in dem sogleich folgenden Zitat aus Kitve Gordon,
152
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 49.
Bd. 2, S. 154.
Zionismus
271
Natur. Genauer: Das Schöpfungswerk im menschlichen Leben ist eine Selbsterschaffung des Menschen, eine sich stets erneuernde Schöpfung aus der steten Erneuerung der Natur. Die Natur erneuert in jedem Augenblick das Werk der Schöpfung (Maʽase Bereschit) und wirkt dabei ununterbrochen auf die menschliche Seele. Auch der Mensch kann so leben: Der Körper des Menschen erneuert sich in jedem Augenblick durch den Austausch seiner Materie, so dass er in bestimmter Weise jeden Moment ein neuer Körper ist. […] Aber diese Erschaffung erfordert eine vollkommene Hingabe, eine unablässige Vermischung des Menschen mit der Natur, aller Kräfte seines Körpers und seiner Seele mit allen Kräften der weltweiten Natur. Der Mensch muss gänzlich in die Natur eingesenkt sein, mit allen Atomen seines Körpers und allen Funken seiner Seele. […] Der Mensch muss verstehen, in der Natur nicht nur die Nahrung und das Leben für seinen Körper zu finden, sondern auch die Nahrung und das Leben seiner Seele. Es muss klar sein, dass es keinen anderen Raum für das Leben gibt, weder für das des Körpers noch für das der Seele, außer der Natur.«153 Der traditionell-religiöse Jude, noch mehr der mystisch gestimmte, würde all das, was Gordon hier der Natur zuschreibt, von Gott erwarten: Er ist der Schöpfer, er erneuert täglich die Schöpfung, der Mystiker sucht die Verbindung oder Einswerdung mit Gott, um von dort den lebensspendenden Influx zu erhalten – für Gordon steht an all diesen Stellen die Natur.
9.
Die Bedeutung der Arbeit für das menschliche Leben
9.1
Kontexte für Gordons Arbeitsethos
Um Gordons »Manie« der Arbeit, die häufig als »Religion der Arbeit« bezeichnet wird, an ihren sachgemäßen Ort zu rücken, und als Teil einer zeitgenössischen Debatte erkennen und sachgerechter verstehen zu lassen, ist es wert, einen kurzen Blick auf die biblischen und rabbinischen Positionen sowie auf die zeitgenössischen Debatten zu diesem Thema zu werfen. Aus ihnen erhellt immerhin so viel, dass Gordons Hochschätzung der Arbeit zum einen jüdisch-traditionelle Wurzeln hat, und sich andrerseits mit deren neuen ontologischen Bezügen sehr wohl in die Anschauungen seiner Zeit fügt, wiewohl er dabei ganz eigene Akzente setzt.
153
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 153–154.
Aharon David Gordon
272
9.2
Biblische und rabbinische Positionen
Die Arbeit154 ist nach biblischer und nachheriger rabbinischer Auffassung, trotz des Fluches nach dem Sündenfall (Gen 3,17ff), als ein positiver Teil des menschlichen Lebens, ja als positives Gebot betrachtet worden (Ex 20,9: »sechs Tage sollst Du arbeiten«), mehr noch als eine Form der imitatio dei, wie ja Gott in sechs Tagen die Welt gemacht hat, soll auch der Mensch sechs Tage arbeiten und einen Tag ruhen. Dem gottesfürchtigen Menschen wird im Psalm verheißen, seiner »Hände Arbeit« zu genießen (Ps128,2). Die rabbinische Literatur teilt die Auffassung vom gottgewollten Tun der menschlichen Arbeit, sie besteht darauf, dass man keine Tätigkeit als erniedrigend betrachten solle, primäres Ziel müsse vielmehr sein, von anderen unabhängig zu werden, denn »Groß ist der Hände Arbeit, denn sie ehrt ihren Meister« (Bab. Talmud Nedarim 49b). Angesichts der anderen Tendenz der talmudischen Literatur, das Tora-Studium höher als das Handwerk einzuschätzen und ohne Arbeitsverpflichtung Gott ganz im Studium zu dienen und die Arbeit als notweniges Übel zu betrachten (Mischna Kidduschin 4, 14), haben die rabbinischen Gelehrten bis wenigstens ins Mittelalter die Regel von Rabban Gamlieʼel befolgt, der sagte: »Es ist schön, das Studium der Tora mit einem Handwerk (Derech ʼErez) zu verbinden, denn das Bemühen in beidem lässt die Sünde vergessen. Und jede Toragelehrsamkeit, der kein Handwerk beigesellt ist, wird am Ende untergehen und die Sünde nach sich ziehen.«155 Wegen des Arbeitsverbotes am Schabbat hatten die Rabbinen auch präzise Vorstellungen von dem entwickelt, was Arbeit sei, die schon in der Mischna – vorbereitet in der vorausgehenden Literatur156- in 39 Hauptarbeiten zusammengefasst waren: »Die Hauptarbeiten sind vierzig weniger eine: Säen, Pflügen, Mähen, Garben binden, Dreschen, Worfeln, Klauben, Mahlen, Beuteln, Kneten, Backen, Wolle scheren, Bleichen, Zupfen, Färben, Spinnen, [Fäden an den Kettbaum] anzetteln, zwei Litzen machen, zwei Fäden weben, zwei Fäden aufspalten einen Knoten knüpfen, einen Knoten lösen, zwei Stiche nähen, Reißen um zu Nähen, ein Reh fangen, Schlachten, Schinden, (die Haut) salzen, bearbeiten schaben, zerschneiden, zwei Buchstaben schreiben, Ausmerzen um zwei
154
Zum Folgenden siehe den Artikel »Labor« in der Encyclopaedia Judaica, Bd. 10.
155
Mischna, Avot 2,2.
156
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 164–166.
Zionismus
273
Buchstaben zu schreiben, Bauen, Niederreißen, Löschen, Anzünden, Hämmern, aus einem Gebiet in ein anderes tragen.«157 Aus diesen Hauptarbeiten, welche offensichtlich die gesamte Erwerbs- und Kulturarbeit der Menschen umschreiben möchte, wurden sukzessive Unterarbeiten definiert, um das Wesen von Arbeit präzise zu beschreiben. Natürlich wurden diese Definitionen zuallererst für die Beschreibung des Arbeitsverbotes am Schabbat erarbeitet, aber sie zeigen doch zugleich, dass bei den Rabbinen ein klares Bewusstsein des Phänomens der Arbeit bestand, die die sechs Werktage der Woche erfüllten und erfüllen sollen.158 Der Überblick über diese Arbeiten zeigt, dass das landwirtschaftliche Werk, und die ihm nachfolgenden Veredelungsarbeiten, die der Ernährung des Menschen dienten, den Hauptteil dieser Arbeiten ausmacht. Es ist nun gerade dieser Teil der Tätigkeiten, der während der langen Zeit des Exils den meisten jüdischen Gemeinschaften durch die entsprechenden Auflagen und Gesetze der Gastvölker abhandengekommen waren, was zweifellos zu der gerade auch von Gordon vertretenen Auffassung führte, nämlich dass das Fehlen dieser Arbeiten eines der wesentlichen Defizite des jüdischen Lebens im Exil gewesen sei und in der Gegenwart noch ist. Und Gordon kannte die rabbinische Literatur sehr gut. Es ist allerdings auffällig, dass Gordon in seiner Forderung nach »jüdischer« Arbeit sich nicht auf diese rabbinischen Ausführungen beruft. Hinzu kommt, dass in all diesen rabbinischen Überlegungen, die Arbeit als etwas für das menschliche Leben Selbstverständliches betrachtet, oder, was dem rabbinischen Denken noch mehr entspricht, als Gottes Gebot hingenommen und verstanden wird. Nirgendwo wird in der älteren Literatur allerdings nach dem wesenhaften Zusammenhang von Arbeit und menschlichem Wesen gestellt. Also die Frage, inwiefern die menschliche Arbeit – unabhängig von der Beschaffung des Lebensunterhaltes und unabhängig von deren Bedeutung als Gottes Gebot – eine Beziehung zum menschlichen Bewusstsein oder zum menschlichen Selbstverständnis hat. Und gerade dies ist die Fragestellung, die Gordon mit der Arbeit verbindet.
9.3
Auffassungen im 19. Jahrhundert
Für Gordons neues, im Vergleich zur älteren jüdischen Tradition wesenhafteres, ontologisches, Interesse an der Arbeit darf man deshalb noch nach weiteren
157
Mischna Schabbat 7, 2.
158
Vgl. auch M. Brocke, Arbeit II. Judentum, in: Theologische Realenzyklopädie, hrsg. G. Krause & G. Müller, Berlin-New York 1978, Bd. III, S. 618–622, hier weitere Literatur (auch online).
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Quellen suchen, sei es auch nur nach solchen des allgemeinen europäischen Zeitgeistes. Und da gibt es tatsächlich einige Hinweise. Der Blick auf die Arbeit als einem kulturellen anthropologischen Faktor beginnt in der allgemeinen philosophischen Literatur erst mit dem 17.-18. Jahrhundert. Seit jener Zeit wird das Thema Arbeit in die Systematik der Philosophie aufgenommen. Die Arbeit wird »von der untersten Stufe der Rangordnung menschlicher Tätigkeiten« zu einer »alle menschliche Kultur tragenden und schaffenden Handlungsweise erhoben« (John Locke).159 Jetzt erst findet man Aussagen zur Arbeit, die sie mit dem menschlichen Selbstbewusstsein und der menschlichen Lebenserfüllung in Beziehung setzen. In seinem Buch Von Hegel zu Nietzsche, sagt Karl Löwith über Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770– 1831), der zum Ausgangspunkt der Arbeitsdebatte im 19. Jahrhundert wurde: »Nach ihm ist die Arbeit keine einzelne wirtschaftliche Tätigkeit, im Unterschied etwa zum Müßiggang oder Spiel, sondern die grundlegende Art und Weise, wie der Mensch sein Leben hervorbringt und dabei weltbildend ist.«160 Wo Hegel allerdings noch eine Wertungshierarchie der Arbeit des Bauern, Handwerkers und Kaufmanns erstellt,161 hat der Junghegelianer Arnold Ruge in seiner Darstellung der Geschichte der Philosophie die Arbeit als solche zum Medium der Entfaltung des Weltgeistes gemacht: »Die tatsächliche Geschichte des Geistes und der Befreiung hat diese Schranken aufgelöst und die Arbeit zum allgemeinen Prinzip gemacht. Sie ist eins mit der Bildung, weil sie selbst ihrem Wesen nach bildend ist. ›Wir wissen jetzt, daß keine Arbeit entehrt, daß sie allein die Menschheit fördert und befreit; und Hegel hat selbst […] gezeigt, wie der Sklave durch die Arbeit zum Herrn seines Herrn wird. Um alle Arbeit zu adeln, ist es nur nötig, die Begriffe zu entwickeln und einzusehen, was Arbeit leistet. Sie schafft die Menschheit alle Tage von neuem.‹ Sie ist ein ›sich selbst gebärender Gott‹, der ›den Menschen zum Menschen‹ macht..«162
159
M. Riedel, Arbeit, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. V. H. Krings, H. M. Baumgartner, Ch. Wild, München 1973, Bd. 1, S. 132; M. Honecker, Arbeit VII. 18–20. Jahrhundert, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. III (online); J. Ehmer & E. Saurer, Arbeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, F. Jaeger (Hrsg.), Stuttgart-Weimar 2007, Bd. 1 (online).
160
K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten
161
Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, S. 292.
162
Zit. Nach Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, S. 296, das Zitat aus A. Ruge, Aus früherer Zeit,
Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1950/1964/1969, S. 288.
Berlin 1867, Bd. IV, S. 71.
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Die Arbeit ist demnach nicht mehr etwas, das der Mensch vollführt, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, oder um dem Arbeitsgebot eines Gottes zu gehorchen, die Arbeit ist nun die Essenz des Menschseins selbst, sie ist der »kreative Gott«, der den Menschen erst erschafft. Mit weniger transzendenter bebender Ehrfurcht, dafür mit einer entschiedenen irdischen Immanenzbezogenheit definiert dann auch Karl Marx die Arbeit wie folgt: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur.«163 Dieser Bezug der menschlichen Arbeit zur Natur wird auch bei Gordon eine zentrale Rolle spielen, doch wird bei ihm, anders als bei Marx und weiteren Denkern der Neuzeit, das Herrschaftsverhältnis umgedreht, nicht der Mensch soll die Natur beherrschen und sie gestalten, vielmehr soll der Mensch sich der Natur anheimgeben, in und mit ihr leben – wozu oben schon das Nötige gesagt wurde.164 Abschließend mag man hier an den häufig zitierten Aufruf von Émile Zola (1840–1902) erinnern, der zur beständigen Arbeit aufruft, weil er selbst aus der Arbeit nur Gutes gezogen habe. »Nun, ich habe nur einen Glauben, nur eine Kraft gehabt, – die Arbeit. Die ungeheure Arbeit, die ich mir auferlegt habe, hat mich aufrecht erhalten.«165
163
K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt a.M. 1976 (Berlin
164
Ob Gordons auf die Natur bezogenes Arbeitsideal indessen vom osteuropäischen Hasidismus
1947/1962), Bd. I, S. 192; Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 (1971), S. 4–81. beeinflusst wurde, wie M. Brocke, Arbeit II, in der Theologischen Realenzyklopädie darlegt, muss bezweifelt werden. Es wirkt bei dieser Deutung das Ḥasidismus-Verständnis von Martin Buber nach, der den idealistischen Grundzug des Hasidismus ausblendete und durch eine Immanenz-Zuwendung ersetzte; s. Dazu Jüdisches Denken, Bd. 2. 683–687; K.E. Grözinger, Martin Bubers Chassidismus-Deutung, in: Dialog mit Martin Buber, Frankfurt a.M. 1982, S. 231–256. 165
Zit. Nach A. Rauber, Die Lehren von Victor Hugo, Leo Tolstoi und Emile Zola über die Aufgaben des Lebens 1896, S. 7–8; die Rede Zolas ist danach abgedruckt in der Halbmonatsschrift »Aus fremden Zungen«, 1893, Heft 12.
276
9.4
Aharon David Gordon
Die Bedeutung der Arbeit bei Gordon
Die Frage der Arbeit, forderte von Gordon, dem spiritus rector der zionistischen Arbeiterbewegung Ha-Poʽel ha-Zaʽir (Der junge Arbeiter), eine grundlegende Erklärung, nämlich ob unter Arbeit nur die physische, die Handarbeit, gemeint sei, oder auch die geistige Arbeit mit einbezogen werden könne. Weil dem so war, sah er sich genötigt, sich auch eigens zur Frage der Begründung einer hebräischen Universität im damaligen Palästina zu positionieren.166 Natürlich hatte für ihn, was auch seine Biographie unterstreicht, spätestens nach seiner ʽAlija, also seiner Einwanderung in das Heilige Land, die physische Arbeit absolute Priorität – und nur von ihr, nicht durch seine schriftstellerische Arbeit – wollte er sich ernähren. Dieser Gesichtspunkt spielte auch eine zentrale Rolle bei der Frage der hebräischen oder arabischen Arbeit in den zionistischen Gütern und Betrieben.167 Es war dann in seiner Schrift Der Mensch und die Natur, in der er eine seinem System entsprechende Formel gefunden hatte: »Der Mensch wird mit seinem Intellekt das Verborgene niemals erreichen, aber er wird es gewiss er-leben als ein Moment des Schöpferischen, der höheren Einheit, der höchsten Übereinstimmung. Aber dieses Moment ist nichts Feststehendes, sondern eine Sache des Lebens, das sich von Augenblick zu Augenblick erneuert und verändert, Wahrnehmungen hinzufügt und voranschreitet. Dies ist nichts anderes als die höchste Wahrnehmung, die höchste Beziehung zu allem Einzelnen, zu allem, das einer Beziehung zum Menschen fähig ist. Dies ist nichts als das menschliche Leben von seiner dem weltweiten Leben zugewandten Seite, dies ist – die Religion. Die Arbeit zur Erhaltung des Lebens ist so betrachtet eine Arbeit, ein Dienst der Religion. Der religiöse Dienst ist demnach die Lebens-Arbeit selbst, nur eben von des Lebens kosmischer Seite, das heißt die kosmische Arbeit des Lebens, wahrlich das Schöpferische (Jezira) im Leben. Das ist eine Arbeit des Wahrnehmens von Seiten des Lebens, des unmittelbaren Schöpfens aus der Quelle des weltweiten Seins, so wie die Arbeit des Erkennens (Hakkara) eine Wahrnehmungs-Arbeit von Seiten des Erkennens ist, des Schöpfens aus der der Quelle der offenbaren Natur. In diesem Sinn kann man sagen, dass wenn der Mensch mit einer Arbeit beschäftigt ist, die ihm die Möglichkeit bietet, eine höhere/weitere Wahrnehmung der Pflanzen, der Lebewesen, des Menschen, des weltweiten Alls ohne Vermittlung zu erlangen und aus all diesen ohne Vermittlung die absolute Einheit zu schauen, die höchste Übereinstimmung sowie den Verborgenen Intellekt, der im weltwei-
166
Kitve Gordon, Bd. 1, S. 167–179.
167
Kitve Gordon, Bd. 1, 125–126. 140. 512–513. 200–201.
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277
ten Sein waltet, [eine Arbeit, die ihm die Möglichkeit bietet,] das gleiche Recht des Lebens und des Er-Lebens all dieser zu sehen, eine Arbeit die dazu angetan ist, des Arbeitenden Wesen/Selbstsein (ʽAzmut) auf eine Stufe des Selbstseins zu heben, das aus dem Wesen des weltweiten Alls herrührt, wenn der Mensch eine solche Arbeit verrichtet, verrichtet er ein religiöses Werk, in höherem Maße als derjenige, der mit Furcht und Liebe alle Gebote der traditionellen und überkommenen Religion erfüllt.«168 Mit dieser ausführlichen und vorsichtig voranschreitenden Erklärung hat Gordon den Zwist zwischen intellektueller und physischer Arbeit zwar nicht gänzlich ausgeräumt, aber in seinem Sinne verortet. Die geistige Arbeit ist damit zwar eine für das Leben der Menschen unabdingbare, sein Wissen und seine »Weltbeherrschung« voranbringende Tätigkeit – aber als solche gehört sie eben zu der von Gordon niedriger eingeschätzten Wahrnehmungsweise des Intellektes. Demgegenüber ist die physische Arbeit mit Pflanze und Tier, mit dem konkreten Menschsein und mit der greifbaren Welt das Medium der Er-lebens-Wahrnehmung. Die physische Arbeit mit den Händen verschafft keine diskursiven Wissensbestände, sondern gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich in der Einheit des Seins und mit der Natur zu »er-leben«. Und Gordon scheut sich nicht, dies Religion zu nennen, eben das was im vorangehenden Kapitel zur Religion als die Einheitsschau des Seins beschrieben wurde. Und dass dieses Arbeiten die Religion ist und nicht die Erfüllung der jüdischen Gebote, ist nicht nur ein letzter Affront gegen die Tradition, sondern nichts weniger als die Neudefinition der Religion, die mit dem Innersten und Subjektiven des individuellen Menschen zu tun hat, und für die das Eingehen des Körpers mitsamt dem Geist im Vollzug der Arbeit eines der vornehmsten Medien darstellt. Und diese Arbeit geschieht am besten in der Natur und mit den eigenen Händen, wie Gordon vielfach hervorhebt.169 Eine letzte Verortung der beiden Arbeitsweisen ist die, dass Gordon glaubt, dass die Handarbeit auch das Fundament jeglicher Geistesarbeit bilden müsse, ein fernes seitenverkehrtes Echo des rabbinischen Tora ʽim Derech ʼErez, Tora muss gepaart sein mit normaler Erwerbsarbeit, nur dass für Gordon beider Verbindung viel grundsätzlicher ist, wenn er sagt: »Das Fundament aller Fundamente jeglicher Geistesarbeit ist die wirkliche Arbeit mit den Händen, das heißt das Fundament nicht im wirtschaftlichen Sinne, sondern im moralischen Sinne, im Sinne des Fundamentes der Wahrheit für jeglichen geistigen Bau.«170 Dies ist so, weil die Arbeit ein kosmisches Moment besitzt, »denn sie bindet uns wieder
168
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 122–123.
169
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 201. 204. 220. 261. 318. 365; Bd. 1. S. 143. 174. 176. 200. 261.
170
Kitve Gordon, Bd. 1, S. 176.
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an die Erde, an die Natur, lässt uns wieder am welthaften Leben und Schaffen teilhaben.«171 Dass all dies vom menschlichen Individuum Gesagte mutatis mutandis auch für das nationale Ich, für das Volk Israel gilt, soll im nächsten Kapitel gezeigt werden.
10.
Die Nation und deren Erneuerung
Nachdem als Grundlage des Gordonʼschen Denkens das Individuum und sein Selbstsein und Selbstwerden erkannt ist, stellt sich die dringende Frage, wie er den Spagat zur Hochbewertung der Nation als kollektiver Lebensform und deren Unabdingbarkeit für eben dieses Individuum bewältigt – denn letztlich müssen doch die Interessen des höchst subjektiven Individuums mit denen der nationalen Gemeinschaft in Konflikt geraten, oder zumindest Interessenkollisionen entstehen. Dieses Problem löst Gordon mit dem hier schon hinlänglich bekannten organizistischen Ansatz, den vor allem der ihm wohlbekannte Achad Haam, wie auch schon Moses Hess vorgetragen hatte.172 Gleich Achad Haam konzipiert auch Gordon die Nation als ein kollektives Individuum, als kollektives Ich, das seine Analogie im individuellen Ich besitzt. Wie Letzteres hat auch das Erstere darauf bedacht zu sein, zu sich selbst zu kommen und aus sich selbst zu leben, und wie das individuelle Ich darf auch die Nation nicht die Regeln des menschlichen Zusammenlebens brechen, so dass sie Gefahr läuft, ein menschenhassender Nationalismus zu werden.173 Um einer solchen Gefahr des Nationalismus wie auch nur einer nationalen Beschränkung vorzubeugen, könnte man, so Gordon, wie es auch viele seiner Zeitgenossen forderten, die Nation als gefährliches Hindernis für die Einheit der Menschheit betrachten, weshalb solche Zeitgenossen anstelle der Nationalbestrebungen einen weltweiten Humanismus setzen wollten, dessen Ziel die Schaffung einer einheitlichen Menschheit sei. Solchen Stimmen stellt Gordon die These gegenüber, dass es in dieser Welt kein menschliches Leben außerhalb des Nationalen gebe, noch geben könne: »Wie ist es möglich, dass das Leben der Nation, die einzig mögliche Form menschlichen Lebens, als beschränkt bezeichnet wird, abgegrenzt von der gesamten Menschheit, von der ganzen Welt, – und dass das Leben des Einzelnen, das doch Teil des nationalen Lebens ist, weiter und umfassender sein
171
Kitve Gordon, Bd. 1, S. 224–225.
172
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus IV, 2 und 4.
173
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 282.
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279
sollte, auf die gesamte Menschheit ausgerichtet. Aber es lebt doch kein Mensch in dieser Welt in der Luft, in der abstrakten Menschheit, sondern im Gegenteil: Jeder Mensch lebt innerhalb des Lebens seiner Nation, an jedem Ort und zu jeder Zeit – oder auch innerhalb des Lebens einer anderen Nation – selbst wenn er als Einsiedler in der Wüste lebt (die Sprache, in welcher er denkt, zum Beispiel, wenn man nicht gar die ganze Weise seines geistigen Lebens hinzunehmen muss). Oder ist es denn möglich oder gar wünschenswert, dass die gesamte Menschheit, vom Beginn der Erdkugel bis zu deren Ende, ein einzig gleiches Leben lebte, ein gleichförmiges und eintöniges Leben führt? Bedeutete dies nicht die Verwischung all der unendlichen unterschiedlichen Formen, die Auslöschung der verschiedenartigen tieferen Wesenseigenarten aller Menschen? Ist nicht dies das Licht und Geheimnis des menschlichen Lebens – dass jedes Volk und jeder Einzelne jeden Volkes eine Art Welt für sich ist, eine Art Widerspiegelung und Verkörperung der unendlichen weltweiten Schöpfung, in besonderer Form, in einem speziellen Farbton, in einem besonderen Licht? Ist nicht dies der ganze Zauber und die Herrlichkeit des Ebenbildes Gottes (Zelem ha-ʼElohim) im Menschen. Oder ist etwa, umgekehrt, nicht das Verwischen der Formen, was der Beschränkung (Zimzum) des menschlichen ›Ich‹ gleichkommt – ist nicht gerade dies die Quelle des Hasses und Neides und der Lüge und all dergleichen?«174 In einer Weise, die an den Renaissance-Denker Leone Modena erinnert,175 wird hier die Gottebenbildlichkeit, und damit die Erfüllung des menschlichen Lebens, in der naturhaften Vielfalt der Individuen wie auch der nationalen Individuen gesehen. Nicht die Einheitskultur und Einheitsform der Menschheit kann das Ideal sein, sondern das Zusammenleben in der Vielfalt der selbstbewussten ›Ichs‹. Und, dies ist der weitere wichtige Punkt: Es kann kein individuelles Leben geben, das nicht durch eine Kulturgemeinschaft, durch den alltäglichen Lebenskontext einer menschlichen Gemeinschaft geprägt wäre. Wenn Gordon von einer solchen menschlichen Gemeinschaft spricht, tut er dies in bewusster Abgrenzung gegen eine bloß strukturierte Gesellschaft, wie sie die Sozialisten erstreben oder wie sie in Staaten organisiert wird.176 Die Nation ist mehr. Sie ist die größere Familie. Und so wie die Kleinfamilie das Leben des Kindes vom ersten Tag an bildet, so tut dies die Nation mit den von ihr gelebten geistigen, kulturellen und alltäglichen Gütern. Dies ist die Lebensluft des Individuums, ohne die es nicht leben kann, die sein Sprechen, Denken, Fühlen und Handeln bestimmt, sosehr es sich später auch als Individuum verselbstständigt – um, so Gordons Auffassung, 174
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 282–283.
175
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 99–104.
176
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 176.
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nun seinerseits die Nation zu prägen. Denn es sind die ›Selbst-Seienden‹ Zellen am Körper der Nation, die andererseits wieder deren Wesen ausmachen und formen, gleich den Sängern eines Chors, in dem jeder Einzelne seine individuelle Stimme zum Gesamtklang des Chores beisteuert.177 Es ist indessen nicht nur ein pragmatisches Anliegen, das Gordon mit dem Verweis auf die Omnipräsenz und die Notwendigkeit des Nationalen vorträgt. Für ihn ist das Vorhandensein von Nationen, die zwischen dem Individuum und der gesamten Menschheit ihre Stellung haben, eine unausweichliche Struktur der Natur. Was in der Welt de facto zu sehen ist, dass die Menschheit in Nationen gegliedert ist, erscheint Gordon als naturgegeben.178 Aber nicht nur nach außen hin, auch nach unten zur Natur ist die Nation ein festet Teil der Kette des Lebens und der Natur: »Der Einzelne ist ein Sohn der Nation und die Nation ist die unmittelbare Tochter der Natur, Tochter jenes Horizonts, in welchem die Nation geboren wurde und ihre erste Erziehung genoss. Das gesellschaftliche Leben des Menschen beginnen beim Paar, im Leben der Familie. Aber das eigentliche menschliche Leben, das menschliche Leben mit all seinen menschlichen Beziehungen, mit all der menschlichen Konzentration und dem menschlichen Schaffen, beginnt notwendigerweise in einer mehr oder weniger großen Gesellschaft, nämlich in der Nation, in der großen und vielgliedrigen Familie. Hier entsteht der Mensch recht eigentlich, hier wird er gleichsam zum zweiten Mal gebildet und erschaffen, in psychischer Hinsicht, so wie er in physischer Hinsicht zunächst im Bauch seiner Mutter gebildet und erschaffen wurde; hier ist eine Art Werkstatt für den menschlichen Geist. Hier wurde die Sprache geschaffen, die Begriffe gebildet, ohne die eine menschliche Sprache nicht existiert, wurde das menschliche Denken geformt, das es nicht ohne solche Begriffe und ohne die menschliche Sprache gibt, hier wurde die Religion geschaffen – das umfassende Denken […] die umfassende Beziehung […] die Grundlage der Weltauffassung und Lebenseinstellung. Hier entstanden oder entwickelten sich die menschlichen Gefühle. Die menschlichen Bestrebungen. Das menschliche Schaffen. Von hier kommt die Dichtung, die Moral usw.«179 Zusammenfassend sagt Gordon:
177
Kitve Gordon, Bd. 1, S. 239.
178
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 280.
179
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 280–281.
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281
»Da siehst du, dass der wesentliche Ort des höheren menschlichen Lebens, der höheren Strebungen des Menschen, in der Nation liegt und nicht im Einzelnen […], denn der Einzelne ist das Werk der Hände der Nation und nicht umgekehrt. Denn die Nation ist eine Art vollkommene, eine Art WeltPersönlichkeit, eine Persönlichkeit aus einem bestimmten Horizont, eine Persönlichkeit, die sich in ihrer spezifischen und selbsteigenen Weise entwickeln und wachsen soll, so wie sich das Individuum entwickelt, die [Einzel-]Persönlichkeit, die eine Zelle [im Körper der Nation] darstellt, der Persönlichkeit, die eine Tochter der Nation ist – richtiger: [Nicht wie sich die Individuen entwickeln, sondern] dadurch, dass sich die Individuen entwickeln, die Zell-Persönlichkeiten [der Nation].«180 Auffällig an den soeben angeführten Ausführungen Gordons ist die Tatsache, dass er, wie oben, die Nation zunächst in den Kategorien des Naturzusammenhangs sieht, um dann all das als Funktion der Nation zu beschreiben, was man gemeinhin den Bereich des Geistes, der höheren Menschenkultur und der Persönlichkeitsbildung bezeichnet. Aber dieser anscheinende Widerspruch ist für Gordon in Wirklichkeit keiner. Denn für ihn gehört all dies in einen einzigen Zusammenhang. Auch das höhere Leben des Menschen ist ein Teil des Naturzusammenhangs. Es darf keine Trennung von Körper und Geist geben, beide sind von Natur aus verbunden.181 An einer anderen Stelle zeichnet Gordon den Naturkontext, von dem die Nation nur ein Glied ist, so: »Auch in der Natur der Welt gibt es keine vereinzelten Atome, die sich zu neuen Verbindungen zusammenschließen, sondern nur bestimmte AtomGruppen, in bestimmten Zusammensetzungen. So ist die Ordnung unserer Welt. Alles ist in Atome getrennt, aber alles verbindet sich, verbindet sich und vereint sich zu Molekülen, zu Zellen, zu Gliedern und so fort bis zur höchsten unendlichen Vollkommenheit. Der einzelne Mensch ist, wie jedes lebende Wesen, aus Zellen und Gliedern zusammengesetzt, und er selbst ist nichts anderes als eine Zelle im Körper der Nation, so wie auch die Nation nichts als ein Glied am Körper der Menschheit ist, und die Menschheit selbst, ist nichts als eine Zelle am Körper der belebten Natur, und die belebte Natur ist nichts als ein Glied der Natur des Erdballs. Und der Erdball selbst ist wiederum nichts als eine Zelle im Sonnensystem, das seinerseits nur ein Glied des Kosmos ist, den wir dank unserer Erkenntnis (Hakkara) erkennen, und so
180
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 281.
181
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 108; Bd.1, S. 167. 317.
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weiter. Das Ende – wer kennt es? Das Ende ist im Unendlichen (ʼEn Sof) verborgen.«182 Die Nation ist, wie Gordon dies einmal an anderer Stelle sagt, »aus dem Geist des kosmischen Lebens emaniert«.183 Angesichts einer solchen Einordnung des Individuums wie auch der Nationen ist es verständlich, dass die Rückkehr zur Natur für Gordon auch der einzige Weg zur Selbstwerdung des Individuums – und so auch der gesamten Nation als kollektivem Ich ist.184 Dieser naturbezogene Heils- und Heilungsweg des Individuums wie der Nation brachte zugleich eine ausgeprägte Kultur- und Zivilisationskritik durch Gordon mit sich, die Ablehnung der Städte, ja selbst der Dörfer, all dessen wo Mauern den Kontakt zur Natur behindern, auch Kritik an modischer Kleidung, am Gesellschaftsleben und am kulturellen Schaffen.185 Und wiederum erscheint es als verwunderlich, dass Gordon auf der anderen Seite die Zugehörigkeit des Einzelnen zur Nation ausgerechnet mit den Kategorien des höheren menschlichen Lebens beschreibt, weniger mit den Kategorien der Biologie – die er natürlich nicht ausschließt:186 »Die Nation erschuf die Sprache (das heißt tatsächlich das menschliche Denken), die Religion (das heißt tatsächlich die Weltanschauung, den Ausdruck der Beziehung des Menschen zur Welt), die Moral, die Dichtung, das gesellschaftliche Leben, und in diesem Sinne kann man sagen: Die Nation erschuf den Menschen.«187 Den Gedanken, dass die Nation gleich dem Individuum eine Persönlichkeit ist, oder sein soll, das sich wie das Individuum entwickeln muss, das auch den moralischen Standards einer ethisch hochstehenden Person entsprechen soll, gießt Gordon gelegentlich auch in die neue Formel vom ʽAm ʼAdam (Mensch-Volk). Mit dieser Formel will Gordon sagen, dass so wie ein einzelner Mensch im Sinne der rabbinischen Vorstellung vom Ebenbild Gottes (Zelem ʼElohim) ein moralisch hochstehender Mensch sein soll, so müsse dieses Mensch-Volk gleicher-
182
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 119; vgl. Bd. 1, S. 219.
183
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 176.
184
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 204.
185
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 46. 49. 50. 98. 105. 106. 108. 110. 116.129. 130. 132. 138. 157. 185;
186
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 356. 182.
187
Kitve Gordon, Bd. 1, S. 348; Bd. 2, S. 182.
Bd. 1, S. 175.
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maßen zum Ebenbild Gottes werden, zu einem menschlichen ethisch hochstehenden Volk.188 Abschließend sei an dieser Stelle noch auf eine weitere Äußerung Gordons hingewiesen, in welcher er sagt, dass das Wesen einer Nation und die Unterschiede zwischen den Nationen keine Kategorie der rationalen Erkenntnis, der Hakkara, sei, wo man mit logischen Beweisen weiterkomme, sondern das Wesen von Nationen sei eine Kategorie des Gefühls.189 Damit entzieht Gordon die Beschreibung und Abgrenzung von Nationen dem wissenschaftlichen Diskurs, der ja, wie die Einleitung zu diesem Band über das jüdisch-nationale Denken schon zeigte,190 ohnehin zu keinen einhelligen Auffassungen kam. Dies ist auch der Grund, weshalb, nach Gordons Auffassung, von einer »Wissenschaft des Judentums« in Sachen der Erfassung des Jüdischen Wesens nichts zu erwarten ist.191 Gordon nähert sich hier Achad Haam, der ja für eine solche emotionale Begründung des Nationalen auf den Hamburger Rabbiner Caesar Seligmann verwiesen hatte.192
11.
Die Bedeutung des Landes Israel und der Geschichte für die jüdische Nation
Die im vorigen Abschnitt angeführten Gedanken Gordons ließen schon erkennen, welche Bedeutung das Land Israel für die Selbst-Werdung, ja für die Wiederauferstehung der jüdischen Nation darstellen. Dort war in dem Text Gordons vom Einzelnen als dem Sohn der Nation193 von einem bestimmten Horizont die Rede, in welchem die Nation ihre erste Erziehung erfahren habe. An anderer Stelle wird es klarer ausgesprochen, was dieser Horizont sei. Es ist »ein bestimmter Horizont, oder ein bestimmter Kreis der Natur.«194 Gordon glaubt zum Beispiel, dass die Amerikaner, obwohl ihr Land schon seit vierhundert Jahren besteht, noch nicht wirklich zu einer Nation gewachsen sind – was er für die Zukunft allerdings nicht ausschließt –, weil nämlich die unterschiedliche geographisch-naturbestimmte Herkunft des amerikanischen Staatsvolkes doch noch prägend bleibt, denn:
188
Kitve Gordon Bd. 1, S. 258–262. 224; Bd. 2, S. 316–317.
189
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 221. 225–226. 242.
190
Jüdisches Denken, Bd. 4, Einführung 2.3.
191
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 227.
192
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, IV, 4.
193
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 281.
194
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 355.
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»Die Natur verlässt nicht so leicht die Muster, die sie einmal geprägt hat. Darum kann es dem gesellschaftlichen Leben von Gliedern einer Gesellschaft aus unterschiedlichen Natur-Horizonten nicht so leicht gelingen, ein natürliches Band zu schaffen, wie es zwischen Menschen desselben Natur-Horizontes und desselben Blutes besteht.«195 Der Einfluss des ursprünglichen Mutterbodens der Nation auf deren Angehörige, so meint Gordon, lässt nicht so schnell nach, wie dies das Beispiel der Amerikaner zeigen mag. Noch mehr sieht man dies aber am Volk der Juden, die in ihrem Gefühl und in ihrer Tradition die Beziehung zu ihrem ursprünglichen Mutterland stets wach und durch historische Riten lebendig gehalten haben.196 Für die Normalisierung des jüdischen Lebens, das durch die tatsächliche Entfernung vom eigenen Mutterboden in fast all seinen Lebensäußerungen von den Gastvölkern abhängig wurde und deshalb zu einem Volk von Parasiten geworden sei,197 könne nur eines helfen, nämlich die Rückkehr auf diesen ursprünglichen nationalen Wurzelboden und das neuerliche Verwachsen mit seiner Erde: »Es gibt in der Welt kein Land außer dem Land Israel, in welchem der Jude den Geschmack des Heimatlandes/Geburtslandes schmecken kann, der wahren, natürlichen Heimat. Wir haben uns jedoch von unserem Land entfernt und unser Land wird, solange wir im Exil bleiben, fern von unserem Herzen sein. Aber für den Juden, der eine Seele hat, wird es genügen in das Land Israel zu kommen, dort zu leben, zu arbeiten und zu leiden – die Hauptsache ist, im Land Israel zu arbeiten, in der Natur zu arbeiten und die Natur des Landes Israel zu leben, die Zerstörung des Landes zu leben mitsamt dem Leid dieser Zerstörung und der Gewalt dieser Zerstörung, um zu schmecken und zu fühlen, was Heimatland dem Menschen bedeutet, was ein Heimatland dem Menschen geben kann und was seinerseits der Mensch auf dem Heimatboden zu geben vermag.«198 Es ist dieser Heimatboden, welcher der jüdischen Nation das kosmische Moment zurückgibt, das ihr im Exil ermangelte. Im Exil fehlte dieser Nation die lebendige Verwurzelung und sie konnte sich nur dank des historischen Momentes erhalten, welches allerdings allenfalls eine versteinerte kristalline Form des vergangenen kosmischen Elementes des nationalen Lebens war. Dieses historische Moment hat Israel im Exil zwar erhalten und vor dem Absterben bewahrt, aber es 195
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 356.
196
Kitve Gordon, Bd. 1, S. 395.
197
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 258; Bd. 1, S. 175. 199. 226. 260. 316. 328.
198
Kitve Gordon, Bd. 1, S. 202.
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reichte eben auch nicht zum wirklichen Leben, allenfalls zu einem parasitären Dasein im Materiellen wie im Geiste, sprich zu einer Abhängigkeit von anderen.199 Im Gegensatz zur sonstigen Hochschätzung der Geschichte als dem treibenden Moment im Leben eines Volkes, sieht Gordon in der Geschichte im besten Falle ein Kondensat des wirklichen schöpferischen Lebens. Das, was eine Nation in Wahrheit am Leben erhält, was ihre Schöpferkraft pulsieren lässt, ist das in der Natur zu sich selbst gekommene individuelle Ich, das stets aus dem kosmischen Zusammenhang schöpft und dadurch der Nation Leben schenkt. Demgegenüber gilt Gordon die Geschichte als das schwerfällige beharrende Kondensat früheren Lebens, welches vom Kollektiv getragen wird und insofern auch auf das Individuum wirkt. Die beiden Kräfte, das kosmische und das historische Moment sind also dialektisch Gegensätze, das eine vorantreibend und kreativ, dies ist das kosmische Moment, und das andere beharrend und träge, nämlich das historische Moment. Das schöpferische Moment wirkt aus dem Individuum auf das nationale Kollektiv, während das Beharrende vom nationalen Kollektiv auf das Individuum wirkt. Das nationale Leben gestaltet sich also aus zwei gegenläufigen Kräften, getragen durch die beiden Komponenten des Nationalen, des Individuums und des Kollektivs. Das Individuum mit seiner kosmischen Verankerung lebt in der Präsenz und treibt das Leben der Nation voran, während das Kollektiv mit seiner historischen Verankerung dem Individuum ein beharrendes Element aufzwingt. Das Kollektiv verwirklicht sich demnach in seinem Beharren in der Zeit, sprich in der zeitlich abgelaufenen Historie, während das Individuum sich in seinem Vorandrängen im Kosmischen und das heißt im Raum verwirklicht. Das historische Leben der Nation ist zeitgebunden, während das kosmische Leben – wie das der Pflanze – ortsgebunden ist. Das beharrende historische Moment versteht Gordon als die Ausbreitung/Erfüllung (Hitpaschtut) des nationalen Lebens in der (vergangenen) Zeit, hingegen das Leben der Nation in der jeweiligen Gegenwart als die Ausbreitung/Erfüllung des nationalen Lebens im Raum: »Das kosmische [raumbezogene] Moment und das [zeitbezogene] historische Moment sind von unterschiedlicher Natur und sie wirken verschieden. Das kosmische Moment, das Fundament des Werdens, des Lebens und Schaffens, ist zwingend, denn die Arbeit der Religion – das heißt die Arbeit des Lebens von seiner kosmischen Seite […] erneuert sich und schafft Neues zu jeder Zeit und in jeder Stunde, als das wirkliche Wesen der Nation. Will sagen: Hätte sich die Nation erneuert, hätte die Nation in der Natur gelebt, dann hätte sie die Natur mehr und mehr gelebt, hätte Leben aus dem Quell 199
Kitve Gordon, Bd. 1, S. 239. 263.
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Aharon David Gordon
des Seins geschöpft, so wie die Erkenntnis (Hakkara) ihr Wissen aus dem Quell der offenbaren Phänomene der Natur schöpft. Jedoch das historische Moment – das Historische in dem Sinne wie es während der gesamten Historizität der Nation besteht – dieses historische Moment, das Fundament des Seins, der Beständigkeit und des Bestandes, dieses bleibt stets fest und beständig und verharrt in der Form, die es zu Anfang angenommen hat. Das kosmische Element hingegen ist der Teil des Einzelnen, der Teil des individuellen ›Ich‹ am kollektiven, am nationalen, ›Ich‹. Hingegen ist das historische Moment der Teil der Vielen, der Teil des kollektiven, nationalen, ›Ich‹ am individuellen ›Ich‹. Ohne Kollektiv gibt es keine Geschichte im vollen Sinne. Und stets ist das Kollektiv, sind die Vielen, mehr beharrend, schwerfälliger, konservativer als das Individuum.«200 Individuum und nationales Kollektiv sind hier in einer paarigen Begriffsreihe mit einander verwoben: Zum Individuum gehört das kosmische Moment, dieses ist das räumliche und das Moment des Werdens und Schaffens. Demgegenüber eignet dem nationalen Kollektiv das historische Moment, dieses ist das zeitliche und das Moment der Beständigkeit. Aus dieser Rollenverteilung wird auch verständlich, weshalb nach Gordons Auffassung die Juden, solange sie sich nur auf die Geschichte stützten, der Versteinerung und Stagnation anheimfallen mussten, während alleine die Verankerung im Raum, das heißt, die Zuwendung der Individuen der Nation zur nationalen Erde und Natur, eine Neubelebung schaffen kann. Das »Leben« dieser Nation kommt aus der kosmischen, natur- und landverbundenen, Kreativität seiner einzelnen Glieder, das »jüdische Leben« des Einzelnen rührt von der historischen Verbundenheit des Kollektivs. Allerdings darf dieses historische Element nicht durch ein Beharren auf einer vergangenen Tradition eingeengt werden, sondern muss für eine stete Verwandlung dieses Kollektivs durch seine Glieder offen sein. In dieser Dialektik von Individuum und Kollektiv im Rahmen der Nation scheint Gordon deren kosmisches Gewicht zuweilen unterschiedlich zu bewerten. Manches Mal ist es die Nation als Ganzes, welche eine kosmischhierarchische Valenz besitzt, und das andere Mal wird diese kosmische Valenz mehr durch die kosmische Verankerung des Individuums gewährleistet. Dieses Schwanken ließ sich offenbar bei Texten, die zu unterschiedlichen Zeiten und für unterschiedliche Zielsetzungen entstanden sind wohl nie ganz vermeiden.
200
Kitve Gordon, Bd. 2, S. 123–124. Im Original besteht dieser Text aus einem Abschnitt. Die Gliederung und Hervorhebungen stammen von mir, KEG.
VI. DER APOKALYPTISCH-MESSIANISCH-DEMOKRATISCHE ANSATZ JEHUDA BEN SALOMON ALKALAI (1798–1878) 1.
Biographisches
Jehuda Alkalai (1798–1878) ist im damals bosnisch-osmanischen Sarajevo geboren.1 Von 1828 bis 1874 war Alkalai zunächst Kinderlehrer und dann Rabbiner im serbischen, zur österreichischen Monarchie gehörigen, Semlin (Zemun)2 bei Belgrad, danach zog er, im hohen Alter von 76 Jahren, vier Jahre vor seinem Tod, nach Jerusalem. Er gehörte dem sefardischen Judentum an und schrieb daher seine erste Schrift, Kuntris Darke No‘am (Belgrad 1839), ein HebräischLehr- und Textbuch für Schulkinder, in Ladino,3 dem spanisch-jüdischen Pendant zum deutsch-jüdischen Jiddisch. Seine weiteren hebräisch geschriebenen Werke, breit angelegte Midrasch-Texte, sowie kürzere aber gleichfalls vom rabbinischen Midraschstil geprägte »Propagandaschriften«, in denen Alkalai seine »zionistischen« Ziele verbreitete, hatte er in einem tief vom Geist des traditionell-rabbinischen und insbesondere kabbalistischen Gedankenguts geprägten Hebräisch verfasst.4 1
Die in der Literatur verbreitete Auffassung, Alkalai habe seine Jugend in Jerusalem verbracht, ist historisch nirgends belegbar, s. G. Lebel, Ḥole ʼAhavat Jeruschalajim, R. Jehuda Alkalai – ha-Reka‘ ha-politi we-ha-kehillati le-Fo‘alo, in: Pe‘amim 40, 1989, S. 21 (auch im Internetauftritt der Universität Tel Aviv).
2
Heute ein Stadtteil von Belgrad.
3
Dass auch das zweite Buch Schelom Jeruschalajim (Ofen 1840) in Ladino geschrieben sei,
4
Die gesammelten Schriften liegen in folgender Ausgabe vor: R. Jizchak, Kitve ha-Rav Jehuda
wird häufig behauptet. Alkalai (2 Bde.), Jerusalem 1974; eine durch A. Ben Zvi digitalisierte Auswahl davon findet sich online unter: https://jalkalai.files.wordpress.com/. Ich zitiere hier nach den im Internet bei Hebrewbooks.org abrufbaren Originalausgaben: Sefer Minḥat Jehuda (Preßburg 1843); Kol Mevasser, Leipzig 1852; Goral la-H’ [Adonaj], Amsterdam 18582 (zuerst Wien 1857); Sefer Hajjim, Belgrad 1856 (zuerst Belgrad 1851); Sefer Me‘oded ‘Anawim, Wien 1864; Sefer Ragle Mevasser, Belgrad 1865. Weitere Schriften: Sefer Kol Kore, o.O. 1848; Petaḥ ka-Ḥudah schel Maḥat, Belgrad 1849; Mevasser Tov. Harbinger of Good Tidings, London 1852; Mekize Nirdamim, Belgrad 1858; Maschmia‘ Schalom, o.O. 1861; Schma‘ Jisra’el, Belgrad 1861; Schivat Zijon, Wien 1868; Kibbuz Galujot, Belgrad 1869; Menaḥem Zijon, o.O. 1870. Eine Auswahl-Liste der vielen Zeitungsartikel findet man bei Lebel, Ḥole ʼAhavat Jeruschalajim, S. 45; weitere Literatur zu Alkalai: A. Ben-Ja‘akov, Ha-Rav Jehuda Alkalai – Mevasser haZijonut, Jerusalem 1967; J. Gur-Arje, Ha-Rav J.H. Alkalai, Tel-Aviv 1929; A.M. Habermann, Kitrug ‘al ha-Rav Alkalai be-Fi ha-Orthodoxim be-Aschkenas, Meḥkere Erez Jisrael, Vol. 4–5, Jerusalem 1955; J. Katz, Meschiḥijut u-Le’umijut be-Mischnato schel ha-Rav Jehuda Alkalai, in: Schivat Zijon – Ma’asaf le-Ḥeker ha-Zijonut u-Tekumat Jisra’el, 4, Jerusalem 1955–56;
Jehuda Alkalai
288
Anlass seiner mit dem Jahr 1839/40 aufbrechenden protozionistischen Aktivitäten waren zum einen die ganz Europa aufwühlenden Ritualmordvorwürfe gegen die Juden in Damaskus und wohl vor allem, wie Joni Lebel überzeugend darlegt,5 das unmittelbare Schicksal der Juden im damals unabhängig gewordenen Serbien und in Rumänien, deren Notschreie bis zu den bedeutenden europäischen Großmächten drangen. Das entscheidende Movens für Alkalais Denken war jedoch der Anbruch des hebräischen Jahres 5600 (Herbst 1839), das, wie unten noch deutlicher werden wird, ein epochenwendendes Datum in den apokalyptisch geprägten Messiaserwartungen des traditionell religiös denkenden Judentums ist.6 Alkalais Aktivitäten beschränkten sich jedoch nicht auf seine über zwanzig Bücher und Propagandaschriften sowie unzählige Artikel in der hebräischen Presse.7 Im Jahre 1851 brach er zu einer ausgedehnten Werbekampagne durch Europa auf, die ihn nach Bukarest, Temeschwar, Wien, Leipzig, Berlin, Amsterdam und London führte. Eine zweite Reise brachte ihn 1857 wiederum nach London, wo er die bei seinem ersten Besuch von ihm gegründete aber alsbald wieder aufgelöste »Gesellschaft zur Besiedlung von Erez Jisrael« erneut, aber ohne Erfolg ein weiteres Mal zu errichten suchte. 1871 unternahm er eine etwa dreimonatige Reise ins Heilige Land, weil er glaubte, eine zielführende Arbeit zur Besiedlung des Landes Israel durch die Juden müsse dort eine Basis haben. Seine begeisternden Reden an mehreren Orten Palästinas führten zur dortigen Gründung der Gesellschaft »Alle Israeliten sind Genossen zur Besiedlung des Landes Israel«. Diese Reise nach Palästina war wohl auch das Resultat seiner Unzufriedenheit mit der 1860 gegründeten Pariser Alliance Israélite Universelle, deren Aktivitäten in Sachen Kolonisierung Palästinas ihm zu kleinteilig erschienen waren.8 Die Alliance, unter der Leitung von Adolphe Crémieux,9 fand auch ders., Mischnato ha-le’umit schel Rav Jehuda Alkalaj, in: ders. Jewish Nationalism, S. 308– 356; Z. Loker, Le Rabin Juda ben Salomon Hay Alcalay, in: REJ 1-3, Paris 1985; J. Nissenboim, Rabbi Jehuda Alkalai, ha-Dat we-ha-Teḥija ha-le’umit, Warschau 1920; G. Kressel, Rabbi Jehuda Alkalai – Rabbi Zwi Hirsch Kalischer, Tel-Aviv 1943; A. Stajner, Jehuda Ḥaj Alkalai, in: Jevreski almanah, Beograd 1968–1970, S. 55–66; Th. Rahe, Frühzionismus und Judentum. Untersuchungen zur Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897, Frankfurt a.M. et al. 1988, S. 114–126. 5
Ḥole Ahava.
6
Zu diesem Jahr und seine Deutungen, darunter durch J. Alkalai, s. I. Bartal, Messianism and Nationalism: Liberal optimism vs. Orthodox anxiety, in: Jewish History 20, 1 (2006), S. 5–17; auch im Internet: http://pluto.huji.ac.il/~bartal/pdf/Israel Bartal.
7
Er schrieb für den Ha-Maggid, den Ha-Levanon, und die Ḥavazelet.
8
S. L. Zitron, Rabbi Jehuda Alkalai, Internet: benyehuda.org/zitron/alkalay.html (Hebr.); s. auch die Encyclopaedia Judaica, das hebräische Internet-Lexikon le-Tarbut Jisrael jeweils zu Alkalai und Kalischer; David Koliv, The Jewish State in the Teachings of Rabbi Kalischer and Rabbi Alkalai, in: Redemption and State (Hebräisch), Jerusalem 1979.
Zionismus
289
keine Möglichkeit zur Hilfe für die serbisch-jüdische Gemeinde von Schabatz, deren Bewohner den täglichen Verfolgungen durch eine Ausreise ins Heilige Land zu entkommen suchten. Die Hilfsgesuche an die Alliance wurden in einer gemeinschaftlichen Aktion von Zwi Hirsch Kalischer,10 Nathan Friedland11 und Alkalai letztlich vergeblich vorgetragen und entsprechende Taten eingefordert.12 Aber auch die in Palästina gegründete »Gesellschaft« fiel dem Widerstand des »alten Jischuv«, das heißt den von den Spendengeldern der Diaspora (Ḥalukka) lebenden, damals ganz dem Studium der Tora hingegebenen, Juden Palästinas, zum Opfer, die durch die neue »Zionsliebe« ihr Einkommenssystem bedroht sahen und auch Kritik an den säkularen Lebensformen vieler Anhänger der »Ḥibbat Zion« übten.13
2.
Der apokalyptisch-messianische Motivationsgrund
Jehuda Alkalai war mit seinem theologischen wie geschichtlichen Denken zunächst vollkommen in den rabbinischen und kabbalistischen Denkstrukturen verwurzelt, wenn er sie auch mit einem neuen Auslegungsparadigma14 flankierte. Ich gebrauche bewusst den Ausdruck »flankieren«, weil Alkalai die rabbinischkabbalistischen Deutehorizonte seiner Textauslegung nicht ersetzte, sondern nur sehr behutsam durch politisch-nationale Schlussfolgerungen ergänzte. Es ist diese Form der Verbindung von Altem und Neuem, die ihn zu einem der wesentlichen Vorväter des religiösen Zionismus werden lassen konnte. Die Grundlage von Alkalais »zionistischem« Denken waren die apokalyptischen Diskussionen im Babylonischen Talmud (Sanhedrin 97a-99a) wie sie hier 9
Adolphe Isaac Crémieux, geb. in Nîmes (1796–1880), jüdischer Rechtsanwalt, der sich gegen die Diskriminierung jüdischer Bürger einsetzte; in Paris war er Mitglied des allgemeinen Consistoriums. Er reiste zusammen mit Moses Montefiore und Salomon Munk nach Damaskus, um die dort des Ritualmordes beschuldigten Juden zu befreien, wie er sich ab 1866 für die Juden in Marokko, Rumänien und Russland einsetzte. 1848 und später wieder war er Justizminister. 1864 wurde er Präsident der Alliance Israélite Universelle.
10
Zu ihm s. Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, I, 7.
11
Nathan Friedland (1808–1883) war Rabbiner und protozionistischer Vorkämpfer, der unabhängig von Alkalai ähnliche Vorstellungen über zwei Phasen der Erlösung entwickelte und in seinen Büchern Kos Jeschu‘a u-Neḥama (Becher der Erlösung und Tröstung, 1859) und Josef Ḥen (Er möge die Huld mehren, 1879) publizierte.
12
Dazu Lebel, Ḥole Ahava.
13
Siehe bei Zitron, Alkalai.
14
Ein Auslegungsparadigma nenne ich den philosophischen Deutehorizont, der das inhaltliche Verständnis des auszulegenden Textes steuert, sei es die altrabbinische Ethik, die Philosophie oder die Kabbala des Mittelalters, vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 226; ausführlicher unten, Jüdisches Denken Bd. 4, Zionismus, VI, 3.
290
Jehuda Alkalai
im ersten Band schon skizziert wurden.15 Der für Alkalai ausschlaggebende talmudische Satz war der: »In der Schule des Elijahu wurde gelehrt: Sechstausend Jahre wird die Welt bestehen, zweitausend Jahre Tohu [wabohu], zweitausend Jahre der Tora und zweitausend Jahre der messianischen Zeit.«16 Es ist dieser klare apokalyptische Zeitplan, der Alkalai zum Handeln in Schrift, Wort und Aktion trieb. Als Alkalai sein erstes Buch, Darke No‘am, herausgab, in dessen Einleitung er schon seine messianischen Gedanken formulierte, war nach diesem sechstausenjährigen Kalender gerade das Jahr 5.600 angebrochen, nämlich zu Rosch ha-Schana im Herbst 1839. Das Jahr 600 des sechsten Jahrtausends ist das in fast allen Schriften Alkalais wiederkehrende Motivationssignal, denn es errechnet sich aus der ebenfalls im Talmud17 von Rabbi Dosa genannten Dauer der messianischen Zeit von 400 Jahren, bevor dann im siebten Jahrtausend der Weltensabbat mit der Auferstehung der Toten beginnt. In der frühen rabbinischen Literatur gab es nun, wie auch aus den Darstellungen hier im ersten Band erhellt, eine terminologische Unausgeglichenheit ob der sogenannte ‘Olam haba, das heißt die kommende Welt, erst mit der göttlichen Neuschöpfung und der Auferstehung – also im siebenten Jahrtausend – beginnt oder schon mit der messianischen Zeit. Jehuda Alkalai nützt diese schwankende Diktion, um nach einem Vorgang der mittelalterlichen jüdisch-französischen Talmudkommentatoren18 beide Zeiten bewusst als ‘Olam ha-ba zu bezeichnen, allerdings mit der Schlussfolgerung, dass es zwei sehr klar zu unterscheidende »kommende Welten« gebe, eine für die Seelen – das siebente Jahrtausend – und eine für die Körper – die vierhundert Jahre der messianischen Zeit im sechsten Jahrtausend.19 Diese Verdoppelung altrabbinischer Begriffe wird, wie weiter unten noch deutlich werden soll, zu einer Schlüsseltechnik Alkalais, um sein neues »zionistisches« Denken in die altrabbinischen Denkvorstellungen einzuzeichnen. Doch zunächst zu einer der zentralen Darlegungen dieses Sachverhaltes durch Alkalai in seinem umfänglichsten Werk, dem Sefer Ḥajjim. Alkalai stellt darin die »gegenwärtige Welt« mit ihren Leiden den beiden »kommenden Welten« gegenüber, von denen die eine für den Körper – das ist die messianische Zeit – die andere für die Seele – das ist das siebente Jahrtausend – zu erwarten sind:
15 16 17
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 288–298. Babylonischer Talmud, Sanhedrim 97a. Babylonischer Talmud, Sanhedrin 99a; s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 295.
18
Tosafot zu Bab. Talmud, Ketubbot 112b.
19
Vgl. Kol Mevasser, S. 6; Goral la-H’, S. 2b.
Zionismus
291
»In dieser gegenwärtigen Welt (‘Olam ha-seh) hat man Not, die Weintrauben zu lesen und zu keltern. In der kommenden Welt aber bringt man eine einzige Traubenrispe in einem Wagen daher oder in einem Schiff und man legt sie in die Ecke des Hauses und man hat genug davon […] dies wird in jenen acht Jubiläen (8x50=400 Jahren) der kommenden Welt sein. Aber im siebten Jahrtausend, welches die Welt der Seelen ist, wird es weder Essen noch Trinken geben […] Entsprechend kommentieren die Tosafot20 zu den Worten der Gemara ›Das Geschlecht, in welchem der Davidssohn kommt‹: ›Das ist es, was sie bezüglich der Segnungen des ‘Olam ha-ba lehren, das heißt bezüglich der Tage des Messias, und hier greift der Text der Gemara zur selben Formulierung.‹ Und die Tage des Messias dauern 400 Jahre, wie es im Kapitel Ḥelek des Talmud heißt: R. Dosa sagte: Vierhundert Jahre währt die messianische Zeit; denn hier heißt es: ›man wird sie knechten und hart bedrücken vierhundert Jahre lang‹ (Gen 15,13), und dort heißt es: ›erfreue uns so viele Tage als du uns gedemütigt hast‹ (Ps 90, 15). Diese [vierhundert Jahre] werden gezählt und beginnen vom Jahr 600 [das heißt Herbst 1839] bis zum siebten Jahrtausend, denn: ›Sechs Tausend Jahre währt die Welt‹ und das siebte Jahrtausend ist ein heiliger Schabbat für den Herrn. Und die messianische Zeit, die 400 Jahre, sind eine Zugabe vom Profanen zum Heiligen, darum werden auch sie ›kommende Welt‹ genannt. Sie sind eine Geschenkesgabe für unseren Vater Abraham wegen des Verdienstes für die Beschneidung. Darum hat Gott Abrams Namen bei der Beschneidung den Buchstaben Heh ( )הhinzugefügt,21 so dass er nun Abraham hieß, dessen Zahlwert RMḤ ( = רמח248) beträgt, um ihm kundzutun, dass sein Geschenk das Land des Lebens sein wird und zwar nach dem Ende von RMḤ, d.h. [ausgeschrieben] R’ Maḥsore Ḥamma ()ר' מחזורי חמה, zweihundert Sonnenzyklen.«22 Um mit dem Ende dieser Ausführung Alkalais zu beginnen: Ganz im Stil der rabbinisch-kabbalistischen Auslegungsweise wird aus dem dank der Beschneidung erweiterten Abrahamsnamen mit Hilfe der Gematria der Zahlwert 248 errechnet, der durch die Zahlbuchstaben RMḤ dargestellt wird. Diese Zahl wird sodann als sogenanntes Notarikon (Akronym) gedeutet als R (=200) Maḥsorim (Zyklen) der Ḥamma (der Sonne). Und da bei der hebräischen Interkalation mit Sonnenzyklen von 28 Jahren gerechnet wird, sind 200 Sonnenzyklen 5.600 Jah20
In Bab. Talmud, Ketubbot 112b.
21
Gen 17, 5.
22
Alkalai, Sefer Ḥajjim, c. 1, S. 4b.
292
Jehuda Alkalai
re. Also nach 5.600 Weltjahren wird Abraham, beziehungsweise seinen Kindern, das Land des Lebens, das heißt das Land Israel der messianischen Zeit, geschenkt und zwar für die besagten 400 Jahre, die wiederum dem vierhundertjährigen Exil der Israeliten in Ägypten entsprechen. Die Bedeutsamkeit des Jahres 600 im sechsten Weltjahrtausend, das mit dem Neujahr (Rosch ha-Schana), also im Herbst 1839 der allgemeinen Zeitrechnung, begann, wurde von Alkalai vollkommen im Rahmen des religiös-messianischen Diskurses erarbeitet. Alkalais Triebfeder, auch für die modernen Konsequenzziehungen ist demnach nicht in erster Linie das nationalistische Denken Europas, sondern der religiöse Messianismus des Judentums. Es ist die apokalyptische Uhr, welche die Juden aufrütteln muss. Aber an dieser Stelle gab es nun noch ein traditionelles Problem, gegen welches Alkalai noch zu kämpfen hatte, nämlich die von der Mehrheit der religiös-orthodoxen Juden vertretene Meinung, dass die Herbeiführung dieser Wende ganz in der Hand des Himmels liege. Allerdings gibt es dabei noch eine kleine Pforte für die menschliche Beteiligung, die rabbinisch sanktioniert ist, nämlich die Buße, die menschliche Umkehr zu Gott, von der es schon in der altrabbinischen Literatur heißt, dass sie die Erlösung beschleunigt.23 Und es ist diese Pforte, die sich Alkalai für seine moderne »zionistische« Deutung zunutze macht. Dafür bedarf es aber einer neuen Deutung des Begriffes Teschuva (Umkehr). Sie nimmt Alkalai im Rahmen einer ganzen Reihe von Neudeutungen vor, die sein Denken grundlegend prägten. Er ordnet nämlich eine Vielzahl von Begriffen, die in der rabbinischen Literatur, wie schon oben der Begriff des ‘Olam ha-ba, unpräzise oder mehrdeutig verwendet wurden, konsequent in ein zweipoliges Raster ein, nach dem es von all diesen Begriffen jeweils zwei streng voneinander zu unterscheidende Bedeutungen gibt, was im Folgenden zu erörtern sein wird.
3.
Die Duplizierung rabbinischer Konzepte als zionistisches Programm
3.1
Die Methode der Traditionsreduplikation
Um seine neuen Konzepte in das rabbinisch-kabbalistische Denken einzutragen, bediente sich Alkalai durchgehend einer Methode, mit deren Hilfe er das traditionelle rabbinische Bild von der Erlösung Israels beibehalten und zugleich sein neues revolutionäres Konzept einfügen konnte. Er tat dies, indem er die zentralen Begriffe duplizierte und wo solche Duplizitäten schon angelegt waren, diese epochisierte. Letzteres zeigte sich bereits bei dem Begriff des ‘Olam ha-ba, der, wie gesagt, in der Tradition zweideutig war. Hier hat Alkalai die Zweideutigkeit 23
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 293–296.
Zionismus
293
dadurch aufgehoben, dass er die Zweideutigkeit begrifflich differenzierte, in eine kommende Welt der Körper (die Messiaszeit) und eine kommende Welt der Seelen (das siebte Jahrtausend), die er nunmehr als zwei zeitlich aufeinanderfolgende Epochen erklärte.24 Programmatisch formuliert er dies so: »Alles was die Weisen über die künftige Erlösung sagten, ist weder unausgeglichen noch widersprüchlich und es besteht diesbezüglich keinerlei Meinungsverschiedenheit. Denn wo immer sie von Wundern und Mirakeln sprachen, betraf dies die Erlösung durch […] den Messias Ben David und wo immer sie einfach von Ereignissen sprachen, die nach dem natürlichen Verlauf der Welt geschehen, betraf dies die […] Erlösung durch den Messias Ben Josef.«25 Wie in dem angeführten Text schon angezeigt, werden als nächstem Schritt die beiden in der rabbinischen Tradition schon genannten Messiasse, der Messias Ben Josef,26 und der Messias Ben David, als zwei notwendige, aufeinander folgende, kategorial verschiedene Stufen der Erlösung definiert. In dieser Neudefinition wird der Messias Ben Josef, der nach der rabbinischen Tradition im Kampf gegen Gog und Magog fallen wird, bei Alkalai aus seiner bisher eher nicht recht greifbaren, fast passiven, Vorläuferrolle herausgenommen und zu einer sehr konkreten notwendigen und überaus aktiven Gestalt umgedeutet.27 Paradigmatisch ist wiederum die nächste Duplizierung. In der rabbinischen Literatur gab es seit der talmudischen Zeit eine Debatte darüber, ob bei der Ankunft des Messias große Wunder geschehen oder ob dies ein eher natürlicher Vorgang sei, wie dies dann vor allem nachdrücklich Maimonides betonte.28 Alkalai meint, es gebe beides, eine natürliche Erlösung und eine übernatürliche, wobei zuerst die natürliche erfolgen müsse, der dann erst die wunderhafte, übernatürliche folge. Erstere sei jene Erlösung, die mit dem Messias Ben Josef erfolge, während der davidische Messias hernach unter wunderbaren Erscheinungen auftrete.29 Diese beiden Phasen der Erlösung verbindet Alkalai mit dem altrabbinischen und dann auch kabbalistischen Konzept von Gottes Weisen des Gerichtes und des Erbarmens (Middat ha-Din und Middat ha-Raḥamim), wodurch die
24
Außer der schon besprochenen Stelle aus Sefer Ḥajjim z.B. nochmals in Kol Mevasser, S. 6;
25
Sefer Ḥajjim, Sukkat Schalom, S. 10.
26
Zu ihm s. z.B. Jüdisches Denken, Bd. 1. S. 400, u. unten.
Goral le-H’, S. 3a.
27
S. z. B. Sefer Ḥajjim, Sukkat Schalom, S. 10; Sef. Ḥajjim, S. 12a; Goral la-H’, S. 3a.
28
S. Jüdisches Denken, Bd. 1. S. 291.479–480.
29
Vgl. Sefer Ḥajjim, Sukkat Schalom, S. 11; Sefer Ḥajjim, S. 1b. 2b. 12b. 17b; Goral la-H’, S. 4b; Minḥat Jehuda, S. 19b.
Jehuda Alkalai
294
neukonzipierte Zweiphasigkeit der Erlösung gleichsam ihre metaphysische Verankerung erhält.30 Aber nicht nur die eschatologisch-historischen Begriffe werden von Alkalai dupliziert, sondern auch die mit ihnen dialektisch verwobenen anthropologischen Konzepte. So spricht Alkalai von individuellen (prati) Sünden und kollektiven (klali) Sünden.31 Der Sünde zugeordnet, als Mittel ihrer Überwindung, ist der alte Begriff der Teschuva, das heißt der Umkehr oder Buße. Auch sie wird entsprechend der Sünde dupliziert in eine individuelle und eine kollektive / allgemeine Umkehr.32 Ebenso wird die Heil schaffende Zedaka, also Gerechtigkeitsübung in Form der milden Gaben oder des Almosens, in eine individuelle und kollektive aufgespalten.33 Schließlich werden auch Heilsgüter, wie die beiden kommenden Welten, dupliziert beziehungsweise alte umstrittene Positionen systematisiert und damit der alte Widerstreit aufgelöst. Da ist vor allem der endzeitliche Tempel zu nennen, von dem strittig war, wer ihn bauen werde, Gott oder die Menschen, oder ob er gar vom Himmel herabsteige. Nach Alkalais duplizierender Interpretation werden die Menschen einen steinernen Tempel bauen, dessen »Seele« sich sodann in Gestalt des himmlischen Tempels in diesen hineinsenkt.34 Schließlich sei noch der Friede genannt, den Alkalai gleichfalls einen Schalom klali, etwa »gesamtisraelitischen Frieden«, nennt, der mit der kollektiven Umkehr und dem Zusammenschluss der Juden in einem gesamtisraelitischen Führungsgremium verbunden ist.35 Alkalai hat demnach mit diesen Duplizierungen eine hermeneutische Technik gefunden, welche ihm den Weg zu einem komplementären hermeneutischen Paradigma eröffnete,36 nämlich die Umdeutung der biblischen und rabbinischen 30
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 222–223. 237. 239. 241. 245. 285–286. 370; Bd. 2, S. 137. 158.
31
Z.B. Sefer Ḥajjim, S. 6a.
32
Sefer Ḥajjim, Sukkat Schalom, S. 9; Sefer Ḥajjim, S. 11a.
33
Sefer Ḥajjim, S. 19a; Goral la-H’, S. 7a.
162. 170. 240. 629.
34
Kol Mevasser, S. 8; Goral la-H’, S. 5b.
35
Sefer Ḥajjim, S. 19a; Goral la-H’, S. 8b.
36
Zu diesen beiden hermeneutischen Begriffen, der Technik und des Paradigma, s. K. E. Grözinger, Jüdische Schriftauslegung, in: Schrift Sinne. Exegese, Interpretation, Dekonstruction, hrsg. im Auftrag der Guardini Stiftung von Paolo Chiarini u. Hans Dieter Zimmermann, Berlin 1994 (Dreieck Verlag des Forum Guardini), S. 11–36; ders, Die hermeneutischen Paradigmata hasidischer Tora-Deutung. Prinzipien der Innovation, in: Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, W. Stegmaier (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2000, S. 188–207; u. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 226. Die »Technik« hierbei ist das formale exegetische Verfahren, die Auslegungsregel, wie sie schon von den antiken Rabbinen formuliert wurden (vgl. H. L. Strack – G. Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, 7. Auflage, München 1982, S. 25–40), mit-
Zionismus
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Texte zu einem historisch-konkreten und Israels Aktivität erfordernden Erlösungsprogramm, dessen zentrales Gebot die politisch organisierte Rückkehr der Juden ins Heilige Land darstellt. Wie dies im Einzelnen konkretisiert wird, soll im Folgenden weiter verfolgt werden.
3.2
Zwei Weisen der Erlösung – natürlich und übernatürlich
Wie schon kurz vermerkt, nimmt Alkalai die lange kontroverse innerrabinische Debatte um das Wesen der messianischen Erlösung auf, nach welcher die einen an ein wunderbares Eingreifen vom Himmel her glaubten, während die anderen den Eintritt der Messiasherrschaft als ganz natürliches geschichtliches Ereignis erwarteten, bei dem nichts »über Nacht« geschieht, sondern alles im vollen Licht des alltäglichen politischen Lebens, bei welch Letzterem man sich – wie dies Maimonides paradigmatisch darlegt37 – am besten abwartend verhält, ob ein Messiasprätendent Erfolge vorweisen kann und den in ihn zu erwartenden Ansprüchen entspricht. Hat er Erfolg, ist er der Messias, wenn nicht, dann war er ein Pseudomessias. Alkalai löst diese innerrabbinische Meinungsverschiedenheit auf, indem er die beiden Konzepte, beide Erlösungsformen, hintereinander reiht, wobei er zuerst einen natürlichen Ablauf der messianischen Erlösung erwartet, dem dann, nach dessen Abschluss, gleichsam als Krönung, erst ein Auftreten des Messias unter Wundern folgt. Und natürlich kommt Alkalai hierbei die überkommene Doppelung der Messiasgestalten zupass, indem er dem Messias Ben Josef die natürliche Erlösung zuschreibt, der den Anfang der Erlösung – ’Atchalta di-Ge’ulla – herbeiführt und vollbringt, während erst anschließend der Messias Ben David erscheint und nur noch die letzten, weniger bedeutenden Handgriffe erledigen muss. Ganz rabbinischer Gelehrter, begründet Alkalai diese seine neue Konzeption von der Doppelerlösung mit einem Midrasch zum biblischen Text: » [Der Prophet Jesaja ruft] zwei Mal ›tröstet‹, nämlich: ›Tröstet, tröstet mein Volk‹ (Jes 40,1). Das heißt, Israel wird zwei Erlösungen empfangen, die Erlösung aus Ägypten, die über der Natur geschah mit Wundern und Zeichen, und die Erlösung aus Babylon auf natürliche Weise mittels des Perserkönigs Kyros, wie geschrieben steht: ›Und der König gewährte ihm alles, was er begehrte, da die Hand des Herrn, seines Gottes, über ihm war (Esra 7, 6). So wird auch die zukünftige Erlösung ein zweifaches ›tröstet‹ sein, in der enttels derer einem Wort eine neue Deutung gegeben wird. Das »Paradigma« ist der theologische oder philosophische Deutehorizont, also der denkerische Gesamtkontext, die Theologie oder Philosophie, in welchen die Deutung hineingestellt wird. 37
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 479–480.
Jehuda Alkalai
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sprechenden Weise. Zuerst die Erlösung durch den Messias Ben Josef auf ganz natürliche Weise, in der Weise irdischer Könige. Und der Abschluss der Erlösung wird durch den Messias Ben David geschehen, durch Wunder und übernatürliche Mirakel.«38 Die natürliche Erlösung durch den Messias Ben Josef wird im Folgenden noch ausführlich zu betrachten sein, denn sie weist im Denken Alkalais eine Besonderheit auf, welche der allgemeinen rabbinischen Auffassung geradezu ins Gesicht schlägt, wie Alkalai in der soeben angeführten Schrift, nur wenige Seiten weiter, erläutert. Alkalai vergleicht dort nämlich diese Natürlichkeit der ersten Erlösung mit einem Sämann, der nur dann eine Frucht ernten kann, wenn er zuvor etwas auf dem Feld aussät.39 Mit anderen Worten, die Natürlichkeit der ersten Erlösung beruht zunächst darin, dass Israel, im Gegensatz zur landläufigen rabbinischen Meinung, selbst die Initiative ergreifen muss und Schritte zu unternehmen hat, welche die natürliche Erlösung in Gang setzen werden. Denn die Sache des Messias Ben Josef, so Alkalai, »hängt alleine von uns ab.«,40 wofür er auch die kabbalistische Vorstellung heranzieht, dass die Erweckung von Oben, das heißt von der Gottheit her, erst durch die Erweckung von Unten, das heißt durch den Menschen ausgelöst wird.41 Des Weiteren wird diese erste Phase der Erlösung nicht auf einmal schlagartig hereinbrechen, sondern sich in kleinen Schritten vollziehen, mit fast kaum wahrnehmbaren unscheinbaren Anfängen. Dies muss auch darum so geschehen, weil es Israel laut dem Talmud verboten war »wie eine Mauer« als Gesamtkollektiv ins Heilige Land einzuwandern, nicht verboten war laut dem Talmud hingegen die Einwanderung Einzelner oder kleinerer Gruppen. 42
3.3
Zwei Messiasse
3.3.1 Der neue Messias Ben Josef Der Messias Ben Josef hatte in der jüdischen Tradition bisher eine eher unklare Rolle zu spielen, bei deren Beschreibung man eine Verlegenheit der Autoren zu spüren glaubt, wie diese eigentlich farblose messianische Gestalt einzuordnen sei. Der Messias Ben Josef, oder auch Messias Ben Ephraim, erscheint in den traditionellen Beschreibungen als eine Gestalt, die offenbar dem aus der altorien38
Alkalai, Goral la-H’, S. 4b.
39
Goral la-H’, S. 6b-7a.
40
Minḥat Jehuda, S. 19b.
41
Sefer Ḥajjim, c. 5, S. 20b; zu diesem Konzept s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 563. 601.
42
Minḥat Jehuda, S. 19a; Sefer Ḥajjim, c. 7, S. 43a; Babylonischer Talmud, Ketubbot 111a.
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talisch »judäischen« Dynastie (Südreich Jehuda, Stämme Juda und Benjamin) erwarteten messianischen Erlöser (Messias Ben David) ein entsprechendes »israelitisches« (Nordreich Israel, die übrigen zehn Stämme) Pendant an die Seite stellen soll (Messias Ben Josef), um das gesamte biblische Israel, in die Erlösung einzubeziehen. Moritz Zobel sagt in seiner noch immer lesenswerten Studie Gottes Gesalbter – Der Messias und die messianische Zeit in Talmud und Midrasch über ihn: »Schon im Zeitalter der Tannaiten, etwa im 2. Jahrhundert, taucht in der jüdischen Traditionsliteratur die Gestalt eines zweiten Messias auf, der gewissermaßen als Vorläufer des Erlösers aus dem davidischen Königsgeschlechte (Maschiach ben Dawid) gedacht ist und die Bezeichnung ›Messias, der Sohn Josefs‹ trägt. In späteren Schriftwerken wird er auch ›der Sohn Efrajims‹ […] genannt. Die Überlieferung läßt diesen aus dem Stamme Josefs hervorgehenden zweiten Messias in den Kämpfen gegen Gog und Magog fallen. Erst nach seinem Tode und der endgültigen Niederwerfung der feindlichen Heerscharen soll der Messias aus dem Geschlechte Davids, der eigentliche Erlöser Israels und der Menschheit, erscheinen.«43 Bei Alkalai werden die Rollen der beiden Messiasse, zumindest was ihre Bedeutsamkeit anbelangt, vollkommen vertauscht. Entscheidender wird für ihn die Aufgabe des Messias Ben Josef, die für den Beginn der Erlösung absolut ausschlaggebend ist. Die Aktivitäten dieses Messias sind für das Ingangkommen der messianischen Ereignisse zentral und unverzichtbar. Demgegenüber wird die Rolle des davidischen Messias auf die letzten vierzig Jahre des sechsten Jahrtausends beschränkt, wenn eigentlich schon alles Nötige vollbracht ist.44 Die Mission des Messias Ben Josef gehört, dies wurde aus dem bisher Gesagten schon deutlich, der »natürlichen Erlösung« an, die sich ausschließlich im Raum der Geschichte, nach dem natürlichen Geschehensablauf irdisch-menschlicher Ereignisse, vollzieht, und, was noch viel wichtiger ist, vorrangig in den Aufgabenbereich der Menschen fällt, insbesondere, aber nicht nur, der Juden – oder mit Alkalai – Israels, da er die Bezeichnung »Juden« in diesen Zusammenhängen geflissentlich vermeidet. Vor der näheren Beschreibung der Gestalt des neuen Messias Ben Josef soll zunächst Alkalai selbst mit der grundsätzlichen Neudefinition dieses Messias Ben Josef und seines Verhältnisses zum davidischen Messias zu Wort kommen. In der folgenden grundsätzlichen Neubeschreibung des Aufgabenfeldes des Mes-
43
Berlin 1938, S. 51.
44
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 295.
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sias Ben Josef sichert Alkalai zugleich die Zugehörigkeit der beiden zu den oben schon beschriebenen beiden »Kommenden Welten« ab: »Die beiden Kommenden Welten werden uns durch zwei Messiasse zuteil. Die Kommende Welt der ›Messiaszeit‹ werden wir durch den Messias Ben Josef erlangen, der die Israeliten zur Ruhe in ihr Erbteil zurückführt. So sagt dies auch der Verfasser des Buches Gewürz des Händlers45 […]: ›Bevor der Messias Ben David auftritt, kommt der Messias Ben Josef und sammelt die [jüdischen] Exile ein‹. Er wird das Haus unseres Lebens [den Tempel] errichten und seine Ruinen wieder erbauen. Er wird die [jüdische] Besiedelung des Landes Israel betreiben, so dass es dort Bauern, Winzer, Pflüger und Hirten geben wird, wie dies der Prophet Jeremia verkündete (Jer 31). Zunächst nur in kleinen Zahlen aber dann voranschreitend mehr […], bis wir schließlich ganz oben angekommen sein werden ›und Fremdstämmige eure Herden hüten und Äcker und Weinberge bebauen, ihr selbst aber Priester des Herrn genannt werdet, Diener unseres Gottes‹, wie Jesaja sagte (Jes 61, 5–6).«46 Jedem Leser, dem die traditionelle messianische Topik vertraut ist, wird sofort erkennen, dass hier die wichtigsten Erwartungen, die einst an den davidischen Messias geknüpft waren, auf den Messias Ben Josef übertragen wurden. Er bringt die Juden aus dem Exil in das ersehnte Heilige Land zurück und sorgt für die Einrichtung einer funktionierenden Wirtschaft dank derer die Rückgekehrten sich selbst ernähren können. Um seinen Lesern diese unerwartete Neujustierung der messianischen Ereignisse plausibel zu machen, verweist Alkalai auf den biblischen Erzvater Josef, den Gott nach Ägypten vorausgeschickt habe, um dort für seine später nachfolgenden Brüder und Familien die Lebensgrundlage vorzubereiten. Dieser biblische Vorläufer der Erlösung aus Ägypten, der auf der menschlichen Ebene das Erlösungswerk vorbereitete, ist im Rahmen des typologischen Geschichtsdenkens von Alkalai die hinreichende Begründung dafür, dass der neuerliche Vorbereiter auf menschlicher Ebene »Ben Josef« heißt:47 »Darum heißt der erste Erlöser Messias Ben Josef, weil er Josef gleicht. Die Größe Josefs bestand unter der Hand des Pharao, so wird auch die Größe des Messias Ben Josef unter der Hand der Größe unseres Herrn [des Sultans], seine Majestät sei erhoben […], bestehen. Und so wie Gott den Josef seinen 45
Dies ist ein sinngemäßes Zitat aus Machir Ben Jizchaks ʼAvkat Rokhel, Ed. Warschau 1876,
46
Goral la-H’, S. 3a.
47
Goral la-H’, S. 3a.
S. 13, Ed. Mantua 1557, S. 10b; Ed. Lublin 1927, S. 13.
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Brüdern vorausgeschickt hatte zur Schaffung einer Lebensgrundlage, so sendet er den Messias Ben Josef zur Schaffung der Lebensgrundlagen (Miḥja) und um über die Ernährung unserer Brüder, der Israeliten, zu wachen und sie zu beaufsichtigen, um für sie Arbeit und Berufsmöglichkeiten zu schaffen, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können und nicht mehr der Schmach der Hungersnot vor den Völkern ausgeliefert sind.«48 Alkalai verbindet mit dem Namen »Josef« noch eine weitere Konnotation, indem er die hebräische Wortwurzel jasaf ()יסף, das heißt »fortfahren, hinzufügen« mit der Wurzel ’asaf ()אסף, »einsammeln« zusammenbringt. Daraus leitet er die Gleichung »Josef bedeutet ’Asefa (Versammlung)« ab wie auch, dass mit dieser Versammlung die »Einsammlung« Israels beginnt.49 Stellt man nun die Frage, wer dieser »Messias Ben Josef« im Denken Alkalais sei, so lautet die erstaunliche Antwort: Der »Messias Ben Josef« ist eine von den Juden im Exil, einzuberufende Versammlung von 71 Ältesten und Notabeln.50 Diese Versammlung, welche die Juden weltweit repräsentieren und eine Art jüdische Regierung darstellen soll,51 wird die politischen Interessen der rückkehrwilligen Juden gegenüber den Königen dieser Welt vertreten und noch eine Reihe weiterer die Rückkehr vorbereitender Maßnahmen ergreifen. Mit den Worten Alkalais: »Diese anerkannte Versammlung (ha-’Asefa ha-me’uscheret) ist der Messias Ben Josef, auf den wir warten. […] Darum werden diese Tage die Tage des Messias genannt.«52 Hinsichtlich der Bestimmung des Messias Ben Josef ist bei Alkalai allerdings ein gewisses Schwanken zu beobachten. Während er in dem soeben angeführten Passus aus der Frühschrift Minḥat Jehuda den Messias Ben Josef mit dem gewählten Corpus der Ältesten Israels identifiziert, schwenkt er in der Schrift von 1857 (Goral la-H’) auf eine etwas traditionellere Linie ein und lässt nicht die gesamte von der Diaspora einzuberufenden Versammlung den Messias Ben Josef
48
Sefer Ḥajjim, c. 7, S. 43a.
49
Minḥat Jehuda, S. 18a; 18b; Goral la-H’, S. 3a.
50
Die Zahl 71 wird Minḥat Jehuda, S. 17a genannt; sie entspricht der Zahl der Mitglieder des antiken Synhedrium, siehe Mischna Sanhedrin 1, 6; u. E. Schürer, Rev. Edn., G. Vermes, F. Millar, M. Black, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.-A.D. 135), Edinburgh 1979, Vol. II, S. 208. 210.
51
Vgl. Minḥat Jehuda, S. 16a.
52
Minḥat Jehuda, S. 17a; nochmals ebenda, S. 22b; ebda. Mismor le-Toda, S. 4.
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sein, sondern nur die von dieser Versammlung zu wählende Person, welche ihr vorstehen wird: »Der Messias Ben Josef wird von den Ältesten Israels ernannt werden, wie es beim Propheten Hosea (c. 2) heißt: ›Und die Judäer und Israeliten sollen sich wie eins versammeln und ein Haupt über sich setzen […]‹ Und das Targum Jonathan übersetzte dies so: ›Sie sollen sich ein Haupt erwählen aus dem Hause David und sollen aus den Ländern ihres Exils [ins Heilige Land] hinaufziehen‹. Das bedeutet: Der Heilige, Er sei gesegnet, gebe seinen Geist auf diese gewählte Versammlung. Dann kann es sein, dass das Haupt, das sie über sich setzen, aus dem Hause Davids stammt. Und dieses Haupt wird der Messias Ben Josef sein. […] Und er wird Messias Ben Josef genannt, weil er von dieser gewählten Versammlung gesalbt wird, welche aus den Großen Israels, die in Europa wohnen, kommen.«53 Diese Fokussierung der Versammlung auf eine Person, die nunmehr der Messias Ben Josef ist, erklärt sich gewiss aus Alkalais Hoffnung, dass einer der großen und einflussreichen Juden der »freien Länder« Europas, »welche die Macht haben in den Palästen der Könige aufzutreten«,54 Männer wie Adolphe Crémieux, Moses Montefiore55 oder die Rothschilds, von der zu ernennenden Versammlung beauftragt werden, das Erlösungswerk anzuführen. Im Goral la-H’ ruft er deshalb aus: »Warum schweigt Ihr, Edle Herren Israels, schweigt, zur Hilfe Gottes zu eilen unter den Helden der Welt, der Männer mit Namen, Erhabener Senjor Montefiori, sein Licht möge leuchten, der Fürst und Erhabene, Senior Baron Rothschild, sein Licht leuchte, der wunderbare Weise seines Volkes, Senior Albert Kohn,56 sein Licht leuchte, drei Fürsten Israels, die zum Zeichen und Banner über die Kinder Zions gesetzt sind, die mit Reichtum und Vermögen von Gott Beschenkten. Dies ist ein Zeichen, dass Gott Euch erwählte, unsere
53
Goral la-H’, S. 3a-b.
54
Goral la-H’, S. 8b.
55
Sir Moses Montefiore (1784–1885), London, Börsenmakler. Seit 1827, nach seiner ersten Palästinareise, observant. Er versuchte die wirtschaftliche jüdische Infrastruktur in Palästina zu fördern und wurde 1846 wegen seiner humanitären Aktivitäten geadelt. Seit der Damaskusaffäre (1840) setzte er seine Beziehungen zum Hof für die Sache der Juden nicht nur in Syrien und Palästina, ebenso in Russland, Marokko und Rumänien ein.
56
Albert Kohn, bereiste als Repräsentant des Pariser Hauses Rothschild 1854 die Türkei und schlug dem Sultan Abdul-Medschid Lösungen für die Judenfrage in der Türkei vor, vgl. S. Dubnow, Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. I, Berlin 1920, S. 493.
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teure Mutter aus dem Staub aufzurichten, um den Völkern zu zeigen, dass Zion schwach war und doch ihre Kinder gebar […]«57 Ganz gezielt bringt Alkalai nunmehr die Genannten mit dem alten messianischen Belegtext in Verbindung, »Ein Stern aus Jakob wird auftreten und ein Stab aus Israel« (Num 24,17). Dies auch, weil sich Crémieux und Montefiore schon zur Rettung der Juden aus der 1840 erhobenen Damaszener Ritualmordbeschuldigung zusammentaten,58 was Alkalai als Zeichen der beginnenden Erlösung wertete.59 Alkalai hat, so kann man zusammenfassend sagen, die in der Tradition eigentlich noch nicht wirklich »besetzte« Funktion eines Messias Ben Josef, der laut der Tradition dem davidischen Messias vorangeht, genutzt, um hier eine völlig neue aktivistische Position und Aufgabe für die im Exil lebenden Juden zu schaffen. Der Beginn der Erlösung, deren Epoche mit dem Jahr 5.600 (Herbst 1839) begann, muss nach Alkalai von den Juden selbst in die Hand genommen werden. Sie bestimmen den Anfang der Erlösung (’Atḥalta di-Ge’ulla),60 indem sie sich zusammentun und eine politische Vertretung aller Juden wählen, die nach der neuen Deutung Alkalais der verheißene Messias Ben Josef ist, oder, nach einer leicht veränderten Auffassung, das dieser jüdischen Versammlung vorstehende und von ihr gewählte politische Haupt. Diese politische Vertretung der Juden hat die Aufgabe, von den europäischen und vorderorientalischen Königen die Erlaubnis zur Rückführung und Ansiedlung der Juden im Heiligen Land zu erbitten,61 was diese, da sie gutwillige Könige seien, gewiss erlauben werden. Mit dieser aktivistischen Erlösungskomponente hat Alkalai mit einer über Jahrhunderte als »Dogma« gepflegten jüdischen Auffassung gebrochen, nach welcher die Juden im Exil zur Passivität verurteilt seien, bis die Ankunft des Messias gnädig vom Himmel herbeigeführt werde. Dies ist eine Auffassung, die von vielen orthodoxen Zeitgenossen Alkalais gerade angesichts so vieler verfehlter messianischer Aufbrüche als festes Dogma verteidigt wurde und bis heute noch von der Orthodoxie und insbesondere von den sogenannten ultraorthodoxen Neture Karta im Jerusalemer Me’ah Sche‘arim oder in Bne Brak vertreten wird, wiewohl sich in weiten orthodoxen Kreisen die Formel von der ’Atḥalta diGeʼulla, dem »Anfang der Erlösung« zur Rechtfertigung des zionistischen Unternehmens, bis hinein in die Liturgie durchgesetzt hat.
57
Goral la-H’, S. 10a.
58
Vgl. Minḥat Jehuda, S. 8b. 10b; Ragle Mevasser, S. 9b.
59
Minḥat Jehuda, Mismor le-Toda, S. 7; Goral la-H’, S. 6a.
60
Vgl. z. B. Goral la-H’, S. 3b.
61
Sefer Ḥajjim, S. 16b; Goral la-H’, S. 3b.4b; Kol Mevasser, S. 3; Minḥat Jehuda, Mismor leToda, S. 4.
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3.3.2 Die Könige der Völker als »Retter« All die Aktivitäten der Juden, die Einberufung einer gesamtjüdischen Repräsentanz und die Ernennung eines Hauptes, kann natürlich,62 wie Alkalai mehrfach betont, nur mit der Zustimmung der großen Könige Europas und des osmanischen Reiches geschehen,63 denen er folglich gleicherweise eine wichtige Rolle bei dem bevorstehenden Erlösungswerk zuschreibt. Sie sind es laut dem folgenden Text, die den Messias Ben Josef ernennen:64 »Sie [die Israeliten] sollen Gnade von den Königen der Erde erbitten, dass sie ein einziges Haupt über uns setzen, damit die Gemeinde des Herrn nicht mehr wie eine Herde ohne Hirte sei. Und der Heilige, Er sei gesegnet, wird das Herz der Könige der Erde neigen, ihre Bitte zu erfüllen und zu verwirklichen. So wie es die Tora verheißen hat ›und ihr werdet von dort [dem Ort eures Exils] den Herrn, Euern Gott suchen und ihr werdet ihn finden‹ (Dtn 4, 29). Und sie werden ein Haupt über uns setzen, das ist der Messias Ben Josef.«65 Alkalai ist überzeugt, dass infolge der Emanzipation das Ansehen der Juden in einem Maße gewachsen und ihnen dank Gottes Gnade die Möglichkeit geschenkt sei, auch die Machthaber dieser Welt für Israels Anliegen zu gewinnen, was in früheren Zeiten kaum möglich gewesen wäre. Es ist nun also geboten, die Könige der Welt um die Erlaubnis zu bitten, die Rückkehr der Juden ins Heilige Land zu gestatten, denn: »Die Könige unserer Zeit sind huldvoll und erbarmungsreich, so dass sie Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit lieben. Und der wunderbar Handelnde [Gott] hat uns in wundervoller Weise seine Huld und Güte zuteilwerden lassen und hat den großen Männern aus Israel Größe, Ehre und Wohlgefallen bei den Königen der Erde verschafft.«66 Es soll nach Auffassung Alkalais jedoch nicht nur bei der Erlaubnis der Völkerkönige bleiben, die Rückkehr der Juden nach Palästina zuzulassen, sondern ihnen werden noch weitere »Rettungstaten« zugeschrieben. Alkalai kann sogar sagen, »Die Erlösung Israels wird durch die Könige der Erde geschehen. [Denn Gott] wird die Erlösung durch Menschen herbeiführen, wie er schon die Erret62
Sefer Ḥajjim, S. 28a; Goral la-H’, S. 4b; Kol Mevasser, S. 3.
63
Goral la-H’, S. 4a; Kol Mevasser, S. 3.
64
Goral la-H’, S. 4b.3b; Sefer Ḥajjim, S. 2a.
65
Kol Mevasser, S. 3.
66
Sefer Ḥajjim, S. 16b; Goral la-H’, S. 4a.
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tung aus dem Babylonischen Exil durch Kyros bewerkstelligt hatte.67 So wird Er auch die künftige Erlösung Israels durch die Könige der Völker verursachen, indem er ihren Geist erweckt, Israel zu entlassen.«68 Die Könige, welche Israel dereinst helfen werden, können nach dem Vorgang von Kyros, der in der Bibel sogar Messias genannt wurde, auch Retter (Moschi‘im) geheißen werden.69 Alkalai, der Kabbalist, glaubt sogar, dass die Völker durch die Hilfe für Israel ihren eigenen Tikkun,70 das heißt die Wiedergutmachung für ihre Sünden, die sie durch die Vertreibungen Israels auf sich geladen haben, erlangen können. Darum werden die aus Britannien Vertriebenen als erste zurückkehren, denn »Sie waren die Ersten, die Israel zerstreuten. Die erste Vertreibung im sechsten Jahrtausend geschah durch sie im Jahr 5055 [das ist 129571]. Darum werden sie [die aus Britannien Vertriebenen] auch die Ersten aus dem Hause Josefs sein, die eingesammelt und an ihren Ursprungsort gebracht werden.«72 Noch mehr, die Völker werden auch den Tempel wieder errichten,73 wobei wiederum das Königreich Britannien das erste sein wird. Alkalai scheut sich nicht die Namen der Herrscher zu nennen, von denen er Hilfe für Israel erwartet, den Sultan Abdulla, der als erster die Israeliten zur Rückkehr aufrufen soll, und den er sogar einmal als »Messias des Herrn« bezeichnet,74 ebenso die englische Königin Viktoria,75 auch den Österreicher Franz Josef.76 Aus alledem kann man erkennen, dass Alkalai es verstand, die politischen Realitäten, das herrschende Machtgefüge in Europa im Sinne der apokalyptischen »Deutung der Zeiten« in die alten messianischen Vorstellungen einzuzeichnen und diese somit auf eine aktuelle Basis zu stellen, eine Basis, so könnte man sagen, welche sich zunächst in modernen politischen Kategorien darstellt, mit deren Hilfe die alten apokalyptisch-messianischen Konzepte gedeutet werden. Dies zeigt sich ein weiteres Mal darin, dass Alkalai die Erlösung mit den alten biblischen und rabbinischen Texten aus dem Norden erwartet, die für ihn nun die jüdischen Exile im Norden Europas sind:
67
Kol Mevasser, S. 3.
68
Goral la-H’, S. 4a; Kol Mevasser, S. 3.
69
Goral la-H’, S. 4a-b; Kol Mevasser, S. 3.
70
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 2. S. 109. 456. 515–516. 598. 650–655. 660–663. 669. 741.
71
Die Ausweisung aus England wurde schon im Jahre 1290 verfügt, s. F. Battenberg, Das euro-
72
Kol Mevasser, S. 5; Sefer Ḥajjim, S. 18a.
päische Zeitalter der Juden, Darmstadt 1990, Bd. 1, S. 80. 73
Kol Mevasser, S. 8; Goral la-H’, S. 5a.
74
Kol Mevasser, S. 12.16; vgl Goral la-H’, S. 9b.
75
Kol Mevasser, S. 16.
76
Kol Mevasser, S. 16.
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»›Wache auf, Norden und komme nach Süden‹ (Cant 4, 16), bis die Exile erwachen, die sich im Norden befinden, das heißt, der Teil Europas, welcher der Norden der Welt ist.«77 »Bevor unser Messias Ben David erscheint, wird der Messias Ben Josef kommen und die Exile einsammeln. Er wird den Tempel aufbauen, wie es im Midrasch Bemidbar Rabba, Parascha 13, heißt: ›Wache auf Norden und komme nach Süden‹, bis der Messiaskönig aufwacht, der sich im Norden befindet und kommen wird, um den Tempel zu erbauen, der sich im Süden befindet.«78 Alkalai denkt bei seinen Erörterungen auch an eine im Zusammenhang mit der Wiedererrichtung des Tempels brennende Frage, nämlich ob es denn vor einer wunderhaften Erlösung vom Himmel her überhaupt eine Priesterschaft gebe, die all jenes nötige Wissen für den Opferdienst und die Ausstattung des Tempels besitzt und noch mehr die Stufe der Reinheit hat, die eigentlich erst bei Vorhandensein der Asche der roten Kuh und des Tempels erlangt werden kann.79 Alkalai meint demgegenüber, dass von den Israeliten nur der Anfang des Handelns erwartet wird und die anderen Fragen wie die nach einem kompetenten Priester sich sehr wohl ergeben würden.80
3.3.3 Der Messias Ben David In der messianischen Zeit ab dem Jahr 5.600 (d.h. Herbst 1839), so sagten es die bislang angeführten Texte Alkalais, wird das Wesentliche der erhofften Erlösung geschehen. Die Juden werden Schritt für Schritt ins Heilige Land zurückkehren, die wirtschaftlichen Grundlagen für ein glückliches Leben der Juden werden dort gelegt und auch der Tempel wird, eventuell unter Mithilfe der Völker, wieder errichtet werden. Was, so wird man fragen, kann da noch die Aufgabe des Messias Ben David sein? Zunächst, der Zeitpunkt seines Kommens und die Zeit seiner Herrschaft werden denkbar spät und kurz sein. Er wird nach Alkalais Fahrplan erst 40 Jahre vor dem siebten Jahrtausend, also 5.960, sprich im Herbst des Jahres 2199 der allgemeinen Zeitrechnung erscheinen. Die vom Messias Ben David in der Traditionsliteratur verheißene Einsammlung der Exile wird sich nach all dem von Alkalai prognostizierten Geschehen nur noch auf jene Juden beziehen, die nicht schon früher dem Ruf zur Rückkehr (Teschuva) gefolgt sind und in
77
Kol Mevasser, S. 1.
78
Kol Mevasser, S. 3.
79
Siehe Numeri 19; Mischna und Talmud Traktat Para.
80
Minḥat Jehuda, § 37, S. 20b.
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305
sündhaftem Starrsinn im Exil geblieben waren.81 »Diese Einsammlung der Exile ist nur noch für die Frevler Israels, die Sünder und Widerspenstigen, die dem Gott Israels nicht die Ehre gaben, das Joch der Himmelsherrschaft auf sich zu nehmen, um sich in Seinem Schatten zu bergen.«82 Dann, wenn auch diese Restlichen eingesammelt sind, wird die Auferstehung der Toten, zu Beginn des siebten Jahrtausends, stattfinden.83 Dies sagt Alkalai einmal unter Hinweis auf eine alte tannaitische Tradition und den Sohar84: »R. Eli‘eser sagt: Vierzig Jahre vor dem siebten Jahrtausend, nach der Erbauung des Tempels und der Verkündigung des Elijahu wird der Ben David mit starker Hand und ausgegossenem Grimm kommen, um die Versprengten aus Israel einzusammeln, die da sagten ›Wir wollen bei den Völkern bleiben!‹ […] Und danach beginnt die Auferstehung der Toten durch die Hand des Messias Ben David.«85 Wie sehr auch Alkalai die davidisch-messianische Erlösung mit der übernatürlichen wunderhaften messianischen Tradition identifiziert, so tritt dem entgegen an einer entscheidenden Stelle auch beim davidischen Messias das NatürlichPolitische in den Vordergrund, nämlich dort, wo Alkalai sagt, dass es die gewählte Versammlung der Ältesten ist, die den Messias Ben David ernennt.86 Die wenigen übrigen Aussagen Alkalais über den davidischen Messias belassen diesem jedoch den statusmäßigen Vorrang, indem er ihn sogar mit dem europäischen Kaiser vergleicht, demgegenüber der Messias Ben Josef dann so eine Art Vizekaiser ist. In der folgenden Auslegung werden die biblischen Worte »ihr König David« auf den Vorläufer, den Messias Ben Josef, gedeutet, als neuerlicher König David der messianischen Zeit, während der Messias Ben David von ihm zu unterscheiden ist: »›Und David, mein Knecht, wird Fürst über sie sein in Ewigkeit« (Ezechiel 37, 25), wie Kaiser und Vizekaiser. Das heißt, ›David ihr König‹ wird der Messias Ben Josef sein. Und der Anfang der Erlösung (’Atḥalta di-Ge’ulla) wird durch ihn geschehen. Er wird beginnen, die Exile einzusammeln, nach für nach, denn wir sind verpflichtet, nicht gleich einer Mauer allesamt auf ein
81
Sefer Ḥajjim, S. 2b.
82
Minḥat Jehuda, S. 18b.
83
Minḥat Jehuda, S. 18b; Sefer Ḥajjim, S. 2b.
84
Siehe Ḥiddusche ha-R"n zu Babylonischer Talmud, Sanhedrin 99a; u. Sohar, Midrasch
85
Me‘oded ʽAnawim, S. 8a-b.
86
Minḥat Jehuda, S. 18a.20a.
Ne’elam, S. 139a-b.
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Mal hinaufzusteigen […]. Er wird den Tempel erbauen oder sein Sohn oder Enkel. Und nach der Erbauung des Tempels wird der Messias Ben David kommen. Er wird wie der Kaiser sein, ein König, gesalbt mit dem Salböl. Und der Messias Ben Josef ist wie der Vize-Kaiser. Sie werden zwei Führer sein […], einer für die Angelegenheiten dieser Welt und einer für die Angelegenheiten der kommenden Welt […]«87 Die beiden Begriffe »diese« und »kommende Welt« bedeuten hier wohl eher die »materiellen« und die »spirituellen« Angelegenheiten, da wir mit den beiden Messiassen nach Alkalais Terminologie zeitlich gesprochen ja insgesamt schon in der »kommenden Welt« sind. Also auch die Messiasfigur hat eine vollkommene Reduplizierung erfahren. Nachdem die beiden Messiasse zunächst sukzessiv nacheinander auftreten, sind sie nach Eintritt des siebten Jahrtausends gleichzeitig wie Kaiser und Vizekaiser, von denen jeder seinen eigenen Zuständigkeitsbereich hat.
3.4
Die Reduplizierung der Teschuva – der Umkehr – als Rückkehr in das Land der Väter
Die Teschuva als Umkehr des Menschen zu Gott gilt in der gesamten rabbinischen Literatur als der schlechthin vom Menschen geforderte Gestus, dem die rabbinische Theologie eine Macht zuschreibt, die alle Sünden hinwegwischt und die Tore des Himmels selbst für den größten Sünder öffnet,88 es gibt nichts, das den Weg des »Umkehrenden« zu Gott versperren könnte. Es ist diese mächtige Institution, die seit alters auch als Mittel betrachtet wird, die Ankunft der Erlösung zu beschleunigen, wie »R. Elieser sagte: Wenn die Israeliten Buße tun, so werden sie erlöst, wenn aber nicht, so werden sie nicht erlöst.«89 Und gerade diese zentrale Bedeutung für die jüdische Frömmigkeit auf der einen und deren Funktionalität für die Herbeikunft der Erlösung auf der andern Seite macht sich Alkalai zunutze und fügt die neu verstandene Teschuva mittels seiner »Duplizierungs-Methode« in sein umgestaltetes Erlösungsprogramm ein: »Die Weisen, seligen Angedenkens, sagten: Alle [für die Erlösung vorgesehenen] Zeiten sind schon vorüber, aber alles hängt nur an der Teschuva (Umkehr).90 Und ich sage, es gibt zwei Arten Teschuva, die individuelle Teschuva (Teschuva pratit) und die kollektive / allgemeine Teschuva (Teschuva klalit). 87
Goral la-H’, S. 4b.
88
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 240.
89
Babylonischer Talmud, S. 97b, s, Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 295.
90
Babylonischer Talmud Sanhedrin, S. 97b.
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Die individuelle Teschuva ist die, wenn ein Mensch von seinem schlechten Weg umkehrt. Die kollektive / allgemeine Teschuva aber ist die, wenn alle Israeliten ins Land [Israel] zurückkehren, in das Erbe unsrer Väter.«91 Alkalai argumentiert an einer anderen Stelle, dass zur Herbeiführung der Erlösung ganz Israels gerade die »allgemeine Teschuva« nötig sei, weil ja auch diese Ge’ulla (Erlösung) eine »allgemeine« und nicht eine individuelle sei.92 Damit unterscheidet Alkalai religionsphänomenologisch sehr klar zwischen den individuellen und kollektiven Erlösungsangeboten und -Erwartungen im rabbinischen Judentum, die seit der Antike in einem Spannungsverhältnis miteinander stehen. Hier die Erlösung des Individuums nach seinem Tode und der Eingang in den himmlischen Garten Eden93 und dort die kollektive Erwartung der messianischen Erlösung, der Rückführung in das Land Israel und die Errichtung des davidischen Königtums.94 Es ist nötig, an dieser Stelle nochmals in Erinnerung zu bringen, dass Alkalai in all diesen Zusammenhängen nicht als »weitsichtiger« Politiker argumentiert, sondern aus einer tiefen heilsgeschichtlichen apokalyptisch rabbinisch-kabbalistischen Frömmigkeit heraus. Dies zeigt sich auch im sogleich folgenden Abschnitt, in welchem er die beiden Teschuvot im Sinne der Kabbala auf die beiden Buchstaben He im Gottesnamen JHWH bezieht. Die individuelle Teschuva, repräsentiert im ersten He, ist demnach der Jichud, das heißt die Einung des Gottesnamens, die von oben nach unten wirkt, während die allgemeine Teschuva, vom zweiten He dargestellt, als Einung von unten her wirkt. Und es ist diese Einheit des Gottesnamens, der das Signum der Erlösung ist. Dieser Hinweis auf den Gottesnamen zeigt über allen Zweifel an, dass Alkalai, so modern seine Deutungen auch sein mögen, diese als Geschehensabläufe versteht, die in der Transzendenz der Gottheit ihre Wurzel haben, also Teil eines Heilsgeschehens darstellen, in dem die irdische und die göttliche Welt untrennbar miteinander verschlungen sind. Entscheidend für dieses Geschehen ist nun die allgemeine Teschuva, die vom Messias Ben Josef herbeigeführte, der die Israeliten zur Umkehr, sprich Rückkehr in das Land der Väter, veranlasst. Sie ist deshalb entscheidend, weil, wie die Erfahrung zeigt, dass die Israeliten es durch die individuelle Teschuva bis dato nicht vermocht hatten, die Erlösung herbeizubringen. »Weil schon alle [für die Erlösung vorgesehenen] Zeiten verstrichen sind und die Sache nur noch von der allgemeinen Teschuva abhängt, nämlich dass die Israeliten ins [Gelobte] Land 91
Sefer Ḥajjim, Sukkat Schalom, S. 9; u. vgl. Goral la-H’, S. 6b.
92
Goral la-H’, S. 6b.
93
S. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 268–273. 471–479.
94
Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 288–298. 479–480.
Jehuda Alkalai
308
zurückkehren.«95 »Darum haben wir keine andere Lösung als die Teschuva klalit, die allgemeine Umkehr«,96 sprich die Rückkehr in das Gelobte Land. Durch die Deutung der Rückkehr ins Land der Väter als »Teschuva«, vermag Alkalai die verweigerte Rückkehr nach Erez Jisrael als Sünde zu deuten, die im Rahmen des eschatologischen Zeitplans mit den entsprechenden göttlichen Zuchtmaßnahmen rechnen muss: »Wenn sie nicht die Teschuva (Rückkehr) ins Land Israel unternehmen, wird der Heilige, Er sei gesegnet, ihnen einen König erstehen lassen, dessen Schreckensmaßnahmen (Geserot) so schwer und übel sein werden, dass er sie wider ihren Willen zurückführt, was nicht zu ihren Gunsten sein wird, denn er wird sie mit starker Hand senden und mit starker Hand aus seinem Land vertreiben, nackt und ohne alles, wie es unseren Vätern bei der Vertreibung aus Spanien und ähnlichen Gelegenheiten geschah.«97 Alkalai sieht dergleichen Bedrohungen durch die Völker der Welt indessen nicht aus politischen oder soziologischen Erwägungen, sondern, wie gesagt, aus metaphysisch-heilsgeschichtlichen, denn alleine durch die Rückkehr ins Heilige Land, die eine Rückkehr zu Gott ist, wird die seit der Ursünde Adams verursachte Trennung innerhalb des göttlichen Namens wieder heil gemacht (Tikkun)98 und es ist alleine die verweigerte Rückkehr ins Land der Väter, welche die Verlängerung des Exils verschuldet hat.99 Erst jetzt, vor Ultimo, wo die Weltzeituhr schon fast abgelaufen ist, muss man, sofern man nicht selbst aktiv wird, mit den genannten jenseitigen Eingriffen rechnen, damit die Geschichtsuhr wenigstens in dem von Gottes Weltplanung vorgesehenen Rhythmus zu Ende gehen kann.100 Alkalai verwendet in diesem Zusammenhang, wie durch die Deutung der beiden He im Gottesnamen schon angezeigt, auch das kabbalistische Konzept, nach welchem die Anregung für den Erlösungsprozess von unten ausgehen müsse, worauf hin dann als Resonanz der Segensfluss von oben ausgelöst wird.101 Wesentlich für diese Anregung von Unten (’It‘aruta di-l-Tata) ist die Teschuva kelalit, die Rückkehr ins Land, und das dazugehörige Instrumentarium, nämlich 95
Sefer Ḥajjim, c. 7, S. 43a.
96
Sefer Ḥajjim, Sukkat Schalom, S. 9.
97
Sefer Ḥajjim, c. 1, S. 3a.
98
Zu diesem kabbalistisch-eschatologischen Begriff siehe oben Jüdisches Denken, Bd. 4, Zio-
99
Vgl. auch Sefer Ḥajjim c. 26, S. 26b.
nismus, VI, 3.3.2. 100
Vgl. Sefer Ḥajjim, c. 2, S. 11b.10b.
101
Vgl. z. B. Sefer Ḥajjim, Sukkat Schalom § 8, S. 10; Sefer Ḥajjim, c. 5, S. 20b; Me‘oded ʽAnawim § 22, S. 8; zur theurgischen Anregung von unten nach oben in der Kabbala, s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 563. 600–601. 677.
Zionismus
309
die Einberufung der genannten Versammlung von Ältesten und vor allem auch die finanzielle Unterstützung des gesamten Rückkehrwerkes, wofür Alkalai die alte biblische Zehntabgabe wieder beleben wollte, wozu sogleich weiter unten weiteres zu sagen sein wird.
3.5
Die Sünde der Teschuva-Verweigerung – das Reformjudentum
Wo die Rückkehr ins Land Israel mit religiösen Kategorien, als Teschuva, ausgestattet wird, müssen alle Versuche, von einer nationalen Deutung des Judentums und von einer erhofften Rückkehr in das Gelobte Land Abstand zu nehmen, als Sünde erscheinen. Dies ist der theologische Hintergrund vor dem Alkalais Beurteilung der Reformbewegung im Judentum, vor allem in Deutschland, gesehen werden muss. Natürlich ist Alkalai nicht entgangen, dass etwa ein Reformtheologe wie der diese Bewegung führend propagierende Abraham Geiger, gerade die nationalen Elemente aus den Herzstücken des synagogalen Gebetes, der Schmone ‘Esre, die gleichsam der tägliche Katechismus eines jeden frommen Juden ist,102 herausgebrochen hatte, wie dies im dritten Band dieser Darstellung ausführlich beschrieben wurde.103 Alkalai zögert deswegen nicht, gerade dies aufs schärfste anzugreifen. Und er schreckt dabei nicht vor den drastischsten Konnotationen zurück. In der späteren apokalyptischen jüdischen Literatur, voran dem Sefer Serubabel, ist den endzeitlichen Völkern Gog und Magog, die den Messias Ben Josef bekämpfen, ein Anführer vorangestellt, der zu einem ausgeprägten Anti-Messias wurde, und den Namen Armilos trägt.104 Selbst der bedeutende jüdische Philosoph und Theologe Sa‘adja Ga’on (882–942)105 geht auf diese Gestalt ein und berichtet zu ihr aus der älteren Tradition: »Daß in der Endzeit ein Mann von den Söhnen (des Stammes) Josef auf einem galiläischen Berge aufstehen wird, zu dem sich die Männer unseres Volkes sammeln werden; dieser Josefite wird dann zum Hause des Heiligthums hingehen, nachdem es bereits in der Gewalt Edoms (der Christen) sich befinden [wird], und dort wird er mit der gesammelten Schaar seiner Glaubensgenossen eine Zeit lang weilen. Dann wird gegen ihn und gegen seine Schaar ein König mit Namen Armilos heranziehen, wider beide kämpfen, die (heilige) Stadt erobern; der Josefite wird dann gefangen, gefoltert und hingerichtet werden und ebenso die Schaar mit dem Führer aus dem Stamme Josef. Unse102
Jüdisches Denken, Bd. 1., S. 288–292.
103
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 611–613.
104
Oder Armilus. Die entsprechenden hebräischen Texte findet man bei J. Even-Shmuel, Midre-
105
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 362–400.
sche Ge’ulla, Jerusalem-Tel Aviv 1954/1968.
Jehuda Alkalai
310
re Glaubensgenossen werden sich dann in großen Nöthen befinden, und das härteste Drangsal wird sein, daß sie es mit allen Völkern verdorben haben werden, und daß alle ihm übel wollen werden, so daß man sie von der bewohnten Erde weg in die Wüsten jagen wird, wo sie unter Qualen von Hunger und Durst leiden werden. Durch diese entsetzlichen Drangsale, welche sie betreffen werden, werden viele ihre Religion verlassen, und der überbleibende Rest wird so geläutert und geprüft sein, daß der Seher Elija ihnen erscheinen und die endliche Erlösung eintreffen wird.«106 Man muss diese Konnotationen kennen, um zu ermessen, was es bedeutet, wenn Alkalai die deutsch-jüdische Reformbewegung als die Partei des Armilos bezeichnet. Sie sind mit ihrer Definition des Judentums als Konfession und der Verwerfung von dessen national-volkhafter Seite par excellence diejenige jüdische Gruppe, die der von Alkalai neu definierten »Teschuva« und der Aufgabe des neuen »Messias Ben Josef« schon alleine von ihrem Selbstverständnis her diametral widersprechen. Entsprechend hart fällt die Attacke Alkalais gegen die deutschen Reformer aus: »›Dies ist zum Zeichen für Juda‹ (Dtn 33,7). ›Und er sprach: Geeifert habe ich für den Herrn der Heerscharen, denn seinen Bund haben die Israeliten verlassen‹ (1. Könige 19,10.14). Eine neue Gruppe kommt seit jüngster Zeit daher, von denen unsere Väter sich nicht träumen ließen. Es ist die Partei des Armilos, die an der Erlösung verzweifelten und aus dem Wortlaut des Achtzehngebetes die Segensprüche ›der Jerusalem erbaut‹ und ›den Spross aus David lasse schnell aufsprießen‹107 austilgten. Und gemäß diesem Vorgang erstreben diese Leute eine Dauerbleibe im Lande ihrer Fremdlingssassschaft. Und als die Landesbewohner sie fragten, wie wollt ihr die Staatsbürgerschaft in einem Lande erhalten, in dem ihr Abgesonderte seid, wo doch eurer ganzes Streben zum Land eurer Väter ausgerichtet ist, da begannen auch sie sich wie jene zu verhalten, um ihren Gefallen zu finden, sie erlaubten, mit ihnen Heiraten einzugehen und sich ihnen anzunähern, um so ihr Ziel zu erreichen. Bis sie schließlich die Frechheit besaßen, die Fundamente der Tora herauszureißen und den Schabbat und die Beschneidung aufzugeben. Und ohne Scham
106
Sa‘adja Ga’on, Emunot we-Deot oder Glaubenslehre und Philosophie von Saadja Fajjumi, Übs. J. Fürst, Leipzig 1845 (Neudruck Hildesheim 1970), S. 431–436. Leichte Veränderungen der Übersetzung durch KEG.
107
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 288–292.
Zionismus
311
nannten sie sich selbst Reform, will sagen ›Wiederherstellung‹. […] So zerstören sie die Schöpfung, die Gott schuf, um den Schabbat zu halten […]«108 Hier wird ein Graben zwischen jüdischer Orthodoxie und Reformjudentum aufgerissen, der mutatis mutandis bis heute nachwirkt oder besteht. So formuliert zum Beispiel die für das Reformjudentum prägend gewordene Pittsburgh Platform von 1885: »We consider ourselves no longer a nation, but a religious community, and therefore expect neither a return to Palestine, nor a sacrificial worship under the sons of Aaron, nor the restoration of any laws concerning the Jewish state.«109
108
Kol Mevasser, S. 1.
109
Wieder abgedruckt bei W. Jacobs (Hrsg.), The Changing World of Reform Judaism. The Pittsburgh Platform in Retrospect, Pittsburgh 1985, S. 108. Natürlich hat die Schoah und die Gründung des Staates Israel auch im Reformjudentum ein gewisses Umdenken hervorgebracht. So verteidigt etwa S. E. Korff in seinem Aufsatz »The Theology of the Pittsburg Platform«, in dem von W. Jacobs herausgegebenen Sammelband die Autoren der Platform mit den Worten: »they could not anticipate the importance of Israel reborn as a haven of refuge and as a critical sign of grace to a generation who had experienced the horrors of Auschwitz, Treblinka and Dachau.«, Changing World, S. 78. Aber Korf fügt sogleich hinzu: »History has discredited Pittsburgh’s attitude towards Zionism, but its attitude toward Diaspora remains abidingly valid. Those Rabbis refused to reduce Messianism to Zionism. They were right in viewing messianic fulfillment not as a time when Jewish life would be centered in Israel, but in a time when the Jew could be truly free to live anywhere in the world with dignity and honour. […] We insist the mission of Israel remains valid not only in Jerusalem, but in Pittsburgh and Houston.«, Changing World, S. 78. Die im Jahr 1937 verabschiedete Columbus Platform schrieb demgegenüber noch: » 5. Israel. Judaism is the soul of which Israel is the body. Living in all parts of the world, Israel has been held together by the ties of a common history, and above all, by the heritage of faith. Though we recognize in the group loyalty of Jews who have become estranged from our religious tradition, a bond which still unites them with us, we maintain that it is by its religion and for its religion that the Jewish people has lived. […] In the rehabilitation of Palestine, the land hallowed by memories and hopes, we behold the promise of renewed life for many of our brethren. We affirm the obligation of all Jewry to aid in its upbuilding as a Jewish homeland by endeavoring to make it not only a haven of refuge for the oppressed but also a center of Jewish culture and spiritual life. […] We regard it as our historic task to cooperate with all men in the establishment of the kingdom of God, of universal brotherhood, Justice, truth and peace on earth. This is our Messianic goal. Zum Originaltext der Pittsburgh Platform s. http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Judaism/Columbus_platform.html Nach der Schoah, 1948, hat das Reformjudentum dem Antizionismus abgeschworen und es gab nun auch eine gewisse Einwanderung von Reformjuden nach Israel. Das Hebrew Union
Jehuda Alkalai
312
Die heutige Position des Reformjudentums zum nationalen Denken und zum Staat Israel wird in einem späteren Kapitel110 noch zu erörtern sein.
4.
Das messianisch-politische Programm
Alles was an politischen Maßnahmen für die messianische Zeit zu unternehmen ist, steht für Alkalai unter jenem Gebot, in dem er alle anderen Gebote enthalten sieht, im Gebot der »Bruderliebe« (’Aḥawa). Er führt dazu die diesbezügliche Debatte über das oberste Gebot aus dem Talmud an, in dem die beiden klassischen Gebote genannt werden, die auch dem neutestamentlichen Jesus als die obersten Gebote gelten,111 nämlich »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« und »Höre Israel [der Herr unser Gott ist ein Herr. Und du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen]«.112 Zu erinnern ist hier außerdem an die goldene Regel Hillels »Was dir nicht lieb ist, das tue deinem Nächsten nicht!«,113 nach welcher man das Handeln gegenüber dem Nächsten analog den eigenen Bedürfnissen ausrichten soll, und worin die Essenz der Tora bestehe.114 Trotz der allgemeinen Anerkennung und Höchstschätzung dieser traditionellen Zusammenfassungen des Wesens der Tora, wählt Alkalai die Bruderliebe unter den Israeliten (’Achawa) als das vornehmste Gebot aus, in dem alle, oder doch die meisten göttlichen Gebote enthalten seien. Alkalai nennt bei dieser Erörterung aber nicht nur das Gebot der ’Achawa selbst, sondern gibt diesem sogleich einige für sein Denken typische Konkretisierungen bei, die schon den Kern dessen enthalten, was ich hier das politisch-zionistische Programm Alkalais nenne: »Das Gebot, welches das Meiste der Tora umfasst, ist die Liebe der Brüderlichkeit (’Achawa).115 Nämlich dass wir, ein Israelit den andern, lieben wie uns selbst, und dass wir einander beschützen. Zu diesem Gebot gehört auch, dass man Älteste erwählt, welche die Einsammlung Israels organisieren und Gleichheit unter uns herstellen in der Schrift und der Sprache, in der Lehre (Tora) und im Brauchtum, denn Liebe gibt es nur unter Gleichartigen. Es soll unsere Tora und unser Gottesdienst nicht länger der sefardische, der aschkenCollege hat eine Dependance in Israel an welcher alle Studenten der Institution eine längere oder kürzere Zeit zu verbringen haben. 110
Jüdisches Denken, Bd. 5.
111
Matthäus 22, 37–39.
112
Dtn 6,5–6.
113
Babylonischer Talmud, Schabbat 31a.
114
Auch sie wird dem neutestamentlichen Jesus zugeschrieben, Matthäus 7, 12. Und vgl. hier Jü-
115
Siehe noch Goral la-H’, S. 3b; Kol Mevasser, S. 3a.
disches Denken Bd. 1. S. 21.
Zionismus
313
asische, polnische, französische, italienische Brauch und dergleichen mehr sein. Denn unsere Tora ist nicht das Gesetz des Gottes der Völker […], sondern das Gesetz des Gottes des Heiligen Landes. Und der Gottesdienst, der dann den Ältesten gut erscheinen wird, soll dann Brauch Israels genannt werden […] nicht Brauch von Sefarad oder Aschkenas.«116 Zu Alkalais Vision des künftigen Judentums gehörte also eine Einheit in Bruderliebe, die sich zugleich in einer Vereinheitlichung und Abschaffung der in der Diaspora gewachsenen kulturellen und religiösen Differenzen manifestiert. Die ins Heilige Land zurückkehrenden Juden sollen sich nur noch als Israel, als Israelim, »Israeliten«, bezeichnen, nicht mehr als Aschkenasim, Sefardim etc. Die Vereinheitlichung in Sprache, Schrift, Religion und Brauchtum soll nach Alkalais Auffassung von dem zentral ernannten Gremium der 71 Ältesten gelenkt und verordnet werden. Mit der Ernennung dieses Gremiums, das, wie erwähnt gar mit dem Messias Ben Josef identisch gesehen werden kann, beginnt laut Alkalai die Erlösung. Über dieses Gremium wird, so ist Alkalai überzeugt, der Geist Gottes ausgegossen sein.117 Alkalai, der in einer Grenzregion zwischen den beiden Vielvölkerstaaten der Habsburger Monarchie und dem osmanischen Reich zuhause war und das Entstehen des Nationalismus bei den Serben und vor allem bei den Griechen, die er selbst in diesem Zusammenhang nennt,118 miterlebte, wusste sehr wohl über die Ingredienzien, deren es bedurfte, um aus zerstreuten Menschengruppen eine soziale Einheit, eine Nation (’Umma) zu schaffen. Aus diesem Grund beklagt er es ganz ausdrücklich, dass die Juden keine gemeinsame Sprache mehr sprechen und sich nach ihren Gastvölkern definieren: »Jedes einzelne Land (Medina) [in welchem die Juden leben] hat seine eigene Sprache, seine eigene Schrift und seine eigenen Bräuche, was die Zusammengehörigkeit auflöst und die Erlösung verhindert. Es waren vier [sic!] Dinge,119 derentwegen unsere Väter aus Ägypten erlöst wurden, nämlich dass sie ihre Namen nicht änderten, nicht ihre Sprache und nicht ihre Kleidung. Und all diese Tugenden sind uns um unsrer vielen Sünden willen in dem lan-
116
Minḥat Jehuda § 29, S. 17a.
117
Minḥat Jehuda, § 29, S. 17a.
118
Goral la-H’, S. 10b.
119
Im rabbinischen Midrasch werden folgende vier Dinge genannt: Sie änderten nicht ihre Namen und ihre Sprache, sie kannten keine üble Nachrede und keinen Inzest, vgl. z.B. Pesikta de Rav Kahana 11,6, J. J. Mandelbaum (Hg.), New York 1962, Bd. 1, S. 182 – hier weitere Parallelstellen. Der Kleiderwechsel – so vor allem im assimilierten Westen – scheint Alkalais eigenes Anliegen gewesen zu sein.
Jehuda Alkalai
314
gen Exil verloren gegangen. Und ich beschwöre, dass ich all meiner Tage daran gelitten habe, dass unsere Väter nicht gut daran taten, unsere heilige Sprache so in Vergessenheit geraten zu lassen, so dass unsere Nation zu 70 Nationen wurde und unsere Sprache zu 70 Sprachen, gemäß all der Orte unsrer Zerstreuung.«120 Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Alkalai es im Folgenden nachdrücklich zurückweist, dass die Spracheinheit der Juden dereinst durch ein göttliches Wunder wieder hergestellt werden könne. Nein, er glaubt, dass es dazu der physischen Bemühung der Menschen bedarf, die Sprache wieder einzuüben. Man solle darob nicht verzweifeln, »sondern sich mit aller Kraft und Anstrengung bemühen, unsere Sprache aufzurichten und wieder aufzustellen.«121 Über das Verschwinden des Hebräischen als Umgangssprache hinaus beklagt Alkalai des Weiteren, dass es auch bei der Lesung der hebräischen Texte unterschiedliche Dialekte, wie den sefardischen und aschkenasischen, gibt. Natürlich weiß auch Alkalai nicht, welcher der Dialekte der ursprüngliche war und stellt die Entscheidung dem Gremium der Ältesten anheim. Dasselbe gilt für die unterschiedlichen Schriften insbesondere die verschiedenen Kursiven, bezüglich welcher er die sogenannte Raschi-Schrift als gemeinsame Grundlage vorschlägt. Außer den genannten Differenzen zwischen den verschiedenen jüdischen Diasporagemeinden sieht Alkalai noch viele andere Unterschiede, die allesamt vereinheitlicht werden müssten, weil sie nur so den Kibbuz, die Vereinung Israels zu tragen imstande seien.122 Außer den sprachlichen und kulturellen Aufgaben gehört zum politischmessianischen Programm Alkalais, dass die Neu-Einwanderer im Heilige Land finanziell zu unterstützen seien, dass Jerusalem wieder aufgebaut und eine wirtschaftliche Infrastruktur erstellt wird, außerdem seien Ländereien zu kaufen, Häuser zu errichten, Fruchtgärten zu pflanzen, Straßen zu bauen und Handelsschiffe herzustellen, alles zum Nutzen der Gesellschaft und des Handels.123 Und da dies alles nicht von Einzelnen zu leisten ist schlägt Alkalai die Bildung großer Industrie-Gesellschaften vor: »Darum bitte ich meine Brüder, eine Große Gesellschaft (’Aguda) zu bilden wie sie allgemein üblich sind, etwa Dampfschiffsgesellschaften, Eisenbahn-
120
Minḥat Jehuda, § 27, S. 16b. Das Zitat ist frei abgewandelt aus Midrasch Bereschit Rabba 4,
121
Minḥat Jehuda, § 27, S. 16b.
122
Minḥat Jehuda, § 27, S. 16b.
123
Minḥat Jehuda § 21, S. 14b. 15a.
12, S. 56a der Ausgabe Wilna.
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315
gesellschaften und dergleichen. Sie werden unsere Bitten vor den Thron unseres Herrn, des Sultan, seine Hoheit sei verherrlicht, tragen, uns das Erbland unserer Väter für einen jährlichen Pachtzins zu geben, wie dies auch andere Staaten entlang der Donau taten. Und wenn dann der Name Israel über unser Land und das Erbe unserer Väter ausgerufen wird, werden die Herzen ganz Israels erwachen, diese Gesellschaft zu unterstützen, mit Tat und Geld. Wenn auch deren Anfänge klein sein werden, am Ende werden sie groß sein. Die gewählte Versammlung wird sodann Älteste einsetzen, die die Angelegenheit der Gesellschaft überwachen, um Nutzen zu mehren und Schaden abzuwehren. Sie werden Häuser bauen, Fruchtgärten pflanzen, Straßen einrichten, Schiffe und Fabriken bauen, alles zum Nutzen der Gesellschaft und des Handels. Und nach und nach sollen die verstreuten Armen zusammengebracht werden, um den Ackerboden zu bearbeiten, als Ackerbauern, Fruchtgärtner und Pflüger.«124 Eine Seite zuvor hebt Alkalai gerade den Feldbau als wichtiges Merkmal der Erlösung heraus, mehr noch, er sieht darin einen Akt der imitatio dei, da ja auch Gott seine Schöpfung mit dem Pflanzen begonnen habe.125 Der fromme Rabbiner und Kabbalist hatte außer seinen heilsgeschichtlichen Gedankengängen demnach auch sehr realistische Vorstellungen, wie das nationale Aufbauwerk zu leisten sei und bedenkt dabei sowohl die kulturellen wie auch die wirtschaftlichen Seiten. Eine von ihnen ist die Frage der Finanzierung, die sogleich im Folgenden zu besprechen ist.
5.
Die Zehntabgabe
Um all die zuvor formulierten Ziele zu erreichen, auch um das Gremium der Ältesten funktionsfähig zu machen, fordert Alkalai die Wiedereinführung der Zehntabgabe,126 mit der das ganze Rückkehrwerk finanziert werden sollte. Zur Begründung der Wiedereinführung des Zehnten hat Alkalai natürlich zunächst »geistliche« Argumente. So zum Beispiel das folgende: Wenn man gefragt ist, worin denn die Teschuva bestehen solle und man zugleich sehr wohl weiß, dass man ein schwacher Mensch ist, der niemals die gesamte Tora wird erfüllen können, besteht die Möglichkeit, dieser Kluft zwischen Anspruch und Vermögen zu entkommen, indem man seine Teschuva auf ein einziges Gebot stützt, wofür sich
124
Goral la-H’, S. 9b. u. vgl. 8b.
125
Goral la-H’, § 21, S. 8b.
126
Eine kurze Einführung zu den Zehnten in Bibel und Mischna s. bei Ascher Sammter, Mischnajot, Bd. I, Seder Sera‘im zu den Traktaten Ma‘asrot und Ma‘aser scheni, Neudruck Basel 1968.
Jehuda Alkalai
316
zum Beispiel gerade die Zehntabgabe als gute Lösung anbiete.127 Natürlich zieht Alkalai auch hier die Kabbala heran, die ja lehrte, dass durch die Erfüllung der Gebote der göttliche Fluss aus der Welt der Sefirot ausgelöst wird. Zu dieser kabbalistischen Begründung der Wiedereinführung der Zehntabgabe kann hier nur eine sehr verkürzte Ausführung Alkalais als Beispiel angeführt werden: »Drei Zehntabgaben hat die Tora geboten, entsprechend den drei Tempeln. Der erste Zehnt, der den Leviten für ihren Dienst gebührte, entspricht dem ersten Tempel […]. Der zweite Zehnt, den jedermann in Jerusalem verzehren musste, entspricht dem zweiten Tempel […]. Der Armenzehnt, entsprechend dem dritten Tempel, dessen Aufbau bald bevorsteht. […] Der Armenzehnt ist der wichtigste […], er ist die starke Hand und der ausgereckte Arm [mit dem Gott Israel erlösen wird]. Er verwandelt den Fluch in Segen. Seine Aussetzung dagegen, Gott behüte, wendet das göttliche Erbarmen zum strengen Gericht. […] Der Zehnt ist die Hauptsache der Umkehr, um die Kanäle der Segensfülle [aus der Gottheit] wieder herzustellen […] und die Schechina wird nach Zion zurückkehren. […] Er wird unseren Bruch heilen […] ist Heilung für die Mauern Jerusalems. […] Darum, nachdem alle Zeiten der Erlösung verstrichen sind und alles nur noch von der Teschuva abhängt, gilt es, den Zehnt ins Schatzhaus zu bringen, um die Kanäle des Heilsflusses wieder herzustellen.«128 Vom Zehntgebot weiß Alkalai schließlich zu sagen, dass dank seiner Israel das Gelobte Land zum Besitz erhalten habe und es ebenso die Erlösung nahe bringen werde.129 So traditionell diese Argumente klingen, so pragmatisch und modern wird Alkalai, wenn es darum geht, die neue Kanalisierung der auf diese Weise eingehenden Gelder zu planen. Von diesen Geldern sollen zum Beispiel Freitische für die aus dem Exil ins Heilige Land zurückkehrenden Juden eingerichtet werden, von ihnen sollen die Reisekosten bezahlt werden wie ihnen überhaupt die nötige Unterstützung zuteilwerden solle, Häuser für sie zu bauen, oder Felder und Obstgärten zu kaufen. Auch kann sich jeder selbst von den als Zehnt zurückgelegten Geldern Grundbesitz im Heiligen Land erwerben und sich ein Haus bauen.130 Schließlich soll aus den abgeführten Zehntabgaben auch der Lebensunter-
127
Minḥat Jehuda, § 6, S. 7a.
128
Minḥat Jehuda § 7, S. 7b-8a. Zu dieser kabbalistischen Auffassung s. Jüdisches Denken, Bd. 2,
129
Minḥat Jehuda, § 14, S. 12b.
130
Minḥat Jehuda, § 21, S. 14b.15a.
S. 419. 427. 436–437. 452. 456. 459–460. 690.
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halt der Ältesten bezahlt, und Nahrung bereitgestellt werden, damit sie viele Schüler heranziehen können.131 Alkalais Plan ist ein religiös-apokalyptisches Programm, das aber dem Menschen entschiedene Initiativen und Aktivitäten abverlangt. Es ist ein Programm eines religiösen »Zionismus«, das die Rückkehr der Juden in das Land ihrer Väter als Notwendigkeit sieht, welche sich aus der vorangeschrittenen Uhr der apokalyptischen Heilsgeschichte ergibt.
131
Minḥat Jehuda, § 29, S. 17a. 20a.
VII. DIE WIEDERBELEBUNG DER NATION DURCH ERKENNTNIS, GLAUBE UND GEISTIGE FREIHEIT AVRAHAM JIZCHAK HA-KOHEN KUK (KOOK) (1865–1935) 1.
Biographisches
Avraham Jizchak Kuk war seit 1921 der erste aschkenasische Oberrabbiner des sefardisch-aschkenasischen hohen Doppelrabbinats in Jerusalem. Er wurde 1865 im litauischen Greive (Griva) geboren. Nach dem traditionellen rabbinischen Studium, unter anderem an der Woloschyner Jeschiva,1 studierte er modernes Hebräisch, Philosophie und Kabbala. 1888 wurde er Rabbiner in Zaumel, 1895 in Bausk (Bauska). 1904 folgte er einem Ruf als Rabbiner nach Jaffa in Palästina. Entgegen der traditionellen Orthodoxie seiner Zeit und der Vertreter des »Alten Jischuv«2 sah er im Zionismus trotz all seiner säkularen und antireligiösen Seiten eine positive Bewegung und wandte sich deren Vertretern aktiv zu, auch durch Reisen zu den einzelnen Siedlungen, was letztlich wohl auch zu seiner Ernennung zum aschkenasischen Oberrabbiner beitrug. Seine pro-zionistische Einstellung zeigte sich im Jahre 1910, einem Schmitta-Jahr (Schabbat-Jahr, Siebentjahr-Brache), in welchem nach dem biblischem Gebot3 die Felder des Heiligen Landes in Bearbeitung und Ernte zu ruhen hatten, als Kuk es im Rahmen einer »Notverordnung« erlaubte, das Land zu bearbeiten und dessen Früchte zu verzehren, indem sie durch einen zeitlich bedingten Verkauf in die Hände von Nichtjuden übergeben wurden.4 1914, auf einer Europareise zu einer Konferenz 1
Vgl. zu ihr Jüdisches Denken, Bd. 3. S. 313–315.
2
Die von den Spenden (Ḥalukka) der Juden aus aller Welt in Palästina lebende und sich vor al-
3
Levitikus 25; eine übersichtliche Zusammenfassung der daraus in der späteren Halacha bis in
lem dem Torastudium widmende jüdische Bevölkerung. die Gegenwart abgeleiteten Folgerungen bei J. D. Eisenstein, ʼOzar Jisraʼel, New York 1907– 1913, Neudruck Jerusalem, Bd. 10, S. 170a-173b (hebr.). Kuk konnte sich dabei auf eine erste die neuen Palästinakolonien betreffende Verordnung des litauischen Rabbiners Jizchak Elchanan Spektor aus Kaunas von 1888 berufen, die gebot: »die Felder für zwei Jahre an die Araber zu verkaufen unter der festen Bedingung, dass die Nichtjuden hernach die Felder wieder an ihre ursprünglichen Besitzer zurückverkaufen mussten und in der Zwischenzeit die Baum- wie Feldarbeiten nicht von Juden durchgeführt würden. Nur die Ärmsten (selbst wenn sie die Besitzer waren) dürften als Angestellte bei den Nichtjuden arbeiten, aber auch sie sollten, soweit es ginge, sich von den biblisch verbotenen Arbeiten fernhalten. Der Verkauf an die Nichtjuden sollte durch das rabbinische Gericht in Jerusalem abgewickelt werden.«; zit. Nach Eisenstein, ʼOzar, S. 172a. 4
Die Begründung dafür legte Kuk in seiner Schrift Schabbat ha-ʼArez, Jerusalem 1910; vgl. Z. Jaron, Mischnato schel ha-Rav Kuk, Jerusalem 1979, S. 14.246–247.
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der Agudat Jisrael, wurde Kuk durch den Ersten Weltkrieg bis 1919 an der Rückkehr nach ʼErez Jisraʼel gehindert. Diese Zeit verbrachte er zunächst in St. Gallen in der Schweiz, um anschließend 1916 in London ein Interims-Rabbinat bei der Gemeinde Maḥsike ha-Dat (Die Glaubenstreuen) anzunehmen. In dieser Zeit unterstützte er die Bemühungen von Chajjim Weizmann,5 die schließlich zur Balfour Declaration führten. Im Sommer 1919 kehrte er nach Palästina zurück, wo er zum Rabbiner von Jerusalem gewählt wurde. Zwei Jahre später, 1921, nach Errichtung des doppelten Oberrabbinats für Palästina, wurde er neben dem Sefarden Jaʽakov Meʼir dessen erster aschkenasischer Amtsinhaber. Kuk glaubte in dieser Institution den Keim der Wiedererrichtung des alten Sanhedrin sehen zu dürfen, was sich aber nicht verwirklichen ließ. Während seiner Jerusalemer Zeit war er auch im politischen Bereich während der Auseinandersetzungen mit den arabischen Notabeln und den britischen Behörden aktiv. Schon im Jahre 1933 forderte er die Errichtung von Hilfsinstitutionen für die Juden in Deutschland. Mit der Begründung einer zentralen Jeschiva in Jerusalem beabsichtigte Kuk die Errichtung einer rabbinischen Hochschule für das gesamte Weltjudentum, was aber gleichfalls nicht gelang. Später hieß diese Jeschiva dann einfach Merkas haRav (Zentrum des Rav). Seinen siebzigsten Geburtstag wollte Kuk nicht öffentlich begangen wissen, nahm aber gerne die Ehrenbürgerwürde der Stadt Tel Aviv an. Der Tod ereilte ihn am 3. Elul 1935. Nach seinem Tod hat indessen Kuks Einfluss nicht an Aktualität verloren. Seine Hochachtung gerade auch in den nichtreligiösen Kreisen des bald danach gegründeten Staates Israel ist allerdings seit dem Sechstagekrieg von 1967 ins Wanken gekommen, weil die Lehren Kuks zunehmend von der religiösen Siedlerbewegung in Anspruch genommen wurde. Dazu sagte der Jerusalemer Kabbala-Forscher Joseph Dan schon 1995: »Andererseits sind Rav Kooks Lehren von säkularen Juden in Israel mit wachsenden Bedenken betrachtet worden, besonders nach dem Sieg im Sechs-Tage-Krieg 1967 und dem Anwachsen der Siedlerbewegung in Judäa und Samaria. Verschiedene Gruppen der religiösen Siedler (die Mehrheit ist nicht religiös) griffen Slogans und Phrasen aus dem Werk Rav Kooks auf und interpretierten sie so, als ob sie die direkte Besiedlung und Eingliederung aller Teile des Landes Israel forderten. Sie erhielten darin Unterstützung von Rav Kooks Sohn, Rabbi Zwi Jehuda HaCohen Kook, der trotz seines damals schon vorgerückten Alters die spirituelle Führung der religiösen Siedlerbewegung übernahm. Seine Assoziierung mit dieser politischen Gruppe schien
5
Zu diesen Bemühungen s. A. Böhm, Die zionistische Bewegung, S. 662–676; Jaron, Mischnato schel ha-Rav Kuk, S. 15.
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Avraham Jizchak Kuk
zu beweisen, daß die Siedler tatsächlich die treuen Anhänger von Rav Kooks Lehren waren.«6
2.
Die Werke Kuks – sind sie das Werk der Schüler?
In der Forschungsliteratur zu Kuk wird die Frage erörtert, ob man Avraham Jizchak Kuk tatsächlich als den alleinigen Autor seiner publizierten Werke betrachten könne und es deshalb sachgerechter wäre, seine publizierte Meinung als die von Rav Kuk und seiner »Schule« zu betrachten.7 Von Avraham Jizchak Kuk liegen derzeit wenigstens siebenundzwanzig zum Teil mehrbändige hebräische Buchtitel vor,8 von denen er offenbar nur zwei selbst veröffentlichte,9 während 6
J. Dan, Rav Kooks Stellung im zeitgenössischen jüdischen Denken, in: Abraham Isaak HaCohen Kook. Die Lichter der Tora, Hrsg. E. Goodman-Thau u. Ch. Schulte, Berlin1995, S. S. 132. Hier weitere Literatur.
7
So Dov Schwartz, ʼEtgar u-Maschber be-Ḥug ha-Rav Kuk (Challenge and Crisis in Rabbi Kookʼs Circle), Tel Aviv 2001, S. 7–13. 332–336; u. s. unten.
8
HaRaʼaJaH Kuk: 1. ʼIggerot HaRaʼaJaH, I – II, Jerusalem 1962–1965; 2. ʼIggerot HaRaʼaJaH, Jerusalem 1923; 3. ʼEder ha-jakar we-ʽIkve ha-Zon, Jerusalem 1967; 4. ʼOrot ha-Kodesch, IIV, (Hrsg. David Kohen), Jerusalem 1963–64.1990; 4. ʼOrot (Hrsg. Zwi J. Kuk), Jerusalem 1963; 5. ʼOrot HaRaʼaJaH, Jerusalem 1970; 6. ʼOrot ha-Tora – 13 Perakim ʽal ʽErech ha-Tora, Limmudah we-Hadrachatah, Jerusalem 1973; 6.ʼOrot ha-Teschuva, Merkas Schapira 1979; 8. Ḥadaraw – Perakim ʼischijim melukkatim mi-Kitve ha-Rav Avraham Jizchak ha-Kohen Kuk zẓ’l, (Hrsg. R. Sarid), o.O. 1998; 9. Maʼamare HaRaʼaJaH, Jerusalem 1988; 10. Midbar Schor – Deraschot, Jerusalem 1999; 11. Musar ʼAvicha u-Middot HaRaʼaJaH, Jerusalem 1971; 12. Nafschi takschiv Schiro – Schirim – ha-Rav Avraham Jizchak ha-Kohen Kuk (Hrsgg. B.ʼOfen, M. Harʼel, R. Sarid), o.O 1999; 13. ʽOlat HaRaʼaJaH, I-II, Jerusalem 1983; 14. ʽAjin ʼAjah – ʽal ʼAggadot Ḥaza“l sche-be- ʽEin Jaʽakov. I-IV, Jerusalem 1987–2000; 15. ʽArpele Tohar, (Druck unvollendet 1904), Jerusalem 1983; 15. Kitve ha-Rav R. Avraham Jizchak ha-Kohen Kuk zẓ”l – Pinkas 13, Jerusalem 2004; 16. Pinkese HaRaʼaJaH, I-III, Jerusalem 2008–2010; 16. Kevazim mi-Kitve Jad Kodscho, I-II, Jerusalem 2004–2006; 17. Rosch Millin, Jerusalem 1917; 18. Schabbat ha-ʼArez, Jerusalem 1910; 18. Schmona Kevazim I-II, Jerusalem 2004 (zit. Als: Acht Konvolute); 19. Eine vom vorigen abweichende Internetausgabe findet man unter he.wikisource.org/wiki/; 20. ʼErez Ḥefeẓ – ʼImrot ʽal ʼEreẓ Jisraʼel uBinjanah, Jerusalem 1930; 21. ʽEẓ Hadar, Jerusalem 1907; Ha-Schabbat, Jisraʼel we-haZemanim – Kobez Maʼamarim le-Schabbat u-la-Moʽadim, Jerusalem 1971; 22. Ḥavosch Peʼer – ʽal Mizwot Tefillin, Jerusalem 1925; 23. Ḥazon ha-Geʼulla – ʽal Teḥijat ʽAm Jisraʼel u-Vinjan ha-ʼArez, Jerusalem 1941; 24. Kobez Maʼamarim, Tel Aviv 1965; 25. Keriʼot gedolot – le-Jisraʼel, Torato we-ʼArzo mi-Zeman li-Zeman, Jerusalem 1944; 25. Schemuʽot HaRaʼaJaH, Jerusalem1939; 26. ʼOrot ha-ʼEmuna (Hsg. M. Gurwitz), Jerusalem 1985; 27. Kobazim mi-Ktav Jad Kodscho, ed. Boʽas ʼOfen, Jerusalem 2006; zur letzteren Edition siehe den Aufsatz von ʼOdi Avramoviz, Ha-Pinkasim ha-neʽelamim, der von mehr als zwanzig Konvoluten spricht, die Kuk hinterlassen habe, von denen die acht publizierten nur ein Teil seien.
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der Rest zu seinen Lebzeiten und vor allem nach seinem Tod von anderen zum Druck hergestellt wurden. Ich verwende hier bewusst den etwas prosaischen Ausdruck der Herstellung, weil die Arbeit der Herausgeber von Kuks Büchern sich nicht auf die übliche Redaktionsarbeit an fertigen Manuskripten beschränkte, sondern der Arbeit von Anthologisten entsprach. Rav Kuk hatte die meisten seiner Werke nicht als solche verfasst, vielmehr hat er seine Gedanken in einer Art von Tagebüchern (Pinkasim, Heften) und auf einzelnen Blättern niedergeschrieben. Diese Niederschriften waren keine Buchmanuskripte, sondern mehr oder wenige lange Notizen, die meist – aber nicht immer – ohne Zusammenhang untereinander niedergeschrieben wurden, wie sie dem Verfasser gerade einfielen. Auch dieses letztere Verbum darf in seinem wörtlichen Sinn verstanden werden, ja mehr noch in seinem ursprünglichen, von den Mystikern geprägten Sinn, als »Einfall« aus einem höheren Bereich, als mystische Eingebung. Was somit entstand, waren also Texteinheiten, die in der Kuk-Forschung zuweilen als unsystematische Poesie,10 oder als poetisch, zufällig und aphoristisch,11 bezeichnet wurden. Die Redaktoren haben angesichts eines solchen Befundes aus den vorhandenen Texteinheiten ausgewählt, haben sie umgestellt, thematisch zusammengeordnet und sowohl die kleineren Einheiten wie auch die größeren thematischen Konglomerate mit programmatischen Überschriften versehen.12 Der heutige Leser oder gar Historiker tut deshalb gut daran, die einzelnen Texteinheiten je für sich zu betrachten und die Zusammenstellung in den schließlichen Publikationen als das zu bewerten, was sie tatsächlich sind, nämlich Interpretationen durch die Herausgeber. Die Herausgeber der ersten Reihe waren der Sohn von Rav Kuk, Rav Zwi Jehuda Ha-Kohen Kuk und Rav Kuks Schüler Rav David Kohen, der »NasiräAvramovizʼ Fazit ist die Unübersichtlichkeit der neueren Editionspolitik durch verschiedene Besitzer, in: http://www.bmj.org.il/files/221290075279.pdf; Übersetzungen: Orot. Rabbi Abraham Isaac Kook. Translated and with an Introduction by Bezalel Naor, NorthwaleLondon 1993; Abraham Isaak HaCohen Kook. Die Lichter der Tora, Hrsg. E. Goodman-Thau u. Ch. Schulte, Übers. T. Arndt, Berlin1995; Studies in Torah Judaism. Rabbi Kookʼs Philosophy of Repentance. A Translation of ›Orot Ha-Teshuva‹ ba A.B.Z. Metzger, New York 1968. 9
Selbst veröffentlichte Werke von Kuk: Rosch Millin und ʽArpele Tohar, welch Letzteres eine wirklich originalgetreue Wiedergabe eines Teiles der Tagebücher »Schmona Kevazim« war, aus denen ʼOrot und ʼOrot ha-Kodesch eine anthologische Auswahl darstellen.
10
S. H. Bergmann, Torat ha-Hitpatḥut be-Mischnato schel ha-Rav Kuk, in: ʼAnaschim u-Dera-
11
D. Schwartz, ʽAricha mul Jezira, in: Daʽat 24 (1990), S. 87–92; ders. ʼOrot ha-Kodesch – Ḥib-
chim, Jerusalem1967, S. 350–358. bur meschuttaf, in: Sinai 107 (1991), S. 69–82; Ha-Zijonut ha-datit ben Higajon leMeschichijut, Tel Aviv 1999, S. 198–233; Munitz, Ḥug Ha-Ra‘‘ha, S. 1–2. 12
Dies berichtet David Kohen selbst in seinem mystischen Tagebuch, siehe bei Dov Schwartz, Ha-Zijonut ha-datit, S. 199–200.
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er«13. Diese beiden haben noch zu Lebzeiten des Meisters dessen wichtigste und bekannteste Werke herausgegeben, der Sohn 1921 das Buch ʼOrot (Lichter) und der Schüler 1938 das mehrbändige Werk ʼOrot ha-Kodesch. Hinzu trat als weiterer Mitarbeiter zuweilen der Rav Jaʽakov Mosche Harlap und R. Schalom Nathan Raʽanan und weitere.14 Die Arbeit dieser Herausgeber, so liest man in der ausschließlich der Publikationsgeschichte der Kukʼschen Werke gewidmeten Dissertation von Meʼir Munitz,15 ist seit längerem heftig kritisiert worden, aber mehr noch nachdem der Wissenschaft die Einsicht in die Originalmanuskripte möglich wurde und auch Publikationen ganzer Hefte in ihrer ursprünglichen Form erschienen.16 Man konnte nun nachweislich erkennen, dass die Herausgeber nicht nur auswählten und zuvor nicht vorhandene Strukturen in die Auswahl einführten, sondern teilweise substanziell in die Texte selbst eingriffen, so dass manche Autoren gar von Zensur und Verfälschung der Originale sprachen.17 Man glaubte nach der erst in den letzten Jahren erfolgten Publikation von unredigierten Manuskripten Rav Kuks Seiten des Rav Kuk zu erkennen, die zuvor aus den redigierten Ausgaben getilgt, oder zumindest sehr in den Hintergrund gedrängt worden waren. So warf etwa R. Gerber,18 den Redaktoren vor, dass sie das Hauptanliegen Kuks, nämlich dessen Streben nach einer spirituellen Wiederbelebung aufgrund einer panentheistischen Weltanschauung zu verwischen suchten. J. Avivi wirft ihnen vor, dass sie die kabbalistische Seite des Kukʼschen Denkens vertuschten,19 A. Avramoviz hingegen sieht bei Kuk persönliche existentialistische Seiten, welche die Redaktoren ausblendeten.20 A. Roznik,21 erkennt eine Zensurtätigkeit der Redaktoren, welche den Lesern die stürmische Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit des Rav Kuk verborgen habe, seine zeitweilige hohe Selbstachtung, seine gelegentlichen selbstkasteienden und prophetischen Züge, sowie seine persönlichen Entwicklungsphasen, und schließlich seine Kritik am ultraorthodoxen Judentum der 13
Gottgeweihter Asket.
14
Meʼir Munitz, Ḥug Ha-Raʼja we-ʽArichat Ketavaw schel ha-Rav Kuk, Diss. Bar-Ilan 2009,
15
Meʼir Munitz, Ḥug Ha-Raʼja we-ʽArichat Ketavaw schel ha-Rav Kuk, Diss. Bar-Ilan 2009.
S. 56, FN 5. 16
Es sind die oben genannten »Schmona Kevazim«. (Internetversion).
17
Roznak, Mi mefaḥed mi-Kevazim genusim schel ha-Rav Kuk?, in: Tarbiz 69 (2000), S. 257–
18
R. Gerber, Mahapeḥat ha-Haʼara – Darko ha-ruḥanit schel Ha-RaʼJ“H Kuk, Jerusalem 2005,
19
J. Avivi, Mekor ha-ʼOrot (»Schmona Kevazim« meʼet ha-Rav ʼAvraham Jizchak Ha-Kohen
20
O. Avramoviz, Pirsum ha-Kevazim, in: ʽAlon Schvut 156–157 (2000), S. 135–161, bei Mu-
21
Roznik, Mi mefaḥed, bei Munitz, Ḥug, S. 109.
291. nach Munitz, Ḥug Ha-Raʼja, S. 109. nach Munitz, Ḥug, S. 108. Kuk, Jerusalem,1999, Zohar I (2000), S. 93–111, nach Munitz, Ḥug, S. 108. nitz, Ḥug, S. 108.
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sogenannten Ḥaredim (Gottesfürchtigen). S. Scharlot22 beurteilt Kuks Hefte in erster Linie als mystische Erfahrungs-Tagebücher, J. Garb als poetische Texte,23 was die Redaktoren zu verbergen gesucht hätten. J. Meʼir24 wirft den Redaktoren zuallernächst vor, sie hätten sich mit ihrer eigenen politischen Agenda an den Vater und Lehrer gehängt, also die Lehren des Meisters auf die Erde, ins Nationale und Politische herabzogen, um so die religiösen »Pflichtkriege« des jungen Staates Israel zu rechtfertigen (so der Sohn) oder aber dem Meister eine systematische philosophische Lehre untergeschoben, die so gar nicht vorhanden sei (so der Schüler Ha-Kohen).25 Schließlich muss noch Eliezer Schweids Auffassung26 genannt werden, Kuk habe sich als inspirierten Propheten im biblischen Sinne verstanden, was durch die Neupublikationen abermals bestätigt würde. Dies sei indessen, so Munitz, eine Auffassung, welche auch tatsächlich Rav Kuk selbst wie seine Schüler so gesehen hätten: »R. Avraham Jizchak Kuk und seine Schüler glaubten, dass Kuks Schreiben aus innerer Offenbarung flossen, also einen visionären und vom Heiligen Geist bestimmten Zug hätte.«27 Gegenüber solchen sich widerstreitenden Meinungen, welche das Bild von Rav Kuk durch die redigierten Publikationen als völlig verzeichnet erachteten, spricht Dov Schwartz von der Deutung der Kuk-Schriften durch einen ideologisch mehr oder weniger homogenen Kreis von Schülern, die, geprägt von einem regen mündlichen Austausch zwischen Lehrer und Schülern, als authentisch betrachtet werden könne.28 Dies ist schließlich auch das Resultat der unter der Betreuung von Dov Schwartz entstandenen Dissertation von Dov Munitz.29 Munitz
22
S. Scharlot, Zaddik Jesod ʽOlam – ha-Schliḥut ha-sodit we-ha-ḥawwaja va-mistit schel ha-Rav
23
J. Garb, Ha- Raʼja Kuk – Hoge leʼumi ʼo meschorer misti?, in: Daʽat 54 (2004), S. 69–96.; Y.
Kuk, Diss. Bar Ilan 2004, bei Munitz, Ḥug, S. 109. Garb, ›Rabbi Kook and His Sources: From Kabbalistic Historiosophy to National Mysticism‹, in: M. Sharon (ed.) Studies in Modern Religions and Religious Movements and the BabiBahaʽi Faiths, Leiden 2004, S. 77–96, bei Munitz, S. 110. 24
J. Meʼir, ›ʼOrot‹ we-›Kelim‹: Beḥina meḥudeschet schel ›Ḥug‹ HaRaʼaJaH we-ʽOrḥe Keta-
25
Diese Auffassung vertritt auch D. Schwartz, Ha-Zijonut ha-datit, S. 198–207.
26
E. Schweid, Neviʼim le-ʽAmam u-le-ʼEnoschut – Nevuʼa u-Neviʼim be-Hagut jehudit schel
vaw, in: Kabbala 13 (2005), S. 163–247, bei Munitz, Ḥug, S. 110.
ha-Meʼa ha-ʽesrim, Jerusalem 1999; E. Schweid, ›Nevuʼa mitḥadeschet le-ʽEt reschit Geʼulla‹,in: Daʽat 38 (1997), S. 83–106; alles nach Munitz, Ḥug, S. 6. 27
Munitz, Ḥug, S. 111.; u. vgl. S. 107.
28
D. Schwartz, ʼEtgar u-Maschber be-Ḥug ha-Rav Kuk, S. 7–13. 332–336. Schwartz, Haʼim nitan likhtov ʼet Toledot he-Hagut ha-jehudit?, in: Madaʽe ha-Jahadut 38 (1998), S. 129–141; D. Schwartz, ›Derachim, be-Ḥeker ha-Zijonut ha-datit‹, in: N. ʼIlan (Hrsg.), ʽAjin tova: Du-Siaḥ u-Polmos be-Tarbut Jisraʼel (Sefer ha-Jovel li-Meleʼt 70 Schanim le-Tova ʼIlan), Tel Aviv 1999, S. 564–581.
29
Ḥug Ha-Raʼjah we-ʽArichat Ketavaw schel ha-Rav Kuk, Ramat Gan 2009.
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kommt nach zahlreichen Einzelvergleichen der Texte der beiden Bücher ʼOrot (redigiert von Zwi Jehuda Kuk) und ʼOrot ha-Kodesch (redigiert von David Kohen, dem Nasiräer) mit den nichtredigierten Kuk-Publikationen zu dem Resultat, zunächst von ʼOrot: »Der gemeinsame Nenner aller Stellen, an denen R. Zwi Jehuda etwas hinzufügte oder Botschaften betonte, ist eindeutig das Thema, [das zionistische Unternehmen als] ›Beginn der Erlösung‹ [zu verstehen] […]. Es muss indessen darauf hingewiesen werden, dass sich diese Botschaft an vielen anderen, nichtredigierten, Äußerungen von Rav Kuk findet.«30 Zu dieser Tendenz, die eigene palästinische Gegenwart als Beginn der Erlösung (ʼAtḥalta di-Geʼula) zu deuten, gehört die Forderung Abraham Jizchak Kuks (des Meisters), das Leben im Exil zu beenden und ins Land Israel zurückzukehren – beides also originäre Themen des Vaters Kuk, die der Sohn, so Munitz, als die brennenden Fragen seiner Tage nur deutlicher in den Vordergrund rückte. Hinsichtlich der Redaktion des vierbändigen ʼOrot ha-Kodesch durch David Kohen, den Nasiräer, kommt Munitz zu dem Resultat, dass im Allgemeinen die Eingriffe in die Texte Kuks erheblich vorsichtiger waren als die des Sohnes, und dass die Widersprüche der Eingriffe noch weitere Beteiligte – inklusive des Rav Kuk selbst – offenbaren. Wesentlich an dieser Redaktion sei allerdings, dass David Kohen den Meister mittels der Gliederung des Buches als einen systematischen Denker präsentierte, als der er aufgrund der originalen Notizen nicht erscheint. Um dieses Bild vom Meister zu stärken, war es wohl auch nötig, dass David Kohen systematisch die persönliche Note aus den Texten Kuks tilgte. »Diese systematische Herausnahme findet sich nicht nur an jenen Stellen, an denen Rav Kuk über seine inneren Erlebnisse von Offenbarungen schreibt, sondern überall da, wo Kuk in erster Person spricht.«31 Insgesamt kommt Munitz dennoch zu der Auffassung,32 dass man trotz der textlichen Disparatheit der ursprünglichen Tagebucheinträge hinter ihnen eine kohärente Denkstruktur erkennen könne und dass die Redaktionsarbeit der beiden Herausgeber darum nicht als Verfälschung der Lehren des Rav Kuk bezeichnet werden könne, wiewohl deren Akzentsetzungen die Debatten innerhalb des damaligen religiösen Lagers widerspiegelten, wie auch die Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit bezüglich der wahren Lehren des Rav.33 Trotz dieser durch Munitz und Schwartz diagnostizierten harmonistischen und eine 30
Munitz, Ḥug, S. 19.
31
Munitz, Ḥug, S. 104.
32
Munitz, Ḥug, S. 158.
33
Munitz, Ḥug, S. 160–162.
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Gruppendynamik erkennenden Tendenz der Deutung der Kukʼschen Schriften durch alle Beteiligten, ist es wert auf eben Schwartzens durchaus gegensätzlich klingende Beurteilung der Redaktion von ʼOrot ha-Kodesch durch den Kuk Schüler David Kohen, den Nasiräer, hinzuweisen. Für die höchst eigenwillige und selbständige Redaktionsarbeit der ʼOrot ha-Kodesch durch den Nasiräer David Kohen führt Schwartz eigens dessen diesbezügliche Selbsteinschätzung aus seinen Tagebüchern an: »Die Worte sind die Worte des Rav, in zahlreichen Heften, acht an der Zahl, die Tagebüchern gleichen, über viele Orte zerstreut, ohne Struktur und Verbindung, sie wurden gesammelt, eines mit dem andern verbunden, sie wurden mit Haut und Fleisch überzogen und sie wurden zu einem. In sie wurde Geist und Atem gehaucht und so wurden sie belebt und gerieten zu Augenleuchten. Man nehme ein einfaches Gleichnis: Die Worte des Rav, Worte oder Kapitel, sie sind die behauenen und geschliffenen Steine, in Abschnitte zerteilt, verstreute Wörter und Grundworte. Nach dem Voranstellen einer Überschrift wurde Stein auf Stein gelegt, Wand um Wand geplant, zu Zimmern, Obergemächern, Eingängen und Toren, nach dem kunstvollen architektonischen Plan eines Gestalters, eines Künstlers, der dies aus seinem Geist und seiner Seele ersann, bis es zu einem schönen und herrlichen heiligen Palast wurde. Und mein Onkel, der Rav Avraham Ha-Kohen (Wisbord)34 sagte dazu zu unserem Meister und Rav: Ein Künstler erwirbt durch die Auszeichnung (Verherrlichung) das Gefäß. Und tatsächlich bin ich der Partner dieser Schöpfung. Aber all das wurde in so großer Bescheidenheit ausgeführt, dass der Betrachter und Leser es nicht bemerkt und glaubt, es liege vor ihm ein vollkommenes Werk aus der Hand des großen Schöpfers, des Rav, sein Gedenken zum Segen zum Leben in der kommenden Welt.«35 Diese Redaktionseinschätzung von David Kohen strotzt vor kaum verborgenem Selbstbewusstsein. Seine Arbeit gleicht einem Philosophen und Systematiker, der aus der Aphorismensammlung eines anderen eine systematische Philosophie konstruiert. Schwartz meint, hier könne in der Tat kaum eine Differenzierung zwischen Lehrer und Schüler stattfinden, es sei denn man wendet sich dem »Steinhaufen« vor seiner Verbauung zu, hier also den »Acht Heften« oder »Acht Konvoluten« und betrachtet die einzelnen Steine. Wolle man aus diesem Geröll34
Ergänzung von Schwartz.
35
Aus Sefer ha-Sikkaron Nesir ʼAchiw, ed. Scheʼar Jaschuv ha-Kohen, et al., Jerusalem 1978, zit. nach Schwartz, Ha-Zijonut ha-datit, S. 199f.
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haufen allerdings zu einem Denkzusammenhang kommen, müsse man nolens volens wieder den Weg des »Nasiräers« beschreiten – wobei dann allerdings die »Architektur« des jeweiligen wissenschaftlichen Interpreten die Struktur schafft. Dies ist gewiss ein Argument für die von Schwartz vertretene Auffassung, in all den Kuk-Publikationen seiner Schüler läge demnach eine authentische Deutung der Meisterworte durch den einzelnen Schüler, oder den Schülerkreis vor.36 Es ist lohnend, an dieser Stelle, wo die mögliche Berechtigung einer Systematisierung der Gedanken Kuks zur Debatte steht, ein bezeichnendes Selbstbekenntnis Kuks anzuführen, welches zeigt, dass Kuk selbst wusste, dass er zu einer Systematisierung seines Denkens nie gelangen würde. Er sagt da: »Es fällt mir außerordentlich schwer, mich nur mit Fragen der Halacha zu beschäftigen, auch nur mit der ʼAggada, nur mit exoterischen Dingen wie auch nur mit dem esoterischen. Ebenso fällt es mir schwer, mich bei einem Gedanken ausschließlich mit dem einfachen Glauben zu begnügen oder nur mit der Forschung oder der Logik. Ebenso beim Thema des Rückzuges von der Gesellschaft oder andrerseits der Freundschaft und Hinwendung zur Gesellschaft. All diese Strömungen beherrschen mich, der Glaube wie die Forschung, der Nationalismus wie die Moral, die Halacha und die Haggada, das Exoterische wie das Esoterische, die Kritik wie die Poesie. All dies muss ich aufsaugen und aus der Einheit[sschau], der höchsten Erhabenen Wesenheiten, schreite ich zur wahren Gottesanhaftung, um das heilige Licht der Gemeinde Israels durch Gedanke und Tat emporzuheben zur Quelle ihres Lebens. Siehe ich träume Träume vom Allergrößten, zum Himmel stürme ich, ohne dass der Geist meiner Imagination und meines unablässigen Strebens ein Hindernis kennte, im Glück und Wohlsein, rein und heilig begehre ich stets [an Gott] anzuhaften (lehitdabbek). […].«37 Es ist diese Hinwendung zu so vielen und auch widersprüchlichen Interessengebieten und Themen, die Auflösung von deren Vielfalt im Einheitsgefühl, die eine systematische Gesamtschau des Kuk’schen Denkens so sehr erschweren und alle oben genannten einseitigen Rubrizierungen fragwürdig erscheinen lassen. Ich will hier indessen einen von den bislang genannten Autoren abweichenden Weg der Darstellung beschreiten. Zur Grundlage meiner folgenden Ausführungen sollen die erst in jüngster Zeit publizierten Texte herangezogen werden, die nach allgemeiner wissenschaftlicher Auffassung als unverfälschte Notate von Avraham Jizchak Kuk gelten dürfen, nämlich die 2004 erschienenen Acht Konvolute (Schmone Kevazim), die nach dem Zeugnis des Herausgebers David Ko36
Schwartz, ʼEtgar, S. 7.
37
Acht Konvolute (Schmona Kevazim), III, § 233.
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hen wohl auch die Grundlage für die vierbändige Anthologie ʼOrot ha-Kodesch bildeten. Sie sind ebenfalls die Quelle weiterer Schriften wie ʼOrot und helfen das Kuk’sche Denken als das zu erkennen, was es wirklich ist, ein schillerndes Mosaik von zahllosen bunten Steinen, deren Zusammenfügung zu einem Gesamtbild immer etwas von Willkür besitzen muss. Leitfaden bleiben hier also die Einzelnotate wie Kuk sie niederschrieb, ohne sekundäre Redaktionen seiner Editoren. Aussagen aus anderen Texten, welche diesem Bild entsprechen, können zur Ergänzung hinzutreten. Diesem dann zu erwartenden authentischen Bild des Meisters sollen schließlich hier und da bedeutende Abweichungen und Neusetzungen der Schüler in ihren Ausgaben angefügt werden.
3.
Philosophische Voraussetzungen und Grundcharakteristika des Kukʼschen Denkens
3.1
Unterschiedliche Anklänge
In der Literatur zu Avraham Jizchak Kuk wird allenthalben die Frage möglicher philosophischer Einflüsse auf Kuks Denken erörtert. Dies tat schon sein Schüler und Herausgeber David Kohen, der selbst eine zünftige philosophische Bildung erfahren hatte. In seinem Vorwort zu den von ihm gestalteten und herausgegebenen ʼOrot ha-Kodesch38 zählt er eine Reihe von Namen und philosophischen Schulen auf, deren Spuren er in Kuks Denken erkannte. Dies sind die platonische Philosophie, insbesondere Salomo Ibn Gabirol,39 der Organizismus des 19. Jahrhunderts – der hier schon bei Moses Hess und Achad Haam begegnete40- außerdem nennt Ha-Kohen, die verschiedenen kabbalistischen Schulen, Mosche Ḥajjim Luzzato, Schem Tov Falaqera, Jizchak Ibn Latif, Moses Cordovero, Jizchak Lurja, Menachem Asarja di Fano, und von den zeitgenössischen Henri Bergson. In einem Vortrag zu den Beziehungen Kuks zur modernen europäischen Philosophie nennt Elieser Goldmann41 Moses Hess, Friedrich Wilhelm Schelling, Johann Gottlieb Fichte, und natürlich auch Immanuel Kant, die Kuk allesamt aus der hebräischen Geschichte der neuern Philosophie 42 von Fabius Mieses ken-
38
ʼOrot ha-Kodesch, S. 21–26.
39
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 525–552.
40
S.o. Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, I, 5 und 6; IV, 2 und 4.1.
41
E. Goldmann, Sikkato schel ha-Rav Kuk le-Maḥschava ha-Eropit, in: Jovel ʼOrot. Haguto schel ha-Rav Avraham Jizchak ha-Kohen Kuk, be ʽArichat B. ʼIsch Schalom we-Sch. Rosenberg, Jerusalem 2005, S. 115–122.
42
So der deutsche Nebentitel, hebr. Fabius Mieses, Korot ha-Filosofija ha-ḥadascha, Leipzig 1887.
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Avraham Jizchak Kuk
nengelernt habe, die 1887 in Leipzig erschienen war. Tamar Aylat-Yaguri sieht außerdem Einflüsse von Søren Kirkegaard, denen sie eigens einen ganzen Aufsatz widmete.43 Die meisten dieser gesuchten Einflüsse sind jedoch eher eklektischer Art. Eine gewisse Ausnahme hierbei machen indessen Henri Bergson und Arthur Schopenhauer, mit denen sich Kuk ausdrücklich auseinandersetzt. Er grenzt sich von beiden ab, aber um sogleich wichtige Einsichten von ihnen zu übernehmen. Beide werden darum in dieser Darlegung des Kukʼschen Denkens etwas ausführlicher herangezogen werden müssen. Die wichtigsten Themen von Bergson, die für Kuk eine Rolle spielten, werden im Folgenden kurz zusammengefasst und dann an den entsprechenden Stellen der Ausführungen Kuks nochmals erwähnt. Bezüglich Schopenhauers wird der Einfluss durch zwei der im Folgenden von mir gewählten Überschriften markiert: »Die Welt als Vorstellung« und »Die Welt als Wille«. Vor allem im letzteren Kapitel wird die Auseinandersetzung und Zustimmung mit Schopenhauer erörtert werden. Die Texte von Abraham Jizchak Kuk sind, wie schon oben erörtert, keine philosophischen Traktate und schon gar nicht zusammenhängende Buchtexte, sondern tägliche oder gelegentliche Notizen unterschiedlicher Länge, die von manchen Forschern zurecht als Aphorismen charakterisiert werden. Betrachtet man diese Texte von dem ihnen gemeinsamen Duktus und Gegenstand her, kann man sie als Reflexionstexte bezeichnen, in denen der Autor über sich, das menschliche Leben und vor allem über die Befindlichkeiten der menschlichen Seele nachdenkt. Auch da, wo der Autor über Gott, die Welt und die jüdische Tradition, über die Geschichte und den Messianismus oder die in seinem Denken damit eng verbundene Wiederbelebung (Teḥija) des jüdisch nationalen Lebens reflektiert, geschieht das meist aus dem Blickwinkel der menschlichen Erfahrung, dem Erleben der Seele und ihren Aufgaben in der Welt. Die Metaphysik ist keine Metaphysik im traditionell-mittelalterlichen Sinn, sondern interessiert recht eigentlich nur aus dem Blickwinkel der menschlichen Seele und ihren Bedürfnissen. Man ist geneigt hier an Hermann Cohens Rede von der Korrelation beim Sprechen über Gott und Mensch zu denken – beide sind nur zusammen denkbar.44 Es zeigt sich in der steten Bezugnahme Kuks auf die Seele deutlich das mit Wilhelm Dilthey (1833–1911) in die Philosophie eingedrungene Interesse an der Psychologie und die Auffassung, das »Erkennen« und »Verstehen« als psychischen Vorgang begreifen zu sollen.45 Wie überhaupt das Interesse an der Erkenntnislehre zu einem zentralen Fokus des Kukʼschen Denkens wurde, wie 43
T. Aylat-Yaguri, Avraham Isaac Kook: Faith Awe and Love, in: Kirkegaard’s Influence on
44
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 630–635.
45
Vgl. W. Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 387–393.
Theology, Tome III: Catholic and Jewish Theology, ed. J. Steward, S. 171–188.
Zionismus
329
Benjamin ʼIsch Schalom in seiner grundlegenden Darstellung von Kuks Werk eindrücklich zeigte.46
3.2
Motive von Henri Bergson im Denken von Kuk
Schon der Schüler und Herausgeber der ʼOrot ha-Kodesch, David Kohen, berichtet in seiner Einleitung zu der Anthologie: »Als der Rav in Jafo weilte, besuchte ihn der Rav Dr. Kaminka, der einen Aufsatz über ihn publizierte, [in dem er darlegte], dass er die Auffassungen des Rav [Kuk] den Auffassungen von der Evolution bei den modernen Philosophen verwandt erkannte, Bergson.«47 Und in der Tat nennt Kuk Bergson wenigstens zwei Mal in seinen Kladden ausdrücklich. Eine gewisse, wenn auch kritische, Nähe Kuks zu Henri Bergsons Denken besteht offenbar vor allem zum frühen Bergson, wie dies aus der sehr kurzen aber prägnanten Arbeit von Maria Austermann zum frühen Bergson deutlich wird.48 Dort erscheint tatsächlich eine Struktur erkenntnistheoretischer Begriffe, wie sie bei Kuk mutatis mutandis wiederzuerkennen ist, das heißt eine Vielzahl hierarchisch geordneter Erkenntnisformen. Auffällig ist bei Kuk vor allem der in der mittelalterlichen jüdischen Philosophie so nicht verwendete Begriff des »Geistes« (Ruach), der als Gegensatz zur Materie die spirituelle Seite des Seins repräsentiert. Bei Bergson verzweigt sich der Geist im Menschen als Erkenntnismedium in verschiedene hierarchisch geordnete Erkenntnismodi: Intuition, Intellekt und schließlich der Instinkt.49 Dazu erläutert Austermann: »Für Bergson bedeutet Intuition Geist (esprit), der nicht von der Materie geschluckt wird, der gleichsam überschießt und seine Aufmerksamkeit auf sich selbst richtet. Sie ist die direkte Schau (vision directe) des Geistes durch den Geist (de lʼesprit par lʼesprit). Sie bedeutet zunächst Bewußtsein, aber ein unmittelbares Bewußtsein (conscience immédiate), eine Schau, die sich kaum
46
B. ʼIsch Schalom, Ha-Rav Kuk. Ben Rationalism le-Mistika, Tel Aviv 1990. Englisch: Binyamin Ish Shalom, Rav Avraham Itzhak HaCohen Kook: Between Rationalism and Mysticism, Albany 1993; u. s. J. Ben-Schlomo, »Schirat ha-Ḥajjim«. Perakim be-Mischnato schel ha-Rav Kuk, Tel Aviv 1989.
47
ʼOrot ha-Kodesch, Einleitung, S. 21, u. vgl. S. 34. Der genannte Dr. Kaminka ist der Rabbiner, Übersetzer klassischer griechischer Werke ins Hebräische, Philosoph und Polyhistor Dr. Armand Ahron Kaminka (1866–1950).
48
M. Austermann, Die Entwicklung der ethischen und religionsphilosophischen Gedanken bei
49
Austermann, Entwicklung, S. 52.
Henri Bergson, Frankfurt a. M. 1981.
Avraham Jizchak Kuk
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von dem gesehenen Gegenstand unterscheidet, eine Erkenntnis, die Berührung (contact) und sogar Koinzidenz ist.«50 Die Intuition nennt Bergson einmal »einen Instinkt, der reflektieren kann«.51 Die Intuition ist demnach kein triebhaftes Wahrnehmen, sondern sie setzt Denken und erlerntes Wissen voraus, die ihr als notwendiges Fundament dienen, und welche sie hernach auch überprüfen müssen.52 Mit einer solchen Charakterisierung wird zugleich deutlich gemacht, dass Intuition, Intellekt und Instinkt aus ein und derselben Quelle stammen, also nur unterschiedliche Modi der Entfaltung des Geistes sind, die auch aufeinander bezogen bleiben. Nach Bergson war es ein Grundirrtum seit Aristoteles, dass man das »pflanzliche«, das »instinktive« und das »verstandesmäßige« Leben als sukzessive Entwicklungsstufen einer einzigen Entwicklungslinie betrachtete, während diese drei Formen der Lebensmeisterung in Wahrheit »die drei divergenten Richtungen einer Aktivität sind, die sich im Gang ihres Wachstums gespalten hat«,53 wobei zu beachten ist, dass jede dieser drei »Entwicklungs-Tendenzen« das Gemeinsame zu bewahren sucht, was mit der eigenen Spezialisierung vereinbar ist.54 Auch der Intellekt und der Instinkt sind zwei Entwicklungen des Geistes, in denen sich der Geist im Falle des Instinkts »sich selbst immanent bleibt«, während er im Intellekt »sich aus sich selbst heraussetzt und in Benützung der toten Materie aufgeht.«55 Etwas konkreter ausgedrückt bedeutet dies, in den Worten Bergsons: »Vollendeter Instinkt ist das Vermögen der Anwendung, ja des Aufbaus organischer Werkzeuge, vollendeter Intellekt das Vermögen der Verfertigung und Benützung anorganischer Werkzeuge.«56 Der Instinkt impliziert sein Wissen er ist »angeborene Erkenntnis einer Sache.«57, er hat ein nichtwissendes Wissen, während der Intellekt eine gedachte und bewusste Erkenntnis besitzt.
50
Austermann, Entwicklung, S. 47–48; siehe H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden,
51
Austermann, Entwicklung, S. 51.
Meisenheim am Glan 1948, S. 44. 52
Austermann, Entwicklung, S. 59f.
53
H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, in: [Die Sammlung] Nobelpreis für Literatur, Zürich
54
Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 146. 159.
1967, S. 159. 55
Austermann, Entwicklung, S. 52.
56
Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 163, u. vgl. Austermann, Entwicklung, S. 52.
57
Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 172.
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331
Die Nähe zu Kuk zeigt sich darin, dass es bei ihm ebenfalls unterschiedliche Erkenntnismodi gibt, die hierarchisch übereinander gelagert sind, die aber doch alle aus derselben Wurzel stammen. Ein weitere Nähe besteht in der Auffassung der Gegenstände, welche von den verschiedenen Erkenntnismodi erkannt werden. Der Erkenntnisgegenstand der Intuition ist nach Bergson die »Dauer« (durée), also jene Wirklichkeit des Lebens, die der Intellekt nicht erkennen kann, weil er die Dinge stets atomisiert und als statische Momente im Raum verortet. Der Intellekt erfasst zum Beispiel die Bewegung, die nach Bergson maßgebliche Wirklichkeit, stets nur wie ein Film, der unzählige statische Einzelbilder erfasst, nicht aber die Bewegung als solche. Er nennt dies darum den »kinematographische[n] Mechanismus des Denkens.«58 Vernunft und Intuition besitzen zwei grundlegend unterschiedliche Erkenntnisgegenstände. Während die Vernunft die Dinge der Welt als statische Entitäten in den Blick nimmt und deren Verhältnis zueinander analysiert und so zum Beispiel den Vorgang der »Bewegung« beschreibt, erfasst die Intuition die Bewegung als das Wesentliche, das Absolute, da nichts statisch, sondern alles im steten Wandel ist. Dies ist die Wahrnehmung der »Dauer« (durée): »Kurz, die reine Veränderung, die wirkliche Dauer ist etwas Geistiges oder von Geistigkeit Durchdrungenes. Die Intuition ist das, was den Geist, die Dauer, die reine Veränderung erfaßt. Da ihr eigentliches Gebiet der Geist ist, möchte sie in den Dingen, sogar in den materiellen, ihren Anteil an der Geistigkeit ergreifen.«59 »Die Intuition«, so sagt Bergson, »geht von der Bewegung aus, setzt sie oder vielmehr erfaßt sie als die Wirklichkeit selber und sieht in der Unbeweglichkeit nur eine Abstraktion, gleichsam eine Momentaufnahme unseres Geistes.«60 Die Intuition ist demnach stets auf die Dauer gerichtet, ist mit ihr verbunden, »sie sieht, sie weiß, daß der Geist über sich selbst hinaus zu wachsen vermag, daß die wahre Geistigkeit gerade darin besteht, und daß die vom Geist durchdrungene Wirklichkeit Schöpfung ist.«61 Es ist dieser Topos der mutatis mutandis auch bei Kuk wiederkehrt, der dem Verstand die Analyse der Weltwirklichkeit, der statischen Dinge und ihrer Begrifflichkeiten zuschreibt, wohingegen die Intuition, bei Kuk die höhere Form des Glaubens, das Eigentliche, das Wesentliche, nämlich
58
So schon in der Überschrift des vierten Kapitels von »Schöpferische Entwicklung«: »Der ki-
59
H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden, Meisenheim am Glan 1948, Einleitung
60
H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden, S. 46–47.
61
H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden, S. 47.
nematographische Mechanismus des Denkens und die mechanistische Täuschung.« (Zweiter Teil), S. 45.
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die sich unendlich entwickelnde Einheit des Seins, deren endlos dynamische Entwicklung als Bewegung der Vervollkommnung, erfasst. Die Wirklichkeit, bei Bergson der »Lebensschwung« (élan vital), bei Kuk das Heilige oder die unendliche, sich unendlich entfaltende Einheit des Seins. Kuks Kritik an Bergson setzt aber da ein, wo nur diese dynamische Konzeption der Vollkommenheit gelten soll nicht zugleich aber die mit ihr dialektisch verbundene statische ruhende Einheit des platonischen Weltbildes. Wie bei Kuk besteht schon bei Bergson dennoch keine absolute Kluft zwischen Intuition und Intellekt beziehungsweise zwischen Glauben und Intellekt. Beide haben zwar unterschiedliche Erkenntnisweisen und – Gegenstände, doch sind sie nicht absolut voneinander geschieden. Bergson vergleicht den Vorgang der Intuition einmal mit einem Autor, der lange und intensiv alle für sein Thema nötigen Daten gesammelt hat, sie kommentierte und anhäufte, dass aber damit das erfolgreiche Werk noch nicht gelungen, geschweige denn in die entscheidende Phase getreten ist. Es ist erst der Initialpunkt, jene zusätzliche Anstrengung »um sich mit einem Schlage mitten in den Gegenstand zu versetzen, um aus der Tiefe einen Antrieb herauszuholen, dessen Auswirkungen man sich dann nur zu überlassen braucht. Dieser einmal empfangene Antrieb wirft den Geist in eine Bahn«, in der sich dann alle Fakten zusammenfügen.62 Ohne die vorgängige Sammelarbeit, ohne das von der Vernunft gesammelte und geordnete Wissen, kann dies nicht geschehen. »Wissenschaft und Metaphysik vereinigen sich also in der Intuition«, erstere sammelt und ordnet das Wissen um die statisch verstandenen Dinge, letztere erfasst die eigentliche Wirklichkeit, die Bewegung in allem.63 Um Bergson noch einmal selbst zu Wort kommen zu lassen: Nach einer Erörterung der unterschiedlichen Betrachtungsweise der Bewegung eines Armes, die sich von außen betrachtet in eine Vielzahl von statischen Einzelpositionen zerlegen lässt, durch den sich bewegenden Menschen aber als eine Einheit der Bewegung wahrgenommen wird, resümiert Bergson: »Hieraus folgt, daß ein Absolutes nur in einer Intuition gegeben werden kann, während alles übrige von der Analyse abhängig ist. Intuition heißt jene Art von intellektueller Einfühlung, kraft deren man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unausdrückbarem besitzt. Die Analyse dagegen ist das Verfahren, das den Gegenstand auf schon bekannte, also diesem und anderen Gegenständen gemeinsame Elemente zurückführt. Analysieren besteht demnach darin, ein Ding durch etwas auszudrücken, was nicht es selbst ist. Jede Analyse ist also 62
H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden, Einführung in die Metaphysik, S. 224.
63
H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden, S. 216.
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eine Übersetzung, eine Entwicklung in Symbolen, eine Darstellung, gewonnen von aufeinanderfolgenden Gesichtspunkten aus, von denen aus man ebensoviele Zusammenhänge zwischen dem neuen Gegenstande, den man untersucht, und anderen die man schon zu kennen glaubt, verzeichnet. […] Die Intuition aber ist – wenn sie möglich ist – ein einfacher Vorgang.«64 Und: »Das bedeutet, daß die Analyse immer mit dem Unbeweglichen arbeitet, während die Intuition sich in die Beweglichkeit oder – was auf dasselbe herauskommt – in die Dauer versetzt. Hier ist die ganz genaue Grenzlinie zwischen der Intuition und der Analyse. Man erkennt das Reale, das Gelebte, das Konkrete daran, daß es die Veränderlichkeit selbst ist.«65 Auch für Kuk stehen Intellekt und Glaube in einer sich gegenseitig bedingenden Relation, sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind unterschiedliche Phasen der Wahrnehmung, denen verschiedene Erkenntnishorizonte zugehören. Ein weiterer Berührungspunkt ist die Vorstellung von der Freiheit, die bei beiden Denkern tief mit dem Wesen der individuellen Persönlichkeit verankert ist. Bei Bergson sind »Frei im positiven Sinn […] Entscheidungen, hinter denen die ganze Persönlichkeit des Handelnden steht. Das freie Handeln ist ein ganzheitliches Geschehen, das nichts mit einer Wahl zwischen vermeintlich selbständigen Motiven unter dem Gesichtspunkt ihrer vermeintlichen Stärke zu tun hat.«66 Ganz ähnlich wird sich bei den unten folgenden Darlegungen die Freiheit nach Kuk als ein Element des zentralen Kerns der Person, nämlich der Seele darstellen. Auch die Auffassung von der Gesamtheit des Seins bei Kuk weist Ähnlichkeiten mit den Auffassungen von Bergson auf. So ist nach Bergson »Die Entwicklung des Lebens […] nicht als linearer Prozeß, sondern als Mannigfaltigkeit divergierender Entwicklungslinien, die von einem einzigen Punkt ihren Ausgangspunkt nehmen, vorzustellen.«67 Alles Seiende hat demnach einen einzigen
64
H. Bergson, Einführung in die Metaphysik, in: H. Bergson, Materie und Gedächtnis und andere Schriften, Frankfurt a.M. 1964, S. 9 (übs. R.v. Bendemann) u. vgl. S. 35; H. Bergson, Einführung, in: Denken und schöpferisches Werden, S. 183; u. vgl. ebda. S. 216.
65
H. Bergson, Metaphysik, in: Materie und Gedächtnis, S. 25; in: Denken und schöpferisches
66
Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 395f; der wichtigste bezogene Text ist H. Bergson,
67
Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 398.
Werden, S. 203. Einführung in die Metaphysik, Jena 1909.
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Avraham Jizchak Kuk
Ursprung, aus dem sich die ganze Vielfalt schrittweise entwickelte. So erscheint es auch im platonisierenden Weltbild von Kuk. Auch hinsichtlich der Auffassung von der Bedeutung der Gebote ist eine Nähe Kuks zu Bergson zu beobachten, wenn Kuk der normativen Kraft der Halacha die Handlungsfreiheit des elitären Zaddik, gegenüberstellt, die aus eigener Vollmacht handelt. Nach Bergson heißt dies, dass gegenüber der geschlossenen Gruppenmoral einzelner Gesellschaften und Völker eine an solche partikulare Regeln nicht gebundene Ethik besteht: »Die offene Menschheitsmoral besteht nicht in sozialen Geboten und Verboten, sondern sie bezweckt ein Handeln unter dem Eindruck von Idealen und Vorbildern. Gewisse Verhaltensweisen werden von moralisch schöpferischen Menschen intuitiv als moralisch wertvoll erfaßt und in einer Weise vorgelebt, daß andere Menschen sie zu übernehmen suchen. Eine solche Moral läßt sich nicht auf feste Regeln bringen und ist in diesem Sinne offen.«68 Dabei will Bergson nicht für einen moralischen Relativismus plädieren, sowenig wie Kuk für eine Befreiung vom jüdischen Gesetz wirbt, ganz im Gegenteil, aber dennoch zeigt er gelegentlich eine Utopie an, die über der Halacha steht. Eine letzte Nähe findet man im Religionsverständnis der beiden Denker. Nach Bergson gibt es eine mit den gesellschaftlichen Interessen verbundene Religion, welche »die Funktion hat, den sozialen Zusammenhalt zu stärken sowie Tradition zu begründen oder zu festigen. Sie hat insofern Bedeutung für die individuelle Lebensbewältigung, als sie Tröstung gewährt und depressive Zustände überwinden hilft. Von dieser statischen ist die dynamische Religion zu unterscheiden, die Bergson als Erhebung des Geistes über die Beschränkungen der Individualität und das Streben nach Verbindung mit der Einheit des Lebens beschrieb. […] In einer für seine Metaphysik des Lebens typischen Weise identifizierte er die Gottesidee mit der Idee der lebendigen All-Einheit. Gott ist nicht Gegenstand rationalen Erkennens, sondern der Intuition, die beim späten Bergson zu einer Art mystischer Schau wird. Gott erfassen heißt, mit ihm eins werden. Von diesem Standpunkt aus deutete Bergson schließlich auch den élan vital als Ausdruck der göttlichen Liebe, so daß er in der Natur im Allgemeinen eine Manifestation Gottes erblicken konnte.«69 Kuk konnte sich mit solchen Gedanken des französischen Philosophen umso mehr anfreunden, als sie ja in vielerlei Weise auch in der Kabbala und im osteuropäischen Ḥasidismus ihre Parallelen finden.70 Allerding steht Kuk hierbei dem Ḥasidismus näher als der Kabbala, da ja der Erstere, wie Kuk, eine Akzentverschiebung vom metaphysischen zum Psychischen hin vollzogen hatte, welche es nicht erlaubt, in Kuk einen Kabbalis68
Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 399.
69
Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 2, S. 400.
70
Zu beiden Richtungen siehe Jüdisches Denken Bd. 2.
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335
ten zu sehen, auch wenn er gelegentlich die kabbalistischen Sefirot-Lehren aufnimmt. Diese Nähe zum Ḥasidismus zeigt sich auch in Kuks Auffassung vom Zaddik als einem elitären, aus der übrigen Gemeinde herausstehendem religiösen Virtuosen.71 Dass er indessen auch kein Ḥasid ist, macht Kuk an vielen Stellen seiner Notate nachdrücklich deutlich.
4.
Die Seele – der Fokus des Kukʼschen Denkens
4.1
Die Aufgabe der Wiederbelebung Israels: Spirituelle Erneuerung – eine neue Erkenntnislehre
Die Wiederbelebung des Volkes Israel in seinem Land ist für Kuk Anlass, die Grundlagen des Judentums als geistige und körperliche Nation zu überdenken, um den Weg einer geistig-spirituellen Neuerung beschreiten zu können. Er entwirft dafür die Grundlagen einer Erkenntnislehre, in welcher die Ratio und der Glaube miteinander verflochten werden. Kuk entwickelt seine Lehren aus einem Amalgam mittelalterlich-philosophisch und kabbalistisch gefärbter Lehren und Einsichten der modernen Philosophie und getragen von dem Willen, moderne Wissenschaft, säkulare Kultur, Körperertüchtigung und sogar offene Sündhaftigkeit in eine Einheit zu binden, welche allesamt sich auf einem Weg zu steter Höherentwicklung befänden. Kuks zionistisches Denken ist in dieses enge und weit gespannte Netz von Gedanken eingefügt, ohne das es nicht wirklich verständlich ist, weshalb dem Leser hier ein nicht allzu kurzer Atem abverlangt werden wird. Es muss dieser lange Anmarschweg über die Kuk’sche Erkenntnis- und Glaubenslehre abgeschritten werden, bevor seine Äußerungen zu Israel, zum Land-Israel und der nationalen Wiedergeburt vorgestellt werden können. Auch Kuks in seinen Tagen als revolutionär und auf Seiten der Orthodoxen als anstößig empfundene Hinwendung und Einbeziehung der säkularen oder gar religionsfeindlichen Zionisten, wird vor dem Hintergrund dieser Gedanken Kuks verständlich.
4.2
Schreiben als Entlastung und Pflege der Seele
Man wird das Schreiben von Avraham Jizchak Kuk nur dann richtig verstehen, wenn man weiß, welchen Stellenwert gerade das Schreiben selbst für sein Leben und damit recht eigentlich für alle Menschen hat. Dieses Schreiben hat für Kuk nicht die Funktion, Lehre für die anderen Menschen zu sein, Lehre für eine Schülerschar. Dieses Schreiben scheint für Kuk ganz selbstbezogen zu sein, Teil
71
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 870–886. 904–910.
Avraham Jizchak Kuk
336
eines stets nötigen Lebensvollzuges, etwas das der eigenen Seelenhygiene dienen muss. Er schreibt für sich selbst, vergleichbar dem täglichen Brot, das der Mensch für die Gesunderhaltung seines Körpers braucht. Und analog ist ihm das Schreiben ein Bedürfnis der Gesunderhaltung der Seele. Dieses Verständnis der täglichen schriftlichen Übung ist zugleich symptomatisch für die schon angedeutete psychologische Wende in Kuks Denken. Der Seele und ihrem Befinden gilt offenbar das ganze Bemühen von Kuk, alles andere, alle übrigen Themen stehen zu dieser Mitte seiner »Lebens-Theologie« in Relation. Ein typisches Beispiel dieses Anliegens ist der folgende Reflexionstext Kuks, in dessen Mitte die Sorge um die menschliche Seelenruhe und die Heilung der Seelen steht, denn gerade sie sind die Voraussetzungen und Grundlagen für die Heilung der ganzen Welt: »Wenn der Geist in Kleinheit verfällt, und man keine Ruhe in seiner Seele findet wegen seiner wenigen guten Taten, wegen des Bedenkens der Sünden und des Mangels an Torastudium, dann setze man seine ganze Kraft in das Geheimnis des Denkens (Machschava) und wisse, wenn man eine Sache aus sich selbst versteht, dieses Denken vor Gott höher angerechnet wird als alle Opfergaben und Brandopfer. Das heißt, das Denken besitzt Heiligkeit und allerhöchste geistige Gestaltungen, alle Segenswirkungen (Segullot) der Opfer und praktischen Gottesdienstübungen und alle Segenswirkungen der praktischen Tora wie auch des mündlichen Verhandelns über die Hauptstücke der Tora. Und man sei getrost und stark, denn zuweilen rührt der Mangel an Taten und Studium von dem mächtigen Streben eines Menschen nach dem Mysterium (Rassa) des Denkens her. Und es kann sein, dass ein großer Teil seines Falles daher kommt, dass man das Fundament seines Denkens nicht genügend erwogen hat. Dann bemühe man sich mehr um die innere Einsicht, um zu verstehen, dass die Wiederherstellung / Heil (Tikkun) der ganzen Welt, und die Heilung (Refuʼot) aller Seelen vom Geheimnis des Denkens abhängt. Darum erhebe man sein Denken soweit es einem möglich, dann steigt man zur Umkehr aus innerer Liebe empor. Heil dem Volke, das den Jubel seines Herrn versteht, im Lichte Deines Angesichtes werden sie wandeln.«72 Diese Reflexion Kuks ist exemplarisch für sein Denken, sie stellt nicht nur das Befinden der menschlichen Seele in die Mitte der menschlichen Sorge und Sorgfalt – nicht etwa die Ehre Gottes oder den Gehorsam des Torastudiums –, sondern sie empfiehlt außerdem einen vom rabbinisch-orthodoxen Verständnis abweichenden Weg der Heilung der Seele. Rabbinisch wäre gerade die Tora, deren Erfüllung in Wort und Tat, das Remedium für die menschliche Seelenruhe. Hier erscheinen sie geradezu als Hindernis, was an anderen Stellen noch viel deutli72
Acht Konvolute, V, § 261.
Zionismus
337
cher ausgedrückt wird.73 Das Heilmittel für die menschliche Seele ist vielmehr das menschliche Denken, eine Tatsache welcher der schon genannte Benjamin ʼIsch Schalom, dadurch Rechnung trägt, dass er in seiner vierteiligen Darstellung des Kukʼschen Denkens der Erkenntnislehre Kuks den gesamten ersten Teil widmet und dieses Kapitel mit dem symptomatischen Titel überschreibt: »Die Grundlagen der Wirklichkeit und des Erkennens.« Das Denken hat für Kuk in der Tat fundamentale Bedeutung, wobei er allerdings, wie oben im Verweis auf Bergson schon angedeutet, das Denken für Kuk verschiedene Schichten und Ebenen hat, wozu später noch das Nötige zu sagen sein wird. Hier geht es zunächst darum, dass eine bestimmte Art des Denkens, das fundamentale, das geheimnisbezogene, für den gesunden Seelenzustand des Menschen konstitutiv ist. Mit diesen Feststellungen wird der nächste Schritt im Denken Kuks verständlich, der schon in der Überschrift dieses Kapitels angezeigt ist, nämlich die Frage nach der Bedeutung des Schreibens für Kuk selbst. In einem nur sehr kurzen Notat sagt er: »Zuweilen kann man sich von seiner Niedrigkeit nicht mehr anders erheben, als dadurch, dass man das Trachten seines Herzens niederschreibt und auf diese Weise die inneren Wunden heilt, die durch die materiellen Neigungen entstanden waren. [Wie in der Schrift geschrieben steht: ›Schlachtopfer und Speiseopfer gefallen dir nicht, doch Ohren hast du mir gegraben, Brandopfer und Sündopfer forderst du nicht.] Da sprach ich: Siehe ich komme. In der Buchrolle steht über mich geschrieben. Deinen Willen zu tun, mein Gott, ist mein Begehr, und deine Tora ist in meinem Innern‹.« (Ps 40,7–8).74 Die Hilfe des Menschen, sich aus den Zuständen seines Niedrigkeitsempfindens zu erheben, so verwendet Kuk den Psalmvers, liegt im Innern des Menschen, dort ist Gottes Tora zu finden. Und um dieses zu entdecken, ist es hilfreich, die Gedanken und das Trachten des Herzens niederzuschreiben, denn gerade von da, aus dem Innern jedes Menschen kommt seine Tora, das, was ihm den Weg seines Lebens weist. Durch den im angeführten Text in eckiger Klammer ergänzten Zusammenhang wird auf die schon oben sichtbar gewordene Priorität Kuks hingewiesen. Es sind nicht die formalen Opfervorschriften, die dem Menschen den Weg weisen, sondern das, was er aus seinem Innern als Lehre emporhebt, und um dies zu erkennen, ist die Niederschrift, die schriftliche Selbstreflexion, der beste Weg. Schon daraus erhellt, warum Rav Kuk seine Gedanken täglich niederschrieb, nicht zur Belehrung für die anderen, sondern als einen Akt der 73
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 273–278; dies ist eine Bewertung, wie sie ähnlich der Baʽal
74
Acht Konvolute, VI, § 34.
Schem Tov, der Begründer des Ḥasidismus kennt, S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 797–798.
Avraham Jizchak Kuk
338
Selbstklärung, die ihn weiterbringt und trägt. Wir sind indessen nicht alleine auf diese Schlussfolgerung angewiesen, Kuk sagt es einmal ausdrücklich: »Es ist gut, stets auf die Gedanken und Vorstellungen zu achten, um jeglichen Gedanken sogleich mit seinem Entstehen in den verborgenen Winkeln der Seele einzufangen, seine Schritte vom Beginn seines Hervortretens aus der verborgenen Tiefe ins Licht der Offenbarung zu bewahren und all seine Spuren, die man spürt, in all seinen Entwicklungspfaden aufmerksam niederzuschreiben.«75 Mit diesen Empfehlungen ist man gewiss auf das Geheimnis der unablässigen Flut der unzähligen und sich über Jahre und alle Aufenthaltsorte Kuks ergießenden Tagesnotizen gestoßen. Es ging Kuk nicht darum, ein System zu erstellen, sondern dem Trachten seines Inneren nachzulauschen, aus dem, wie er glaubte, die je ganz persönliche Offenbarung für jeden Menschen fließt.
4.3
Die Seele – ihr Ort im neoplatonischen Weltbild Kuks
Das Weltbild von Avraham Jizchak Kuk ist im Grunde das neoplatonische,76 auch wenn Kuk gelegentlich die spätere kabbalistischen Diktion aufnimmt. Kuk geht auf jene neoplatonische Tradition zurück, wie sie innerhalb des Judentums am klarsten etwa von Pseudo Bachja in seinem Büchlein Reflexionen über die Seele vorgetragen wurde.77 Es ist die Seele, der sein zentrales Interesse gewidmet ist, ihrem Schicksal, wie sie aus dem himmlischen Bereich, in die irdischen Niederungen herabsteigt und zurück in die göttliche Einheit, oder richtiger in die Einheit der »Seele« strebt. Sie ist es, wie in den alten platonischen Systemen,78 die vor allen anderen Geschöpfen den progressus der göttlichen Emanation im regressus in die göttliche oder psychische Einheit zurück führt: »Gerade weil die Seele des Menschen höher und näher am Innen als die Engel ist, steigt sie wegen dieser ihrer Größe auf die untersten Stufen hinab und von dort steigt sie mit großem und mächtigem Reichtum wieder hinauf und bereichert so die gesamte Welt mit sich zu einem ursprünglichen Aufstieg.«79 An anderer Stelle wird die Doppelkonzeption des regressus noch deutlicher ausgesprochen: »Das ist das beständige Gesetz des Menschen, seine Seele zu erleuchten, sie zu erheben und hochzutragen, zu läutern und zu erleuchten, bis das höchste Licht der höchsten Seele 75
Acht Konvolute, VIII, § 52.
76
Darauf weist schon David Kohen, der Herausgeber der ʼOrot ha-Kodesch hin, Bd. I, S. 23.
77
S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 553–557; die übrigen Neoplatoniker, ebenda, S. 488–584.
78
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 498–499. 560–561.
79
Acht Konvolute, IV, § 62; IV, § 121.
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in all ihre Klüfte dringt. Und dies ist auch das Gesetz der Welt, bis in die Tiefen der Weltseele (ha-Nefesch ha-ʽolamit) einzudringen.«80 Wie bei den mittelalterlichen Neoplatonikern wird bei Kuk keine klare und eindeutige Linie zwischen der göttlichen und der irdischen Seele gezogen,81 ist dies doch letztlich dieselbe Seele, allerdings in unterschiedlichen Daseinsformen beziehungsweise auf verschiedenen Seinsebenen. Es ist die obere Seele, welche die untere, die menschliche Seele belebt,82 und auch umgekehrt ist es die menschliche Seele, welche durch das Tun des Guten die »Weltseele« mit Segen erfüllt.83 Darum werden in den Texten Kuks die Beschreibungen der Welt, die Lebenserfahrungen und Lebensziele des Menschen zumeist als Widerfahrnisse und Aufgabe der Seele beschrieben, der Seele, die hienieden, aufgegliedert in zahllose Einzelströme, ihr Ziel und Streben alleine in der Einheit der göttlichen Seele hat. All dies wird in einem fast klassischen neoplatonischen Traktat von Kuk einmal so beschrieben: [I] »Der Oberste Gedanke (Raʽajon), der aus dem Fundament des obersten Erkennens (Hakkara) fließt, aus der Größe des ʼEn Sof (Unendlichen), der die Tiefe des Segens aus der Mitte der Seele hervorbringt, gesegnet sei Er, bis dieser zu jenem Emanierten Licht durch die reine Emanation gelangt, dank dessen Kraft schon sich gestaltende, qualifizierte und geleitete Welten erkennen lassen. Diese ganze leuchtende Einheit, all jene Köstlichkeiten, voller Leben und Macht in der Höhe ihrer Allheiligkeiten, sie sind insgesamt die Oberste Einheit (ha-Jichud ha-ʽEljon) ›Höre Israel der Herr unser Gott ist ein Herr‹ (Dtn 6, 4). [II] In ihrem Erhabensein wird die Seele alleine von diesem obersten Tau benetzt, von der Vergnüglichkeit der unendlichen Einheit, dessen leuchtende Farben beleben ihr Innerstes und ihr Becher ist voll eingeschenkt. Von da an wird das Licht der Einheit in der Wirklichkeit des Geschaffenen erkannt: Welten und Welten über Welten, geistige, intelligible, und voluntative, potentielle, verkörperte und begrenzte, verbundene und verknüpfte, geformte und geordnete, bis hin zum Abhang dieser gemachten Weite, zahllos sind ihre Kräfte und Gestalten, ihre Ordnungen und ihr Schmuck, ihre Schönheit und Kunstfertigkeit, Pracht und Verzweigungen. Alles erscheint im Licht der obersten göttlichen Einheit, üppig und gesättigt. [III] Jedoch wenn es zu den Welten im Gesamten kommt, da gibt es schon Sein und Nichtsein, Auf- und Abstieg, Vermehrung und Verminderung 80
Acht Konvolute, VII, § 34.
81
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 515.
82
Acht Konvolute, VIII, § 137.
83
Acht Konvolute, VI, § 210.
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in der genauesten Bedeutung dieser Begriffe, samt ihrer jeweiligen Verneinungen. [IV] In Zeiten, wenn die Seele voll erleuchtet, strebt sie nach der Oberen Fülle, nach den göttlichen Höhen, dort sind die Quellen ihres Ergötzens, der Hort ihres Heils. Alles aber, was begrenzt durch weltliche Eingrenzungen, das bindet sie mit Stricken, stutzt die Flügel ihres Geistes, drückt sie bis zum Staub. Darum sind ihre Augen und ihr Herz zur Höhe gerichtet, zur Obersten Einheit zur Einheit des göttlichen Lichtes, ihrer Quelle, dem Wesen ihres Wesens. [V] Wenn aber das Obere Strahlen von der Seele weicht, dann steht sie entblößten Hauptes da, klagt in ihrer Armut in ihren Vermutungen, den Folgerungen ihrer Logik, schöpft Wasser aus der Fülle der Sinneswahrnehmung, errichtet Gebäude aus Geist und Materie, Vernunft und Phantasie, aus den begrenzten Erkenntnissen, schaut nur die Schatten des reinen, durch Gottes Tun in der Welt entstandenen Lichtes, sie ahnt da nur das Licht der Einheit der göttlichen Kräfte, vom Leben der Welten, ihrer Erbauer und Gründer. Sie knüpft dann all die vielen Welten an die Quelle des Ausflusses ihrer Wurzel, genießt diesen begrenzten Genuss, solange sie auf diesem Abhang ist. Es gibt da nur den Duft von Gewürzesspuren, Sklavenbrot. [VI] Aber ihr Abstieg war eine Notwendigkeit für sie. Denn die Sklaven bringen heimlich [wie in dem geflüsterten Segen nach dem Schmaʽ Jisrael] ›Gesegnet sei der herrliche Name seines Königreiches für immerdar‹, die untere Einheit dar. Wenn dank dieser unteren Einheitsbezeugung auch nur ein Funke von der Obersten Einheit aufstrahlt, dann verdoppelt sie sich und steigt empor. […] Und wenn dann die Obere Einheit wirkt und aufstrahlt, dann wird die irdisch-begrenzte Untere Einheit in die obere aufgehoben und durch deren Essenz benetzt, steigt in ihre Höhe und vereint sich mit ihr […] nach dem Prinzip von Mann und Weib, Tifʼeret Jisrael [die 6. Männliche Sefira der Kabbala] und Kneset Jisrael [die zehnte weibliche Sefira].84«85 Der platonische Hintergrund dieser Ausführungen Kuks ist unverkennbar: An oberster Stelle steht das Unendliche ʼEn Sof, das dem platonischen »Einen« entspricht, das jenseits allen Seins steht. Dieses oberste Eine wird bei Kuk auch als Hakkara als oberstes Erkennen bezeichnet. Ihm entspringt der oberste Gedanke, das ist der neoplatonische »Intellekt«. Als drittes Element der neoplatonischen Triade kommt nun auch bei Kuk die Seele, sprich die »Weltseele« hinzu. Durch sie bringt der Intellekt die ersten Emanationen oder Schöpfungen hervor – Abschnitt [I]. Im zweiten Abschnitt [II] wird die Weltseele offenbar als die Welt der 84
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2. S. 542–548.
85
Acht Konvolute, VII, § 11.
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Ideen beschrieben, in der sich die ganze Weltenfülle als Ideen präfiguriert.86 Teil [III] beschreibt dann sehr kurz die irdische Wirklichkeit, die als solche nur wenig von Interesse ist. Hingegen beginnt mit Teil [IV] die Darstellung des Schicksals der Seele in dieser irdischen Welt – ihr gilt, wie gesagt, das Hauptinteresse. Zunächst wird die relativ glückliche Seele gezeichnet, die in Kontakt zu ihrer Lichtheimat steht, gefolgt von der überwiegenden betrüblichen Realität des irdischen Seelenschicksals [V], nämlich den Zuständen der Ferne der Seele vom göttlichen Licht, sprich von der Wurzel, der oberen Seele. In diesem Zustand hat die in der Welt weilende Seele keine direkte Erleuchtung von Oben mehr und ist deshalb auf die irdischen Erkenntnismittel angewiesen, auf die Vermutung, den Verstand mit seiner Logik, die Phantasie und die Sinneswahrnehmungen. Im sechsten Abschnitt [VI] wird schließlich dargelegt, dass dieses herbe Schicksal der Seele eine unausweichliche Notwendigkeit darstellt, denn bei ihrer Erdenwanderung ist sie es, welche die untere irdische Welt in die Einheit mit der göttlichen Welt führt. Und natürlich spielt hierbei der jüdische Ritus eine zentrale Rolle – hier gezeigt am Schmaʽ Jisrael, in dem liturgisch die göttliche Einheit ausgerufen wird. Aber es ist nicht nur der jüdische Ritus, dem von Kuk eine solche Fähigkeit zugeschrieben wird, wie unten noch deutlich werden soll. Allerdings bleiben diese anderen Wege zur Einheit im Denken Kuks immer nur utopische Möglichkeiten oder unterstützende Mittel für die auch bei ihm, dem orthodoxen Juden, zentralen jüdischen Heilsmittel.
4.4
Befindlichkeiten der Seele
Weite Teile des Kukʼschen Denkens lassen sich in diese zuvor gezeichnete Matrix einzeichnen. Die oberste Sorge des Menschen muss es demnach sein, seine Seele in einem Stand zu halten oder in einen solchen zu bringen, der ihrer Natur und ihrem natürlichen Streben nach oben entspricht.
4.5
Die Erkenntnissuche der Seele
Die Seele, das war schon in dem neoplatonischen Grundtext Kuks angedeutet, strebt von Natur aus nach Erkenntnis. Die Fülle der Erkenntnis besitzt sie nur
86
Weil die menschliche Seele Teil dieser Weltseele ist, kann sie auch die gesamten oberen Welten in sich aufnehmen, obwohl sie noch in der unteren Welt weilt. Acht Konvolute, IV, § 94; »So finden wir, in der Wurzel des Alls ist seit Ewigkeit, oberhalb aller Welten, alles schon gemacht, erbaut und vollendet. Und dies ist das Fundament der unbegrenzten Fähigkeit, das allem Seienden Existenz und Bestand verleiht […]«, Acht Konvolute, VII § 41.Vgl. entsprechend die neoplatonische Theologie des Aristoteles, Jüdisches Denken Bd. 1, S. 513.
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oben in der psychischen Einheit der Weltseele, hier unten auf Erden muss sie sich stattdessen mit einer ganzen Reihe von Hilfsmitteln, das heißt, mit Weisen eines nur begrenzten Erkenntnisgewinnes zufrieden geben. Schon bei der Nennung dieser Hilfsmittel fällt auf, dass Kuk nicht einfach auf die Tora als Erkenntnisquelle verweist, sondern sämtliche den Menschen bekannten Erkenntniswege aufzählt. Diese psychologische Akzentverschiebung wird schlaglichtartig da deutlich, wo Kuk die alte rabbinische Tugend, Tora li-Schmah, also Tora um ihrer selbst willen zu lernen, das heißt zum Beispiel ohne die Nebenabsichten auf Ehr- oder gar Geldgewinn, aufnimmt. Kuk gibt diesem Tugendmotto eine neue Deutung, die in gewisser Weise schon vom Begründer des osteuropäischen Ḥasidismus vorgezeichnet war. Der Baʽal Schem Tov meinte »Tora um ihrer selbst willen« zu lernen bedeute, dass man sich in mystischem Bestreben an das Gotteslicht in den heiligen Buchstaben der Tora hänge, also eine alphabetologische unio mystica erstrebt ohne auf den Sinn der Toraworte zu achten.87 Nach der Deutung Kuks erlangt man das Studium der Tora um ihrer selbst willen dank des wesenhaften Strebens der Seele nach Erkenntnis: »Es ist die seelische Notwendigkeit zu Lernen, welches die Quintessenz all dessen ist, das in der Welt des Geistes Früchte hervorbringt. Dies ist die seelische Quelle für die Tora li-Schmah, für das Studium der Tora um ihrer selbst willen, aus der jeglicher wissenschaftliche Reichtum fließt. Die technischen Details der verschiedenen Sparten der Erkenntnis sind nur die Gefäße, in welche dieses große Licht des seelischen Strebens gegossen werden muss, denn ein jeder gießt in sie von dem, was er in der Wurzel seiner Seele hat. Darum lerne ein jeder Mensch das, was sein Herz begehrt.«88 Die Tugend der »Tora um ihrer selbst willen« wird demnach nicht von der Tora vom Sinai bestimmt, sondern durch die je individuelle Seele eines Menschen. Hier in der persönlichen Seelenveranlagung eines jeden Menschen liegt die Quelle für Tora li-Schmah. Darum betont Kuk an dieser Stelle wie andernorts, dass jeder Mensch das lernen solle, wonach seine eigene Seele begehrt. »Wer eine kreative Seele hat, der muss Ideen und Gedanken erschaffen, der kann sich nicht mit seinem Talmud alleine einschließen, denn die Flamme der Seele schießt von selbst auf und man kann sie unmöglich in ihrem Weg aufhalten.«89 Nicht einmal der Gottesfurcht soll es nach Kuk erlaubt sein, die Seele zu schwächen und dadurch in ihrem Bestreben zu hindern. Vor dem heiligen Streben der Seele muss selbst die Gottesfurcht dann zurücktreten oder auf ein Maß beschnit87
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 796.
88
Acht Konvolute, V, § 10.
89
Acht Konvolute, VII, § 190.
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ten werden, das die Heiligkeit des Seelenstrebens nicht bremst.90 Die Freiheit der Seele in ihren »Gedankenflügen« darf man keinesfalls beschränken, da man sonst ihre Kraft zerstört,91 die ja der einzige Weg zu ihrem Ziel ist. Damit ist recht eigentlich der altrabbinische Kanon der Ausschließlichkeit der Tora als dem einzigen jüdischen Bildungsgegenstand verlassen, wie dies natürlich schon andere Gelehrte der Neuzeit vor Kuk gesagt hatten.92 Nach Kuk hängt alles an der Kraft der Seele, wird sie schwach, geraten alle Bildungsgüter, eingeschlossen die rabbinischen, ins Wanken.93 Wie sehr die Priorität des Psychischen bei Kuk beherrschend wurde, sieht man daran, dass er ähnlich wie schon der Baʽal Schem Tov,94 gelegentlich das traditionell-zünftige Torastudium als Hindernis für das Streben der Seele empfinden konnte: »Das Streben nach den obersten Lichtern, nach den wunderbaren geistigen Erscheinungen, dem inneren Licht der Mysterien der Tora und Weisheit, nach der Ausweitung der Ideale, auch wenn dieses Streben zuweilen von der beständigen einfachen Beschäftigung mit den Hauptstücken der Halachot und praktischen Arbeiten aufgehalten wird, ist keine Niedrigkeit und Faulheit, sondern ist ein Aufstieg und eine Erhebung. Der herausragende Mensch muss den Wert seiner Seele erkennen, die im Geiste des lebendigen Gottes vorandrängt, und er verachte darum nicht ihre höheren Neigungen. Nur wenn man das höhere Begehren befriedigt, stellt sich auch die gelassene Ruhe ein, die allen Forderungen Raum gibt und einem die Tore der Macht und Gerechtigkeit öffnet, zu denen man auch die Lichter des werktätigen Lebens hinzunehmen darf, so dass sie mit den Hauptstücken der Tora und dem pflichtmäßigen Tun und deren einfachen Erfüllung gekrönt sind. Sie selbst aber sind mit dem Erscheinen des obersten Lichtes verbunden, das aus der Macht der Lebenskraft der Seele kommt, wenn ihr Durst nach dem Höheren gestillt ist, wenn sie nach der Köstlichkeit des Herrn sich sehnt im Glanz der Weisheit und der obersten Wissenschaft, mit all der Beute ihres wunderbaren Lichtes.«95 Es gehört zum Schreibstil des Rav Kuk, dass seine Texte häufig in hymnischen Worten enden, die das präzise Verstehen nicht immer erleichtern. Aber auch hier ist deutlich, dass alles Tun des Menschen, eingeschlossen das zünftige Torastu-
90
Acht Konvolute, VIII, § 92.
91
Acht Konvolute, VIII, § 96.
92
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S, 50–58. 68–74. 108–114. 150–152. 164–191.
93
Acht Konvolute, V, § 244.
94
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 796–802.
95
Acht Konvolute, VIII, § 219.
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dium der Halachot wie der Alltagstätigkeit, seien sie für die seelischen Höhenflüge auch noch so hinderlich, dann ihren eigenen Stellenwert erhalten, wenn die Seele aus ihren ungehinderten Höhenflügen Kraft gewinnt und diese anschließend auf das übrige ausstrahlen lassen kann, inklusive den eigenen Körper.96 Alles ist an die Seele gebunden und hängt von ihr ab. Denn: »Die Beschäftigung mit den höchsten Gedanken und Gefühlen erquicken die Seele und erhebt sie zum höchsten Leben. Und durch diese Erhebung werden hernach alle Taten und Weisen mit einem großen sprunghaften Aufstieg erhoben. Und die ganze Welt steigt heimlich durch diesen Aufstieg des Einzelnen mit auf, der sich über die Kleinheit des Lebens erhebt. Durch ihn ergießt sich ein Segensfluss auf alle Geschöpfe. Das ist das Geheimnis des Hingezogenseins der Seele zu den höchsten Mysterien […]«97 Avraham Jizchak Kuk ist hier offensichtlich wie so mancher ḥasidische Mystiker98 noch von dem kabbalistischen Topos der Theurgie beeinflusst, nach welcher der Mensch auf die göttliche Welt einwirken kann.99 Aber man beachte den wichtigen Unterschied. Während bei den Kabbalisten an eine Wirkung der Gebotserfüllung, des Torastudiums und des Gebetes auf die Sefirotwelt gedacht ist, sind es bei Kuk die hochfliegenden Gedanken der Individualseele, welche die Welt dem Heiligen entgegenhebt. Fast ist man geneigt, mit Martin Buber von einer »Heiligung des Alltags« durch Kuk zu sprechen, aber bei Kuk ist keine Heiligung des Alltags durch das konzentrierte Verrichten der Alltagstätigkeit wie bei Buber gemeint.100 Es sind vielmehr die ungebremsten Höhenflüge, die unbegrenzte Freiheit der Seele, welche die dadurch gewonnene Seelenkraft auch auf das Niedrige ausströmen lässt. Oder wie Kuk in einem weiteren Notat sagt, »wenn das heilige Licht in der Seele eines Menschen erstarkt, wird die gesamte Welt vor ihm voll heiligem Licht«, dann kann man diese ganze Welt lieben, alle Geschöpfe und alles Leben.101 Der Alltag ist demnach nicht mehr der absolute Gegensatz zum heiligen Leben, sondern das heilige Leben einer freien Seele vermag auch den Alltag in seinen Bann zu ziehen und ihm seine Stelle lassen. Abschließend soll hier noch ein Text Kuks folgen, der zeigt, dass nach der Auffassung von Kuk alle menschliche Erkenntnis auf diese eine Erkenntnisweise
96
Acht Konvolute, VIII, § 209.
97
Acht Konvolute, VIII § 241.
98
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 27–28. 782–791; Bd. 1, S. 35.
99
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 112–113. 147–149. 451–457. 544–548. 563. 596–601. 865.
100
Zu Bubers Konzepten s. Jüdisches Denken, Bd. 2. S. 683–695.
101
Acht Konvolute, VIII, §243.
896.
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der Seele gegründet ist, wie es auch schon oben angeklungen war. Es ist die innere Verbindung der Seele mit dem Raum der absoluten Erkenntnis, deren Echo hier auf der Erde in gestückelter und einfacher Form durch die unterschiedlichen Erkenntnismedien des Menschen entziffert werden muss: »Die höchsten Wellen wirken ohne Unterlass auf unsere Seele. Die inneren Bewegungen unseres Geistes sind nichts als die Nachwirkungen jenes Klingens, welches die Geige unserer Seele erschallen lässt, wenn sie auf das Echo des Klanges der oberen Emanation lauscht. Und wiewohl wir jene Dinge, mit welchen das oberste Raunen befasst ist, nicht verstehen und nicht erklären, noch umschreiben können, lauschen wir dennoch mit umfassendem Hören. Eine Stimme, die Worte spricht hören wir, wiewohl uns keine klaren Buchstaben und unterscheidbare Wörter zu Ohren kommen. Unser ganzes Bemühen um Tora und Wissenschaft ist ausschließlich der Versuch, aus dieser oberen Stimme, die ununterbrochen an unser inneres Ohr dringt, soweit es geht einige Stückchen herauszuklären, um sie vor uns und andere in einer Weise hinzustellen, die praktische Wirkung hat und zu geordnetem übersichtlichem Studium führt.«102 Alles menschliche Wissen ist demnach nichts anderes als das Echo aus dem oberen Wissen, das undeutlich durch die menschliche Seele dringt und von jedem Einzelnen dann selbst gedeutet und in irdisch verständliche Kategorien übertragen werden muss. Ähnlich konnte Bergson sagen, dass alle Wissenschaft letztlich aus der Intuition stammt.103 Darin ist in nuce schon die Epistemologie Kuks enthalten, auf die im Folgenden näher einzugehen ist.
4.5.1 Die Welt als Vorstellung - Erkenntnis, Vernunft, Glaube Die hier gewählte Überschrift ist ein bewusster Anklang an Arthur Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, deren Pendant weiter unten in der Überschrift Die Welt als Wille folgt. Die Berechtigung zu dieser Wahl und die Verkehrung bietet Abraham Jizchak Kuk selbst, denn er selbst formuliert seine eigene Vorstellung vom Willen in Anlehnung und Abgrenzung zu Schopenhauer. Er sieht mit Schopenhauer, dass es ein Wille ist, der die Welt vorantreibt und bewegt, aber er kritisiert Schopenhauers Qualifikation dieses Willens als eines blinden Willens. Glaubt Schopenhauer, dass der blinde Wille die Welt ohne Ziel vor sich hertreibt, und erst die Vorstellung der Menschen versucht, hier einen Sinn zu
102
Acht Konvolute, VIII, § 15.
103
Vgl. z.B. H. Bergson, Einführung in die Metaphysik, S. 46. 56. 57.
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finden, so widerspricht dem Kuk vehement und betont, dass dieser Wille, von allem Anfang an, seit er die Schöpfung hervorgebracht hat, ein Wille ist, der selbst von einer Vorstellung geprägt ist und einem bewussten Ziel zustrebt.104 Es gibt keinen Willen, schon gar nicht den transzendenten göttlichen, der nicht eine Erkenntnis besäße – und diesem göttlichen Willen widmet sich auch Kuk sehr viel ausführlicher als dem ausgefalteten niedrigen Willen, weshalb die Formen der Erkenntnis hier zuerst behandelt werden. 4.5.1.1 Erkenntnisweisen der Seele – die Lehre von der Erkenntnis Die Begriffe und Vorstellungen, aus denen man eine Erkenntnislehre (Epistemologie) Kuks erheben kann, erscheinen dem Leser von Kuks Niederschriften in den Konvoluten und anderen Texten als ein Knäuel von durchaus widersprüchlichen Fäden. Benjamin ʼIsch-Schalom hat in seinem schon genannten Buch Rav Kuk – zwischen Rationalismus und Mystik 105 einen Faden herauspräpariert, der wert ist, hier zunächst ein Stück weit verfolgt zu werden. Dieser Faden ist umso wertvoller, als er eine Antwort darauf bietet, weshalb Avraham Jizchak Kuk die neoplatonische Emanationstheologie einem traditionellen Monotheismus vorzog, nach welch letzterem eine deutliche und fast unüberbrückbare Differenz und Distanz zwischen der Gottheit und der erschaffenen Welt besteht.106 Um mit dem Ende zu beginnen. Kuk bevorzugt die Emanationslehre nicht, weil sie ihm mit besseren logischen Argumenten und Evidenzen nachweisbar erscheint. Er bevorzugt sie um des Menschen willen, dessen Seele ein natürliches Bestreben nach der Nähe Gottes besitzt, was, so Kuk, durch ein emanatorisches Modell besser befriedigt werden könne als durch ein »monotheistisches«, welches die Unterschiede zwischen Gott und Welt betont. Mit ʼIsch Schalom: »Nach Auffassung von Rav Kuk wird die ethische Bedeutsamkeit der Lehre einer creatio ex nihilo daran gemessen, inwieweit sie eine Verbindung des Menschen zu seinem Schöpfer ermöglicht und seiner Sehnsucht nach ihm entgegenkommt, er also in Gottes Schutz steht. In dieser Hinsicht hat die Vorstellung von der Emanation einen Vorteil, weil sie eine ewige Verbindung, ohne zeitlichen Anfang und ohne Unterbrechung behauptet.«107 Es ist also ein psychischer Pragmatismus, der über die Wahrheit oder wenigstens über die Präferenz zwischen den verschiedenen metaphysischen Angeboten entscheidet. Mit den Worten von Rav Kuk:
104
Dazu unten noch ausführlicher in der Auseinandersetzung mit Schopenhauer.
105
B. ʼIsch-Schalom, Ha-Rav Kuk, Ben Rationalism le-Mystika, – engl.: Rav Avraham Itzhak
106
Dazu vgl. z.B. Jüdisches Denken, Bd. 1. S. 374–385.
107
ʼIsch-Schalom, Kuk, S. 54.
HaCohen Kook. Between Rationalism and Mysticism, Albany 1993.
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»Die Auffassung, dass Gott ein Wesen völlig außerhalb des Seins der Welt ist, birgt große Schwierigkeiten, sich ihn und seine Beziehung zur Welt und zu allen Geschöpfen vorzustellen. Dann erscheint es nämlich, dass Gott notwendigerweise glücklicher ist als alles Übrige, während alle Geschöpfe Mangel litten wegen der Verhinderung, das Glück zu erlangen, wie Gott zu sein. Darum neigt die Seele des Menschen zu der Vorstellung von der allumfassenden Einheit, die nur Gott kennt, und doch weiß, dass die Einzeldinge nicht das Göttliche sind, sondern nur das Ganze, der Quell des Lebens und was darüber hinaus ist und dass das, was das einzelne Phänomen von der Gottheit unterscheidet nicht wirklich die Wahrheit seines Wesens ist, sondern nur die Verblendung unserer Augen dies bewirkt, weil wir eben nur die Details erkennen. Auch wir selbst, unsere individuelle Existenz mit all ihren Mängeln, sind demnach eine Augenblendung. Aber auch diese Auffassung passt nicht ganz zu den in unserem Herzen verborgenen Vorstellungen vom Glück. Was unser Denken wirklich beruhigt, ist das grundlegende Glück der Freiheit, die vollkommen freie Gerechtigkeit. Das vollkommene Gute, das Freie schlechthin, das in seiner Freiheit dem Guten zuneigt, ist das notwendig Existierende [d.h. Gott], und jeder Einzelne kann dank seiner Freiheit zur Quelle des Willens nach dem Guten aufsteigen, und wenn er nach dem absolut Guten strebt, kehrt er in den Leib des Königs zurück, dann wird es keine Trennung zwischen ihm und seinem Gott geben, denn es waren alleine eure Sünden, welche zwischen euch und eurem Gott trennten. Demnach kehren wir zu der Aussage zurück, dass das wahre Sein die Gottheit ist und alles Sein, das tiefer als der höchste Gott ist, ist nichts als der herabgestiegene Wille in seiner Wahl des Unvollkommenen, was eben den Mangel erzeugte. Aber schließlich wird alle Unreinheit zuende gehen und der Wille wird aus seiner eigenen Freiheit zum absolut Guten aufsteigen, dann wird Gott und sein Name eins sein. Und das Sein, wenn alles in die Gottheit zurückkehrt, ist die höchste Vollkommenheit des Seins, was man nicht zu bergreifen vermag.«108 Der Herausgeber der ʼOrot ha-Kodesch, David Kohen, hat an das Ende dieses Textes einen weiteren Text von einer anderen Stelle des ersten Konvolutes gesetzt und somit dieser hier vorgetragenen Einheitstheologie eine anthropologische Rechtfertigung beigegeben: »Der Gedanke, dass alles Sein nichts als Gott ist, und es außer JHWH nichts gibt, erfreut das Herz über die Maßen. Und die geistige Freude, welche dieser 108
Acht Konvolute I, §393; ʼIsch Schalom, Kuk, S. 55.
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Gedanke erzeugt, ist der Beweis für die Wahrheit, die er zum Ausdruck bringt.«109 Diese redaktionelle Zufügung durch den Schüler ist eine Interpretation, der auch ʼIsch Schalom folgt, die aber nur teilweise die Intention des ersten Teils des angeführten Textes von Kuk trifft. Die Zufügung des weiteren Kuk-Zitates durch den Schüler spricht von einem einzigen metaphysischen Denkmodell, nämlich dem akosmistischen, welches durch die geistige Freude bestätigt wird. Kuk führt hier aber nicht nur zwei, sondern drei Denkmodelle vor: Das erste ist das monotheistische, das von einer Distanz von Schöpfer und Geschöpf ausgeht, die kaum zu überwinden ist. Das zweite ist das neoplatonische Emanationsmodell, nach welchem der Wille von Gott ausströmt, um danach wieder zu ihm zurückzukehren. Dies ist das neoplatonische Modell des Progressus und Regressus allen Seins aus und zurück in die Gottheit.110 Dieses wird von Kuk hier an dritter Stelle beschrieben und von ihm favorisiert, und dies eben nicht in dem von seinem Schüler angefügten Sinn. Für Kuk ist das größte Glück die Freiheit, zur Gottheit zurückzukehren, im Sinne des neoplatonischen Regressus. Die dritte Konzeption behandelt Kuk in der Mitte, die einen wahren Akosmismus, im Sinne einer völligen Einheitslehre vertritt,111 wie sie weiter unten noch näher zu beschreiben sein wird. Nach dieser dritten Version ist der Mensch und alles eigentlich schon immer bei Gott, was ihn von Gott trennt, ist nur eine Augentäuschung, bedingt in der schwachen Kraft der menschlichen »Augen« oder in der Sünde. Hier bedarf es keines Aufstiegs im Sinne des Platonismus, sondern einer wachsenden Erkenntnis, einer Öffnung der Augen, eines Ablegens der Selbsttäuschung. Kuk selbst schwankt zwischen der Möglichkeit zwei und drei, zwischen dem Glück der Rückkehr und der etwas trägeren Auffassung, nach welcher man bleibt, wo man ist, allerdings in einem Akt der Öffnung der Augen erkennt, dass Gott allezeit und überall zugegen ist. Das Ganze zeigt vor allem so viel, dass es die religiöse Motivation ist, die nach Kuks Meinung das Gottes- und Weltbild des Menschen bestimmt. Und insofern trifft die Anfügung des Schülers mit ihrem zweiten Satz: »Und die geistige Freude, welche dieser Gedanke erzeugt, ist der Beweis für die Wahrheit, die er zum Ausdruck bringt.« sehr wohl das, was auch Kuk im ersten Haupttext meint – nicht aber hinsichtlich der Pluralität der möglichen Modelle. Die offenbar wechselnden Präferenzen für verschiedene metaphysische Modelle durch Kuk erklärt sich gewiss dadurch, dass Kuks Seelenlage in dieser Hin109
Acht Konvolute, I, § 55; ʼOrot ha-Kodesch II, S. 396.
110
S. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 498–499. 560–561; Bd. 2., S. 222.
111
Vgl. dazu die Lehre des ḤaBaD-Gründers Schneʼur Salman aus Liadi, Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 889–892.
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sicht Schwankungen unterworfen war, weshalb es nur natürlich ist, dass es entsprechende Ausschläge in seinem Gottes und Weltbild gibt, was aber bei der Priorität des Seelischen in Kuks Denken seine Berechtigung hat. Das heißt, die Genugtuung oder Freude, die ein Mensch von einem theologischen Gedanken gewinnt, ist die Evidenz für dessen Wahrheit. Mithin ist hier nicht die Logik der Vernunft, auch nicht die Schrift und die Tradition der Bürge für die Wahrheit eines theologisch-kosmologischen Satzes. Die Wahrheit hat einen anthropologischen Beweis, es ist der Mensch, seine Seele oder sein Herz, welche die religiöse Wahrheit verbürgen müssen, weil er sie so will und sie ihm so zusagt. Entsprechend der Unterschiedlichkeit solcher Erkenntnis-Präferenzen sind auch die Wege und Mittel zu deren Erlangung ganz unterschiedlich, sie sollen im Folgenden betrachtet werden. Es ist gerade die Lehre Kuks von den menschlichen Erkenntniswegen und -werkzeugen, welche von einigen Autoren als die Besonderheit des Kukʼschen Denkens hervorgehoben wird.112 Deren wichtigste sind die Vernunft (Sechel), die Imaginationskraft (Dimajon) und das Gefühl (Regesch). Hinzu treten die »Vermutung« oder »Hypothese« (Haschʽara) und schließlich der Glaube (ʼEmuna). 4.5.1.2 Die Vernunft und die Imaginationskraft In einer Homilie zum herbstlichen Laubhüttenfest trägt Kuk eine Hommage an die Vernunft vor, in welcher seine Hochschätzung der ratio in das hellste Licht der vielleicht erstaunt lauschenden Festgemeinde zu stellen vermochte. Es geht da um eine Hierarchie von Vernunft und Imaginationskraft (Phantasie), die jegliche Zweideutigkeit ausschließt: »Es besteht ein großer Unterschied zwischen einer Lebensauffassung, die sich aus der Imaginationskraft (Koaḥ ha-Dimajon) des Individuums oder der öffentlichen Gesellschaft speist und jener Lebensauffassung, die aus der Klarheit der Vernunft (Behirut ha-Sechel) herrührt, solange sie von den Beschädigungen durch die Imagination befreit ist. Der Verstand, der in seiner Klärungsarbeit begriffen ist, beurteilt alle Dinge danach wie sie sind und nicht nur danach wie sie in der Vorstellung des Individuums erscheinen. Er sucht sie nach ihrem Wesen zu beurteilen, gleichgültig, ob er dieses Ziel erlangt, sie zu erfassen wie sie wirklich sind oder ob ihm dies misslingt. Aber es ist das Bestreben der Vernunft die Dinge so zu erkennen wie sie tatsächlich sind, ganz im Gegensatz zur Imagination.
112
ʼIsch Schalom, Kuk, S. 47.
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Die Imagination hat keinerlei Neigung die Dinge in ihrer Wirklichkeit zu erfassen, sondern ist darauf aus, sich die Dinge so vorzustellen, wie sie sich in ihrem persönlichen Vorstellungskreis darstellen lassen, der ganz an die eigene Imagination gebunden ist. Darum bleibt das Denken und die Auffassung eines Menschen, solange er in seinem Leben an die Stricke der Imagination gebunden ist, seine höchst persönliche Auffassung. Und dies hat zur Folge, dass es keine Übereinstimmung der Meinungen zwischen den Menschen geben kann […]. Denn ausschließlich eine vernünftige (intellektuelle) Lebensauffassung, die wenigstens bestrebt ist, die Dinge so zu erkennen wie sie tatsächlich sind […], vermag eine Einheit zwischen verschiedenen Menschen und Gesellschaften herzustellen, weil eben die Klarheit der Vernunft, die eine umfassende Lebensauffassung darstellt, welche die Individuen vereinen kann.«113 Dieser eindeutige Eindruck vom Verhältnis von Vernunft und Imagination wird noch verstärkt, wenn Kuk im Folgenden seiner Homilie von der »Irreführung« durch die Imagination spricht, die von der Sünde des Fleisches herrührt, wohingegen die Teschuva, die Umkehr, zum Wiederaufleuchten des Sechel ha-tahor, der reinen Vernunft, führt. Dieser anscheinend klare Befund wird jedoch durch solche absolut kontradiktorische Äußerungen wie die Folgende auf den Kopf gestellt: »Im Schatzhaus der Imagination ist die ganze Wahrheit und jegliche Größe niedergelegt, die nach und nach durch die alles verengenden und läuternden Kanäle der Vernunft geklärt werden. Siehe, wir sind aufgerufen, im Lichte unserer herrlichen […] und heiligen […] Imagination auf dem Erdkreis zu erscheinen, denn alle Erdenbewohner schauen auf uns und strömen herzu. Unsere rationale Vernunft ist nichts als ein kleiner Schüler, der das gesamte Licht des Lebens im Schatz unserer reichen und heiligen Imagination (Dimajon), das in der oberen Wirklichkeit lebt, nur in geringem Maße erklärt, das Licht, welches die reale Wirklichkeit mit seinem ewigen Wesen bestimmt. Preiset die Macht des Lebens unserer höchsten (oberen) Imagination, die sich über all die dürren Beschränkungen und Grenzen der öden und armseligen Wirklichkeit erhebt. Wenn die saftige und vor Lebenssaft strotzende Imagination erstarkt, erheben wir uns in höchste Höhen und sie verbindet sich dann mit der höchsten
113
A. J. Kuk, Ha-Schabbat, Jisrael we-ha-Semanim. Kobez Maʼamarim le-Schabbat u-la-Moʽadim, aus: Sachor sot-leJaʽakov, Jerusalem 1971, S. 14.
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(oberen) Vernunft, der die Bezeichnung ›Vernunft‹ wegen ihrer Größe, Stärke und Leuchtkraft eigentlich nicht mehr ansteht.«114 Der scheinbare Widerspruch in der Bewertung der Imagination, die im ersten Text deutlich der Vernunft untergeordnet ist, und gar als sündige Lehrmeisterin erscheint, und im zweiten Text als der Inbegriff und die Bewahrerin der höchsten Wahrheit dargestellt wird, löst sich gegen Ende des zweiten Textes offenbar auf. Abraham Jizchak Kuk kennt zwei Stufen der Imagination wie auch zwei Ebenen der Vernunft: Eine obere Vernunft und Imagination und unter ihnen beiden stehend eine untere Vernunft und Imagination. Dies kann zur Folge haben, dass in den Erörterungen Kuks zuweilen die Imagination über der Vernunft steht, das ist dann die obere Imagination, welche ihren Rang über der unteren Vernunft hat. Kuk denkt hier offensichtlich wiederum in den alten neoplatonischen Kategorien, nach welchen die oberen Emanationsstufen des göttlichen Lichtes auf den folgenden Stufen in niedrigerer Qualität wiederkehren.115 Der oberste emanierte Emanator ist demnach im Sinne der neoplatonischen Tradition auch bei Kuk der »Höchste Intellekt« (ha-Sechel ha-ʽeljon): »So wie der Ausfluss des Lebens und alles Existierenden vor unseren Augen aufsteigt, ist alles der Ausfluss des Höchsten Intellektes (Vernunft) und des Lebens, das in ihn ergossen ist.«116 Den emanatorischen Zusammenhang all der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten beschreibt Kuk an einer weiteren Stelle so, dass jeweils ein Funke des höher stehenden »Erkenntnisorgans« sich in dem unter ihm stehenden wiederfindet. Die Hierarchie, in einer terminologischen Mischung aus moderner Psychologie und lurianischer Kabbala, sieht folglich von unten aufsteigend so aus: »Im Gefühl des Fleisches finden sich Funken der Imagination, und in der Imagination Funken der Vernunft, und in der Vernunft Funken des Heiligen Geistes und im Heiligen Geist Funken der Prophetie und in der Prophetie Funken des Leuchtenden Kristalls117 und in dem Leuchtenden Kristall Funken des Höchsten Glanzes des Ersten Menschen118 und im Höchsten Glanz des Ersten Menschen Funken des Lebenslichtes wie es nach dem vollkommenen Tikkun (Wiederherstellung) aller Welten sein wird, nach der Auferste-
114
Acht Konvolute, III, § 164.
115
Zu den entsprechenden Vorstellungen der Neoplatoniker siehe Jüdisches Denken, Bd. 1.
116
Acht Konvolute, VI, § 134.
117
Dies ist die Sefira VI, der Ursprungsort der Prophetie des Moses; Jüdisches Denken, Bd. 2,
118
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 669, dies ist die vom Sündenfall nichtberührte höchste Seelen-
S. 512–513. 530. 538. 596.
S. 191. 410–411. stufe des Adam.
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hung der Toten und an dem Tag, der ganz Schabbat sein wird. Und der, welcher offene Augen hat, kommt von jeglichem Gefühl des Fleisches nach oben bis zum Lebenslicht des Weltenlichtes nach der Auferstehung, der Offenbarung der Wonne der Welten aller Welten in der Quelle des Lebens, denn bei Dir ist die Quelle des Lebens. Und aus diesem ausgedehnten Gedankengang fließen und strömen die Bäche der Erkenntnis, die Bäche der Gottesfurcht und Sündenscheu, die Bäche der höchsten Tugenden, die Bäche der höchsten Freiheit, die Bäche der Liebe und Ehre ohne Ende.«119 Die niedrigen normalen menschlichen Erkenntnisstufen reichen bis zur Vernunft. Ab dem Heiligen Geist folgen sodann die höheren Stufen der Erkenntnis. Kannte die mittelalterliche Philosophie übereinander gelagerte Weltstufen, die sensible und darüber die intelligible,120 so überträgt Kuk dies auf die Erkenntnis. Sie hat einen niedrigere irdische und eine darüber gelagerte jenseitige Erkenntnishierarchie. Dies wird im Folgenden anhand einer weniger esoterischen Redeweise noch deutlicher werden. 4.5.1.3 Die natürliche-irdische und die emanierte-überirdische Vernunft Nachdem im vorangehenden Kapitel deutlich wurde, dass es zwei Stufen des Verstandes oder der Vernunft (Sechel) gibt, muss nun noch das Verhältnis der beiden zueinander und ihr Unterschied voneinander betrachtet werden. Der untere Verstand lebt recht eigentlich nur dank des oberen. Der untere Verstand, oder die Vernunft, ist den irdischen Details zugewandt, sieht nur sie nicht aber das Ganze, wohingegen der obere Verstand, der göttliche Intellekt, die Einheit schaut: »Die oberen Mysterien zerstören wegen ihrer Größe und der Fülle ihrer Lichterscheinung alle Ordnungen, welche im einfachen Natürlichen Intellekt festgelegt sind. Aber in Wahrheit erneuern sie seine Kraft mit der Kraft der Verallgemeinerung. Aber diese Erneuerung, die eine Erneuerung des geistigen Lebens durch ihre obere Form bedeutet, tritt nur ein, nachdem man sich tief in die Ströme des Wissens versenkt hat.«121 An anderer Stelle nimmt Kuk die neoplatonische Terminologie von der »Beeinflussung« im buchstäblichen Sinn auf, nämlich dass der untere Sechel, den Kuk 119
Acht Konvolute, VI, § 146. Eine leicht andere Reihenfolge des menschlichen Aufstiegs durch
120
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 451–459. 472–473. 512–513.
121
Acht Konvolute, V, § 176.
diese Stufen in Acht Konvolute, I, § 208.
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häufig den »natürlichen Intellekt (Vernunft)« (ha-Sechel ha-tivʽi) nennt, vom oberen Sechel »beeinflusst« wird. Auch das typische neoplatonische Gleichnis von der Sonne, die ihre Strahlen auf die Unteren sendet, nimmt Kuk einmal auf.122 Kuk erläutert die Einflussnahme des oberen auf den unteren Intellekt gelegentlich an der altlateinischen Formel »mens sana in corpore sano«. Auch hier stellt er diesem Segen von Oben die menschliche Bemühung voran: »So wenig wie der Natürliche Intellekt das Maß der körperlichen Kraft erfüllen kann, außer dass der Mensch sich anstrengt, um voller Lebenskraft und körperlicher Stärke zu sein, damit der Intellekt sich mit der vollen Kraft seiner Attribute in ihm auswirken kann – nach dem Motto der Naturwissenschaftler: eine gesunde Seele in einem gesunden Leib, ebenso wenig kann der Höchste Emanierte Intellekt in seiner heiligen Erscheinungsweise den Raum des Natürlichen Intellekts erfüllen, der ihm buchstäblich zugeordnet ist wie die Seele dem Leib. Darum muss der Mensch stets das intellektuelle Maß des Natürlichen Intellekts mit all seinen Eigenschaften erfüllen, damit sich auch an seinem geistigen Maß das Motto von der gesunden Seele im gesunden Leib erfüllt.«123 Mit diesen Worten wird zum einen das neoplatonische Band zwischen dem überirdischen und dem menschlichen Intellekt klar beschrieben, als ein Wirken des Höheren im Niedrigeren und zugleich wird deutlich, dass dies nicht ohne menschlichen Beitrag in seiner ganzen zu erstrebenden Möglichkeit geschieht. Letzteres ist zum einen ein Erbe des Mittelalters, wie dies etwa der von Kuk mehrfach angeführte Maimonides verstanden hat,124 zum anderen ist es eine eindeutige Aussage zur Rolle des natürlichen Intellekts nach Auffassung von Kuk. Wiewohl der irdische natürliche Intellekt auf einer niedrigeren Stufe als dessen höhere Emanationsform steht, ist der Mensch aufgerufen, seinen natürlichen Intellekt zu pflegen und zu fördern, damit er seinem oberen Quell entgegenwächst. Die Notwendigkeit der Entwicklung des natürlichen Intellekts ist umso nötiger, weil dieser nach Auffassung von Kuk eben nur eine begrenzte Erkenntnisfähigkeit besitzt. »Denn der begrenzte Verstand und all seine Berechnungen können nicht den Weg des Menschen erleuchten. Er kann mittels dieses zerbrochenen Gefäßes nicht aus dem fließenden und lebendigen Quell des Gotteslichtes in der Welt schöpfen.«125 Allerdings, so fügt Kuk hinzu, kann der beschränkte nor122
Acht Konvolute, V, 215.
123
Acht Konvolute, V, § 80.
124
Vgl. Acht Konvolute V, § 88; und Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 462–471.
125
Acht Konvolute, II, § 59.
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male Verstand, bei demjenigen Menschen, der zu Gott umkehrt, dem höheren Lebensgeist der in seiner menschlichen Seele pocht, Hilfsdienste leisten – der natürliche Intellekt dient demnach als wahrhafte ancilla theologiae. Der Intellekt der Geschöpfe, so sagt Kuk an anderer Stelle, besitzt nur abbildende Fähigkeiten und kann sich nur Dinge vor Augen führen, die schon existieren, wohingegen der Obere Intellekt, den er hier den Göttlichen Intellekt nennt, kreative, schöpferische Kraft besitzt. Allerdings kann der erschaffene Intellekt solche Kräfte mit zunehmender Nähe zum göttlichen Intellekt empfangen.126 Es ist diese Schwäche des menschlichen Intellekts, die ihn nur Details wahrnehmen lässt, nicht aber die Dinge in ihrer eigentlichen Einheit. Wenn aber der obere Intellekt den unteren erleuchtet, erscheinen dessen bisherige Detailansichten in einem völlig neuen und anderen Licht, die Welt sieht gleichsam vollkommen anders aus.127 4.5.1.4 Die menschliche Wissenschaft, Kultur und Philosophie Die menschliche Wissenschaft, so legt Kuk wiederum ausführlich dar, ist auf zwei Fundamenten erbaut, auf der Imagination und auf dem Verstand. Mit beiden, Imagination und Verstand, sind hier allerdings die beiden unteren, begrenzten Phänomene gemeint, nicht deren »göttliche« Wurzeln ganz oben in der Emanationspyramide. Diese beiden irdisch-menschlichen Kräfte liegen nun aber in einem ununterbrochenen Kampf miteinander und wenn der Verstand die Oberhoheit hat, wird die Imaginationskraft geschwächt, so dass die wünschenswerte Mischung von beiden zerstört wird. Und umgekehrt verwischt die Priorität der Imagination die Vernunft, geschieht es, dass an der wissenschaftlichen Erkenntnis erhebliche Mängel sichtbar werden. Kurz, die Mischung muss ausgeglichen sein, wenn die Wissenschaft ihr Erkenntnisziel erreichen soll.128 Ein eklatantes Beispiel für die Vorherrschaft der Imagination sieht Kuk in der bekannten aristotelisch-philosophischen Auffassung von der Ewigkeit der Welt oder der Materie, denn die Imagination »bezieht ihre Entscheidungen, aus den von außen auf sie einströmenden Eindrücken.«129 Diesen Mangel an Unausgeglichenheit sieht Kuk allerdings hauptsächlich bei den Völkern der Welt, die im Gegensatz zu Israel – wovon später noch zu handeln sein wird – von der Emanation von Oben in weitem Maße abgeschnitten sind. In diesem Sinne notiert Kuk:
126
Acht Konvolute, IV, § 110; ebenda, IV § 116 sagt Kuk dasselbe für die Seele, die in dieser
127
Acht Konvolute, V, § 215.
Hinsicht mit dem Sechel gleichgesetzt wird. 128
Acht Konvolute, VIII, § 144.
129
Acht Konvolute, V, § 203.
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»Die gesamte zeitliche Kultur ist auf dem Fundament der Imaginationskraft errichtet. Das ist das Schicksal aller götzendienerischen Völker, die in der Imaginationskraft gefangen sind, von der die Entfaltung der körperlichen Schönheit in concreto und in der darstellenden Kunst herrührt. Die Imaginationskraft vervollkommnet sich zunehmend und mit ihr die konkreten und empirischen Wissenschaften. Und in dem Maße, in welchem die Imaginationskraft aufsteigt, verschwindet das Licht des Verstandes […]. Und so schreiten die Dinge stufenweise voran, bis schließlich auch der Verstand der weltlichen Weisheit der Imaginationskraft nachhängt. Die Poeten und Erzähler, die Dramaturgen und alle die sich mit den schönen Künsten befassen stehen an oberster Stelle der Kultur, ja auch die Philosophie schwankt und hinkt ohne festen Stand, weil der reine Verstand sich davonmacht.«130 Natürlich sieht Kuk als Folge dieses Niedergangs der weltlichen Kultur den Mangel des Strebens nach dem Göttlichen und nach moralischer Läuterung. 4.5.1.5 Die Bipolarität der Erkenntnis und der Wert der intuitiven Hypothese Die menschliche Erkenntnis ist nach Auffassung Kuks, wie schon aus dem bislang Gesagten sichtbar wurde, von einer Mehrzahl von Faktoren geprägt. Da sind die obere und untere Imaginationskraft, oberer und unterer Intellekt oder Vernunft, das Gefühl (Regesch) und der noch später zu erörternde Glaube. Aus alledem müssen sich zwangsläufig unterschiedliche Erkenntnisstufen ergeben, wie sich dies bei der Abstufung von menschlicher Wissenschaft durch das Maß der Dominanz von Imagination und Intellekt schon gezeigt hat. Sind die genannten Erkenntnisunterschiede indessen nur als quantitative Differenzen zu betrachten, kann man die Unterschiede, welche sich aus der Erkenntnis durch die Natürliche Vernunft und die Heilige Vernunft, also eine durch die Höchste Vernunft beeinflusste Erkenntnisweise, als wirklich qualitative Differenz bezeichnen, was sich schon in dem oben Ausgeführten131 angedeutet hatte. Die Erkenntnis des natürlichen Intellekts hat gemäß dieser Auffassung wenig Beziehung zur IchBefindlichkeit des Menschen, ganz anders hingegen jene Erkenntnis der Heiligen Vernunft: »Der profane Intellekt kann die Eigenschaft der Seele nicht vollkommen erhöhen und läutern, die sich im Wesen des Willens äußert, weil die Kraft des Willens wesenhafter und tiefer im Wesen der Seele verwurzelt ist als der Intellekt. Aber der Heilige Intellekt erleuchtet den Willen aus dem heiligen 130
Acht Konvolute, V, § 189.
131
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, VII, 4.5.1.3.
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Licht, welches ihm in jeder Hinsicht wohltut, ihn heiligt, läutert und veredelt, weil das Seins-Fundament des Heiligen Intellekts tiefer, inhaltsreicher als alle Werte des Willens sind, aus dessen Quelle die Willenskräfte saugen.«132 Auf der natürlichen anthropologischen Ebene steht in der Hierarchie der Wille über dem natürlichen Intellekt und dieser über der natürlichen Imagination. Darum kann der natürliche Intellekt den natürlichen Willen nicht beeinflussen. Anders dagegen der heilige Intellekt, der aus einer ontologisch höheren Stufe stammt, er kann den unter ihm stehenden menschlichen Willen sehr wohl beeinflussen. Es ist ein weiterer Punkt, in welchem sich das profane von dem heiligen Wissen unterscheiden. Es sind die irdischen begrenzten Details, welche der wahren Erkenntnis der Dinge im Wege stehen. Der Mensch ist deshalb gehalten, die Details zwar wahrzunehmen, sie dann aber hinter sich zu lassen, um in seiner Erkenntnis über den Details das Ganze zu sehen: »Es gibt tiefsinnige Gedankengänge, deren Licht von den gewöhnlichen Erkenntnissen der Welt- und Lebenskunde verdunkelt werden. Und ein solch hochstehender Denker kann keinen vollkommenen Zusammenhang aus diesen auch klaren Forschungen erlangen, außer wenn er aus seinen geistigen Eindrücken die begrenzte materielle und geistige Welt samt ihren Folgerungen und Erweiterungen, ihren Schlussfolgerungen und idealen Inhalten vergisst und austilgt. Nur dann wird er fähig, auf die höchsten Höhen der Erkenntnis der Tiefen der Welt hinaufzusteigen. Wenn er dann aber in diese Höhen mit all ihren Höhepunkten aufsteigt, findet er Stärke und volles Glück […].«133 Die Vielfalt der Details, welche die irdische Vernunft des Menschen erforscht und alleine zu erforschen vermag, hindern den Menschen, das größere Ganze und Wesenhafte in den Blick zu nehmen. Und alleine die Schau des Ganzen, oder das, was Kuk anderwärts die Schau der Einheit nennt, gibt dem Menschen die wahre Erkenntnis der Welt, die auch sein eigenes Ich wirklich betrifft. An anderer Stelle sagt Kuk es etwas philosophischer. Demnach verschaffen die »Einzelbegriffe« (Detailbegriffe) dem Menschen zwar Klärung der Dinge und Sachverhalte, aber es fehlt ihnen der »Aufschwung und die Erleuchtung«, weshalb sie die Seele des Menschen nur wenig mit Licht erfüllen können. Demgegenüber vermögen die »Allgemeinbegriffe« in dem Maße, in welchem sie »allgemeiner« oder »umfassender« werden, die Seele des Menschen zu erleuch132
Acht Konvolute, VIII, § 113.
133
Acht Konvolute, IV, § 113.
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ten, allerdings um den Preis einer nachlassenden Detailklarheit. »Wenn aber« so schließt Kuk diese Überlegungen, »sich die Einzelbegriffe mit den Allgemeinbegriffen vereinen, dann verbinden sich beide Vorteile und der Mensch, der verstehen will, wird mit Klarheit über die Dinge und zugleich Erleuchtung mit von Oben erfüllt.«134 In leichtem Gegensatz zum Vorigen – eine Unausgeglichenheit, welche bei diesen über Jahre hin entstandenen Aphorismen auf Schritt und Tritt begegnet – will Kuk hier irdische Wissenschaftlichkeit mit überirdischem Erkenntnisstreben verbinden, ein Bestreben das allenthalben sein Denken prägt. Dieses ausgleichende Bestreben, so meint er in einem weiteren Notat, ist in Wirklichkeit der Normalzustand des menschlichen Daseins: »Die göttliche Erleuchtung und der menschliche Verstand verbinden sich, um die große Schau von der Größe der Welt zu vollenden, der Vollendung der Vorstellung des Allgemeinen und des Einzelnen. Die Vermischungen der sich daraus ergebenden Schöpfungen sind durchaus verschieden. Wenn die göttliche Erleuchtung stärker ist als der natürliche menschliche Intellekt, werden hochstrebende Werte von großem Gewicht erzeugt, die voller Licht und wunderbarer Reinheit sind, aber der Welt des Alltags, der Kultur und der Moralstufungen ferne stehen. Wenn aber der natürliche Intellekt das Übergewicht besitzt, werden in entsprechendem Maße Werte gebildet, deren ideeller Rang geringer ist, hingegen die Präzision, die konkrete, moralische und kulturelle Zielsetzung, die als Fundament der menschlichen Gesellschaft dienen, stärker hervortritt. Die Gewichte der beiden Kräfte sind in stetem auf und ab begriffen, als obere und als niedrige Erkenntnisweise. So stehen sie einander gegenüber, um den Geist des Menschen und seine Weltanschauung in einer nach allen Seiten mehr abgerundeter Weise zu vervollkommnen.«135 Avraham Jizchak Kuk ist kein Mystiker, der sich von der Welt abwendet, um ganz der göttlichen Eingebung zu frönen. Er will vielmehr beide Möglichkeiten als die dem Menschen schlechthin gegebenen zusammenhalten und propagieren. Er ist sich dabei vollkommen bewusst, dass dies kein einliniger Weg ist, sondern eine Gratwanderung mit unvermeidlichen Ausschlägen nach beiden Seiten, wie dies in weiteren Notaten nachdrücklich deutlich wird. Das Neben- und Ineinander beider Formen der Erkenntnis erfährt an anderer Stelle eine Begründung, aus welcher die ontologische Qualität dieser Zweigleisigkeit sichtbar wird. Rav Kuk weiß, dass der normale Weg der Forschung vom Naheliegenden zum Fernerliegenden verlaufen sollte, von den Details zum Allgemeinen. Doch, so meint er weiterhin, sei es zuweilen bequemer, den Metho134
Acht Konvolute, VIII, § 87.
135
Acht Konvolute, IV, § 44; vgl. noch Acht Konvolute, IV, § 60.
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denweg umzukehren, also vom Fernen auf das Nahe, vom Allgemeinen auf das Detail zu schließen. Auch diesen Weg der Erkenntnisgewinnung will Kuk nicht als ungeordnet und sprunghaft verstehen, und zwar mit folgender Begründung: »weil der Seele, in ihrem Glanze, das Allgemeine näher steht und das, was gewöhnlich als ferne erscheint, von ihrem eigenen Wesen ist. So ist die geordnete Erkenntnis, welche der obere innere Sinn von den emanierten [göttlichen] Inhalten erspürt, die besondere Erkenntnisweise, welche der Ruhe des Geistes in seinem Glück entspricht. Dieses heilige Bestreben vervollkommnet nicht nur des Geistes Aufgabe in der Erleuchtung des Intellekts, es verfolgt auch eine allgemeine Erhebung des Lebens. Das ist das stete Bestreben des Heiligen, welches alles in eine einzige Einheit zusammenbindet, die Helle der Vernunft (Intellekt), die Zartheit des Willens, die Reinheit der Moral und die Läuterung der Tugenden. ›Das Mysterium des Herrn ist für die, so ihn fürchten, und sein Bund ist ihnen zu verkünden.‹(Ps 25, 14).«136 Es ist also die Seele des Menschen, welche dem höheren Wissen, dem Heiligen näher steht als der rationale, die begrenzte Welt untersuchende Intellekt. Und da dem Menschen beides eignet, wird er nicht ohne Schaden auf eines der beiden verzichten können, weder auf die wissenschaftliche Forschung noch auf die intuitive Erleuchtung zur Einheitsschau. Durch und durch Theologe, ist Kuk der Auffassung, dass letztlich alles geistige Streben des Menschen einem inneren Drang des Menschen nach der Gotteserkenntnis folgt. Diesem Drang entspringen nach seiner Auffassung letztlich alle Wissenschaften, jegliches Streben nach Erkenntnis. Und sollte die am Ende gewonnene Erkenntnis nicht diesem vermeintlichen »rechtgläubigen« Streben folgen und zu falschen Auffassungen führen, so ist daran nicht der epistemische Apparat des Menschen verantwortlich, nicht ein Mangel der Logik und Wissenschaft, sondern etwas, das von außerhalb dieser vorgezeichneten Erkenntnisleiter in die menschliche Erkenntnisleiter eindringt, die Häresie: »Der Aufschwung zur Gotteserkenntnis kommt aus der Verborgenheit des Herzens, und durch die Erforschung der Welt wird sie dank [der erkannten] Details gestärkt, durch die Klärung der Erkenntnis der Wirklichkeit mit all ihrem Reichtum und zahllosen Einzeldingen. Der eingeschlagene Weg, auf dem die Seele in ihrer geistigen Stärke mittels der Fülle ihrer Erwerbungen in der Erforschung der Wirklichkeit erstarkt, ist die Aufgabe der weltweiten Aufklärung nach allen Seiten, durch ihre Forschungen, Hypothesen und Philosophien. Diese Aufgabe wird zunehmend gesichert durch das israelitische 136
Acht Konvolute, V, § 124.
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Fundament [der Lehre von] der Neuerschaffung der Welt, deren Grund und Wurzel das absolute Nichts war, [eine Lehre, die] jegliche [vorgängige] Materie und Kraft verneint, weil alles ausschließlich das Werk Gottes ist. Und da alles aus dem Geheimnis der Erkenntnis Gottes herrührt, vom Wort des Herrn, führt alles zu ihm hin. Der Hass der Aufklärung gegen den Glauben kommt vom Gift der Häresie, welche die [schöpferischen] Gewalten aufteilt, oder zumindest der Lehre von der Ewigkeit der Welt nachhurt. Denn sie trennt die materielle Welt vom Fundament Seiner Heiligkeit. Sie hat kein Fundament und Haus für eine Welterkenntnis, welche den Menschen heiligt und mit göttlicher Stärke und Macht ertüchtigt.«137 So sehr Kuk der neoplatonischen Emanationstheologie verhaftet ist, folgt er in der Frage der Ewigkeit oder Neuerschaffung der Welt und damit von deren Anfang der Lehre des Maimonides,138 um an diesem sensiblen Punkt der Theologie die Lehre von der Ewigkeit der Welt nachhaltig zurückzuweisen, die doch mit der neoplatonischen Emanationsformel eher in Frage gestellt erscheint, es sei denn man folgt den mittelalterlichen jüdischen Aristotelikern wie Platonikern, die einer solchen Ewigkeits-Konsequenz durch die Einfügung eines göttlichen Willens einen Riegel vorschieben wollten,139 ein Weg, den auch Kuk mitgegangen ist, wozu weiter unten noch das Nötige zu sagen sein wird. Die Gratwanderung zwischen natürlichem und höherem Intellekt ist das Kuk stets begleitende Thema. Darum warnt er einmal in einem längeren Passus, dass die Liebe zur klaren Wissenschaft ihre Grenzen haben müsse, um den Menschen nicht daran zu hindern, nach Einsichten Verlangen zu haben, die höher als unsere klare Wissenschaft sind – ein Verlangen nach Erkenntnissen, zu denen man nur auf dem Wege der Vermutung oder Hypothese (Haschʽara), von verborgenen Gefühlen (Regesch) oder gar durch das Trachten des Herzens oder der Imagination gelangen könne, also auf dem Wege einer Art phantasierenden Wachtraumes. Wiewohl Kuk um die mögliche Schädlichkeit solcher Phantasien weiß, vor allem wenn sie aus einer Denkfaulheit rühre, so sieht er in ihnen doch ein Mittel, welches letztlich auch das nüchterne Denken voranbringen kann, die aber vor allem den Menschen als ganzen erheben. Allerdings gilt die Warnung auch nach der anderen Seite: »Nur darf man die Inhalte [beider Seiten] nicht verwechseln, so dass man einen hypothetischen / vermuteten Begriff als einen wissenschaftlichen erachtet und den imaginativen mit einer vernünftigen Hypothese. […] Wenn man aber 137
Acht Konvolute, V, § 143.
138
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 454–461.
139
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 459–461. 496–498. 510.511. 532–534.
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die Grenzen seiner Erkenntnisse beachtet, und weiß, wie man von dem offenbaren Teil zu dem verborgenen aufsteigen kann, zu dem, das wegen seiner emanatorischen Höhe nicht anders als durch die Vermutung / Hypothese und Imagination bearbeitet werden kann, dann findet man in sich die Kraft der Höhe und das oberste Licht erscheint über einem, denn sein Weg ist die Gegenwart Gottes.«140 An anderer Stelle, wo Kuk ein weiteres Mal betont, dass die tiefen göttlichen Geheimnisse nicht durch den menschlichen Intellekt verstanden werden können, es sei denn durch die Überlieferung der großen Männer der Vergangenheit, gibt Kuk noch einen zusätzlichen Hinweis, wie er sich die Entstehung solcher »Vermutungen« oder »Hypothesen« vorstellt: »Wenn man die Worte jener Männer mit der angemessenen Vorbereitung studiert, kommt die innere Vermutung herbei und bringt die Dinge im Herzen zur Ruhe (mejaschev) bis sie den Begriffen des einfachen natürlichen Verstandes ähnlich erscheinen. Darum muss man mit dieser Wissenschaft stets die Kraft der Wahrheit der Tradition (Kabbala)141 verbinden, dann leuchten die Worte und freuen sich wie bei ihrer Offenbarung am Sinai, für einen jeden gemäß seiner Stufe.«142 Es ist diese Formulierung die der Rede von der »Intuition« von Henri Bergson am nächsten kommt. Diese »innere Vermutung«, oder Intuition ist ein Erkenntnisgeschenk, das nicht aus der freien mystischen Schwärmerei kommt, sondern eine Erleuchtung aus der Befassung mit der Materie ist, während der einem plötzlich der Schlüssel des echten Verstehens in den Schoß fällt, wenn sich über der Vielzahl der Details plötzlich der die Dinge umfassende Zusammenhang offenbart.
140
Acht Konvolute, VI, § 133.
141
Hier ist sicherlich die Tradition im weiteren Sinne gemeint, zu der natürlich, gerade auch im
142
Acht Konvolute, I, § 634. Die Formel von den Worten, die sich wie bei ihrer Offenbarung am
Sinne Kuks, die Kabbala im engeren Sinne dazugehört. Sinai freuen, ist eine Traditionsformel, durch welche menschliche Erkenntnis als echt und »sinaitisch« bestätigt wird. Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 303–305; und K.E. Grözinger, Die Gegenwart des Sinai. Erzählungen und kabbalistische Traktate zur Vergegenwärtigung des Sinai, in: (http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2008/1884/) Frankfurter Judaistische Beiträge 16 (1988), S. 143–183.
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4.5.1.6 Der Glaube Der Glaube (ʼEmuna) spielt im Denken von Avraham Jizchak Kuk eine zentrale Rolle. Er gehört in mancher Hinsicht gewiss zum Oberkapitel der »Erkenntnislehre«, aber der Glaube ist für Kuk doch sehr viel mehr als ein Medium der Erkenntnis, er ist für ihn etwas weitaus Grundsätzlicheres als etwa der Verstand oder Intellekt, als die Imagination oder das Gefühl. Der Glaube steht über all diesen, ist letztlich die Klammer um all jene oder er sollte es zumindest sein. Auf der anderen Seite erscheint der Glaube tatsächlich, wie schon bei Saul Ascher,143 als eine eigene Wahrnehmungskraft neben dem Intellekt, der diesem gegenüber seine Eigenständigkeit besitzt. Aber auch diese Formel wäre für den Glaubensbegriff von Kuk zu eng gefasst, weder steht der Glaube im Gegensatz zur Vernunft, so dass sich ihre Terrains nicht berühren dürften wie bei Ascher, noch sind beide zwei gleichberechtigte Wahrnehmungsinstrumente, von denen jedes seinen eigenen eng klar umschriebenen Gegenstandsbereich hätte. All die hier genannten Eigenschaften und Oppositionen treffen in der einen oder anderen Hinsicht auf den Glauben bei Kuk zu, sie beschreiben aber nicht dessen exakten Standort, der vielmehr ein von all diesen Beziehungsmerkmalen unterschiedener ontologischer Ort ist. Wenn Avraham Jizchak Kuk vom Glauben spricht, meint er in der Regel nicht dessen Inhalt. Nicht was geglaubt wird, ist der Glaube für ihn, sondern das, womit geglaubt wird. Der Glaube ist für Kuk eine seelische, eine seit der Kindheit jedem Menschen eingepflanzte Kraft,144 er ist eine Fähigkeit der Seele und zwar einer jeden menschlichen Seele,145 unabhängig von der Religionszugehörigkeit oder Konfession eines Menschen. Darum nennt Kuk den Glauben häufig »Glaubens-Sinn« (Ḥusch ha-ʼEmuna),146 in Analogie zu den fünf gewöhnlichen »Sinnen« der Seele, das heißt, Sehen, Hören, Riechen etc. Aus diesem Grund kann Kuk auch von der »Kraft des Glaubens« sprechen.147 Diese Art Glaube, die jedem Menschen eignet, heißt deshalb auch »natürlicher Glaube«.148 Als eine Kraft der Seele nimmt dieser natürliche Glaube indessen eine zentrale Stelle ein: »Wenn die Auffassungsgabe der Seele vermittels des Glaubens-Sinnes stark und gesund ist, sendet sie all ihre Zweige, Blumen und Blüten aus sich her143
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 3, S. 425–429.
144
Acht Konvolute, VII, § 92: »Die Tiefe des Glaubens am dunklen Grund der Seele, der seit seiner Kindheit niemals vom Menschen weicht, ist ein Zeichen der seelischen Gesundheit […]«, Acht Konvolute, VII, § 92.
145
Acht Konvolute, VII, § 139.
146
Z.B. Acht Konvolute, VII, § 87. 105. 108; V, § 148.
147
Acht Konvolute, V. § 148; VII, § 150; VIII, § 72; I, § § 21.
148
Z.B. Acht Konvolute, VIII, § 177; V, § 163; VII, § 80.81; VII, § 94. 95. 108. 113. 121. 150.
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vor, so dass die unmittelbare Verbindung zur Natur, zum Leben und zur Welt aus dem Glaubens-Sinn fließt und erstarkt. So strömt alle Moral, Aufrichtigkeit, Schönheit und Gerechtigkeit aus dem Glaubens-Sinn. Und man braucht es nicht eigens zu erwähnen, dass die Bächlein sich aus dem Glaubens-Sinn über alle Einzelheiten, Details, und Ausschmückungen der Gebote verzweigen und ergießen […]. Dies ist ein Zeichen und Beweis für die Vollkommenheit der Seele.«149 Der natürliche Glaube ist das Zentrum des menschlichen Lebensvollzuges in seiner Beziehung zu seiner Umwelt und auch zu sich selbst. »Der wesenhaftere und spezifischere Wert, der innerlichere und auf die Reinheit des menschlichen Wesens ausgerichtete Wert, offenbart sich im Punkte seines Glaubens. Das Schicksal des Menschen liegt in seinem Glauben. Gemäß der inneren Helligkeit seiner Seele ist die innere Qualität seines Glaubens. Gemäß dem Wert des Guten und Wesenhaften in ihm wird sein Glaube sein.«150 Der Glaube steuert letztlich all die seelischen Regungen und Äußerungen des Menschen, auch die Fähigkeiten des Verstandes und Gefühls. Dies sagt Kuk an anderer Stelle noch deutlicher: »Der Glaube ist weder Intellekt noch Gefühl. Er ist eine selbständige / wesenhafte, grundlegendere Äußerung des Wesens der Seele, der sie in ihrer Eigenschaft leiten muss.«151 Zu dieser Leitungsaufgabe des Glaubens und seinem Verhältnis zu den anderen Seelenkräften ist im Folgenden noch weiteres zu sagen. Zuvor müssen allerdings noch einige andere Epitheta des Glaubens genannt werden. Der Glaube in seiner zentralen Steuerungsmacht der menschlichen Seele gilt, zusammen mit der Liebe, geradezu als das Fundament des menschlichen Seins.152 Vom Glauben hängt jegliches Fundament des geistigen Lebens ab, der Glaube ist die Quelle von allem, er »erweckt alles Leben und alles Gute in der Welt«, 153 das »Mysterium des Glaubens ist das göttliche Licht in der Seele« 154 »das Leuchten des natürlichen Glaubens ist das Licht Gottes, das in der Seele mit seiner großen Kraft aus sich
149
Acht Konvolute, VII, § 213.
150
Acht Konvolute, V, § 257.
151
Acht Konvolute, I, § 219.
152
Acht Konvolute, I, § 222.
153
Acht Konvolute, I, § 713.
154
Acht Konvolute, VIII, § 70.
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selbst wirkt«,155 der Glaube umfasst alles Wissen, fasst alles in eines zusammen.156 »Der Glaube ist die Poesie / der Gesang des Lebens, der Gesang der Wirklichkeit, der Gesang des Seins. Die Poesie ist die eindringlichere Erkenntnis, die mehr ins Innere drängt, in die Tiefen des erkennbaren Wesens, dessen innere Eigenschaft, was die Erkenntnis der Prosa niemals erreicht. Darum ist die wahre Sichtweise auf das Leben gerade im Lied des Lebens zu finden, nicht im Alltag, der sich in der Prosa ausdrückt.«157 Der »natürliche Glaube« Kuks entspricht demnach keineswegs dem, was man darunter im modernen Deutsch verstehen mag. Er ist keine Ausnahmeerscheinung in einer sonst säkularisierten Gesellschaft, das Privileg oder der Atavismus religiöser Gruppen. Der Glaube ist für Kuk ein fundamentales Element des Menschseins, auch dann wenn dieser Glaube gelegentlich das Attribut »göttlich« erhält, als ʼEmuna ʼelohit erhält, was man wohl eher im Sinne eines objektiven Attributs zu verstehen hat, also als Glaube an Gott, als Gottesglaube, was Kuk eigens einmal betont.158 Dies, was Kuk als »natürlichen« Gottesglauben, oder einfach Glauben bezeichnet, ist das innere Ich des Menschen, das sein Wesen ausmacht und all sein Tun und Denken prägt: »Im Verborgenen, in einem geheimen Schatzhaus, von ganz tief unten und ganz weit oben träufelt der natürliche Glaube mit der Tiefe seines Geheimnisses das Mark und den Tau des Lebens auf alles Tun, erfüllt die Seele mit Glanz und Strahlen, mit der leuchtenden Befähigung, gerecht (zaddik) zu sein, fromm (ḥasid), aufrecht und treu, geliebt und liebend. Er erfüllt den Intellekt mit strahlenden Lichtern, benetzt die Imagination mit glänzenden Blitzen, formt den Willen gemäß den Idealen des Allerheiligsten.«159
155
Acht Konvolute, VII, § 80.
156
Acht Konvolute, I, § 588.
157
Acht Konvolute, I, § 165.
158
Der Glaube an Gott ist nach Kuk etwas, das zum Konstitutivum des menschlichen Seins gehört, der aber anschließend zu angemessenem Wachstum geführt werden muss: »Das natürliche Gebilde des Gottesglaubens im Herzen der Menschen gleicht den ersten Setzlingen, die in Enge und Kleinheit gepflanzt werden, damit sie hernach, nachdem sie als Sprösslinge aus ihrem Pflanzort gerissen werden, an einen ihnen angemessenen geräumigen und wachstumsgeeigneten Ort verpflanzt werden, um aus ihnen einen wunderbaren Garten zu machen.« Acht Konvolute, V., § 44; u. vgl. Acht Konvolute, V, § 147.
159
Acht Konvolute, VII, § 94.
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Natürlich folgt dann auch noch die Liebe zur Tora und zum Gebot, welche durch diesen Glauben zum Erblühen kommen, was aber eher selbstverständlich ist, nachdem dem natürlichen Glauben eine so grundlegende und weitreichende Bedeutung auf die Persönlichkeit des Menschen zugeschrieben wurde. Entscheidend ist aber, dass die eigentliche Kraft von diesem natürlichen Glauben ausgeht, nicht von Tora und vom Gebot. Vielmehr muss diese natürliche Kraft des Menschen in das Feld der Tora hinübergeleitet werden: »Der natürliche Glaube, muss mit all seiner natürlichen Kraft und seinem erfrischenden Mut erst erneut in das von Gott gesegnete Feld verpflanzt werden, in das Fundament der Tora, so dass er ganz zum Toraglauben wird.«160 Der natürliche Glaube ist also zunächst eine Triebkraft im Menschen, der offenbar erst noch eine Richtung zu geben ist. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Kuk auch den »Irrglauben« (ʼEmuna schel Scheker) als Glauben anerkennt.161 Darum lebt auch die Häresie von dieser Kraft des Glaubens.162 Die nächste Äußerung Kuks zur fundamentalen Bedeutung des Glaubens für das menschliche Wesen gibt zugleich einen ersten Hinweis, was das Verhältnis dieser seelischen Kraft zu den anderen Fähigkeiten der Seele ausmacht: »Der Glaube gibt das Ziel des Seienden (ha-Jesch) vor, während die Wissenschaft die Wege aufzeigt, es zu erkennen und zu erfassen. Wenn aber der Mensch träge ist, die Wege zu ebnen, schwindet ihm auch das Ziel aus den Augen, und wenn er davon ablässt, dem Ziel nachzustreben, verlieren alle Wege ihren Wert, so dass sie schließlich in die Irre führen. Die wissenschaftliche Seite des Glaubens entspricht stets dem Wert des Weges zum Ziel und die Glaubensseite der Wissenschaft liegt im Wert der Zielgerichtetheit des Weges.«163 Aus diesen Worten wird klar, dass für Kuk die Wissenschaft, die aus dem Intellekt herrührt, und der Glaube nicht im Gegensatz zueinander stehen. Um es in einer heutigen Diktion zu sagen: Der Glaube setzt die Werte des Seienden und damit auch des Menschen, während die Wissenschaft und der Intellekt zunächst wertfreies Erkennen des Seienden besorgt. Beide, die Wertsetzung und das untersuchende Erkennen sind aber dialektisch aufeinander angewiesen. Wissen-
160
Acht Konvolute, VII, § 113.
161
Acht Konvolute, I, § 646.
162
Acht Konvolute VII, § 121; III, § 332; I, § 765.
163
Acht Konvolute, I, § 579.
Zionismus
365
schaft ohne Wertvorgabe führt in die Irre, und Wertesetzung ohne Verortung der betroffenen Dinge in der Wirklichkeit verdirbt auch die Wertesetzung. Es ist dieses notwendige Zusammenspiel von Vernunft und Glaube, von Wertsetzung und Sachklärung, auf welche Kuk in zahlreichen weiteren Notaten zurückkommt. Bevor dieses Verwobensein von Vernunft und Glaube weiterverfolgt wird, muss das Wesen des Glaubens, das bisher als natürlicher Glaube begegnet war noch näher betrachtet werden. Der Glaube in seiner natürlichen Form, als zentrale Prägekraft im Menschen ist aber, und das war schon mehrfach angeklungen, keine konstante und unveränderliche Triebkraft im Menschen. Im Gegenteil, diese Kraft kann und muss sogar verändert und geleitet werden und zwar zu einem bestimmten Ziel hin. Dieses Ziel ist der »Höhere Glaube«. Der stets in der gesunden Seele verankerte natürliche Glaube »strömt in zunehmendem Maße, bis sich die Erkenntnis mit ihm paart, dann beginnt das Licht des höheren Glaubens aufzuscheinen.«164 Der natürliche oder der »niedrige« Glaube ist also wie der Ton in der Hand des Töpfers, den es zu formen gilt, mit Erkenntnis und durch das Tun des Guten: »Es gibt zwei Weisen der Offenbarung des Glaubens, eine höhere und eine untere. Die höhere Weise folgt aus der inneren Erkenntnis (Hakkara) des großen Wertes des Gottesglaubens in der Welt, im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben, im Leben des Geistigen, der Moral und des Intellektes. Und je mehr diese Erkenntnis hervortritt desto mehr erstarkt der Glaubens-Sinn und erobert die Herzen, herzt und verwöhnt sie. Je mehr diese heilige Weise sich ausbreitet, desto mehr verbreitet sich das Gute in der Welt, wird aber niemals [die unendlichen] Grenzen der Moral und des Guten erreichen, der gesunden Ordnung, der Weisheiten und Verstandesforschungen, der zarten Poesie und aller Schönheit. Unterhalb dieser höheren Weise des Glaubens steht die Vision des [niedrigeren] Glaubens, sie entsteht aus der Schwäche der Seele, selbst unterscheiden und über die hohen Dinge urteilen zu können. Wenn dieser niedrige Glaube sich über das geziemende Maß hin ausbreitet, […] und sogar die Herzen der Tauglicheren erreicht […], die berufen sind, den höheren heiligen Weg des höheren Glaubens zu gehen, vernachlässigen sie den höheren Glauben und schläfern sich selbst auf dem Schoß und der Eigenart des niedrigen Glaubens ein […].«165 Der niedrige natürliche Glaube ist darum entwicklungsfähig, weil er in nuce, oder in potentia schon all das enthält, worin sein Entfaltungsziel steckt. Verglei164
Acht Konvolute, VII, § 92.
165
Acht Konvolute, I, § 699.
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chen mag man diesen Gedanken mit der Auffassung von Moses Maimonides, der im Menschen bei seiner Geburt den Intellekt in potentia vorhanden sieht, der aber durch Studium und Wissen zu seinem höheren Ziel hin entwickelt werden muss.166 Eine gewisse Analogie dazu bietet der natürliche Glaube Kuks. Darum nennt Kuk den natürlichen Glauben auch »das heilige Gewebe in der Seele des Menschen«. Das bedeutet »In der natürlichen Form des Heiligen, wie dies in Israel vorhanden ist, sind schon alle Eigenschaften der Formen aller Gebote und deren Verästelungen und die gesamte Tora enthalten.«167 Dies ist eine weitreichende Aussage für die Quelle dessen, was der Mensch zu befolgen hat. Allerdings macht Kuk hier die schon angedeutete Einschränkung, dass diese Grundstruktur der Gebote und der Tora nur in den Seelen Israels angelegt ist: »In der natürlichen Gläubigkeit des heiligen Geflechtes von aller Welt ist, selbst in deren reiner Seite, nicht jenes Licht enthalten, welches die Gebote hervortreten lässt.«168 Mit dieser Formel von der besonderen Seelenstruktur, die hier als spezifische Struktur des natürlichen Glaubens bei Israel ausgestaltet ist, nimmt Rav Kuk den seit Jehuda ha-Levi initiierten, von Maharal aus Prag, Jizchak Luria und dem Begründer des ḤaBaD Ḥasidismus, Schneʼur Salman aus Liadi, weitergetragenen Gedanken auf, dass die Seelen der Israeliten von allem Anfang an sich von den Seelen der übrigen Völker unterscheiden,169 und darum schließlich nur die Israeliten den wahren Gottesglauben erreichen können.170 Allerdings, so fährt Kuk fort, auch diese bevorzugte Ausgangslage der jüdischen Seele kann durch häretische Fremdeinflüsse gestört und damit an der Erreichung ihres Zieles behindert werden. Aber andrerseits besteht, trotz des wesenhaften Unterschieds zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Glaubensgrundlagen, eine Beziehung zwischen den jüdischen Glaubensgrundlagen und jenen der Aufrechten aller Völker, so dass alle Völker der Welt in ihrem Fundament von dem heiligen Inhalt aus der Quelle Israels gesegnet werden. Dies ist die Kuk’sche Version des altbiblischen Abrahamsegens, nach welchem alle Völker der Welt in Abraham gesegnet würden.171 Doch es bleibt die entscheidende Differenz: »Aber zu jener heiligen Eigenschaft, die oberhalb der Natur liegt, welche die Eigenschaft der Tora ist, hat kein einziges Volk eine Beziehung.«172 Dieser Satz erinnert an
166
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 466. 463.
167
Acht Konvolute, VII, § 132.
168
Acht Konvolute, VII, § 132.
169
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 601–609; Bd. 2, S. 658–661. 892–895; Bd. 3, S. 264. 273–
170
Acht Konvolute, II, § 289; vgl. VII, § 139.
276. 171
Gen 12, 3; vgl. noch Acht Konvolute, III, § 321.
172
Acht Konvolute, VII, § 132; u. vgl. VII, § 133.
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Jehuda ha-Levis Auffassung, dass die naturhafte Seelen-Differenz zwischen dem Israeliten und dem Nichtjuden auch dann bestehen bleibt, wenn ein Nichtjude zum Judentum übertritt. Ihm, dem Proselyten, bleibt – so meint Jehuda HaLevi – trotz aller Bekehrung die Gabe der Prophetie vorenthalten.173 Der kindliche, natürliche Glaube, so war oben schon angeklungen, muss entwickelt werden, um zu dem eigentlichen wahren höheren Glauben aufzusteigen. In diesem Zusammenhang diagnostiziert Kuk einmal, dass der kindliche Glaube eines Menschen auch verlorengehen kann – nach den obigen Feststellungen ein Zeichen seelischer Krankheit. Aber dieser verlorene Glaube ist eben ein Glaube der von Imaginationen, von einfachen korporalistischen Vorstellungen lebt, er ist eine ʼEmuna dimjonit. Dieser Volksglaube ist ein Glaube, so Kuk, dem sich die Intellektuellen nicht verschreiben können, sie können diesem an Körperliches gebundenen Glauben nichts abgewinnen. Sie wenden sich demnach dem höheren Glauben an das »wahre Leben« zu.174 Das, was für das Individuum gilt, gilt auch für die Völker. Sie bewahren zu ihrer Erhaltung zunächst den einfachen natürlichen Glauben. Aber sobald sich die Lebensformen weiter verfeinern und »der Intellekt sowie die moralische Erkenntnis sich entwickeln, wird diese natürliche Neigung schwach und von nun an können die Religion und der Glaube nicht mehr nach ihrer natürlichen Neigung existieren, sondern sie entscheiden nur noch gemäß der Erkenntnis von der Güte und Wahrheit der Religion und des Glaubens.« Dadurch wird der natürliche Glaube geschwächt und weil »ja eine gesicherte und erfüllte Existenz ohne das Licht des Glaubens, das über den Schattenseiten des Menschseins steht, unmöglich ist, muss die Erkenntnis sich erheben, bis sie [gemäß den Worten des Propheten] zu ihrem Ziel gelangt, wo gilt: ›und es wird der Glaube deiner Zeit die Macht der Erlösung deiner Weisheit und Erkenntnis sein‹ (Jes 33, 6).«175 Ein wichtiges Element der Höherentwicklung des Glaubens ist demnach die Entfaltung des Intellekts, er muss den Glauben läutern und von seinen Schlacken befreien.176 Dasselbe gilt auch für die sich ändernden ethischen Maßstäbe. Der Glaube, so meint Kuk in einem weiteren Notat, müsse sich unbedingt auf die Höhe der intellektuellen Entwicklung eines Menschen oder einer Gesellschaft heben und es dürfe auch nicht sein, dass man hierbei eine Zweigleisigkeit entstehen lasse. Ein einzelner Intellektueller – wie auch ganze Gesellschaften – dürfe daher keinen Winkel seiner Seele für einen alten Köhlerglauben aussparen, an welchen er seinen Intellekt nicht vordringen lasse. »Der Mensch muss wissen, dass sich sein Glaubensniveau auf die Stufe seiner Erkenntnis heben muss. Da173
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1. S. 607–609.
174
Acht Konvolute, I, § 22.
175
Acht Konvolute, I, § 36.
176
Acht Konvolute, VII, § 150.
Avraham Jizchak Kuk
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rum muss sich der Mensch mit den Wissenschaften und jenen Erkenntnissen befassen, welche ihm seinen Schöpfer kundtun, damit sich das Niveau seines Glaubens mit dem Wesen des Niveaus seiner intellektuellen und seiner SelbstErkenntnis vermischen.«177 Das kann gelegentlich dazu führen, dass man alte Glaubensvorstellungen fahren lassen muss, um den neuen Erkenntnissen gerecht zu werden: »Und gelegentlich kommt eine Zeit, dass die Notwendigkeit entsteht, den einen oder anderen Glauben aufzugeben, weil eine Gesellschaft einen Stand erreicht, in dem sie sich nicht länger mit solchen bildlichen Glaubensvorstellungen behelfen muss.«178 Ein anschauliches Beispiel für diese nötige Höherentwicklung des Glaubens gibt Kuk einmal, wo er die intellektuelle Leugnung höher einschätzt als den primitiven Bilderglauben: »Es gibt eine Form der Leugnung, die einem zustimmenden Bekenntnis gleichkommt und ein Bekenntnis, das gleich einer Häresie ist. Letzteres trifft zum Beispiel zu, wenn ein Mensch bekennt, dass die Tora vom Himmel kam, er sich den Himmel aber in verwunderlichen Bildern vorstellt, so dass dabei vom wahren Glauben keine Spur mehr zu erkennen ist. Und die Häresie, die einem Bekenntnis gleich kommt, ist zum Beispiel, wenn ein Mensch leugnet, dass die Tora vom Himmel kam, seine Leugnung sich aber auf solche Bilder vom Himmel bezieht, die aus Hirnen voller Unsinn stammen, er hingegen sagt: Die Tora hat einem höheren Ursprung als dieser Himmel, und er anhebt dessen Grund in der Größe des menschlichen Geistes zu finden, und in der Tiefe der menschlichen Moral und der Höhe seiner Weisheit. Und wiewohl er damit noch nicht zum Kern der Wahrheit vorgedrungen ist, ist seine Leugnung doch wie ein zustimmendes Bekenntnis, das sich dem wahren Glauben nähert.«179 Kuk kommt wiederholt auf diese Notwendigkeit der Höherentwicklung des Glaubens zurück, wenn er auch gelegentlich das Hohelied des einfachen natürlichen Glaubens singen kann, in welchem sich »das höchste Licht, der innere Glanz des vollkommeneren Lebens offenbart.« Im gleichen Zusammenhang sagt er indessen, dass in der wiederhergestellten Welt, sprich in der erlösten Welt, der höhere Glaube in jenem einfacheren aufgeht.180 Das soll wohl bedeuten, dass in der Welt vor dem Tikkun, also vor der Wiedervollendung, der Mensch gehalten ist, seinen Glauben zu entfalten, während dann in der wiederhergestellten Welt, wenn alle Dunkelheiten gewichen sind, der einfache natürliche Glaube sich 177
Acht Konvolute, V, § 154.
178
Acht Konvolute, I, § 155; vgl. dazu I, § 160.
179
Acht Konvolute, I, § 633.
180
Acht Konvolute, V, § 163.
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selbst genügen darf. In der anstehenden Welt darf der Verstand nicht eingeschläfert und in Knechtschaft genommen werden: »Darum, wenn es den Versuch der Einschläferung der Vernunft im Namen des Glaubens, der Gottesfurcht, der Beachtung der Tora und des Erfüllens der Gebote gibt, ist dies eine schreckliche Lüge und scheußliche Unreinheit […]«181 Gegen all solche Versuche müsse man, so Kuk, vorgehen, um die Welt, Israel und die Tora samt dem Glauben zu retten. Kuk fordert demnach einen Glauben, der auf der Höhe der Vernunft des jeweiligen Individuums und der jeweiligen Gesellschaft steht, diesem Ziel können und sollen alle Wissenschaften und auch die »göttlichen Philosophien« dienen.182 Es ist dieser Zusammenhang in welchem Kuk absolute Freiheit des Denkens, fordert, denn nur so könne dem Intellekt Genüge getan werden. Wie andrerseits der Glaube der höheren Stufe, in jeder Hinsicht von allen Begrenzungen frei sein darf und muss, auch von der Begrenzungen der logischen und physikalischen Notwendigkeiten.183 »Im Glauben gibt es zwei Stufen: Den bildhaften Glauben und den intellektuellen Glauben. Der bildhafte und gefühlte Glaube kennt Gesetze und Grundsätze, Glaubenssätze (ʽIkkarim) und Halachot. In ihm gibt es keine Freiheit des Erkennens, ebensowenig gibt es die Freiheit in allen Gesetzen und Geboten, vielmehr gilt hier die Sachuntersuchung, das prüfen nach den Grundsätzen des Überkommenen und der Tradition. Über ihm steht der intellektuelle Glaube, in ihm herrscht die allerhöchste Freiheit, er wird nur den Aufrechten, die im Mysterium Gottes eihergehen, offenbart.«184 Statt »intellektueller« Glaube möchte man hier gerne »intelligibler« Glaube übersetzen, um anzuzeigen, dass dies ein Glaube ist, der nicht unbedingt den Regeln der vernünftigen Logik folgt, sondern ein Glaube ist, der sich über die bildhaften Vorstellungen des einfachen Glaubens und der damit verbundenen Regularien des irdischen Lebens erhebt. Dieser Glaube steht höher als das irdisch Konkrete und darin ist seine Freiheit begründet, die sich über die Schranken des irdischen, des natürlichen Glaubens und des Glaubens der Tradition hinwegsetzen kann. Kuks wiederholte Betonung, dass der Glaube des kontinuierlichen Torastudiums und vor allem der Gebotserfüllung bedürfe, um gefestigt und fundiert zu werden,185 beschreibt demnach ein Stück Weges des niedrigen, noch unfreien
181
Acht Konvolute, VI, § 86.
182
Acht Konvolute, VI, § 107.
183
Acht Konvolute, VI, § 50.
184
Acht Konvolute, V, § 246.
185
Acht Konvolute, VII, § 113.
Avraham Jizchak Kuk
370
Glaubens, dem nach der Fortsetzung des soeben angeführten Zitates die Begnadung mit dem höheren Glauben verheißen ist. Darauf lässt auch ein anderes Diktum Kuks schließen, wo er sagt: »Alle Gebote sind nichts als Bildgestalten des Glaubens, die aus der Tiefe des Glaubens kommen, aus dem, wozu der Gottesglaube, in seiner absoluten Höhe die Läufe des Lebens verpflichtet. Alle Gebote, samt ihren Verzweigungen, zeichnen, wenn sie erfüllt werden, im seelischen Leben, wie in dem der Welt, das ein, was von Seiten der Tiefe der Wahrheit des Gottesglaubens einzuzeichnen würdig ist […] dann wächst die göttliche Kraft durch den Tora-Dienst, der aus den Verzweigungen des Glaubens kommt […] Die Kultur der inneren Heiligkeit Israels weitet die Grenzen des Gefühls für diese höchste Wahrheit […] Die heilige Logik, die höher ist als alle weltliche / profane Logik, weckt die Saiten der göttlichen Seele im Menschen und in der Welt, dann sehen die Augen mit klarem Blick die Größe und die Wahrheit des Glaubens, der in der ganzen Tora ausgebreitet ist […].«186 Das vermehrte Tun der Gebote lässt die Heiligkeit des Menschen wachsen und stärkt sein Gefühl für die höchste Wahrheit, die sich auf diesem Wege schließlich offenbart. So erlangt er am Ende »die heilige Logik (oder das heilige Trachten), die über aller profanen Logik und allem profanen Trachten steht«. Auf dieser Stufe erklingen die Saiten der Geige der Seele des Menschen wie der Welt und dann »sehen die Augen mit klarem Blick die Größe und die Wahrheit des Glaubens, der in der ganzen Tora ausgebreitet ist, in der schriftlichen und ihren Traditionen und sogar im Brauchtum Israels, das auch Tora ist.«187 Es ist diese höhere Stufe, auf welcher die in den Niederungen des körperlichen Daseins getrennten Dinge zur Einheit verfließen, ein Thema, das zu den wichtigsten im Denken Kuks gehört. 4.5.1.7 Die Vernunft und die zwei Stufen des Glaubens In den vorausgegangenen Abschnitten wurde deutlich, dass Avraham Jizchak Kuk einen Glauben fordert, welcher auf dem Niveau des Verstandes des jeweiligen Individuums steht. Ist dies nicht der Fall, so sieht Kuk verheerende Folgen für das Individuum wie für die Gesellschaft. Kuk beschreibt diese Situation nochmals in dem sogleich folgenden Text. Aber an dieser Stelle macht er nicht Halt. Er sagt da nämlich, dass es neben einem solchen Glauben, der sich in die
186
Acht Konvolute, III, § 203.
187
Acht Konvolute, III, § 203.
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371
Zucht der Vernunft nehmen lassen muss, noch einen höheren Glauben gibt, der seinerseits die Vernunft weit hinter sich lässt: »Zwei Qualitäten gibt es: Das natürliche Fundament des Glaubens, das ist das heilige Sehnen in der Seele des Menschen, und außerdem das obere Fundament, das ist die heilige Erleuchtung in ihrer höheren Form, die über der Natur steht, welche über die Natur herrscht und sie vervollkommnet.«188 Es zeigt sich hier eine Parallelität zu der Situation des Intellekts im Denken von Rav Kuk. Das obigen Kapitel zu »Die natürliche und die emanierte Vernunft« zeigte, dass Kuk im Sinne des neoplatonischen Denkens einen irdischen und einen überirdischen Intellekt kannte. Ein paralleles Bild ergibt sich für den Glauben. Auch hier spricht Kuk, wie im vorigen Kapitel schon angeklungen war, von einem niedrigen, natürlichen, und einem höheren Glauben. Es ist dieser höhere Glaube, welcher die Position des Glaubens gemäß der traditionellen Auffassung einnimmt, nämlich als eine Erkenntnisweise, die über der Vernunft steht. Doch nun zu dem schon angekündigten Text, der zunächst das Verhältnis des natürlichen Glaubens zur irdischen Vernunft bespricht: »Ein Glaube, dem die Vernunft nicht zustimmen kann, verursacht Zorn und Grausamkeit, weil nämlich die höhere Seite des Menschen, die Vernunft, sich über ihn betrübt. Aber der höhere Glaube, wiewohl er äußerst verborgen ist, und die Wege des Herrn, die wunderbar sind, ihnen eignet eine so große Wonne, dass der Zorn, der durch die Vergewaltigung der Vernunft erwacht war, sogleich vergeht und zu einer Süße und zu hellem Licht wird, wegen der göttlichen Erscheinung, die sich mit ihm verbindet und die bis auf den unteren Glauben hinabdringt, der sich mit dem strikten Verstand der sichtbaren Welt verbindet. So fügen sich die verborgene und die offenbare Welt ineinander und bauen das Haus Israels, mit doppelter Anmut [gemäß dem Wort] ›und er wird den Schlussstein hervorholen unter dem Jubelruf: Wie schön, wie lieblich er ist!‹ (Sacharja 4, 7).«189 Oberer und unterer Glaube stehen demnach in einem Verhältnis, wie man es aus den neoplatonischen Denksystemen kennt, das Untere ist die Emanation des Oberen, und das Untere soll sich dem Oberen entgegenentwickeln, ein Prozess, der durch den anhaltenden Kontakt der beiden und die Emanation von oben gestützt wird.190 188
Acht Konvolute, VII, § 132.
189
Acht Konvolute, II, § 287.
190
Acht Konvolute, V, § 206.
Avraham Jizchak Kuk
372
Sind die meisten Aussagen Kuks über den höheren oder oberen Glauben von einer Zweideutigkeit hinsichtlich seiner ontologischen Stellung geprägt, das heißt ob er eine transzendente Größe oder doch nur eine höchste anthropologische Entwicklungsstufe meint, so verschafft ein anderer sehr hymnischer und poetischer Traktat zum Glauben mehr Klarheit. In diesem hymnischen Traktat zum Glauben nimmt Kuk, ohne damit zum Kabbalisten zu werden, wiederum die Diktion der kabbalistischen Sefirotlehre auf, nach welcher die dort benannten Größen eben transzendente Hypostasen, Mittlerstufen zwischen Gott und seiner Welt sind. Nach dieser Darstellung ergibt sich folgende transzendente Hierarchie: Ganz oben, und jenseits des emanierten Seins steht natürlich das ʼEn Sof, das unendliche Licht der Gottheit selbst. Nach ihr folgt als erste Entäußerung der Gottheit der »Wille«, oder der »Wille Gottes«, Razon, welcher, traditionellerweise,191 mit der ersten kabbalistischen Sefira, Keter, identifiziert wird, danach folgt, eng mit dem Willen verschlungen und recht eigentlich noch nicht als nächste Emanationsstufe gezählt, der »Glaube«, die ʼEmuna. Aus dem Zwilling »Wille-Glaube« emaniert sodann, wieder gemäß der Kabbala, die »Weisheit«, Ḥochma, das heißt die Quelle des menschlichen Intellekts.192 Hier besteht demnach kein Zweifel, dass Kuk der alten und vor allem kabbalistischen Idee von einer transzendenten Weisheit sowie einem transzendenten Willen einen transzendenten Glauben an die Seite stellt.193 Ja noch mehr, er stellt den Glauben höher als die Weisheit, so dass die Weisheit als Emanat des Glaubens erscheint, eine Rangordnung der beiden, die letztlich auch auf der irdischen Stufe gilt. Dass er in dieser transzendenten Hierarchie den Glauben mit dem Schöpferwillen zusammenfasst – ein dezidiertes Bekenntnis zur willentlichen Erschaffung der Welt, gegen die aristotelische Lehre von der kausalen Notwendigkeit – hat sein Pendant in einer schlaglichtartigen Bemerkung Kuks, wo er sagt: »Das Licht des Herrn leuchtete auf Rabbenu Mosche Ben Maimon als er feststellte, das Fundament des Glaubens sei eins mit dem Grundsatz der vollkommenen und totalen Neuerschaffung der Welt.«194 Denn diese Neuerschaffung wurde von Maimonides auf das Vorhandensein eines göttlichen Willens gegründet.195 Also, schließt Kuk, waren auch für Maimonides der transzendente Glaube und der göttliche Wille eins.
191
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 268–270.531; u. vgl. das Register s. voce Wille.
192
Acht Konvolute, VII, § 99.
193
Und vgl. Acht Konvolute, VII, § 102.
194
Acht Konvolute, VII, § 41.
195
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 459–461.
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4.6
373
Die Welt als Wille
Es war im vorigen Abschnitt schon angeklungen, dass Rav Kuk die voluntaristische Lösung der mittelalterlichen Philosophen, wie auch der Kabbalisten, zur Abwehr der aristotelischen Lehre von der kausalen Notwendigkeit und damit der Ewigkeit der Welt übernommen hat. Danach gehört der Wille zum Wesen oder wenigstens zur Einheit Gottes, so zum Beispiel bei Maimonides und Ibn Gabirol, oder er ist das erste Emanat, das eng mit dem Unendlichen selbst noch verbunden ist, bei den Kabbalisten. Nach Kuk, so war oben schon gesagt worden, war der Wille als Zwilling des Glaubens, gleichfalls als erstes Emanat konzipiert. Damit steht Kuk fast noch auf mittelalterlichem Boden. Allerdings gibt es den wichtigen Unterschied, dass dank der Zwillingsemanation des Glaubens, dem Willen selbst schon ein kognitives Element beigegeben war und nicht erst auf der nächsten Emanationsstufe mit der Weisheit ins Dasein trat. Diese Problematik wird uns sogleich nochmals beschäftigen. Außer dieser Veränderung der mittelalterlichen Konzeption vom Willen gibt es einen weiteren neuen Akzent, der aufhorchen lässt. Zwar steht nach der mittelalterlichen Vorstellung der Wille ganz am Anfang in Gott oder als Gottes erste emanatorische Regung, aber die Verfolgung des emanierten Willens auf den weiteren Stufen der Emanation hat die mittelalterlichen Denker offenbar wenig interessiert. Für sie war die Frage des Gotteswillens in erster Linie eine Frage der Weltentstehung, das heißt, ob die Welt zwangsläufig aus der Ersten Ursache erzeugt wurde, oder richtiger, ob sie als ewige Wirkung der ewigen Ursache schon immer mit ihr gegeben war, oder ob demgegenüber ein freier Willensakt der Gottheit die Welt zu einem frei gewählten Zeitpunkt aus dem Nichts hervorgebracht hatte. Letzteres, die creatio ex nihilo, die einen zeitlichen Anfang hatte, war auch für Kuk im Sinne der biblisch – rabbinischen Tradition das zentrale Element des Glaubens. Aber für Kuk hat die Frage des Willens noch weitere, über diese Frage hinausgehende Aspekte. Kuk verfolgte die Wirkung des Willens auch auf den niedrigeren Stufen der Emanation: »Wir kennen den Welt-Willen (Rezon ha-ʽOlam), die Stufe, welche sich als Seele des Lebens im Sein offenbart, als wirkender und strebender Wille, dessen Zweige sich in allem offenbaren, im Mineralischen, Pflanzlichen, Animalischen und Sprechenden, in allen Details und deren Einzelheiten, wie auch in den Gattungen und Spezies (klale klalim). Wenn wir mit ihm den Umriss seiner Gesamtheit umschreiten, kommen wir zu dem Schluss, dass dieser Wille das Ziel hat aufzusteigen. Er steigt auf durch die Aufstiege seiner offenbarten Seiten und Details, durch die Seelen der Gerechten, die ihn befriedigen, seine Kanäle öffnen sich und der köstliche Erguss seines Willens verströmt alles Gute, Leben, Friede und Köstlichkeiten. Und von diesen Strömen des Wohl-
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374
gefallens und Segens, wird der allgemeine Wille befähigt von dem Obersten Wollen, vom Licht des Willens / Wohlgefallens und der Macht die darüber hinaus ist, die höher und erhabener ist als er, welche die Ideen-Welten mit all ihrer Fülle umfängt, den Fluss der Freude und ewigen Segen, zu empfangen.«196 Kuk sieht demnach, dass sich die Wirkung des obersten Willens in der gesamten Schöpfung verzweigt, als die Kraft die alles Geschehen vorantreibt.197 Man wäre durch diese zwar nicht systemwidrige, aber doch die mittelalterliche Grundfrage erweiternde, Darstellung Kuks kaum überrascht und müsste die Frage nach dem Woher ihrer Motivation nicht stellen, wenn nicht Kuk selbst einen deutlichen Hinweis dafür gäbe. Im selben Konvolut nur wenige Seiten vor dem eben zitierten Abschnitt sagt er nämlich: »Die Auffassung von Schopenhauer bezüglich des Willens ist hinsichtlich der Sache selbst durchaus akzeptabel. Das üble an ihr ist alleine, dass er den Willen als die gesamte Wirklichkeit und deren Ursache versteht, anstatt als nur eine Seite dieser Wirklichkeit. Und dies ist nichts als ein Eigensinn, der sich aus einem Argument des ›wir haben nicht gesehen‹ ableitet, was ja tatsächlich kein Beweis ist. Und dies an einer Stelle, wo alle, die mit offenen geistigen Augen sehen, keinen blinden und tauben Willen erkennen, sondern einen, der voller Rat und Verstehen ist. Die Taub- und Stummheit des Willens sind Offenbarungsweisen der unteren praktischen Stufen der schöpferischen Kraft. Aber es ist ein höchstes Ziel den Willen in dieser verborgenen Lage zu belassen, so wie es zum Beispiel [durch den Schöpfer] beabsichtigt war, den übrigen Lebewesen die Vernunft vorzuenthalten. Am Beginn dieser Linie steht der Wille von Allem und er umfasst alles. Aber er schreitet voran und wird niedriger, offenbart sich in Einschränkung nach Einschränkung, bis zum Schluss sein fundamentalstes Wesen nur noch punkthaft sichtbar wird, als ob er sonst kein positives Attribut hätte. Der Wille des Menschen bewirkt viel für die Ausbreitung des allgemeinen Willens und er wird ihn dereinst aus seiner Niedrigkeit emporheben, um ihm Kraft und Leben zu verleihen, bis Himmel und Erde sich ihrer Wiederbelebung erfreuen, nachdem sie bis an die Tore des Todes gesunken waren, ohne Lebenskraft und ohne Gefühl und Erkenntnis.«198
196
Acht Konvolute, I, § 460.
197
Acht Konvolute, IV, § 97.
198
Acht Konvolute, I, § 435.
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375
Aus dieser Polemik wird klar, dass Kuks Konzept vom Willen offenbar eine Auseinandersetzung mit Schopenhauer widerspiegelt. Schopenhauers Vorstellung vom Willen leuchtet Kuk im Prinzip ein. Wo er mit Schopenhauer übereinstimmen kann ist, dass es jenseits aller Erscheinungswirklichkeit ein wirkender Wille ist, der überall und alles in der Welt vorantreibt. Schopenhauer nennt diese Wirkungen »Objektivierungen« des Willens, also Realisierungen in konkreten Kräften, wie der Naturkraft, in Gattungen von Tieren und Pflanzen, in denen Schopenhauer die platonischen Ideen sehen kann,199 wie auch in allem Detailgeschehen. Einen Passus wie den Folgenden aus Schopenhauers Hauptwerk konnte Kuk ohne Zweifel mit einem einzigen Abstrich unterschreiben: »Ist nun dieses Ding an sich [sprich das eigentliche Wesen der Welt], […], der Wille; so liegt er, als solcher und gesondert von seiner Erscheinung betrachtet, außer der Zeit und Raum, und kennt danach keine Vielheit, ist folglich einer, […]. Die Vielheit der Dinge in Raum und Zeit, welche sämtlich seine Objektivität sind, trifft daher ihn nicht und er bleibt, ihrer ungeachtet, unteilbar. Nicht ist etwan ein kleinerer Teil von ihm im Stein, ein größerer im Menschen: da das Verhältnis von Teil und Ganzem ausschließlich dem Raume angehört und keinen Sinn mehr hat, sobald man von dieser Anschauungsform abgegangen ist; sondern das Mehr und Minder trifft nur die Erscheinung, d.i. die Sichtbarkeit, die Objektivation: von dieser ist ein höherer Grad in der Pflanze, als im Stein; im Tier höher, als in der Pflanze […].«200 Der wesentliche Abstrich, den Kuk hier macht, ist die Auffassung Schopenhauers, dass der Wille das Letzte, Äußerste ist, das keinen Grund außer sich selbst hat. Hiergegen muss Kuk natürlich Einspruch erheben, denn vor dem Willen sieht Kuk allemale die Gottheit oder kabbalistisch gesprochen das ʼEn Sof, das Unendliche. Der Wille ist für ihn nicht wie für Schopenhauer der letzte Grund allen Seins, sondern der erste Akteur der göttlichen Unendlichkeit. Ein weiterer gravierender Einspruch Kuks gegen Schopenhauer ist dessen Auffassung, dass der Wille, die letzte Ursache allen Seins, ein »blinder« Wille sei, der kein bestimmtes etwa »vernünftiges« Ziel verfolgt.201 So zum Beispiel wenn Schopenhauer sagt: »So sehn wir denn hier, auf der untersten Stufe, den Willen sich darstellen als einen blinden Drang, ein finsteres, dumpfes Treiben, fern von aller unmittelbaren Erkennbarkeit […] der Wille doch völlig erkenntnis-
199 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: A. Schopenhauer, Werke in zwei Bänden, hrsg. W. Brede, München/Gütersloh (1977), § 25, Bd. I, S. 185. 200
A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,, Bd. I, § 25, S. 183.
201
A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, § 23, S. 167. 168.
Avraham Jizchak Kuk
376
los, als finstere treibende Kraft […].«202 Dagegen hat Kuk schärfsten Widerspruch eingelegt, so in dem oben angeführten Text: »wo alle, die mit offenen geistigen Augen sehen, keinen blinden und tauben Willen erkennen, sondern einen, der voller Rat und Verstehen ist.« Gegen Schopenhauers Auffassung vom Willen als einer nicht zielgerichteten Kraft, als einem blinden Drang polemisiert Kuk in einer weiteren langen Ausführung,203 wo er sie als Gottesleugnung einer frevlerischen neuen Philosophie unter der Führerschaft Schopenhauers geißelt. Das schlimmste Resultat dieser Weltsicht sei, so Kuk, der aus ihr folgende Pessimismus, der sich eben nur einem »blinden Willen« ausgeliefert sieht. Kuk konzediert zwar, dass auf den irdischen Stufen des Seins, sprich in einem nur kleinen Ausschnitt alles Seienden, dieser Wille als blind erscheinen mag, dies sei aber eine gewollte Strategie des göttlichen Wollens. Diese selbstgewählte Unfreiheit unter einem blinden Willen müsse aber von den Freien, Weisen und Gerechten bekämpft und besiegt werden. Die Unsichtbarkeit der Zielgerichtetheit und Sinnhaftigkeit Willens auf den unteren Ebenen, darf also nicht zu dem Schluss verleiten, dies sei das generelle Wesen dieses Willens. Es bedarf allerdings der Augen des Geistes, dies anders wahrzunehmen. Der Wille hat ein Ziel, wie in beiden zuvor von Kuk zitierten Texten zu lesen war. Eines dieser Ziele ist das traditionell neoplatonische, nämlich die Rückkehr des Emanierten in seinen Ursprung,204 bei Kuk als Aufstieg des Willens bezeichnet, der vor allem – auch dies ein Traditionsgedanke des Platonismus – vom Menschen bewerkstelligt werden muss. Es scheint, dass Kuk die Schopenhauerʼschen Gedankengänge aufgreift, um einen grundsätzlichen Kampf gegen die Auffassung von der Sinnlosigkeit des irdischen Geschehens, zu dem auch das nicht zu leugnende Böse in der Welt gehört, zu führen. Es ist diese Zielsetzung, die es Kuk auch ermöglichte, in den areligiösen säkularisierten Zionisten seiner Tage eine heimliche Strategie des göttlichen Willens zu erkennen, und so befähigt zu sein, mit ihnen zu kooperieren und ihre Lebensweise sub specie voluntatis divinae zu akzeptieren. Ein dritter Punkt des Widerspruchs gegen Schopenhauer ist der, dass dieser im Willen die einzige Wirklichkeit sehen will, welche diese Welt treibt. Demgegenüber weiß Kuk ja von weiteren transzendenten Kräften, abgesehen von der über allem stehenden Gottheit. Eine dieser weiteren transzendenten Kräfte neben dem Willen ist für Kuk, wie wir oben schon sahen, der Intellekt. Er, so wurde schon deutlich, ist auf der überweltlichen Ebene mit dem Willen noch aufs engste verbunden, wodurch der Wille eine intellektuelle Seite und der Intellekt eine 202
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, I, § 27, S. 210; § 54, S. 356.
203
Acht Konvolute, IV, § 124.
204
Vgl. oben Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, VII, 4.3; und Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 498–499. 544. 560; Bd. 2. S. 222.
Zionismus
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willentliche Seite besitzt, die sich erst auf der unteren Ebene wirklich trennen, wodurch ihre ursprüngliche wesenhafte Verbundenheit unsichtbar wird.205 Damit sieht Kuk schon auf der transzendenten Ebene eine Sinnhaftigkeit des Willens, die sich, wenn auch verborgen, bis zu den untersten Verzweigungen erhält. Eine solche Sinngebung kann Schopenhauer allenfalls durch die Deutung der Vorstellung auf der irdischen Ebene zugestehen. Wille und Intellekt sind für Kuk schon in der oberen Seele miteinander verbunden, nicht erst im die Welt deutenden Menschen.206 Es gibt noch eine weitere Nähe zu Schopenhauer, die zugleich nochmals eine Distanzierung in sich trägt. In einer kleinen Homilie zur Bedeutung der Tefillin, also der beim Gebet anzulegenden Riemen und Kapseln, gibt Kuk dem menschlichen Leben einen Sinn, der bisher in der jüdischen Literatur so nicht formuliert worden war, nämlich dass der Inhalt des menschlichen Lebens der Wille zum Leben sei. Dies ist eine Formulierung, wie man sie der Hebräischen Bibel noch hätte zuschreiben können,207 aber spätestens mit der hellenistischen Zeit und dann vor allem in der rabbinischen Theologie verliert das Leben in dieser Welt seinen Eigenwert. Das Leben auf dieser Erde bekam in der rabbinischen Anthropologie seinen Sinn vom Leben im Jenseits, und seine irdische Sinngebung von der Erfüllung der Gottesgebote.208 Die mittelalterlichen Denker sahen sodann in der intellektuellen Entwicklung des Menschen oder im Aufstieg der Seele in die Weltseele den Sinn und die Aufgabe des Lebens.209 Dass für Kuk das Leben nunmehr seinen Sinn aus dem Willen zum Leben erhalten solle, ist wiederum eine Auffassung, die der von Schopenhauer nahesteht. Kuk sagt dazu: »Der Inhalt des Lebens ist der Wille des Lebens zu leben. Dieser Wille gibt dem Leben seinen Wert. Der Ursprung dieses Willens liegt im heiligen Willen, des Quells des Lebens, des Lebens allen Lebens, gesegnet sei Er. Und je mehr sich das Leben dem Ursprung dieses zugrundeliegenden Willens nähert, der die Quelle des Lebens ist, desto mehr wächst es, wird länger und gesegnet. Das Wesen dieser Kraft des Willens ist für das begrenzte Leben verschlossen / verborgen, weil sich in ihm, gemäß seiner mangelnden Befähigung, die Qualität des Unendlichen nicht offenbaren kann. Aber gerade dies ist die Weise des höchsten Guten, dass das Licht einer verborgenen Kraft von dieser obersten Grundlage des Lebens aus die Hand öffnet, die Kraft des Le-
205
Acht Konvolute, V, § 221.
206
Acht Konvolute, III, § 25.46; zur Verbindung beider im Menschen, s.o. Jüdisches Denken, Bd.
207
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 130–131.
4, Zionismus, VII, 4.5.1.5; ähnlich ʼIsch Schalom, Ha-Rav Kuk, S. 77–97. 208
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 263–288. 424–430.
209
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 471–478.
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bens, um das Licht des Willens zum Leben leuchten zu lassen, mit großer Fülle nach dem ewigen Beschluss zugunsten allen Lebens in einem Maß, das für sein Leben genügt. Und durch die heilige Qualität, welche das Volk Israel dank des TefillinGebotes besitzt […] wird dieser Wille köstlich und heilig und die Öffnung der oberen Hand geschieht mit großer Geberfreude, um den Willen des Lebens und obendrein Segen für alles Geschöpf erscheinen zu lassen, für alle Geschöpfe der Welt, den unteren wie den oberen.«210 Und Schopenhauer: »Der Wille, welcher rein an sich betrachtet, erkenntnislos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang ist […], erhält durch die hinzugetretene zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntnis von seinem Wollen und von dem was es sei, das er will, daß es nämlich nichts anderes sei, als diese Welt, das Leben, gerade so wie es dasteht. Wir nannten deshalb die erscheinende Welt seinen Spiegel, seine Objektivität: und da was der Wille will immer das Leben ist, […]; so ist es einerlei und nur ein Pleonasmus, wenn wir statt schlechthin zu sagen, ›der Wille‹, sagen ›der Wille zum Leben‹. Da der Wille das Ding an sich, der innere Gehalt, das Wesentliche der Welt ist; das Leben, die sichtbare Welt, die Erscheinung, aber nur der Spiegel des Willens; so wird diese den Willen so unzertrennlich begleiten, wie den Körper sein Schatten: und wenn Wille da ist, wird auch Leben, Welt dasein. Dem Willen zum Leben ist also das Leben gewiß […]«211 Der Wille des Lebens, oder zum Leben, erscheint bei beiden Denkern von höchstem und zentralem Wert. Er speist sich nach beiden aus dem transzendenten Willen. Und diese Fokussierung auf den Sinn des Lebens als Leben mag ein Gedanke Schopenhauers gewesen sein, der Kuk direkt angesprochen hat, weil dieser dem diesseitigen Leben einen Sinn aus der Transzendenz zuspricht. Aber an dieser Stelle scheiden sich die Wege beider schon wieder. Während für Schopenhauer das Leben nur der Welt des Sichtbaren und der »Vorstellung«, zugehört, ist für Kuk das Leben bereits eine transzendente Kategorie. So wie für ihn Intellekt und Wille schon transzendente Größen sind, also auch die »Vorstellung« eine transzendente Seite hat, so auch das Leben. Kuk hat, so kann man sagen, bei Schopenhauer eine neue Akzentsetzung und Bewertung des menschlichen Lebens gesehen, hat diese aber in seine neoplatonische Theologie übertragen, wonach alles Sichtbare und Intellektuelle seinen Ursprung in der Transzendenz hat. 210
A.J. Kuk, Ḥavosch Peʼer, Jerusalem 1925, S. 53.
211
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, § 54, S. 356–357.
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5.
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Die Einheit von Gott und Welt – Sichtweisen
Wie schon mehrfach angeklungen war, hat sich das Interesse Kuks von der Metaphysik und Gotteslehre hin zum Menschen, seiner Seele und seinen Erkenntnisweisen verlagert. Darum spricht er in systematischen Zusammenhängen meist auch nicht direkt von Gott oder von der jenseitigen Welt, sondern erörtert stattdessen die Weise, wie Gott erkannt werden kann und was es da zu erkennen gibt. Das Gottes- und Weltbild ist nicht einfach gegeben, sondern es muss erst aus dem Widerstreit der Meinungen errungen werden. Das Bild Gottes, das sich die Menschen machen, ist nach Auffassung Kuks von den menschlichen Erkenntnisweisen abhängig. Es gibt Sichtweisen und Erkenntniswege, die nimmermehr zu einer bestimmten Auffassung führen können, während andere, wie zum Beispiel der Glaube, der Königsweg sind, der allein zur richtigen Auffassung von Gott führen kann. Aber wie oben schon deutlich wurde, ist auch der Glaube nicht ein einzelner Faden, sondern mit anderen Erkenntnisweisen des Menschen zu einem Zwirn zusammengedreht. Typisch für Kuks Erörterungen der Theologie ist deshalb die folgende Reflexion, welche zwei Sichtweisen von Gott und Welt miteinander konfrontiert: »Es existieren zwei Weltanschauungen, die Einheitsschau und die andere, die Dinge getrennt zu sehen. Die Einheitsschau hält die Sichtweise, dass alles Existierende aus lauter voneinander getrennten Wesenheiten bestehe, nur für eine Sinnestäuschung und ein Zeichen mangelnder Erleuchtung, wohingegen die Wahrheit ist, dass die gesamte Wirklichkeit eine einzige große Einheit bildet. Die zahlreichen unterschiedlichen existierenden Dinge sind demnach nur besondere Erscheinungen, verschiedene Glieder, unterschiedliche Farben und Nuancen, der einen und einzigen Einheit. Die Einheitsschau blickt stets auf das Gesamte und daraus ergibt sich von selbst eine positive Bilanz des Guten, nämlich, dass alles zusammengenommen gewiss das Beste vom Besten ist. Und dies wird noch viel besser, wenn seine schlechten Seiten offenbar werden, Glieder oder Erscheinungen, die dem Guten sonst fehlen würden. Und in dem Maße wie sich die Einheits-Erkenntnis vertieft und stärkt, wird auch ihre Wahrheit durch ihr Eindringen in die Tiefen offenbar. Und wenn sie im Leben herrscht, richten sich alle Gefühle nach ihr aus, und man fühlt alles mit dem Gefühl des Guten, und das Gute nimmt überhand, so auch die Freude, und das Leben wird schöner und schöner. Und je tiefere Wurzeln die Einheitsschau schlägt, desto mehr bringt sie auch das tatsächlich Gute in die Welt, das Leben und den Frieden. Gegenüber dieser überlegenen Ansicht steht die Auffassung des Getrenntseins der Dinge, welche die aufgespaltene Wirklichkeit als wahres Bild
Avraham Jizchak Kuk
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versteht und die gegenseitige Fremdheit der Dinge als die richtige Erkenntnis. Die Sinne und all die oberflächlichen Ansichten helfen ihr dabei und das Leben richtet sich danach und wird immer materieller und je mehr ihre Folgerungen sich verstärken, wächst die Finsternis und die Bosheit. Die Bitterkeit des äußeren wie inneren Kampfes zwischen diesen beiden Anschauungen nimmt kein Ende. Alle Wege des Weltgeschehens führen an ein Ziel, nämlich die Herrschaft der Ansicht von der Einheit in allen Welten zu verwirklichen und ihr die Anschauung vom Getrenntsein zu unterwerfen. Der Glaube an die göttliche Einheit ist die Seele, die in sich den ganzen Schatz des Lebens, allen inneren Besitz in sich trägt, in welchem das Glück der Welten verwahrt ist.«212 Abraham Jizchak Kuk vertritt hier nicht eigentlich einen Akosmismus, der die Existenz der Welt nur als Sinnestäuschung darstellt, wie dies konsequent etwa der Gründer des ḤaBaD Hasidismus Schneʼur Salman und sein Schüler,213 Ahron aus Staroselje vertraten, es ist eher die Aspektlehre des Jizchak Lurja, der in allem nur Aspekte der einen Gottheit sehen wollte – hierauf deutet zumindest die Einführung des Begriffes von der »göttlichen Einheit« am Ende des Textes hin, nachdem Kuk zuvor eigentlich nur über die Welt, also das große Emanat aus der Gottheit gesprochen hat. Demnach würde die Einheitsschau zwar nur Gottes Aspekte in Allem sehen, also eine aspektual ausgebreitete Gottheit, die aber diese Aspekte in ihrer Existenz nicht wirklich bestreitet, nur eben nicht als von der Gottheit getrennte. Die Einheit des Seienden ist eine Frage der Episteme, also der Sicht- und Erkenntnisweise des Menschen. Diese Auffassung bestätigt Kuk nochmals an einer anderen Stelle, wo er unter Aufnahme lurianischer Topoi von einer höheren Form der Erkenntnis spricht, nach welcher man nicht nur an einen Gott glaubt, der alles erschaffen hat, sondern an eine Gottheit, die »alles in einer hohen und wunderbaren Einheit umfasst, die höher als alles menschliche Denken ist.«214 Hier am Ende des Textes sagt Kuk auch, aus welcher Erkenntnisquelle die Einheitsschau kommt, nämlich aus dem Glauben. Und auch vom Glauben ist es nicht dessen niedrige Form, sondern der entwickelte Glaube, der das Mysterium wahrnimmt. Ganz außen vor bleibt hier die Philosophie, welche von dieser Einheitsschau von ihrem Wesen her getrennt ist. »Die Befähigung der Erkenntnis, wie alle kleinen und großen Meinungen, Gefühle und Neigungen, miteinander verbunden sind, und wie sie aufeinander wirken und wie die getrennten Welten ein zusammenwirkender Organismus sind, das kann sie [die Philosophie] sich 212
Acht Konvolute, VII, § 60; OK, II, S. 456.
213
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 891.
214
Acht Konvolute, II, § 92.
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nicht vorstellen.«215 Die Philosophie wird dies nicht erkennen und dem Glauben wird dies auch erst deutlicher, wenn er sich schon Stufe um Stufe höherentwickelt hat.216 Auch wenn Kuk zuweilen zu Formulierungen greift, nach welchen die Einheit des Existierenden sich selbst erst nach und nach entwickeln würde, so wird doch bei genauerem Hinsehen deutlich, dass es der Erkenntnisfortschritt des Menschen ist, der die Einheit des Seins und seine Qualität eines »Organismus« deutlicher hervortreten lässt.217 Erst wenn sich im Menschen wie in der intelligiblen Welt Intellekt und Wille vereinen, dann »bringt uns diese Vereinung zur vollkommenen Einheit von allem Sein, so dass die Materielle und die geistige Welt nichts weiter sind als Werte, welche sich nur durch ihre Verkleidung unterscheiden«, eine Formulierung, die wieder nahe bei Lurjas Aspektlehre steht und auch ein Echo von Spinoza vernehmen lässt.218
6.
Der unendliche Aufstieg und die vollkommene Vollendung der Gottheit und des Alls
Schon oben hatte ich darauf hingewiesen, dass Kuks Metaphysik eine Funktion der menschlichen, der Kukʼschen, Psyche zu sein scheint. Dort hatte sich gezeigt, dass es der Wunsch des Menschen nach Glück ist, der über die Theologie bestimmte, ob sie Monotheismus, neoplatonische Hierarchie oder akosmistische Einheitslehre sei. Und je nach Seelenbedürfnissen stand, zumindest hinsichtlich der beiden letzteren Möglichkeiten, die eine oder die andere im Vordergrund. Mit anderen Worten, Kuk konnte wie in einer Ellipse zwei theologische Konzeptionen zusammenhalten, die jeweils einem bestimmten Seelenbedürfnis nachkamen. Entsprechend ist Kuks Vorstellung von dem, was er die kosmische und göttliche Vollkommenheit nennt. Auch hier gibt es wiederum Zustimmung und Kritik zu einem Philosophen seiner Zeit, nämlich zu Henri Bergson. Die Zustimmung betrifft Bergsons Lehre von dem ewigen élan vital, also dem nimmer endenden Voranschreiten der Welt, das alles in Bewegung hält und niemals eine kosmologische oder ontologische Statik kennt, die etwa von einer exakten Wissenschaft ein für allemale vermessen werden kann. Alles ist in Bewegung, Bewegung ist das Sein, nicht das platonische Unveränderliche. Es ist dieser Gedanke, der Kuk gefällt, wie oben schon bei seiner Präferenz des Glücks als einer Aufstiegsbewegung zu Gott, statt der Wonne einer mehr statischen wenn auch verborgenen unveränderlichen Gottespräsenz. Aber auch bei seiner Darstellung
215
Acht Konvolute, V, § 175.
216
Acht Konvolute, I, § 708.442; III, § 214.
217
Acht Konvolute, II, § 25.
218
Acht Konvolute, V, § 221. Zu Spinozas Lehre s. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 202–213.
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Avraham Jizchak Kuk
der göttlichen und kosmischen Vollkommenheit, die ja auch ein Ziel des Menschen ist, will Kuk sich nicht auf eine einzige Konzeption, auf die Bergsonʼsche beschränken, sondern will mit ihr die platonische statische Vollkommenheit zusammenbinden: »Hinsichtlich der absoluten Vollkommenheit Gottes erkennen wir zwei Arten von Vollkommenheit. Die erste Art Vollkommenheit ist die, dass bezüglich ihrer Größe und Vollendung keinerlei Erweiterung nach oben möglich ist. Wenn es hier aber keine Möglichkeit einer Erweiterung gibt, so ist dies selbst ja ein Mangel, denn eine Vollkommenheit die sich ohne Unterlass vermehrt hat einen Vorteil und macht Freude und ist eine Weise des Aufstiegs nach dem wir selbst uns so sehr sehnen, als Voranschreiten von Erfolg zu Erfolg. Darum kann die göttliche Vollkommenheit dieses Vorteils der Kraftzunahme nicht ermangeln. Nur deswegen besitzt die Gottheit die Fähigkeit des Schaffens, des unbegrenzten weltlichen Werdens, das sich in allen Bereichen aufwärts bewegt. So finden wir, dass die wesenhafte göttliche Seele des Seins, welche es belebt, eben der stete Aufstieg ist, worin sein göttlicher Grund besteht, der es aufruft ins Dasein zu treten und sich zu vervollkommnen. Und je mehr die Wissenschaft voranschreitet und sich auf das Fundament der Evolution stellt, nähert sie sich dem helleren göttlichen Licht, und gelangt zu einer höheren Weltanschauung. Diese beurteilt das Sein nicht hinsichtlich ihrer Details, das heißt hinsichtlich der Beziehung eines seiner Teile zum anderen, denn darin findet man nicht dessen wahre innere Bedeutsamkeit, sondern in der globalen Beziehung des Gesamten samt seiner Teile zur göttlichen Vollkommenheit, welche das Wichtigere und Geziemendere ist, darauf das feste Fundament des gesamten Seins zu gründen. Und diese höhere Erkenntnis schafft die höhere intellektuelle Liebe, so dass der Mensch zu der Erkenntnis gelangt, dass wenn das Ideal der Schöpfung geringer als diese höchste ehrfurchtheischende Erhöhung der Vollkommenheit wäre […] dieses ganze Ideal nichts wert wäre. […]. Und wie eine Erkenntnis ohne das Wissen um dieses höchste Geheimnis des letztlichen Zieles, der göttlichen Vollkommenheit, die sich ohne Unterlass durch die gesamte endlose und unendliche Schöpfung erhöht, die bare Finsternis ist, umso dunkler und abgelegener ist eine Auffassung die meint, dass es hier nur diese Vollkommenheit des aufsteigenden Wachsens gäbe, nicht aber die absolute Vollkommenheit, bei der es keinerlei Erweiterung und Aufstieg geben kann, weil ja doch alles schon exzellent ist, ganz und vollendet. Und dies ist die Finsternis, die im System von Bergson herrscht.«219
219
Acht Konvolute, IV, § 68; u. vgl. II, § 315.
Zionismus
383
Die Vollkommenheit Gottes, der Welt wie die des Einzelmenschen, kann nicht nur die eine oder die andere Weise der Vollkommenheit sein, also die endlose Entwicklung und Veränderung auf der einen und die abgeschlossene Vollkommenheit auf der anderen Seite – Kuk glaubt, beides müsse zusammen geschaut werden. Wie schon der mittelalterliche Kabbalist Asriel von Gerona meinte, die Vollkommenheit Gottes gerade darin sehen zu müssen, dass er befähigt war unendlich und zugleich begrenzt zu sein, weil ihm anders ein Mangel anhafte,220 so meint auch Kuk, dass die Vollkommenheit der Gottheit wie der Schöpfung in der paradoxalen Vereinigung von unveränderlicher und sich stets ändernder Vollkommenheit besteht. Die Konzeption Bergsons von der ewigen Bewegung alles Seienden hat Kuk gefallen, dessen Beschränkung auf diese Sicht des Seienden hat er hingegen missbilligt. Wo Gott nicht über den Widersprüchen der philosophischen und wissenschaftlichen Logik steht, kann er nach Auffassung Kuks nicht wirklich Gottheit sein.
7.
Israel als Ideal, als psychische Eminenz in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
7.1
Die Erwählung
»Israel«, ist in der Bibel zunächst der Name des nördlichen dann des gesamten davidischen Königsreiches sowie dessen Eponymen, des Erzvaters Jakob, der als Auszeichnung den Namen Israel, der Gotteskämpfer erhielt. In der gesamtisraelitisch-biblischen Historiographie221 war »Israel« sodann der Name des Volkes mit dem Gott seinen Bund schloss und das er deshalb als sein Eigentum betrachtete (Ex 19), und sich als sein Volk aus allen Völkern erwählte (Dtn 7, 6–11). Die spätere rabbinische Theologie hat dies in ihrer Liturgie, wie im Kiddusch (Heiligungssegen) für die Feiertage in die liturgische Formel gebracht: »Gesegnet seist du Herr, unser Gott, König der Welt, der du uns erwählt hast aus allen Völkern und uns erhoben hast über alle Sprachen und uns geheiligt hast mit deinen Geboten. […]«222 Dieses historisch-theologische Verständnis der Erwählung des Gottesvolkes Israel wurde im Rahmen des philosophischen wie kabbalistischen Denkens im Mittelalter in ein ontologisches übertragen. In der Kabbala erhielt die irdische Gemeinde Israels, die Kneset Jisrael, innerhalb der göttlichen Selbstoffenbarung der zehn Sefirot ihr transzendentes Pendant oder Urbild (in Gestalt der zehnten Sefira).223 In der Philosophie wurde dies in Gestalt einer emanatori220
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2. S. 254–257.
221
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 37–44.
222
Z.B. Siddur Safa Berura, Kiddusch an den Abenden der drei Wallfahrtsfeste, S. 217.
223
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 427. 450.
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schen Psychologie konzipiert. So hat der neoplatonisch geprägte Jehuda ha-Levi neben der natürlichen aus der Weltseele emanierten Menschenseele für die Juden eine zusätzliche res divina (ʽInjan ha-ʼelohi ) ein »göttliches Element«, über der natürlichen Seele angesetzt, durch welche sich alle Israeliten von den übrigen Völkern unterscheiden.224 Der neuzeitliche Theologe Jehuda Liwaj Ben Bezalel, der Maharal aus Prag,225 hat diese Konzeption übernommen, während der Kabbalist Jizchak Lurja, die Völkerseelen insgesamt der Sitra ʼAchra zuschreibt und die Israelseelen der heiligen Emanation, ähnlich Schneʼur Salman aus Liadi, der Begründer des ḤaBaD Hasidismus.226 Avraham Jizchak Kuk hat die psychologisch-ontologische Konzeption der neoplatonisch gestimmten Denker übernommen, manche Anklänge an die kabbalistische Konzeption bewahrt227 und ihr schließlich einige Motive aus dem Ḥasidismus und der neueren organistischen Philosophie hinzugefügt. Noch ganz im Sinne Jehuda Ha-Levis ist Kuks Auffassung, dass die Prophetie, deren Wiedererwachen Kuk mit der zionistischen Wiederauferstehung der Nation Israel erwartet, an Israel gebunden ist, denn »Ein verborgenes heiliges Mysterium wohnt in uns, eine besondere lebende Seele weilt in unserer Mitte.«228 Um keinen Zweifel an der Ha-Levischen Herkunft dieser Vorstellungen aufkommen zu lassen, verwendet Kuk mehrfach den Levischen Fachterminus für die göttliche Präsenz in Israel und in dessen Seele, den ʽInjan ha-ʼelohi (res divina, die göttliche Sache).229 In diese Tradition Ha-Levis gehört auch die folgende deterministisch-ontologische Formulierung: »Der Unterschied zwischen der israelitischen Seele, deren Wesen, deren innerem Begehren und Streben, deren Charakter und Stellung, und zwischen der Seele aller übrigen Völker, nach all deren Stufen, ist größer und tiefer als der Unterschied zwischen der Menschenseele und der Tierseele, denn zwischen den beiden Letzteren besteht nur ein quantitativer Unterschied, wohingegen zwischen den Ersteren ein wesenhafter qualitativer Unterschied besteht.«230
224
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 597–609.
225
S. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 262–265.
226
S. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 658–661. 892–895.
227
Acht Konvolute, III, § 156.
228
Acht Konvolute, IV, § 21.
229
Z. B. Acht Konvolute I, § 774; I, § 670.
230
Acht Konvolute, III, § 347.
Zionismus
385
Dieser qualitative Unterschied bezieht sich im Rahmen der Ha-Levischen Tradition natürlich zunächst auf die Befähigung zur Prophetie.231 Kuk fügt aber noch weitere Differenzmerkmale hinzu. Während bei allen Völkern der innerste Punkt des seelischen Strebens auf das Wirtschaftliche und die materielle Lebenssicherung ausgerichtet sei, auf die Befriedigung der äußeren Sinne, sei Israel auf die Erkenntnis und das Erfühlen Gottes aus, von wo es sein Wohlsein empfange.232 In einem fast hymnischen Notat zu der grundlegenden Verschiedenheit von Israel und den Völkern sieht Kuk diese Differenz als eine kreative Seele auf der Seite Israels und eine nur nachbildende bei den Völkern, eine Auffassung die man sonst oft in umgekehrter Richtung vernehmen musste: »Bis zum Ende wird kein Mensch und keine Zunge dieses wunderbare Geheimnis erfassen, nämlich den wesenhaften Unterschied zwischen Israel und allen übrigen Völkern und zwischen der Seele des Menschen und seinem Leib. Dieser Unterschied durchdringt alles von der Peripherie bis in alle kleinsten Details herein, zu den einzelnen Menschen, den großen wie den kleinen, auf ihr allgemeines Lebensschicksal und all ihre Bewegungen, bis zu den kleinsten Kleinigkeiten. Es gibt nichts Kleines im Großen. Die Seele Israels ist eine schaffende (kreative) Seele, nicht nur eine nachbildende. Es ist eine göttliche Seele, in der das Licht Gottes lebt. Gott seid ihr und Söhne des Höchsten allesamt, Söhne des Herrn eures Gottes. Die Seele aller übrigen Völker ist nur nachbildend /vorstellend, ordnend, sammelnd und analysierend. Nicht so ist der Teil Jakobs, denn der ist ganz schöpferisch, denn Israel ist der Stamm seines Erbes, Herr der Heerscharen ist sein Name […]. Israel hat nicht nur Symbole, die nur Gedanken und Gefühle erzeugen, sondern Gebote und Tora, lebendige und beständige Dinge, die vertrauenswürdig und köstlich sind bis in alle Ewigkeit […]«233 Ein aus der neueren Philosophie entliehener Gedanke wie ihn etwa Moses Hess schon rezipiert hatte,234 ist die Vorstellung von der Menschenwelt als einem organischen Ganzen. Auch hier trägt Kuk seine Elitenontologie ein, derart dass natürlich Israel die Seele des gesamten Völkerleibes ist: »›Geliebt ist der Mensch, der im Ebenbild erschaffen wurde‹.235 Die Völker sind allesamt verschieden, von deren obersten Stufe bis zu ihrer niedrigsten.
231
Vgl. dazu auch Acht Konvolute, III, § 346.
232
Acht Konvolute, I, § 774.
233
Acht Konvolute, IV, § 116.
234
Vgl o. Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus I, 5.
235
Nach Pirke Avot 3, 14.
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386
Es ist eine organische Aufteilung wie die Glieder des Körpers. Und in deren Mitte leuchtet die Seele der Welt, das ist die Gemeinde Israels, die Seele aller Völker, ihre Herrlichkeit, Pracht und Segen.«236 Kuk lehnt diesen Gedanken ausdrücklich an Jehuda-Ha-Levis Bild von Israel als dem Herzen der Völker237 an, überbietet dies aber ausdrücklich mit dem Hinweis, dass das Herz wie alle anderen Organe des Körpers letztlich ein äußerliches gleichartiges Organ ist. Nicht so Israel, das die Seele der Völker ist und damit von diesen so wie die Seele vom Körper verschieden sei, die Seele ist eine Emanation, die den Körper belebt und emporhebt. Durch die der Israel-Seele eingepflanzte oberste Heiligkeit wird die Völkerseele Israel schließlich auch zum »Kanal«, der, nach dem Modell des hasidischen Zaddik,238 das Licht des Lebens aus dem göttlichen »Nichts« in das weltliche »Sein« herableitet.239 Das Wesen Israels ist wegen dieser umfassenden Bedeutung und Verbindung nach oben nicht mit den üblichen umgrenzten Kriterien zu definieren, denn es umfasst alles.240 Unter Aufnahme der kabbalistischen Nomenklatur, nach welcher die Kneset Jisrael (Gemeinde Israels) die zehnte Sefira, und als solche die Schöpferin der Welt wie deren Urbild (Idee) ist, zeichnet Kuk einmal das irdische Israel, die israelitische Nation, als die Essenz allen Seins: »Die Kneset Jisrael (Gemeinde Israels) ist die Essenz (Zusammenfassung, Tamzit) des gesamten Seins (Hawaja), und in dieser Welt ergießt sich diese Essenz buchstäblich in die israelitische Nation in ihrer Materialität wie Geistigkeit, in ihrer Geschichte und in ihrem Glauben. Die Geschichte Israels ist die ideale Essenz der allgemeinen Geschichte und es gibt keine Bewegung in der Welt, bei allen Völkern, deren Bildnis nicht in Israel zu finden wäre. Ihr Glaube ist die allerfeinste Essenz aller Glaubensformen241 und die Quelle, die das ideale Gute in alle Konfessionen ergießt und ohnehin die Kraft, welche allen Glaubensbegriffen Klarheit gibt, bis sie sie schließlich zur reinen Spra-
236
Acht Konvolute, VII, § 169.
237
Jehuda Ha-Levi, Sefer ha-Kusari, II, 36.
238
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 870–872. 904–906.
239
Acht Konvolute, II, § 319.
240
Acht Konvolute, III, § 205.
241
Vgl. noch Acht Konvolute, VIII, § 58.
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che führt, bis sie den Namen des Herrn anrufen. Und dein Erlöser wird der Heilige Israels, der Gott der ganzen Erde, genannt werden.«242 Ein Indiz für die Auffassung, dass Israel alle Völker in sich enthält und sie alle aus der Quelle Israels saugen, sieht Kuk auch darin, dass die Israeliten (Juden) »sich allen Kulturen dieser Welt anpassen, sie besiegen und alles Gute aus ihnen schöpfen können, um es ihren eigenen Sichtweisen zu assimilieren.«243
7.2
Die Nation und deren Auferstehung
Nicht von ungefähr verwendet Kuk anstatt des Traditionsbegriffes Israel häufig den Begriff der Nation, der israelitischen Nation (ʼUmma). Im Gegensatz zur Kneset Jisrael, die gelegentlich das Ideal, das geistige Israel bezeichnet, dient der Begriff der ʼUmma vor allem zur Beschreibung der irdischen Realisierung des geistigen oder transzendenten Ideals. »Das Licht der Schechina ist die Kneset Jisrael, das israelitische Ideal, das in der ganzen Nation ruht und sie zu einer einzigen Einheit macht in all ihren Generationen.«244 Mit dem Begriff »Nation« ist bei Kuk auch meist der andere von der »Wiederauferstehung« (Teḥija) verbunden. Die Nation, so erscheint es in zahlreichen Notaten von Kuk, ist die konkrete irdische Gemeinschaft Israels, die nicht nach ihrem Glauben und Frömmigkeitsstatus beurteilt wird, in der die Zugehörigkeit nicht nach dem Maß des Glaubens – wie etwa bei Maimonides245 – oder nach der Treue zur Halacha bemessen wird. Es wird in den Biographien Kuks stets darauf hingewiesen, dass es eben seine Hinwendung und Einbeziehung auch der säkularen Zionisten und modernen Gottesleugner in das gottgefällige Aufbauwerk im Lande Israel war, die den Protest der Orthodoxen des sogenannten »Alten Jischuv« auslöste aber andrerseits die Zustimmung der nichtreligiösen zionistischen Öffentlichkeit gewann. Für Kuk war diese Annäherung an die Säkularen und Gottesleugner seiner Zeit allerdings nicht nur ein pragmatisches Verhalten. Er, der von der Kabbala und historiosophischem Denken beeinflusste Theologe, musste darin eine ontologische Wirklichkeit sehen, die sein praktisches Handeln rechtfertigte. Nach dem Vorbild des verbreiteten kabbalistisch geprägten Buches Schne Luchot ha-Brit des Jeschajahu Horwitz246 führt Kuk die Zusammensetzung der konkreten jüdi242
Acht Konvolute, II, § 157; ʼOrot, S. 138, § 1; u. vgl. Acht Konvolute III, § 156; VII, § 202.
243
Acht Konvolute, VI, § 141.
244
Acht Konvolute, III, § 156, dasselbe: ʼOrot, S. 140, § 8.
245
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 431–437.
246
Jeschajahu Horowitz (1565–1630), sein der Kabbala verpflichtetes homiletisches Moral- und Ritualwerk Schne Luchot ha-Brit (Shelo/ah) war ein weit verbreiteter Klassiker; vgl. z. B. K.
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schen Nation auf Eigenschaften des ersten nationalen Führers, Moses zurück. Seit seiner Zeit und Dank seiner Einrichtung gibt es in Israel stets Frevler und Gerechte, die beide gleichermaßen zum Korpus der Nation hinzugehören:247 »Moses besitzt zwei Aspekte, den einen ›aus seinem Wesen‹ und den anderen ›aus seiner Gutmütigkeit‹: Die messianische Seite des Moses ist die seiner ›Gutmütigkeit‹ deretwegen er das Volksgemisch (ʽErev rav) in die Nation aufgenommen hat, und dank dieser gutmütigen Seite stammen von ihm alle Seelen ab, auch die der Geringen und die aller Generationen mit all ihren Niedergängen. ›Von Seiten seines Wesens‹ ist er nur die Wurzel für die Tora-Gelehrten, und alle Tora-Gelehrten sind ein Funke von Moses. Es gibt aber solche Gelehrte, die den doppelten Funken in sich aufgesogen haben, den ›vom Wesen‹ und den ›von der Gutmütigkeit‹. Sie sind in Liebe eng mit den Tora-Gelehrten der Generation verbunden, aber das Streben ihres guten Herzens und ihrer Ehre geht dahin, mit der Allgemeinheit der Nation verbunden zu sein, mit allen Stufen und allen Einzelnen und sie verwerfen aus ihrer Sorge heraus auch nicht die extremsten Frevler, denn sie erwarten deren Wiederherstellung.«248 Mit Hilfe dieser historiosophisch-kabbalistischen Formel erklärt Kuk die Gegenwart all jener Elemente in der hebräischen Nation als von Moses gewollt, die nach dem Bild einer strenggläubigen Orthodoxie in ihr nichts zu suchen haben, weshalb man sich von ihr fernhalten müsse. Kuk sieht in diesen nichtreligiösen Elementen hingegen eine Aufgabe, die seit dem ersten nationalen Aufbruch aus Ägypten besteht, nämlich sie nicht zu verwerfen, sondern für die gute Seite zu gewinnen. Nur wenige Paragraphen später ruft Kuk zur Gewinnung aller Teile der Nation auf, die alle Geister und Gewerbe für ihr Bestehen braucht.249 Selbst der schlimmste Frevel innerhalb Israels darf nicht zu der von vielen geforderten Trennung der Nation in Teile führen. Kuk hält solche Gedanken für Götzendienst. Er greift darum zu solch provokanten und extremen Formulierungen wie der folgenden:
E. Grözinger, Der Baʽal Schem von Michelstadt. Ein deutsch-jüdisches Heiligenleben zwischen Legende und Wirklichkeit, Frankfurt a. M., New York 2010, S. 207–215. 247
Zu einem analogen Deutungsvorgang der Präsenz von Moses in allen Generationen s. K.E. Grözinger, Die Gegenwart des Sinai. Erzählungen und kabbalistische Lehrstücke zur Vergegenwärtigung der Sinaioffenbarung, in: Frankfurter judaistische Beiträge. – 16 (1988), S. 143– 183; digital: (http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2008/1884/).
248
Acht Konvolute, II, § 115; vgl. III, § 27.
249
Acht Konvolute, II, § 119.
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»Das Fundament der Gerechtigkeit der Gerechten (Zaddikim) in allen Generationen stützt sich auf den Frevel der Frevler, die in Wahrheit keine Frevler sind, solange sie von ganzem Herzen an der Gesamtheit der Nation hängen, denn ›dein Volk sind allesamt Gerechte‹ (Jes 60, 21), und ihr draußen stehender Frevel dient dazu, die Kraft der Gerechten zu stärken wie die Hefe den Wein.«250 Die Verbindung zur Nation ist demnach für Kuk ein religiöser Wert, der letztlich den religiösen und moralischen Frevel überwiegt. Das Festhalten an der Nation Israel setzt den allgemeinen Frevel auf eine niedrigere Stufe und nährt die Hoffnung, der Umkehr auch von diesem. Mehr noch: »Die Seele der Frevler im Israel, das auf den Fersen des Messias geht, jene, die sich mit Liebe den Angelegenheiten Gesamtisraels verbunden fühlen, dem Land Israel und der Wiederauferstehung der Nation, ist heiler als die Seele der getreuen Gläubigen in Israel, welche diesen Vorzug des wesenhaften Gefühls zugunsten der Allgemeinheit, des Aufbaus der Nation und des Landes nicht besitzen.«251 Die Kehrseite dieser auf Hoffnung gebauten Toleranz dem »Frevel« gegenüber ist die Gewissheit Kuks, dass es andrerseits die Tora-Gelehrten und ihre Schüler sind, welche durch ihre Torafrömmigkeit die Nation stärken.252 Kuk sagt das an andrer Stelle einmal in einer Weise, die ein helles Licht auf die gegenwärtige Diskussion in Israel wirft, wo man unter der »Last« zu vieler Torastudenten stöhnt: »Je mehr Studenten es gibt, welche der Klarheit der Lehre der Glaubensinhalte, der Liebe und Freude lauschen, desto stärker und wacher wird die allgemeine Seele der Nation.«253 Allerdings denkt Kuk hier, wie nach dem oben Dargestellten kaum verwunderlich ist, nicht an das traditionelle Talmudstudium, sondern an eine Klärung der Glaubensfragen in einer gewissen Ordnung und einem angemessenen Tempo, welches durch die »Wissenschaftlichkeit, unter den allgemeinen Wissenschaften und den diversen Wissenschaften, die sich um die Weisen des Glaubens selbst gemäß einer historischen Beurteilung« kümmern, erreicht werde. Zu dieser Äußerung Kuks gesellt sich dessen Auffassung, dass in den langen Jahren des Exils das Bewusstsein Israels hinsichtlich seines eigenen Wesens auf dem Niveau des Instinkts gehandelt habe: »Der natürliche Instinkt ist sich seines Wandels sicherer und in seinem Handeln deutlicher auf die Erhaltung des Lebens ausgerichtet. Aber die höhere Eigenart des Menschen erlaubt es ihm nicht für immer, auf seinem natürli250
Acht Konvolute, II, § 283; u. vgl. II, § 284.
251
Acht Konvolute, II, § 21.
252
Acht Konvolute, III,§ 101.
253
Acht Konvolute, I, § 236.
Avraham Jizchak Kuk
390
chen Niveau zu verharren, und wider Willen erhebt sich der Mensch über seinen Kreis und schreitet zur Stufe des Erkennens voran, auf welcher er viele seiner natürlichen Fähigkeiten verliert […]. Wie bei allem Leben und jedem Menschen, immer solange sie in ihrem natürlichen Stand verharren, wirkt die Natur auf sie, um sie die Weisheit der Lebenserhaltung und Dauer des Seins zu lehren. Aber je mehr sie zu Kulturmenschen mit Erkenntnisfähigkeit werden, müssen sie all diese Dinge aus einer klaren inneren Erkenntnis vollbringen und nicht aus einem inneren blinden Drang. So ist der Stand der Nation im Exil hinsichtlich seines Judentums, seiner Verehrung des Glaubens und der Toraobservanz. In diesem Zustand des Schlummers herrschte der Instinkt der Erhaltung der Nation in jedem Einzelnen, um die Religion zu erhalten und den Glauben zu ehren, aus einer natürlichen inneren Erkenntnis, nämlich dass wenn ein jeder in religiösen Dingen seiner eigenen Richtung nachgeht, die Gefühle für die Nation verschwinden und diese zerbrechen und sich auflösen werde. All dies war so in einer stabilen Situation, bis das Licht der Wiederbelebung der Nation aufstrahlte, aus Willen und Erkenntnis und einer praktischen Basis, aus dem starken Verlangen sich in das Land Israel zu versammeln und von neuem das frühere Leben des Volkes zu begründen wie es einst bestand.«254 Jetzt, nachdem die Wiederbelebung der Nation begonnen habe, müsse die volle Erkenntnis wirksam werden, dürfe man nicht weiter auf den natürlichen Selbsterhaltungsinstinkt bauen und dies auch hinsichtlich des Glaubens und der Toraobservanz, was eine unverhohlene Forderung nach spiritueller Innovation auch hinsichtlich der Halacha ist. Allerdings sieht Kuk sich noch in einer Übergangssituation, in welcher der Instinkt hinsichtlich von Religion und Glaube zwar schwächer wird, aber die Erkenntnis noch nicht ihre volle Aufgabe verwirklichen könne, weshalb sich in der Gegenwart eher das Schauspiel der Zerstörung zeige. Kurz, Kuk hat erkannt, dass mit der neuen Wende in der Geschichte der jüdischen Nation sich nicht nur die Frage der Wirtschaft und des profanen Lebens neu stellt, sondern auch die Frage der Religion, des Glaubens und des Gottesdienstes. Dem offenen Augenschein, dass viele der neuen Zionisten nicht nur nichts von der Religion wissen wollen, sondern diese geradezu bekämpfen, stellt Kuk seine Auffassung entgegen, dass auch diese Menschen, welche das neue Israel auf der Unreinheit aufzubauen gedenken, im Grunde doch im Dienste der heiligen Sache stehen, ohne dass sie dies wissen.255 Nach all dem braucht nicht mehr betont zu werden, dass alle übrigen Tätigkeiten, die ethisch neutral sind, aber 254
Acht Konvolute, I, § 63.
255
Acht Konvolute, I, § 71.
Zionismus
391
dem Aufbauwerk dienen, von Kuk als richtig, wichtig und nötig erachtet werden, Literatur und Sprache, und alle sonstige geistigen und physischen Aktivitäten,256 etwa die sportliche Leibesertüchtigung wie auch die auch kabbalistische Übung mithilfe von Gottesnamen Jiḥudim (innergöttliche Einungen)257 sie alle führen das höhere Licht herbei, welches Segen in die Welt bringt.258 Das Werk der Erlösung, und als solches versteht Kuk den Wiederaufbau von Land und Nation, bedarf sowohl des Körperlichen wie des Geistigen, des Politischen wie des Spirituellen.259 Für einen orthodoxen Rabbiner ist die folgende Verherrlichung des Körperlichen daher schon ungewöhnlich: »Mächtig ist unser körperliches Verlangen, einen gesunden Leib brauchen wir. Viel haben wir uns mit dem Psychischen abgegeben und haben darüber die Heiligkeit des Körpers vergessen, wir haben die Gesundheit und die körperliche Stärke vernachlässigt. Wir haben vergessen, dass wir ein Fleisch besitzen, das nicht weniger heilig ist als unser Geist. Wir haben das tätige Leben verlassen, die Erhellung unserer Sinne, die direkte Verbindung mit der körperlichen und sinnlichen Wirklichkeit, aus einer unklaren Furcht, aus Mangel an Glauben in die Heiligkeit der Erde, das ist der Glaube an die Saatenfolge, ein Glaube an den Ewig Lebenden und den der sät. All unsere Umkehr wird nur gelingen, wenn es bei allem geistigen Glanz auch eine Umkehr zum Konkreten gibt, die ein gesundes Blut schafft, ein gesundes Fleisch, gestaltete und beständige Körper, einen lodernden Geist auf starken Muskeln. Mit einer Stärke des Fleisches wird auch die geschwächte Seele aufleuchten, eine Auferstehung der Toten am Körper.«260 Diese Rückkehr zum Körperlichen, zur Erkenntnis der Heiligkeit auch des Fleisches, ist für Kuk allerdings eine Möglichkeit, die nur das Land Israel bietet.261 Der alte talmudische Satz, dass die Luft des Landes Israel weise macht,262 ist hier auf den ganzen Menschen aus Fleisch und Geist übertragen, worüber im Folgenden noch zu handeln sein wird. Dies wird auch einen psychologischen Aspekt haben, nämlich die Wiederbelebung der National-Seele der israelitischen Nation.
256
Acht Konvolute, I, § 86; V, § 194.
257
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2,451–457. 703. 782–785. 790–791; u. Register s. voce Jichud.
258
Acht Konvolute, I, § 716.726
259
Acht Konvolute, I, § 793.
260
Acht Konvolute, III, § 273.
261
Acht Konvolute, III, § 364.
262
Babylonischer Talmud, Baba batra, 158b.
Avraham Jizchak Kuk
392
8.
Das Land Israel
8.1
Das Land Israel im Denken von Avraham Jizchak Kuk – dem Vater
In der Bibel ursprünglich das »Land Kanaan« benannt, war es nach den biblischen Erzählungen das Land der Verheißung, vom Gott Abrahams diesem und seinen Nachkommen zu »ewigem Besitz« (ʼAchusat ʽOlam), zugesagt (Gen 17,8; u Ex 6,4). ʼErez Jisraʼel war zunächst die Bezeichnung der Regionen des Landes Kanaan, in welchem die israelitischen Stämme siedelten. Erst später, spätestens nach dem Untergang des israelitischen Nordreiches, dessen Staatsgebiet als ʼErez Jisraʼel, Land Israels, im engeren Sinne, bezeichnet wurde,263 wurde der Begriff »Land Israel« (ʼErez Jisraʼel)264 auch zur Bezeichnung des gesamten Kanaan verwendet, so insbesondere in der rabbinischen Literatur. In der rabbinischen Literatur hatte die Bezeichnung Land Israel vor allem eine Bedeutung hinsichtlich des religiösen Rechts. Denn es gab und gibt eine Reihe von Geboten, deren Verpflichtung nur innerhalb des Landes Israel gilt. Aber auch dabei gibt es noch Unterschiede, insofern manche Gebote nur eingehalten werden müssen, solange ein Tempel besteht, andere solange es einen König gab. Dauernde Verpflichtung sind jedoch die Gebote, welche den Ackerboden betreffen, insofern von dessen Erträgnissen Hebe und Zehnt zu entrichten sind, das Gebot der Getreidegarbe (ʽOmer) und der Erstlingsfrüchte (Bikkurim), die Gebote welche das Feld selbst betreffen also die Nachlese der Armen, das Vergessene und die Ackerecke, die man zugunsten der Armen nicht aberntet, die ʽOrla, also Wartezeit bei Fruchtbäumen und insbesondere die Schmitta, also das Ruhejahr der Felder im siebenten Jahr. Es ist vor allem diese Rechtsverpflichtung, in welcher nach rabbinischer Auffassung die Heiligkeit des Landes besteht, dann die göttliche Verheißung und dass Gott dieses Land als das seine betrachtet.265 Avraham Jizchak Kuk hat diese nur halachische Bedeutung des Landes Israel weit hinter sich gelassen. Dov Schwartz beschreibt in seinem Band Das Land der Wirklichkeit und der Imagination266 über die Deutungen des Landes Israel im religiösen Zionismus die Entwicklung der Kukʼschen Deutungen in drei Phasen. Zunächst habe er in Fortführung der Deutungen des geistigen Führers der Mis-
263
1 Sam 13, 19; 2Kö 5, 2.4; 6, 23.
264
Ezechiel 40, 2; 47, 13–23.
265
Vgl. Joel, 1,6; 4,2; Ezechiel, 38, 16. U. vgl. Jüdisches Denken Bd. 2, S. 52, FN 95.
266
D. Schwartz, ʼErez ha-Mamaschut we-ha-Dimajon. Maʽamadah schel ʼErez Jisraʼel ba-Hagut ha-Zijonit ha-datit, Tel Aviv 1997, S. 62–81; s. auch ʼErez Jisraʼel ba-Hagut ha-jehudit baMeʼa ha-ʽEsrim, hrsg. E. Ravizki, Jerusalem 2004.
Zionismus
393
rachi-Bewegung,267 Rabbi Jizchak Jaʽakov Reines (1839–1915, eine instrumentale Sicht des Landes vertreten, das als Mittel zur Verwirklichung und Stärkung der jüdischen Nationalität diene. In einem zweiten Schritt habe Kuk sodann dem Land einen personifizierten Status zugeschrieben, das nunmehr als Partner Israels die guten wie bösen Phasen der gemeinsamen Geschichte durchlebte und die nur gemeinsam ihre Vervollkommnung erreichen könnten.268 Danach hat dieses Land auch im Sinne von Jehuda Ha-Levi die Qualität für die Prophetie und den Heiligen Geist und verbürgt dem dort Lebenden einen Anteil an der kommenden Welt.269 In einer dritten Phase schließlich habe Kuk das Land in einem metaphysisch-ontologischen Status gesehen, das seine eigene endogene Heiligkeit besitzt, wie dies in den metaphysischen Konzeptionen der Kabbala angelegt war, wo die neunte und zehnte Sefira wechselweise als metaphysisches innergöttliches Land und Volk Israel bezeichnet wurden. Diese Heiligkeit des Landes bedeutet demnach, dass es der Ort ist, durch welchen die göttliche Emanation der Heiligkeit herab auf die gesamte Erde strömt,270 und schließlich gilt dieses Land als der Ort der Gegenwart Gottes. Natürlich kennt Kuk jene rabbinischen wie auch die kabbalistischontologischen Deutungen des Landes Israel, wie zum Beispiel in dem allseits verbreiteten kabbalistische Klassiker Schaʽare ʼOra von Josef Gikatilla,271 in welchem ʼErez Jisraʼel eine Bezeichnung für die zehnte Sefira ist und zugleich Kneset Jisraʼel genannt wird.272 Kuk hat diese hier angezeigte Überhöhung und die Verbindung der Kneset Jisraʼel mit ʼErez Jisraʼel aufgenommen und vertieft. Mit einem dieser Tendenz entsprechenden Passus eröffnet der redigierende Sohn, Zvi Jehuda Kuk, Kuks bekanntestes Werk ʼOrot, den ich hier nach dem Original in den Acht Konvoluten Wiedergebe: 267
Misrachi ist ein Akronym für »Merkas ruchani«, Geistiges Zentrum. Dies ist der Name einer religiös zionistischen Fraktion innerhalb der Zionistischen Weltorganisation. Sie wurde 1902 gegründet, mit dem Ziel, die religiöse Erziehung, das jüdische Brauchtum und die Observanz im Jischuv und nachher gegründeten Staat zu fördern, unter anderem durch Schulen und auch durch die Bar-Ilan-Universität.
268
Schwartz, ʼErez ha-Mamaschut, S. 70.
269
Schwartz, ʼErez ha-Mamaschut, S. 72.
270
Schwartz, ʼErez ha-Mamaschut, S. 78; u. s. M. Ḥalamisch, Kawwim le-Haʽaracha schel ʼErez Jisraʼel be-Sifrut ha-Kabbala, in: ʼErez Jisraʼel ba-Hagut ha-jehudit bi-Jeme ha-Benajim, Jerusalem, ed. E. Ravitzki, Jerusalem 1991; D. Schwartz, ʼEmzaʽ le-ʼArazot we-Schaʽar ha-Schamajim – Tefisot filosofijot schel ʼErez Jisraʼel ba-Hagut ha-jehudit ba-Meʼa ha-16, in: ʼErez Jisraʼel ba-Hagut ha-jehudit ba-ʽEt ha-ḥadascha, ed. E. Ravitzki, Jerusalem 1998, S. 54–93; u. s. ʼErez Jisraʼel ba-Hagut ha-jehudit ba-Meʼa ha-ʽesrim, ed. A. Ravitzki, Jerusalem 2004.
271
S. Jüdisches Denken, Bd. 2. S. 395–462.
272
Vgl. J. Gikatilla, Schaʽare ʼOra, Jerusalem 1960, Schaʽar 1, S. 31–32; zu diesem Buch, siehe Jüdisches Denken, Bd. 2. S. 395–462.
Avraham Jizchak Kuk
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»Das Land Israel ist nicht etwas Äußerliches, ein äußerlicher Besitz der Nation, nur ein Mittel für die allgemeine Zusammenführung und die materielle oder auch geistige Existenzsicherung. Das Land Israel ist eine wesenhafte Größe, die durch einen Lebensbezug mit der Nation verbunden ist, mit ihrer Existenz dank innerer Eigenschaften verschlungen. Darum ist es unmöglich die Eigenschaft der Heiligkeit des Landes Israel durch irgendeine menschliche rationale Nachforschung zu ergründen und die Tiefe der Liebe zu ihm hervorzurufen, sondern alleine durch den Geist des Herrn der auf der Gesamtheit der Nation ruht, durch die natürliche geistige Prägung, der Seele Israels. […] Der Gedanke, das Land Israel als einen nur äußerlichen Wert zur Errichtung der Nation zu betrachten, auch wenn damit das Ziel verfolgt wird, das Judentums im Exil zu befestigen, dessen Eigenart zu bewahren, den Glauben und die Gottesfurcht sowie eine angemessene Gebotserfüllung zu stärken, wird keine wirkliche Frucht für die Existenz bewirken, weil dies ein nur schwankender und modriger Grund ist. Die wahrhafte Stärkung der jüdischen Idee im Exil wird nur durch deren tiefe Einsenkung in das Land Israel erfolgen. […] Die Hoffnung auf die Erlösung ist die Kraft, welche das Judentum des Exils aufrechterhält, aber das Judentum des Landes Israel ist die Erlösung selbst.« 273 Der am Ende kursiv gestellte Nachsatz findet sich in der Originalversion der Acht Konvolute nicht. Er ist erst in der Ausgabe der ʼOrot, wohl vom redigierenden Sohn Zvi Jehuda ha-Kohen Kuk angefügt. Dies ist eine der Zufügungen, die Meʼir Munitz zurecht als redaktionelle Betonung der Bedeutung des Landes Israel und der Negation des Exils qualifiziert.274 Hier wird das zionistische Modell des palästinisch/israelischen Judentums als die erfolgte Erlösung apostrophiert, wohingegen der originale Kuk darin allenfalls den Beginn oder den Weg dahin sehen wollte. Ansonsten versteht Kuk die Zusammengehörigkeit von Nation und Land als eine transrationale Beziehung, die wesenhaft, aber normalem menschlichem Verstehen nicht zugänglich ist. Die Art und Wirkungen dieser inneren Beziehungen zwischen der Nation und diesem Land sieht Kuk darin, dass das Schatzhaus der Seelen-Kerne Israels dort verborgen ist, »jeder einzelne Israelit hat dort im Lande Israel seinen Kern«, es ist ein seelisches Band, das jeden Juden mit diesem Land verbindet.275 Allerdings wird erst dort im Land Israel, wenn die Besiedlung des Landes voranschreitet, die Seele Israels wiedererwachen und von da aus den Glauben Israels in der Welt
273
Acht Konvolute, VII, § 13.
274
M. Munitz, Ḥug ha-Raʼja, S. 16.
275
Acht Konvolute, V, § 194.
Zionismus
395
auf festen Grund stellen.276 Und »die allgemeine Seele der Gemeinde Israels (Kneset Jisraʼel) ruht in den einzelnen Menschen nicht, es sei denn im Lande Israel. Und sogleich wenn ein Mensch in das Land Israel kommt, löst sich seine persönliche Seele auf vor dem großen Licht der allgemeinen Seele, die in ihn eintritt. Und dieses hohe Wesen tut seine Wirkung, ob der Mensch willentlich und bewusst dessen Wert erspürt, oder ob der Mensch dies nicht will und nicht wahrnimmt.«277 Die Macht dieser Wirkung entfaltet sich allerdings umso mehr als der Mensch sich bewusst und willentlich von der Allgemeinseele Israels umfassen lässt. Ein besonderes Element der Wiederbelebung der Israel-Seele, und dies ist ein Bestreben, dem jeder Jerusalem-Besucher heute in der einen oder anderen Altstadtgasse begegnet, ist der Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels, »Die Kraft, welche die Seele Israels belebt, ist das wunderbare Sehnen nach Erbauung des Tempels und der Wiederherstellung seiner Herrlichkeit in höchster und idealster Vollkommenheit. […] In diesem höchsten Punkt ist die gesamte Lebenskraft der Bindung der Nation an das Land Israels verborgen.«278
8.2
Die Politisierung und Materialisierung der Kukʼschen Deutungen vom Land Israel durch den Sohn Zvi Jehuda Kuk – Exkurs
Der Sohn von Avraham Jizchak Kuk der Rabbiner und spätere Leiter des Merkas ha-Rav wurde zum Ideologen und geistigen Vater des 1974 entstandenen Gusch ʼEmunim (Block der Getreuen) und der Siedlerbewegung.279 Dov Schwartz vertritt zu Recht die Auffassung, dass Zvi Jehuda Kuk theologisch den Gedanken seines Vaters eigentlich nichts Neues hinzugefügt habe, sondern dessen Theologie in den realen politischen Alltag herabtransponierte und dies insbesondere nach dem Sechstagekrieg von 1967.280
276
Acht Konvolute, III, § 224.
277
Acht Konvolute, III, § 365.
278
Acht Konvolute, I, § 648.
279
Zur Beziehung zwischen Kuks Lehren und dem Gusch ʼEmunim s. auch A. Ravitzky, Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, Chicago & London 1996, S. 79–144; G. Aran, Jewish Zionist Fundamentalism: The Bloc of the Faithful (Gush Emunim), in: M. E. Marty & R. Scott Appleby (Hg.), Fundamentalism Observed, Chicago 1991, S. 265–344; G. Aran, The Father, the Son, and the Holy Land. The Spiritual Authorities of Jewish-Zionist Fundamentalism in Israel, in: R. Scott Appleby (Hg.), Spokesmen for the Despised. Fundamentalist Leaders of the Middle East, Chicago & London 1997, S. 294–327.
280
Ich folge in diesem Kapitel zu Zwi Jehuda Kuk Dov Schwartz in seinem Buch ʼErez haMamaschut we ha-Dimajon.
Avraham Jizchak Kuk
396
In Zvi Jehudas Denken erfolgte eine zunehmende Verklärung des Heiligen Landes mit der eine Herabwürdigung der Länder des Exils für die Gestaltung eines vollen jüdischen Lebens einherging. In Kontrapunktierung des alten talmudischen Satzes, nachdem die Luft des Landes Israel weise macht, sagt Zvi Jehuda einmal: »Die blöde Luft des Exils, die voller Unrat des Einflusses der anderen und fremden Kulturen ist, bremst unser ideales Leben aus […] und diese [kulturellen Bewegungen] können niemals aus sich selbst den Wert des Bestandes und die Kraft für die Wiederbelebung Israels haben, nur in dem Maße, in dem sie aus der Luft des Landes Israel saugen, von unserer heiligen und reinen Luft, aus dem Land unseres natürlichen und erfüllten Lebens, der Lebens- und Wachstumsquelle unserer Kultur.«281 Nach Zvi Jehuda Kuk sind die Eigenschaften des Volkes Israel aufs engste mit den Eigenschaften des Landes Israel verbunden, die Seele Israels ist die Seele des Landes.282 Die emanatorische Heiligkeit, welche die Kabbalisten dem Land Israel zuschrieben, wird für Zvi Jehuda nun zunehmend konkretisiert, so dass keine Möglichkeit mehr besteht, hier eine metaphorische Redeweise zu vermuten. Die Scholle der Ackererde des Landes besitzt diese Heiligkeit, als eine ihr innewohnenden Kraft: »So wie es im Menschen eine Verbindung zwischen Leib und seiner Seele gibt, so existiert auch eine Verbindung zwischen dem Erdboden und der Heiligkeit, die in ihm ruht. Der Erdboden ist nicht verwaist, sondern ist an sein Inneres gebunden. In der Natur ist es so, dass der Körper und der Verstand eines Menschen sich im Gleichschritt entwickeln. Das ist der Fall auch beim Erdboden, lässt er die die Pflanzen wachsen, so wächst auch seine Seele. Die Festtage sind die Zeiten, in welchen der Erdboden die Pflanzen wachsen lässt und zugleich sind sie die Zeiten des Wachstums der Heiligkeit des Bodens wie allen Seins.«283 Die organische Verbindung von Land und Volk führte, so Schwartz, notwendigerweise zur Frage nach der Bedeutung der »Ganzheit Landes« und zwar mit folgenden Argumenten:
281
Z. J. Kuk, Ha-Tarbut ha-jisraʼelit, in: Le-Netivot Jisraʼel, I, Jerusalem 1979, S. 11, zit. Nach D.
282
Schwartz, ʼErez ha-Mamaschut, S. 109.
283
J. Z. Kuk, Sichot ha-RaZJah ʽal Perek Kinjan Tora, S. 90, zit. nach Schwartz, ʼErez ha-
Schwartz, ʼErez ha-Mamaschut, S. 102.
Mamaschut, S. 113.
Zionismus
397
»1. Wenn das Volk und sein Land eine existentielle und ontologische Einheit darstellen, dann ist eine Verletzung der Ganzheit zugleich eine Verletzung der Nationalseele. Eine vollkommene Besiedlung der Flächen des Landes dient der Gesundheit des Volkes und umgekehrt ist der Verzicht auf Teile des Heiligen Landes wie das Abschneiden eines Gliedes von einem lebenden Wesen. […] 2. Wenn das Land Israel ein personhaftes Wesen ist, das eine eigenständige Existenz parallel zur nationalen Existenz des Volkes Israel besitzt, dann darf man diesem Wesen keine menschlichen Entscheidungen aufzwingen. […] 3. Da das Land ein wesenhafter und heiliger Faktor ist, folgt daraus, dass das Tun derer, die an seiner Vervollständigung arbeiten, sie selbst läutert und sie dadurch an seiner Heiligkeit teilhaben. Der Kampf um die Ganzheit des Landes wird als kathartischer Prozess verstanden. […] Dieser dialektisch messianische Prozess führt zur Reinigung seiner Teilnehmer, ob sie dies wollen oder nicht. […]«284 Zvi Jehuda Kuk hat darum auch öffentlich verkündet, dass jegliche Bereitschaft auf Landverzicht von vorneherein als ungültig zu betrachten sei. Eine Rückgabe von Land an Nichtjuden erklärte er für eine Sünde und als Verrat.285
9.
Die zionistische Bewegung, der »Anfang der Erlösung«?
Es war der serbische Rabbiner Jehuda Alkalaj, der den staatlichen Zionismus als den Beginn der Erlösung, ʼAtḥalta di-Geʼulla, verkündete.286 Dieser Begriff, der bis in die heutigen Gebetbücher eingedrungen ist, kommt in den Acht Konvoluten von Rav Kuk nicht vor und gehört demnach nicht eigentlich zum Denken Kuks. Dies kann man mit gutem Gewissen sagen, wiewohl eben jener Begriff dann doch in zwei Briefen Kuks und in vier weiteren Schriften genannt wird. Aber der Kontext dieser Schriften macht deutlich, dass dieser Begriff dort nicht von Kuk selbst in die Debatte eingeführt wurde, sondern von seinen Briefpartnern oder von der Tagesdebatte diktiert war. Diese Tatsache sieht auch einer der Herausgeber von Kuks Schriften, Jeschajahu Schapira, mit sehr klarem Blick. Er setzt sich dort mit dem Rav Kuk unterstellten Begriff der ʼAtḥalta di-Geʼulla auseinander. Zunächst zeichnet Schapira die Geschichte der Auswanderung in das Heilige Land durch einzelne Juden während der langen Zeit vor dem Zio-
284
Schwartz, ʼErez ha-Mamaschut, S. 117–118.
285
Schwartz, ʼErez ha-Mamaschut, S. 119.
286
Siehe oben Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, VI, 3.1.
398
Avraham Jizchak Kuk
nismus, die ihre Auswanderung dorthin allerdings nicht als Teil der Erlösung betrachteten. Als hingegen im 19. Jahrhundert auch orthodoxe Rabbiner zu der neu entstandenen zionistischen Bewegung der Ḥoveve Zion hinzugestoßen seien, habe sich die Frage nach der Bedeutung der neuen systematischen Besiedlung von ʼErez Jisrael und ihr Verhältnis zur erwarteten Erlösung unausweichlich gestellt, weshalb einzelne Rabbiner die Frage des Zusammenhangs zwischen ihr und der Erlösung tatsächlich erörterten. Schapira referiert nun, ohne Namen zu nennen, die oben schon besprochenen Auffassungen von Zwi Hirsch Kalischer, der vor allem auf das Gebot der Besiedlung des Landes Israel abhebt,287 und dann insbesondere Jehuda Alkalaj mit seiner Theorie der doppelten Erlösung, einer natürlichen Eingangsphase, sie ist die ʼAtḥalta di-Geʼulla und der nachfolgenden übernatürlichen, wenn der davidische Messias auftritt.288 Nach diesem Referat fährt Schapira fort: »Jedoch das System des Rav Kuk, wie es in seinen Schriften überliefert ist, ist vollkommen anders als die angeführten Deutungen. Die Frage von ›natürlich‹ und ›Wunder‹ […] hat bei ihm überhaupt keinen Raum. Weil nämlich jene Dinge, die uns als natürlich erscheinen, in Wahrheit voller höchster göttlicher Vorsehung (Haschgacha) sind, und es in dieser Sache keinen Unterschied zwischen natürlich und Wunder gibt, weil in den natürlichen Dingen die göttliche Vorsehung eben nur verborgen wirkt.289 […] Auch ›die ganze Welt und ihre Fülle‹ alles Gestrüpp der Ereignisse und alle Gebilde ihres Wirkens sind nichts als Schritte, welche das Licht des Messias (ʼOro schel Maschiach) in ihnen tut und in ihnen voranschreitet. Es ist deswegen ein Irrtum zu glauben, dass die zionistische Bewegung nur eine schwache weltliche Bewegung ist, in der ein verhasstes Volk sich einen sicheren Hort vor seinen Verfolgern sucht. Ihre Quelle ist eine höchste heilige Quelle […]. Ihr Ziel ist nicht nur die Befreiung des Volkskörpers, sondern das Heilige in sich zu bereiten, und in allen Weltweiten eine Bastion des ewig lebenden Gottes zu gründen. Allerdings ist eben derzeit nur die Außenseite der Bewegung offenbar, deren materielles Kleid.«290 Weil das Heilige in der Gegenwart noch unsichtbar ist, so deutet Schapira weiter, ziehen sich die Ḥaredim, die Orthodoxen, von der Bewegung zurück, während die Profanen das verborgene Licht in ihrem eigenen Tun nicht sehen. Anders
287
Siehe oben Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, I, 7.
288
S. oben Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, VI, 3.3.
289
Zum verborgenen Wirken Gottes in der Geschichte siehe unten, Jüdisches Denken, Bd. 4,
290
J. Schapira, Be-Fitḥe Scheʽarim, in: A.J. Kuk, ʼErez Ḥefez Jerusalem 1930, S. 5–6.
Schoah, V, I, 4; V, II, 2; Schoah, IV, 5.1.5.2-3; Schoah, V, II, 2; Schoah VI, ,272.
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399
Rav Kuk. Das Geheimnis seiner Wirkung als Rabbiner und Oberrabbiner auch und gerade bei den weltlichen Zionisten war dies: »Aber der Rav Kuk schreckte vor den negativen Erscheinungen dieser Bewegung nicht zurück, weil eben auch das Negative nur äußerlich ist, während in dessen Tiefe ein höchstes und positives Licht verborgen ist. Das Negative existiert nur im Blick auf das Detail, aber im Blick auf das Ganze fügt sich alles zum Guten zusammen. […] Darum ist es ein Fehler, sich wegen der unreifen Früchte, die heute vor unseren Augen stehen, von der heiligen Arbeit des Aufbaus des Landes zurückzuziehen, denn am Ende wird die Bewegung ihre Kindheitsfehler abwerfen und nach ihrer Seele suchen, nämlich nach dem Geheimnis der Erlösung (Geʼulla) das in seinem tiefsten Sein verborgen ist und dann wird ihre innere Heiligkeit (Keduscha) allen sichtbar werden.«291 Um zunächst das praktische dieser Auffassung Kuks hervorzuheben, was Schapira gleichermaßen nachdrücklich tut: Kuk hat sich auch den völlig säkularen und religionsverachtenden, ja aus der religiösen Sicht sündigen jungen Zionisten, zugewandt, denn sie verrichten nach seiner Auffassung, ohne dass sie dies wissen, ein heiliges Werk, denn in ihrem Tun wirkt eine »Heiligkeit«, die sich dort wie in der ganzen Natur und allem findet, die man zwar verbergen aber niemals ausreißen kann.292 Alles geht seinen von Gott geplanten Gang und schreitet voran. Und eben dies, so meint Kuk, laut Schapira, ist das Voranschreiten des Lichtes des Messias, das in allem Geschehen der Welt und der Geschichte die innere Triebkraft ist. Schapira kommt deshalb zu der folgenden Schlussbeurteilung von Kuks Denken: »So fügt sich alles wohl zusammen. Alles ist auf dieses hohe Ziel ausgerichtet, der Offenbarung des Lichtes des Messias, das in den Tiefen des Seins verborgen ist. Auch jene Dinge, welche uns als negativ und diesem Ziel entgegengesetzt erscheinen, sind in ihrem Innern doch voll des Guten und helfen
291
J. Schapira, Be-Fitḥe Scheʽarim, S. 7.
292
Schapira, Be-Fitḥe Scheʽarim, S. 7; ähnlich deutet es Elieser Schweid, der in Kuks Denken eine direkte Übernahme der lurianischen Lehre vom Tikkun sieht, der über vielerlei Brüche voranschreitet, um dann doch zum Ziel zu führen. Der säkulare oder gar antireligiöse Zionismus ist demnach ein solcher Bruch, der den Tikkun dennoch voranbringt; s. E. Schweid, Säkularismus aus religiöser Sicht – die Lehre von A.J. Kuk (Ḥilonijut mi-Nekudat Reʼut datit – Mischnat ha-Raʼajah, in: ders., Ha-Jehudi ha-boded we-ha-Jahadut, Tel Aviv 1975, S. 178– 192.
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Avraham Jizchak Kuk
dem Ziel. Der Aufbau des Landes steht darum nicht im Gegensatz zur künftigen Erlösung, sondern ist Teil von ihr.«293 Schapira ruft daher im Namen von Kuk auf, dass es Pflicht aller sei, den praktischen, philosophischen, politischen und diplomatischen Zionismus zu unterstützen. Es entspricht dem gesamten Denken Kuks, dass in seinen Texten weniger vom Messias, als von dem künftigen Retterkönig die Rede ist, dessen Erwartung er als frommer Rabbiner natürlich nicht in Abrede stellt.294 Kuk spricht demgegenüber sehr viel mehr vom Licht des Messias. Das Licht des Messias war, wie Kuk mehrfach sagt, von allem Anfang vor der Schöpfung da,295 das Licht des Messias ist Gottes Licht in dieser Welt. Avraham Jizchak Kuk transformiert mit seiner Lehre vom Licht des Messias, das seit Anbeginn der Welt deren innere Triebkraft ist, in der Geschichte wie in Natur und Kosmos, wieder einen Gedanken der lurianischen Kabbala, der den Verlauf der Weltgeschichte seit jenem geplanten oder verhängnisvollen Bruch der Gefäße296 sowohl auf der kosmischen wie auf der anthropologischen Ebene als Entwicklung zum Tikkun hin, zur schließlichen Wiederherstellung des Schadens und zur Vervollkommnung der Schöpfung begreift.297 Bei Lurja ist es die Arbeit des Einsammelns der gefallenen Funken auf der kosmischen wie der anthropologischen Ebene, die den Welt- und Geschichtsverlauf als lange anhaltende messianische Arbeit des Menschen versteht, und der Mensch, insbesondere der Mensch aus Israel, ist es, der die messianische Arbeit zum Tikkun der Welt vollbringt. Wiewohl Kuk gelegentlich den Gedanken des Einsammelns der Funken aufnimmt, hat er die menschliche messianische Tätigkeit, in Anlehnung an ḥasidische Denker,298 auf die Ebene der Erkenntnis verschoben. Es ist die richtige Er293
Schapira, Be-Fitḥe Scheʽarim, S. 11.
294
Die Verdrängung des personalen Messiasglaubens zugunsten des Anliegens, schon in der vormessianischen Gegenwart das Land Israel besiedeln zu müssen, ist auch Kuk selbst bewusst gewesen. Denn nachdem er in einer langen Ausführung mit vielen Belegstellen aus der Tradition die religiöse Pflicht zur Besiedlung des Landes schon in der Gegenwart betont hatte, fühlte sich Kuk genötigt, den traditionellen Messiasglauben als dennoch weiterhin gültig zu betonen, A. J. Kuk, Ḥason ha-Geʼulla, ed. Meʼir Berlin, Jerusalem 1941, S. 34.
295
Acht Konvolute, VII, § 41. Kuk nimmt hier den alten rabbinischen Midrasch von jenen Dingen auf, die schon vor der Schöpfung da waren – eines davon ist der Messias – (aber nicht dessen Licht, wie bei Kuk), Babylonischer Talmud, Pesachim, 54a; Nedarim 39b.
296
Zur Frage, ob der Bruch der Gefäße bei Lurja als Plan oder Katastrophe gedacht war, siehe Jü-
297
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 650–654. 676–680.
298
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 765–766.
disches Denken, Bd. 2, S. 246–650.
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401
kenntnis, die richtige Weltanschauung, sprich die Einheitsschau, welche die messianische Arbeit ist, die die Welt voranbringt. So gesehen ist die Weltgeschichte seit ihrem Beginn der Anfang der Erlösung und nicht erst die zionistische Rückkehr und Bebauung des Heiligen Landes. Natürlich ist auch sie nach Auffassung Kuks eine Stufe dieser messianischen Entwicklung, gar eine außerordentlich bedeutsame, aber eben nicht die ʼAtḥalta di-Geʼulla, nicht der »Anfang« der Erlösung, sondern nur eine Stufe davon. Diese Zusammenhänge waren Kuk so wichtig, dass er sie in einem längeren kleinen Traktat in seine Kladden notierte, von denen der wesentlichste Teil hier mitgeteilt werden muss: »Die Anschauung, welche die lebendige und wirkende göttliche Macht in ihren mächtigen Erscheinungen und in ihrer hohen Heiligkeit in allen Erscheinungen der Natur, in allen geistigen Begebenheiten des Menschen, in allen Verwirrungen der Kriege, in allen Inhalten der Irrungen der Menschen und Völker sieht, richtet das heilige Licht in der ganzen Fülle der Welt ein, sie verbindet die Nefesch-Seele der Welt mit deren Ruach-Seele und deren Neschama-Seele,299 sie vereint das in Klüften und verdeckten Stufen verborgene Wirken und Tun mit dem Offenbaren und den herrlichen und furchterregenden Erscheinungen ›mit starker Hand und ausgerecktem Arm, mit Zeichen und Wundern‹, 300 mittels der Offenbarung der Schechina und der leuchtenden Prophetie. Und diese intellektuelle Verbindung macht den Charakter des Menschen vollkommen und belebt die Welt. Wenn das Licht Israels sich durch die Tiefe der Erkenntnis und die Tiefen des Glaubens offenbart und sieht wie alles Geschehen, – vom Anfang bis zum Ende, vom Beginn des Weltkreises bis zum Schluss der letzten Tage, von den Erscheinungen mächtiger geistiger Entwicklungen, intellektueller und moralischer Erscheinungen voll all des Guten, die Neuigkeiten der erhabenen und vollendeten Weisheit und der Wissenschaften, alle Lichter der Tora, in den individuellen und allgemeinen Kräften, alle Strahlen des Heiligen Geistes, alle Einflüsse der weltbegründenden Zaddikim –, all diese und deren oberen und unteren Ursachen, wie sie alle eine einzige große Weltbewegung darstellen, die in ihnen wirkt, die Bewegung des Leuchtens des Lichtes des Messias, das vor der Welterschaffung erschaffen wurde, dann entdeckt die Erkenntnis in ihnen das Licht des lebendigen Gottes, und die Stimme des
299
Zu diesen drei Seelenstufen in der mittelalterlichen jüdischen Philosophie und in der Kabbala siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 415–416. 504–506. 514–519. 524. 554. 556. 564–565; Bd. 2, S. 161. 284. 444–448. 469. 505–506. 586. 612. 741 FN.
300
Jeremia 32, 21 (umgestellt); und siehe die Pesach-Haggada, Erste Einführung zum Midrasch: »Knechte des Pharao in Ägypten waren wir, da holte uns der Herr unser Gott heraus mit starker Hand und ausgerecktem Arm« – dies ist bewusste Erlösungsterminologie!
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Herrn, die aus ihnen spricht und ruft. So auch wenn immer Ereignisse und Geschehnisse offenbar werden, Einfälle und Gedanken, um das Panier der nahenden Erlösung und Errettung zu erheben, seien sie materiell oder geistig, entdeckt sie in ihnen dieses Licht Gottes. Und je besser die Erkenntnis dies erkennt und versteht, desto mehr offenbart sie die Lichter der Ereignisse und richtet sie auf deren Ziel aus und es verbinden sich die verborgenen mit den offenbaren Lichtern, dann werden die Natur und das Wunder eins in einer hohen und starken Verbindung. […] Diese intellektuelle Vervollkommnung, macht den Glauben vollkommen, und schürzt die Kraft des Lebens und Handelns, auszukundschaften und zu suchen, auf die Erlösung zu harren und den Dienst am Herrn und seinem Volk Israel zu leisten, den Dienst an Himmel und Erde, um Himmel und Erde zu vereinen. Sie tritt in dem Maße der Vollkommenheit ein, gemäß den Stufen des Leuchtens und Offenbarwerdens des Lichtes des Messias, das alle Lichter und Geister enthält, den Geist des Herrn, den Geist des Rates und der Stärke, den Geist der Weisheit und Einsicht, den Geist der Erkenntnis und Furcht des Herrn. Und das Licht der geistigen Wiederauferstehung wird zunehmend offenbarer, sprosst auf und blüht. Die individuelle Wiederbelebung geht der allgemeinen voran, die geistige der körperlichen, die den Gestank des Fleisches läutert, den Unrat der Schlange und die Ursache aller Sünde, die Welt zu erfreuen und mit Liebe und Freude zu erfüllen, mit der Entfernung der fleischlichen Traurigkeit, die mit dem Gestank der Zeugung verbunden, der die Erscheinung allen reinen Geistes verhindert.«301 Die zionistische Bewegung ist demnach nicht der Anfang der Erlösung, sondern einer ihrer vielen Schritte, die seit dem Anfang der Welt voranschreitet und zwar in Gestalt des »Lichtes des Messias«, welches die Welt ihrer Erlösung zuführt. Diese Bewegung wird umso mächtiger, wenn die Erkenntnis des Glaubens dies alles als eine einheitliche Weltbewegung erkennt – entsprechend Bergsons élan vital. Dann wird der vermeintliche Unterschied zwischen Natur und Wunder durch die richtige Erkenntnis durchschaut, die erkennt dass hier wie dort das Licht des Messias wirkt, im Individuum, in der Gesellschaft und in der Welt. Dann verschwindet der Unrat der Schlange, den sie nach der alten Haggada302 einst in die Urmutter Eva geworfen hatte. Dann kommt der Bogen der Erlösung, der damals begann, zu seinem endgültigen Ziel – Lurja würde sagen: Der Tikkun, die Wiederherstellung der Welt nach dem Bruch der Gefäße ist nun erreicht. Entscheidend für Kuk ist jedoch, dass diese Fortschritte des Tikkun wesentlich von der Erkenntnis der Menschen abhängen. Es ist die oben gezeichnete Komplexität 301
Acht Konvolute, VII, § 27.
302
Babylonischer Talmud, Schabbat 146a; Jevamot 103b.
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403
der Erkenntnisweisen, die alleine in ihrer Zusammenfassung die widersprüchliche Vielfalt des vor Augen Liegenden und Geschehenden in eine Einheitsschau zu führen vermögen. Und diese Schau ist das Sehen des Lichtes des Messias, das seit Beginn der Schöpfung der Schrittmacher der Weltentwicklung ist.
10.
Selbstbetrachtungen, Konfessionen, Mystik
In der Literatur über Avraham Jizchak Kuk wird allenthalben auf dessen mystische Neigungen hingewiesen, die allerdings, so hat die bisherige Darstellung des Kukʼschen Denkens gezeigt, nicht so sehr prominent in den Vordergrund treten, dass man Kuk ohne Einschränkung als Mystiker bezeichnen könnte. Jene Notate, die man als mystische Bekenntnisse oder Meditationen – als »Ich-Texte« – über das Sehnen nach unmittelbarer Gottesnähe betrachten könnte, und einige weitere, in welchen er über Mystisches in dritter Person spricht, beschränken sich in den tausenden Paragraphen der gesamten Konvolute auf etwa vierzig bis fünfzig Eintragungen, von denen auch nicht alle sogleich auf mystische Aktivitäten ihres Autors schließen lassen würden. Darunter sind auch solche, wie die oben zum Teil schon angeführten, in denen sich Kuk als einen Denker darstellt, der nicht bei einem einzigen Thema verharren kann, sondern dessen Gedanken ihn stets zu neuen und andersgearteten Interessen treiben. Und wie schon in seinen Betrachtungen zum Glauben, ist Kuk bei seinen seelischen Höhenflügen doch immer wieder bemüht, die Bodenhaftung nicht zu verlieren, oder richtiger seinem Bedürfnis, auch dem Intellekt gerecht zu werden. Benjamin ʼIsch Schalom, der auf die innere Spannung Kuks hinweist, die zwischen Rationalität und Mystik schwankt, kommt zu dem Resultat, dass Kuk »kein Mystiker im gebräuchlichen Sinn des Begriffs ist. Er hat allerdings eine Neigung zum Mystischen, weist jedoch deren durchaus gefährlichen Extreme von sich.«303 Trotz dieser Einschränkung führt ʼIsch Schalom ein Notat aus den Konvoluten an, welches zeigt, dass Kuk selbst in solche Gefahren geraten sein mag. Er sagt da: »Wenn man sich müht, an der höchsten Geistigkeit zu haften (medubbak), kann es gelegentlich geschehen, dass sich alle geistigen Lebenskräfte nach oben in die Welt des höchsten Denkens erheben und so der Leib von der Seele verlassen wird, wodurch die bösen Eigenschaften über den Menschen herrschen. Und wenn hernach die Schau beendet ist und die Lebenskraft zur Normalität zurückkehrt, findet die Seele den Körper durch dessen verderbliche Eigenschaften gebrochen, so dass ein mächtiger gefährlicher innerer Kampf anhebt. Darum bedarf es vor dem visionären Aufstieg der Buße und des Willens, die Eigenschaften zu läutern, und dadurch ermöglicht man einen 303
ʼIsch Schalom, Ha-Rav Kuk, S. 248.
Avraham Jizchak Kuk
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Berührungspunkt zwischen dem Körper und der Seele, auch wenn sie sich im höchsten Aufstieg befindet.«304 Der Schluss dieser Betrachtung ist nichts weniger als eine klassische Anweisung zur Vorbereitung auf die mystische Ekstase – die Selbstreinigung, die via purgativa der lateinischen Terminologie,305 die allem Aufstieg vorangehen muss. Kuk verwendet hier des weiteren den seit der mittelalterlichen jüdischen Philosophie und Kabbala technischen Terminus für die unio mystica, die Devekut – hier in passiver Verbform – und spricht vom Hinausgehen der Seele aus dem Leib.306 Dies und die noch folgenden Ich-Berichte zeigen doch sehr wohl, dass hier von echten mystischen Erlebnissen gesprochen werden kann. Dass Kuk dennoch auch ein Bedürfnis zur Erkenntnis der realen Welt und ihrer Details hat, wurde oben schon mehrfach deutlich. Er war nach alle dem ein Mensch, der Mystik mit einer gewissen Rationalität verbinden konnte, wobei auch hier, wie schon im Verhältnis von Glaube und Vernunft, wo der Glaube letztlich den höheren Rang einnahm, der Mystik ein höherer existentiell bedeutsamerer Wert zugeschrieben wird. Es gibt da noch die weiteren klassischen Motive der Mystik, der stete Durst nach der Gottheit, das Leiden und die Schmerzen dieses Sehnens, sodann der Glaube inmitten der Wahrheit versunken zu sein, aber den Mangel zu spüren, diese formulieren zu können, »Siehe ich bin voller Schmerz aus Not an Ausdrucksmöglichkeiten, wie soll ich diese große Wahrheit aussprechen, die mein ganzes Herz erfüllt. Wer wird die Strahlen der Blitze, die reichen Schätze an Licht und Wärme, die im Innern meiner Seele geborgen sind, den vielen offenbaren, den Welten, den Geschöpfen, der Fülle des Ganzen, Volk und Mensch zusammen?«307 Kuk fühlte sich, gleich einem Propheten, gedrängt und verpflichtet, diese seine Wahrheit an die Menschen, an seine Herde, weiterzugeben. Andrerseits bekennt er an einer weiteren Stelle, dass sobald er ein Wort zu sprechen begehrt, »da kommt schon die höchste Geistigkeit aus dem Anfang ihrer verborgenen Macht herab und pocht an die Saiten meines Willens. […] und ich werde zum Reden gezwungen, ich spreche aus dem Schatz meines Lebens, die Worte strömen […] der Strom, der aus den Tiefen der höchsten körperlichen Kon304
Acht Konvolute, II, § 32; bei ʼIsch Schalom nach dem MS auf S. 244.
305
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 1, S. 517; Bd. 2, S. 622. 369–377.
306
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 1, Bd. 2, S. 369–377. 895–896. 373. 745. 470.802.
307
Acht Konvolute, III, § 280.
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zentration aufsteigt, vereint sich mit dem Strom, der von der Höhe der Wurzel der Wurzeln der Seele aufsteigt, und hingestreute Lichter erfüllen mit ewigem Licht jeden Winkel meines Daseins.« 308 Wie in den zuletzt angeführten Worten Kuks, bringt er sein mystisches Erleben mehrfach in poetisch-hymnischer Weise zu Papier. Hier begegnen dem Leser die für die Mystik typischen Motive der Weite und Grenzenlosigkeit, des Berstens der Seele und Sprengens aller Behinderungen, auch solcher des religiösen Herkommens und dann eben der aus dem hohen Lied gewonnene, oft mystisch verstandene Aufschrei, »ich bin krank vor Liebe« (Canticum 2, 5): »Weiten, Weiten, göttliche Weiten sind meine Seele. Schließt mich in keinen Käfig, in keinen aus Materie und in keinen des Geistes. Meine Seele segelt in den Weiten des Himmels, keine Mauern des Herzens und keine Mauern des Tuns, der Moral, des Denkens und des Brauches können sie fassen. Über ihnen allen schwebt und fliegt sie dahin, über allem, das mit einem Namen benannt, über aller Wonne, allem Wohlsein und aller Schönheit über allem Erhabenen und allem Emanierten. ›Ich bin krank vor Liebe!‹«309 In einem anderen Notat stellt sich Kuk die rhetorische Frage, warum er denn seine Seele von ihren Höhenflügen aufhalten solle, sie, die sich doch absolut frei fühlt. Und wenn dann die wirkliche Hemmung durch die Sünde auftritt, dann gibt es ja das probate Medium dagegen, die Teschuva, die Umkehr, die in der jüdischen Tradition schon immer als das Mittel gilt, das nichts aufhält.310 Es ist diese Freiheit der Seele, die für Kuks Seelen-gegründetes Denken, so zentral ist. Die Freiheit der Seele des Menschen muss nach Kuks Auffassung nicht nur im mystischen Höhenflug absolut ungehindert bleiben, auch schon davor in all ihrem strebenden und lebenden Sein. Hier zeigt sich ein zunächst kompromissloser Individualismus, der dem von A.D. Gordon verwandt,311 aber doch in ein anders mentales Netz eingefügt ist. Diese Freiheit der Seele gilt nach Kuk für die gesamte Entwicklung und Entfaltung des individuellen Seins:
308
Acht Konvolute, III, § 291.
309
Acht Konvolute, III, § 279; vgl. das hymnische Notat in Acht Konvolute, III, § 290, wo Kuk von seinem inneren Kampf spricht zwischen der Sehnsucht nach den göttlichen Wonnen, welche der eigentliche Inhalt des Lebens ist, und den Pflichten des traditionellen Lernens und der Textinterpretation.
310
Acht Konvolute, VIII, § 215.
311
Siehe oben, Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, V, 3-5.
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»Jeder Mensch muss wissen, dass er dazu berufen ist, gemäß seiner höchst eigenen Erkenntnis und seinem Gefühl zu wirken, die der Wurzel seiner Seele entspricht. Und er wird in dieser Welt, die zahllose Welten enthält, den Schatz seines Lebens finden. Er soll sich nicht von Inhalten fremder Welten, die auf ihn einströmen, verwirren lassen, sofern er sie nicht gebührlich aufnehmen kann und nicht befähigt ist, in geeigneter Weise in sein Lebensbündel einzubinden. […] Er muss sein Leben auf seine Welten konzentrieren, auf seine inneren Welten, die ihm alles erfüllen und alles umfassen. Der Mensch muss sagen: Für mich wurde die Welt erschaffen. Diese demütige Größe bestätigt den Menschen und führt ihn zur höchsten Vollkommenheit, die bereitsteht und ihn erwartet. Und wenn er auf diesem sicheren Lebensweg schreitet, auf seinem spezifischen Weg, auf seinem besonderen Weg der Gerechten, wird er voller Lebenskraft und geistiger Freude sein und das Licht des Herrn wird sich ihm offenbaren, über seinen spezifischen Buchstaben in der Tora wird seine Macht und sein Licht sich ihm verwirklichen.«312 Das Ende dieses Textes mit seiner zunächst modernen psychologischen Einsicht der Selbstverwirklichung des Menschen, dass nämlich ein jeder seinen ihm je eigenen angemessenen Weg finden soll, gibt einen Hinweis, dass auch diese durchaus säkulare psychologische Erkenntnis für Kuk in einem religiösen Kontext steht,313 dessen Klimax die Verwirklichung der schließlich absoluten psychischen Freiheit ist, im mystischen Aufschwung der Seele, in dem sie keine Hemmungen mehr anerkennen muss. Die sachliche Zusammengehörigkeit der Ich-Entwicklung und deren Krönung im mystischen Aufschwung zeigt sich auch an der Stelle, wo Kuk einen Gedanken des Begründers des Ḥasidismus aufnimmt314 und eine dauernde Devekut, also ein dauerndes bei-Gott-Sein, als die Normalität seines eigenen Verhaltens, oder Verhalten-müssens darstellt: »Ich kann vom Haften (Devekut) an Gott nicht lassen, darum muss ich mich bemühen, das göttliche Licht und seine Wonne in allen Predigten, in jedem Wort, jeder Tat und Bewegung zu sehen, seien es die meinen oder die der anderen. Um wie viel mehr muss ich mich bemühen, die Offenbarung des obersten Lichtes durch die Kanäle der Wahrheit und Gerechtigkeit in der gesamten Tora, in ihrem Wortsinn, in den halachischen Dingen und scharfsin-
312
Acht Konvolute, IV, § 6; vgl. auch VII, 122.
313
Auch die lurianische Erkenntnislehre konnte von einem je eigenen und individuellen Zugang des Menschen zur Tora sprechen; vgl K.E. Grözinger, Kafka und die Kabbala, S. 64–68 (Kap. Vor dem Gesetz).
314
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2. S. 791–804.
Zionismus
407
nigen Deutungen (Pilpulim) zu fühlen. Das ist der Grund weshalb ich dazu neige, dem Pilpul Überlegungen des logischen Denkens beizugeben, denn auch in ihm gibt es Gefühl und Herz. Dies alles aus der inneren Neigung, dass ich von ganzem Herzen möchte, dass das göttliche Licht mit seinen Wonnen und Leuchten allen offenbar wird, damit sich alle an ihm erfreuen und ergötzen.«315 Die Gottesanhaftung, von welcher Kuk hier spricht, ist kein statisches bei Gott sein, sondern eine prozedurale Herabziehung des göttlichen Lichtes in alles. Zvi Jaron316 spricht deshalb für Rav Kuk, in Anlehnung an Max Kadushins Definition der rabbinischen Heiligung des Alltags durch die Gebote und deren zugehörigen Segenssprüche,317 von einer »normalen / alltäglichen Mystik«, einer religiösen Erlebensweise, welche an den gewöhnlichen Alltag angelehnt ist. Allerdings so betont Jaron weiterhin: »Es scheint, dass der Begriff der Heiligkeit bei Rav Kuk als ›normale Mystik‹ bezeichnet werden kann. Jedoch erhält der Begriff wegen seiner Anlehnung an die Kabbala bei Kuk einen dialektischen Charakter, denn er betont neben der Seite der Alltäglichkeit die Spannung zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen dem Erhabenen und dem Natürlichen.«318 Man kann demnach wohl sagen, Avraham Jizchak Kuk verbindet Elemente einer ekstatischen Mystik mit solchen einer »Alltagsmystik«, nach welcher das Heilige, sprich das Gotteslicht, in möglichst weite Teile der alltäglichen Religion und darüber hinaus hereingezogen wird. Falls man glaubt, Kuks Äußerungen über das mystische Erleben sei nur Theorie und Poesie, so mag abschließend das Zeugnis eines seiner Schüler einen Hinweis auf die Realität dieser Mystik geben, das sich in der Sammlung Sichot ha-RaʼaJa (Worte des R.A.J.Ha-Kohen) findet. Es stammt von Kuks Schüler Jakob Mosche Ḥarlap aus dem Jahre 1914: »Ich erwachte in der Mitte der Nacht und ich sah den Rav, wie er vom Sturm des Geistes erhoben die ganze Länge des Zimmers auf und ab schritt. Furcht ergriff mich und ich erhob mich, da trat er auf mich zu und fasste mich an, seine Hände waren eiskalt und sein Gesicht brannte und strahlte wie Fackeln und seinem Mund entströmten flammende Worte: ›Rabbi Jakob Mosche, ich
315
Acht Konvolute, I, § 821.
316
Auch: Zvi Yaron, Mischnato schel ha-Rav Kuk, Jerusalem 1979.
317
Vgl. Max Kadushin, The Rabbinic Mind, New York 1965.
318
Z. Jaron, Mischnato, S. 109, FN 4.
408
Avraham Jizchak Kuk
wer farbrennt fun Ahavat ha-Schem‹ (ich verbrenne vor lauter Gottesliebe).«319
319
Siḥot Ha-RaʼaJaH, ed. Z. Nerija, Tel Aviv 1979, S. 352, zit. Nach ʼIsch Schalom, Ha-Rav Kuk, S. 238. Entsprechende mystische Erlebnisse berichten die Legenden vom Baʽal Schem Tov, vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 744–749; K. E. Grözinger, Die Gegenwart des Sinai. Erzählungen und kabbalistische Traktate zur Vergegenwärtigung des Sinai, S. 143–183 (http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2008/1884/); K. E. Grözinger, Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov, Schivche Ha-Bescht, hebräischer und jiddischer Text, herausgegeben, übersetzt (beide Versionen) und kommentiert samt einer ausführlichen Einleitung, 2 Bde., 960 S. (Jüdische Kultur Bd. II), Wiesbaden 1997.
VIII. ZIONISMUSKRITIK UND POST-ZIONISTEN 1.
Kritik am Zionismus aus der Mitte des Zionismus
1.1
Heinrich Margulies (Margalit) (1890–1989) – wider ideologische Parteiungen
1.1.1 Biographische Notiz Heinrich Margulies wurde in Sosnowitz bei Kattowitz, im preußischen Oberschlesien, geboren und wuchs ab dem fünften Lebensjahr in Kattowitz auf. Er studierte in Leipzig und Berlin Ökonomie, war dann Publizist, als Herausgeber der Jüdischen Jugendblätter und der Wiener Morgenzeitung, sowie Fabrik- und Bankdirektor in Berlin. 1925 emigrierte er nach Palästina und wurde dort Direktor der Anglo-Palestine Bank – (ab 1951 Bank Leʼumi Le-Jisrael – Israelische National-Bank).1
1.1.2 Kritik des Zionismus Die Kritik am Zionismus ist ein plakatives und geräuschvolles Phänomen der Gegenwart, aber nicht nur der Gegenwart. Das Bestehen solcher Kritik in unseren Tagen ist darum sicherlich noch kein Indiz für das Ende des Zionismus. Im Jahre 1920 publizierte der aktive Zionist und spätere Direktor der israelischen Bank Leʼumi Heinrich Margulies (Margalit) ein zweibändiges Werk unter dem Titel: Kritik des Zionismus.2 Schon damals, mitten aus dem fahrenden Zug, kritisiert Margulies mit beißender Schärfe den politischen Zionismus von Theodor Herzl. Herzls Zionismus war, so Margulies abschätzig, ein Gemisch aus Illusion, und Orientierungslosigkeit: »Der sogenannte politische Zionismus Theodor Herzls offenbart sich somit auch demjenigen, der heute die Dinge aneinanderreiht […] als ein recht zusammenhangloses Ding von Phantasterei, Weltfremdheit und Dilettantismus. Die politischen Fehler, die er nur allzu oft beging sind für uns heute so unbegreiflich, daß wir sie nur erklären können, daß nicht eine falsche und verkehr-
1
Die Funktion der staatlichen Nationalbank wurde 1954 durch die neu begründete »Bank of Is-
2
H. Margulies, Kritik des Zionismus, Wien und Berlin 1920 (2. Bde.); u. s. V. R. Röhl, »Es gibt
rael«, Bank Jisraʼel, übernommen. kein Himmelreich auf Erden«, Heinrich Margulies – ein säkularer Zionist, Würzburg 2014.
410
Zionismuskritik und Post-Zionisten
te Politik ihre Ursache war, sondern einfach das Fehlen jeglicher politischen Orientiertheit.«3 Und noch bevor Theodor Herzl auftrat, hatte der oben ausführlich besprochene ostjüdische Intellektuelle Ascher Ginzburg, besser bekannt als Achad Haam (1856–1927), die Arbeit und Ideologie der Ḥoveve Zion, mit äußerster Schärfe kritisiert. Er wurde später auch zum schärfsten Kritiker von Theodor Herzl und dessen politischem Zionismus. Also Kritik am Zionismus ist nicht mit dem Ende des Zionismus gleichzusetzen, Kritik gehörte schon immer dazu. Der Zionismus war stets ein vielstimmiger Chor, in dem die Auseinandersetzung um den richtigen Weg konstitutiv war. Als paradigmatisch kann die Auseinandersetzung um das Ugandaprojekt gelten, das die zionistische Bewegung kurz vor dem Tode Herzls fast zerrissen hätte.4 Herzl und seine Partei waren bereit, das britische Angebot eines Territoriums in Uganda für ihre Judenstaatspläne anzunehmen, während vor allem die Vertreter aus dem Osten darauf beharrten, dass nur Palästina, die alte Heimat, das Sehnsuchtsziel vieler Generationen, das Ziel des Zionismus sein könne. Die Kritik als solche führt demnach nicht aus dem Zionismus hinaus. Aber sie hat ihn verändert, so wie auch die gegenwärtige Kritik ihn verändern wird. Da waren zum Beispiel die Intellektuellen in Westeuropa, welche die Aufgabe des Zionismus vor allem darin sahen, der geistigen Ziellosigkeit der jüdischen Jugend zu begegnen, der Kulturnot. Hier kann man den sogleich unten besprochenen Martin Buber nennen, der durch seine kulturelle Neuorientierung mithilfe ḥasidischer Erzählungen neues jüdisches Selbstbewusstsein schaffen und Wegweisung für die jüdische Jugend geben wollte,5 oder noch mehr, durch einen religiös-utopischen Sozialismus, wie sogleich gezeigt werden wird. Diese Beschränkung des Zionismus auf die Lösung der Kulturnot der westeuropäischen jüdischen Intellektuellen ging jedoch an den Problemen der Ostjuden völlig vorbei. Sie litten vor allem unter wirtschaftlichen und auch politischen Problemen. Heinrich Margulies kritisierte solche Beschränkungen des Zionismus auf Teilaspekte als Parteiungen, die nicht das Interesse des gesamten jüdischen Volkes im Blick hätten. Er nennt dies partikulare Interessen von »Gemeinschaften«, von Vereinen oder »Kirchen«, nicht aber Interessen des gesamten jüdischen Volkes.
3
Margulies, Kritik des Zionismus, Bd. 2, S. 129.
4
Vgl. Oben, Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, III, 1 und 4.2.5.
5
Zu Martin Bubers Ḥasidismus-Deutungen s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 683–694 und die dort genannten Aufsätze. Ebenso beachte man die Kritik von Bubers Zeitgenossen Heinrich Margulies in seinem zweibändigen Werk Kritik des Zionismus, Wien und Berlin1920, Bd. 2, S. 106–110; u. siehe V. R. Röhl, Es gibt kein Himmelreich auf Erden.
Zionismus
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Er stellt deshalb die folgende grundlegende Frage der Zielsetzungen des Zionismus: »Und das ist jetzt für uns die entscheidende Frage: wollen wir jene Bewegung, die durch Herzl zur volksumfassenden Dimension angefacht wurde, nur zur Teilkomponente des jüdischen nationalen Lebenswillens reduzieren oder wollen wir sie wieder zur alljüdischen, das Volk einschließenden Kraft erheben? […] Will der Zionismus nicht mehr das ganze Volk vertreten, kann er sich nur zum Anwalt seines Parteiinteresses, nicht seines ungeteilten Nationalwillens erheben, so ist er zu eng und muß erweitert werden! Denn es darf nicht sein, daß wir nur eine Partei und eine geistige Strömung im Judentum bleiben, wir müssen dieses selbst umfassen […] aber in dem Sinne, daß wir das ganze Volk, sowohl im Galuth wie in Palästina, als einen ungeteilten nationalen Organismus betrachten und daß wir die nationalen Interessen von allem, was jüdisch ist, wahrzunehmen haben.«6 Heinrich Margulies legte eine tief in der europäischen Philosophie verankerte Analyse des Zionismus seiner Tage (1920) vor. Er zeigte, dass der Zionismus von einer denkerischen Dualität geprägt war, auf deren einen Seite das Bild vom ausschließlich negativen Exil und auf der anderen das von der positiven Palästinabesiedlung stand. Hinsichtlich der Exils- oder Galut-Vorstellung selbst, welche das entsprechende positive zionistisches Gegenbild hervorgebracht hatte, differenzierte Margulies dieses von den zionistischen Denkern entworfene Bild des Exils und unterschied zwischen einer »ökonomischen« und einer »intellektuellen« Galut-Vorstellung dieser Denker, die ein analoges Palästina-Bild erzeugte. Die ökonomische Galut-Vorstellung malte vor allem das Bild der ökonomischen Verelendung der Juden, die alleine in Palästina überwunden werden könne. Demgegenüber stand die intellektuelle Galut-Vorstellung, die ein Bild vom damaligen Zustand des Judentums vor allem aus dem Geist des Nihilismus im Sinne von Nietzsche zeichnete und daraus das Gegenbild von einem intellektuellen Selbstbewusstsein des Judentums entwickelte, welches seine eigene geistige Struktur gegenüber der westlichen Dekadenz stolz verteidigen könne. Einer der bedeutendsten Propagandisten dieser geistigen Erneuerung war, so Margulies, sein ehemaliger Lehrer Martin Buber, der eine Erneuerung des ziellosen Westjudentums durch eine »Belebung« und Verherrlichung des Ostjudentums betrieb, insbesondere mit Hilfe seiner ḥasidischen Erzählungen und Texte. Hier wurde von Buber ein Judentum im Sinne einer wahren Menschen-Gemeinschaft gezeichnet, zu dem die Menschen aus freiwilligem Entschluss zugehörten im Ge-
6
Margulies, Kritik des Zionismus, Bd. 2. S. 194.
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Zionismuskritik und Post-Zionisten
gensatz zur Zwangszugehörigkeit in der menschlichen Gesellschaft.7 Margulies wollte diesen Antagonismus innerhalb des Zionismus überwinden, indem er zunächst die Galut-Vorstellungen historisch, soziologisch und ökonomisch relativierte – das heißt nicht ausschließlich negativ sah –, woraus ein entsprechend modifiziertes – das heißt nicht ausschließlich positives – Palästinabild entstand. Das Ziel war einen »erweiterten Zionismus« zu konzipieren,8 der nicht ausschließlich auf Palästina ausgerichtet war, also nicht wie Herzl an eine Verpflanzung der jüdischen Gesellschaften aus Europa nach Palästina verfolgt, sondern einen Zionismus, in dem die Diaspora (Galut) und Palästina gleich bedeutend sind, weshalb sie beide gleichermaßen vom Zionismus als Arbeitsfelder betrachtet werden müssten: »Nur Unverstand kann verkennen, daß wir nationale ›Wächter‹ sein wollen, nicht aber nationale Lobredner. Wächter jedoch, die den ganzen jüdischen Garten behüten und pflegen, nicht nur einen Teil von ihm. Die Gemeinschaftsbewegung kann davon ausgehen, wie der Mensch sein soll.9 Die nationale Bewegung muß davon ausgehen, wie das Volk ist und was es braucht. Darum ist für uns, wenn wir unter dem Gesichtspunkte des Nationalismus an eine Prüfung und Revision des nationalen Programmes herantreten, das nationale Interesse der entscheidende Gesichtspunkt. Das nationale Interesse unseres Volkes gebietet aber ein Doppeltes: Zunächst die Wiedergewinnung Palästinas. Fragt man uns trotz der Selbstverständlichkeit dieser Forderung nach ihren Gründen, so antworten wir: Einmal, weil wir als national fühlende Menschen unsere Heimat wollen – sonst nichts. Unser Land, mit dem wir durch jahrtausendelange Erinnerung verknüpft sind und das nie aufgehört hat, unserer Liebe und unserer Sehnsucht heilig zu sein. Dann auch, weil wir wissen, daß die befreite Heimat ein Jungbrunnen unserer nationalen Produktivkräfte sein wird, und daß sich dort diese Kräfte in der ersehnten Freiheit und Reinheit, uns zur Ehre und Freude, der Welt zum Segen werden entfalten können. Und schließlich, weil wir von einem so wiedergeborenen Palästina eine Ausstrahlung über die ganze jüdische Welt erwarten und eine Stärkung und eine Wiederbelebung der jüdischen Lebensenergie, so daß in die zerstreuten
7
Im Hintergrund dieser Opposition von Gemeinschaft und Gesellschaft standen die Auffassungen von Ferdinand Tönnies, in dessen Buch »Gemeinschaft und Gesellschaft«, Leipzig 1887 (2. Auflage Berlin 1912).
8
Margulies, Kritik des Zionismus, Bd. 2, S. 205.
9
Dazu siehe das folgende Kapitel zu Martin Buber, Jüdisches Denken, Bd. 4, VIII, 1.2
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und zersplitterten Teile wieder eine einheitliche Kraft fließt, auszuharren und jüdisch zu leben, so gut es in der nichtjüdischen Umgebung möglich ist. Das zweite aber, was das nationale Interesse unseres Volkes gebietet, ist die Sicherung und Stärkung der nationalen Existenz des Galuthjudentums bis zum Maximum des Möglichen. […] Das also ist unser nationales Arbeitsprogramm. Nationalisierung Palästinas – Nationalisierung des Galuths und von beiden das mögliche Maximum.«10 Margulies plädiert indessen – zunächst im Blick auf Europa – für eine Trennung von Nation und Staat als Einheit und sieht die Zukunft der Völker in Staaten verschiedener Nationalitäten mit Minderheitenschutz. Auch fordert er die Trennung von Nation und Territorium, denn »nur der Nationalismus in Verknüpfung mit dem Territorialismus geht der Überwindung entgegen. Der Nationalismus löst sich los von der Scholle, vom eigenen Boden, aber er verliert dadurch nicht an Schärfe und denkt nicht daran, nachgiebiger zu werden. Er entwickelt sich vom territorialen zum personalen Nationalismus […] So wird die Forderung nach Trennung des Nationalbegriffes vom Staatsbürgerbegriff und nach Minoritätenschutz die Kardinalforderung des modernen Nationalitätenstreites. Im gleichen Maße verlieren territoriale Fragen einen Teil ihrer Bedeutung.«11 Entsprechend sieht Margulies auch die palästinische Zukunft als binationalen Staat, selbst noch nach der Staatsgründung.12 Die Juden als vom Territorialprinzip befreite Nation, so meint er, können sich gleichfalls umso leichter vom europäischen Boden verabschieden, um anderwärts ihr eigenes Haus zu bauen, allerdings eben nicht in völliger Abwendung, sondern auf zwei Beinen stehend, einem diasporischen und einem »heimatlichen«: »Das Gesamtgebäude der jüdischen Politik weist also auch in der Zukunft zwei gleichberechtigte Komponenten auf, die einander ergänzen: die Palästinapolitik wird die gesunde, erdgebundene Selbstbehauptung, den Kampf um das eigene Haus, den eigenen Herd zum Inhalt haben. Daß sie bei dieser Erdgebundenheit sich nicht in chauvinistischer National- und Kleinstaaterei erschöpft, wird, als Gegengewicht, die Galuthkomponente verhindern, die sich heute bereits in den Dienst des Wiederaufbaus der Menschheit stellt, und die 10
Margulies, Kritik des Zionismus, S. 195–197.
11
Margulies, Kritik des Zionismus, Bd. 2, S. 248–249.
12
Siehe Röhl, »Es gibt kein Himmelreich«, S. 200. 225–227.
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mit Liebe und Güte jeglichen feindseligen Haß, jede nationale wie soziale Zerklüftung zu überbrücken strebt. Ihrerseits aber wird der Galuthpolitik durch Palästina das gesunde und unentbehrliche Fundament von Eigensucht und Selbstbehauptung gegeben, ohne welches sie leicht allzu selbstlos werden und wieder jener liberalen Missionsidee verfallen könnte, welche die Selbstaufopferung und Selbstverleugnung zur sittlichen Forderung erhebt.«13 Der Mahner zur Einbeziehung des gesamten Judentums wurde mit seiner Konzeption immerhin den beiden Grundsäulen Mutterland und Diaspora gerecht, ist aber mit seinen Vorstellungen von Trennung von Nation und Scholle doch auch wieder Partei geworden – ein Schicksal, dem wohl kein Denker je entrinnen kann. Er selbst erfuhr allerdings mit der nationalsozialistischen Entwicklung ab 1933 eine völlige Desillusionierung. Margulies sieht dadurch seine zunächst positive Auffassung von der Galut dahingeschmolzen. Gleich zu Beginn der Machtübernahme durch die Nazis schrieb er in einem Memorandum an den damaligen Vorsitzenden der zionistischen Weltorganisation, Dr. Chaim Weizmann, dem nachmaligen ersten Präsidenten des Staates Israel: »Wir Juden Alle, auch die restlos Emanzipierten, erkennen und bekennen, dass uns die historische Entwicklung erneut vaterlandslos gemacht hat. Die Diaspora bietet heute keine Heimat-Rechte mehr, sondern nur Asylrechte oder Gefaengnisse. Ein Volk ist erneut auf der Suche nach seinem Vaterland, ein Volk will sich repatriieren.«14
1.2
Martin Buber (1878–1965) – wider unideologische Verallgemeinerung – ein Programm der Erneuerung des jüdischen Menschen und der jüdischen Gesellschaft
1.2.1 Vorbemerkung und biographische Notiz Martin Buber war ein im jüdischen Kulturleben seiner Zeit überaus aktiver Mensch und hat sich zu einer breiten Palette jüdischer Themen geäußert, er wird deshalb in dieser Darstellung an sehr vielen verschiedenen Stellen genannt – sein philosophisches Hauptkapitel wird er erst im fünften Band dieser Darstellung erhalten, wo auch die ausführlicheren biographische Daten folgen. Der Grund, weshalb er auch an dieser Stelle auftritt, ist seine lebenslange Kritik an der Politik der zionistischen Bewegung, der er schon im Jahre 1898, also wirklich in den 13
Margulies, Kritik des Zionismus, Bd. 2, S. 265.
14
H. Margulies, Memorandum für Dr. Weizmann, in: CZA, A 392/23, hier S. 5, zit. nach Röhl, »Es gibt kein Himmelreich«, S. 223.
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»Anfangstagen«, beigetreten war. Er wird an dieser Stelle aufgenommen, weil er ein paradigmatisches Beispiel für das ist, was Heinrich Margulies als Partei- oder Kirchenpolitik geißelt, also eine Engführung des Denkens in dem, was als legitimes zionistisches Handeln und Denken zu gelten habe. Es ist eine solche Haltung, welche ihn die Motivationen der anders denkenden Zionisten als Verrat am Zionismus und seinen Idealen brandmarken ließ, dies aber, wie gesagt, aus der überaus einseitigen ideologischen Färbung der eigenen Position. Natürlich haben auch schon Achad Haam und Aharon David Gordon ihre eigene einseitige Sicht sehr kontrovers vertreten, Sichtweisen, denen Buber teilweise folgt, aber Buber hat seine Auffassung mit einem solchen prophetischen Selbstbewusstsein und einer solchen Ausschließlichkeit vertreten, dass er in entscheidenden Augenblicken offenbar nicht in der Lage war, die wirklichen Erfolge des Zionismus als solche wahrzunehmen. Er tat dies mit dem Selbstbewusstsein einer Kassandra,15 die nicht nur dem modernen Leser fast die Sprache verschlagen, sondern selbst seine eigenen Freunde und Schüler ratlos werden ließ. Ich will mit diesen letzten Punkten beginnen, um erst die Folgen einer solchen ideologischen Engführung des Denkens vor Augen zu führen, um danach Bubers fast weltfremd erscheinende Positionen zu skizzieren. Zur Situierung Bubers und als Hinweis auf sein durchaus großes Gewicht im Rahmen der zionistischen Bewegung anzudeuten, sollen hier wenigstens die wichtigsten zionistischen Aktivitäten Bubers aufgezählt werden.16 Martin Buber ist, wie gesagt, schon 1898 der zionistischen Bewegung beigetreten, er gründete im Winter 1898/99 in Leipzig eine zionistische Ortsgruppe und nahm 1899 am dritten Zionistenkongress als Delegierter teil. Im Winter 1900/1 gründete Buber in der Berliner Zionistischen Vereinigung eine Sektion für jüdische Kunst und Wissenschaft und war fortan als Redner und Essayist zionistisch aktiv. 1901 übernahm er in Wien das zionistische Zentralorgan Die Welt und bald darauf, beim fünften Zionistenkongress, kam es zu einem ersten Konflikt zwischen Buber und Herzl – Buber forderte die Gründung eines jüdischen Verlags, den Herzl ablehnte. Wenige Monate später gründete Buber den Jüdischen Verlag in Berlin. Ab 1916 gab Buber die von ihm seit 1903 geplante Zeitschrift Der Jude heraus, die kein direktes zionistisches Organ, aber eine Plattform für jüdische und damit auch zionistische Gegenwartsfragen war.
15
Vgl. Buber, Eine binationale Auffassung des Judentums, in: P. R. Mendes-Flohr (Hg. und Einleitungen), Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage, Frankfurt a. M. 1983, S. 274–275.
16
Ich folge dabei der noch immer lesenswerten Biographie von Grete Schaeder, Martin Buber. Hebräischer Humanismus, Göttingen 1966.
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1.2.2 Martin Bubers Ablehnung der Gründung eines jüdischen Staates kurz vor und nach deren Realisierung Nachdem beim Ende des zweiten Weltkrieges die ganzen Ausmaße des Genozid an den europäischen Judentums sichtbar geworden waren, als tausende Überlebende in den DP-Lagern Europas auf eine Ausreise an einen sicheren Ort hofften und Großbritannien des Palästinamandats müde wurde,17 hatten die britische und amerikanische Regierung eine Kommission eingesetzt, welche das weitere Verfahren angesichts der angespannten Frage der jüdischen Displaced Persons und der widerstreitenden jüdisch-arabischen Interessen klären sollten. Wider die Absichten des zionistischen Aktionskomitees hatte sich Buber mit seinen Genossen des »Ichud«, einer Gruppe, die für einen binationationalen Staat Palästina kämpfte, vor der Kommission Gehör verschafft und dabei die Absichten der zionistischen Organisation unter anderem mit folgenden Worten konterkariert: »Das regenerierte jüdische Volk in Palästina muß nicht bloß ein friedliches Zusammenleben mit dem arabischen anstreben, sondern eine umfassende Kooperation mit ihm in der Erschließung und Entfaltung des Landes. In die Basis einer solchen Kooperation lassen sich Grundrechte des jüdischen Volkes in Sachen des Bodenerwerbs und der Einwanderung ohne Verletzung der Grundrechte des arabischen Volkes einbauen. Das Postulat der Selbstbestimmung muß nicht, wie der größte Teil des jüdischen Volkes meint, zur Forderung eines ›jüdischen Staates‹ oder zu der einer ›jüdischen Majorität‹ führen. Solche Formeln stammen aus einem unelastischen politischen Denken, das die Bedeutung hergebrachter politischer Formen zu überschätzen geneigt ist.«18 Entscheidend ist hier zunächst, dass Buber sich gegen die Mehrheit der Juden stellt, die glaubte, nur in einem eigenen Staat die Rettungsaktion der europäischen DPʼs ungehindert bewerkstelligen zu können. Welche ideologischen Voraussetzungen Buber zu dieser Einschätzung führten soll später noch deutlich werden. In einer Rede im holländischen Rundfunk vom Juni 1947 – im Rahmen einer Europareise – wiederholt Buber seine Ablehnung eines jüdischen Staates: »Was jedes der beiden in Palästina nebeneinander und durcheinander lebenden Völker tatsächlich braucht, ist Selbstbestimmung, Autonomie, freie Ent-
17
Ich folge hier P. R Mendes-Flohr, Martin Buber. Ein Land und zwei Völker, S. 239–240.
18
M. Buber, Was bedeutet uns der Zionismus? Bubers Aussage vor der anglo-amerikanischen Kommission (15.3. 1946), in Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 244.
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scheidungsmöglichkeit. Das bedeutet aber keineswegs, daß es einen Staat braucht, in dem es dominiert. Die arabische Bevölkerung braucht zur freien Entfaltung ihrer Kräfte keinen arabischen Staat und die jüdische braucht zur freien Entfaltung der ihren keinen jüdischen; beides kann in einem binationalen Gemeinwesen gewährleistet werden […] Die Forderung des arabischen Staates und die Forderung des Judenstaates gehören beide jener Kategorie des politischen ›Mehr‹ an, des Mehrhabenwollen als man wirklich braucht.«19 Hier klingt schon deutlich die Minderwertigkeit des »Politischen« bei Buber an, das uns nachher noch beschäftigen wird. Es gibt noch weitere Äußerungen aus dieser Zeit vor der Staatsgründung, in denen Buber den zionistischen Politikern, die eine Staatsgründung anstrebten, Blindheit und Irrtum vorwarf.20 Besonders hervorzuheben ist eine Rede, die Buber schließlich nach Ausrufung des jüdischen Staates bei einem Kongress des Ichud um 1950 hielt. Dort sagte er unter anderem: »Man sagt uns, ein Ziel sei erreicht. Ein Ziel ist erreicht, aber Zion ist es nicht. Es ist nicht, wonach einst die Sehnsucht Israels nach Erlösung sich aufgemacht hatte. Welcher Nüchterne und Redliche, der sich in dieser unserer heutigen Wirklichkeit umsieht, wird meinen, daß wir uns in einem Prozeß der Regeneration befänden? Man sagt: ›Sammlung der Exile‹ – man sollte sagen: Zusammenstoppelung der Exile. Unverknüpft drängen sie sich aneinander, jedes ringt um die Notdurft des Lebens, kein Geist der Liebe weht von Exil zu Exil im Lande Israel. Wir haben nun die Selbständigkeit in ihrer äußeren Form, wir haben den Staat mit allem was dazugehört, aber wo ist das Volk zu diesem Staat, wo ist der Geist zu diesem Volk?«21 In dieser tiefe Enttäuschung über den »Erfolg« der Staatsgründung atmenden Äußerung Bubers klingen eine ganze Reihe von Begriffen an, welche ihn motivierten, nicht davor zurückzuschrecken, kurz vor der Erreichung des StaatsZieles, dies sogar an politisch wichtiger Stelle zu hintertreiben. Es sind der religiös aufgeladene Begriff der »Erlösung«, dann der offenbar ebenso soteriologisch angereicherte Begriff des »Zion«, schließlich die Regeneration, der Geist und das als Ideal gesehene Volk. All diese Begriffe müssen im Folgenden kurz beleuchtet werden, damit die fast sektenhafte Gesinnung, der prophetischsoteriologisch-messianische Anspruch, dieses Denkens sichtbar wird. 19
M. Buber, Zwei Völker in Palästina, in: Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 261.
20
Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 284, u. vgl. noch ebda. S. 285. 290.
21
Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 322.
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1.2.3 Zweierlei Zionismus Die Ablehnung und damit auch Gefährdung einer Staatsgründung so kurz vor dem Ziel durch Martin Buber erklärt er in einem kleinen, im Mai 1948 publizierten Aufsatz unter dem Titel »Zweierlei Zionismus«. Er zeigt da, dass seine eigene weit hinab in seine Mitgliedschaft in der Bewegung reichende Vorstellung vom Zionismus so apodiktisch ist, dass er bereit war, den Erfolg der anderen Vorstellung, selbst in einer Notsituation, wo tausende Überlebende der Schoah nach einer sicheren Bleibe Ausschau hielten, zu gefährden. In dieser kurzen Darlegung spricht Buber, jenseits von den auch in dieser Darstellung sichtbar gewordenen Differenzen, von zwei grundsätzlich verschiedenen »Tendenzen« innerhalb der zionistischen Bewegung. Der Unterschied zwischen den beiden Grundauffassungen vom Ziel dieser Bewegung ist nach Buber eine unterschiedliche Interpretation des Begriffs »Wiedergeburt«. Das heißt, es besteht eine grundsätzlich unterschiedliche Bewertung dessen, woran das Judentum leidet und worin demgemäß dessen Renaissance oder Erneuerung zu sehen ist. Grundsätzlich wurde hier schon sichtbar, dass es die zwei diametral verschiedene Diagnosen gab, ob nämlich das Leiden des damaligen Judentums in der sogenannten »Judennot«, das heißt dem Leiden der verfolgten, unterdrückten oder auch nur benachteiligten Juden, also der individuellen jüdischen Menschen bestehe, oder aber ob der diagnostizierte Mangel in einem Verlust der religiösen und kulturellen Substanz oder Identität des Judentums als kulturell-religiöser Größe besteht. Die erste Diagnose erfordert natürlich eine politische und gesellschaftliche Befreiung der Menschen, am besten in einem eigenen Staat, die zweite Diagnose muss entsprechend eher auf eine kulturelle und religiöse Erneuerung, auf die Schaffung oder Regeneration des jüdischen Selbstbewusstseins aus sein, gleichgültig wo sich die betroffenen Menschen befinden. Grundsätzlich fügt sich die von Buber diagnostizierte Dichotomie des Zionismus in diese Dualität ein, sie hat aber bei Buber noch ganz spezifische ihm eigene Charakteristika. Er beschreibt den innerzionistischen Dualismus auf diese Weise: »Die eine [Tendenz im Zionismus] verstand unter ›Wiedergeburt‹, daß von neuem ein echtes Israel aufkomme, in dem nicht, wie auf dem Wüstengang des Exils, Geist und Leben nebeneinander bestehen, jedes von beiden ein Bezirk eigenen Gesetzes, sondern der Geist sich das Leben baut wie sein Haus, ja wie sein Fleisch. Mit Wiedergeburt ist hier somit nicht ein gesicherter Fortbestand des Volkes anstatt des bisherigen ungesicherten gemeint, sondern eine Existenz der Verwirklichung anstatt der bisherigen, in der unverwirklichte Ideen und ideenlose Wirklichkeit einander stießen. Die andere Tendenz verstand unter ›Wiedergeburt‹ einfach: Normalisierung. Zu einem ›normalen‹ Volk gehören Land, Sprache und Selbständigkeit;
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diese müssen wir wiederbekommen, alles andere braucht uns nicht zu bekümmern, das wird sich schon von selber fügen. Wie die Menschen in dem Land miteinander leben, was die Menschen in dieser Sprache sagen, in welchem Verhältnis diese Selbständigkeit zur übrigen Menschenwelt steht, das gehört gar nicht zum Kapitel der Wiedergeburt. Werde normal und du bist wiedergeboren!«22 Auf den ersten Blick könnte man glauben, Buber unterscheide sich mit der ersten Position, welche die seine ist, kaum von der gerade zuvor skizzierten Position der sogenannten Kulturzionisten. Aber es gibt in Bubers Beschreibung einen zentralen Begriff, der das wünschenswerte Judentum der »Wiedergeburt« nicht einfach im Sinne etwa von Achad Haam als eine Regeneration der traditionellen jüdischen Kultur – inklusive der Religionskultur – in Literatur, Musik und anderen Bereichen fordert. Der gemeinte Begriff ist die »Verwirklichung«. Dieser Begriff beschreibt für Buber ein zentrale Anliegen der »Religiosität«, also der spontanen Weise das Leben im Miteinander mit anderen zu leben. »Verwirklichung« ist demnach kein Begriff der »Religion«, welche nach dem Vorgang der rabbinisch-jüdischen Tradition für Buber nur das Starre und buchstäblich verfehlte Leben sein kann. Verwirklichung bedeutet beim Buber der dialogischen Phase – also der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – ein Leben in einer menschlichen Gemeinschaft, in welcher sich die Menschen einander öffnen, vom Ich zum Du. In dieser Begegnung zweier Menschen wird, so Buber, das Göttliche in der Welt verwirklicht, der Ort dieser Verwirklichung ist die Gemeinschaft – nicht die Gesellschaft: »Das Göttliche kann sich im Einzelnen erwecken, kann sich aus dem Einzelnen offenbaren, aber seine irdische Fülle erlangt es je und je, wo zum Gefühl ihres Allseins erwachte Einzelwesen sich einander öffnen, sich einander mitteilen, einander helfen, wo Unmittelbarkeit sich zwischen den Wesen stiftet, wo der sublime Kerker der Person entriegelt wird und Mensch zu Mensch sich befreit, wo im Dazwischen, im scheinbar leeren Raum sich die ewige Substanz erhebt: der wahre Ort der Verwirklichung ist die Gemeinschaft, und
22
M. Buber, Zweierlei Zionismus, in: ders. Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Mit einer Einleitung von Robert Weltsch, Köln 1963; auch in, Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 287–288.
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wahre Gemeinschaft ist die, in der das Göttliche sich zwischen den Menschen verwirklicht.«23 Es ist diese ganz spezifische Form der Religiosität, welche Buber für den Inbegriff und das Wesen des Judentums hält, der in der jüdischen Geschichte fast nie erreicht wurde, allenfalls in wenigen Höhepunkten vorübergehend,24 und die Buber als die Aufgabe des Judentums in der Welt seit biblischer Zeit erachtet. Er sieht dies als Arbeit am Kommen des Reiches Gottes und dies zu erreichen ist das eigentliche durch den Zionismus zu erstrebende Ziel nach Bubers Meinung:25 »Die Erneuerung des Judentums [bedeutet] Erneuerung der jüdischen Religiosität. Ich sage und meine: Religiosität. Ich sage und meine nicht: Religion. Religiosität ist das stets neu werdende, stets neu sich aussprechende und Ausformende; das staunende und anbetende Gefühl des Menschen, daß über seine Bedingtheit hinaus und doch mitten aus ihr hervorbrechend ein Unbedingtes besteht, sein Verlangen, mit ihm lebendige Gemeinschaft zu stiften, und sein Wille es durch Tun zu verwirklichen und in der Menschenwelt einzusetzen. Religion ist die Summe der Bräuche und Lehren, in denen sich die Religiosität einer bestimmten Epoche eines Volkstums ausgesprochen und ausgeformt hat, in Vorschriften und Glaubenssätzen festgelegt, allen künftigen Geschlechtern ohne Rücksicht auf deren neu gewordene, nach neuer Gestalt begehrende Religiosität als für sie unverrückbar verbindlich überliefert.«26 Die beherrschenden Formen der jüdischen Religion, welche Buber im »Rabbinismus« und Rationalismus sieht, erscheinen ihm nur als Schutt, der die wahre Religiosität zudeckte.27 Diese dialogische Verwirklichungs-Religiosität, deren literarischen Höhepunkt in Bubers Büchlein Ich und Du28 erreicht ist, soll hier nicht weiter verfolgt werden, bleibt dem folgenden fünften Band des Jüdischen Denkens vorbehalten.
23
M. Buber, Der Heilige Weg, in: Der Jude und sein Judentum, S. 90. Zum Thema der Verwirklichung bei Buber s. P. R. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers Entwicklung bis zu »Ich und Du«, Königstein 1978.
24
Vgl. dazu K. E. Grözinger, Martin Buber und die jüdische Tradition, in: R. Sesterhenn (Hg.), Das Freie Jüdische Lehrhaus – eine andere Frankfurter Schule, München-Zürich, 1987, S. 33– 42.
25
Buber, Was bedeutet uns der Zionismus?, Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 241.
26
M. Buber, Jüdische Religiosität, in: ders, Der Jude und sein Judentum, S. 66.
27
M. Buber, Jüdische Religiosität, in: ders, Der Jude und sein Judentum, S. 67.
28
M. Buber, Ich und Du, Leipzig 1923.
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Für den vorliegenden Zusammenhang wichtig ist jedoch, wie Buber diesen Gedanken als zionistisches Programm zu verwirklichen gedachte. Die zur Erreichung dieses Zieles erforderlichen Etappen sind also nicht eine politische und wirtschaftliche Sicherung der jüdischen Kolonien in Palästina, sondern eine tiefgreifende »soziale Erneuerung aus dem Geiste der Gemeinschaft«.29 Und bevor diese neue Gemeinschaft, das »urjüdische« erlangt werden kann, müssen auch die Individuen, jeder einzelne Jude, zu einem neuen Menschen werden. Das Programm Bubers ist also die Heranbildung eines neuen Menschenschlags, der zu dieser neuen Gemeinschaft fähig ist: »Es handelt sich um einen neuen Menschentypus, einen wesensgesünderen, unbefangeneren, gelasseneren, eben ›regenerativen‹ Typus, den das Leben des ›Kerns‹30 geprägt hat. Und woran erkennt man diesen Typen? An mancherlei. Daran, daß er den Kopf leicht und frei sich aus dem Nacken hebt, weder gebeugt noch zurückgeworfen; daß die Augen mit ruhiger Klarheit, ohne Anstrengung und Geblinzel, die Weltfülle fassen und halten; daß die Arme nicht schlenkern und die Hände nicht zappeln, sondern die Rast so zulänglich leisten wie die Mühe; daß die Füße weder schlurren noch jagen, sondern mit gutem elastischem Gleichmaß über die Erde gehen; daß der Atem aus der Tiefe des Leibes kommt und sich austrägt, so daß das Ein und Aus des Lebensrhythmus mit Funktion und Pause sich wie von selbst regelt; daß, wenn nicht die Situation ein anderes fordert, das ganze Muskelsystem sich entspannt; daß die Laute rein und kräftig aus der Kehle steigen, ohne von der Unruhe der Nerven versehrt zu werden. […] Da ist ein Mensch aus der Dumpfheit des Ghettos in die freie Luft der Natur getreten, um von ihren Gnaden zu leben. Aber das Wesentliche ist etwas anderes. Es ist der Lebenszusammenhang, in den sich all dies einfügt und von dem aus es seinen eigentlichen Sinn und Wert empfängt. Es ist die Atmosphäre einer selbstverständlichen Menschlichkeit, die diesen Typus umgibt.«31 Dieses utopische Menschen-Umwandlungs-Programm hat natürlich seine ganz dezidierten gesellschaftlichen Auswirkungen. Die neue zionistische Gesellschaft soll eine »Gemeinschaft« von solchen »Verwirklichern« sein und aus diesem Grund glaubte Buber mit Achad Haam, das Siedlungswerk müsse von einem »Kern«, also einer ausgewählten zionistischen Elite erst nach und nach gestaltet und aufgebaut werden32 und nicht – wie dies dann ab 1933 massenhaft geschah, 29
Buber, Zwei Völker in Palästina, in: Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 260.
30
Gemeint ist der elitäre Teil der Juden, der den hier geschilderten Charakteristika entspricht.
31
Buber, Regeneration eines Volkstums, in: ders. Der Jude und sein Judentum, S. 256.
32
Buber, Regeneration eines Volkstums, in: ders. Der Jude und sein Judentum, S. 251–255.
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durch Flüchtlinge, welche keinesfalls diesen Eliteerwartungen entsprachen. Hinzu kommt, dass Buber diesen Kern-Typus vor allem als einen Land- und nicht als Stadtmenschen erkennen will. Buber sieht sich darin gerade von dem hier schon behandelten A.D. Gordon bestätigt, auf den er sich eigens beruft. Darum gehört zu diesem neuen Menschentypus, dem Chaluz (Pionier),33 die Hinwendung zur Arbeit, insbesondere der Landarbeit. Aber nicht die Landarbeit schlechthin, es ist die Landarbeit auf dem heiligen Boden des Landes, auf dem die Regeneration des jüdischen Volkes alleine gelingen könne, des Landes, das Gott wie dieses Volk erwählt hat, das Land Israel:34 »Zu dieser Verwirklichung kann das Volk nicht ohne das Land und das Land nicht ohne das Volk gelangen: nur die getreue Verbindung beider führt zu ihr. Es ist dies aber eine Verbindung, in der das Land nicht als toter, passiver Gegenstand, sondern als lebendiger und tätiger Partner erscheint. Wie das Volk, um sein volles Leben zu gewinnen, des Landes bedarf, so bedarf das Land des Volkes, um sein volles Leben zu gewinnen; im Zusammenwirken des voll Lebendigen mit dem voll Lebendigen wird sich das Werk vollziehen, das ihrer Gemeinschaft aufgegeben ist.«35 Diese Vorstellungen von einem neuen Menschentypus, der eine neue Gemeinschaft bildet, in der sich das Zusammenleben eigentlich von selbst reguliert, überträgt Buber auch auf das Zusammenleben der Juden und Araber in Palästina, dies umso mehr, als Buber es als die Aufgabe Israels betrachtet, die Religiosität der Verwirklichung als Vorbild in die ganze Welt hinauszutragen. Wichtig ist hierbei zu beachten, dass Buber meint, echtes Gemeinschaftsleben, auch das zwischen unterschiedlichen Volksgruppen, sich aus dem Lebensvollzug von selbst regelt und keiner Politik bedürfe. Ja die Politik betrachtet er als das Übel im Zusammenleben von Völkern schlechthin. So wäre nach seiner Auffassung auch ein friedliches Einvernehmen zwischen Arabern und Juden entstanden, die sich doch durch ihre Sprache und die Berufung auf den gemeinsamen Stammvater Abraham ohnehin nahestünden, »wenn nicht das politische Prinzip dazwischengetreten wäre«:36 »Und doch wäre sicherlich der Weg zu einer gemeinsamen jüdisch-arabischen Wirtschaft aus innerer Notwendigkeit eingeschlagen worden, wenn nicht das politische Prinzip, das Mehr-Durchsetzen-Wollen als man wirklich 33
Buber, Regeneration eines Volkstums, in: ders. Der Jude und sein Judentum, S. 260–265.
34
Buber, Zion und die nationalen Ideen, in: ders, Der Jude und sein Judentum, S. 325.
35
Buber, Zion und die nationalen Ideen, in: ders, Der Jude und sein Judentum, S. 327.
36
Buber, Zwei Völker in Palästina, in. Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 259.
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braucht, auf beiden Seiten störend und hindernd dazwischengetreten wäre. Immer lauter wurden hier und hier die Staatsparolen – arabischer Staat, Judenstaat – ausgeschrien.«37 Es ist diese apolitische religiös-sozial-gemeinschafts-utopische Sichweise, die Buber als die ideale Lebensform in Palästina in einem »binationalen Gemeinwesen«38 sieht, das ohne das politische Anspruchsdenken und ohne Staat funktioniert – gelegentlich spricht Buber, als Mitglied der Vereinigung ʼIḥud,39 dann allerdings auch von einem binationalen Staat,40 der allerdings nach der Maßgabe des bisher beschriebenen zu denken wäre. Es war dieses utopische religiös-sozialistische Gepäck, das Bubers Entscheidungen und Kritik am politischen Zionismus prägte und das er so absolut sah, dass er darüber sogar die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina zu verhindern suchte. Nach dessen Gründung hat er sich jedoch mit der Realität abgefunden und diesem Staat seine volle Unterstützung zugesagt. Buber, der glühende Zionist fast Zeit seines Lebens, ist dennoch ein Beispiel, wie ideologischer Autismus zu dem führt, was Margulies als sektiererisch und nicht im Interesse der Gesamtheit geißelte. Dies gilt gewiss auch für manche der im Folgenden zu nennenden Autoren.
2.
Zionismuskritik von außen – die sogenannten Post-Zionisten
2.1
Eine Momentaufnahme von 2012 zur Debatte um den Zionismus
Petach Tikwa – Tor der Hoffnung, so heißt die im Jahre 1878 gegründete erste zionistische Siedlung östlich von Tel Aviv. Sie ist die Mutter aller zionistischen Siedlungen, wie am Stadteingang stolz verkündet wird. In diesem Ort erstrecken sich jedoch nicht mehr wie in den Gründerjahren ausgedehnte Zitrusplantagen, die den Bewohnern ein wenig Ruhe vor dem Trubel in Tel Aviv bieten könnten.
37
Buber, Zwei Völker in Palästina, in: Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 260.
38
Buber, Zwei Völker in Palästina, in: Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 261.
39
ʼIḥud wurde 1942 von Jehuda Magnes und Martin Buber begründet und strebte die Kooperation mit arabischen Intellektuellen an. Die Vereinigung war eine Art Nachfahre der früheren Vereinigung Brit Schalom (gegründet 1925), die entsprechende Ziele verfolgte und bis in die Mitte der dreißiger Jahre aktiv war; auch hier war das Ziel die Gründung eines binationalen Staates.
40
Buber, Eine binationale Auffassung des Zionismus, in: Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 275; ders., Mehrheit oder so viele wie möglich?, in: Mendes-Flohr, Ein Land und zwei Völker, S. 223.
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Weit gefehlt! Wo heute noch der Hügel der Gründer gezeigt wird, steht nun eine tosende Vorstadt von Tel Aviv, von Autobahnschluchten zerschnitten durch einen endlosen Auto-Stau mit der Gesamtregion Groß-Tel Aviv verbunden. Man kann über unterschiedliche Autobahnen nach Petach Tikwa gelangen, vorbei an glitzernden Hochhäusern von Hi-Tech-Betrieben – die israelische »SiliconBeach«. Hier hat man einen sichtbaren und spürbaren Ausdruck vom Ende des pionierhaften im Wüstensand Ackerbau treibenden Zionismus. Am Strand von Tel Aviv herrscht das ununterbrochene Strand-Leben mit Cafés und sonnengebräunten Massen, fast ein Abbild von Theodor Herzls »AltNeuland«.41 Das Ziel scheint erreicht! Nur wenige Kilometer entfernt von dieser modernen Freizeit und Glitzerwelt liegt das orthodoxe Bne Brak, wo Männer und Frauen in osteuropäischem Habit bis zum Hals zugeknöpft die Straßen bevölkern. Dort, in Bne Brak kann man fast in jedem der vielen Läden für SifreKodesch, also der religiösen rabbinischen Literatur, das orthodoxe hebräische Buch mit dem Titel: Die falschen Messiasse und ihre Gegner erwerben.42 Das Buch beginnt mit dem ersten »Pseudo-Messias«: Jesus Christus, »Jenem aufgehängten Mann«, wie er da nur genannt wird, und endet nach 700 Seiten mit Theodor Herzl – der auch mit dem gebührlichen Fluch belegt wird: Jimach Schemo! – »Sein Name werde ausgelöscht!« Hier hat der Zionismus noch nicht einmal begonnen! Von diesen mehr äußerlichen Symptomen mag man den Blick weiter nach innen wenden.43 Am 27. Mai des Jahres 2012 war das Schavuot-Fest, das Fest der Toragabe am Sinai. Eine Gelegenheit für die Besinnung auf das Wesen des Judentums und auf den Staat Israel. Die Tageszeitungen boten für das Fest die zu erwartenden Festausgaben. So die beiden für das intellektuelle Leben Israels repräsentativen Zeitungen, die linksliberale Ha-ʼArez,44 die zum Fest fast so dick war wie die New York Times und die die regierungsnahe Jerusalem Post. Gegenüber der Jerusalem Post45 setzte Ha-ʼArez sogleich einen für sie typischen Akzent. Mit großer Aufmachung auf sechs ganzen Seiten wurde das damals gerade erschienene neue – antizionistische – Buch von Professor Shlomo Sand vorgestellt. Es trägt einen analogen Titel zu Sands vorangegangenen Buch: Wann und wie wurde Erez Jisrael (das Land Israel) erfunden.46 Dies ist eine Fortset-
41
Th. Herzl., Altneuland, Leipzig 1902.
42
Binjamin S. Hamburger, Meschiche ha-Scheker u-Mitnagdehem, Bne Brak 2010.
43
Silberstein, L. The Postzionism Debates: Knowledge and Power in Israeli Culture, New York 1999; Z. Braiterman, Zionism, in: Cambridge History of Jewish Philosophy, Bd. 2, S. 606– 634.
44
Ha-ʼArez, 25.5.12, Musaf.
45
May 25, 2012, Shavuot Supplement.
46
Shlomo Sand, Mataj wa-ʼech humzeʼa ʼErez Jisrael, ʼOr Jehuda 2012.
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425
zung von Sands erstem weltweiten Bestseller Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?47 Hat der Tel Aviver Professor in seinem zunächst erschienenen postzionistischen Buch das hohe Alter des jüdischen Volkes bestritten, so will er im zweiten zeigen, dass der Begriff Erez Jisrael (Land Israel) nicht biblisch, sondern »erst« in talmudischer Zeit entstanden sei. Und, dass dieser Begriff, Erez Jisrael, bis in die zionistische Zeit, kein politisch-geographischer, sondern nur ein religiöser Begriff gewesen sei. Beide Bücher, so Sand, wollen, ein Angriff gegen die offiziöse »zionistische Historiographie« sein. Das Fazit des Buches: Man kann mit diesen Begriffen keine Ansprüche auf das Heilige Land erheben! Die Jerusalem Post brachte dagegen ein langes Interview mit dem amerikanisch-jüdischen Zionismus-Kritiker Peter Beinart. Dieser hatte kurz zuvor ein Buch mit dem Titel: Die Krise des Zionismus (The Crisis of Zionism) publiziert und außerdem einen entsprechend zionismuskritischen Blog (Open Zion) im Internet eingerichtet. Beinart ruft dort öffentlich zum Boykott von Waren aus den besetzten Gebieten auf. Natürlich setzte die Jerusalem Post eine scharfe Kritik an Beinart dagegen mit der Überschrift: »Zionists do not boycott Israelis«. Die Hauptattacke des Artikels lautete wie folgt: »Wenn [Diaspora Juden] zu einem globalen Boykott der israelischen Siedlungen aufrufen, betreiben sie nachhaltig die Delegitimierung und bahnen den Weg für weitergehende Boykotthandlungen. […] Dies offenbart eine Gleichgültigkeit gegenüber den doppelten Standards, die an Israel angelegt werden, die zweifelsohne von jenen ausgenützt werden, die Israel umfassend boykottieren und delegitimieren wollen. […] Beinart ist nun in der Rolle des führenden Juden, der Israel dämonisiert und delegitimiert.« Die Jerusalem Post stellte noch einen weiteren Artikel hinzu, der ein bekanntes Dilemma des säkularen Zionismus verhandelt, nämlich das Problem, dass es schwer falle, ohne die jüdische Religion eine jüdische Identität zu formulieren. Der orthodoxe Autor (Jonathan Rosenblum) kommt dort zu dem Resultat: »Die [säkularen Juden] glauben nicht an die Offenbarung der Tora als einem historischen Ereignis. Sie halten nur wenige der Tora-Gebote. Die Weisheit der Tora kennen sie kaum oder überhaupt nicht. Aber ohne den Glauben an den Sinai, ist es schwer eine kohärente Sicht der historischen jüdischen Mission vorzutragen, zu erklären, weshalb die dauernde Existenz des jüdischen Volkes und damit auch des Staates Israel überhaupt von Bedeutung ist.«
47
Zu meiner ausführlichen Kritik dieses Buches s. o. Jüdisches Denken, Bd. 4, Einführung, 2.2.
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Diese massiven Beispiele von Debatten an einem einzigen Tag in zwei zufällig herausgegriffenen Tageszeitungen Israels ist nur die Spitze des Eisberges einer tiefgreifenden Debatte über die »Krise des Zionismus«. Seit der Staat Israel in den achtziger Jahren die Archive zur zionistischen Frühgeschichte und zur Staatsgründung Israels geöffnet hat, haben die sogenannten »neuen Historiker« die bisherigen Darstellungen der zionistisch-israelischen Geschichte in Frage gestellt. Da ist zum Beispiel das Buch des ehemals Haifaer Dozenten Ilan Pappe unter dem Titel Die ethnische Säuberung Palästinas (2006),48 das die Geschehnisse des Unabhängigkeitskrieges in ein drastisch neues Licht setzen will. 2002 erschien das Buch des Journalisten Tom Segev unter dem Titel Elvis in Jerusalem. Post-Zionism and the Amercanization of Israel,49 in dem das heutige Israel als ein amerikanisiertes Land des Post-Zionismus gezeichnet wird. Die Hauptfrage, die sich laut Segev dem heutigen Israel stellt, ist, wie dieser Staat seine jüdische Definition (als jüdischer Staat) mit der Demokratie unter einen Hut bringen will. Involviert ist dabei natürlich stets die Frage nach der kulturellen Gleichberechtigung des arabischen Bevölkerungsteils. Denn der Staat Israel gehört nach seiner Selbstdefinition dem jüdischen Volk und nicht seinen gerade dort lebenden Bürgern. Nachdem, so Segev, alle rückkehrwilligen Juden nach Israel eingewandert sind, sei das Rückkehrrecht obsolet, die Einsammlung der Exile abgeschlossen – Israel ist in die Phase des Post-Zionismus eingetreten! Weiterhin lag in jenen Tagen in allen israelischen Buchläden das gerade neu erschienene Buch des liberalen britischen Rabbiners David J. Goldberg aus. Es trägt den unmissverständlichen, an Achad Haam angelehnten Titel: Nicht dies ist der Weg (This is not the Way).50 In seinem Buch misst der liberale Rabbiner die Politik des Staates Israel an ethisch-moralischenen Auffassungen, wie dies ähnlich Martin Buber tat. Goldberg sagt da unter anderem: »Mit der Erosion des Glaubens wurde Gott durch Israel als Credo des jüdischen Volkes ersetzt, was weder dem einen noch dem anderen nützt. Jene ›jüdischen Werte‹, die stets als Beweis für den besonderen Beitrag des Judentums zur Zivilisation angeführt werden – Gerechtigkeit, Leidenschaft für die Freiheit, Nächstenliebe, Sympathie für die Unterprivilegierten, Weltverbesserung – klingen hohl angesichts der puren Realität des israelisch-palästinensischen Konflikts und der Forderung, die Vertreter der Disapora müssten Israel verteidigen. Die harte militärische Besatzung des Landes eines anderen Volkes, während fundamentalistische Siedler davon annektieren, was immer 48
Engl. 2006, Deutsch, Frankfurt a.M. 2007.
49
New York, (Hebräisch), Jerusalem 2001.
50
London 2012; vgl. o. Jüdisches Denken, Bd. 4, Einführung, 2.2; Zionismus, IV, 1.
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sie können, haben die moralischen Standards verroht und korrodiert, auf denen der jüdische Staat begründet wurde. Übermäßige Bezugnahme auf den Holocaust und dunkle Anspielungen auf einen wiedererwachenden Antisemitismus sind zwei der Ablenkungstaktiken, die in der Diaspora von der Israel-Lobby […] eingesetzt werden, um die wachsende Kritik an Israel abzuwehren.«51 Goldberg misst die israelische Politik mit den Maßstäben einer Religionsgemeinschaft, ohne die grundsätzlich veränderte Situation des Judentums anzuerkennen, wie dies zum Beispiel sogar der orthodoxe Rabbiner Irving Greenberg tat. In Deutschland kennt man auch das einschlägige Buch von Avraham Burg Hitler besiegen (2009),52 das gegen die angebliche Holocaust-Fixierung Israels kämpft, wozu man im zweiten Teil dieses Bandes weiteres erfährt. Genannt sei hier auch Micha Brumliks intelligentes Buch Kritik des Zionismus,53 das sich indessen nur als Kritik am staatsbildenden politischen Zionismus versteht, wohingegen Brumlik den anderen Formen des Zionismus immerhin noch einen nützlichen Sinn abgewinnen kann. Aber dennoch sieht er die »Selbstzerstörung des zionistischen Vorhabens« am Horizont. Mit seiner nur partiellen Befürwortung des Zionismus unterliegt Brumlik einer Partikulierung des Zionismus, die schon von Heinrich Margulies und von Eliezer Schweid (siehe das folgende Kapitel) kritisiert und als »Parteiung« verworfen wurden, die nur einen ihnen genehmen Aspekt des Zionismus befürworten und andere ablehnen. In seinem Buch plädiert Brumlik dafür, Israel in die EU aufzunehmen, um ihm so den Weg zum Rückzug aus den besetzten Gebieten zu bahnen und dafür Israel in einen binationalen Staat umzuformen. – Dies würde allerdings bedeuten, Israel und seine Juden hinsichtlich der sozialen Struktur und der politischen Gestaltungsmacht wieder auf ein Leben in der Diaspora zurückzuwerfen, in dem die Juden nur Teil einer multikulturellen Gesellschaft wären und in absehbarer Zeit als Minderheit leben müssten, mit der Folge, dass in Notsituationen in der Diaspora, die Einwanderungsquoten und damit die Rettungschancen wieder von nichtjüdisch-nationalen und vielleicht gar antisemitischen Kräften abhängig ist.54 Die hier genannten und im Folgenden noch auswahlweise zu nennenden Autoren wollen nicht eigentlich Geschichte um der Geschichte willen betreiben –
51
This is not the Way, S. 3.
52
A. Burg, Hitler besiegen. Warum sich Israel endlich vom Holocaust lösen muss, Frankfurt/
53
M. Brumlik, Kritik des Zionismus, Hamburg 2007.
54
In einem Artikel in der taz vom 4.6.2012 lobt Brumlik Judith Butlers Forderung für »ein neues
New York 2009.
Nachdenken über einen föderalen oder binationalen Staat von jüdischen Israelis und Palästinensern.«
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alle geben dies zu. Sie leiden allesamt so oder so an der Gegenwart, an der Situation in Israel, und diese wollen sie verändern. Auch da, wo zum Beispiel Shlomo Sand tiefer in die Geschichte hinabgreift, sind ausschließlich die Fragen der Gegenwart das Kriterium für die Auswahl und Deutung der Fakten. All diese Bücher sind in erster Linie nicht Historiographie, sondern politische Gegenwartsliteratur, politische Kampfliteratur. Ihre Haltung zum Staat Israel begründen diese Autoren – und das ist auffällig – letztlich mit einer Geschichte, die anscheinend eigentlich erst 1947 oder gar 1967 einsetzt. So sagt zum Beispiel Shlomo Sand in seinem Interview in Ha-ʼArez: »Ich bin gegen einen binationalen Staat; als Demokrat unterstütze ich eine israelische Republik in den Grenzen von 1967, und zwar wegen der Tatsache, dass es dem Zionismus gelungen ist, hier ein Leben zu schaffen, eine Gesellschaft, Sprache und Kultur, die man unmöglich auslöschen kann. Die Rechtfertigung für dessen Bestand an diesem Ort ist die Tatsache, dass das zionistische Unternehmen hier ein israelisches Volk, nicht ein jüdisches Volk geschaffen hat.«55 Shlomo Sand will sich vom jüdischen Volk abkoppeln – dies wurde nach seiner Auffassung ja ohnehin erst spät »erfunden«. Er glaubt nur an ein israelisches Volk, das seit 1948 geschaffen wurde – dies ist für ihn die alleinige Rechtfertigung des Staates Israel. Einer der ersten Sprecher der »Neuen Historiker« in Israel, welche das zionistische Narrativ der israelischen Staatgründung in Frage stellten, war der israelische Journalist und Professor Benny Morris. In seinen Büchern The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949 (1988) und The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited, gab er die Hauptschuld am palästinischen Flüchtlingsproblem den Juden.56 Auch Ilan Pappe, der in seinem Buch Die ethnische Säuberung Palästinas die zweifellos schrecklichen Ereignisse des Krieges von 1948 schildert, geht bei seiner Israelkonzeption im wesentlichen nur von diesen Kriegsereignissen aus – die Lösung ihrer Folgen ist ihm der Kern dessen, was er 55
Ha-ʼArez, Musaf 25.5.12, S. 22c.
56
Die Kritik an Morris blieb nicht aus. »Wie die anderen neuen israelischen Historiker sah sich auch Morris als ihre wichtigste Figur starker Kritik von etablierten Historikern ausgesetzt. Efraim Karsh, Professor für Kriegsstudien am Kingʼs College London behauptete wiederholt, Morris habe seine Daten über Kriegsverbrechen fabriziert. Andere Historiker hätten dieselben Dokumente untersucht, wären aber zu ganz anderen Schlüssen gekommen. Karsh schrieb ein Buch mit einer ausführlichen Erläuterung seiner Thesen: Fabricating Israeli History. The New Historians. Seit dem stritten sich Karsh und Morris in gegenseitigen Stellungnahmen über diese Fragen und sparten auch nicht an persönlichen Angriffen«, nach Wikipedia, s. v. Morris, Benny. Morris ist später von seinen Thesen abgerückt.
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als das Problem Israels sieht. Der gelegentliche Blick weiter zurück in die Geschichte dient letztlich nur dazu, die Hauptthesen des Buches zu bestätigen, von einer ausgeglichenen Darstellung der zionistischen Vergangenheit mit ihren tief menschlichen Problemen, die zweifellos auch Schattenseiten hatte, kann hier keine Rede sein. Dass es auch vor dem 1948-iger Krieg ein »jüdisches Problem«, eine jüdische Not gab, die bis heute ihre Bedeutung nicht verloren haben, wird in die Reflexionen über die Nahostproblematik und der Frage nach einer gerechten Lösung kaum einbezogen.57 Man glaubt fast, alle diese Autoren hätten all das, was hier in den vorausgegangenen Kapiteln dargestellt wurde, nie gekannt oder doch wenigstens vergessen. Und gerade dies scheint der grundsätzliche Mangel dieser gegenwärtigen Debatte um den Post-Zionismus zu sein. Der Zionismus ist ja doch viel früher entstanden. Die Frage eines jüdischen Staates hat nicht erst 1948 begonnen, sondern war eine Reaktion auf eine viel längere, jahrtausendealte Geschichte. Diese Geschichte war der Grund für das Entstehen des Zionismus, und diese Geschichte ist mit den Geschehnissen seit 1948 nicht ausgelöscht. Die lange jüdische Geschichte darf nicht vergessen werden – sie muss als Rechtfertigung für diesen Staat im Gedächtnis bleiben, nicht nur die Ereignisse der Auseinandersetzung mit der arabisch-palästinischen Bevölkerung. Und dies ist es, was der Jerusalemer Philosoph, Eliezer Schweid, nachdrücklich anmahnt, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Schon von allem Anbeginn der zionistischen Bewegung gab es also die Gefahr, die sich heute wieder zeigt, nur Teile der jüdischen Thematik herauszugreifen, eigene Parteiinteressen zu verfolgen – was Autoren wie Shlomo Sand auch unumwunden zugeben. Damit wird der Zionismus in seinem umfassenden Sinn tatsächlich verlassen. Er wird aber nicht beendet, solange es Menschen gibt, die an diesem umfassenden nationalen jüdischen Konzept festhalten, wonach alle Seiten des jüdischen Lebens einbezogen sein sollen. Dazu gehört auch die Polarität von Diaspora und Staat Israel. Wer zum Beispiel wie Shlomo Sand nur am israelischen Volk interessiert ist und nicht am jüdischen, der verlässt tatsächlich die Grundlagen des Zionismus. Denn der Zionismus ist seinem eigenen Verständnis nach eine Sache des jüdischen Volkes und nicht nur des Staates Israel. Dass dieses Festhalten an dem umfassenden Konzept des Zionismus für die Israelis ebenso wichtig und bedeutsam ist wie für die Diasporajuden, ist das ceterum censeo von Eliezer Schweid, der nachher noch zu Wort kommen soll.
57
Über die politisch geleitete Historiographie der »Neuen Historiker« s. auch A. Romirowsky & A. H. Joffe, Religion, Politics, and the Origins of Palestine Refugee Relief, New York 2013, S. 12–14.
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Auch die Philosophin Judith Butler verfolgt in Ihrem Buch Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus58 das Ziel, Judentum und Zionismus voneinander zu trennen: »Ich will unter anderem zeigen, inwiefern das Jüdischsein vom Zionismus getrennt war, ist und bleiben muss.«59 Ihr kann dabei ebenfalls nicht der Vorwurf erspart bleiben, dass sie die Frage des Zionismus und des jüdischen Staates gleichsam erst 1948 beginnen lässt und sie allenfalls die Frage nach der Bedeutung der Schoah für diesen Staat und sein Daseinsverständnis in ihre Überlegungen einbezieht. Letzteres sieht sie allerdings überwiegend negativ, als vorgebliche Instrumentalisierung der Schoah für die Gewalt und den »Siedlerkolonialismus«60 dieses Staates. Demgegenüber idealisiert Butler Gestalten wie Edward Said und Mahmoud Darwish, als wären sie die mehrheitlich beachteten Leuchtfeuer einer möglichen arabischen Israelpolitik. Es ehrt Butler allerdings, wenn sie in diesem Kontext über das Ringen von Primo Levi61 im Umgang mit der Schoah und dessen Auffassung von der Bedeutung der Schoah für die Existenz des Staates Israel spricht. Sie übernimmt aber leider nicht Levis klare Differenzierung zwischen Kritik am Staat Israel und an der Politik einiger, auch herrschender, israelischer Politiker. Sie schreibt dort unter anderem: »Für Primo Levi war es eine Pflicht als Jude und Überlebender, gegen die Bombardierung Beiruts und die Massaker von Sabra und Shatilla 1982 zu protestieren. Er schätzte eindeutig die Gründung Israels als Zuflucht vor der Zerstörung durch die Nazis, ja als Ort, an dem Juden ein Rückkehrrecht besitzen können, aber er unterschied auch zwischen der positiven Einschätzung Israels als dauerhafter Zuflucht für die Juden und der damaligen Politik des Staates Israel.«62 Und an anderer Stelle zitiert sie Levi mit den folgenden Worten: »Der Staat Israel sollte die Geschichte des jüdischen Volkes verändern, und zwar in einem ganz präzisen Sinn: Er sollte eine Rettungsinsel, die Zuflucht 58
J. Butler, Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt/New York 2013.
59
Butler, Am Scheideweg, S. 39.
60
Ein wiederholt verwendeter Begriff Butlers, z. B. Am Scheideweg, S. 31. 252.
61
Zu Primo Levi vgl. K.E. Grözinger, Erinnern und Vergessen – Primo Levi und die jüdische Tradition, in: B. Sändig (Hg.), Zwischen Adaption und Exil. Jüdische Autoren und Themen in den romanischen Ländern, Wiesbaden 2001, S. 31–44; zum Thema der Schoah in der italienischen Literatur s. I. von Treskow, Judenverfolgung in Italien (1938–1945) in Romanen von Marta Ottolenghi Minerbi, Giorgio Bassani, Francesco Burdin und Elsa Morante. Fakten, Fiktion, Projektion, Wiesbaden 2013, hier eine reiche Literaturliste zur diesbezüglichen italienischen Literatur.
62
Butler, Am Scheideweg, S. 219. S. 231.
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sein, in die sich Juden aus anderen Ländern flüchten konnten. Das war die Idee der Gründungsväter, und sie war älter als die Nazitragödie; die Nazitragödie hat sie tausendfach vervielfacht. Juden konnten ohne dieses Land der Rettung nicht mehr sein. Niemand dachte daran, dass in diesem Land Araber lebten.«63 Bei Butler selbst ist diese klare Scheidelinie zwischen gerechtfertigter Kritik an der Politik und an der unverzichtbaren Notwendigkeit eines jüdischen Zufluchtsortes für Juden nicht zu erkennen, dies auch deshalb, weil sie die Diasporaexistenz des Judentums für die bessere hält,64 nicht hingegen für die palästinensischen Araber.65 Primo Levi, und dies zeigt Butler in aller Klarheit, sieht das unausweichliche Dilemma zwischen der historischen und der sozialen Wirklichkeit, in der Kritik an politischen Unternehmungen dieses Staates nötig wird – als Teil einer gleichsam innerpolitischen Debatte, wie sie jede Demokratie kennt – und der unveränderten antisemitischen Gegenwart, die jede solche Kritik sofort auf die Mühlen des Antisemitismus leitet. Zu Primo Levis Dilemma sagt Butler: »Nachdem er gemeinsam mit anderen italienischen und jüdischen Intellektuellen den Rücktritt von Begin und Sharon gefordert hatte, war er auch entsetzt über die antisemitischen Parolen, die an den Mauern seiner Stadt erschienen und Juden und Nazis auf eine Stufe stellten. Diese Situation war völlig unhaltbar und führte zu einem Konflikt: Konnte er weiter seine aus der Erfahrung von Auschwitz gewonnenen Grundsätze zur Kritik staatlicher Gewalt vertreten, ohne zur antisemitischen Instrumentalisierung beizutragen? Dieser Frage musste er sich stellen. Innerhalb weniger Monate verstummte Levi in dieser Hinsicht und stürzte sogar in eine ernste Depression […] Seine politische Zwangslage ist der unseren ganz ähnlich, denn jede Stellungnahme gegen die israelische Politik kann ein Anlass zu antisemitischen Wortmeldungen nicht nur gegen Israel, sondern gegen Juden überhaupt bieten.«66 Diese Zwangslage ist aber leider nicht nur die Zwangslage, welche berechtigte Sachkritik zum Kampfinstrument des politischen und verbalen Antisemitismus werden lässt, sondern auch des militärischen und terroristischen. Sie zu verharmlosen oder gar zu vernachlässigen, kann sich der Staat, der den Juden sichere Zu-
63
Aus: F. Camon, Conversations with Primo Levi, Marlboro 1989, S. 54, nach Butler, Am
64
Butler, Am Scheideweg, S. 9. 15. 25. 144. 237. 250–251.
65
Butler, Am Scheideweg, S. 241.
66
Butler, Am Scheideweg, S. 238.
Scheideweg, S. 231.
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flucht sein soll, nicht leisten. Dies sind Bedenken, über die sich Butler mit diesem Buch und anderen offenbar leichter als Primo Levi hinwegzusetzen weiß. Ein Mittel für diese Verharmlosung der »Zwangslage« ist zum Beispiel die arglose Übernahme der These von Edward Said, die geradezu eine historische Lächerlichkeit ist, indem sie Moses, »den Begründer des Judentums« zu einem Araber macht, und damit das Judentum durch ein arabisches Element definiert wird. Es ist wert, diese historiographische Legende hier anzuführen, die in ihrer absurden Pseudo-Historizität alle biblisch begründeten Ansprüche der Juden auf dieses Land weit hinter sich lässt. Butler schreibt: »Ich war überrascht und fühlte mich zugleich beschenkt, als ich eines von Edward Saids letzten Büchern zu lesen bekam: Freud und das Nichteuropäische, nicht nur wegen seiner anregenden Neubeschäftigung mit der Gestalt des Moses, sondern auch, weil Moses ihm die Gelegenheit zur Formulierung von zwei Thesen bietet, die meines Erachtens bedenkenswert sind. Die erste lautet, dass Moses, ein Ägypter, Begründer des jüdischen Volkes ist, was bedeutet, dass das Judentum ohne dieses definierende arabische Element unmöglich ist. Damit werden vorherrschende aschkenasische Definitionen des Jüdischseins infrage gestellt. Zugleich wird von einem eher diasporischen Ursprung des Judentums ausgegangen, womit auch die Unmöglichkeit in den Vordergrund rückt, den Juden ohne Beziehung zum Nicht-Juden zu definieren. […] Die Figur des Moses verweist aber auf einen noch dringlicheren Punkt, nämlich dass Juden und Araber für manchen gar keine voneinander zu trennenden Kategorien sind, da sie beide gemeinsam im Leben des arabischen Juden verkörpert und gelebt werden. [… Said] lenkt […] unsere Aufmerksamkeit auf die Gestalt Moses zurück, um zu zeigen, dass eines der zentralen Gründungsmomente des Judentums, die Übergabe des Gesetzes an das Volk, sich um eine Figur zentriert, die gar keinen gelebten Unterschied zwischen Araber und Jude kennt.«67 Dass durch diesen Mythos letztlich die Priorität des Arabischen vor dem Jüdischen und die Ansiedlung der Juden in der Diaspora das genuin Jüdische sei, scheint Butler so lieb zu sein, dass sie darüber die fatale Geschichtsklitterung dieser Gedanken verkennt, die lange und ehrwürdige aschkenasisch-jüdische Kultur delegitimiert und leichtfertig über Bord wirft. Denn weder sind die Ägypter zur Zeit des Moses Araber, noch ist historisch betrachtet Moses der »Begründer des jüdischen Volkes« – dies ist allenfalls eine biblische, keine historische Sicht, so dass eine arabische Definition des Judentums gewiss eine historische Verkehrung darstellt, dies umso mehr, wenn man die Einflüsse des biblischen 67
Butler, Am Scheideweg, S. 41.
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und rabbinischen Judentums auf den Koran in Betracht zieht.68 Auch ist das hier beschworene Ideal des arabischen Juden eine ideologische Verklärung eines kulturellen und sozialen oder politischen Ideals, das es so nicht oder kaum gegeben hat. Dafür zeugen aufs Nachdrücklichste die Texte der orientalisch-jüdischen Schriftsteller, welche auch die islamisch-jüdische »Symbiose« als eine Fiktion bloßstellen, da vielmehr Unterdrückung und Diskriminierung der Juden im islamischen Bereich periodisch nicht weniger ausgeprägt waren als im christlichen.69 Wie viel ernsthafter der zionistische Philosoph Eliezer Schweid hier argumentiert, soll unten noch deutlich werden.
2.2
Hat der Zionismus seine Ziele erreicht und somit seine Ära beendet?
Angesichts der gegenwärtigen Debatten um die Situation des Zionismus ist es angezeigt, nochmals zurückzublicken und zu fragen, ob der Zionismus – in seiner Vielfalt und mit seinen unterschiedlichen Anliegen – seine Ziele erreicht hat und somit berechtigterweise sein historisches Ende ausgerufen werden könnte. Ich werde um der Deutlichkeit willen an dieser Stelle nochmals Äußerungen der oben schon ausführlich besprochenen Autoren wiederholen, damit ein kompakteres Bild entsteht, vor dem die hier gestellte Frage, ob die Zeit des Zionismus abgelaufen sei, mehr Plastizität gewinnt. Das erste, was dieser Blick zurück zeigt, ist, dass der Zionismus nicht ein einziger ideologischer Block war, dass die frühen Zionisten ganz unterschiedliche Ziele verfolgten, wie aus den oben vorgetragenen Einzeldarstellungen deutlich geworden ist. Schaut man auf die dort formulierten Ziele, so kann man sehr wohl erkennen, dass das eine oder das andere Teilziel erreicht ist, aber keines-
68
Der Koran enthält zahlreiche biblische und nachbiblische Legenden über Abraham, wie wir sie aus der antiken jüdischen Midraschliteratur kennen. Vgl. dazu J. Bouman, Der Koran und die Juden, Darmstadt 1990; H. Speyer, Die biblischen Erzählungen im Qoran, Hildesheim 1961; Y. Moubarac, Abraham dans le Coran, Paris 1958; K. E. Grözinger, (Die Abrahamerzählungen in Judentum, Christentum und Islam) Exkurs: Religionen im Bildungsauftrag der Schule: Elemente einer religionswissenschaftlichen Hermeneutik, in: Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfaches, Analysen und Empfehlungen, v. Wolfgang Edelstein/Karl E. Grözinger, et al., Weinheim und Basel 2001, S. 112–142.
69
Vgl. dazu Elvira Grözinger, Der Zauber des Orients? Schilderungen der nicht-aschkenasischen Judenviertel in der zeitgenössischen Literatur, in: Pardes. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e. V., Ghetto: Räume und Grenzen im Judentum Heft 17 (2011), S. 157–174; dies., »Ex oriente lux«? Schilderungen der jüdischen Lebensräume in der modernen sephardischen Literatur, in: Christina Olszynski, Jan Schroeder, Chris W. Wilpert (Hg.), Heimat – Identität – Mobilität in der zeitgenössischen jüdischen Literatur, Wiesbaden 2015, S. 199–210.
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falls alle Probleme gelöst sind. Es wird also darauf ankommen, zu sehen, was erreicht und was noch nicht erreicht wurde, bevor man entscheidet, ob der Augenblick gekommen ist, den Zionismus als Ganzen zu verabschieden. Die Grundprobleme, welche die Notwendigkeit des Zionismus begründeten, waren nach der Sicht der zionistischen Gründungsväter die folgenden:
2.2.1 Die Judennot Bei allen frühen »Zionisten« kehrt als erstes und hauptsächliches Argument für die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes das Thema der »Judennot« wieder. So zum Beispiel bei Theodor Herzl in seinem Büchlein Der Judenstaat: »Die Notlage der Juden wird niemand leugnen. In allen Ländern, wo sie in merklicher Zahl leben, werden sie mehr oder weniger verfolgt. Die Gleichberechtigung ist zu ihren Ungunsten fast überall tatsächlich aufgehoben, wenn sie im Gesetze auch existiert. Schon die mittelhohen Stellen im Heer, in öffentlichen und privaten Aemtern sind ihnen unzugänglich. Man versucht sie aus dem Geschäfteverkehr hinauszudrängen: ›Kauft nicht bei Juden!‹ Die Angriffe in Parlamenten, Versammlungen, Presse, auf Kirchenkanzeln, auf der Straße, auf Reisen – Ausschließung aus gewissen Hotels – und selbst an Unterhaltungsorten mehren sie sich von Tag zu Tag. Die Verfolgungen haben verschiedenen Charakter nach Ländern und Gesellschaftskreisen. In Rußland werden Judendörfer gebrandschatzt, in Rumänien erschlägt man ein paar Menschen, in Deutschland prügelt man sie gelegentlich durch, in Oesterreich terrorisieren die Antisemiten das ganze öffentliche Leben, in Algerien treten Wanderhetzprediger auf, in Paris knöpft sich die sogenannte bessere Gesellschaft zu, die Cercles schließen sich gegen die Juden ab. Die Nuancen sind zahllos.«70 Der Ruf nach dem Boykott israelischer Waren und israelischer Universitäten in unseren Tagen klingt deshalb doch allzu vertraut. Herzl warnt auch nachdrücklich vor der Illusion, dass der Antisemitismus verschwinden werde, wenn sich die allgemeinen Lebensumstände bessern: »Man wird uns nicht in Ruhe lassen. Nach kurzen Perioden der Duldsamkeit erwacht immer und immer wieder die Feindseligkeit gegen uns. Unser Wohl-
70
Theodor Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Von Theodor Herzl. Doctor der Rechte, Leipzig-Wien 1896, S. 21; s. o. zu Th. Herzl, Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, III, 3.
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ergehen scheint etwas Aufreizendes zu enthalten, weil die Welt seit vielen Jahrhunderten gewohnt war, in uns die Verächtlichsten unter den Armen zu sehen.«71 Nur in einem Punkt hat sich auch Herzl geirrt, wenn er glaubte, dass mit der Errichtung des Judenstaates oder schon mit der Auswanderung der Juden in diesen Staat das »Ende des Antisemitismus gekommen sei.«72 Die von ihm sarkastisch gepriesene Vielgesichtigkeit und Wandelbarkeit des Antisemitismus hat sich in unseren Tagen in die Gestalt des Hasses auf den Judenstaat verwandelt, in die verharmlosende Formel des Antizionismus und die weltweite Kritikobsession an der Politik dieses Staates. Der Antisemitismus hat noch kein Ende genommen und es ist nicht abzusehen, dass er dies wird, zumal der islamische Antisemitismus neue, eliminatorische Formen angenommen hat. Damit bleibt eines der Hauptanliegen des Zionismus bestehen, unabhängig von der politischen Entwicklung im heutigen Israel. Dieser Staat wird, aufgrund des Rückkehrergesetzes, der Ort in der Welt sein, in dem jeder Jude jederzeit Schutz finden wird. Leon Pinsker (1821–1891) fügt diesem Befund von der äußeren Bedrückung noch eine innere, psychologische Seite hinzu. Nach seiner Auffassung hat die notorische Außenseiter-Situation der Juden zu einem gestörten Verhältnis der Juden zu sich selbst und zu einer mangelnden Selbstachtung geführt: »Wenn wir mißhandelt, beraubt, geplündert, geschändet werden, dann wagen wir es nicht, uns zu verteidigen und, was noch schlimmer ist, fast finden wir es so in der Ordnung. Schlägt man uns ins Gesicht, so kühlen wir die brennende Wange mit kaltem Wasser, und hat man uns eine blutige Wunde beigebracht, so legen wir einen Verband an. Werden wir hinausgeworfen aus dem Hause, das wir selbst gebaut, so flehen wir demütig um Gnade, und gelingt es uns nicht, das Herz unseres Drängers zu erweichen, so ziehen wir weiter und suchen – ein anderes Exil.«73 Gerade in diesem Punkt, der Selbstachtung und des Selbstbewusstseins, hat die Existenz des Staates Israel gewiss bei den meisten Juden weltweit eine grundlegende Veränderung bewirkt, dies umso mehr seit dem Sechstagekrieg von 1967, der aber, wie die folgenden Kapitel zur Schoah zeigen werden, zugleich das Fa-
71
Herzl, Judenstaat, S. 26.
72
Herzl, Judenstaat, S. 16.
73
Leon Pinsker, Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden, Berlin 1882, Ausgabe Berlin 1934, S. 15; vgl. o. zu Pinsker, Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, II, 2.
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nal eines zweiten Genozid am israelischen Judentum an den Horizont gemalt hatte. Herzl und Pinsker schrieben vor der Schoah. Nach ihr zeigt sich die von ihnen gezeichnete Situation in weit verschärftem Maße und die Existenz dieses jüdischen Staates, der die vollkommene jüdische Souveränität und Vollmacht besitzt, über die Einwanderungsregeln dieses Landes zu bestimmen, erscheint umso dringlicher. Das Verschwinden dieses Staates, würde wohl bald zur alten Situation zurückführen, selbst sein »Untergang« in einem binationalen oder multinationalen Staat, würde diese unverzichtbare Sicherung des offenen Zugangs für alle gefährdeten Juden weltweit in Frage stellen. Die Erhaltung der Verflechtung von Diaspora und Judenstaat, der gesamtjüdischen Grundlage und Verankerung dieses Staates, muss zur Sicherung gegen das fortdauernde Problem des Antisemitismus als anhaltende Aufgabe und damit weiter bestehendem zionistischem Anliegen betrachtet werden.
2.2.2 Die Not des Judentums Eine grundlegend andere Erwartung richtete Achad Haam an den Zionismus. Nach seiner Auffassung war die Not seiner Zeit in allererster Linie der beklagenswerte Zustand des Judentums. Natürlich sah auch er die Notlage der einzelnen Juden, aber noch mehr litt er unter dem Niedergang des Judentums als geistig-kultureller Größe. Dieser Niedergang, so Achad Haam, war die Folge der Öffnung der Ghettomauern und der daraus resultierenden Assimilation. Sie wurde umso stärker fühlbar, als die Religion ihre traditionelle Bindekraft zunehmend verloren hat und weiter verlieren wird. Er sagte dazu einmal: »Unser Exil hat zwei Gesichter: Ein materielles und ein geistiges. Auf der einen Seite bedrückt es die einzelnen Menschen unseres Volkes in ihrem materiellen Leben, indem es ihnen die Möglichkeit verweigert in voller Freiheit wie die anderen Menschen ihren Existenzkampf zu bestreiten, jeder gemäß seiner Fähigkeiten; und andrerseits bedrückt es nicht weniger die Gesamtheit unseres Volkes in seinem geistigen Leben, indem es ihm die Möglichkeit verweigert, sein nationales Wesen gemäß seinem Geiste zu bewahren und zu entwickeln. Dieser geistige Druck […] wird insbesondere in unserer Zeit besonders schwer, nachdem das Leben die kunstvolle ›Mauer‹ eingerissen hat, welche den Geist unseres Volkes in den vergangenen Generationen beschützte, um ein Leben gemäß seines eigenen Wesens zu führen. Wir aber und unser nationales Leben sind nun dem Geist der uns umgebenden Völker versklavt, so dass wir unser eigenes nationales Wesen nicht mehr vor einer
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grundlegenden Zerstörung bewahren können, dies weil wir gezwungen sind uns dem Geist des fremden Lebens zu unterwerfen, das stärker ist als wir.«74 Diese von Achad Haam angesprochene Problematik besteht bis heute überall dort, wo Judentum nicht über die Religion definiert wird. Was kann es ohne die Religion noch sein, was als das spezifisch Jüdische in einer Umwelt rechtlicher und kultureller Gleichberechtigung zu betrachten wäre? Wie ist in einer solchen Situation das Festhalten am Judentum dann noch zu rechtfertigen? Gibt es kein Kennzeichen des Jüdischen mehr, so kann man das Judentum getrost aufgeben und in den Völkern aufgehen lassen. Dies ist aber etwas, was weder die jüdische Umwelt, und noch weniger das jüdische Gefühl zulassen möchte. Achad Haam glaubte, dass die meisten Juden, trotz des Verlustes der Religion und trotz des Fehlens einer umfassenden jüdischen Kultur am Judentum festhalten wollen, ohne aber zu wissen, worin denn ihr Judentum besteht. Die rein ethnisch-biologische Zugehörigkeit reicht dafür offenbar nicht aus. Um dieses unbewusste jüdische Bedürfnis nach Erhaltung des Judentums zu beschreiben greift Achad Haam zu einer Äußerung des einstigen Hamburger Rabbiners Seligmann: »Warum wir Juden sind? Warum wir Juden sein müssen? Warum? Thörichte Frage! Frage das Feuer, warum es brennt! Frage die Sonne, warum sie scheint! Frage den Baum, warum er wächst! Frage den Löwen, warum er brüllt! Frage den Menschen, warum er liebt! So frage den Juden, warum er Jude ist. Wir können nicht anders! Es ist in uns ohne unser Zuthun! Es ist da, urlebendig und gottesgewaltig; Es ist das Gesetz unserer Natur! […] Wir können uns nicht […] losreißen von den Wurzeln unseres Seins. […] Dreitausend Jahre Weltgeschichte haben es bewiesen, daß es unmöglich ist, die jüdische Volksseele zu vernichten.«75 Das Problem, das Achad Haam beschreibt, ist die Not von Menschen, die Juden sind und bleiben wollen, dies aber nicht begründen und nicht wirklich leben können. Dieser kulturellen jüdischen Problematik abzuhelfen, ist nach Auffassung von Achad Haam die Aufgabe des Zionismus. Allerdings glaubte Achad Haam im Gegensatz zu Herzl nicht daran, dass es je ein Ende der jüdischen Diaspora geben werde. Nach seiner Auffassung werden viele Juden immer in der Diaspora bleiben. Um denen, die keine Religion mehr haben, dennoch ein jüdisches Bewusstsein und jüdisches Wesen zu vermitteln, meinte Achad Haam, es 74
H. J. Roth, Kol Kitve ’Aḥad Ha-‘Am, Tel Aviv-Jerusalem 1965 (8. Aufl.), S. 380b; vgl. o. zu
75
Seligmann, in: Populär-wissenschaftliche Monatsblätter zur Belehrung über das Judentum für
Achad Haam, Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, IV, 4.1. Gebildete aller Konfessionen, vom 1.1. 1898, 18. Jg. Nummer 1, S. 1–4, hier, S. 2.
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müsse ein geistig-kulturelles Zentrum im alten Mutterland des Judentums geben. Und wie ein Kreis weder ohne Peripherie noch ohne Mittelpunkt denkbar ist, so müsse auch das neue Judentum seine Peripherie in der Diaspora haben und sein geistig-kulturelles Zentrum in Erez Jisrael. Das Besondere dieser Konzeption ist die gegenseitige Verbundenheit, Abhängigkeit und aufeinander Angewiesensein von Mutterland und Diaspora. Diese Analyse der jüdischen Situation ohne Religion ist wie gesagt bis heute gültig. Weltweit ringen Juden um eine Neudefinition ihres Judeseins außerhalb der Religion. Lange hatte es den Anschein, dass die Lösung von Achad Haam, von kultureller Peripherie und Zentrum, Realität werden könnte. Weltweit hat der Staat Israel mit seiner jüdisch-säkularen Kultur eine Identitätskraft entfaltet, die aber doch von vielen so nicht wahrgenommen wird. Dennoch, die eine Grundauffassung von Achad Haam hat ihre Richtigkeit behalten: Diaspora und Mutterland sind auch kulturell aufeinander verwiesen und angewiesen. Wo man Judentum umfassend denkt, kann man nicht einige Teile herausschneiden, wovor Heinrich Margulies nachdrücklich warnte. Judentum als kulturelle Kategorien zu erkennen – zu der auch die Religion als Kulturfaktor hinzugehört – war eine genuine Aufgabe des Achad Haamʼschen Kulturzionismus, die heute noch so brennend ist wie vor hundert Jahren. – Eliezer Schweid hat dazu eine eigene Variante vorgeschlagen, wie unten noch deutlich werden wird.
2.2.3 Die religiöse Erlösungsnot Es gibt jüdische Gruppen, welche die nichtreligiösen Juden als gleichsam verlorenen Teil Israels aufgeben. Sie sehen wie der oben genannte orthodoxe Buchautor in Theodor Herzl einen Pseudomessias und lehnen den Staat Israel ab und gehen sogar Koalitionen mit erklärten Feinden Israels ein – so zum Beispiel die ultraorthodoxen Neture Karta (Wächter der Stadt) in Jerusalem.76 Hier ist man also bereit, das Judentum aufzuteilen, sich selbst als den wahren Rest zu betrachten, und die anderen aufzugeben. Nicht so tun dies diejenigen Gruppen, die man unter dem Begriff des religiösen Zionismus zusammenfasst. Der eigentliche Vater dieses religiösen Zionismus ist der oben ausführlich dargestellte ehemalige serbische Rabbiner Jehuda Alkalai (1798–1878). Alkalai hat aufgrund der einfachen apokalyptischen Rechnung, dass im Jahr 6.000 der 76
Zur Ablehnung des Staates Israel durch die sogenannten Neture Karta (Hüter der Stadt), die Satmarer Ḥasidim und die ʽEda ḥaredit (Gemeinde der Gottesfürchtigen) in Jerusalem siehe die ausführliche Studie von A. Ravitzky, Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, Chicago & London 1996; verschiedene kritische Stimmen auch bei M. Morgenstern (Hg. und Einführung), Kampf um den Staat. Religion und Nationalismus in Israel, Frankfurt a. M. 1990.
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jüdischen Zeitrechnung die Welt zuende gehen müsse – also im Jahre 2239 unserer Zeitrechnung – eine religiös-zionistische Erlösungsstrategie entwickelt. In diese Erlösungsstrategie hat Alkalai alle Juden einbezogen, auch die nichtreligiösen. Gestützt auf alte Messiasvorstellungen entwickelte er Pläne, nach welchen die Juden das Kommen des Messias beschleunigen und vorbereiten können und sollen. Eine der wichtigsten Bedingungen dafür war nach seiner Vorstellung eine kollektive Teschuva, das heißt eine Umkehr ganz Israels, die nichts anderes sei als die Rückkehr der Juden in das Land ihrer Väter. Hinzu kommen Elemente der politischen Tätigkeit, wie sie etwa den Aktivitäten von Theodor Herzl und der zionistischen Weltorganisation entsprachen. In Palästina wurde dieses Denken von dem ersten aschkenasischen Oberrabbiner Palästinas, dem gleichfalls oben vorgestellten Rabbi Avraham Jizchak Kuk (1865–1935), aufgenommen und vertieft. Kuks Schüler haben dieses Denken dann weiterentwickelt und daraus die theologischen Grundlagen für die heutige Siedlerbewegung gesponnen. Wie immer man zu Letzterem steht, für den hiesigen Zusammenhang ist es wichtig, dass die Denker des religiösen Zionismus – z. B. der Mizrachi-Bewegung77 – in gesamtjüdischen Kategorien dachten und die säkularen Juden als Teil dieses göttlichen Erlösungsprogrammes verstanden. Hier wird also die altjüdische Messiaserwartung in verwandelter Form ernst genommen und zwar unter bewusster Einbeziehung auch der nichtreligiösen Juden. Dies ist eine religiöse Sicht der Einheit der Juden und der Wille, keine Trennung innerhalb des Judentums zu dulden.
2.2.4 Der Friede mit der arabischen Bevölkerung Palästinas Für viele zionistische Denker, darunter Martin Buber und sein Kreis, aber auch nachdrücklich Heinrich Margulies – auf der Basis wirtschaftlicher Kooperation78 – sahen in der friedlichen Übereinkunft mit der arabischen Bevölkerung Palästinas ein vordringliches Problem des Zionismus. Dass dieses Ziel bis heute nicht erreicht ist, braucht nicht eigens dargelegt zu werden.
2.2.5 Das Resultat Will man zusammenfassend das Gemeinsame dieser sehr unterschiedlichen zionistischen Konzeptionen herausheben, so ist dies eindeutig der Wille, die Einheit des Judentums zu wahren. Der alte Satz, dass ganz Israel füreinander bürgen soll, wird hier in einer zunächst säkularen und dann zionistisch religiösen Formel 77
Zu ihr s. D. Schwartz, Religious-Zionism. History and Ideology, Boston 2009.
78
Vgl. Röhl, Es gibt kein Himmelreich, S. 195–221.
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wieder belebt. Auch dem Versuch der säkularen Juden in Israel, einen Modus vivendi mit den Orthodoxen zu finden, liegt dieses Bestreben zugrunde. In einem Zeitalter, in dem die jüdische Religion ihre alle Juden umfassende Bindekraft für alle Juden verloren hat, ist der Zionismus in seinen verschiedenen Formen und Ansätzen, der Versuch, Judentum neu als Einheit zu denken, so wie dies ja auch Eliezer Schweid versucht.79 Die Diaspora braucht den Staat Israel zum einen als physische Rückversicherung, als Rettungshafen in einer Welt, in welcher der Antisemitismus nicht ausstirbt. Des Weiteren brauchen viele säkulare Juden Israel wenigstens als Symbol für eine jüdische Befindlichkeit auch ohne Religion und auch als kulturelles Zentrum, wie dies Achad Haam gefordert hatte. Aber auch Israel braucht die Diaspora, nicht nur als Finanzier seines weiteren Aufbaus, nicht nur als politische Anwaltschaft an den unterschiedlichen Orten der Welt. Israel braucht die Diaspora auch als Gewissen und als Mahner. Wo sich Diaspora und Israel gegeneinander abkapseln, sind diese gegenseitigen Einflüsse nicht mehr möglich, ist auch das Empfinden einer Verantwortung füreinander nicht mehr gegeben. Das würde zur Aufgabe des Gedankens der Einheit Israels, wie der Einheit des Judentums führen, und dann kann man auch das Judentum aufgegeben. Aus alledem ergibt sich, daß zwar die Geschichte seit den ersten zionistischen Tagen vorangeschritten ist, nicht aber viele der Befindlichkeiten auf der jüdischen wie auf der nichtjüdischen Seite. Das heißt, viele der Strukturen, die zum Zionismus geführt haben, sind auch heute noch vorhanden und werden sich – angesichts der grundlegenden Unveränderbarkeit der Menschen – nicht verändern. Woraus folgt, dass die Gründe, die zum Zionismus führten, – trotz des bedeutenden Etappensieges der Staatsgründung – auch heute noch bestehen und es darum als voreilig erscheint, das Ende des Zionismus zu propagieren. Dies gilt wie gesagt umso mehr nach der Schoah, wie die im Folgenden zu besprechenden Autoren eindrucksvoll demonstrieren.
79
Siehe das folgende Kapitel zu Eliezer Schweid.
IX. »JÜDISCHER NATIONALISMUS« NACH DER GRÜNDUNG DES STAATES ISRAEL UND NACH DEM SECHS-TAGE-KRIEG VON 1967 ELIEZER SCHWEID (GEB. 1929) 1.
Biographische Notiz
Eliezer Schweid, einer der produktivsten hebräischen Philosophiehistoriker und Philosophen, lehrte an der Hebräischen Universität zu Jerusalem. Er wurde 1929 in Jerusalem geboren, war von 1947–48 Soldat in der Hagana (»Verteidigung«, Vorläuferin der israelischen Armee, in der Abteilung Palmach1). Von 1948 bis 1953 war er Mitglied des Kibbuz Zorʽa (im Korridor nach Jerusalem) und dort in der Kibbuzvereinigung für Erziehungsfragen zuständig. In dieser Funktion begann er, zu Fragen der Erziehung, Geschichte und Literatur zu publizieren sowie Zeitschriften herauszugeben. Sein 1953 an der Hebräischen Universität begonnenes Studium der jüdischen Philosophie, Kabbala und Geschichte des Volkes Israel beendete er 1963 mit der Promotion zur mittelalterlichen jüdischen Philosophie. Seit 1972 lehrte er an dieser Universität als Professor für jüdische Philosophie, ab 1976 als Lehrstuhlinhaber. Aus seiner Feder stammt die vierbändige hebräische Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne2 und eine Vielzahl weiterer Bücher und Essays zu allen Phasen des jüdischen Denkens, der Literatur, Gesellschaft und Erziehung.3
2.
Das ursprüngliche Ziel des »klassischen« Zionismus – ein Rückblick nach dem Sechstagekrieg von 1967
Der Sechstagekrieg im Jahre 1967 hat im jüdischen Bewusstsein der israelischen Bevölkerung wie in der Diaspora nicht gerade einen Neubeginn bewirkt, aber doch eine Phase der optimistischen Selbsttäuschung und Sorglosigkeit jäh abgebrochen. Er hat die Auffassung als Illusion erwiesen, dass nunmehr, nachdem der jüdische Staat gegründet sei, das zionistische Werk vollendet und die ersehnte Normalität des jüdischen Volkes erreicht sei. Eliezer Schweid, hat im Jahre 1972, nur 24 Jahre nach der Gründung des Staates Israel, ein kleines hebräisches
1
Akronym für Pelugot Maḥaz, Sturmtruppe.
2
E. Schweid, Toledot Filosofijat ha-Dat ha-jehudit bi-Seman he-ḥadasch, Tel Aviv 2001–2006
3
Eine ausführliche Bibliographie von Schweid findet man in der hebräischen Wikipedia unter
(Bd. 3 besteht aus zwei Teilbänden). dem Namen von Schweid, ebenso zu englischen Publikationen in der englischen Version der Wikipedia.
Eliezer Schweid
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Büchlein unter dem Titel Jüdische Nationalität4 veröffentlicht, in dem er sich diesen Illusionen entgegenstellt, und versucht, die wesentlichsten Eckdaten des Zionismus nach der Staatsgründung und nach der Bedrohung dieses Staates durch den genannten – und die folgenden – Kriege abzumessen. Damit kann dieses schmale Bändchen zugleich als eine vorausgenommene Antwort auf die meist mit einem nur sehr kurzen oder politisch gefärbten historischen Gedächtnis ausgestatteten modernen Postzionisten5 betrachtet werden. Schweid beginnt seinen Essay mit einer Zusammenfassung der ursprünglichen Ziele des Zionismus, anhand der er nachfolgend das bis dato Erreichte misst und bewertet. Diese Ziele des Zionismus waren demnach: »Das ursprüngliche Ziel des Zionismus war es, eine umfassende und vollständige Lösung für die besonderen Probleme der Existenz des jüdischen Volkes in der Neuzeit vorzuschlagen. Vor dem Hintergrund des Zerfalls der jüdischen Gemeindestrukturen und des Zusammenbruchs ihrer Autorität, sowie vor dem Hintergrund der zunehmenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischer Not des osteuropäischen Judentums und der voranschreitenden Assimilation im Westen, angesichts der sich verunklarenden jüdischen Identität und des Schwindens der Bindungen an das geistige Erbe des Judentums, sowie der besorgniserregenden Zunahme des Judenhasses, beabsichtigte die zionistische Bewegung, das jüdische Volk in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht einer Gesundung zuzuführen und ihm eine dauernde Weiterführung eines unabhängigen Lebens und Schaffens zu sichern, den ihm entgegenschlagenden Hass zu beenden und zwar durch die Einsammlung in seiner Heimat (Moledet) und der Schaffung einer unabhängigen staatlichen und gesellschaftlichen Basis für all sein Tun. Das Volk Israel muss wieder ein Volk ›wie alle Völker‹ werden, eine Nation, die ein fester staatlicher Körper trägt und für deren Existenz bürgt, für ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen. Andernfalls sei seine völlige physische und geistige Zerstörung zu erwarten, wegen der Assimilation von innen und der Verfolgungen von außen.« 6
4
E. Schweid, Leʼumijut jehudit, Jerusalem 1972 (hier als »Schweid, Nationalismus« zitiert nach
5
Als Beispiel zu dieser ideologisch verkürzten historischen Erinnerung vergleiche man meine
der 2. Aufl. 1976). oben genannte Besprechung des Buches von Shlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, unter dem Titel: Geschichtsschreibung als politischer Kampf, in: SPME Archives; July 6, 2010, No. 6946; http://spme.net/cgibin/articles.cgi?ID=6946 6
Schweid, Nationalismus, S. 7.
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Die in diesem Passus zusammengefassten Ziele des Zionismus zeigen, dass Schweid nicht nur einen einzelnen der oben gezeichneten unterschiedlichen Stränge des Zionismus als dessen Gesamtheit nimmt, sondern dass er alle zionistischen Strömungen als komplementäre Vorhaben in einen einzigen Strom zusammenfasst, woraus sogleich erkennbar wird, dass auch nach der Staatsgründung allenfalls einige, aber noch nicht alle diese Ziele erreicht wurden. Gegen den vorschnellen Einwand, dass doch das meiste und wichtigste erreicht sei, bietet Schweid eine Reihe von Überlegungen und Analysen, die zeigen, dass mit der Staatsgründung allenfalls ein wichtiger Anfang zur Erreichung der zionistischen Ziele gelungen ist, nicht aber wirklich deren Gesamtheit vollendet wurde, weshalb es tatsächlich zu früh wäre, von einem Ende des Zionismus zu sprechen.
3.
Eine Bestandsaufnahme des Erreichten – Fortbestand der alten Probleme
Den vermeintlichen erfolgreichen Abschluss der ursprünglich gesteckten zionistischen Ziele kann Schweid nur als eine um sich greifende Sorglosigkeit der Beteiligten in Israel wie auch in der Diaspora nach erfolgter Konsolidierung eines jüdischen Staates verstehen, die allerdings mit dem Ereignis des Sechstagekrieges grundlegend erschüttert wurde. In diesem Krieg wurde sichtbar, dass mit der Staatsgründung das physische Überleben des Volkes Israel in keiner Weise als gesichert erscheinen konnte. Das Land Israel erscheint nach diesem Krieg nicht mehr als »der sichere Zufluchtsort« für das jüdische Volk, wie ihn die Zionisten erhofften. Es ist im Gegenteil gegenwärtig gerade der Staat Israel selbst, der im Zentrum der Frage nach der Weiterexistenz des jüdischen Volkes steht.7 Denn dieser Krieg, wie auch weitere Äußerungen von arabischer Seite, zeigten, dass es den angreifenden arabischen Armeen und Sprechern nicht nur um die Beseitigung des israelischen beziehungsweisen jüdischen Staates geht, sondern um mehr, nämlich um die Vernichtung seiner jüdischen Bevölkerung. Das schon immer vorhandene theoretische Wissen um dieses nicht nur politische, sondern ethnische Vorhaben der Nachbarstaaten, wurde, so Schweid, durch den Sechstagekrieg im Bewusstsein der israelischen wie der diasporischen Judenheit zu einer alltäglichen realen Bedrohung.8 Die Gewissheit, um diese physische, nicht nur politisch-staatliche Bedrohung, für die man in absehbarer Zeit keine Veränderung erwarten könne, bedeutet, so Schweid, auch für die Pazifisten in seinem Lande, die Notwendigkeit, sich von ihren Illusionen zu verabschieden:
7
Schweid, Nationalismus, S. 19.
8
Schweid, Nationalismus, S. 11.
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»Es gibt niemanden mehr, der sich in dieser Hinsicht für die Gegenwart noch Illusionen hingibt. So ist es eine einfache Tatsache, dass sich die Kontrahenten über die Politik der Regierung in den ›besetzten Gebieten‹ nicht uneins sind, wie auch nicht über die Vermeidung jeglichen Rückzuges vor einer Übereinkunft. Denn diese Politik beruht auf der Annahme, dass es in der Gegenwart keinerlei Hoffnung auf eine grundlegende Änderung der extremen Gegnerschaft der Araber gegen die Existenz Israels gibt.«9 Zu dieser konkreten physischen Bedrohung der jüdischen Bevölkerung Israels kommt nach der Sicht von Schweid noch ein anderes Motiv, das der Krieg zum wiederholten Male und erneut in das Gedächtnis eingeprägt hatte, nämlich die »Einsamkeit des Staates Israel« zwischen den Völkern und Staaten dieser Welt. Dies ist eine Einsamkeit, welche schon die zionistische Bewegung empfinden musste, denn selbst da, wo Mächte wie Groß-Britannien nach dem Ersten Weltkrieg, oder Russland nach dem Zweiten, aus eigenen Interessenserwägungen sich auf die Seite der Juden stellten, waren dies eben nur vorübergehende, auf den eigenen Vorteil bedachte Unterstützungen, die nicht grundsätzlich, unzweideutig und anhaltend waren. Ähnliches sieht Schweid auf Seiten der USA. Das Resultat dieser politischen Erfahrungen lautet daher: »Dies ist deshalb, wie es scheint, heutzutage das grundlegende Axiom der israelischen Politik, dem niemand widerspricht: Unser Schicksal hängt einzig und alleine an unserer eigenen Bereitschaft zum Handeln und daran unsere halbherzigen ›Freunde‹ zu jeglicher, auch nur begrenzter, Hilfe zu nötigen.«10 Es ist dieses Gefühl der letztlichen Einsamkeit und nur bedingten Unterstützung durch befreundete Mächte sowie die Erfahrung, dass das Erreichte allein durch eigenes Beharren und Drängen erlangt wurde, welches die israelische Tagespolitik bis in die Gegenwart charakterisiert und die Außenstehenden oft befremdet. Ein weiterer Faktor, der die jüdischen Geschichte seit jeher begleitete, und von dem man gehofft, oder gar geglaubt hatte, er sei oder werde durch die Gründung des jüdischen Staates verschwinden und weltweit zu einer Normalisierung der conditio judaica führen, ist nach wie vor aktiv, nämlich der aus der Latenz wieder in alle Öffentlichkeit getretene Antisemitismus. Das bedeutet, auch hinsichtlich dieser schmerzlichen Problematik hat der Zionismus eines seiner wesentlichsten Ziele nicht erreicht. Auch dies wurde durch den Sechstagekrieg wieder deutlich und in das allgemeine jüdische Bewusstsein gehoben:
9
Schweid, Nationalismus, S. 11.
10
Schweid, Nationalismus, S. 12.
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»Der Antisemitismus ist nicht verschwunden, sondern ist nur vorübergehend unter seine Existenz in organisierter öffentlicher Form abgetaucht. Die meisten Juden wollten diese Tatsachen dennoch nicht sehen. Es war angenehmer, sie nicht wahrzunehmen, oder an ihr Verschwinden zu glauben. Der Sechstagekrieg hat diese Illusion der ›Normalisierung‹ in Israel wie in der Diaspora zerplatzen lassen. In Israel ist die Tatsache in das Bewusstsein gedrungen, dass die Feindschaft der Araber ihm gegenüber, einfach Antisemitismus, in seiner vollsten emotionalen wie ideologischen Bedeutung ist. Das heißt: Wir haben eine aktive antisemitische Bewegung vor uns, welche in aller Öffentlichkeit die Politik der meisten Staaten in der Region steuert. Das bedeutet, dass die Existenz der jüdischen Bevölkerung in Israel fern von jeglicher Normalisierung ist, weil der Antisemitismus ihrer Umgebung direkten und entscheidenden Einfluss auf ihr tägliches Leben hat.«11 Diesen Antisemitismus sieht Schweid nicht nur in den arabischen Nachbarstaaten, vielmehr haben auch die Juden in der Diaspora wahrnehmen müssen, dass der Antisemitismus selbst nach Auschwitz ein wirksamer Faktor im Verhalten der Völker gegenüber den Juden geblieben ist. Schweid nennt in diesem Zusammenhang – er schrieb dies 1972 /1976 – die antisemitischen Aufbrüche in den Staaten Osteuropas, in Frankreich, Deutschland und sogar in den USA. Schon damals sah Schweid, was zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum mehr zu übersehen ist, dass es in der modernen Gegenwart geradezu dieser Staat Israel selbst ist, der zum Mittel und Werkzeug antisemitischer Einstellungen avancierte und dies nicht nur bei den arabischen oder muslimischen Nachbarn. Einen Grund für diese Entwicklung, nämlich die Verwendung der Politik als Instrument des Antisemitismus, sieht Schweid in der Neutralisierung der Religion als ehemals wirksamem antisemitischem Argument, weshalb die Antisemiten weltweit nunmehr die Religion durch die Politik als Instrument ihrer antijüdischen Propaganda ersetzen: »Die Gegnerschaft gegen den Staat Israel wurde nunmehr zu einem Element, das den latenten Antisemitismus in den Ländern des Exils befeuerte. Sie hat auch den arabischen Antisemitismus geschaffen. Sie entfachte den Antisemitismus im kommunistischen Block, hat ihn neuerlich in Frankreich wiederbelebt, und wer weiß wie dies weitergehen wird. Noch mehr als dies. Die Gegnerschaft wider den Staat Israel hat dem wiedererwachten Antisemitismus seine ideologischen Muster geliehen. In den Staaten des kommunistischen Blocks und in demokratischen Staaten des Westens wie Frankreich, konnte eine rassistische oder religiöse Ideologie nicht länger eine erfolgversprechen11
Schweid, Nationalismus, S. 13.
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de Argumentations-Basis für den Antisemitismus bilden. Für eine solche Rolle taugte nun aber umso mehr eine politische Ideologie, die selbst den reinsten demokratischen und humanistischen Theoretikern als dafür brauchbar erschien. Deshalb erscheint der Antisemitismus nun im politischen Gewand, als Gegnerschaft gegen den Zionismus und den Staat Israel. Das paradoxe Resultat ist, dass der Staat Israel somit de facto sogar die Funktion der DeNormalisierung im Leben des Volkes Israel übernehmen musste – und dies innerhalb wie außerhalb. Der Staat Israel […] erleidet stellvertretend nunmehr auch die Tatsache der tragischen Einsamkeit und zwingt auch die Juden im Exil zu angespannten Beziehungen mit ihrer Umwelt, selbst in solchen Staaten, in denen ihnen der Weg der Integration offen steht.«12 Mit diesen Worten klassifiziert Schweid den grassierenden Anti-Israelismus als eine neue Form des Antisemitismus, der nur sein sprachliches und ideologisches Inventar von der Religion auf die Politik verschoben habe.
4.
Das Judentum – die nicht verstandene Nationalität
4.1
Das mangelnde Verstehen der Eigenart jüdischer Existenz
Eines der zentralen Probleme, mit welchem das jüdische Volk im Umgang mit den Völkern dieser Welt und in der Durchsetzung seiner Ziele zu kämpfen hat, ist, so Schweid, das Unverständnis der wichtigsten Entscheidungs- und Meinungsträger dieser Welt hinsichtlich des wahren Charakters der jüdischen Nationalität, der sich nicht in die geläufigen Definitionen von Nation und Religion füge. Dies ist nach Auffassung von Schweid der eigentliche Grund, weshalb weithin die Lösung des jüdischen Problems in der Abschaffung der jüdischen Nationalität oder der jüdischen Religion oder beider zusammen gesehen wird, sprich die Auflösung der jüdischen Sonderexistenz. Das Nichtverstehen des jüdischen Begriffs von Nation und Religion ist nach Schweid darin begründet, dass die jüdische Religion eine Nationalreligion ist und die jüdische Nation andrerseits in der jüdischen Religion ihr Fundament hat. Schweid illustriert dieses Unverständnis der Weltöffentlichkeit gegenüber der Eigenart der jüdischen Nation und Religion an drei ideologischen Gruppierungen dieser Welt, welche ihre eigenen Vorstellungen von Religion und Nation nicht mit den jüdischen Auffassungen in Übereinstimmung bringen können. Gemeint sind die christlichen Konfessionen – katholisch und protestantisch, außerdem jene Gruppierungen, die er zusammenfassend die »Linke« nennt, und schließlich die neueren Nationalismen der Gegenwart. 12
Schweid, Nationalismus, S. 19.
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4.1.1 Die christlichen Kirchen Die christlichen Kirchen betrachten ihre eigene Religion als universale Heilsreligion, deren Wahrheit letztlich alle anderen Religionen – inklusive des Judentums – anerkennen müssten. Dies bedeutet, dass aus der Sicht der christlichen Religion, auch das Judentum als Religion überholt ist und sich folglich selbst aufgeben sollte. Zum anderen sehe sich das Christentum als eine universale Religion, die über den nationalen Begrenzungen steht, weshalb sie das Nationale als Basis für ihre universale Kultur recht eigentlich ablehnt. Das alles bedeutet: »Diese Einstellungen bezeugen ein grundsätzliches Unverständnis: Sie bezeugen ein Missverstehen der jüdischen Nationalität insofern sie bestrebt sind, deren religiöse Sonderstellung aufzuheben13. Dies bedeutet nicht nur ein Missverständnis der jüdischen Religion, sondern ebenso ein Missverstehen der jüdischen Nationalität, die auf der Religion gründet. Umgekehrt ist die Akzeptanz der jüdischen Religion qua Religion unter der gleichzeitigen Ablehnung von deren nationalem Charakter wiederum ein doppeltes Missverstehen, nämlich der jüdischen Nationalität zum einen und von deren Religion zum anderen, die ihrem Wesen nach national ist. Will ein Christ das Judentum wirklich verstehen und seine Eigenart akzeptieren, muss er als gläubiger Christ die Grundüberzeugung seiner eigenen religiösen Weltanschauung überwinden – wozu gegenwärtig nur wenige herausragende geistig mutige Menschen bereit sind.«14 An dieser Stelle muss vermerkt werden, dass Schweid mit seiner Analyse zum Wesen von jüdischer Religion und Nationalität nicht nur außerjüdische, sondern zugleich mehrere innerjüdische Zielscheiben hat, die er auch ausführlich benennt, was später noch skizziert werden soll.
4.1.2 Die internationale areligiöse »Linke« Die Position der areligiösen politischen Linken stellt sich für Schweid im Grunde als das seitenverkehrte Spiegelbild der christlichen Position dar. Zum einen ist für die nichtreligiöse Linke die Religion, und damit das Judentum als Religion, ohnehin ein Anachronismus, den es zu überwinden gilt. Und zum andern versteht sich auch die politische Linke als universalistische Bewegung und ist folglich gegen eine nationale Segregierung eingestellt, deren Zeit verflossen sei. Dies gel13
Z. B. durch die Konversion zum Christentum.
14
Schweid, Nationalismus, S. 24.
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te wiewohl diese Linke den nationalen Kampf vieler Völker gegen totalitaristische und kolonialistische und imperialistische Unterdrückung – als Zwischenstation – unterstütze. Eine solche pragmatisch-vorläufige Anerkennung auch der jüdischen Nationalbestrebungen könne aus der Sicht der Linken allerdings nicht auf die in Europa längst integrierten Juden zutreffen, die sich in ihren bereits internationalistisch ausgerichteten Bevölkerungen nicht mehr national abzusondern brauchten. Sprich, die jüdische Religion wie der jüdische Nationalismus sind aus Sicht dieser linken Gruppierungen überholt und obsolet.
4.1.3 Die modernen Nationalismen der Gegenwart – insbesondere die arabischen Die nationalen Bewegungen der arabischen Welt, die in gewisser Weise den Nationalbewegungen Europas im 19. Jahrhundert gleichen, betrachten die jüdische Nationalbewegung nicht als ihresgleichen, sondern als einen Nachklang der europäischen Nationalbewegungen, die deshalb ihren eigentlichen Ort in Europa hat.15 Der Anspruch der jüdischen Nationalbewegung, in Palästina zuhause zu sein, erscheint diesen arabischen Nationalismen folglich als ein Ausläufer der kolonialistisch ausgerichteten Nationen Europas, der darum negativ zu sehen ist, ganz im Gegenteil zum eigenen Nationalismus, der sich gegen die kolonialen Nationalismen der Europäer erst entfaltete. Diese Einschätzung des jüdischen Nationalismus durch die modernen Nationalbewegungen gilt in deren Augen umso mehr, als die Mehrzahl der Angehörigen dieser »jüdischen Nation« nicht in dem beanspruchten nationalen Territorium lebt, und der Teil, der tatsächlich dort angesiedelt ist, erst in jüngster Zeit – als Kolonisten – dahin gekommen war. Es ist diese Fehleinschätzung des jüdischen Nationalismus durch die arabischen Staaten der im Zentrum der jüdisch-arabischen Auseinandersetzungen steht: »Vor diesem Hintergrund entstand der Zusammenprall zwischen dem nationalen Anspruch des Volkes Israel auf das Land Israel und dem Anspruch der Araber Palästinas auf dasselbe Land. Und selbstverständlicherweise wird von diesem Standpunkt aus der jüdische Nationalismus mit dem westlichen Kolonialismus identifiziert und deshalb von Grund aus als negativ definiert, den es zu bekämpfen gilt.«16
15
Ein Echo dieser Auffassung ist die Forderung der sich als »Linke« bezeichnenden J. Butler, Israel in die EU aufzunehmen, die auch Micha Brumlik teilt, Brumlik, Kritik des Zionismus, S. 174, s. o.
16
Schweid, Nationalismus, S. 26.
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Trotz dieser pessimistischen Sicht sah Schweid auch arabische Führer, die zu einer Übereinkunft bereit waren, sofern es ausschließlich um die im Staat Israel lebenden beziehungsweise um die im ehemaligen Palästina ansässigen Juden geht. Das bedeutet, dass manche arabische Führer sich mit der nun einmal vorhandenen Präsenz einer jüdischen oder nach ihrer Definition richtiger, israelischen, Bevölkerung abfinden und mit dieser zu einem Abkommen bereit sind. Aber auch hier sieht Schweid ein Missverständnis, dessen Bekämpfung die israelische Tagespolitik bis heute nachhaltig bestimmt. Eine Kompromissbereitschaft von arabischer Seite, die im Heiligen Land ansässigen Juden als nationales Faktum, als israelische Nation, zu akzeptieren, hat aus Sicht Scheids den Mangel, dass »sie auf der Voraussetzung einer Trennung zwischen Israel [als Staat] und zwischen dem jüdischen Volk unterscheidet. Indem sie nämlich das nationale Recht der Israelis auf ihrem geographisch-staatlichen Bereich anerkennt und die Notwendigkeit sieht, sie in die arabische Region zu integrieren, anerkennt eine solche bedingte Kompromissbereitschaft zugleich nicht, dass das Land Israel die Heimat des gesamten jüdischen Volkes und ebenso der Staat Israel der Staat des ganzen jüdischen Volkes [nicht nur der israelischen Bevölkerung] ist. Die Beziehung zwischen den Juden der Diaspora und ihrem Land und Staat [Israel] wird von solchen gemäßigten nationalen Arabern als Kolonialismus definiert und somit als Beschränkung der Rechte der Araber. Daher fordern sie als Preis für die Anerkennung der Existenz des Staates Israel dessen Verzicht auf den Zionismus. Aber aus der Sicht des jüdischen Nationalismus wäre der Verzicht auf den Zionismus de facto der Verzicht auf das besondere nationale Wesen des israelischen Judentums und auf die historische Rechtfertigung zur Begründung des Staates Israel.«17 4.1.4 Falsches Selbstverständnis verschiedener jüdischer Gruppen Wie schon kurz angedeutet, muss Schweid mit seiner Sicht des Zusammenhangs von jüdischer Nation und Religion natürlich auch in Opposition zu einer ganzen Reihe jüdischer Richtungen stehen, denen er gleichermaßen ein falsches Verstehen der jüdischen Nationalität und Religion vorwirft. Ihnen allen hält Schweid vor, dass sie im Grunde die europäischen Maßstäbe und Auffassungen von Religion einerseits und von Nation andererseits übernommen haben. Wenn solche Gruppen sich selbst definieren, pflegen sie meist nur die eine Hälfte der beiden Pole, Religion oder Nation, für ihr Selbstverständnis zu beanspruchen, wodurch sie – so wirft Schweid ihnen vor – die Besonderheit der jüdischen Zwillingsnationalität, zu der stets die Religion hinzugehört, missverstehen. Zu solchen Grup-
17
Schweid, Nationalismus, S. 26.
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pen zählt nach seiner Auffassung zum Beispiel das Reformjudentum, das sein Judentum nur über die Religion im Sinne des europäischen Religionsbegriffs definiert. Hinzu gehört auch der säkulare Zionismus, der glaubt, seine Nationalität ohne Religion definieren zu können: »Das Nichtverstehen des Judentums als [Einheit von] Nation und Religion offenbart sich darum […] auch in der Sicht des Juden, der die europäische Sichtweise verinnerlicht hat und mit den Maßstäben seiner Umgebung nach Wegen einer Normalisierung sucht. So taten es die säkularen Zionisten, wenn wir sie einmal nicht nach dem de facto Erreichten bewerten wollen, sondern nach dem, was sie sich zum endgültigen Ziel gesetzt hatten. Der säkulare Zionismus war auf eine Normalisierung der Lebensbedingungen des jüdischen Volkes nach äußeren Kriterien aus. Er wollte einen jüdischen Staat nach europäischem Format errichten, in dem sich eine jüdische Nationalität entwickeln sollte, die von europäischen Werten durchdrungen ist.«18 Natürlich verweist Schweid hier vor allem auf Theodor Herzl, dessen Roman Altneuland tatsächlich ein schlagendes Beispiel für diese europäische Auffassung eines jüdischen Nationalstaates ist. Demgegenüber sieht Schweid in den von Männern wie Rav Kuk und A.D. Gordon vertretenen Ansichten Versuche in der richtigen Richtung.19 Schließlich können zu den ihre eigene jüdische Identität falsch verstehenden Menschen auch die vielen Israelis gezählt werden, die ihre Nationalität israelisch-staatlich und nicht allgemein jüdisch definieren wollen. Schweid kommt nach all diesen Ausführungen zu der durchaus traditionellen Schlussfeststellung: »Das Volk Israel ist, was sein Schicksal anbelangt, von allen Völkern verschieden. Es unterscheidet sich von allen Völkern auch durch die religiösnationale Eigenart seiner Kultur. Diese Tatsache erzeugt eine Spannung der Gegnerschaft zwischen ihm und seiner Umgebung und ebenso in seinem Innern sich selbst gegenüber. Aber gerade dadurch wird diese Besonderheit seines Schicksals und seines Wesens nur noch deutlicher hervorgehoben. Dies ist eine Tatsache, die anerkannt werden muss, will man zu einer Normalisierung des jüdischen Volkes nach seinen eigenen Kriterien kommen.«20
18
Schweid, Nationalismus, S. 30.
19
Zu beiden siehe oben die entsprechenden Kapitel, Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, VII
20
Schweid, Nationalismus, S. 32.
und V.
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Man wird angesichts von Schweids Darlegungen verwundert fragen mögen, weshalb er bei dieser Sicht der Dinge das ansonsten bei ihm sehr ausgeprägte historische Verstehen der unterschiedlichen Entwicklungen des Judentums an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten – man nehme zum Beispiel seine mehrbändige Geschichte der Religiösen Philosophie des Judentums21 – beiseiteschiebt und nicht zulassen will, dass sich das Judentum in Europa eben zu einem europäischen Judentum entwickelt hat und diese Entwicklungen nicht so ohne weiteres aus einer »dogmatisch-zentralistischen« Sicht kritisiert werden können. Wie allerdings aus dem Folgenden noch deutlich werden wird, ist es wohl gerade der Blick in die Geschichte und die Wahrnehmung der vielen Antagonismen und Widersprüche im Judentum, die Schweid fragen lässt, was es ist, was diese Vielfalt zusammenhielt und sie am Auseinanderbrechen hinderte. Und gerade dies will er in den Vordergrund stellen, um zu zeigen, was auch in Zukunft den Bruch und das Verschwinden des Judentums verhindern könne. Seine unzweideutige Antwort ist, dass das über allen Friktionen Verbindende der Wille zum Erhalt der Einheit des jüdischen Volkes und des Fortbestandes des Judentums als kulturelle Tradition ist. Es ist also die Fähigkeit, die auseinanderdriftenden jüdischen Richtungen – etwa Religiöse und völlig Säkulare, Reform und Orthodoxie, israelische Staatsnationale und Diasporajudentum – auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, oder eine gemeinsame Klammer für sie zu finden. Dieser Wille von Juden weltweit ist der indigene Faktor, der zu dem exogenen Faktor, das heißt der Behandlung durch die nichtjüdische Umwelt, hinzutritt, oder komplementär zu ihm steht. Dieser Zusammenhang der Juden in der Gegenwart und die Treue zur gesamten jüdischen Tradition ist für Schweid zugleich das wesentliche Argument, mit dem die zionistische Bewegung den Anspruch auf das Land Israel als Heimat des Jüdischen Volkes vertreten kann. Eine Frage, die gleichfalls im Folgenden noch erörtert werden wird.
5.
Die Einheit und gegenseitige Verantwortlichkeit des jüdischen Volkes als zentrales Element jüdischer Identität
Die zentrale Einsicht für die Notwendigkeit, die Einheit des jüdischen Volkes trotz der bestehenden inneren ideologischen Differenzen zu pflegen und zu stärken, lautet für Schweid wie folgt:
21
E. Schweid, Toledot Philosofijat ha-Dat ha-jehudit bi-Seman he-ḥadasch; u. vgl. ders., Likrat Tarbut jehudit modernit, Tel Aviv 1995; ders., Ha-Jehudi ha-boded we-ha-Jahadut, Tel Aviv 1975.
Eliezer Schweid
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»Die Identität des Volkes Israel, kann nur erhalten werden, wenn die Spannung der [internen] Gegensätze in einem gemeinsamen Rahmen, der zur Verantwortung für die Gesamtheit verpflichtet, verstetigt werden kann. Dies ist die Grundvoraussetzung, ohne welche der Ort des Zionismus und des Staates Israel im Leben des gesamten jüdischen Volkes in unserer Generation nicht zutreffend beurteilt werden kann.«22 Mit anderen Worten, Schweid will die inneren gesellschaftlichen, ideologischen und diasporischen wie staatlichen Differenzen nicht einebnen, sondern er fragt nur nach einem Rahmen, in dem sich das jüdische Volk trotz der historischen, gegenwärtigen wie künftigen Zerklüftung als ein Volk bewahren lässt. Damit will er zugleich sagen, dass die Identität des Juden sich nicht in den Teilaspekten wie Orthodoxie oder Reform oder gar Atheismus, wie diasporischer oder staatlich-israelischer Lebenswelt etc. erschöpfen kann und darf, weil dies eben nur Teilaspekte, und individuelle Präferenzen sind, die aber nicht das einheitliche jüdische Bewusstsein prägen können und dürfen, die vielmehr eher dazu angetan sind, jüdisches Bewusstsein als Ganzes zu zerstören – dies ist der Grund, weshalb Schweid etwa eine so extrem orthodoxe Position wie die von Avraham Jizchak Kuk als vorbildlich bezeichnen kann, weil eben Kuk, trotz seiner eigenen orthodoxen Position, die säkularen Zionisten seiner Tage nicht aus seinem Judentum ausklammern wollte. Positiv formuliert bedeuten die angeführten Worte von Schweid, dass das gesamtjüdische Verantwortungsbewusstsein aller Juden für alle, welcher Richtung sie auch angehören mögen, die ausschlaggebende Grundlage der jüdischen Identität darstellt. Diese gegenseitige Verantwortlichkeit rührt aus dem Bewusstsein der Einheit des jüdischen Volkes weltweit, die darum das oberste Ziel aller gegenwärtigen und künftigen Bemühungen sein muss. Das wichtigste und zentralste Bestreben aller jüdischen und damit zionistischen Aktivitäten muss deswegen dem Bewusstsein der Einheit dieses Volkes gelten. Denn Schweid ist überzeugt, dass diese Einheit, dieser Zusammenhalt, sich nicht als natürliche Entwicklung aus den Lebensverhältnissen der Juden ergibt, sondern dass daran eigens gearbeitet werden muss. Die natürliche Entwicklung der Dinge birgt dem gegenüber drei Gefahren, die nur durch aktives Gegensteuern zurückgedrängt werden kann. Diese drei Gefahren sind zum ersten: Die natürliche Tendenz der Lebensverhältnisse würde zu einer Trennung zwischen den Juden führen, welche im Staat Israel und jenen, die in der Diaspora leben. Die nächste Gefahr besteht in dem weltweit sichtbaren Riss zwischen den religiösen und den areligiösen säkularen Juden. Und die dritte Gefahr ist schließlich die selektive Wahrnehmung und nur pragmatisch-utilitaristische Rezeption 22
Schweid, Nationalismus, S. 65.
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der jüdischen Tradition, das heißt, dass man sich nur auf jene Teile der jüdischen Geschichte und Tradition beruft, die den eigenen Lebenszielen entsprechen und dienen. Diesen drei Gefahren gilt es, durch aktives Handeln zu begegnen. Die Begründung des Staates Israel hat, entgegen der Erwartungen der frühen Zionisten, die unabdingbare Einheit des jüdischen Volkes über diese Differenzen hinweg nicht erbracht. Weder sind alle Juden nach dem Modell des politischen Zionismus in den neuen Judenstaat übersiedelt, noch hat der Staat Israel nach dem kulturzionistischen Modell von Achad Haam die Funktion eines »Geistigen Zentrums« übernehmen können, dem es gelänge eine für alle Judenschaften attraktive und sie einende jüdische Kultur zu schaffen. Im Gegenteil: »Die beiden Lösungswege erscheinen nach der Staatsgründung als nicht genügend. Vielmehr ist gerade das Gegenteil der Anfangshoffnungen eingetreten. Die Staatsgründung führte zur verschärften Zementierung undurchlässiger Trennungen. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora wurde eine institutionell-körperschaftliche Trennung geschaffen. Die Diaspora-Juden, die früher in der jüdischen Siedlung im Lande Israel eine unmittelbare Fortführung der eigenen Aktivitäten sehen konnten, stehen nunmehr vor einer separierten staatlichen Größe. Mit der Folge, dass eine direkte Einmischung in deren Aktivitäten nunmehr sofort den Verdacht der ›doppelten Loyalität‹ erweckt. Das bedeutet, dass eine Wende eingetreten ist, die eindeutige Entscheidungen erfordert. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen den ›Religiösen‹ und den ›Säkularisten‹ hat die Schaffung eines gemeinsamen unabhängigen Rahmens eine Situation erzeugt, welche von jedem Einzelnen Entscheidungen in Fragen fordert, die sein persönliches Leben betreffen. Und vor diesem Hintergrundspitzten sich die Gegensätze bis zur Feindschaft zu. Was schließlich die Beziehung zum Erbe der Vergangenheit betrifft, beeinflusst die Polarisierung zwischen Israel und Diaspora, zwischen Religiösen und Säkularisten die Bezugnahme jedes dieser Parteiungen auf die Geschichte und die Kultur …«23 Trotz dieser skeptischen Lagebeurteilung ist Schweid jedoch der Meinung, dass in beiden betroffenen Lagern, Staatsvolk Israels und Diaspora, Einmütigkeit darüber besteht, dass nach der Schaffung der bestehenden Fakten eine Einheit des jüdischen Volkes nur unter Einbeziehung dieses Staates möglich ist, eine Einrichtung, welche angesichts der Umstände der Zeit unumgänglich war und noch ist. Das ist so, weil zum einen nur durch diesen Staat ein sich über alle Lebensbereiche erstreckendes jüdisches Kulturschaffen fortgeführt werden kann, welches 23
Schweid, Nationalismus, S. 71.
Eliezer Schweid
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dessen Eigenart und Kohärenz sichert. Und zum weiteren bewahrt gerade dieser Staat, dank der weltweiten emotionalen Identifikation der Juden mit ihm, das Bewusstsein der Verantwortlichkeit der jüdischen Gemeinschaften füreinander. Schließlich ist es dieser autonome Staat, der die Juden in aller Welt gegen die sich noch immer wiederholenden Verfolgungen verteidigen kann. Das Erreichte ist aus diesen Gründen festzuhalten und ist dienlich, aber es ist, wie nichts in der Geschichte eines Volkes, ein endgültig erreichtes Ziel, weil es desgleichen nicht gibt. Das eigentliche Ziel ist der Weg des Voranschreitens24 und dafür bedarf es des Zionismus, der allerdings seine Aufgaben neu verorten muss. Die Aufgabe des Zionismus, im Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit von Staat und Diaspora, muss es also sein, die Beziehungen zwischen beiden als dynamische Beziehung zu gestalten und nicht als das Nebeneinander von zwei staatlich und kulturell je nach eigenen Regeln sich entwickelnden Größen. Das wesentliche Mittel dafür sieht Schweid in der verwandtschaftlichen und familiären Verflechtung von Diaspora und Staat, die eine dauernde und lebendige Empathie auf beiden Seiten schafft. Der letztlich einzig dauerhafte Weg dahin ist die Förderung der Einwanderung nach Israel – einer Einwanderung die aus freiem Willen und nicht nur wegen des Verfolgungsdrucks geschieht. Eine Einwanderung wird lebendige Familienbande schaffen – so gering sie zahlenmäßig auch sein mag. Diese Familienbeziehung hält das Bewusstsein des gemeinsamen jüdischen Schicksals am Leben. Dies soll dazu führen, »Dass der Staat ein Symbol des Volkes sein soll. Dahingehend, dass die, gerade auch familiär realisierte, Beziehung zum Staat die Identifikation mit dem ganzen Volk zum Ausdruck bringt.«25 Dies bedeutet für die zionistische Bewegung, dass sie ihre vornehmste Aufgabe darin sehen muss, eine Bewegung des ganzen Volkes über all den erwähnten Parteiungen und Spaltungen werden muss, die sich in dem Ziel der Entwicklung des Staates geeint sehen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die zionistische Bewegung ihre Aufgabe vor allem im Bereich der jüdischen Erziehung sehen. Diese Erziehung soll das Bedürfnis nach einem vollen jüdischen Leben erwecken, dessen letzte Konsequenz die Einwanderung nach Israel sein wird. Dabei sind allerdings diese praktischen Konsequenzen nicht der Kern des Erziehungszieles, sondern: »Das Ziel der Einwanderung wie auch der Sinn des Fortbestehens des Staates Israel ist die Identifikation der Massen des Volkes Israel mit ihrem Volk und mit den Werten seines kulturellen Erbes.«26 In diesem Sinne, so glaubt Schweid, kann der Staat Israel in neuartiger Weise ein »geistiges Zent24
Vgl. Schweid, Nationalismus, S. 76.
25
Schweid, Nationalismus, S. 74.
26
Schweid, Nationalismus, S. 75.
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455
rum« für das jüdische Volk werden, nicht jedoch in dem Sinne wie dies Achad Ha-Am verstanden wissen wollte.
6.
Braucht der Staat Israel eine zionistische Politik?
Mit den Ausführungen im vorangehenden Kapitel ist auch für eine andere Debatte eine Richtung gewiesen, die um die Frage kreist, ob nach der erfolgten Gründung dieses Staates durch die zionistischen Aktivitäten noch fernerhin eine zionistische Politik im Staat Israel erforderlich sei. Eine Antwort auf diese Frage wird zentralen Einfluss auf die künftige Friedensordnung in der Region haben, ob etwa, wie viele glauben, eine Einstaatenlösung als binationaler Staat, eine mögliche Option sein könne. Auch hat die Antwort auf diese Frage Folgen für die Gestaltung des israelischen Rechts wie des öffentlichen und repräsentativen Gebarens der israelischen Öffentlichkeit – man denke an die Forderung nach einer rechtlichen Definition Israels als »jüdischer« Staat. Bei seiner Beantwortung dieser Frage nach der Notwendigkeit einer Weiterführung der zionistischen Politik Israels verweist Schweid mit allem Nachdruck auf diejenigen Motivationen und Argumente, die einst der Forderung nach einer jüdischen Staatsgründung dienten. Nämlich, dass die Begründung dieses Staates wie auch seine Ansiedlung gerade im einstigen Palästina seine Berechtigung daher bezog, dass mit diesem Staat die Lösung der sogenannten Judenfrage erstrebt wird, das heißt eine Sicherung dieses Volkes, das seit der Zerstörung des zweiten Tempels in den Gastländern dieser Welt ein stets unsicheres Dasein hatte. Die Gründung dieses Staates geschah im Interesse und zur Sicherung des gesamten jüdischen Volkes, nicht nur zur Rettung einer gerade tatsächlich von der physischen Vernichtung bedrohten Gruppe seiner Diaspora. Diese Grundvoraussetzung gilt auch noch in der Gegenwart. Der Staat Israel wurde zugunsten des ganzen jüdischen Volkes begründet und diese Aufgabe muss der Staat auch weiterhin erfüllen, will er nicht sein eigenes Existenzrecht aufgeben: »Die Verantwortlichkeit für das gesamte jüdische Volk ist der einzige Grund für die Existenz des Staates Israel und die Rechtfertigung für seine Weiterentwicklung in seinem Schaffen und sich Verstetigen. Sie ist auch die einzige Rechtfertigung für die Präsenz einer jüdischen Bevölkerung im Lande Israel.«27 Demnach ist Israel ein Staat, der aus dem Bewusstsein lebt und Politik betreiben muss, dass die Mehrheit seiner Angehörigen nicht im eigenen Staatsgebiet lebt,
27
Schweid, Nationalismus, S. 84.
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der aber, will er seiner ureigensten Existenzberechtigung treu bleiben, zugleich stets bereit sein muss, weitere Mitglieder des jüdischen Volkes aufzunehmen und zu integrieren sowie für das Wohl seiner bedrängten Mitglieder in der Diaspora einzutreten. Nur dann erfüllt dieser Staat seine Grundvoraussetzung. Und da diese Aufgabe in der Gegenwart noch besteht und auch in der Zukunft weiter bestehen wird, ist und bleibt Israel, als Staat des jüdischen Volkes, offen für alle Juden, nicht nur für die israelischen Staatsbürger. Deswegen auch muss dieser Staat die oben schon besprochene dynamische lebendige Beziehung und Verflechtung mit der Diaspora pflegen. Diese wesenhafte Grundaufgabe des Staates hat neben der aktiven Verflechtungsaufgabe weitere Konsequenzen: »Die zionistische Politik [Israels] muss sich in der Pflege der jüdischen Identität dieses Staates und der in ihm wohnenden Bevölkerung ausdrücken. Die Konsequenz dieser Auffassung nach außen ist, dass der Staat Israel keiner Lösung des israelisch-arabischen Konfliktes zustimmen wird, der die jüdische Bevölkerungsmehrheit gefährdet oder deren Souveränität in Frage stellt. Eine Lösung, der Israel zustimmen wird, muss die jüdische Mehrheit sichern und die jüdische Souveränität. Außerdem muss der Staat Israel, auch wenn es in seinen Grenzen nationale Minderheiten gibt, deren ihnen als Bürger eines demokratischen Staates zustehende Rechte nicht verletzt werden dürfen, sich als jüdischer Staat definieren, das heißt, als Staat, der die jüdische Nationalität zum Ausdruck bringt und dem nationalen Interesse des jüdischen Volkes dient. Nach innen bedeutet dies, dass der Staat Israel sich um eine jüdische Erziehung der jungen Generation, die in ihm heranwächst, kümmert, und zwar gemäß dem kulturellen Erbe des jüdischen Volkes, dass er seine Bindung zum gesamten jüdischen Volk der Vergangenheit und Gegenwart pflegt, und seinem jüdischen Charakter auch in seiner Gesetzgebung wie in seinen Zeremonien Ausdruck verschafft.«28 Kurz: Die Berechtigung und das Ziel der jüdischen Staatsgründung war die Lösung der sogenannten »Judenfrage«, also einer Frage, welche die Gesamtheit aller jüdischen Menschen betrifft. Dieses Ziel kann auch für die Zukunft die alleinige Berechtigung und Grundlage für das Weiterbestehen dieses Staates sein.
28
Schweid, Nationalismus, S. 82.
Zionismus
457
7.
»Das Land Israel als Heimatland des jüdischen Volkes«
7.1
Die politische Schlussfolgerung vorweg
Mit dem diesem Kapitel in Anführungszeichen vorangestellten Titel überschreibt Eliezer Schweid eines der Kapitel seines hier besprochenen Buches. Natürlich ist dieses Thema, der Berechtigung der jüdischen Besiedlung des Heiligen Landes, das Schibbolet des Nahostkonflikts – in welchem Maße, soll sogleich deutlich werden. Schweid legt in ausführlichen psychologischen und historischen Überlegungen dar, wie sich dieses »Recht« und dieser Anspruch des jüdischen Volkes ohne die einfache Formel der Bezugnahme auf die Hebräische Bibel, das christliche »Alte Testament«, begründen lässt. Schweid greift in diesem Punkt viel weiter und erinnert an die unausweichliche Verantwortung der christlichen und muslimischen Völker und Staaten Europas, des Vorderen Orients und Nordafrikas für die Situation der Juden in diesen Ländern sowie die daraus entsprossene Entwicklung des politischen Zionismus und die in seiner Folge entstandene Konfrontation zwischen Juden und Arabern im Heiligen Land. Dies soll im Folgenden noch ausführlich nachgezeichnet werden. Zuvor soll hier aber das politische Resultat von Schweids Erörterungen stehen, welches zeigt, wie diese Frage bis heute die Tagespolitik im Nahen Osten bestimmt. Die Schärfe seiner Formulierungen, darauf sei im Vorhinein schon hingewiesen, wird erst aus der psychologisch-historischen Darlegung verständlich. Diese historische Darlegung erfährt andererseits durch das hier vorangestellte Resultat ihre politische Bedeutung. Schweid schreibt zum Abschluss dieses umfangreichen Kapitels zur Begründung des jüdischen Heimatrechtes in Erez Jisrael: »Angesichts des bisher Ausgeführten muss man demnach die Politik Israels bezüglich der im Sechstagekrieg eroberten Gebiete und der Frage der Flüchtlinge bestimmen. Auf keinen Fall darf man die Auffassung akzeptieren, das Volk Israel habe nicht das volle Recht (Sechut) auf das gesamte Land Israel. Aus national-historischer Sicht gilt dieses Recht auch für Hebron und Sichem wie es für das Jesreʼel Tal und die Schefela [die westlichen Niederungen vor dem judäischen Gebirgszug] gilt. Jedoch wird die Verwirklichung dieses Rechts im Nachhinein durch das nationale Recht der Araber des Landes Israel begrenzt. Diese Tatsache nötigt zu der Bereitschaft auf den Verzicht der vollen Realisierung dieses nationalen Rechts und zwar in dem Maße, in dem ein ähnlicher Verzicht durch die andere Seite ausgesprochen wird. Und nochmals muss dabei die Forderung der Gegenseitigkeit unterstrichen werden. Die Weigerung der Araber, ihrerseits zu verzichten, ihre Absicht, den Staat Israel zu vernichten, haben in der Vergangenheit die Ausweitung der jüdischen Besiedlung gerechtfertigt und werden dies auch künftig als Verteidigungsmaßnahmen – über die Gebiete der grünen Linie hinaus – rechtferti-
Eliezer Schweid
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gen. Der Maßstab ist klar: Die Bedürfnisse der Verteidigung und der Sicherung des Friedens und der Stabilität im Innern. Die militärische Besetzung langer Grenzlinien und die Sicherung des Friedens in diesen Gebieten selbst mittels einer Militärregierung sind nur für eine Übergangszeit möglich, und eine solche Übergangszeit kann nicht endlos dauern, ohne im gesamten Geflecht der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen des Staates Israel Schaden anzurichten. Das bedeutet, dass bei ausbleibender Bereitschaft von arabischer Seite, die kriegerischen Auseinandersetzungen alsbald zu beenden und in Friedensverhandlungen einzutreten, es keine Wahl außer der stufenweisen Ausweitung der jüdischen Besiedlung entlang der neuen Grenzen und in den Gebieten selbst geben wird. Und es ist selbstverständlich dass jede künftige Übereinkunft dann von dem status quo auszugehen hat, der bis dahin eingetreten sein wird, denn kein historischer Prozess kann wie ein Lufthauch ausgewischt werden.«29
7.2
Die Begründung des jüdischen Heimatrechts auf ʼErez Jisraʼel
Zur Begründung des jüdischen Heimatrechtes im Lande Israel holt Eliezer Schweid weit aus. Er stellt zunächst die psychologische Frage, was die Gründe sind, die einen Menschen dazu führen, einen bestimmten Ort als sein »Zuhause« zu betrachten. Nach den anscheinend naheliegenden Begründungen, dass der besagte Ort der Geburtsort und der Ort des Heranwachsen sei, wird alsbald deutlich, dass diese Begründungen nur vordergründig sind, da es Menschen gibt, die ihren Geburts- und Adoleszenz-Ort geradezu hassen und ihn nicht als ihr Zuhause betrachten. Andere verlassen ihren Geburtsort und finden anderwärts ihr Zuhause, es ist der Ort günstiger Arbeitsverhältnisse und es guten Auskommens, der gar mehrfach gewechselt werden kann, sodann weil die Freunde und die Gesellschaft dort das Heimatgefühl vermitteln. Das heißt, der Mensch wählt sein Zuhause. Mit anderen Worten: Es ist nicht der geographische Ort, der per se das Zuhause-Gefühl schafft, sondern es ist der Mensch der eine bewusste Bezugnahme zu einem bestimmten Ort herstellt, wiewohl natürlich der Ort als solcher auch auf den Menschen wirkt. Aber doch gilt: »Die Neigung, sich zu binden und positive Erlebnisse, welche durch die Umgebung verursacht werden, schaffen im Menschen eine Grundlage zur Heimatbezogenheit. Aber die Beziehung selbst ist eine bestimmte Feststellung
29
Schweid, Nationalismus, S. 106.
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des Bewusstseins, die von der nicht notwendig vorbestimmten geistigen Entwicklung abhängt.«30 Das Entscheidende, einen Ort als Zuhause zu begreifen, ist der Mensch, seine Einstellung, sein Bewusstsein, nicht der Ort per se. Das für das »Zuhause« Gesagte gilt in weitem Maße auch für den umfänglicheren Begriff von Heimatland (Moledet). Schweid vergleicht das Zuhause mit einem Gewand, in dem man umhergeht, das man mit sich trägt, die Heimat hingegen entspricht eher einem Haus, in dem man umhergehen kann, das man nie ganz auf einmal einnimmt, Heimat ist ein größerer Raum, in dem das Zuhause hier oder dort angesiedelt werden kann. Stimmen Heimat und Zuhause geographisch überein, trägt dies zur Vollkommenheit beider bei, dies muss, nach dem zuvor Gesagten, aber nicht immer der Fall sein.31 Aber das zum Zuhause Gesagte trifft mutatis mutandis auch auf die Heimat zu. Auch hier ist das menschliche Bewusstsein das Entscheidende, nicht der geographische Raum als solcher, was das Heimatgefühl des Menschen schafft. Ist für das »Zuhause« der familiäre Rahmen und die engere Gesellschaft entscheidend, so ist es für die »Heimat« der weitere gesellschaftliche, sprich der nationale Rahmen. »Die Heimat ist das Zuhause des Menschen von Seiten seiner Teilhabe am Leben seines Volkes und seine Beziehung zu ihm entspringt aus dem Bewusstsein nationaler Zugehörigkeit.« Dieses Zugehörigkeitsgefühl wiederum rührt von verschiedenen Faktoren her: Von der »Einheit der Herkunft, die durch kontinuierliches Zusammenleben bewahrt wurde. Und die Kontinuität des Zusammenlebens einer ausgedehnten menschlichen Gemeinschaft drückt sich wesentlich in der Gemeinsamkeit von Sprache und Kultur aus.« Diese Faktoren sind es zugleich, mit denen der Mensch seine Persönlichkeit bildet und die ihn so an diese Heimat binden. Aus all dem folgt: »Die Tatsache der Geburt in einem bestimmten Land verursacht nicht schon aus sich selbst die Heimatbindung daran.« Das bedeutet, dass sich ein Mensch geradezu an seinem Geburtsort fremd fühlen kann, während er seine Heimat an einem Ort verspürt, den er selbst mit eigenen Augen noch nie gesehen hat. Heimatland ist also nicht der Geburtsort im engeren Sinn, auch muss man noch niemals an allen Orten dieses Heimatlandes gewesen sein. Was es zum Heimatland macht sind die kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren: »Der Begriff Heimatland (Moledet) definiert folglich keine natürliche, sondern eine kulturell-historische Herkunftsbeziehung. Es ist die Kultur, welche ein bestimmtes Land als Basis der nationalen Existenz erscheinen lässt. Die
30
Schweid, Nationalismus, S. 91.
31
Schweid, Nationalismus, S. 92.
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nationale Schaffung ist die Quelle dieser Existenz und sie ist es, welche denen, die in ihr erzogen werden, diese vererbt.«32 Bis hier hatte Schweid die Frage der Bindung von Menschen an ein Land im Wesentlichen mit dem Blick auf menschliche Individuen besprochen. Wie stellen sich die Dinge aber hinsichtlich eines gesamten Volkes dar? Inwiefern kann ein Land Ursache für das »Heimatland-Bewusstsein« eines Volkes sein? Für den weiteren Erörterungsgang ist es allerdings wichtig zu beachten, dass dabei zunächst nicht die Frage des physischen Besitzes und der besitzrechtlichen Seiten zur Debatte stehen, sondern zuerst nur die Frage des menschlichen Bewusstseins, also das psychische Hingezogensein, das Gefühl, in einem bestimmten Landstrich zu Hause zu sein. Wie kommt dieses Bewusstsein zustande? Was macht diese anscheinend gewachsene Zusammengehörigkeit aus. Die ältere Auffassung, dass die Flora und Fauna, die geographische Struktur und das Klima eines Landes das Wesen und den Charakter des in ihm wohnenden Volkes bestimme, so als ob das Volk gleich den Pflanzen aus dem Mutterboden gewachsen sei und mithin eine naturhaft-biologische Verbindung bestehe,33 ist recht betrachtet nicht wirklich ernst zu nehmen, wiewohl ein Wechselverhältnis von Mensch und Land nicht zu bestreiten ist. Dies aber ist keine organisch-naturhafte gegenseitige Einflussnahme, sondern sie ist eine kulturelle und historische Beeinflussung, vergleichbar den sprachlichen, literarischen und übrigen kulturellen Einflüssen einer Gesellschaft auf das Individuum. Es ist der Mensch, welcher der entscheidende Faktor dieser Beziehung ist, »er nimmt die Gegebenheiten des Landes mit einer aktiven und schöpferischen Rezeptionstätigkeit in sich auf und setzt diese seinerseits in eine aktive Gestaltung des Landes nach seinen Bedürfnissen um.«34 Auch die Auffassung, dass es die natürlichen geographischen Gegebenheiten, wie Berge, Flüsse oder Seen sind, welche den Raum des Heimat-Bewusstseins schaffen und umgrenzen, ist wesentlich vom Menschen abhängig, der solche Grenzen festlegt und durch sein geschichtliches Agieren wählt. Aus alledem folgt: »Wie also kann man die Gebiete festlegen für die das Heimatbewusstsein Gültigkeit hat? […] Der Schlüssel für die Lösung dieser Frage ist der, dass […] die Beziehung zum Heimatland eine kulturell-geschichtliche Herkunft bezeichnet. Es ist ausschließlich die Geschichte, welche ein Volk an ein Land
32
Schweid, Nationalismus, S. 93.
33
So argumentierte schon die mittelalterliche Klimatenlehre, vgl. etwa Jehuda Ha-Levi, in: Jüdisches Denken Bd. 1, S. 612; und auch der Aufklärer Saul Ascher, Jüdisches Denken Bd. 3, S. 423.
34
Schweid, Nationalismus, S. 94.
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bindet, sie ist es, die wieder und wieder die Bereiche festlegt, auf welche das Heimatbewusstsein sich bezieht. […] Eine Nation kommt durch historische Umstände auf ein Stück Land. Sie nimmt es in Besitz, legt ihr Besitzrecht fest und ernährt sich von ihm, und die Grenzen, für die sie die Herrschaft beansprucht, sind die Bereiche ihrer Anwesenheit. Und aus dieser geschichtlichen Anwesenheit entsteht das Heimatland-Bewusstsein. […] Der Ort an dem sie kontinuierlich, soweit man sich erinnern kann, anwesend war, das ist ihr Heimatland.«35 Mit diesen Feststellungen ist jedoch das Problem der Frage noch nicht gelöst. Denn was bedeutet schon »Anwesenheit«. Nicht alle Anwesenheit an einem bestimmten Ort schafft das Bewusstsein von Heimatland. Die Anwesenheit von Eroberern und Fremdherrschern in einem bestimmten Land schafft bei diesen noch kein Heimatbewusstsein. So haben auch die Juden die vielen Länder, in denen sie in größerer Zahl und über längere Zeiträume lebten, nicht als ihr Heimatland verstanden, sondern sahen sich im Exil. – An dieser Stelle sei indessen gegen Schweids Darlegungen angemerkt, dass die Forschung viele Zeugnisse zusammengetragen hat, die zeigen, dass sich Juden auch in ihrem »Exil« in den Ländern ihrer Wohnsitze zu Hause fühlten,36 und dies wäre wohl auch vielerorts so geblieben, hätten nicht die nichtjüdischen Mitbewohner dieser »Heimatländer« die Juden nicht wiederholt spüren lassen, dass ihre »Gastländer« wohl nicht jüdisches Heimatland sein könnten, und sie darum vertrieben, verfolgten und ermordeten. Dies sind Gesichtspunkte die bei Schweid allerdings im nächsten Erörterungsgang folgen. Kehren wir also zu Schweid und seiner Argumentation zurück. – Wie immer man die in Parenthese eingefügten Bemerkungen bewertet, im Weiteren ist Schweid zuzustimmen, wenn er sagt, dass also nicht jegliche Form von Anwesenheit an einem bestimmten Ort das Bewusstsein von Heimat schafft. Es müsse, so Schweid, vielmehr eine besondere Art und Weise von Anwesenheit sein, welche dieses Bewusstsein in einer Nation hervorbringt. Diese für das Entstehen von Heimatbewusstsein nötige Anwesenheit beschreibt er wie folgt: »Eine Nation muss in einer besonderen Weise in ihrem Land leben, damit dieses zu ihrem Heimatland wird. Alleine wenn sie in diesem Land eine nati-
35
Schweid, Nationalismus, S. 95.
36
Vgl. z.B. K. E. Grözinger, Wahrnehmung und Konstruktion von Raum als Erbe der religiösen Kultur am Beispiel des deutschen Judentums, in: H. Piegeler, I. Prohl, S. Rademacher (Hg.), Gelebte Religionen. Festschrift für Hartmut Zinser zum 60. Geburtstag, Würzburg 2004, S. 107–118; u. ders. (Hg.), Jüdische Kultur in den SchUM-Städten. Literatur, Musik, Theater, Wiesbaden 2014.
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onale Schaffung hervorbringt – angefangen von der wirtschaftlichen und staatlichen Basis und darüber hinaus, wenn sie sich an ein Land als der unverzichtbaren Bedingung für ihr Schaffen bindet, schafft sie sich in ihm ein Heimat-Bewusstsein. Das ist es, weshalb die Eroberer der Imperien sich dort selbst nicht in ihrem Heimatland sehen und dies den andern nicht als solches darstellen konnten, und dies ist es, weshalb ein Volk im Exil sich dort kein Heimatbewusstsein erwerben kann. Aber gerade aus diesem Grund wird man verstehen, weshalb das Volk Israel ausgerechnet im Land Israel sein Heimatland sehen konnte, wiewohl es in seiner Mehrzahl außerhalb lebte: Also in dem Maße, in welchem es eine nationale Schaffung hervorbrachte und in dem Maße, in welchem diese nationale Schöpfung sich auf das Land bezog, in eben dem Maße verband es sich mit dem Land Israel. […] Es ist das, was ein Mensch aus der Anhänglichkeit an sein Land in seinem Land tut, was seinen Besitz ausmacht, nicht aber das Land selbst. Was eine Nation in ihrem Land verrichtet, ist es, was es an dieses Land bindet, nicht das Land als solches, denn dies getane Werk ist die Realisierung des Idealen im sensiblen Irdischen.«37 Das nächste Problem das sich indessen nunmehr stellt, ist die Tatsache, dass das jüdische Volk seit der Antike meist und nur teilweise in diesem Erez Jisrael anwesend war. Allerdings, darauf dringt Schweid hinzuweisen, gab es immer, während all der Jahrhunderte oder Jahrtausende, eine kleine jüdische Bevölkerung in diesem Land. Und diese Anwesenheit ist aus den besagten historischen und kulturellen Gründen als eine nationale Anwesenheit zu bewerten. Die auch nur geringe Anwesenheit von Juden in Palästina »veranschaulichte, dass sich dieses Volk nicht mit seinem Exil abgefunden hatte und die Tatsache, dass es nicht auf sein Land verzichtet, denn die Möglichkeit es zu beherrschen und in ihm ein volles nationales Leben zu leben wurde ihm mit Gewalt geraubt.«38 Im Gegensatz zu den das Land erobernden Christen und Muslimen, die das Land im religiösen Sinn als ihr heiliges Land betrachteten, war für die kleine Judenschaft dieses Land das Heilige Land im Sinne einer religiös-nationalen Bedeutung. Und wenn trotz dieser Feststellung einer noch so geringen jüdischen Bevölkerung, auch hier mögliche Lücken aufgetreten waren, so ist in diesem Zusammenhang doch die grundsätzliche Feststellung zu machen, dass dafür nicht jüdisches Verschulden vorliege, sondern eine Schuld und damit Verantwortung der Völker Europas und des Mittelmeerraumes, die diese Lücken verursachten und größere jüdische Ansiedlungen im Heiligen Land verhinderten:
37
Schweid, Nationalismus, S. 96.
38
Schweid, Nationalismus, S. 98.
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»Das Volk Israel saß über viele Generationen hin in seiner großen Mehrheit zwar nicht im Land Israel, aber es sah sich selbst, wie dies auch seinen ›Gastvölkern‹ erschien, an seinen aktuellen Wohnorten ebensowenig in seinem Heimatland lebend. Außerdem scheint es, dass derselbe Faktor, der die Ursache einer steten Präsenz einer kleinen jüdischen Bevölkerung im Land Israel war, zugleich der Grund dafür war, der es daran hinderte in den Ländern der Diaspora ihr Heimatland zu sehen, nämlich seine Treue zur Tora. Sie wurde ihm tatsächlich nur als einem Volk (Nation) verliehen und dank dieser Tora blieb es als Nation erhalten, sie hielt seine Beziehung zum Land Israel lebendig und es blieb außerhalb seiner ein Fremdling. Die Treue zur Tora verhinderte seine Assimilation und sie war es, welche die Gegnerschaft ihm gegenüber verursachte. Eine weitere Präzisierung muss hinzugefügt werden: Das Christentum und der Islam hinderten die Juden daran, eine Verbindung zu den Ländern ihres Herrschaftsbereiches aufzubauen. Zum andern bestätigten Christentum und Islam die jüdische Tradition zu einem gewissen Teil und führten sie teilweise fort und damit zugleich jene Tradition, welche das erwählte Volk an das Heilige Land bindet.«39 Teil dieser von Christen und Muslimen anerkannten jüdischen Tradition der Beziehung der Juden zum biblischen Land Israel war auch die Hoffnung auf Erlösung, die ja eine Rückführung der Israeliten in ihr Land mit einschloss. Dass diese Hoffnung nicht nur eine spirituell-religiöse Hoffnung blieb, zeigte sich spätestens als die Zionisten entscheiden konnten, ob sie statt der Alternative der Rückkehr in das Land Israel ihren Staat in Uganda, Argentinien oder den Vereinigten Staaten errichten könnten. In dieser kritischen Situation »entschied das Bewusstsein, dass bei der Schaffung eines Heimatlandes in einem anderen Land, das jüdische Volk seine Geschichte, seine Kultur und seine Identität verlieren würde.«40 Die Schuld und Verantwortung der christlichen und muslimischen Völker an der so ungewöhnlichen Geschichte des Volkes Israel und seinen Beziehungen zu seinem Heimatland unterstreicht Schweid ein weiteres Mal, um dem subjektiven Bewusstsein der Juden, von dem bislang die Rede war, eine objektive, gleichsam völkerrechtliche Dimension zu verleihen, zumindest eine Verantwortlichkeit der Völker dieser Welt am Schicksal des jüdischen Volkes festzustellen, welche die Juden zuvor über Jahrhunderte an einer eigenen Entwicklung hinderten: »Die Tatsache, dass wegen des Einflusses von Christentum und Islam es den Juden verwehrt war, zu den Ländern ihrer Zerstreuung eine Beziehung auf39
Schweid, Nationalismus, S. 97.
40
Schweid, Nationalismus, S.98.
Eliezer Schweid
464
zubauen, wie auch die Tatsache, dass wegen der Gewalt der Herrscher aus diesen beiden Religionen die Juden im Land Israel kein vollkommenes religiös-nationales Leben führen konnten, und die Tatsache, dass sie um ihres Glaubens willen von Seiten dieser Herrscher Verfolgungen, Erniedrigungen und zahllose Beschränkungen erleiden mussten, und schließlich die Tatsache, dass diese Religionen bestrebt waren, das Judentum zu beerben und sie dadurch dessen religiöse Beziehung zum Heiligen Land bestätigten – all diese Fakten verleihen der subjektiven Beziehung des Volkes Israel zu seinem Land objektive [Rechts]kraft.«41 Eliezer Schweid wird nicht müde, die Besonderheit der jüdischen Geschichte als die Geschichte eines aus seinem Land vertriebenen Volkes darzustellen, welches jegliche Wohnsitze außerhalb dieses Landes als Exil betrachtete und so die Beziehung zu diesem Land als Heimatland wach hielt. Ebenso unterstreicht er die Verantwortung der Völker, die nicht nur in der fernen antiken Vergangenheit dieses Volk seines Landes beraubten, ihm eine freie Entwicklung an anderen Orten wie auch eine wirkliche Rückkehr nicht erlaubten, aus der zu folgern ist, dass diese Völker eine Wiedergutmachungspflicht haben, die wenigstens eine Behinderung einer einmal möglichen Rückkehr nicht erlauben dürfte: »Wir betonen daher nochmals, dass wir hier einen ungewöhnlichen Fall vor uns haben, den man so zusammenfassen kann: Ein Volk, dem sein Land vorenthalten wurde und auf das es niemals verzichtete, das vielmehr seine Beziehung zu diesem Land und seinen Protest wider seine Exilierung stets festhielt und das diesen Protest im Bewusstsein seiner Nachbarn einprägen konnte, ein solches Volk hat das Recht, in einer günstigen Stunde dahin zurückzukehren und es als Heimatland in Besitz zu nehmen. Des Weiteren müssen jene Völker, welche diesem Volk die Rechte eines lebendigen Volkes vorenthielten, dessen Rückkehr achten und haben gewiss keine Rechtfertigung ihm Hindernisse in den Weg zu legen.«42 Im Anschluss an diese deutlichen Worte schränkt Schweid dieses RückkehrRecht allerdings sogleich wieder ein, indem er ausdrücklich auf die unausweichliche Beschränkung dieser Rechte durch die Anwesenheit einer anderen Nation im besagten Land hinweist: »Die nationale kontinuierliche Anwesenheit eines anderen Volkes in diesem Land ist angetan, das moralische Recht zur Verwirklichung des historischen Rechtes in der Gegenwart zu begrenzen.«43 41
Schweid, Nationalismus, S. 99.
42
Schweid, Nationalismus, S. 99.
43
Schweid, Nationalismus, S. 99.
Zionismus
465
Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Schweid den jüdischen Rechten hier eine Priorität einräumt, weil der arabische Nationalismus, weder auf dieses spezifische Landstück beschränkt ist, noch, was die arabische Besiedlung und die Bewirtschaftung Palästinas zur Zeit des entstehenden Zionismus anbelangt als eine nationale Präsenz in dem oben beschriebenen Sinn bezeichnet werden könne. Die Araber besitzen außerdem mehrere zum Teil ausgedehnte Staaten zur Entfaltung ihrer Nationalität, wohingegen die Juden einzig auf diesen Landstreifen beschränkt seien: »Das arabische Volk bezog sich auf das Land Israel in seinen historischen Grenzen nicht im Sinne eines Heimatlandes (Moledet) oder als Heimatland einer bestimmten nationalen Einheit […] das Land Israel galt in seinem Siedlungsbereich nicht einmal als gesonderter Landbereich, während das Volk Israel sich von allem Anfang auf dieses Land in seinen historischen Grenzen als Heimatland bezog. […] Die Tatsache, dass das arabische Volk sich auf das Land Israel nicht als Heimatland bezog, kam konkret in dessen Verödung und der dünnen Besiedlung durch das arabische Volk zum Ausdruck und in dem unvergleichbaren Maß der Entwicklung dieses Landes in hunderten von Jahren durch die Araber und dessen Entwicklung in nur wenigen Jahrzehnten durch die Juden. […] Das arabische Volk hat die Möglichkeit, seine Nationalität in staatlicher Form in einer Vielzahl von großen Staaten zum Ausdruck zu bringen, während die Juden nur dieses eine Land haben. – Und schließlich: Das jüdische Volk wurde verfolgt, hatte keine Unabhängigkeit und besaß keine Möglichkeit sich zu verteidigen wie jedes andere Volk. Die Araber hingegen haben in einer Reihe von unabhängigen Staaten die volle Unabhängigkeit und die Möglichkeit, sich selbst zu verteidigen.«44 All dies sind Argumente, die Schweid vorträgt, um die Vorrangstellung der nationalen jüdischen vor den arabischen zu begründen, ohne Letztere allerdings in Abrede stellen zu wollen. Er weist es in diesem Zusammenhang auch zurück, dass man von einem »tragischen Aufeinanderprallen« gleichberechtigter Ansprüche reden könne, da nämlich die »eingeschränkte« palästinisch-arabische Nationalität gleichsam erst als Reaktion auf den Zionismus entstanden sei, die nationalen Rechte beider Seiten anfangs also keineswegs gleichrangig gewesen seien – erst im Nachhinein sei durch die Entwicklung mit der massenhaften jüdischen Einwanderung auf palästinensischer Seite etwas entstanden, das nun entsprechende nationale Rechte forderte. Schweid verweist auch darauf, dass vor der Staatsgründung Israels die von den Juden in Besitz genommenen Ländereien durch volle Bezahlung erworben worden seien, und erst die militärischen Auseinandersetzungen beim Unabhängigkeitskrieg diese Situation aus verteidigungs44
Schweid, Nationalismus, S. 102.
466
Eliezer Schweid
bedingten Gründen verändert hätten. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nicht »tragisch« zu nennen, da er durch menschliches Verhalten gelöst werden kann und nicht im Sinne der griechischen Tragödie unausweichlich ist. Sobald die arabische Seite die jüdisch nationalen Ansprüche anerkennt wie dies von den überwiegenden Teilen der jüdischen (zionistischen) Seite bezüglich der arabischen geschehen ist, dann könne man zu rationalen Lösungen kommen.45
45
Schweid, Nationalismus, S. 104–105.
TEIL II DIE SCHOAH
I.
ḤASIDISCHE STIMMEN AUS DER BEDRÄNGNIS – EINE UNGEBROCHENE ZERBROCHENE WELT
1.
Der Trostbrief des Gurer Rebben – ḥasidische Verhaltensweisen
Am 7. Schwat 5706 sandte der Rebbe von Gur aus Jerusalem ein Schreiben zur Stärkung an die dem »Schwert entronnenen« Juden in Europa. Bewusst wurde hier zunächst nicht das weltliche Datum, der 9. Januar 1946, und nicht die Lager der Displaced Persons genannt, weil dies besser die geistige Situation und Haltung des Briefschreibers, des ḥasidischen Rebben von Gur (Góra Kalawarja), anzeigt. Der Brief lautet: »Unseren Brüdern aus Israel, den dem Schwert entronnenen, wo immer sie sich aufhalten. Der Herr sei mit ihnen – sie sollen leben! Volk des Herrn, seid stark und werdet kräftig! Das Wichtigste ist zu wissen, alles kommt vom Herrn, Er sei gesegnet. Von ihm geht nichts Böses aus, deswegen muss man bereit sein, seinen Willen anzunehmen, alles geschieht zu unserem Guten, wie die Bücher sagen ›und es ward Abend und es ward Morgen, ein Tag‹ [Gen 1] – sei es in der Finsternis, seien es Gnadengaben, sie alle haben dasselbe Ende, nämlich uns hernach zu leuchten. Man muss glauben, dass so wie alle Strafandrohungen (Tochachot) der Tora sich erfüllen werden, so auch alle vorbestimmten Ziele und Tröstungen. […] Das Verbergen (Hester) [Gottes] ist nur eine Versuchung, um den Menschen in seiner Verantwortung besser zu machen. Darum hängt all euer Vertrauen auf den Heiligen, Er sei gesegnet, und stärkt euch an der Tora und am Gebet und der Herr wird euch stark machen. […] Das Ende soll man nicht herbeizwingen, nur beten und der Erlösung und Tröstung harren. Und gewiss wird er unsere Rache vollführen, wie es in der Pesikta de Rav Kahana heißt: Dereinst werden die Israeliten fragen: Herr der Welt, was wirst du wegen des vergossenen Blutes tun? Und der Heilige E.s.g. wird ihnen antworten: Ihr Blut werde ich nicht verzeihen. Und sie fragen: Wann wird dieses Gericht stattfinden? Und er erwidert: Ihr müsst nur meiner harren, wie der Prophet sagt: ›Darum harret meiner, des Tages, an welchem ich als Zeuge aufstehe, spricht der Herr, [denn mir kommt es zu, Völker zu sammeln und Königreiche zusammenzubringen, um meinen Grimm über sie auszuschütten, die ganze Glut meines Zorns…‹] (Zephanja 3, 8). Der Herr der Tröstungen möge uns alle trösten und euch allen möge es vergönnt sein, bald in das Heiligen Land zu kommen, damit ihr die Wieder-
Ḥasidische Stimmen
470
kehr Zions durch den Herrn und die vollkommene Erlösung, eilends in unseren Tagen, sehen werdet! Abraham, der euren Schmerz teilt und auf Erlösung und Trost harrt.«1 Der Gurer Rebbe ist in seinem Denken noch ganz von der alten rabbinischen Denkweise geprägt, von der Art, wie sie mit den Verfolgungen Israels umgegangen ist. Alles – auch das Böse – kommt von Gott und dient letztlich nur zum Guten, es ist eine Prüfung zur Verbesserung des Menschen, aber Gott wird seine Strafwerkzeuge, die Völker, dereinst dann doch zur Rechenschaft ziehen. Das einzige, das der gepeinigte Israelit tun kann, ist das, was er immer tun soll, Tora lernen und beten und alles andere seinem Gott überlassen – auch die Rache! Die Ḥasidim Osteuropas sind, wie auch dieser Brief bezeugt, in wesentlichen Teilen ihres Denkens dem rabbinischen Denkkosmos zuzuordnen. Sie haben jedoch darüber hinaus noch ihre eigenen spezifischen Tugenden, wie mit dem Übel in dieser Welt umzugehen sei. Pesach Schindler hat in seinem Buch Hasidic Responses to the Holocaust in the Light of Hasidic Thought 2 eine Reihe von Verhaltensweisen und Auffassungen ḥasidischer Zaddikim zusammengetragen, in welchen sich gemeinrabbinische Auffassungen mit spezifisch ḥasidischen kreuzen. Als solche gemeinrabbinische Deutungen des Holocaust-Geschehens nennt Schindler etwa folgende: 1. Rechtfertigung des Geschehens: Alles ist ein himmlischer Beschluss. Die Not ist durch die eigenen Sünden verursacht (mipne Ḥataʼenu)3. Die GerichtsStrafen des Himmels enthalten von höherer Ebene aus betrachtet ein positives Element (etwa um Schlimmeres zu verhindern und eine Wiederherstellung von Zerbrochenem herbeizuführen). Gott verbirgt sein Angesicht und der Mensch muss diese Gottesfinsternis im Glauben durchstehen.4 2. Die erwartete menschliche Reaktion auf das Geschehen: Leiden und den Tod soll man bereitwillig akzeptieren, auch in der Finsternis im Gottvertrauen nach Ihm suchen. Man soll die vom Ḥasidismus nachhaltig geforderte Tugend des Gottvertrauens (Bittachon) und des Glaubens haben, denn Gottes Handeln steht jenseits jeder menschlichen Infragestellung.5 Schindler zitiert hierzu eine Episode aus dem jiddischen Sefer Kedoischim von Menasche Unger, nach welcher Rabbi Schalom-Elieser, der Razwirter Rebbe, in einem KZ bei einer Er1 2
A. M. Alter, ʼOsef Michtavim, Augsburg 1947, S. 103 (maschinenschriftlicher Appendix von 1966); online: Hebrewbooks. Pesach Schindler, Hasidic Responses to the Holocaust in the Light of Hasidic Thought, Hobo-
3
»Um unserer Sünden willen«. Dies ist die alte rabbinische Theodizeeformel wie sie im Musaf-
4
Schindler, Hasidic Responses, S. 19–21.
5
Schindler, Hasidic Responses, S. 21–27
ken 1990. gebet für die drei Wallfahrtsfeste (Aschkenas) gebetet wird, z. B. Siddur Safa berura, S. 220.
Schoah
471
schießungsaktion selbst am Rande des Massengrabes von einem SS-Offizier verspottet wird: »Dein Mund flüstert noch immer Gebete. Glaubst du noch immer, dass dein Gott dir helfen wird? Siehst du nicht die Lage der Juden? Ihr werdet zum Töten geführt und keiner hilft euch! Glaubst du noch immer, dass es einen jüdischen Gott gibt? Da antwortete Rabbi Schalom-Elieser mit großer Hingabe: Von ganzer Seele und von ganzem Herzen glaube ich, dass es einen Schöpfer der Welt und dass es eine höchste Vorsehung6 gibt. Kaum hatte der älteste der Rebbes, R. Schalom-Elieser zuende gesprochen, hat ihm schon eine Kugel der deutschen Mörder sein Herz durchlöchert.« 7 3. Die möglichen positiven Seiten des Leidens: Das Leiden kann den Menschen zu einer hohen Stufe der Devekut, also der Haftung an Gott,8 führen und dadurch auch positiven Einfluss auf Gottes Pläne und Taten haben. Ein anderer Autor, Rabbi Jissachar Schlomo Theichtal, hat sein gesamtes 1943 erschienenes umfangreiches Buch ʼEm ha-Banim semecha (Die Mutter der Kinder ist erfreut) 9 der Erklärung der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden gewidmet. Er sieht das fürchterliche Geschehen als Wehen des Messias, dessen bald zu erwartende Ankunft dank der zunehmenden Besiedlung des Landes Israel durch zionistische Juden eine weitere Bestätigung erfahre. Er ruft daher die verbliebenen Juden Europas auf, nach Palästina auszuwandern und das Heilige Land aufzubauen. – Nach der Publikation seines Buches im Dezember 1943 wurde Theichtal im März darauf nach Auschwitz deportiert und verstarb im Januar 1945 beim Transport nach Bergen-Belsen.10 Ein anderer, theologischer Aspekt im Sinne dieser Autoren ist der: Da Gott selbst mit seinem Volk leidet, kann Israel durch Buße und Almosen auch Gottes Leiden lindern. Schließlich wird auch der Gedanke der wohlgefälligen Opferung der Getöteten als »Akeda« (Opferbindung Isaaks) angesprochen.11 4. Eine spezifisch kabbalistisch-ḥasidische Auffassung: Nach der Kabbala und ḥasidischen Lehren galt es als eine Tugend, auch in der Not die Gnade Got-
6
Vorsehung im Sinne von göttlicher Führung.
7
M. Unger, Sefer Kedoschim: Rebbejim fun Kiddusch ha-Schem, New York 1967, S. 419–420.
8
Zur Devekut als Gottesanhaftung und unio mystica s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 791–807.
9
Jissachar Schlomo Theichtal, ʼEm ha-Banim semecha, Budapest 1943.
10
Schindler, Hasidic Responses, S. 7.
11
Schindler, Hasidic Responses, S. 23–27; siehe die in der Einleitung zu diesem Band aufgenommene ʽAkedat-Treblinka, oben, Jüdisches Denken, Bd. 4, Einführung, 3.1.
Ḥasidische Stimmen
472
tes zu erkennen weil dadurch der Tikkun-Prozess, das heißt die Wiederherstellung der gebrochenen Welt, befördert wird.12 Hier sind auch all jene quietistischen Motive zu nennen, nach denen die Welt letztlich bedeutungslos und darum meditativ zu nichten ist – wie dies in der Schule des Maggid Dov Ber aus Mesritsch verkündet wurde.13
2.
Predigten im Warschauer Ghetto 1940–1943 R. Kalonymos Kalmisch Schapiro
2.1
Der Fund im Warschauer Ghetto
An dieser Stelle muss noch eines besonders wertvollen und bewegenden Dokuments gedacht werden, nämlich der Predigtsammlung ʼEsch Kodesch (Heiliges Feuer) von Rabbi Kalonymos Kalmisch Schapiro14 dem ehemaligen ḥasidischen Rebbe von Piaseczno, etwa 15 km südlich von Warschau gelegen. Schapiro hat im Warschauer Ghetto von September 1940 bis zur Liquidierung des Ghettos im Frühjahr 194315 regelmäßig gepredigt und dadurch ein geordnetes religiöses Leben unter schwierigsten Umständen aufrechtzuerhalten gesucht.16 Kurz vor der Liquidierung des Ghettos hat er diese Aufzeichnungen zusammen mit seinen anderen Schriften in einem Krug im Ghetto vergraben – mitsamt einem jiddischen Brief, mit der Bitte, diese Schriften, falls sie gefunden würden, seinem in Tel Aviv lebenden Bruder Jeschaja Schapiro oder einer jüdischen Institution zu übergeben. Der Rabbi wurde im Herbst 1943 getötet. Der Krug wurde später bei 12
Dazu vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 650–657. 676–680; Schindler, Hasidic Responses,
13
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 811–852.
S. 29–30. 14
J. S. Schapiro, ʼEsch kodesch, Jerusalem 1960.
15
Zu diesen Schriften s. auch M. Piekarz, Ḥasidut Polin. Megamot Raʽajonot ben schte haMilḥamot u-ve-Geserot [5]700–[5]705 (ha-Schoʼah), Jerusalem1990, S. 373ff; nach Piekarz reichen die Predigten von Rosch ha-Schana 14.9.1939 – 18. Juli 1942.
16
Auch von anderen Rabbinern wird dies berichtet: So vermerkt zum Beispiel der gleichfalls ḥasidische Rebbe Jissachar Dov Lifschitz in seiner Homiliensammlung Divre Jissachar, Jerusalem 1964, S. 25a-b: »Diese wunderbare Auslegung trug ich mit Gottes Hilfe im Vernichtungslager Auschwitz vor, als es einen Alarm wegen Luftangriffen gegeben hatte und uns die Deutschen, ihr Name sei ausgelöscht, an einen anderen Ort brachten. Da baten mich unsere Brüder aus Israel, dass ich ihnen Worte der Tora vortragen solle. Also sagte ich ihnen: Da es euer Wille war, Worte der Tora zu hören, wenn sich die Gelegenheit bot, ist es möglich dass euch das im Himmel angerechnet wird als hättet ihr den ganzen Tag die heilige Tora studiert.« Die Überschrift gibt noch einen religiösen Hinweis, wie dieser Vorgang zu bewerten sei: »Das Folgende habe ich im Vernichtungslager Auschwitz mitten bei der Arbeit vorgetragen, als es gerade einen Alarm gab. Und Gott sei Dank, wir wurden gerettet.«
Schoah
473
Ausschachtungsarbeiten für einen Neubau auf dem Gelände des ehemaligen Ghetto gefunden.17
2.2
Die gegenwärtigen Leiden – Gründe – Bewertungen
Wiewohl Kalmisch Schapiro auch von den Leiden als Strafe für begangene Sünden sprechen kann, stellt er doch auch grundsätzlich fest, dass es im Falle der eigenen Gegenwart dafür noch einen anderen Grund gibt, weshalb die Juden verfolgt werden, nämlich nur deswegen weil sie Juden (Israeliten) sind, die an ihrem Gott und seiner Tora festhalten.18 Und weil die Treue zum Gott Israels von den Juden nicht aufgegeben werden dürfe, müssten sie im Glauben besonders stark sein, auch »wenn dies sehr, sehr schwer ist. Denn die Leiden sind nicht zu ertragen, Gott erbarme. Aber in Zeiten, in denen zahllose Israeliten bei lebendigem Leib um Gottes Willen verbrannt, ermordet und geschlachtet werden, nur weil sie Juden sind, müssen auch wir auf alle Fälle die Versuchung durchstehen und mit vollkommener Hingabe über uns hinauswachsen und im Herrn Stärkung suchen.«19 Natürlich glaubt auch Schapiro, dass all die gegenwärtigen Heimsuchungen, wie schon die früheren, zum Guten des Menschen von Gott kommen, auch wenn der Mensch dies nicht verstehen kann.20 Dennoch bemerkt der Verfasser in einer nachgetragenen Anmerkung, dass die Situation sich durch die schrecklichen Mordtaten der Mörder ab November 1942 doch wesentlich von den früheren Verfolgungen abhebt. Die mögliche Frage seiner Zuhörer, ob denn Gott vom Schicksal seiner Kinder ungerührt sei, beantwortet der Autor damit, dass auch Gott mit Israel leidet und weint, Seine Trauer wie Er selbst unendlich ist, weshalb der beschränkte Mensch sie nicht wahrnehmen, geschweige denn ertragen könne. Denn würde die Trauer Gottes bis zur Welt vordringen, würde diese bersten.21 Allerdings, so verkündet Schapiro, kann der Mensch mittels der Tora, der Offenbarungsträgerin Gottes, auch zu Gottes Trauer vordringen und dann »zerstieben alle Freveltäter und unsere Erlösung wird schnell und ohne Säumen offenbar.«22 Kalmisch 17
Schindler, Hasidic Responses, S. 7;
18
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 141.
19
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 169.
20
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 138–139.
21
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 159–160.
22
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 161.
474
Ḥasidische Stimmen
Schapiro, der Ḥasid und Kabbalist, geht mit seinem Trost – ja Hilfsangebot noch weiter und erinnert an den mittelalterlichen Kabbalisten Josef Gikatilla,23 der meinte, dass man mit Hilfe des kabbalistischen Wissens und des Tora-Studiums die göttlichen Schatzkammern öffnen und deren helfenden Segensfluss auf die Menschen herunterleiten könne. Um das Torastudium als die einzige Rettung aus der Not hervorzuheben, sagt Schapiro sogar, dass so wie die Sünde Strafe bringt, so wird auch das Verdienst des Torastudiums die Rettung bringen: »Seht, es steht ja in den heiligen Büchern geschrieben, dass jegliche Sünde das Gericht als Strafe anzieht, so auch ziehen die Tora und die Gebote das Gute herbei – und dies nicht nur als Lohn, sondern auch wesenhaft. So steht ja im Buch Schaʽare ʼOra [des Josef Gikatilla] geschrieben, dass jeder, der die kabbalistischen Gebetsmeditationen kennt, wie einer ist, der die Schlüssel der Tore der Höhe in Händen hält. Denn weil der Emanationsfluss und die Offenbarung mittels der Buchstaben und Gottesnamen geschieht, kann jeder, der sie zu kombinieren weiß, die Kanäle wieder heil machen und der Fluss fließt wieder herab. So ist es bei jeglichem Toralernen und Gebotserfüllen, sie bringen das Gute nicht nur als Lohn, sondern eben auch wesenhaft.«24 Kalman Schapiro hält mit solchen Aussagen und Verheißungen ohne Verdruss an dem ḥasidisch-kabbalistischen Weltbild und an den sich daraus ergebenden theurgischen Möglichkeiten fest, gerade wenn er auch vielfach über die Schwere des in der Gegenwart zu erduldenden Leidens klagt. Auch ohne das theurgische Herabzwingen der göttlichen Rettung ist für Schapiro meditative Weg der einzig verheißungsvolle. Dann nämlich, wenn man mit Hilfe der Kabbala und ihrem theosophischen Weltbild die Erkenntnis gewinnt, dass selbst im Gericht Gottes Gnade wirkt, gerade weil hoch oben in der Gottheit, in Gottes Einheit, Gericht und Gnade nicht getrennt, sondern ein und dasselbe sind, woraus man Trost schöpfen kann – das Böse geht nicht von Gott aus, sondern entsteht erst auf tieferen Stufen der Emanation der Gotteskräfte.25 Der ḥasidisch-mystische Weg ist insbesondere für den Einzelnen der Weg des Trostes. Gott, so sagt Schapiro mehrfach, hat sich verborgen, Er weint dort in seiner Verborgenheit, im Rückzug in das Dunkel, um sein Volk Israel. Wenn nun der Einzelne hier auf Erden über seine eigene Not und über die Not ganz Israels weint, so ist dies sehr schmerzreich. Wenn er es aber vermag, mit Hilfe des Torastudiums bis zum verborgenen Gott vorzudringen, dann kann er mit Gott zusammen weinen: 23
Zu dieser Auffassung Gikatillas s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 407.
24
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 162.
25
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 168–169.
Schoah
475
»dann weint er dort mit dem Heiligen, Er sei gesegnet, zusammen und lernt zusammen mit ihm Tora. Und darin besteht der Unterschied: Wenn der Mensch für sich alleine über seine Not weint und Schmerz leidet, kann es sein, dass er ihretwegen zusammenbricht und darniederliegt, bis er zu nichts mehr fähig ist. Wenn er aber zusammen mit dem Heiligen, E.s.g., weint, so stärkt ihn dies, er weint und wird stärker, zerbricht und fasst neuen Mut zum Studium und Gottesdienst. Sich so über die Nöte zu erheben, fällt nur beim ersten und beim zweiten Mal schwer, stärkt man sich aber und erhebt den Kopf und greift zur Tora und zum Gottesdienst, dann betritt man die inneren Gemächer, in denen der Heilige, Er sei gesegnet, weilt. Und dort weint und jammert man gleichsam mit Ihm zusammen, dann wird man stark, lernt Tora und übt den Dienst Gottes, Er sei gesegnet.«26 Die ḥasidische Mystik, die in der Anhaftung Gottes, in der Devekut ihr Ziel hat,27 wird hier zum Medium des Trostes und der Stärkung des Einzelnen. Die unio mystica wird so zur stärkenden und tröstenden unio maeroris (Trauer-Einung).
2.3
Die Not und Trauer – im Rahmen des ḥasidischen Weltbildes
In einer längeren zusammenhängenden Homilie zeichnet Schapiro die gegenwärtige Not der verfolgten Juden in das ḥasidische akosmistische, an Spinoza erinnernde, Weltbild der Schule des Maggid, Dov Ber aus Mesritsch, und seines Schülers Schneʼur Salman aus Liadi ein, wie dies im zweiten Band dieser Darstellung beschrieben wurde.28 Es ist wert, diesen Einsatz des ḥasidischen Weltbildes zur Stärkung und Tröstung in höchster Not hier in voller Länge aufzunehmen, um zu zeigen, wie dieses Weltbild, dieser Glaube, als Strategem in Not, Trauer und Verzweiflung dienstbar gemacht werden konnte: »Jeder Mann aus Israel glaubt, dass es nichts außer Ihm [Gott] gibt […], nämlich dass es nicht nur keinen Gott außer Ihm gibt, sondern dass in der Welt überhaupt nichts außer Ihm existiert und die ganze Welt und ihre Fülle nur eine Ausstrahlung Gottes ist. Darum darf man nichts in der Welt als ein Ding für sich begreifen, sondern alleine als eine Ausstrahlung Gottes. Auch die Kinder Israels, darf man nicht als etwas für sich erfassen, als unsere eigenen Kinder. Sie sind vielmehr eine Schöpfung und Neuhervorbringung und Offenbarung Gottes, das ewige Volk Israel. Auch das Torastudium, das man
26
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 179.
27
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 790–804.
28
Vgl Jüdisches Denken, Bd. 2. S. 887–892.
476
Ḥasidische Stimmen
mit den Kindern in der Schule betreibt, auch was irgendeiner mit seinem Genossen lernt, oder was er ihm an Moral und Unterweisung vorträgt, all das darf man nicht als etwas für sich betrachten, sondern nur als Allerhöchstes, eine Offenbarung der Gottheit. […] Alles, was neu entsteht und erschaffen wird, ist nur eine Offenbarung der Gottheit. Denn es gibt nichts außer Ihm, nichts existiert außer Ihm. Deswegen wird auch alles Tun und jedes Wort eines Israeliten vom Innersten seiner göttlichen Seele getan, sie handelt und spricht. Denn seine Seele weiß, dass es nichts außer Ihm gibt, alles ist Gottheit, Sie handelt und spricht, alles ist Seines, Er sei gesegnet. Es ist nur die Körperlichkeit des Menschen, die das verdeckt ebenso wie sie die heilige Seele des Menschen und ihr Verlangen nach dem Herrn verdeckt. So dass es dem Menschen scheint, dass er nur körperliche Dinge tut, bespricht und Ziele verfolgt. Auch wenn ein Israelit seinen Genossen um einen Gefallen bittet, weiß doch seine Seele in ihm, dass ihr nur Gott alleine Gutes tun kann, und der Mensch, den er bittet, nur eine Bote von Ihm, Er sei gesegnet, ist. So meint zwar der Mensch, er erbitte von einem anderen Menschen einen Gefallen, aber es ist seine Seele in seinem Innersten, die es von Gott erbittet. Denn Er ist es, der alles vermag, Er ist der Vater des Erbarmens, der sich unsrer erbarmt und uns errettet. Und wenn man die Schreie der Gepeinigten hört, der Großen wie der Kleinen, die ›rettet, rettet‹ schreien, wissen wir, dass dies die Schreie ihrer Seelen sind, die Schreie all unserer Seelen, zum Herrn, dem Vater des Erbarmens: ›Rette, rette, solange noch ein Hauch des Lebens in uns ist.‹«29 Schapiro fährt fort und wundert sich, dass trotz der schrecklichen Schmerzensschreie die Welt noch steht, wo doch Gott schon angekündigt habe, die Welt ob dem Schreien seiner Kinder einreißen zu wollen. Es scheint demnach als ob Gott all dies nicht berührte. Dies umso mehr, als nicht nur die lebenden Juden ihre Schreie und Klagen zum Himmel schicken, sondern dass gewiss alle Väter und Mütter Israels, alle Propheten und Prophetinnen im Garten Eden schreien und klagen. Nach diesem Hinweis auf den Klagechor aller lebenden und toten Israeliten wiederholt Schapiro die pantheistisch-akosmistische Rede, nämlich dass alles nur eine Ausstrahlung Gottes sei, um dann dennoch, gleichsam verborgen, die Theodizeefrage zu stellen, diese aber dann wiederum zurückdrängt mit dem Hinweis, dass alles doch nur auf die Sehnsucht des Menschen nach Gott ankommt:
29
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 186–187.
Schoah
477
»Es gibt nichts außer Ihm, alles ist eine Ausstrahlung Gottes […] auch die Wahl zum Guten, die ein Israelit trifft, von Ihm, E.s.g, ist sie, denn es gibt nichts außer Ihm. Und was kann der Mensch tun, dass der Herr auf ihn den Willen und die Erkenntnis ergießt, das Gute zu wählen, denn warum gibt der Herr dem einen mehr Ausfluss an Willen und Erkenntnis als dem andern? Der Mensch muss auf jeden Fall sich nach dem Herrn sehnen, damit er auf ihn den Willen und die Erkenntnis ausströmt, Ihm zu dienen. Und der Mensch muss sich fähig machen, würdig zu sein, um das Licht der Heiligkeit, den Willen und die Erkenntnis von Oben zu erlangen.«30 Die ganze gegenwärtige Not wird hier auf die Sehnsucht des Menschen nach Gott hinübergeleitet, deren Früchte dann ein umso intensiverer Gottesdienst sein soll, der den Menschen letztlich aus den körperlichen Untiefen und Schmerzen in das wahre, das göttliche Sein hinaushebt. Eine letzte spezifisch ḥasidische Nuance kommt noch hinzu: Dort, wo der einfache Einzelne, der normale Ḥasid, nicht zu diesem Aufschwung befähigt ist, da kann und soll ihm die Gegenwart des Zaddik, der heiligen Person, helfen, die sich dazu – wie dies schon der erste ḥasidische Autor, Jakob Josef aus Polnaʼa beschrieben hat –,31 eigens aus seiner spirituellen Höhe zu den einfachen Menschen herablässt und dabei nicht einmal die Nähe der Sünde scheut.32 Die ḥasidischen Hörer des Rabbi Schapiro können dementsprechend auf seine Hilfe rechnen, um sich über die Niederungen der schmerzhaften Materiewelt zu erheben.
2.4
Trost mit den alten Schriften
Kalonymos Kalmisch Schapiro greift nicht nur zur Kabbala, um Trost für sich und seine Gemeinde zu finden. Auch der jahrtausendealte Midrasch bot ihm Handreichungen, nicht um ein äußerliches Wunder herbeizuführen, sondern ein inneres Wunder, das der Stabilisierung des Geistes, wo alle äußeren Umstände ihn niederdrücken. Man kann diese Strategien nicht in eine theoretische Zusammenfassung pressen, bei der das Wesentliche, nämlich das Innerliche, das situativ Emotionale, wegabstrahiert würde. Ich werde daher hier noch eine solche Trosthomilie im Stile des alten Midrasch vorstellen, die Schapiro zur Paraschat Mattot (Numeri 30,2), also zu Beginn des Fastenmonats Av (etwa August), gehalten hat. Der Tenor der ganzen Predigt ist die Freude auch in der Trauer. In ihrer Einleitung bringt Schapiro Belege aus der Bibel und der Tradition, die zei-
30
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 188.
31
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 870–885.
32
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 188.
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Ḥasidische Stimmen
gen, dass die Prophetie sich nicht bei einem traurigen Herzen einstellt, sondern nur bei Freude – so etwa das Beispiel des Propheten Elischa, der bat, man möge ihm einen Musikanten herbeibringen, um ihn aufzuheitern, damit der Heilige Geist sich auf ihn niederlassen könne (2. Könige 3, 15). Daran schließt Schapiro seine Aufmunterung an: »Die Prophetie kommt unmöglich bei Traurigkeit und der Talmud sagt dies auch hinsichtlich der Halacha, nämlich dass auch der Halachavortrag Freude braucht. Und nicht nur die Halacha! Selbst wenn man eine Predigt in der Not hält, kann man dies nicht mit gebrochenem Herzen und niedergedrücktem Geist tun. Und zuweilen ist es wegen der Größe des Zusammenbruchs und des Niedersturzes, Gott bewahre, unmöglich, sich zum Predigen zu zwingen. Und womit kann man sich, solange die Erlösung noch nicht gekommen ist, dennoch ein wenig stärken, und wodurch kann man in einer solchen Zeit des Zusammenbruchs und der Zerstörung dennoch ein wenig das Gemüt aufrichten? Vor allem durch das Gebet und das Vertrauen, dass Gott der Vater des Erbarmens ist und er unmöglich seine Kinder von seinem Angesicht verstoßen hat und, Gott bewahre, uns in einer solchen Gefahr, in die wir um seines gesegneten Namens willen gestoßen wurden, verlassen kann. Gewiss wird Er sich bald erbarmen und uns in einem kurzen Augenblick erretten. Aber womit sollen wir uns stärken angesichts der schon ermordeten Heiligen, Gott bewahre, die Verwandten und Freunde und alle Israeliten, von denen uns so viele zu Herzen gehen? Womit sollen wir uns dennoch ein wenig aufrichten von all den schrecklichen vergangenen und neu ankommenden Nachrichten, die unsere Glieder zermalmen und unsere Herzen verbrennen? Damit, dass wir in unseren Nöten nicht alleine sind, sondern auch Er, gesegnet sei Er, gleichsam mit uns leidet, wie es heißt ›ich bin bei ihm in der Not‹ (Ps 91, 15). Und nicht nur dies: Es gibt Nöte, die wir um unsrer selbst willen erleiden, um unsrer Sünden willen, oder Züchtigungen der Liebe, um uns zu läutern und zu reinigen, wobei Er dann mit uns leidet. Aber es gibt auch Nöte, die wir gewissermaßen nur für Ihn leiden, nämlich die Nöte des Kiddusch ha-Schem. Unser Vater und König handle um deretwillen, die um Deines heiligen Namens willen ermordet wurden. Denn sie wurden ja um seinet- und um der Heiligung seines Namens willen getötet. Diejenige, die du retten sollst, trägt Dein Leid, denn Israel trägt auch Sein Leid. Und das Wesentliche dieser Leiden geschieht um Seinetwillen und für Ihn, Er sei gesegnet. In solchen Leiden sind wir größer und erhobener und können uns gewiss leichter stärken. Die zu Rettende lernt Dich zu fürchten, die an der Backe geschundene, den Schlägen ausgesetzte, trägt Dein Leiden, sie lernt Dich zu fürchten. Das ist das Studium der ganzen Tora, wie es heißt: ›damit die Furcht vor Ihm auf eurem Angesicht sei‹ (Ex 20,17). Und wie kann man lernen, wenn das zer-
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schundene Kinn den Schlägen ausgeliefert ist? Wenn man weiß, dass man Dein Leiden trägt, dadurch wird man ein wenig gestärkt.«33 Die in den folgenden Kapiteln zu besprechenden und mit der überkommenen Tradition ringenden Autoren, insbesondere Emil Fackenheim, werden bestreiten, dass es in der Schoah noch die Möglichkeit des Kiddusch ha-Schem (die Heiligung des Gottesnamens im Märtyrertod als Zeugnis für Gott) geben konnte. Autoren und Gläubige wie Kalmisch Schapiro sehen dies inmitten der Verfolgung anders. Sie richten sich an dieser Möglichkeit auf und können sich mit ihr trösten. Sie können dies, weil sie noch nicht ihren Gott, als den Lenker der Geschichte, den erhofften Retter aufgeben wollten, wohl weil es mit dieser Hoffnung leichter war, das alles zu ertragen als in der vollkommenen Leere der Gottlosigkeit.
33
Schapiro, ʼEsch kodesch, S. 191.
II.
GLAUBE NACH AUSCHWITZ – »HOLOCAUSTTHEOLOGIE«, DER TOD GOTTES IN AUSCHWITZ RICHARD L. RUBENSTEIN (GEB. 1924)
1.
Biographisches
Richard L. Rubenstein, Rabbiner und Professor, wurde am 8.1.1924 in New York geboren. Rubensteins Arbeitsbereiche als Hochschullehrer waren die »Humanities«, das heißt er lehrte über den französischen Existentialismus und Literatur des 20. Jahrhunderts (Universität Pittsburgh bis 1969), ab 1970, in Florida (Universität in Tallahassee), am Departement für Religion und Gesellschaft, Modernes Judentum und »Holocaust«, Freud und Hegel. Nach langer Zeit an der Florida State University übernahm Rubenstein von 1995–1999 die Präsidentschaft der University of Bridgeport in Connecticut, um schließlich als Direktor das Center for Holocaust and Genocide Studies zu leiten. Rabbinerämter hatte er in Brockton und Natick (Massachusetts). Danach war Rubenstein stellvertretender Direktor der von den Bnai Brith getragenen Hochschul-Studentenorganisation Hillel Foundation und zugleich »Chaplain« an den Universitäten Harvard, Radcliffe and Wellesley (1956–1958) sowie deren erster Direktor und Chaplain in Pittsburgh, Carnegie-Mellon University and Duquesne University. Von 1981–1992 war er Präsident des Washington Institute for Values in Public Policy. Außerdem war er in weiteren Organisationen tätig, darunter auch ökumenischen und gar im Advisory Council der Unification Church International. Mit seiner Frau Dr. Betty Rubinstein hatte er zwei Söhne und eine Tochter. Erwähnt werden muss noch, was Rubenstein in seinem Buch After Auschwitz1 eigens erzählt, dass sein nicht observantes Elternhaus ihm die Bar Mizwa– Feier verweigerte, woran er als Jugendlicher offenbar sehr gelitten hatte. Das Judentum, das ihm als Jugendlichem als Last erschien, wollte er abschütteln, begann christliche Theologie zu studieren, schloss sich der Jugendgruppe der Unitarian Church an und plante gar Pastor zu werden. Von Letzterem nahm er noch in seinem letzten High School Jahr (1940) allerdings Abstand, als man ihm bedeutete, dass es für dieses Ziel besser wäre, einen nichtjüdischen Namen anzunehmen. So kehrte er wieder zu seinem jüdischen Leben zurück und begann 1942 zunächst am liberalen Hebrew Union College als Rabbinerstudent Hebräisch und Jüdische Geschichte zu studieren. Unter dem Eindruck der Informationen über den Genozid am europäischen Judentum wandte er sich von der Reformtheologie ab und vollendete sein Studium am konservativen New Yorker Jewish Theological Seminary. Es ist wert, diese vielfältigen Tätigkeiten Ruben1
R. L. Rubenstein, After Auschwitz. Radical Theology and Contemporary Judaism, Indianapolis, New York, Kansas City 1966, chap. 12 The Making of a Rabbi, S. 209–225.
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steins zu bedenken, denn sie sind ein lebender Kommentar zu seinem offenen und zugleich repräsentativen Denken. Abschließend eine Stimme aus dem akademischen Milieu der USA: »Rubenstein war einer der ersten jüdischen Theologen, welche auf die [Holocaust-] Literatur reagierten, wodurch er mit der Publikation von After Auschwitz im Jahre 1966 de facto die post-Holocaust-Theologie als völlig neue Disziplin erfand. Damals war Rubenstein der Campus Rabbiner an der Universität in Pittsburgh, das enfant terrible der jüdischen Theologie, der bald das erfuhr, was Michael Berenbaum eine bürokratische Exkommunikation nannte, weil er radikale Schlussfolgerungen aus dem katastrophalen Leiden zog. Mit der Publikation von After Auschwitz sah sich Rubenstein durch die organisierte Jüdische Gemeinschaft an den Pranger gestellt und konnte keine akademische Anstellung finden. Schließlich übernahm er ein Lehramt an der Staats-Universität Floridas in Tallahassee an. Gegenwärtig [1998] ist er Präsident der Universität von Bridgeport – einer akademischen Institution die mit Rev. Moons Unification Church assoziiert ist.« – so Zachary Braiterman in seinem Buch (God) After Auschwitz.2
2.
Grundlinien von Rubensteins Denken
In einem Aufsatz aus dem Jahre 2010 mit dem Titel »There is Nothing Final About the Death of God« sagt Richard Rubenstein über sich selbst: »Während meiner gesamten beruflichen Laufbahn wurde ich als der jüdische ›Gott ist tot‹-Theologe betrachtet. Demgegenüber sehe ich mich selbst als Holocaust-Theologen. Meine eigene Auffassung vom ›Tod Gottes‹ war im Wesentlichen meine Reaktion auf die Schoah, den Holocaust.«3 Diese Selbsteinschätzung Rubensteins ist gewiss erst im Laufe seiner wissenschaftlichen Entwicklung und deren Arbeitsgebiete entstanden und trägt doch zugleich der Sicht von außen Rechnung. Rubensteins erstes Buch trägt zwar den der Selbsteinschätzung vollkommen entsprechenden Titel After Auschwitz, aber 2
Z. Braiterman, (God) After Auschwitz, Princeton 1998, S. 8; zu Rubenstein s. auch Ch. Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtsphilosophisches Denken im Judentum nach Auschwitz, Gütersloh 1995, S. 245–257.
3
R. L. Rubenstein, There is Nothing Final About the Death of God, http:// www.newenglishreview.org/Richard_L._Rubenstein/ There_is …; ursprünglich deutsche Version: Der Tod Gottes ist keineswegs endgültig, in: T. D. Wabbel (Hg.), Das Heilige Nichts: Gott nach dem Holocaust, Düsseldorf 2007.
Richard L. Rubenstein
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nach der Lektüre des Buches erscheint doch der Untertitel Radical Theology and Contemporary Judaism als die treffendere Charakterisierung des Werkes. Denn die hier mehrfach ausgesprochene Auffassung vom Tod Gottes, beziehungsweise vom Tod des in der Geschichte wirkenden Gottes, wird zwar mit der Judenvernichtung in den deutschen Todeslagern in Beziehung gebracht, wird aber zugleich häufig in einen sehr viel weiteren Kontext der Moderne gestellt. Symptomatisch ist dafür die Bezugnahme auf Friedrich Nietzsches Die Fröhliche Wissenschaft, in welcher ein »toller Mensch« den Tod Gottes ausruft,4 sowie auf Kierkegaard, mit denen auch für Rubenstein der Rahmen für die Zeit des Gottestodes gesetzt ist. Der »Holocaust« erscheint für Rubenstein in diesem weiter gesteckten geistesgeschichtlichen Rahmen gleichsam dann nur noch als die letzte und definitive Bestätigung für die Berechtigung, oder besser Notwendigkeit, dieser Aussage vom Tod Gottes geworden zu sein. Das bedeutet, auch ohne die Erfahrung des Holocaust hätte Rubenstein, zum Theologen des Gottestodes werden können. Definitiv anders stellt sich die Beurteilung in dem 1987 erschienenen Buch Approaches to Auschwitz. The Legacy of the Holocaust dar, das nun eine ganz klare und eindeutige Bezugnahme hat.5 In diesem Buch, das den Genozid am europäischen Judentum zunächst historisch bis tief hinab in die Geschichte behandelt, kommt Rubenstein im zehnten Kapitel, das die theologischen und philosophischen Reflexionen über den Holocaust bearbeitet, nochmals auf seine in After Auschwitz vorgetragenen Positionen zu sprechen. Andererseits kommt er, auch angesichts religionssoziologischer Untersuchungen, die zeigen, dass selbst Holocaust-Überlebende nicht grundsätzlich den traditionellen jüdischen Glauben in Frage stellen,6 zu der Auffassung, dass die »Zeit des Gottestodes« in absehbarer Zeit vorüber sein mag. Denn die Zeugnisse aus der Schoah zeigen, dass trotz erheblicher Glaubenszweifel und einer Kluft zwischen Glauben und religiöser Praxis bei vielen Juden sich auch nach Auschwitz noch keine ideologische Alternative gefunden hat, welche ein Ersatz für die traditionellen Glaubensweisen des Judentums bereitstellen könnte: »Traditionellerweise war das gesamte Corpus der religiösen Praxis des Judentums auf den Glauben der Gottesoffenbarungen an Moses, die Patriarchen und die Propheten gegründet. Solange aber dieser grundlegende Glaube nicht
4
Vgl. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Berliner Ausgabe 2013 (Hg. K. Schlechta),
5
R. L. Rubenstein & J. K. Roth, Approaches to Auschwitz. The Legacy of the Holocaust, Lon-
6
Die entsprechenden Untersuchungen bei: Reeve Robert Brenner, The Faith and Doubt of Hol-
S. 108–109 (§ 125). don 1987. ocaust Survivors, New York 1980; bei Rubenstein, Approaches to Auschwitz, S. 292–296. 299–300.
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bewiesen ist, wird zwischen dem jüdischen Glauben und dem religiösen Brauch eine schmerzvolle Dissonanz bestehen. Da aber der Horror des Holocaust sich im Laufe der Zeit abschwächen wird, werden religiöse Juden, wenn auch in stark reduzierter Zahl, diese Dissonanz wohl vermindern und mit dem traditionellen Gebetbuch erklären ›dies kam wegen unserer Sünden über uns‹. Die Zeit dafür ist noch nicht gekommen, aber sie mag auf dem Wege sein.«7 Weshalb Rubenstein diese leicht abgeklärte Position und ohne Aufschrei des »Radikal-Theologen Rubenstein« an das Ende seiner späteren Darlegungen stellen konnte, ist in seiner Auffassung von Religion auch ohne Gott begründet, wie sich im Folgenden noch zeigen wird. Dass Rubensteins »radikale Theologie« letztlich nicht alleine durch die Wahrnehmung der Holocaust-Literatur, welche das Leiden des europäischen Judentums darstellte, ausgelöst wurde, zeigt sich unausweichlich an seiner theologischen Abhängigkeit von dem deutsch-amerikanischen protestantischen Theologen Paul Tillich (1886–1965), bei dem Rubenstein selbst studierte, den er mehrfach zitiert und den er tief verehrte.8
3.
Der Tod Gottes und der »Holocaust«
Für Richard L. Rubenstein ist die Rede vom Tod Gottes recht besehen nur eine kulturell bedingte sprachliche Formel für eine Befindlichkeit, die er 1966 einmal so beschreibt: »Ich glaube, die einzig wirklich große Herausforderung für das moderne Judentum resultiert aus der Frage nach Gott und den Todeslagern. Deshalb kann ich mich über das Schweigen der gegenwärtigen jüdischen Theologen über diese entscheidende und von allen jüdischen Fragen quälendste nur wundern. Wie können Juden nach Auschwitz an einen allmächtigen und wohltätigen Gott glauben? Traditionellerweise behauptet die jüdische Theologie, dass Gott der letztentscheidende und allmächtige Akteur im Geschichtsdrama ist. Sie hat jede größere Katastrophe in der jüdischen Geschichte als Gottes Strafe für die Sünden Israels gedeutet. Ich kann nicht sehen, wie man diese Auffassung aufrechterhalten kann, ohne zugleich Hitler und die SS als Instrumente des göttlichen Willens zu verstehen. Der Todeskampf des europäischen Judentums kann nicht mit den Versuchungen Hiobs verglichen werden. Will man in den Todeslagern irgendeinen Sinn finden, so
7
Rubenstein, Approaches to Auschwitz, S. 336.
8
Rubenstein, After Auschwitz, S. 226.
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muss man als traditionell Gläubiger notwendigerweise die allerdämonischste und unmenschliche Explosion der gesamten Geschichte als einen mit Sinn ausgestatteten Ausdruck von Gottes Absichten betrachten. Dieser Gedanke ist schlicht zu obszön, als dass ich ihn annehmen könnte.«9 »Wenn es einen Gott der Geschichte gibt, dann ist er der letztverantwortliche Täter von Auschwitz. Ich bin bereit an einen Gott des Heiligen Nichts, der unser Ausgangspunkt und unser letztes Ziel ist, zu glauben, aber nie wieder an einen Gott der Geschichte.«10 Es ist dieser zentrale jüdische Glaubenssatz von der vorsehenden Geschichtslenkung Gottes, der angesichts der deutschen Todeslager unannehmbar geworden ist. Damit wird nicht eigentlich die Formel vom »Tod Gottes« proklamiert, die Rubenstein als eine christliche Formel erachtet – abgeleitet vom Gottestod auf Golgatha11 –, sondern ein bestimmtes traditionelles Gottesattribut in Frage gestellt. Rubenstein präzisiert darum an anderer Stelle, dass man diese Formel allenfalls im Sinne vom Tod eines Gottes, der die Geschichte lenkt, denken muss, nicht aber als das Ende jeglichen Glaubens an einen Gott. So sagt er in seinem Aufsatz »Nothing is final About the Death of God« (2010), dass wenigstens für das Judentum ein »vorsehendes Verständnis der Gottheit« nicht mehr möglich ist. Und in After Auschwitz »Wir glauben nicht länger an einen Gott, der die Macht hat, die tragischen Notwendigkeiten der Existenz zu annullieren.«12 Der apodiktische Satz »Gott starb wirklich in Auschwitz«13 ist für Rubenstein zwar unausweichlich, doch die Befindlichkeit, in einer Zeit zu leben, in der sich die Gottheit nicht »mehr« in die menschlichen Belange einmischt, hat in seinem Denken dennoch einen weiteren Rahmen, den er selbst als »existenzialistisch« charakterisiert und auf Nietzsche, Camus und Sartre zurückführt. Die Rede vom Tod Gottes ist, so betont Rubenstein, nicht eine ontologische Aussage, die vom realen Tod einer Gottheit berichtet, sondern eine kulturell bedingte Formulierung für ein existenzialistisches Weltverständnis, dessen Grundmotiv die Verlassenheit des Menschen im Kosmos ist: »Kein Mensch kann wirklich sagen, Gott sei tot. Wie sollten wir so etwas wissen können? Dennoch bin ich gezwungen zu sagen, dass wir in der ›Zeit des Todes Gottes‹ leben. Dies ist richtig betrachtet eine Aussage über den Menschen und seine Kultur als über Gott. Der Tod Gottes ist eine kulturelle
9
Rubenstein, After Auschwitz, S. 153.
10
Rubenstein, After Auschwitz, S. 204.
11
Rubenstein, After Auschwitz, S. 151–152. 245.
12
Rubenstein, After Auschwitz, S. 154.
13
Rubenstein, After Auschwitz, S. 224.
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Tatsache. Dies hat schon Martin Buber empfunden, wenn er von der ›Gottesfinsternis‹ sprach.14 Ich kann Bubers Zögern verstehen, die explizit christliche Formulierung zu wählen. Ich fühle mich dennoch gezwungen, sie zu benützen, weil ich überzeugt bin, dass die Zeit, von welcher der tolle Mensch in Nietzsches [Fröhlicher Wissenschaft] glaubte, sie sei noch zu ferne, uns nunmehr eingeholt hat. Es führt kein Weg an Nietzsche vorbei. Hätte ich in einer anderen Zeit und Kultur gelebt, hätte ich vielleicht eine andere Terminologie zum Ausdruck meiner Auffassungen gefunden. Ich bin aber ein religiöser Existentialist nach Nietzsche und nach Auschwitz. Wenn ich sage, dass wir in der Zeit des Todes Gottes leben,15 meine ich damit, dass der Faden, der Gott und Mensch, Himmel und Erde verbindet, abgerissen ist. Wir stehen in einem kalten, stummen und gefühllosen Kosmos, ohne Hilfe durch irgendeine willensgesteuerte Macht jenseits unserer eigenen Ressourcen. Was sonst kann ein Jude nach Auschwitz noch über Gott noch sagen?«16 Auschwitz, so schrecklich und einzigartig es auch gewesen sein mag, ist demnach nur der letzte unausweichliche Grund für ein Verlassenheitsgefühl des Menschen in dieser Welt, für dessen Beschreibung Rubenstein mehrfach die Romane von Albert Camus und Jean Paul Sartre heranzieht.17 Theologie ist nach Rubensteins Auffassung keine »Lehre von Gott« sondern eigentlich »Anthropologie«, eine Lehre vom Menschen. Die theologischen Lehren sind Beschreibungen der Befindlichkeit des Menschen, vergleichbar dem in der Psychologie verbreiteten Rorschach-Test, bei welchem dem Patienten durch Faltung symmetrisch gewordene Tintenklecksbilder gezeigt werden und er dazu seine spontanen Empfindungen äußert. »Der Begriff ›Gott‹ ist dem unstrukturierten Tintenkleks des Rorschach-Tests zu vergleichen. Dessen offensichtliche Inhaltslosigkeit hilft dem Menschen seine Ängste, Bestrebungen und Sehnsüchte hinsichtlich seines Ursprungs, seiner Bestimmung und seines Endes auszudrücken.«18 Darum darf man den Begriff vom Tode Gottes so deuten: »Die Welt des Gottes-Todes ist ei-
14
Siehe auch Rubenstein, After Auschwitz, S. 245; zu Buber s. M. Buber, Eclipse of God: Studies in The Relation Between Religion and Philosophy, Atlantic Highlands 1988; M. Buber, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, in: ders., Werke, Bd. 1. München & Heidelberg 1962, S. 503–603.
15
Diese Formulierung von der Zeit des Todes Gottes auch in Rubenstein, After Auschwitz,
16
Rubenstein, After Auschwitz, S. 151–152; vgl. auch After Auschwitz, S. 224. 244. 246
17
Rubenstein, After Auschwitz, S. 256. 257. 202–204.; er nennt auch Hegel, Dostojewski, Mel-
18
Rubenstein, After Auschwitz, S. 246.
S. 245. 246.
ville und Kierkegaard, After Auschwitz, S. 245.
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ne Welt ohne Hoffnung und ohne Illusionen. Die Menschen wachsen heran, vergehen und sterben.«19
4.
Religion ohne Gott als priesterlich-sakramental heidnische Religion
Richard Rubenstein blieb Zeit seines Lebens Rabbiner und Anhänger des Judentums, trotz seiner Überzeugung, dass ein wesentliches Element des jüdischen Gottesglaubens, nämlich der Glaube an die Vorsehung Gottes für sein Volk, an die Lenkung seiner Geschicke, sei es als Lohn oder Strafe, wie dies so eindrücklich im biblischen deuteronomistischen Geschichtswerk gezeichnet wird,20 hinfällig ist, wozu auch der Glaube an die Erwählung des Volkes Israel durch diesen Gott gehört.21 Wie ist dies vorstellbar, dass ein Mensch religiös bleibt und zugleich vom Tod Gottes spricht? In einem einzigen Satz gibt Rubenstein einmal eine Antwort auf diese Frage: »Ich habe stets die Auffassung vertreten, dass unsere Rede vom Tod Gottes, was immer wir darunter verstehen mögen, unter keinen Umständen zugleich den Tod der Religion bedeutet.«22 Dieser anscheinende Widerspruch zwischen Tod Gottes und Weiterbestand der Religion ist in Rubensteins Religionsverständnis begründet, das den Vorstellungen der zeitgenössischen Religionswissenschaft solcher Gelehrter wie Emile Durkheim, Victor Turner, Arnold van Gennep, Siegmund Freud und C. G. Jung und auch Paul Tillich nahesteht.23 Demnach ist die Religion in erster Linie ein gesellschaftliches und psychologisches Phänomen, mit dessen Hilfe sich das In-
19
Rubenstein, After Auschwitz, S. 257.
20
Zum Deuteronomistischen Geschichtewerk und dessen Geschichtsbild s. Jüdisches Denken
21
Zur Hinfälligkeit des Erwählungsglaubens, s. Rubenstein, After Auschwitz, S. 69: »Nach den
Bd. 1, S. 40–44. Erfahrungen unserer Zeit, können wir weder den Mythos von einem allmächtigen Gott der Geschichte bejahen, noch dessen logische Folge, die Erwählung Israels.« und: »Solange wir noch die Lehre von der Erwählung Israels aufrechterhalten, bleiben wir der [christlichen, von Probst Krüger in Berlin Rubenstein gegenüber geäußerten] Theologie ausgesetzt, dass weil die Juden Gottes auserwähltes Volk sind, dieser Gott von Hitler wollte, dass er die Juden bestrafe.«, Rubenstein, After Auschwitz, S. 58; Tod Gottes, S. 115–118. 22
Rubenstein, There is Nothing Final About the Death of God.
23
Zu all diesen Religionswissenschaftlern siehe den von A. Michaels herausgegebenen Sammelband Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, Darmstadt 1997 (München 1997); vgl. Rubenstein, After Auschwitz, S. 254.
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dividuum und die Gesellschaft gegenseitig stützen, indem sie ihre Empfindungen und Gefühle angesichts der widrigen Weltgeschehnisse in gemeinsamen performativen Akten teilen und tragen, insbesondere in sogenannten Übergangsriten, Mythen und Symbolen. Rubenstein will deswegen die von Dietrich Bonhoeffer einst gestellte Frage nach einem Gott ohne Religion geradezu umkehren und fragt: »Wie reden wir von Religion in der Zeit des Gottestodes?«24 Die Menschen, so glaubt Rubenstein, brauchen die Religion, auch wenn sie nicht mehr an Gott glauben oder glauben können: »Wie steht es um die Religion in der Zeit von Gottes Tod? Sie ist die Art und Weise in welcher wir bewusst und unbewusst mit Hilfe überkommener Mythen, Rituale und Traditionen unserer Gemeinden die Dilemmata und Krisen von Leben und Tod, Gut und Böse teilen und feierlich begehen. Religion ist das Medium, mit dessen Hilfe wir unsere schwere Lage teilen; sie ist jedoch niemals das Mittel mit Hilfe dessen wir unsere Situation beseitigen (overcome).«25 Religion funktioniert somit nach dem geläufigen Sprichwort »geteilter Schmerz ist halber Schmerz«, sie hat eine psychologische und gesellschaftliche Hilfsfunktion, der Einzelne wird in seiner Angst, in seinem Alleinesein von der Gemeinschaft getragen, die rituelle Performanz schafft Erleichterung. Diese psychologische Funktion ist für den Menschen unverzichtbar. Sie schafft emotionale Erleichterung, beseitigt aber nicht die reale Notsituation, worum der traditionelle Gläubige im Gottesdienst ja stets gebetet hatte. Rubenstein beschreibt diese Situation einmal, wie sie auch Kafka in seiner berühmten Geschichte von Josefine und dem Volk der Mäuse zeichnete, nämlich dass der Beter zwar weiß, dass sein Gebet seine Situation objektiv nicht verändert, dass es ihm aber dennoch seelische Erleichterung schafft.26 Mit den Worten von Rubenstein: »Wenn ich an meinem eigenen jüdischen Gottesdienst teilnehme, nehme ich betrübt das pathetische Sehnen meiner jüdischen Mitbrüder wahr, die suchen, ein sinnloses Leben sinnvoll werden zu lassen. So erscheint mir, grob gesprochen, die Bedeutung der religiösen Gemeinschaft, sei es der jüdischen wie auch der christlichen, als der absurde, pathetische Versuch, ein bedeu-
24
Rubenstein, After Auschwitz, S. 205. 191.
25
Rubenstein, After Auschwitz, S. 263.
26
Vgl. K. E. Grözinger, Kafka und die Kabbala (2014), S. 11. 24. 202. 276.
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tungsloses Leben mit Bedeutung zu erfüllen, für den es keinerlei Ersatz gibt. Der Versuch ist nutzlos, jedoch psychisch unverzichtbar.«27 Was hier vielleicht zynisch und süffisant klingen mag, ist für Rubenstein keineswegs so gemeint. Er ist der Überzeugung, dass menschliches Leben ohne diesen »Selbstbetrug« nicht wirklich möglich ist. Denn tatsächlich ist in solchen Ritualen eine Wahrheit involviert, die den bejahend Teilhabenden stützt und trägt, eine Wahrheit, die nicht universal ist, oder sein muss, sondern absolut partikular, eine Wahrheit der je einzelnen Gemeinschaft, die sich von der Wahrheit anderer Gemeinschaften sehr wohl unterscheidet. Jede Gemeinschaft hat, psychologisch gesprochen, ihre eigene Wahrheit. So sagt dies Rubenstein einmal ohne jede Einschränkung: »Ich glaube, dass alle bedeutenden Religionen für ihre gläubigen Anhänger psychologisch wahr sind. Sie stimmen als solche im tiefsten Grunde mit den Bedürfnissen und Identitäten ihrer Teilnehmer überein. Das heißt hinsichtlich ihrer psychologischen Funktionen ist das Judentum nicht ›wahrer‹ als jede andere Religion.«28 Diese Wahrheit ist, notabene, im Wesentlichen in den Begehungen und den gemeinschaftlichen Ritualen, als psychologisch wirksame Wahrheit enthalten. Dies zu betonen ist Rubenstein wichtig und er verbindet damit zugleich eine Kritik der Tendenzen in den Religionen seit dem 19. Jahrhundert, die sich im Judentum in besonderem Maße in der Reformbewegung realisierten. Gemeint ist die Tendenz, das Wesen der Religion vom Ritus und Kultus hin zum Ethischen und Moralischen zu verschieben. Rubenstein warnt vor dieser Verschiebung, weil er glaubt, »dass eine der wichtigsten Funktionen einer religiösen Gemeinschaft darin beruht, die Verfehlungen, insbesondere die moralischen, miteinander zu teilen. Wir wenden uns zum Heiligtum weniger, um zur Tugendverfolgung ermahnt zu werden, als vielmehr aus der Notwendigkeit, dass wir unsere unvermeidlichen Tugend-Mängel zum Ausdruck bringen und mit den anderen teilen.«29 Wiewohl Rubenstein die rabbinische Haggada als kulturelles Erbe der jüdischen Religion anerkennt und ihr eigens ein ganzes Buch widmete,30 erkennt er deren Leistung nicht in deren ethisch-moralischer Unterweisung, sondern in deren Versuch, erzählerisch dem jüdischen Leben einen Sinn zu verleihen, selbst wenn dies nach
27
Rubenstein, After Auschwitz, S. 263; u. vgl ebenda S. 119.
28
Rubenstein, After Auschwitz, S. 148.
29
Rubenstein, After Auschwitz, S. 150.
30
R. L. Rubenstein, The Religious Imagination. A Study in Psychoanalysis and Jewish Theology, Indianapolis 1968 (Neudruck: Lanham1985).
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dem traditionellen Muster von menschlicher Verschuldung und entsprechendem Leiden als göttlicher Strafe geschieht, eine Deutungsformel, die Rubenstein letztlich als fatal einschätzt und deren Ablösung er nachdrücklich fordert. Also auch hier weist Rubenstein die moralisch-ethische Unterweisung als Aufgabe der Religion zurück – er nennt diese paränetische Absicht der Religion die »prophetische Tradition«. Demgegenüber fordert er nachdrücklich eine Wiederbelebung des »priesterlichen Erbes«, denn: »Die hauptsächliche Rolle der Religion ist die priesterliche. Sie bietet dem Menschen eine rituelle und mythische Struktur, in der die bestehende Wirklichkeit von Leben und Tod miteinander geteilt werden kann. Solange Menschen geboren werden, durch die Krisen des Übergangs schreiten, Schuld erfahren, versagen – denn dies müssen sie –, alt werden und sterben, sind traditionelle Kirchen und Synagogen unersetzbare Einrichtungen.«31 Dies alles ist so und wird so bleiben, solange der Mensch in einer unerlösten Welt lebt. Religiöse Gemeinschaftsformen sind ein psychisches Bedürfnis, für das es keine rationalen Erklärungen gibt.32 Dieser wohl meist unbewusste Mechanismus der religiösen Begehung ist in der Regel keiner, den ein Mensch frei wählen kann. Es ist, so glaubt Rubenstein, die je existentielle Geworfenheit des Menschen in eine bestimmte Gemeinschaft, deren Traditionen ihn prägten, die es dann auch sind, welche ihm die erforderlichen psychischen Stützen und eine Sinngebung für sein persönliches Leben durch ihre ererbten Riten anbieten können.33 Und weil dies so ist, sieht Rubenstein gerade in den alten traditionellen Liturgie- und Gottesdienstformen in erheblich größerem Maße die Kraft, diese Funktion zu erfüllen und bis in das Unbewusste des Menschen vorzudringen, als dies alle Versuche der Modernisierung vermögen.34 Rubenstein geht sogar so weit, die mystisch-heidnischen Elemente der biblischen Religion35 als in diesem Sinne besonders wirksam zu erachten, von denen ja bis in die Moderne hinein
31
Rubenstein, After Auschwitz, S. 205–206; dazu vgl. man R. B. James, Tillich and World Religions: Encountering other Faiths Today, Macon 2003, S. 97: »In den meisten seiner Erörterungen behandelt Tillich die sakramentale Religion als den originalen und grundlegenden Typus der Erfahrung des Heiligen. Für eine solche Religion liegt der Fokus in den begrenzten Realitäten, in denen das Unendliche oder Heilige sich uns vergegenwärtigt. Eine sakramentale Realität in diesem Sinne kann ein Ereignis, eine Person, ein Gegenstand, ein bestimmtes Tun, ein Wort oder eine heilige Handlung oder ein heiliges Ritual sein.«
32
Rubenstein, After Auschwitz, S. 221.
33
Rubenstein, After Auschwitz, S. 222.
34
Rubenstein, After Auschwitz, S. 222.
35
Vgl. Rubenstein, After Auschwitz, S. 109.
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einige erhalten geblieben sind, nämlich die Beschneidung,36 die Auslösung der Erstgeburt (Pidajon ha-Ben), Bar Mizwa, die Kaschrut-Gesetze die Rezitation der Opfertexte in der Liturgie.37 Die Kaschrut-Gesetze, so Rubenstein, die letztlich auf der Tatsache ruhen, dass das »Leben ausschließlich durch die Zerstörung und Einverleibung von anderem Leben existiert«, wollen und können diese Tatsache nicht beseitigen, stattdessen kanalisieren sie die damit verbundenen Emotionen und Bestrebungen, »die ohne solche Begrenzung hoffnungslos zerstörerisch würden. Gerade dies tun auch die die Kaschrut-Regeln, welche jede Mahlzeit zu einem sakramentalen Akt machen.«38 Dadurch wird das unausweichlich zerstörerische Element der Nahrungsaufnahme, das ein Problem für das menschliche Leben darstellt, in seinem Ernst als höchst belangvolles Lebenselement bewusst gemacht. Die auch nur symbolische Beibehaltung der Tempelopfer, indem im Gottesdienst die biblischen Opfertexte rezitiert werden, fangen die persönlichen Verfehlungen in der Gemeinschaft der »Opfernden auf« und schaffen so Erleichterung. Im »Ritualmord« des Opfers ist stets die Hoffnung enthalten, dass der Tod des Opfers die übrige restliche Gemeinschaft vor dem Tode bewahrt.39 Die Bar-Mizwa Feier nennt Rubenstein als klassischen Übergangsritus (rite de passage). »Er ermöglicht dem jungen Mann seinen Übergang von der Kindheit zum Jugendlichen und beginnendem Mann-sein offiziell zu machen. Diese Feier bestätigt ihm seine neu erworbene männliche Rolle.«40 Dem Ritus eignet auch noch die Funktion eines Pubertätsritus, die ihm einen neuen sexuellen Status zusichert. »In diesem Ritus liegt viel Primitives und sogar Archaisches. Es ist der Ritus, in welchem das zeitgenössische Judentum den primitiven heidnischen Kulturen fast vollkommen gleicht.«41 Rubenstein erachtet es als besondere Weisheit, dass die Rabbinen die heidnischen urtümlichen Riten und Begehungen der biblischen Zeit nicht beseitigten, sondern beibehielten, jedoch deren schmerzvollen und unnötigen Schaden auf ein Minimum zu begrenzen suchten. »Zuerst wurde das Menschenopfer durch Tieropfer ersetzt, später, nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, ersetzte das gesprochene Wort das konkrete Opfer und die sakramentale Existenz wurde mit der Notwendigkeit der Ernährung in der Kaschrut verbunden.«42 Rubenstein meint, man müsse zu dieser Weisheit der Rabbinen zurückkehren, nämlich der
36
Zu ihr äußert sich Rubenstein diesbezüglich in: The Religious Imagination.
37
Rubenstein, After Auschwitz, S. 240. 93–111; u. vgl. Rubenstein, There is Nothing Final.
38
Rubenstein, After Auschwitz, S. 100.
39
Rubenstein, After Auschwitz, S. 101–105.
40
Rubenstein, After Auschwitz, S. 234.
41
Rubenstein, After Auschwitz, S. 234.
42
Rubenstein, After Auschwitz, S. 111.
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Erhaltung der heilsamen »priesterlichen« Riten und gleichzeitig der Vermeidung von deren schmerzlichen Seiten, nicht aber deren Beseitigung betreiben und stattdessen eine intellektuelle Hinwendung zur »prophetischen« Moral und Ethik-Unterweisung zu propagieren. Rubenstein empfiehlt diese »historische Form der jüdischen Religion«, die er einmal ein »mystisches Heidentum« (mystical paganism) nennt, als die Religionsform, »welche die am meisten versprechende Religion« in einer Zeit des »Gottestodes« sei.43 In einer Debatte mit dem protestantischen Gott-ist-tot-Theologen Thomas Altizer formuliert Rubenstein diesen Gedanken sehr pointiert, was mutatis mutandis auch für seine Sicht des Judentums gilt: »In der Zeit des Todes Gottes mag manche Form einer heidnischen Gesundheit besser mit den tiefsten Instinkten der Menschheit zusammenpassen als dies eine atheistische christliche Apokalyptik [vom Schlage Altizers] vermag. Ich glaube, dass das Heidentum in Wirklichkeit in den Herzen der Menschen den Sieg errungen hat. Das Heidentum (paganism) ist keine vulgäre Aufforderung an das Niedere im Menschen; es ist vielmehr eine weise Intuition hinsichtlich des Ortes des Menschen in der Natur der Dinge. Trotz Altizers Feindschaft gegenüber der priesterlichen Religion, hat eben diese priesterliche Religion sowohl im Judentum wie im Christentum das Rennen gewonnen, einfach indem sie ihre ererbten Rituale und Symbole als Instrumente verwendet, wodurch die entscheidenden Krisen des Lebens gefeiert und mit andern geteilt werden können. Dies ist keinesfalls ein Desaster. Die Instinkte der Menschen sind oft besser als ihre Ideologien. Das Leben hat seine eigenen Wege, uns religiöse Bedürfnisse aufzuerlegen. Geburt, das Heranwachsen, Heirat und Tod verlangen eine religiöse Feier. In solchen Augenblicken liegt uns mehr an kultischen Akten als an prophetischer Verkündigung […] Die heidnisch-kultische Religion ist tief in der Wirklichkeit der menschlichen Biologie und Psychologie verwurzelt.«44 Zu seinen Einschätzungen der Wirkungen dieser alten Riten kommt Rubenstein mit Hilfe der Psychoanalyse. An einer Stelle sagt er dies ausdrücklich, und formuliert die von ihm angenommene Wirkung dieser Sakramente in »psychoanalytischer« Terminologie: »Die Rituale der priesterlichen Religion sind zum Teil mit den Regressionen im Dienste des Ego verwandt. Ihr Ziel ist es zum Teil uns mit denen Quellen des Urvertrauens, die in unserer frühesten Kindheit verwurzelt sind in Kon43
Rubenstein, After Auschwitz, S. 240.
44
Rubenstein, After Auschwitz, S. 259.
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Richard L. Rubenstein
takt zu bringen, und auf die wir für unsere vertrauensvolle Begegnung mit der profanen, säkularen Welt nicht verzichten können. Deswegen ist die Sprache von Eltern und Kind in den religiösen Ritualen so unabdingbar. Sie sind gerade deshalb so bedeutungsvoll, weil sie für die Erinnerung unentbehrlich sind.«45 Die Rituale erscheinen demnach wie das Plektrum am Saiteninstrument, mit dessen Hilfe die im tiefen Unbewussten des Menschen liegenden Saiten des Urvertrauens angeregt und aktiviert werden. Dies geschieht durch die Performanz des Aktes wie auch durch die sie begleitenden Sprachsymbole. Nach alledem verwundert es nicht mehr, wenn Rubenstein in einem deutsch vorliegenden Text folgendes ganz persönliches Glaubensbekenntnis ablegt: »Zum Abschluß möchte ich mein persönliches Glaubensbekenntnis nach Auschwitz ablegen. Ich bin Heide. Heide zu sein bedeutet, noch einmal zu seinem Ursprung als Kind der Erde zurückzukehren und seine Existenz als eine ganz und gar irdische Existenz zu verstehen. Es bedeutet, wieder zu erkennen, daß die wahren Gottheiten der Menschheit die Götter der Erde sind, nicht die Hochgötter des Himmels; die lokalen Götter, nicht die Götter der Zeit; die Götter von Heim und Herd, nicht die der Wanderschaft, mögen wir auch zur Wanderschaft gezwungen sein. Obwohl die Theologen des jüdischen Establishments ausnahmslos diese Haltung verwerfen, hat das jüdische Volk doch seine Zustimmung gegeben, und zwar mit den Füßen. Es ist heimgekehrt. Der beste Teil des Volkes hat aufgehört, Wanderer zu sein. Es hat nun wieder eine ihm gehörende Bleibe auf Erden gefunden. Das ist Heidentum.«46 Eine solche Religion der Zelebrierung der sich gegenseitig tragenden Gemeinschaft braucht keinen »theistischen Gott«,47 sie kann ohne einen Gott funktionieren, das heißt aber nicht, dass sie der Huldigung eines irgend gearteten Gottesglaubens unbedingt im Wege stehen muss, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. Zunächst muss noch darauf hingewiesen werden, dass Rubenstein als einen Teil dieses nötigen Festhaltens an den überkommenen Riten auch die Beibehaltung des »Gesetzes« befürwortet. Er glaubt, dass heute, in der Gegenwart des zwanzigsten Jahrhunderts, im Prinzip noch dieselbe Situation bestehe, wie sie 45
Rubenstein, After Auschwitz, S. 252.
46
R. L. Rubenstein, Der Tod Gottes, in: M. Brocke & H. Jochum (Hg.), Wolkensäule und Feuer-
47
Rubenstein, After Auschwitz, S. 152.
schein. Jüdische Theologie des Holocaust, Gütersloh 1993, S. 111–125, hier S. 124.
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einst zur Zeit der Auseinandersetzung von Pharisäern und »Christen« bestanden hatte. Die Pharisäer glaubten nämlich im Gegensatz zu den Neu-Christen, dass mit dem Auftreten Jesu Christi sich etwas Neues ereignet habe, was fähig sei, die menschliche Situation zu verändern. Und da die menschliche Situation wie seit je dieselbe geblieben sei, sei das Festhalten am Gesetz eine Notwendigkeit, um die Desintegration der Gesellschaft und ein moralisches Chaos zu verhüten. Darum Rubensteins Schlussfolgerung: »Zweitausend Jahre wie auch die Zeit des Todes Gottes haben wenig dazu beigetragen um dieses [pharisäische] Urteil in jüdischen Augen zu ändern. Wenn wir ohne Gott leben müssen, ist das religiöse Gesetz für uns nötiger als je zuvor. Unsere Versuchung zur anarchischen Allmacht und die vollkommene Gleichgültigkeit des Kosmos unserem Tun gegenüber schreien geradezu nach einem Korpus von Richtlinien, die uns helfen, die Grenzen eines angemessenen Verhaltens zu begreifen. Ohne Gott brauchen wir das Gesetz, die Tradition und die Strukturvorgaben dringender als je in früheren Tagen.«48 Damit will Rubenstein nicht für ein fundamentalistisches Beibehalten der Halacha plädieren, sondern er weiß, dass solche nötigen Richtlinien erst noch durch »try and error« erarbeitet werden müssen, wohl aber mit dem Resultat, dass man dann nur wieder zu Lösungen kommt, welche jenen nicht unähnlich sein werden, welche von den religiösen Traditionen der Menschheit überliefert wurden.49 So gilt es für die Juden, ihre Tora als Erbe der eigenen Tradition – weniger als Gottesoffenbarung – mit vollem Ernst anzunehmen, aber zugleich die Freiheit zu haben, das aus ihr zu wählen, was ihnen angemessen und das zu verwerfen, was ihnen heute als unangemessen erscheint.50
5.
Ein moderner Gottesbegriff
5.1
Zwei Vorgaben für einen möglichen Gottesbegriff
Nachdem Rubenstein sich vom historisch wirkenden Gott, vom Vatergott der jüdischen Tradition, verabschiedet hat, betont er nachdrücklich, dass dies nicht ein absoluter Abschied von jeglichem Gottesglauben sein müsse. Für seine noch für möglich erachtete und auch empfohlene Rede und Glaubensweise vom Göttlichen greift Rubenstein auf zwei ihm vorliegende Modelle zurück. Das eine ist das Modell es protestantischen Theologen Paul Tillich und das andere ist die 48
Rubenstein, After Auschwitz, S. 259.
49
Rubenstein, After Auschwitz, S. 260.
50
Rubenstein, After Auschwitz, S. 120. 122.
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494
mystische Konzeption der lurianischen Kabbala wie Rubenstein sie versteht. Der zentrale Begriff der Tillichʼschen Vorgabe ist der vom »ultimate concern« und jener der Kabbala der Begriff vom absoluten göttlichen »Nichts«.
5.2
Gott als »ultimate concern«
Der protestantische Theologe Paul Tillich, der durch seine philosophisch und religionsphänomenologische Herangehensweise an die christliche Glaubenslehre auch für viele jüdische Theologen zu einer Art Vordenker wurde, hat im Jahre 1957 ein Büchlein unter dem Titel Dynamics of Faith publiziert,51 das sogleich mit einem Begriff eröffnet wird, der für Rubenstein zu einem zentralen Gottesbegriff nach dem »Tod Gottes« wurde. Das erste Kapitel in Tillichs Buch, das eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen von »Glauben« geben will, trägt den ersten Untertitel »Faith as Ultimate Concern«. Es ist dieser Begriff des »ultimate concern«, den Rubenstein wiederholt verwendet, um seinen Gottesglauben nach dem Tod des Geschichts- und Vatergottes der jüdischen Tradition zu formulieren. Es ist ein Glücksfall, dass eben dieser nicht einfach zu übersetzende Begriff auch eine zentrale Rolle in Tillichs Systematic Theology von 1951 spielt, von der auch eine, von Tillich selbst autorisierte, deutsche Übersetzung vorliegt.52 Die englische Überschrift im Kapitel der »phänomenologischen Beschreibung« des Gottesbegriffes lautet dort: »God and manʼs ultimate concern« und deren deutsche Übersetzung: »Gott und das, was den Menschen letztlich angeht«. Dieser damit umschriebene Gottesbegriff ist hier zunächst funktional und drückt eine Haltung des Menschen aus, es ist die innere Beteiligung, das Ausgerichtetsein des Menschen, seine vollkommene Hingabe, sein Bewusstsein, dass es sich bei der Sache seines »concern« für ihn um »Sein oder Nichtsein« handelt. Diese anthropologische Seite des ultimate concern hat für Tillich jedoch auch noch eine den Menschen transzendierende Seite, also den Gegenstand dieses »ultimate concern«. Die Haltung des Menschen, dieses »angegangen-« und »umgetrieben-sein« des Menschen, ist nach Tillich der Glaube: »Glaube ist der Zustand, in welchem man letztlich angegangen ist (being ultimately concerned): Die Dynamik des Glaubens ist die Dynamik des ultimate concern (des letztlich angegangen seins).«53 Dass in diesem Betroffensein des Menschen, in diesem Glauben, sowohl die anthropologische wie auch die ihn transzendierende Seite enthalten sind, erklärt Tillich mit der christlich theologischen Doppel-Formel vom »Glauben mit dem 51
P. Tillich, Dynamics of Faith, London 1957.
52
P. Tillich, Systematic Theology, Chicago 1951; ders., Systematische Theologie, Bd. 1, Stutt-
53
Tillich, Dynamics of Faith, S. 1.
gart 1955.
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man glaubt« und »Glaube[nsgegenstand], an den man glaubt: »Der Begriff des ›ultimate concern‹ vereint die subjektive mit der objektiven Seite des Glaubensaktes – die fides qua creditur (der Glaube durch den man glaubt) und die fides quae creditur (der Glaube, den man glaubt). Der erste ist der klassische Begriff für den innerlichen persönlichen Akt, der ultimate concern (was einen letztlich angeht). Der zweite ist der klassische Begriff für das, worauf dieser Akt ausgerichtet ist, das letztgültige Seinerselbst, ausgedrückt in Symbolen des Göttlichen.«54 Nach diesen Vorgaben des Lehrers von Rubenstein, wird man das persönliche Glaubensbekenntnis seines Schülers besser verstehen. Dieses besteht, wie schon gesagt aus zwei Elementen, dem Element des mystischen Urgrundes, des mystischen Nichts, sodann aus der Tillichschen Formel vom ultimate concern. Hier soll zunächst der zweite Teil angeführt werden: »Nach dem Tod des Vatergottes bleibt Gott dennoch die zentrale Wirklichkeit, an der alle Teilwirklichkeiten gemessen werden können. Ich will daher vorschlagen, dass man sinnvoll Gott nicht nur als den Grund des Seins verstehen kann, sondern auch als den focus of ultimate concern. Als solcher ist er nicht der alte Vater-Gott. Auch ist er nicht im Sinne des jüdischen Rekonstruktionismus ›die Macht, welche auf Erlösung in dieser Welt zielt‹.55 Sondern Er ist das unendliche Maß, an welchem wir unser eigenes begrenztes Leben in der angemessenen Perspektive sehen können. Vor Gott ist es für uns schwierig, das Triviale zum Mittelpunkt unseres Lebens zu machen.«56 Dieser Gottesglaube, so meint Rubenstein, hindert den Menschen daran, Teilwirklichkeiten, Teilerfolge und irdische menschliche Fähigkeiten und Sehnsüchte zu Ver-Gotten, sie zum Götzen zu machen. Er hilft, die existentialistische Bescheidenheit zu sichern, damit zu leben, dass wir zeitliche und sterbliche Wesen sind, dass wir älter werden und nicht ewig jung bleiben – woran auch Albert Camus in seinem Essay »Sommer in Algiers« erinnern wollte.57 Diese Möglichkeit, die begrenzten und vergänglichen »concerns« an dem unbedingten ultimate concern zu messen, macht den Menschen frei. »In der Gegenwart Gottes als dem Fokus des ultimate concern, brauchen wir nicht die trügerischen Mythen einer
54
Tillich, Dynamics of Faith, S. 10.
55
Zum Reconstructionism Mordecai Kaplans siehe Jüdisches Denken, Bd. 5, Kapitel: Judentum als Kultur und Zivilisation – die Frage nach dem Wesen des Judentums – Mordecai M. Kaplan.
56
Rubenstein, After Auschwitz, S. 238.
57
A. Camus, Summer in Algiers, in: The Myth of Sisyphus, New York 1961, S. 113, bei Rubenstein After Auschwitz, S. 258.
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unsterblichen Seele. Wir sind endlich. Wir werden vergehen. Er aber bleibt für immer derselbe. Vor ihm können wir der menschlichen Nacktheit mit Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit ins Auge schauen.«58 So kann man, wie es das Judentum will, sich unserem einzigen Leben in Fleisch und Blut zuwenden, die Person zu sein, die wir real nur sein können, das authentische endliche Selbst, mit all seinen irdischen Unsicherheiten.59 Mit solchen Anschauungen kehrt Rubenstein, wie man dies schon hinsichtlich seiner »paganen« Riten sehen konnte, zu biblischen Auffassungen zurück, die nur ein einziges irdisches Leben kennen,60 und verwirft den seit der hellenistisch-rabbinischen Zeit aufgekommenen Glauben an ein Leben nach dem irdischen Tod.61 In noch einem weiteren Punkt folgt Rubenstein dem Theologen Paul Tillich, um sich dann aber an einem entscheidenden, Judentum und Christentum trennenden, typischen Punkt von ihm abzuwenden. Wie Paul Tillich ist Rubenstein der Meinung, dass für dieses menschliche Leben »vor Gott« das Leben in einer Gemeinschaft unabdingbar ist. Für Tillich ist es der Glaube als ultimate concern, der auf die Gemeinschaft angewiesen ist, weil sich Glaube immer nur durch Symbole, das heißt Sprache, ausdrücken kann. Und Sprache ist nun eben ein eminent soziales Medium, das nur durch und in einer bestimmten Gemeinschaft möglich ist – und dies kann möglicherweise sogar eine kleine »sektiererische« Untergemeinschaft einer umfassenderen Religions- oder Gesellschafts-Gruppe sein.62 Die Sprache gehört nach Tillich zu einer der beiden konstitutiven Seiten aller Religion, der beiden Seiten, die er gleichfalls als die priesterliche, einerseits und die prophetische andererseits bezeichnet. Jede Religion braucht beide Seiten, doch das Übergewicht sollte beim prophetischen, mahnenden, die Gesellschaft verändernden Wort liegen, beim Element des Zeitlichen, sprich sich Verändernden, nicht hingegen bei dem räumlichen, verharrenden Element des Priesterlichen. Tillich erliegt hier natürlich dem vor allem seit Julius Wellhausen und seiner Theologengeneration üblichen protestantischen Prärogativ. Dieses erkennt zwar im Priesterlichen die ältere Ausgangsform der Religion, sieht dann aber im Prophetischen die Religion zu sich selbst, zu ihrer wirklichen wahren Form zu kommen. Natürlich wird diese prophetische, vermeintlich echt israelitische, Religion für den Protestanten Tillich in Jesus und dann vor allem in Martin Luther
58
Rubenstein, After Auschwitz, S. 239.
59
Zur Vorstellung vom authentischen Leben als endliches Selbst-seiendes Wesen, s. u. Jüdisches
60
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1., S. 129–139.
Denken, Bd. 4, Schoah, III,2 und 5 und 6 und 7. 61
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 198–212.
62
Vgl. P. Tillich, Dynamics of Faith, S. 22–29.
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weitergeführt und vertreten. Es ist diese prophetische Religionsform, die Tillich auch für die Juden als deren eigentlich genuine Religionsform erachtet, eine Religion ohne Tempelopfer, eine Religion ohne festen Raum, das heißt ohne eigenen Staat, sondern als eine Religion, deren adäquate Lebensform die Diaspora ist – all das sagt Tillich bei einer Vorlesungsreihe der Deutschen Hochschule für Politik Berlin im Jahre 1953.63 Es ist an dieser Stelle, an welcher Rubenstein die Prioritäten verkehrt. Für ihn ist zwar auch die Gemeinschaft als »community of ultimate concern«64 unabdingbar, aber für ihn ist sie dies – wie oben schon deutlich wurde – als Ritualgemeinschaft, in der mit Hilfe des priesterlich-paganen Erbes die Tiefenschichten des Heiligen, des »ultimate concern« in der Ritualgemeinschaft zum Schwingen gebracht werden.65 »Religiöse Symbole hören auf bedeutungsvoll zu sein, wenn sie nicht im gemeinschaftlichen Leben einer Gemeinde vollführt werden« – und dies geschieht eben in der Synagoge!66 Denn »Die Synagoge und die jüdische Gemeinde besitzen auch weiterhin zentrale Bedeutung für das religiöse jüdische Leben. Es kann keinen jüdischen ›Einzelgänger‹ geben, welcher der Gemeinde und ihren Traditionen den Rücken kehrt, um alleine für sich seinen Weg zu Gott zu finden.«67 Und natürlich ist für Rubenstein dann – im Gegensatz zu Tillich – die Rückkehr der Juden auf ihren eigenen Boden, wo die alten Urgötter der fernen Vergangenheit ruhen und wieder lebendig werden können68 – im eigenen Staat Israel der einzig richtige Schritt für die Gesundung des Judentums. Letzteres natürlich auch hinsichtlich der Sicherheit der Juden in dieser Welt, denn Rubenstein glaubt, dass letztliche Sicherheit und Gleichberechtigung nur in einer Gemeinschaft gewährleistet ist, zu der man hinzugehört, also niemals in der Diaspora.69 Darum auch muss jede jüdische Theologie »zionistische Theologie« sein.70
63
P. Tillich, Die Judenfrage, ein christliches und ein deutsches Problem, Berlin 1953.
64
Rubenstein, After Auschwitz, S. 237.
65
Vgl. auch Rubenstein, After Auschwitz, S. 112.
66
Rubenstein, After Auschwitz, S. 236.
67
Rubenstein, After Auschwitz, S. 236.
68
Rubenstein, After Auschwitz, S. 136: »Zunehmend lockt die Rückkehr Israels zur Erde die Rückkehr zur archaischen Erd-Religion Israels hervor. Das heißt nicht, dass morgen wieder die Verehrung von Baal und Astarte die Verehrung Yahwes ersetzen wird, es bedeutet aber, dass die Fruchtbarkeit der Erde deren Wechselhaftigkeit und schaffenden Kräfte wieder zu den zentralen spirituellen Realitäten des jüdischen Lebens werden, zumindest in Israel.«; vgl. Rubenstein, After Auschwitz, S. 124. S. 70; u. vgl. Rubenstein, Der Tod Gottes (Brocke/Jochum), S. 124. 125 u. s. oben das »Glaubensbekenntnis« Rubensteins.
69
Rubenstein, Der Tod Gottes (Brocke/Jochum), S. 122; u. ebenda: »Menschenrechte und Menschenwürde können nur durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, welche die Macht hat, diese Rechte zu garantieren, erlangt werden. Bedauerlicherweise muß das Wort Macht unter-
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Die wirkliche Bedeutung des Zionismus sieht Rubenstein des weiteren weniger darin, dass den Zurückgewiesenen Juden endlich ein Zufluchtsort bereitgestellt wurde, sondern darin, dass durch ihn »zwanzig Jahrhunderte der Selbstverkrümmung, Selbstentfremdung und Selbstbeschuldigung eines Volkes zuende gekommen sind, das jetzt frei ist, sein eigenes Leben auf allen Ebenen der emotionalen und kulturellen Erfahrung zu leben.«71
5.3
Gott als der Urgrund und das Nichts
Die andere Säule des Rubensteinschen Gottesbegriffes, dem er seit seiner Jugend huldigte,72 ist Gott in Gestalt des mystischen Nichts. Auch diesen Glauben trägt er einmal als »Bekenntnis« vor: »Schließlich bedeutet die Zeit des Todes Gottes nicht das Ende aller Götter. Es bedeutet nur das Abtreten jenes Gottes, der der letztgültige Akteur in der Geschichte ist. Ich glaube an Gott, das Heilige Nichts, das die Mystiker aller Zeiten kannten, aus dem wir hervorgekommen sind und in das wir schließlich zurückkehren werden.«73 Mit dieser Aufnahme des mystischen Gottesbegriffs will Rubenstein dezidiert jegliche theistische Gottesvorstellung abweisen, Gott ist kein transzendentes Wesen, das die Welt geschaffen hat. Dieser Gott, den er meint, »existiert« nicht, denn er ist kein abgetrenntes quantifizierbares Wesen; nach einem Wort von Zalman Schachter »Gibt es einen Gott, dann existiert er nicht!«74 Denn »Der Urgrund ist jenseits jeglicher Substanz, außerhalb aller Endlichkeit, den Kategorien des menschlichen Denkens unvergleichbar. Gott in der ursprünglichen Fülle seines Seins ist darum kein Ding (no thing) und darum in gewissen Sinne Nichts (nothing). Die Nichtheit Gottes der mystischen Lehre ist nicht das Nichts der absoluten Privation. Es ist der Mangel an jeglicher Konkretheit und ›Dinghaftigkeit‹.«75
strichen werden.« Gerade diese Einsicht hält Rubenstein für eine Wichtige Lehre aus Auschwitz; u. vgl. noch ebda. S. 124. 70
Rubenstein, After Auschwitz, S. 188.
71
Rubenstein, After Auschwitz, S. 133; u. vgl ebda. S. 69.
72
Rubenstein, After Auschwitz, S. 209.
73
Rubenstein, After Auschwitz, S. 154; vgl. Rubenstein, After Auschwitz, S. 23. 68.
74
Rubenstein, After Auschwitz, S. 230.
75
Rubenstein, After Auschwitz, S. 230.
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499
Natürlich versäumt es Rubenstein nicht, hier auf die jüdische mystische (besser: esoterische)76 Tradition zu verweisen, insbesondere auf die lurianische Kabbala.77 Seine Deutung dieser Kabbala ist indessen nachhaltig von der Schule des Maggid aus Mesritsch bestimmt, Rubenstein zitiert dafür dessen Schüler Schneur Salman aus Liadi.78 Außerdem gibt Rubenstein dem zentralen Begriff des Zimzum eine existentialistische Deutung im Sinne der Verlassenheit des Menschen im Kosmos, wenn er sagt: Rabbi Jizchak Lurja »sah die Existenz selbst als eine Entfremdung.79 Sogar Gott der Schöpfer konnte nur durch einen Akt der Selbstentfremdung existieren.«80 Später sagt er noch in diesem Sinne »Leben ist Exil«. Diesen Akt der Selbstentfremdung Gottes sieht Rubenstein wie gesagt in dem bekannten Akt des göttlichen Zimzum,81 durch den Gott sich aus einem Teil seiner Fülle zurückgezogen hatte, um einer separaten Schöpfung neben ihm Raum zu schaffen. Nach der lurianischen Konzeption strömt nach der Selbstkontraktion Gottes ein »dünner« Strahl der Gottesfülle in den durch den Zimzum entstandenen Hohlraum und kreiert die Welt. Bei der dadurch entstehenden Lichtkonfiguration als Konstruktion der Welt in diesem Hohlraum kommt es nach der lurianischen Lehre zu einem Bruch der entstehenden Strukturen, die hernach durch den sogenannten Tikkun, die »Wiederherstellung« als Aufgabe des Menschen vollendet werden müssen. Das bedeutet aber, die Wiederherstellung ist nach der originären lurianischen Lehre eine Vollendung der ursprünglich geplanten Weltstruktur, die nach Lurja im Grunde eine Ausweitung oder Verbreitung der Gottheit selbst in die Welt hinaus darstellt, und durch den Tikkun zu einem festen Gebäude wird. Lurianisch verstanden bewirkt der Tikkun letztlich die Vollendung der Gottheit in deren dualen Struktur als Gottheit und Welt. Demgegenüber deutet Rubenstein den Tikkun im Sinne des neoplatonischen regressus (Rückkehr des durch Emanation aus der Gottheit – progressus- Geschaffenen zurück in die Gottheit),82 was de facto eine Nichtung der Welt und deren Auflösung in der Fülle der Gottheit bedeutet, eine Deutung die tatsächlich der platonisierenden Schule des Maggid aus Mesritsch angehört.
76
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 17. 24–25.
77
Zu ihr siehe Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 619–681.
78
Zu beiden s. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 809–852. 887–896.
79
Dieser existentialistischen Deutung steht indessen schon Rabbi Nachman aus Bratzlaw nahe,
80
Rubenstein, After Auschwitz, S. 219–220.
81
Über die möglichen originalen Bedeutungen des Zimzum s. Jüdisches Denken Bd. 2, S. 623–
82
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 498–499. 500. 560–561; Bd. 2, S. 222.
vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 897–904.
638; und jetzt auch Ch. Schulte, Zimzum. Gott und Weltursprung, Berlin 2014.
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Für den hiesigen Zusammenhang ist es jedoch nicht entscheidend, ob Rubenstein Lurja richtig oder innovativ verändernd deutet, sondern, dass er im Sinne der platonisierenden Mystik an ein Hervorgehen der Schöpfung aus dem Urgrund annimmt und deren nachfolgende Rückkehr dahin: Die Welt kommt aus dem Nichts der Gottheit und kehrt dahin wieder zurück.83 Dies ist ein Akt, den schon der mittelalterliche Platonismus und dessen Mystiker zugleich als »Erlösung« verstehen. So will auch Rubenstein die einzige, den Menschen erwartende Erlösung, in dessen Tod sehen, ganz im Sinne des Hertz Hanover in Bashevis Singers Familie Moschkat, der sagte: »Der Tod ist der Messias!«.84
83
Rubenstein, After Auschwitz, S. 258.
84
Rubenstein, After Auschwitz, S. 220.
III. AUTHENTISCHE ANTWORTEN AUF DIE SCHOAH IM VOLLEN BEWUSSTSEIN DER GESCHICHTE EMIL L. FACKENHEIM (1916–2003) 1.
Biographisches
Emil Ludwig Fackenheim wurde 1916 in Halle an der Saale als Sohn eines angesehenen Rechtsanwaltes und einer in der deutschen Literatur und Philosophie beheimateten Mutter geboren. Seine jüdische Erziehung war liberal,1 ohne koschere Küche,2 und antizionistisch.3 Der junge Fackenheim war 16 Jahre alt als Adolf Hitler an die Macht kam. Zwei Jahre später, 1935,4 nach dem Abschluss des Gymnasiums, begann er in Berlin an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ein Rabbinerstudium5 unter anderen bei Leo Baeck,6 und belegte ab 19377 auch an der Universität in Halle Kurse zum »Alten Testament« (Theologie) bei Otto Eissfeld und Philosophie bei dem Kantianer Paul Menzer8 – als der damals letzte jüdische Student an dieser Universität.9 Nachdem sein Vater im Zuge der sogenannten »Reichskristallnacht« am 9.11. 1939 verhaftet worden war, eilte er zu seiner Mutter nach Hause und wurde tags darauf selbst verhaftet
1
E. Fackenheim, Autobiographical Reflections (bestehend aus): Reminiscences: From Germany to Canada & Return to Berlin: An Epitaph for German Judaism & Was Hitlerʼs War Just another German War?, A Post-Mortem on Bitburg & Reflections on Aliya, in: M. L. Morgan, E. Fackenheim, The Jewish Thought of Emil Fackenheim. A Reader, Detroit 1987, die Kapitel 36–39, S. 349–375, hier S. 350.
2
E. Fackenheim, Reminiscences, S. 350.
3
Fackenheim, The Jewish Return into History. Reflections on the Age of Auschwitz and a New Jerusalem, New York 1978 (Fackenheim, Return), S. 54; Fackenheim, Reminiscences, S. 350: Fackenheim als Leiter der Nicht-Zionistischen Jugend in Halle.
4
Fackenheim, To Mend the World. Foundations of Post-Holocaust Jewish Thought, Bloomington 1982 (Fackenheim, To Mend), S. xxxi. xxxiii; Fackenheim, Reminiscences, S. 357; M. L. Morgan & B. Pollock, The Philosopher as Witness. Fackenheim and Responses to the Holocaust, Albany 2008 (Morgan-Pollock, Witness), setzen das Abitur auf 1934, S. vii.
5
Fackenheim, Return, S. 62.
6
E. L. Fackenheim, In Memory of Leo Baeck and other Jewish Thinkers in »Dark Times«: Once More, »After Auschwitz, Jerusalem«, in: Morgan-Pollock, Witness, S. 3–14; E. Fackenheim, Reminiscences, S. 351.
7
Morgan-Pollock, Witness, lässt das parallele Studium in Halle 1936 beginnen.
8
Fackenheim, To Mend, S. xxxiii-xxxiv. Die Berliner Universität erlaubte ab 1933 keine Immatrikulation von Juden mehr, also auch nicht von Fackenheim, E. L. Fackenheim, Hegel and »The Jewish Problem«, in, Morgan-Pollock, Witness, S. 16.
9
Fackenheim, To Mend, S. xxvii. xxxiii.
Emil L. Fackenheim
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und (22 jährig)10 in das Konzentrationslager nach Sachsenhausen bei Berlin deportiert, wo er bis zum 8. Februar 1939 drei Monate11 inhaftiert blieb und Zwangsarbeit leistete – seine schrecklichen und erniedrigenden Erlebnisse im Lager beschreibt er in seinem Aufsatz Sachsenhausen 1938: Groundwork for Auschwitz.12 Die Entlassung aus Sachsenhausen geschah unter der Auflage, dass der junge Fackenheim das Land binnen sechs Wochen verlassen müsse – zuvor legte er in einem zweimonatigen Notkurs sein Rabbinerexamen ab. Er floh am 12. Mai 1939 mithilfe einer Stipendienzusage der Harvard-Universität für ein Studium an der schottischen Universität Aberdeen nach Großbritannien, landete aber zunächst in einem Flüchtlingslager in England. Kaum in Schottland, wurde er mit der deutschen Invasion in Holland als Deutscher erneut interniert.13 Von hier wurde er nach Kanada, wiederum zunächst in ein Internierungslager, verschickt.14 Nach der Entlassung ging er an die Universität Toronto, zum Philosophiestudium bis 1945. Von 1943–1948 amtierte Fackenheim zugleich als Rabbiner in Hamilton (Ontario), um 1948 als Dozent und 1960 als Professor an die Universität in Toronto zurückzukehren. Wiewohl seit 1933 zum Zionisten gewandelt, reiste Fackenheim zum ersten Mal 1968 nach Israel.15 Nach weiteren Sommeraufenthalten und der Emeritierung in Toronto emigrierte die Familie 1983 nach Israel.16 Am 19. September 2003 starb Emil L. Fackenheim in Jerusalem.17
2.
Grundlinien des Denkens
Nach eigenem Bekunden hat Emil Fackenheim das traumatischen Geschehen der Schoah zunächst nach der noch heute in der jüdischen Orthodoxie verbreiteten Auffassung einfach als ein weiteres Glied in der langen Kette der Katastrophen des Judentums gesehen. Ein »Verstehen« dieser nicht abreißenden Nöte wird da-
10
Fackenheim, Return, S. 59; ebda S. 69, sagt Fackenheim, dass er in der Kristallnacht, die er in
11
Fackenheim, Return, S. 60; Fackenheim, To Mend, S. xxx1; Fackenheim, Reminiscences,
12
E. L. Fackenheim, Sachsenhausen 1938: Groundwork for Auschwitz, in: Fackenheim, Return,
13
Fackenheim, Reminiscences, S. 353; D. Patterson, Emil L. Fackenheim. A Jewish Philoso-
14
Fackenheim, Reminiscences, S. 354.
15
Fackenheim, Return, S. 54; ders., Reflections on Aliyah, S. 372.
Berlin erlebte, deportiert worden sei; E. Fackenheim, Reminiscences, S. 352. S. 357. S. 58–67, ursprünglich in: Midstream April 1975, S. 27–31. phersʼs Response to the Holocaust, Syracuse 2008, S. xvii nennt das Jahr 1984.
16
Fackenheim, Reflections on Aliyah, S. 373.
17
D. Patterson, Emil L. Fackenheim. A Jewish Philosopher, S. ix. xvii; Morgan-Pollock, Witness, S. vii.
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bei allenfalls nach der traditionellen Theodizee-Formel versucht, nämlich als Bestrafung Israels für begangene Sünden. Erst nachdem Fackenheim im Frühjahr 1967 bei einer Konferenz aufgefordert war, sich zum Thema Schoah zu äußern und nachdem bei den seit Mai dieses Jahres einsetzenden Spannungen zwischen Ägypten und Israel und dem nachfolgenden Sechstagekrieg vom 5.-10. Juni eine erneute Vernichtung eines wichtigen Teils der jüdischen Welt-Bevölkerung, das heißt im Staate Israel, zu befürchten war, begann Fackenheim grundsätzlich über die Schoah nachzudenken. Dabei sind seine eigenen Eindrücke von der dreimonatigen Inhaftierung im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin im Gefolge des Pogroms in der sogenannten »Reichskristallnacht« von 1939 prägend geworden. Fackenheims Denken blieb von nun an ganz eng mit dem tatsächlichen Geschehen in den deutschen Konzentrationslagern verbunden, wollte sich nicht in theologischem oder philosophischem Höhenflug verallgemeinernd und abstrahierend darüber erheben und diesen Massenmord im Vergleichen in andere Verbrechensmuster einordnen. Solches Einordnen und Vergleichen erscheint Fackenheim fortan als Ausweichen und Eskapismus.18 Das bedeutete für ihn zunächst, dass das von der deutschen Mordmaschinerie ins Werk gesetzte Geschehen zuallererst nach seinen Motiven, Verfahren und Zielsetzungen ins Auge gefasst werden musste, bevor man zu weitergehenden Schlussfolgerungen kommen konnte. Diese Untersuchungen führten Fackenheim zu der Auffassung von der »Einzigartigkeit des Holocaust«, also einem bis dahin nicht dagewesenen verbrecherischen, ideologisch begründeten und durch berufsmäßig agierende Handlanger durchgeführten Geschehen, das gegenüber früheren Katastrophen des Judentums und auch anderer verfolgter Gruppen eine neue Qualität hatte. Der Holocaust markierte für Fackenheim fortan einen Bruch in der zivilisatorischen Geschichte der Menschheit, das die klassischen Menschenbilder der europäischen Denksysteme aushebelte und das deshalb einen vollkommenen Neuansatz des Denkens erfordere. Das sich aus der Analyse dieses Verbrechens ergebende Bild führte zu der nächsten wichtigen Einsicht, nämlich dass es für dieses Geschehen keine Erklärung geben könne, keine irgendwie geartete Sinndeutung – etwa im Sinne einer Theodizee, eine solche muss als obszön und blasphemisch gelten.19 Das einzige was dem Denken noch möglich sei, sei nicht Erklärungen, Verstehen zu versuchen, was ausgeschlossen erschien, sondern nur noch die Frage zu stellen, was die richtige Antwort auf dieses unerklärliche Geschehen sein könne. Fackenheim spricht aus diesem Grund stets nur von »response« (Reaktion, Antwort auf) gegenüber diesem Genozid, nicht aber von der Möglichkeit des Verstehens und
18
Fackenheim, Return, S. 46; Fackenheim, To Mend, S. 226–230.
19
Fackenheim, Return, S. 134.
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Emil L. Fackenheim
Einordnens20 – eine »Holocaust-Theologie« kann es daher für Fackenheim nicht geben.21 Da nun aber die »Antwort« auf ein solches Geschehen aus der Sicht der Nachgeborenen oder der Außenstehenden, der Nicht-Betroffenen, nicht wirklich gegeben werden kann – denn wie sollte eine authentische, eine sachgerechte Reaktion auf dieses Geschehen seitens des existentiell nicht Betroffenen erfolgen können22 –, wird für Fackenheim der zentrale Gegenstand seines Nachdenkens nicht das Tun der Täter, sondern die Reaktion der betroffenen Opfer. Eine adäquate Reaktion, eine »Antwort« (response) auf diesen Genozid durch die Nachgeborenen kann nach Fackenheim nur dann gefunden werden, wenn es schon innerhalb des tatsächlichen Vernichtungs-Geschehens »Antworten« oder Reaktionen gegeben hat, die sich damit authentisch und existenziell auseinandersetzten. Nur aus der Erkenntnis solcher existenzieller Antworten können auch die Überlebenden und Nachgeborenen adäquate Antworten für sich finden. Die aus den Berichten Betroffener gefundenen Antworten auf ihre Erlebnisse führten Fackenheim zu der Formel von der »Heiligung des Lebens« als authentischer Antwort auf den Massenmord – gegenüber der traditionellen martyriologischen Formel des Kiddusch ha-Schem (der Heiligung des Gottesnamens) – und zu der den Bruch der denkerischen Tradition symbolisierenden Formel vom 614ten Gebot, das den traditionellen 613 Geboten der Tora anzufügen sei. Im Laufe seiner voranschreitenden Publikationen, welche Fackenheims Denken zu diesem Problemkomplex vortrugen, hat er zwei grundsätzlich verschiedene Ansatzpunkte oder Methoden gewählt, nämlich den Ausgangspunkt und die Denkweise der jüdischen Tradition oder Theologie auf der einen und die der europäischen Philosophie, insbesondere der von Martin Heidegger, auf der anderen Seite. Beide, Theologie und Philosophie, dienten gemäß dem zuvor Gesagten, nicht der Erklärung des »Holocaust«, sondern dem Finden der richtigen »response«, der richtigen Reaktion, Erwiderung und Einstellung der Gegenwart zu dem zurückliegenden Geschehen. Für beide Methodenzugänge bleibt jedoch die Notwendigkeit, das Geschehen, das Verbrechen und die Reaktion der Opfer, richtig in den Blick zu nehmen, konstitutiv. Daraus ergibt sich die folgende weitere
20
Fackenheim, Return, S. 29. 54. 280–282. 283–286; To Mend, S. 238.
21
Fackenheim, Return, S. 130; To Mend, S. 11. 309.
22
Bestätigungen oder Authentifizierungen von Ideen oder Konzepten, die den historischen Augenblick transzendieren, können nur aus der existentiellen realen Situation gegeben werden: »Authentifizierung (Bestätigung) kann nur ein Zeuge geben, der in seiner besonderen (partikularen) Situation existiert nicht durch wissenschaftliche Beobachter, Philosophen oder Theologen, die glauben, jede zu partikulare Situation transzendieren zu können.«, Fackenheim, Return, S. 105; dazu vgl. K. Seeskin, Jewish Philosophy in a Secular Age, Albany 1990, das Kapitel »Fackenheimʼs Dilemma«, S. 189–211.
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Darstellung des Fackenheimschen Denkens: Sie wird zunächst der Darstellung der Einzigartigkeit des »Holocaust« im Sinne Fackenheims gewidmet sein und anschließend die beiden Wege zum Finden der erforderlichen »Antworten« verfolgen, den Weg der Theologie und danach den Weg der Philosophie. Die theologischen Erörterungen finden sich im Wesentlichen in den beiden Büchern: Godʼs Presence in History: Jewish Affirmations and Philosophical Reflections,23 und The Jewish Return into History. Reflections on the Age of Auschwitz and a New Jerusalem;24 die philosophischen Darlegungen hat Fackenheim vor allem in seinem Buch To Mend the World. Foundations of Post-Holocaust Jewish Thought, Bloomington 1982 niedergelegt.25
3.
Die Einzigartigkeit des »Holocaust«
Die selbst konstatierte denkerische Wende Fackenheims setzte mit der Erkenntnis ein, dass der Genozid am europäischen Judentum nicht einfach ein weiteres Beispiel der notorischen Judenverfolgung sei, wie dies die Pesach-Haggada entsprechend ihrem typologischen Geschichtsbild formulierte: »Denn Generation um Generation stehen sie wider uns auf, um uns zu vernichten, aber der heilige Er sei gesegnet rettet uns aus ihrer Hand.«26 Dieser traditionellen Sichtweise gegenüber lässt sich nach Fackenheims Auffassung der Holocaust auch nicht ohne weiteres den Gedenktagen solcher von den Juden erlittener Katastrophen angliedern, die allesamt am 9. Av, dem Tag der Tempelzerstörung, erinnert werden, wie dies die orthodoxen Deuter tun,27 als neuer Ḥurban, »Katastrophe / Zerstörung«, wie so zum Beispiel Ignaz Maybaum.28 Fackenheim sieht es deswegen als berechtigt und unausweichlich an, dass man in Israel – und weltweit, den »Jom ha-Sikkaron le-Schoah« (Schoah-Gedenktag, am 27. Nissan29) als eigenständigen Trauertag begeht. Die Ermordung der europäischen Juden lässt sich aber auch nicht als bloßer »Kollateralschaden« einer kriegerischen Handlung verstehen, bei welchen ge23
E. L. Fackenheim, Godʼs Presence in History: Jewish Affirmations and Philosophical Reflections, New York 1970; E. L. Fackenheim, The Jewish Return into History. Reflections on the Age of Auschwitz and a New Jerusalem, New York 1978.
24
New York 1978.
25
E. L. Fackenheim, To Mend the World. Foundations of Post-Holocaust Jewish Thought, Bloo-
26
Haggada schel Pesach: We-hi sche ʽamda, z.B. Die Pesach-Haggada, Ausg. Ph. Schlesinger u.
27
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, I, 3.4.1; Schoah VII, 1.
28
I. Maybaum, The Face of God After Auschwitz, Amsterdam 1965.
29
Fünf Tage nach Abschluss des achttägigen Pesach-Festes.
mington 1982. J. Güns, Tel Aviv 1976, S. 12.
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wöhnlich auch die Zivilbevölkerung oder bestimmte Teile von ihr in Mitleidenschaft gezogen werden, oder die als »Hindernisse« der Kriegsziele »beseitigt werden müssen«. Ebensowenig sei der Holocaust, wie dies in der kommunistisch-sozialistischen Gedenktradition üblich geworden war, einfach als eine weitere Instanz der Opfer des Faschismus zu verstehen, oder ähnliche weitere Einordnungen und Kategorisierungen wie sie in der Geschichtswissenschaft, Psychologie und Philosophie üblich sind.30 Der Genozid am europäischen Judentum, der, hätte Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg den Sieg davongetragen, zu einer weltweiten Ausrottung aller Juden führen sollte,31 war, so Fackenheim, von völlig neuer Qualität, war völlig einzigartig – allenfalls dem Genozid am armenischen Volk vergleichbar32 – weshalb jegliche solcher Vergleichungen und Einordnungen eine Verhöhnung der Opfer des Holocaust bedeuten müsse. Der Holocaust war ein vollkommener Bruch gegenüber allem bis dahin da gewesenen. Dieses Geschehen führte in seinem Gefolge zwangsläufig zu einem Bruch aller menschlichen Zivilisation und aller Theologie und Philosophie – auch wenn man dies vielerorts nicht wahrnehmen kann oder will. Diese grundlegende Andersbewertung des Holocaust gegenüber ähnlichen Formen des Völkermordes ist für Fackenheim so zentral, dass er sich an vielen Stellen seiner Arbeiten eingehend mit Beschreibungen des Geschehenen und Begründungen dieser Einsicht befasst. Dadurch erlangen Fackenheims Texte eine oft schmerzliche Nähe zu dem Grauen und eine Intensität, die jeglicher distanzierenden Reflexion ferne steht und den Leser nicht vor den schrecklichsten Vorfällen oder Routinen der Lager verschont. Die philosophische Notwendigkeit dieser Unmittelbarkeit wird dann später auch eingehend begründet. An wenigsten zwei Stellen seiner Publikationen fasst Fackenheim die Gesichtspunkte der Einzigartigkeit, wie sie sich ihm darstellt, in fast distanzierend wissenschaftlicher Form zusammen, die hier vorangestellt werden sollen, um anschließend durch die weniger distanzierenden Details illustriert zu werden. In seinem Buch To Mend the World, das Fackenheim als sein philosophisches magnum opus bezeichnete,33 zählt er die folgenden fünf Punkte auf, welche die Einzigartigkeit des Holocaust ausmachen: »1. Ein ganzes Drittel des jüdischen Volkes wurde ermordet; und da dieses Drittel jene Juden mit umfasste, welche das Judentum mehr als alle anderen
30
Fackenheim, Holocaust and Philosophy, S. 9; u. vgl. Fackenheim, To Mend, S. xiii. 11.
31
Fackenheim, To Mend, S. 12.
32
Vgl. E. L. Fackenheim, The Holocaust and Philosophy, in: Bar ʼIlan, Sefer ha-Schana schel Universitat Bar-Ilan, 22–23 (Sefer Mosche Schwarz), hg. M. Ḥallamisch, Ramat Gan 1988, S. 10; Fackenheim, To Mend, S. 12.
33
Fackenheim, To Mend, S. xxviii.
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bewahrten (the most Jewish of Jews) – nämlich das osteuropäische Judentum –, wurde das Überleben des Judentums als Ganzes fraglich. 2. Dieser Mord war buchstäblich eine ›Ausrottung‹; nicht ein einziger jüdischer Mann, Frau oder Kind sollte überleben, […] hätte Hitler den Krieg gewonnen. 3. Dies war so, weil die Geburt als Jude als ausreichender Grund für Tortur und Tod galt; während das ›Verbrechen‹ der Polen und Russen nur darin bestand, dass sie zu viele waren, hatten die Juden als einzige – ausgenommen vielleicht die Zigeuner (Gypsies) – das ›Verbrechen‹ begangen, überhaupt zu existieren.34 4. Die ›Endlösung‹ war keine pragmatische Zwischenstufe, die einem anderen, eigentlich erstrebten Zweck dienen sollte, wie politischer Macht oder wirtschaftlicher Gier. Auch war sie nicht die negative Seite eines religiösen oder politischen Fanatismus. Die ›Endlösung‹ war ein Ziel an sich [mit eigenem ›Wert‹]. […] 5. Nur eine Minderheit der Täter waren Sadisten oder Perverse. Meist waren sie nur gewöhnliche Angestellte, die nur einen besonderen Job hatten. Während die tonangebenden Figuren gewöhnliche Idealisten waren, nur dass eben deren Ideale Tortur und Mord waren.«35 Parallelen und Vorbild für diesen Genozid sieht Fackenheim im Genozid am armenischen Volk, auch da sollte ein gesamtes Volk ausgelöscht werden, auch dies wurde im Schutze eines Krieges verborgen und mit äußerster Diskretion durchgeführt. So wurden die Armenier ebenfalls unter grausamen Umständen an ferne Orte deportiert, während die gesamte Welt fast tatenlos zugeschaut hatte. Neben diesen Parallelen gab es indessen im deutschen Handeln eine Reihe von Besonderheiten, welche den Holocaust auch vom armenischen Genozid wesenhaft unterschieden. Da ist erstens die Systematik, mit welcher große Städte wie Berlin, Wien, Amsterdam und Warschau nach Juden durchkämmt wurden, eine Maßnahme, an der die Türken in Istanbul schließlich scheiterten. Aber entscheidend war, dass hinter den deutschen Maßnahmen gegen die Juden eine »Weltanschauung« stand, eine Weltanschauung die nicht einmal Reservate für die Juden denkbar erscheinen ließen, stattdessen wurde bereits ein Museum für eine »ausgelöschte Rasse« vorbereitet. Auch im Sprachgebrauch schlägt sich diese Absicht nieder, etwa in dem Wort »judenrein«, für welches die Nazis36 et-
34
Fackenheim spricht dieses von den Nationalsozialisten definierte »Verbrechen« der Juden, nämlich deren pure Existenz vielfach an: Fackenheim, Return, S. 30. 47. 54. 245. 254ff; To Mend, S. XVIII. 30. 205. 297f.
35
Fackenheim, To Mend, S. 12.
36
Ich übernehme mit der Bezeichnung »Nazi« den Sprachgebrauch von Fackenheim.
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wa bezüglich der Polen, Russen und überhaupt der Slawen keinen analogen Begriff prägten.37 Außerdem hat die Systematik des deutschen Mordes an den Juden eigens eine umfassende logistische Infrastruktur aufgebaut, zu der eine scholastische Definition der Opfer als Juden gehörte, juristische Prozeduren, welche die Rechtlosigkeit der Opfer begründete, einen technischen Apparat, inklusive Züge und Gaskammern und eine riesige Armee von Mördern sowie deren indirekte Komplizen an Beamten, Journalisten, Rechtsanwälten, Bankern, Ärzten, Soldaten, Eisenbahnern, Unternehmern und vielen anderen mehr.38 Zu den Letzteren zählt Fackenheim auch Philosophen und Theologen, die der nationalsozialistischen Weltanschauung die nötige akademische Unterstützung schenkten, er nennt den protestantischen Theologen Emanuel Hirsch (1888–1972) und den Philosophen Martin Heidegger (1889–1976),39 zu dem, wie unten noch deutlich werden wird, Fackenheim ein überaus zwiespältiges, ja tragisches, Verhältnis hatte. Wesentlich an der Nazi-Ideologie war, so Fackenheim, die Dehumanisierung der Juden. Er zitiert dafür aus Joachim Fests Hitler-Biographie eine Hitlerrede nach der berüchtigten Wannsee-Konferenz von 1942, in welcher Hitler sagte: »Die Entdeckung des jüdischen Virus ist eine der größten Revolutionen, die in der Welt unternommen worden sind. Der Kampf, den wir führen, ist von derselben Art wie im vergangenen Jahrhundert derjenige von Pasteur und Koch. Wie viele Krankheiten gehen auf den jüdischen Virus zurück! […]. Wir werden die Gesundheit nur wiedererlangen, wenn wir den Juden ausrotten.«40 Die Juden wurden nach dieser Ideologie als Schädlinge bezeichnet, deren Ausrottung nicht nur ohne Skrupel durchgeführt werden kann, sondern muss, und zwar weltweit, wie dies der Nazi-Ideologe und Jenenser Professor Johann von Leers darlegte.41 Da war die Auffassung von Julius Streicher, dass der Kampf gegen die Juden ein Kampf gegen den Teufel sei und man dadurch den Himmel
37
Fackenheim, The Holocaust and Philosophy, S. 10.
38
Fackenheim, The Holocaust and Philosophy, S. 10–11.
39
Fackenheim, The Holocaust and Philosophy, S. 11.
40
Fackenheim, The Holocaust and Philosophy, S. 12, nach Fest, Joachim C., Hitler. Eine Bio-
41
Fackenheim, To Mend, S. 184.
graphie, Berlin/Wien 1973, Seite 303.
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erobere,42 noch eher der antijudaistischen Tradition des Christentums und Martin Luthers geschuldet.43 Die Konzentrationslager der Nationalsozialisten folgten einer »Logik der Vernichtung« (Jean Améry),44 die letztlich auf eine Selbstzerstörung der Opfer aus war. Dies erreichten die Nazi-Schergen unter anderem durch das, was Terence Des Pres45 den Fäkalien-Anschlag (excremental assault) nannte, der darauf ausging, dass die Opfer in ihren eigenen Körperausscheidungen verfilzten und sich so selbst lästig wurden, sich selbst als Geschmeiß empfanden, dem sie durch Suizid entrinnen wollten.46 Fackenheim führt dafür mehrfach das erschreckende Zeugnis von Pelagia Lewinska47 an, die in ihrem Buch Twenty Months at Auschwitz schreibt: »Zu Anfang haben mich die Unterbringungsorte, die [Fäkalien-]Gräben, der Morast, die Haufen von Exkrementen hinter den Blöcken mit ihrem schrecklichen Dreck angeekelt […] Aber dann sah ich das Licht! Ich erkannte, dass dies nicht eine Frage der Unordnung oder mangelnder Organisation war, sondern im Gegenteil, der Existenz des Lagers lag ein sehr wohl durchdachter und bewusster Gedanke zugrunde. Sie hatten uns dazu verdammt, in unserem eigenen Schmutz zu sterben, im Morast zu versinken, in unseren eigenen Ausscheidungen. Sie wollten uns erniedrigen, unsere menschliche Würde zerstören, jeglichen Rest an Menschlichkeit auslöschen […] uns mit Horror und Verachtung vor uns selbst und unseren Mitgenossen erfüllen.« 48
42
Fackenheim, To Mend, S. 188.
43
Vgl. z. B. J. Trachtenberg, The Devil and the Jews. The medieval Conception of the Jew and Its Relation to Modern Antisemitism, Philadelphia & Jerusalem 1983; S. Rohrbacher, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991; K. E. Grözinger, Die »Gottesmörder«, in: J. H. Schoeps & J. Schlör, Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München& Zürich, S. 57–66.
44
J. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, München 1988 (zuvor Wien 1966 u. 1977 Stutt-
45
T. Des Pres, The Survivor. An Anatomy of Life in the Death Camps, New York et al. 1976.
gart), S. 24. 46
Fackenheim, To Mend. S. 208–209.
47
Sie wird in den amerikanischen Veröffentlichungen als »polish noblewoman« bezeichnet, die polnische Wikipedia gibt ihre Lebensdaten mit 1907–2004 an, außerdem, dass sie von 1952– 1964 stellvertretendes Mitglied des ZK der polnischen vereinigten Arbeiterpartei und von 1947–1956 Sejmabgeordnete war; sie war eine polnische Widerstandskämpferin und wurde im Januar 1943 interniert.
48
Pelagia Lewinska, Twenty Months at Auschwitz, New York 1968; zit. nach Fackenheim, To Mend, S. 25; Französisch, P. Lewinska, Vingt mois à Auschwitz, Paris 1966 (2. Aufl.), S. 60– 61; Polnisch: Oświęcim: pogarda i triumf człowieka: (rzeczy przeżyte), Paris 1945.
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Das Ziel der Entmenschlichung der Lagerinsassen zu betreiben, sieht Fackenheim exemplarisch in dem, was Primo Levi mit dem lagerüblichen Begriff die Muselmänner nannte. Dies sind Menschen, deren Willen und Selbstachtung durch die beschriebenen Umstände, durch die andauernde Tortur längst gebrochen waren, in denen der Funke eines Lebenswillens bereits erloschen ist: »Ihr Leben ist kurz, aber ihre Zahl endlos; sie, die Muselmänner, die Verlorenen, bilden das Rückgrat des Lagers, eine stets erneuerte und immer gleichbleibende anonyme Masse von Nicht-Menschen, die schweigend dahingehen und arbeiten, der göttliche Funke in ihnen ist erloschen, schon zu sehr entleert, um noch wirklich leiden zu können. Man zögert, sie lebend zu nennen; man zögert, ihren Tod Tod zu nennen.«49 (Hervorhebung E. Fackenheim) Es war das Ziel der Nationalsozialisten, »die Seelen im noch lebenden Leib zu ermorden«, ein Novum in der menschlichen Geschichte,50 nicht zu vergleichen mit dem sattsam bekannten Tun der Inquisition, welche den Körper töten wollte, um die Seele zu »retten«.51 Die Einzigartigkeit des Holocaust beschreibt Fackenheim einmal mit Hilfe eines Briefes seiner Frau Rosa an einen Pfarrer. Sie schreibt darin, Auschwitz war »überwältigend in seinem Umfang, erschütternd in seiner Raserei, unerklärlich in seiner Dämonie. Anders als Hiroshima war es keine Fehlkalkulation einer Regierung im Krieg. Es war minutiös geplant und wurde während zwölf Jahren unter der Zustimmung tausender Bürger und dem ohrenbetäubenden Schweigen der Welt ins Werk gesetzt. Anders als die dahingeschlachteten russischen Dörfer, waren dies keine Zufallsopfer eines wütenden Krieges. Sie wurden sorgfältig ausgewählt, benannt, aufgelistet, in Tabellen zusammengefasst und abgestempelt. Die Nazis taten alles Erdenkliche, um auch nur einen einzigen noch fehlenden Juden aufzustöbern. Dies alles half der Kriegsführung keineswegs, sondern behinderte sie geradezu. Während nämlich der Antisemitismus den Nazis zunächst politisch vorteilhaft erschien wurde das tat-
49
Zitiert nach Fackenheim, The Holocaust and Philosophy, S. 15; die englische Buchausgabe P. Levi, Survival in Auschwitz. The Nazi Assault on Humanity, New York – London 1958 (7. Aufl. 1978), S. 82, weicht von Fackenheims Text leicht ab, entsprechend die deutsche Ausgabe, P. Levi, Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz, Frankfurt a. M. 1961 (Taschenbuch 1979, S. 94); bei Fackenheim nochmals in: To Mend, S. 99–10; Return, S. 246.
50
Fackenheim, To Mend, S. 100.
51
Fackenheim, Return, S. 27.
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sächliche Verbrechen des Genozids sorgfältig vor dem eigenen Volk verborgen. Truppenzüge wurden von der russischen Front abgezweigt, um Juden nach Auschwitz zu transportieren. Einzigartig in der gesamten Menschheitsgeschichte war der Holocaust das Böse um des Bösen Willen.«52 Fackenheim hat sich tief in das unbegreifliche Geschehen der deutschen Konzentrationslager begeben, bringt Erinnerungen an die eigene Zeit im Lager Sachsenhausen – vieles wäre hier noch anzufügen, das Wenige soll aber genügen. Es konnte hier nur angedeutet werden, in welchem Maße der konkrete Horror, das wirkliche Geschehen des deutschen Judenmordes, das Denken dieses Theologen und Philosophen bestimmte und das ihn, auch in seinem theoretischen Denken, niemals losgelassen hat. Sowohl in seinen theologischen wie in den philosophischen Gedankengängen musste nach Fackenheim dieses Geschehen präsent sein und bleiben und durfte nicht durch generalisierende Abstraktionen neutralisiert werden.
4.
Die Geschichte und das Judentum – die Rückkehr des Judentums in die Geschichte
Das Judentum wird gemeinhin als Religion der Geschichte gepriesen. Dass dies nur mit Einschränkungen gilt, wurde in einem früheren Band des Jüdischen Denkens bereits erörtert.53 Demnach beschränkt sich im traditionellen rabbinischen Judentum der Bezug auf die Geschichte auf das, was H. J. Yerushalmi54 das identifikatorische Bekenntnis nannte, also der Bezug auf den Exodus und die Toraoffenbarung am Sinai. Alle übrige Geschichte bis zur Ankunft des Messias ist nach dem typologischen Geschichtsbild der Rabbinen nichts wirklich Neues, sondern immer nur der sich wiederholende Zyklus von Verfolgung und Errettung, den auch R. Rubenstein als das deuteronomistische Geschichtsdenken bezeichnete.55 Dies war der Grund, weshalb das rabbinische Judentum, mit den Ausnahmen der Renaissancezeit, an einer wirklichen Historiographie nicht interessiert war. Und selbst der so moderne, antiidealistische Denker Franz Rosenzweig, den Fackenheim folglich als überholt erachtet,56 hat eine jüdische Geschichte zwischen Exodus / Sinai und der Ankunft des Messias ausgeschlossen
52
Fackenheim, Brief seiner Frau Rose, in: Return, S. 45.
53
Jüdisches Denken. Bd. 3, S. 35–36. 570.
54
Y.H. Yerushalmi, Zachor! Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis,
55
Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, II, 4.
56
Fackenheim, Return, S. 33–34; To Mend, S. 92. 95.
Berlin 1996.
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und das jüdische Volk als ›zeitloses Volk der Erwählung« bezeichnet.57 Ihm, wie auch der christlichen und rabbinischen Theologie war das Volk Israel eher eine Größe der religiösen Dogmatik und nicht der realen Geschichte. Demgegenüber hat Fackenheim die beiden schon genannten Bücher mit einem programmatischen Geschichtsbezug betitelt: The Jewish Return to History und Godʼs Presence in History. Und es sind für Fackenheim die zwei zentralen historischen Ereignisse, der Holocaust und die Gründung des Staates Israel, welche fortan das öffentliche Bewusstsein und vor allem das jüdische Denken prägen müssen, »Denn die Ereignisse, für die sich das jüdische Denken verwundbar machen muss, sind gewaltig, ohne Präzedenz und unentrinnbar: Der Holocaust und das Entstehen eines jüdischen Staates nach zweitausend Jahren jüdischer Staatenlosigkeit.«58 Beides hält er, wie im Folgenden noch deutlich werden soll, unabdingbar für jegliches jüdisches Selbstbewusstseins und jegliche jüdische Selbstachtung. Diese Ereignisse haben für das jüdische Bewusstsein alles verändert – oder sollten dies zumindest.59 Um die neue und unausweichliche Relevanz der Geschichte für das jüdische Volk – auch für die Nichtjuden, insbesondere für die Christen60 – und für das jüdische Denken zu erweisen, beschritt Fackenheim einen doppelten Weg, den der Theologie und den der Philosophie. Das aus beiden Gedankenführungen folgende Resultat ist letztlich dasselbe, aber doch erscheinen beide durchaus unterschiedlichen Darlegungen nötig, weil Fackenheim der tiefen Überzeugung ist, dass dieses Resultat – das Finden der adäquaten Schlussfolgerung aus dem Holocaust – von traditionell religiös denkenden Menschen ebenso begriffen und ernst genommen werden muss wie von den areligiösen säkularen Juden. Beide sollen im Resultat vereint sein, wenn auch die Begründungen verschieden sein mögen.
5.
Die theologisch-religiöse Begründung der Relevanz von Geschichte für das Denken und Handeln des Nach-Schoah Judentums
Emil Fackenheim, der sich erst gut zwanzig Jahre nach dem Geschehen, im Jahre 1967, nach einer Aufforderung durch Kollegen, zum Völkermord am europäischen Judentum äußerte, glaubte, dass dieses zwanzigjährige Schweigen der Theologen zum Holocaust nötig war und auch künftig die angemessenste Form 57
Vgl. Jüdisches Denken Bd. 5, das Kapitel zu Rosenzweig.
58
Fackenheim, Return, S. xii.
59
Fackenheim, Return, S. 131.
60
Fackenheim, To Mend, S. xxiii. 133. 278–294; Return, S. 34–40. 55. 74–77. 108–109. 140. 185; Fackenheim kam mit seiner Wende auch zu der Auffassung, der christlich jüdische Dialog sei sinnlos.
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der Reaktion auf diese Tragödie wäre, dass aber die Menschen dieses Schweigen nicht länger ertragen wollten und konnten.61 Mit anderen Worten, den religiösen Juden wurde der Konflikt zwischen ihrem hergebrachten Glauben und dem historischen Geschehen zum Problem, da doch eben dieser Glaube einen Gott der Geschichte verkündete, der sich letztlich für sein Volk einsetzte und es leitete. Um dieser Problematik gerecht zu werden, hält es Fackenheim für angezeigt zu prüfen, inwiefern dieser traditionelle jüdische Glaube mit dem historischen Faktum der deutschen Mordlager in Konflikt steht. Das erste Resultat dieser Prüfung ist für Fackenheim, dass das überkommene Theodizee-Modell, nach welchem die Heimsuchungen über Gottes Volk wegen dessen Sünde eingetreten seien, absolut unmöglich geworden ist. Diese Sündenschuld-Erklärung angesichts von Auschwitz beizubehalten, muss als »religiöse Absurdität, ja als Sakrileg« erscheinen, dies umso mehr angesichts der Tatsache, dass weit über eine Million gewiss unschuldiger Kinder unter den Opfern waren und außerdem die sichtbar frömmste jüdische Gemeinschaft der damaligen Gegenwart, nämlich die von Osteuropa. Fackenheim wiederholt es auch in diesem Zusammenhang, dass es die Entscheidung der jeweiligen Großeltern war, Juden zu sein und jüdische Kinder zu zeugen, welche später das Unheil über die Enkel brachte, nicht deren eigenes Tun – jüdische Abkunft bis zur dritten Generation bedeutete das Todesurteil durch Nazi-Deutschland.62 Auch das traditionelle religiöse Modell des Märtyrertodes, also der Möglichkeit der bedrohten Opfer, zwischen dem Tod oder der Konversion zu wählen und so im Falle des Todes ungebrochen den Gott Israel zu bekennen, wie dies bei den mittelalterlichen Pogromen im Rheinland wenigstens der Theorie nach möglich war, ist, so Fackenheim, durch die Nazischlächter unmöglich gemacht worden und wird es wohl für immer bleiben. Dem Tod ist somit auch die letzte Möglichkeit der Würde, der eigenen Entscheidung zum Martyrium geraubt. Ebensowenig kann die andere Formel aufrecht erhalten werden, nach welcher Gott zuweilen sein Angesicht vor seinem Volk verbirgt, wie dies etwa von Martin Buber erneut als theologisches Remedium in den Vordergrund gerückt wurde,63 denn diese Denkformel kann, nach Fackenheim, nur solange Bestand haben, als eine Hoffnung auf eine spätere Rettung durch diesen Gott bleibt. Aber
61
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 72.
62
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 73.
63
Siehe Fackenheim, Return, S. 31; zu Buber s. M. Buber, Eclipse of God: Studies in The Relation Between Religion and Philosophy, Atlantic Highlands 1988; M. Buber, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie, in: ders., Werke, Bd. 1. München & Heidelberg 1962, S. 503–603.
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»Was ist, wenn unsere Gegenwart ohne Hoffnung ist. Die beispiellose Katastrophe des Holocaust machte uns deutlich, dass die [vorübergehende] Gottesfinsternis für das Judentum nur dann eine religiöse Möglichkeit bleibt, wenn sie nicht total ist. Wenn jeglicher gegenwärtige Zugang zum Gott der Geschichte vollkommen verloren ist, dann ist der Gott der Geschichte selbst verloren. Mit dieser Schlussfolgerung stehen wir der horriblen Möglichkeit gegenüber […], dass es Hitler gelungen war, nicht nur ein Drittel des jüdischen Volkes zu ermorden, sondern auch den jüdischen Glauben. So dass nur die eine Reaktion verbleibt, nämlich der verzweifelte Aufschrei ›es gibt kein Gericht und auch keinen Richter‹.«64 - also jener Aufschrei, der traditionellerweise als die kardinalste Gottesleugnung im Judentum galt, nämlich dass es in der Geschichte dieser Welt keinen letzten Richter und kein Gericht, sprich keinen Gott, gibt.65 Diese Weise der Ablehnung eines Gottesglaubens ist nun, so fährt Fackenheim fort, innerhalb des Judentums nicht neu und seit der Aufklärung als säkulares Judentum weit verbreitet. Ist also diese Form des nachaufklärerischen säkularen Judentums die sich letztlich bietende Alternative für das künftige jüdische Leben? Diese Möglichkeit weist er angesichts der unterschiedslosen Hinschlachtung gläubiger wie nichtgläubiger Juden als irrige Erwartung zurück, denn »wenn die Todeslager den jüdischen Glauben bedrohen, dann bedrohen sie nicht weniger jeglichen Säkularismus, der an seine Stelle treten könnte.«66 Den Grund für diese Skepsis sieht Fackenheim in der Tatsache, dass der jüdische Säkularismus wenigstens seit der Aufklärung stets das Ziel einer »Normalisierung« des jüdischen Schicksals anstrebte. Hinsichtlich der Religion heißt das, dass jeglicher Glaube an Gott oder Götter obsolet geworden sei und stattdessen für alle Menschen nur die universalen menschlichen Errungenschaften gelten dürfen, in denen sich die Juden nicht von den anderen Menschen unterscheiden. Einer der eindrücklichsten Vorgänge dieser »Normalisierung« des jüdischen Schicksals war, so Fackenheim, die Gründung eines säkularen jüdischen Staates, aber auch die Konfessionalisierung des Judentums, die besagte, dass die Juden zum einen den unterschiedlichen Nationen ihrer Wohnländer angehören und sich nur durch ihre Konfession von den anderen Konfessionen dieser Nation unterscheiden. Wäre jedoch dieses Ziel, nämlich die Normalisierung der jüdischen
64
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 79.
65
Vgl. dazu K.E. Grözinger, Kafka und die Kabbala Frankfurt a. M. 2014, S. 220 (Kapitel: Schuld und Sühne in den Romanen und Aphorismen: Die Romane); u. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 238–245.
66
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 79.
Schoah
515
conditio, aber das wirklich höchste Ziel aller Juden – auch der Säkularen – gewesen, so hätte dieser Normalisierungsprozess nach dem Holocaust eigentlich an Geschwindigkeit zunehmen, das heißt die Flucht aus der Sonderexistenz als Juden, verstärkt werden müssen. Aber das Gegenteil davon sei wirklich eingetreten, »tatsächlich aber haben die säkularen nicht weniger als die religiösen Juden auf den Holocaust mit einer Affirmation ihrer jüdischen Existenz reagiert. […] Die jüdische Theologie, weiß bis heute nicht, wie sie auf den Holocaust reagieren soll. Die Juden selbst aber, reiche wie arme, gebildete wie ungebildete, gläubige wie säkulare, haben schon längst in derselben Weise reagiert.« – das heißt sie haben auf ihrer jüdischen Sonderexistenz beharrt.67 Das bedeutet nach Fackenheims Einschätzung zugleich, dass angesichts des Holocaust die Demarkationslinie zwischen religiösen und säkularen Juden ausgelöscht ist, denn beide sitzen letztlich im selben Boot. Das genannte spontane Festhalten am Judentum durch Juden der Nach-Holocaust-Zeit betrachtet Fackenheim als eine wahrhaft authentische Reaktion (response) auf das verheerende geschichtliche Geschehen. Worin aber besteht diese »response«, diese Reaktion auf Auschwitz, in ihrem Kern? Sie ist der Versuch, den »Dämonen von Auschwitz« zu trotzen und zwar in der höchst möglichen Form der Opposition. War das Ziel von Auschwitz, die unterschiedslose und totale Vernichtung des jüdischen Lebens, von dessen Kultur und Glaube, so kann die totale Opposition nur dessen absolutes Gegenteil sein, und das heißt zunächst, die völlige Hingabe an das pure jüdische Überleben, die Akzeptanz der Ausgesondertheit als Jude und des jüdischen Lebens um des jüdischen Lebens willen.68 Gegenüber dieser authentischen spontan entstandenen Reaktion auf das Vernichtungsziel der Nationalsozialisten können selbst solche allgemeinmenschlichen Ideale wie der Glaube an die Vernunft und den allgemeinen Fortschritt nicht als sachgerechte, nicht als wirklich authentische, Reaktion auf Auschwitz genügen. Fackenheim glaubt, dass diese spontane verharrende jüdische Reaktion auf den Holocaust gleichsam einem Anruf von außen folgt, denn: »Die jüdische Opposition gegen Auschwitz kann nicht in Form von menschgemachten Idealen begriffen werden, sondern nur als ein auferlegtes Gebot. Das heißt, der jüdische Säkularist, nicht weniger als der Gläubige, ist von einer Stimme absolut herausgerufen, einer Stimme, die von den übrigen menschgemachten Idealen unterschieden ist, – durch einen Befehl, der ihm ebenso wahrhaft auferlegt wurde, wie von der Stimme am Sinai.«69
67
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 81.
68
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 82.
69
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 83.
Emil L. Fackenheim
516
Den Gedanken der Parallelität der Sinaioffenbarung mit der »Stimme von Auschwitz«, hat Fackenheim – wenn auch zögerlich und mit Vorbehalten – von Elie Wiesel übernommen.70 Aber er beharrt trotz dieses Zögerns mit allem Nachdruck darauf, dass eine solche verpflichtende Stimme für alle Juden von Auschwitz ausgeht. Er kann die Existenz dieser Stimme nicht positiv nachweisen sowenig wie er deren Nichtexistenz in Abrede stellen kann: »Wir schrecken vor jeglichem Anspruch, etwas gehört zu haben, zurück – aber noch mehr vor einer endlosen und falschen agnostischen Flucht vor einer solchen Stimme, die zu uns spricht.«71 Um die Bedeutung dieser von Auschwitz ausgehenden offenbarungsartigen Stimme in traditioneller Diktion zu beschreiben, hat Fackenheim in einer früheren Publikation von dem 614ten von Auschwitz ausgehenden Gebot gesprochen. Damit will er sagen, dass der traditionellen Zahl der 613 sinaitischen ToraGebote ein weiteres, völlig neues, hinzugefügt worden ist.72 Zur Erläuterung dieses dem Menschen zwangsweise auferlegten Gebotes wird Fackenheim später, in seinem philosophischen Buch To Mend the World, das oben erwähnte Zeugnis von Pelagia Lewinska anführen, das ihm ein allgemein anthropologischer Beleg für das Phänomen eines solchen spontanen Befehlsempfangs ist, wovon später noch die Rede sein wird. In der hier behandelten »theologischen« Schrift Godʼs Presence in History war Fackenheim bemüht, eine theologische Argumentation aufzubauen, mit deren Hilfe man eine solche nachsinaitische Offenbarung von Auschwitz erklären könnte. Dafür hat er im ersten Teil dieser Schrift eine philosophisch-theologische Deutung für ein derartiges Offenbarungsgeschehen, das dem historischen Geschehen entspringt, vorgelegt. Er tut das anhand der für das traditionelle Judentum konstitutiven Ereignisse des Exodus- und Sinaigeschehens, die er dabei nicht als allgemein sichtbaren Einbruch der Transzendenz darstellt, sondern als natürliche historische Ereignisse, welche der bekannten Vieldeutigkeit aller geschichtlichen Ereignisse unterliegen und erst durch die menschliche Rezeptionsweise als Offenbarung erkannt werden – dies wird im Folgenden noch darzustellen sein. Wesentlich für diese »Commanding Voice of Auschwitz« ist es, dass die von ihr betroffenen Menschen dieser Stimme spontan folgen, wie dies für die »Juden« nach Auschwitz gerade zuvor schon angedeutet war: Sie folgten einem zunächst unreflektierten Drang, der sie zum Weiterführen ihrer separaten jüdischen Existenz bewegte oder auf ihm beharren ließ. Für die später Nachgeborenen besteht sodann – nach einem Denkmodell von Søren
70
Fackenheim, Return, S. 53. 138; Godʼs Presence, S. 84.
71
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 84–85.
72
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 282. 431. 485 FN; Fackenheim, Return, The 614th Commandment, S. 19–24 (zuvor in: Judaism 16, 3 Summer Issue 1967); Fackenheim, To Mend, S. xixf. 276. 299–302.
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Kierkegaard – die Möglichkeit einer ähnlichen spontanen Folgeleistung, die allerdings erst nach einer vorangegangenen Reflexion des Geschehenen erfolgt.73 Damit will Fackenheim diese spontane und damit »authentische« Form der »response« auf Auschwitz auch als authentische Möglichkeit für die späteren Generationen festhalten – auch nach der Reflexion der Ereignisse kann man dem Überdachten »spontan« Folge leisten. Was nun diese »gebietende Stimme aus Auschwitz« konkret befiehlt, wird im Folgenden noch erörtert werden.
5.1. »The commanding Voice of Auschwitz« – das 614te Gebot Die These vom 614. Gebot, das der traditionellen Tora ein vollkommen neues Gebot hinzufügt, hat Fackenheim zum ersten Mal in einem Aufsatz von 1967 vorgetragen, der in sein Buch The Jewish Return into History wieder aufgenommen wurde.74 Dort führt er dieses Gebot ohne weitere Begründung als »aus der Konfrontation« mit dem Holocaust entsprungen ein.75 Er nennt es kurz darauf ein »absolut gegebenes Gebot, offenbart aus der Mitte der Katastrophe«. Dieses neue Gebot erhält dort den kurzen prägnanten Wortlaut: »Dem authentischen Juden von heute ist es verboten, Hitler einen weiteren posthumen Sieg zu verschaffen.« Auch an dieser Stelle sagt Fackenheim, dass dieses Gebot, gleichsam wie eine Offenbarung inmitten der Katastrophe gegeben, also nicht von Menschen erdacht wurde.76 Die erste konkrete Folgerung aus diesem zunächst nur allgemein formulierten Gebot lautet für ihn sodann: »uns ist zuallererst geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht zugrunde geht.«77 Und eine zweite Folgerung ist die, das Gedächtnis der Märtyrer zu bewahren, damit auch dieses nicht untergeht. Die fraglose Befolgung dieses 614. Gebotes nennt Fackenheim eine »authentische jüdische response (Reaktion)« auf den Holocaust. Neben sie muss die zweite authentische »response« treten, nämlich die Einheit des jüdischen Volkes über alle internen Differenzen hinweg zu bewahren, denn sie dient eben der Erhaltung der Existenz dieses Volkes.78
73
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 47.
74
Fackenheim, The 614th Commandment, in: Return, S. 19–24 (zuvor in: Judaism 16, 3 Summer
75
Fackenheim, Return, S. 22.
76
Fackenheim, Return, S. 23.
77
Fackenheim, Return, S. 23.
78
Fackenheim, Return, S. 22. 21.
Issue 1967).
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Emil L. Fackenheim
Ein Jahr später, 1968, gibt Fackenheim dem Gebot eine wesentlich längere Form und nennt es nun eine »commanding Voice« aus Auschwitz.79 Nach dieser ausführlicheren Form befiehlt die »Stimme aus Auschwitz«: »Den Juden ist es verboten, Hitler posthume Siege zu verschaffen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergeht. Es ist ihnen geboten, sich an die Opfer von Auschwitz zu erinnern, damit ihr Gedächtnis nicht untergeht. Es ist ihnen verboten, am Menschen und seiner Welt zu verzweifeln, damit sie nicht daran mitwirken, die Welt den Mächten von Auschwitz auszuliefern. Schließlich ist ihnen verboten, am Gott Israels zu verzweifeln, damit das Judentum nicht untergeht. Ein säkularistischer Jude kann sich zwar nicht zwingen, durch einen reinen Willensakt zu glauben, noch kann man ihm dies befehlen; aber er kann das Gebot von Auschwitz erfüllen; ein religiöser Jude hingegen, der treu an seinem Gott festhielt, mag vielleicht in neue, möglicherweise revolutionäre Beziehungen zu Ihm gezwungen werden. Nur eine Möglichkeit ist völlig ausgeschlossen. Ein Jude darf auf Hitlers Versuch, das Judentum zu vernichten, nicht dadurch antworten, dass er selbst an dieser Zerstörung mitwirkt. Früher war der Götzendienst die undenkbare Sünde eines Juden. Heute ist es die, auf Hitler so zu reagieren, dass man sein Werk erfüllt.«80 Dieses 614te Gebot der Stimme von Auschwitz betrachtet Fackenheim, wie gesagt, als ein neues, der Tora hinzugefügtes Gebot. Um diese gewagte These zu rechtfertigen, entwickelt Fackenheim eine Theorie der Offenbarung, wie sie nach seiner Auffassung schon für die traditionellen »Grunderfahrungen« (root experience) des Judentums, das heißt für den Exodus, insbesondere die Durchquerung des Schilfmeeres, und die Offenbarung am Sinai gegolten hat. Damals, so meint Fackenheim, sind von außen betrachtet nur ganz natürliche Dinge geschehen, die aber von den anwesenden Israeliten als Offenbarung erlebt wurden. Und so wie damals die natürlichen historischen Ereignisse Offenbarung generierten, so konnten es auch die grausamen Ereignisse der Schoah.
79
In seinem Aufsatz »Jewish Faith and the Holocaust: A Fragment«, in: Fackenheim, Return S. 25–42, ursprünglich in: Commentary vom August 1968 (Nr. 46,2) (auch im Internet einsehbar: www.commentarymagazine.com/article/jewish-faith-and-the-holocaust-a-fragment/
80
Fackenheim, Return, S. 32; Fackenheim, Godʼs Presence, S. 84.
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5.2
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Offenbarung und Geschichte – das Entstehen der Offenbarung aus dem Geschehen der Geschichte
Die Frage der Offenbarung erörtert Fackenheim – nicht ungewöhnlich für einen jüdischen Theologen – an den beiden Grundereignissen, welche nach dem jüdischen Selbstverständnis das Judentum als Volk, als Gottes Volk, ins Dasein gebracht hatten, nämlich am Exodus und an der Sinaioffenbarung. Aber schon die Tatsache, dass Fackenheim sich zur Erörterung des Wesens von Offenbarung nicht auf den Sinai, den Ort und Zeitpunkt der Tora-Offenbarung schlechthin, beschränkt, deutet ein vom rabbinischen Verstand abweichendes Offenbarungsverständnis an, nach welchem die Offenbarung allem Anschein nach nicht die »Gabe der Tora«, sondern etwas anderes ist, nämlich, wie Fackenheim dies in Anlehnung an Martin Buber und Franz Rosenzweig81 in To Mend The World einmal deutlich sagt: »unter ›Offenbarung‹ verstehe ich nun, wie auch zuvor, nicht von der göttlichen Autorität gestützte Lehrsätze oder Gesetze, sondern zunächst das Ereignis der göttlichen Gegenwart.«82 Also die Gottheit wird offenbar, nicht deren Lehre und Gebote. Weil nun die beiden genannten »historischen« Ereignisse, Exodus und Sinai, als Ereignisse göttlicher Präsenz für das Judentum konstitutiv wurden, nennt Fackenheim sie »root experiences«, »Grund-Erfahrungen«.83 Für ihn fällt mithin die Präsenz Gottes in der Geschichte mit Offenbarung zusammen. Da es aber laut dem Zeugnis von Bibel und Midrasch noch weitere solche Offenbarungs-Präsenzen Gottes in der Geschichte gab und auch noch gibt, ist es nötig, diese zusätzlichen göttlichen Gegenwartsauftritte weiter zu differenzieren. Neben der gleichsam alltäglichen Gottespräsenz in der Geschichte, die Fackenheim nicht weiter nennt, hebt er vor allem die so genannten »epochemachenden Ereignisse« (epoch-making events) hervor, welche einen besonderen Eindruck in der jüdischen Geschichte und deren Erinnerung machten. Zu ihnen zählt er das Ende der Prophetie, die Zerstörung des Ersten Tempels, den Makkabäer-Aufstand, die Zerstörung des Zweiten Tempels und die Vertreibung der Juden aus Spanien. Diese Ereignisse, so einschneidend 81
Vgl. R. Munk, Revelation and Resistance: A Reflection on the Thought of Emil L. Fackenheim, in: L. Greenspan & G. Nicholson (Hg.), Fackenheim: German Philosophy and Jewish Thought, Toronto et. al. 1992, S. 226, er verweist dazu auf Fackenheim, To Mend, S. 61–79; N. Rotenstreich, Jewish Philosophy in Modern Times: From Mendelsson to Rosenzweig, New York 1968, S. 187–205, und Fackenheim, Encounters Between Judaism and Modern Philosophy: A Preface to Future Jewish Thought, New York 1973 (1980), S. 9–29; F. Kaufman, Martin Buberʼs Philosophy of Religion, in: P. Schilpp u. M. Friedman, eds., The Philosophy of Martin Buber, London 1967, S. 201–233; u. E. Fackenheim, Martin Buberʼs Concept of Revelation, ebda, S. 273–296.
82
Fackenheim, To Mend, S. 6.
83
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 8–9.
520
Emil L. Fackenheim
sie waren, sind deshalb keine root-experiences, weil sie den überkommenen Glauben zwar herausforderten und einer Prüfung unterzogen, aber im Gegensatz zu den beiden »Grunderfahrungen« keinen neuen Glauben schufen.84 Demgegenüber schufen die beiden Grunderfahrungen einen neuen, den jüdischen Glauben, und werden darum als root-experiences herausgehoben. Das Eigenartige und Bezeichnende der beiden Grunderfahrungen ist nun aber, dass sie gleichfalls »nur« natürliche historische Erfahrungen waren, und als solche dennoch den neuen Glauben erzeugten. Das heißt, und dies ist zentral für Fackenheims Offenbarungslehre, der jüdische Glaube entstand nicht durch einen unwiderstehlichen Einbruch einer Transzendenz in die Welt, welcher die Geschichte angehalten hätte, sondern der Glaube entstand aus einem gewöhnlichen historischen Ereignis, das allerdings zugleich den Anspruch erhebt, ein Ereignis der Gottesgegenwart gewesen zu sein. Das Entstehen dieses Glaubens unterliegt darum wie alles historische Geschehen, der Zwei-, oder Vieldeutigkeit allen historischen Geschehens. Der für dieses Geschehen erhobene Anspruch der Gottespräsenz ist objektiv nicht nachweisbar, sondern gewinnt seine Bestätigung aus anderen als den historisch-kritischen Geschichtsnachweisen. Und was macht nun ein solches vergangenes gewöhnliches historisches Ereignis zu einer solchen »Grunderfahrung« also einem Ereignis das auch für Spätere von Belang ist, was rechtfertigt dessen erhobenen Offenbarungsanspruch? Es sind drei Kriterien, die Fackenheim dafür aufstellt: 1. Anhand eines alten Midrasch zur Durchquerung des Schilfmeeres beim Exodus, nach welchem damals selbst die einfachste Magd mehr gesehen habe als die Propheten Jesaja und Ezechiel in ihren Visionen,85 deutet Fackenheim: Der Autor dieses Midrasch konnte diese Aussage nur machen, weil er selbst »wusste«, will sagen glaubte, dass die einfachen Mägde innerhalb des normalen Geschehens damals zugleich etwas Göttliches sahen. Daraus folgt die erste Bedingung für eine solche Grunderfahrung, root-experience, die aus einem vergangenen Ereignis eine Offenbarung macht, die auch noch für eine spätere Gegenwart verbindlich ist: »Nur dank dieser dialektischen Beziehung zwischen der Gegenwart [des Midrasch-Autors] und der Vergangenheit, kann eine Erfahrung der Vergangenheit der Gegenwart gebieten [und sie bestimmen] (legislate).«86 Das bedeutet, ein Ereignis der Vergangenheit wird nur dadurch zu einem Offenbarungsereignis, zu einem Ereignis der Gottesgegenwart in der Geschichte, dass die Aussage der Vergangenheit von dem gegenwärtigen Menschen gewusst, oder
84
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 8–9.
85
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 4; Mekhilta de-R. Jischmaʼel, ed. Lauterbach, Philadelphia
86
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 9.
1933, II, 24ff; Mekhilta de Rabbi Jischmaʼel, ed. H. S. Horowitz, Jerusalem 1970, S. 126f.
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geglaubt wird. Die Offenbarung ist also abhängig vom Menschen der jeweiligen Gegenwart und so auch die Präsenz Gottes in der Geschichte. 2. Mit der zweiten Bedingung für die Anerkennung eines historischen Ereignisses als root-experience greift Fackenheim zu der schon von dem mittelalterlichen Denker Jehuda ha-Levi geprägten Formel87 von der massenhaften Öffentlichkeit des Ereignisses: »Sein öffentlicher historischer Charakter ist die zweite Bedingung für eine Grunderfahrung im Judentum.« 88 Weil diese massenhafte Öffentlichkeit Bedingung für die Anerkennung als root-experience eines Geschehens ist, werden zum Beispiel die Visionen der beiden genannten Propheten, Jesaja und Ezechiel, bloß als individuelle Erfahrung mit nur individueller Bedeutung abgetan, während das Schilfmeer-Exodus- und das Sinai-Geschehen sich vor dem gesamten Volk ereigneten. Es ist diese Öffentlichkeit, die außerdem, was letztlich noch wichtiger ist, diesen Ereignissen konkrete und nachhaltige soziale und juristische Nachwirkungen verschafften: »Am Schilfmeer, sah es das gesamte Volk, eingeschlossen die niedrige Magd. Und das, was vor ihren Augen geschah, war nicht die Öffnung des Himmels, sondern eine Verwandlung (transformation) der Erde – ein geschichtliches Ereignis, das sich auf alle künftigen jüdischen Generationen auswirkte. Diese künftigen Generationen werden ihrerseits nicht wie die Mägde am Schilfmeer die Gegenwart Gottes sehen. Aber sie rufen dieses natürliche historische Geschehen, durch das die Gottesgegenwart einst manifest war, zwei Mal täglich in ihren Gebeten in Erinnerung, und der Seder an Pesach ist ihm gänzlich gewidmet.«89 Es ist dies im Grunde dieselbe Konkordanz von Vergangenheit und Gegenwart wie in der ersten Bedingung, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass auf beiden Seiten eine große Öffentlichkeit beteiligt ist, dort das Volk am Schilfmeer, heute das Volk in Synagoge und Haus. In dieser Deutung Fackenheims spürt man den deutlichen Nachklang von Franz Rosenzweigs Konzept des jüdischen Festjahres und seiner Bedeutung für die Wirklichkeit des erwählten Volkes, wie dies im fünften Band von Jüdisches Denken gezeigt werden wird.90 3. Die erste Bedingung für eine »root-experience« wird durch eine dritte noch weiter spezifiziert, nämlich durch die Möglichkeit der Zugänglichkeit (accessibility) des vergangenen Ereignisses. Dies erläutert Fackenheim dadurch, dass das im Nachvollzug erinnerte einstige Ereignis ein wirklich natürliches Ereignis war, 87
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 595.
88
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 10.
89
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 10.
90
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5, das Kapitel zu Rosenzweig.
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also im Falle des Exodus eine wirkliche Bedrohung und eine tatsächliche Errettung – das heißt nichts nur in Gedanken Vorgestelltes. »So ruft sich der fromme Jude, der des Exodus gedenkt, nicht Ereignisse ins Gedächtnis, die in seiner Gegenwart vorbei und passé sind. Er unternimmt einen Nachvollzug (reenacts) dieser Ereignisse als einer gegenwärtigen Realität: Nur so kann er versichert sein, dass der einst rettende Gott noch immer rettet und dereinst die endgültige Erlösung bringen wird.«91 Nachdem die Kriterien für die Heraushebung historischer Ereignisse als »root-experiences«, in erster Linie die Konkordanz zwischen gegenwärtigem und vergangenem »Glauben«, festgestellt sind, bleibt dennoch die Frage, »wie können wir das ursprüngliche Geschehen tatsächlich verstehen – nämlich als eine Gottesgegenwart, die sich innerhalb und durch ein natürliches historisches Geschehen erweist?«92 Zur Beantwortung dieser letzten und entscheidenden Frage beruft sich Fackenheim in einem längeren Zitat auf Martin Buber aus dessen Buch Moses, in welchem dieser ausführlich »Das Wunder am Meer« erörtert. Aus Bubers Ausführungen erschließt er, in Verbindung mit einem zugehörigen Schilfmeer-Midrasch, dass es einer menschlichen Aktivität bedarf, um innerhalb eines natürlichen Geschehens das Wunder der Gottespräsenz zu erleben.93Das heißt, die Präsenz Gottes in der Geschichte und in der Natur ist ein Wunder, dieses Wunder ist aber keines, das die Naturgesetze durchbricht, sondern erst und alleine durch eine spezifische Aktivität des Menschen wirklich und erfahrbar wird. Diese menschliche Aktivität bezeichnet Martin Buber in seinem Buch als »unaufhebbares Staunen«,94 in der englischen Übersetzung, die Fackenheim zitiert, ist dies ein »abiding astonishment«.95 Das bedeutet, ein natürliches Geschehen wird zum Wunder der Gottespräsenz durch das »unaufhebbare Staunen« des Menschen. Dieses Staunen bewirkt, dass der Mensch ein natürliches Geschehen als Wunder wahrnimmt und erlebt, und nicht nur – im Nachhinein – als solches deutet. Dem staunenden Menschen wird das natürliche Geschehen transparent, er sieht in ihm mehr als das vor Augen Liegende, mit Bubers Worten: »Das wirkliche Wunder bedeutet, daß im staunenden Erfahren des Ereignisses die geläufige Kausalität gleichsam transparent wird und den Anblick einer Sphäre freigibt, in der eine einzige, nicht durch andere beschränkte Macht
91
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 11.
92
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 11.
93
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 14.
94
M. Buber, Moses, Heidelberg 1952 (2. Aufl. – die erste erschien laut Vorwort 1944).
95
M. Buber, Moses, New York 1958, bei Fackenheim Godʼs Presence, S. 12.
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handelt. Mit dem Wunder leben heißt diese Macht Mal um Mal als die wirkende wiedererkennen.«96 Den letzten Satz dieses Zitates hat Fackenheim nicht übernommen, aber er übernimmt dessen Inhalt, wenn er die Frage beantwortet, wie denn nun der Jude in der Gegenwart dieses Wunder der Gottespräsenz für sich rezipieren und aktualisieren kann. Er sagt dazu: »Durch die Wiederinkraftsetzung (Wiederholung, reenact) des natürlich-historischen Ereignisses, setzt er auch das unaufhebbare Staunen wieder in Kraft und macht es sich zueigen. So ist die ›einzige Macht‹, die einst gegenwärtig war, auch jetzt noch gegenwärtig. Das heißt die Erinnerung wird zum Glauben und zur Hoffnung.«97 Es bedarf noch eines letzten Schritts, um von dieser Midrasch-Wunder-Theologie zur »Commanding Voice of Auschwitz« zu kommen. In einer Deutung der biblischen Ereignisse und von zwei Midraschim, einem zum Schilfmeerwunder und einem zweiten zur Sinaioffenbarung, unterscheidet Fackenheim zwei grundsätzliche Weisen der göttlichen Präsenz in der Geschichte. Das eine ist die »rettende Gottesgegenwart«, am Schilfmeer, und das andere die »gebietende Gottesgegenwart« am Sinai. Nach den bisherigen Ausführungen kann dies auch so umschrieben werden: Es gibt natürliche Ereignisse, welche der staunende Mensch als rettende und andere, die er als gebietende Gottesgegenwart erlebt und wahrnimmt. In dem genannten Midrasch zum Schilfmeer wird erzählt, dass das Wunder der Meerspaltung erst begann, nachdem sich ein gewisser Nachschon Ben Amminadav im vollen Vertrauen auf Gottes bevorstehendes Rettungshandeln in die Fluten des Meeres wirft,98 und im Sinai-Midrasch, dass die Israeliten angesichts des dröhnenden Gotteswortes erst vor Schrecken und Horror »dahinstarben«, dann aber durch eine abgemilderte Stärke des Gotteswortes wieder zum Leben erwachten und so das Wort als Gebot annehmen konnten.99 Aus beiden Midraschim leitet Fackenheim eine gleichermaßen erforderliche menschliche Beteiligung ab, durch welche die Gottespräsenz erst realisiert wird, dort beim Exodus der mutige Sprung ins Wasser nach der Aufforderung, beziehungsweise des Befehls Gottes, hier am Sinai der Schrecken der Israeliten, der ihre Fähigkeit, sich für Gottes Gebot zu entscheiden, beendet (getötet) hatte, aber durch Gottes gnädiges »Wiedererwecken« wieder herstellt wurde, so dass sie das Gebot annehmen konnten. Auch diese zwiefache Form der Realisierung der Gottespräsenz, Todes-Schrecken und wiedererwachte Gehorsamsfähigkeit, ist eine
96
Buber, Moses, S. 92; Fackenheim, Godʼs Presence, S. 13.
97
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 14.
98
Mekhilta de Rabbi Jischma’el (Lauterbach), I, 37; Mekhilta, Horowitz, S. 105.
99
Midrasch Schir ha-Schirim V, 16, § 3 (Midrasch Rabba, Wilna/Neudruck Jerusalem 1961, Bd. 2, Schir ha-Schirim, S. 64); Fackenheim, Godʼs Presence, S. 14–15.
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Form des »unaufhebbaren Erstaunens«, die später wieder aktiviert werden soll, als Schrecken und begnadetes Annehmen der Befehlsstimme. Es ist deutlich geworden, dass nach Fackenheims Deutung der Gottespräsenz, als rettende wie auch als befehlende, etwas ist, das der Mensch inmitten und aus »gewöhnlichen« natürlichen und historischen Ereignissen erfahren kann und muss. Er kann dies aber nur, solange er seinerseits eine Aktivität einbringt, die hier als »unaufhebbares Erstaunen« benannt wird. Ohne diese menschliche Aktivität kann die Stimme nicht gehört werden. Bezogen auf die Schoah bedeutet dies, dass diese natürlich nicht als rettende Gottespräsenz wahrgenommen werden kann, wohl aber als gebietende. Denn zu dieser gebietenden Gottespräsenz gehört, wie am Sinai, zunächst der Schrecken und anschließend das Hinhören und der Gehorsam. Eine solche doppelte Realisierung der zweiten Art der Gottespräsenz sieht Fackenheim lichtblickartig im Holocaust selbst aufscheinen. So etwa in dem, wenn auch erfolglosen, Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto und im Lebenswillen Einzelner in Auschwitz – weitere Beispiele hierfür werden in der folgenden philosophischen Darstellung genannt werden. Im vorliegenden Buch (Godʼs Presence in History) nennt Fackenheim abschließend als Beispiel für diese aufscheinende menschliche Aktivität schließlich das von Hirsch Glick verfasste bekannte Ghetto-Widerstandslied:100 Sog nischt kejnmol, as du gejst dem letztn weg. Chotsch himlen blajene farschteln bloje teg. Kumen wet noch undser ojsgebenkte scho, ʼs wet a pojk ton undser trot: Mir senen do! Sage nie, du gehst den allerletzten Weg, wenn Gewitter auch das Blau vom Himmel fegt. Die ersehnte Stunde kommt, sie ist schon nah, dröhnen werden unsre Schritte: Wir sind da! Dies ist als ein Beispiel der »gebietenden Gottespräsenz« inmitten der Schrecknisse der Schoah zu verstehen. Aber auch die Errichtung des Staates Israel, der mehr sein wollte als nur eine jüdische Siedlung im Orient, sondern der die Juden aus ihrer politischen Abhängigkeit befreien sollte, ist ein Zeichen des unaufhebbaren Erstaunens, das Hören der Stimme aus dem Schrecken, von dem man sich nicht lähmen lässt.
100
Aus: L. Jaldati, E. Rebling (Hg.), Es brennt, Brüder, es brennt. Jiddische Lieder, Berlin 1966, S. 148–149.
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Ein Beispiel der »rettenden Gottespräsenz« für das gesamte Volk Israel sah Fackenheim im Erfolg des Sechstagekrieges von 1967, als nach bangen Tagen, in denen ein zweiter »Holocaust« zu befürchten war, plötzlich die rettende Wendung eintrat: »Als im Jahr 1967 in Jerusalem die Bedrohung einer völligen Vernichtung plötzlich einer Rettung wich, gab es dieses unaufhebbare Erstaunen gerade wegen Auschwitz und nicht trotz Auschwitz. […] das Wunder einer ausgesonderten tausendjährigen Existenz, die auch nach Auschwitz möglich und aktuell ist.«101 Abschließend muss angemerkt werden, dass Fackenheim sehr wohl sieht, dass bei dieser Form des Denkens, bei der vom Menschen durch einen Willensakt oder in spontanem Staunen die Gottespräsenz unter der womöglich völlig anders erscheinenden realen Oberfläche wahrgenommen wird, dass die einem solchen Denken zwangsläufig auch logische Denkwidersprüche entstehen, also solche nach der gleichzeitigen Unbegrenztheit Gottes und seiner Begrenztheit im Eingreifen in die Geschichte, zwischen Gottes Allmacht und menschlichem freien Willen. Solche logische Widersprüche gilt es bei dem hier vorgelegten Denkmodell nicht auszugleichen. Fackenheim, der sich hierbei auf die sich ja in dieser Hinsicht stets widersprechenden Midraschim beruft, nennt dieses Denken das »midraschische Denken« (Midrashic thought), das nach dem schon in der Mischna formulierten Grundsatz »Alles ist vorhergesehen, aber die Willensfreiheit ist gegeben und mit Güte wird die Welt gerichtet, alles je nach dem Tun [der Menschen]«102 bewusst die Widersprüche wahrnimmt und zusammenhält, ohne die Absicht, sie ausgleichen zu wollen. Es ist Fackenheim klar, dass dieses, vor der Aufklärung im nichtphilosophischen Judentum vorherrschende, Denken, diese »Midrasch-Struktur« (Midrashic framework) in der Gegenwart nur noch von Wenigen akzeptiert wird, während dies von den meisten Juden längst verlassen wurde.103 In der gesamten Erörterung der »root-experiences« hält Fackenheim die klare Aussage, auch Auschwitz sei eine solche »root-experience« in der Schwebe, wiewohl seine Ausführungen nur zu verstehen sind, wenn er gerade dies beabsichtigt. So versteht es auch Lionel Rubinoff in seiner Darstellung Fackenheims. Er kommt dort zu dem klaren Resultat, das ich vorbehaltlos teile: »Es wäre völlig unverständlich, wie es eine nachreflektorische Unmittelbarkeit hinsichtlich von Auschwitz geben sollte – außer wir betrachten Auschwitz selbst als eine sol-
101
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 95–96.
102
Mischna, Avot, 3,15.
103
Fackenheim, Godʼs Presence, S. 20–31, besonders 20. 22. 23. 24. 30; Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 355 ff.
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che root experience, das heißt als Quelle einer Begegnung mit einer göttlichen Gegenwart. […] das ist es genau, was Fackenheim vorschlägt.«104 So weit die Grundzüge eines theologischen Modells mit der Schoah umzugehen. Da diese Deutung wegen ihres midraschischen Duktus als »fideistische« Konzeption weder nichtreligiösen Juden noch Nichtjuden zugänglich sein kann, hielt es Fackenheim für nötig, eine universal zugängliche, philosophische Deutung für die geforderte response auf den Holocaust und die unausweichliche Verpflichtung aus ihm vorzulegen, die nun im Folgenden nachgezeichnet werden soll.
6.
Die philosophische Begründung der Relevanz von Geschichte für das Denken und Handeln des Nach-Schoah Judentums und der Völker der Welt
6.1
Vorbemerkung – Ortsverschiebung von »root-experience« und »epoch-making experience«
Das zentrale Element des im vorangehenden Kapitel gezeichneten religiösmidraschischen Denkmodells, nämlich die »Grunderfahrungen« (root experiences), tritt in der philosophischen Erörterung naturgemäß ganz zurück, weil Exodus und Sinai, die »Glaubensfundamente« des Judentums, im Rahmen einer nichtreligiösen philosophischen Erörterungen keinen Platz finden konnten. Dagegen tritt nun ein anderes historisches Element in den Mittelpunkt des Denkens, welches im vorausgegangenen Denk-Zyklus eine seltsam ungeklärte Rolle gespielt hatte, nämlich die »epoch making experience«, also solche umwälzenden historischen Geschehnisse wie die beiden Tempelzerstörungen und die Vertreibung aus Spanien und Portugal. Die »epochemachenden Erfahrungen« hatten im Midrashic framework nicht die Bedeutung von Grund- oder Wurzelerfahrungen (root experiences), aus denen der jüdische Glaube entstand und zu denen nun offenbar auch Auschwitz gehören sollte. Jetzt im Rahmen der philosophischen Erörterung spielen hingegen die »epochemachenden Erfahrungen« eine zentrale, ja die einzige Rolle, zu denen nunmehr auch der Genozid von Auschwitz gehört. Diese Stellenwertverschiebung verändert natürlich auch die kultur- und religionsgeschichtliche Bedeutung solcher »epoch making experiences«, weil sie, so Fackenheim, etwas generierten, was für das Judentum einer bestimmten Epoche grundlegend wurde. Sie haben nunmehr nicht nur wie im midraschischen Denkzyklus die Macht, die überkommenen Glaubensaussagen zu prüften oder heraus104
L. Rubinoff, In Search of a Meaningful Response to the Holocaust: Reflections on Fackenheimʼs 614th Commandment, in: S. Portnoff, J. A. Diamond, M. Yaffe (Hg.), Emil L. Fackenheim. Philosopher, Theologian, Jew, Leiden-Boston, 2008, S. 251–294, hier S. 276. 280.
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zufordern. Jetzt haben die »epochemachenden Ereignisse« die Macht, ganze Epochen der jüdischen Geschichte und Kultur um- oder neu zu prägen. Fackenheim zeigt diese Bedeutungsverschiebung an der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer im Jahre 70 der Zeitrechnung. Sie hatte als »response«, sprich als Folgereaktion, das von ihm so genannte »Galut-Judentum« hervorgebracht, also das nach der Tempelzerstörung neu geschaffene rabbinische Judentum wie es seit jener Zeit bis heute die grundlegende und tragende Form des Judentums geworden war.105 Der Genozid von Auschwitz ist nun als eine ebenso »epoch making experience« gleichfalls eine zutiefst einschneidende Erfahrung, die folglich eine entsprechende oder analoge »response« wie einst die Tempelzerstörung erfordert, das heißt eine Neugestaltung des Judentums. Zur Auschwitz-Erfahrung tritt als zweite »epochemachende Erfahrung« der Gegenwart die Entstehung eines eigenen jüdischen Staates nach zweitausendjähriger Staatenlosigkeit der Juden hinzu – ein epochemachendes Ereignis, welches das Exil-Judentum ein für allemale beendete. Damit, so Fackenheim, ist es an der Zeit, nach diesen beiden epochemachenden Ereignissen, Schoah und Staatsgründung, eine »response« zu finden, welche das Galut-Judentum als ideologisches und gesellschaftliches Modell ablöst. Mit der skizzierten Akzentverschiebung klammert Fackenheim die, recht eigentlich einer »Heilsgeschichte« zugehörenden, Elemente der »root experiences« aus seiner Erörterung aus und wendet sich der reinen Profangeschichte zu, die denkerisch bewältigt werden muss. Um dies zu erreichen, sucht er in der europäischen Philosophiegeschichte nach philosophischen Modellen, welche die reale Geschichte ernst nehmen und ihr eine philosophische Valenz verleihen. Die von Plato und Aristoteles herrührende europäische Philosophie, die die Erkenntnis an die unveränderlichen, also transzendenten Wesenheiten oder Ideen gebunden hatte, kommt hierfür natürlich nicht in Frage. Wohl aber der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig, der mit seinem »neuen Denken« die Philosophie von »Jonien bis Jena« verabschieden wollte, insbesondere mit seinem Beharren auf dem Tod als einem unausweichlichen individuellen Erfahrnis.106 Letztlich kommt aber auch Rosenzweig nicht in Frage, weil er gerade das jüdische Volk als Ganzes mit seiner ›ewigen Existenz‹ von der realen Geschichte ausnimmt, weil diesem Volk, als von Gott erwähltem, zwischen Sinai und Messias geschichtlich nicht wirklich etwas Neues widerfahre.107 Durch die geschichtlichen Geschehnisse von Schoah und Staatsgründung Israels ist aber Rosenzweigs Denken völlig überholt, das Judentum ist als Volk von Fleisch und Blut in die Geschichte zurückgekehrt.
105
Fackenheim, To Mend, S. 17.
106
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5. Kapitel, Rosenzweig.
107
Fackenheim, To Mend, S. 18.
Emil L. Fackenheim
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Als Alternative untersucht der »Hegelianer« Fackenheim noch die Geschichtsphilosophie von Hegel, den ja selbst Rosenzweig schon vom »neuen Denken« ausgeschlossen hatte. Aber auch Hegel scheidet als Geschichtsphilosoph aus, weil er zwar die religiöse und die säkulare Wahrheit voneinander trennt, sie hernach aber wieder vereint. Und da diese Wahrheit die christliche ist, schließt sie alle andere »historische« Wahrheit aus.108 Selbst Spinoza und sogar Kierkegaard scheiden als Denker eines konsequenten »Historismus« aus. Der einzige moderne Denker, der den Erfordernissen ganz entspricht, erscheint Fackenheim Martin Heidegger zu sein, was zu einer von Fackenheim selbst erkannten Tragik führt – nämlich dass der philosophische Kronzeuge für Fackenheims »Geschichtsphilosophie« eben jener Martin Heidegger ist, der nicht nur öffentlich dem Nationalsozialismus zugeneigt war, sondern, der in seinem gesamten Werk, auch nach 1945, den Holocaust niemals nennt, geschweige denn ihn philosophisch zu verarbeiten suchte.109 Allerdings war auch noch vor den neuerlichen Erkenntnissen, vor allem anhand der Tagebücher Heideggers,110 dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus allgemein, auch bei Fackenheim, bekannt, der jedoch in seinem To Mend the World noch von einer »Kehre« Heideggers, weg vom Nationalsozialismus ausging. Aber im Vorwort zur zweiten Auflage (1982) sagt Fackenheim: »Würde das Buch heute geschrieben, wäre es zu Rosenzweig und zu Heidegger kürzer, aber aus unterschiedlichen Gründen. Über Rosenzweig schrieb ich mehr, als die Argumentation des Buches erfordert aus Freude an der Entdeckung. Über Heidegger überhaupt zu schreiben wird, wie die Jahre sich hinziehen, zunehmend widerlich. […]. Bei all seiner Betonung der Geschichtlichkeit des Seins, ignorierte Heidegger die Geschichte von Fleisch und Blut – sogar die Folterkeller der Gestapo, geschweige denn den Holocaust.«111 Dennoch spricht Fackenheim im Haupttext von To Mend the World mit großer Hochachtung, Bewunderung und Zustimmung über die Philosophie von Heidegger, auch wenn er schon da die Defizite, das mangelnde Wahrnehmen der Zeit der Nazi-Geschichte, deutlich benennt. Schon am Ende eines ersten Überblicks über die oben genannten Philosophen sagt Fackenheim da: 108
Fackenheim, To Mend, S. 128.
109
Fackenheim, Return, S. 91; The Holocaust and Philosophy, S. 11; To Mend, S. 189–190.240.
110
Vgl. dazu z. B. die drei Aufsätze zu »Der Fall Heidegger«, in: Philosophie Magazin, Sonder-
264. 265. 269. 320. ausgabe 3, (Januar 2015), Die Philosophie und der Nationalsozialismus, (Hg.) C. Newmark; noch verheerender sind die Einträge im Notizbuch, die in Bd. 97 der Gesamtausgabe publiziert wurden, wo Heidegger gar von einer von den Juden selbstverschuldeten »Selbstvernichtung« spricht, vgl. D. Di Cesare, in http://www.corriere.it/english/15_febbraio_09/heidegger-jewsself-destructed; u. s. dies., Heidegger e gli ebrei. I ‘Quaderni neri', Torino 2014. 111
Fackenheim, To Mend, S. xxiv.
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»Hinsichtlich der Frage, wer die großen und relevanten Denker sind, gab es für mich Überraschungen, aber am Ende keinen Zweifel. […] Das Ergebnis widerstand und wies die weitreichenden Bedenken wider die Relevanz und Statur von Heidegger zurück. Man kann sich zwar nie wirklich von dem Gefühl befreien, dass Heideggers Denken beschädigt ist, und dies völlig unabhängig von seiner trostlosen philosophischen wie persönlichen Geschichte während des Beginns der Nazi-Herrschaft.112 Dennoch bleibt trotz all dem in seinem Denken das strikte und beharrliche Zusammenhalten der menschlichen, historisch bedingten Endlichkeit mit einem tiefgehenden Eintauchen in das gesamte westliche Bemühen um die Transzendenz.«113
6.2
Die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins – Grundlinien der Philosophie
Das zentrale Kapitel von Fackenheims opus magnum To Mend the World über »Geschichtlichkeit, Bruch und Tikkun Olam (Mending the World)« bringt die Zentralität des Heideggerschen Denkens für Fackenheim sogleich am Anfang unmissverständlich zum Ausdruck: »Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass Heidegger […] an Größe den oben genannten Denkern114 gleichkommt. (Die Zeit wird es lehren.) Wenn er dennoch die zentrale Gestalt der folgenden Untersuchung sein muss […], dann weil er in Sein und Zeit von Anfang bis zu dessen Ende mit exemplarischer Hartnäckigkeit zwei grundlegende Interessen zusammenhält,
112
Schon früh hat hingegen Lion Feuchtwanger einen Zusammenhang zwischen Heideggers Philosophie und seiner Wendung zum Nationalsozialismus gesehen. Thomas Meyer, Zwischen Philosophie und Gesetz. Jüdische Philosophie und Theologie von 1933 bis 1938, Leiden/Boston 2008, S. 285, zitiert einen Brief Feuchtwangers von 1932 an Ernst Simon, in dem er diese Verbindung klar sieht. Meyer: »Bereits wenige Monate zuvor, in einem Brief vom 22. Juni 1932 an den Pädagogen und Religionsphilosophen Ernst Simon, schreibt Feuchtwanger in einem Postscriptum zu einer ansonsten rein geschäftlichen Mitteilung: ›Einen guten Heidegger-Aufsatz könnte ich gut gebrauchen; Heidegger ist der Vorspann des Nat. Soz. u. ist mit seinem Seminar der Partei längst mit Haut u. Haar verschrieben.‹«
113
Fackenheim, To Mend, S. 21; zu Heidegger s. P. Trawny, Martin Heidegger, Frankfurt a. M. 2003. In welchem Maße sich zeitgenössische jüdische Denker mit Heidegger und seiner Philosophie auseinandersetzten, zeigt die sehr tiefgreifende und detailreiche Darstellung bei Thomas Meyer, Zwischen Philosophie und Gesetz, hier insbesondere das sehr eigehende Kapitel »Bemerkungen zur ungeschriebenen Geschichte der jüdischen Heidegger-Rezeption«, S. 273–308.
114
Spinoza und Rosenzweig, Hegel, Kierkegaard und Marx.
Emil L. Fackenheim
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welche die meisten, wenn nicht alle anderen Denker unterschreiten. Das eine ist, dass der Weg des gegenwärtigen und künftigen Denkens unauflöslich mit der Rückgewinnung der philosophischen Tradition ›von Jonien bis Jena‹115 und darüber hinaus verbunden ist. (Dies ist der Weg von Athen, welcher der eine der okzidentalen Behauptung einer Transzendenz ist, deren zweiter ist der von Jerusalem). Das andere ist ein absolut radikales Bestehen auf der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, von der keine Seite dieses Daseins ausgenommen ist. Die Geschichtlichkeit des Daseins des Menschen, umfasst darum auch das philosophische Denken des Menschen, das heißt selbst das von Heidegger.«116 Es ist dieses Beharren auf der Geschichtlichkeit des gesamten menschlichen Daseins, das sich auch Fackenheim zueigen macht, das heißt, dass es kein Verstehen der menschlichen conditio gibt, ohne eine Berücksichtigung der Geschichte. Ohne Berücksichtigung der Geschichte, ohne Beachtung, dass das gesamte menschliche Dasein der Geschichte ausgesetzt, oder besser, ausgeliefert ist, kann es kein Verstehen des menschlichen Daseins geben. Außerdem muss man auch bedenken, dass selbst dieses Verstehen keine zeitlose Größe, sondern der Änderung der Geschichte unterworfen ist. Damit verabschiedet sich Fackenheim von dem typologischen Geschichtsbild der rabbinischen Literatur, nach dem es in der jüdischen Geschichte nichts Neues unter der Sonne gibt, sondern nur die stets
115
Eine Formulierung von Franz Rosenzweig, der mit seinem »neuen Denken« das »alte Denken »von Jonien bis Jena« ablösen wollte. Dazu vgl. Jüdisches Denken, Bd. 5, das Kapitel zu Franz Rosenzweig.
116
Fackenheim, To Mend, S. 150–151; u. vgl. ebda, S. 152 »Was Sein und Zeit anbelangt, so hat es soweit man dies sagen kann, die philosophische Landschaft für immer verändert.« Andere jüdische Denker haben dies durchaus anders beurteilt, Thomas Meyer sagt dazu: »Bedeutsam aber sind sie [die Texte der sogleich genannten Denker] allemal für den Versuch, die Debatten jüdischer Intellektueller nach 1933 verstehen zu wollen. Auch Heideggers Werk wird in den Fragekontext nach den Bedingungen der Möglichkeit einbezogen, Judentum zu denken. Altmann, Buber und Lewkowitz lehnen letztlich seine Philosophie ab, formulieren die Einwände dezidiert aus ihrer Sicht, lassen sich nicht auf die Frage nach einer ›angemessenen‹ Rekonstruktion ein. Gleichwohl befragen sie ein Denken, das sich auf die ›Frage nach dem Sinn von Sein‹ als die Ursprungsfrage bezieht. Die Verbindung des ›Uralten‹ (Hannah Arendt) mit der Gegenwart, das Unerledigte der Tradition, der Antrieb aus dem Versprechen des Unabgegoltenen, all das weist auf eine Strukturähnlichkeit des Vorgehens zwischen Heidegger und seinen Interpreten, die stark genug war, um die Auseinandersetzung zu führen.«, Meyer, Zwischen Philosophie und Gesetz, S. 307.
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gleiche Situation von Verfolgung und Errettung.117 Ebenso weist er damit das Verständnis der conditio humana, welches diese Welt nur als Korridor für die kommende Welt, den geschichtslosen ʽOlam ha-ba betrachtet, zurück, mit der Folge dass es auch keine ewige Seele des Menschen gibt, welche über der Geschichtlichkeit stünde und diese in einem ewigen Leben überdauert. Dieses hier abgewiesene traditionelle jüdische Denken fordert angesichts des Holocaust keine Neuformulierung der jüdischen Philosophie und Theologie, denn er ist – wie mehrfach schon erwähnt - für dieses Denken nichts als eine weitere Seite des allbekannten Bildes. Anders dagegen die neue Auffassung von der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins und Denkens, welche nicht mehr in die statischen Formeln von ewigem Leben und kommender Welt eingefügt werden kann. Es ist diese Grundeinsicht in die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens und Denkens, die Fackenheim hilft, die Bedeutsamkeit des Holocaust – wie auch der jüdischen Staatsgründung – nicht nur als Geschehen nach den bislang üblichen Formaten hinzunehmen, als Ereignisse, die für das Selbstverständnis des menschlichen Daseins und das Nachdenken über Menschenbild und conditio humana unbedeutend wären. Zentral für Fackenheim ist demgegenüber, dass dieses Geschehen unbedingt und unentrinnbar einem Einfluss auf das philosophische – und theologische – Denken und das menschliche Selbstverständnis haben muss und hat.
6.3
Epochemachende Ereignisse und ihr Einfluss auf das Judentum in der Vergangenheit und in der Zukunft
Fackenheim bezeichnet es als die einschneidenste Wende seines philosophischen Denkens, dass er von der Auffassung, der Glaube sei gegen jegliches historisches Geschehen immun, abgekommen ist, das heißt, dass das historische Geschehen das Judentum und seinen Glauben nicht beeinflussen oder ändern könne.118 Dies war nicht zuletzt dadurch bewirkt, dass er wahrnehmen musste, dass seit der Schoah das Judentum sich de facto unter dem Einfluss des Geschehens sehr wohl und nachhaltig geändert habe, außerdem und nicht zuletzt nach und durch die Gründung des jüdischen Staates. Dass dieser Staat nach dem Holocaust gegründet werden konnte, machte ihn zugleich zu »einer moralischen Notwendigkeit und einer ontologischen fast-Unmöglichkeit«, fast Undenkbarkeit:
117
Zu ihm vgl. K. E. Grözinger, Jüdische Geschichtsschreibung zwischen Mythos und Moderne – eine Verortung der Differenz, in: Zeitenwenden, Festschrift für A. Herzig, hrsg. v. J. Deventer, S. Rau, A. Conrad, Münster-Hamburg-London 2002, S. 53–70.
118
Fackenheim, To Mend, S. 13.
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»Israel ist [zum Einen] eine moralische Notwendigkeit: Die zweitausendjährige unheilige Allianz von Judenhass und jüdischer Machtlosigkeit, die schon immer unerträglich war, wird nun absolut untragbar. (Deshalb auch müssen die Feinde Israels nun zur absoluten Verleumdung Zuflucht nehmen und behaupten, die Israelis seien ›Nazis‹.) Und Israel ist [zum andern] zugleich eine ontologische fast-Unmöglichkeit: Der Glaube und der Mut, deren es bedurfte, ihn zu gründen, zu erhalten, aufzubauen […] und dies nach einer Katastrophe, die darauf aus war, jeglichen Glauben und Mut zu zerstören […]. Und da nun der Glaube und der Mut dennoch Wirklichkeit geworden sind, ist Israel nichts weniger als eine Orientierung gebende Realität für jedes jüdische und jegliches post-Holocaust-Denken.«119 Die Einsicht in die moralische Notwendigkeit trotz der schieren Denkunmöglichkeit eines jüdischen Staates nach zweitausend Jahren führte Fackenheim zu der grundsätzlichen Erkenntnis, dass in seiner Zeit das »jüdische Leben dem jüdischen Denken voraus war« – im Überlebenswillen der Individuen und dem Überlebenswillen des Kollektivs, realisiert durch die Staatsgründung. Es war unübersehbar deutlich geworden, dass das jüdische Leben fest im Griff von »epochemachenden Ereignissen« war und auf sie reagierte und seine ihm adäquaten Antworten gab. Es stellte sich mithin für Fackenheim die Frage, die auch in der modernen Philosophie und Theologie en vogue war, nämlich die Frage des Verhältnisses von Denken und real gelebtem Leben. Zur Illustration des engen Zusammenhangs von Leben und Denken, genauer, dem Vorauseilen des Lebens und der »response« durch das Denken, greift Fackenheim zu dem naheliegenden und doch zugleich unerwartet drastischen Beispiel der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 der Zeitrechnung: Die Zerstörung des Tempels durch die Römer hat innerhalb des Judentums durchaus unterschiedliche »Antworten« hervorgerufen, da war die Reaktion der reinen Verzweiflung, außerdem die Flucht in die weltverneinende Apokalyptik oder in das Christentum. Die nachhaltigste und das Judentum erhaltende Antwort (response) auf die Katastrophe der Tempelzerstörung war jedoch die Schaffung des rabbinischen Judentums, das Fackenheim wie gesagt »Galut-Judentum« (ExilsJudentum) nennt, weil es eine Form des Judentums schuf, welches für die GalutSituation der Juden tragend werden konnte. »Das Leben im Exil brauchte das ›Exil-Judentum‹, das durch den Glauben definiert war, dass dieses Exil geduldig ertragen werden müsse und dass dessen Ende ein Geheimnis Gottes sei.«120 Hier, so Fackenheim, erfolgte eine epoch-making response auf ein epoch-making event. Das bedeutete konkret, dass ein zentraler Faktor dieser rabbinischen Ant119
Fackenheim, To Mend, S. 14.
120
Fackenheim, To Mend, S. 17.
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wort auf die Katastrophe war, neben die (schriftliche) Tora die Lehre von der Mündlichen Tora zu stellen, durch deren Vermittlung nun der biblische Text zu den Juden sprechen sollte. Die Schaffung der Lehre von der Mündlichen Tora diente dazu, die verfremdende Distanz der Schriftlichen Tora durch deren nun (neu kreierte) mündliche Schwester den neuen Umständen anzupassen und ihnen gerecht zu werden. Diese Feststellung, eine religionsgeschichtlich wohlbekannte Tatsache,121 ist zugleich eine höchst explosive Auffassung, denn sie deutet an, dass nach der Katastrophe der Schoah und nach dem von den Juden selbst geschaffenen Rettungsanker in Gestalt der Gründung des jüdischen Staates, also nach diesen beiden eng miteinander verbundenen epochemachenden Ereignissen, analog eine neue epochemachende Reaktion (response) erforderlich sei: »Diesen Schritt zu tun, bedeutet nicht zwangsläufig, dem rabbinischen Judentum den Status der Mündlichen Tora zu bestreiten, denn ein Gott, der in die Geschichte hineinspricht, kann in eine spezielle Geschichtssituation sprechen. Es bedeutet aber, die Möglichkeit sichtbar werden zu lassen, dass in einer neuen Epoche die Notwendigkeit für eine [neue durch die Mündliche Tora] nicht umkleidete Begegnung mit dem biblischen Text sichtbar werden kann, entweder neben oder kontrovers zur vermittelnden Tradition einer früheren Epoche.«122 Mit anderen Worten, Fackenheim sieht die Notwendigkeit einer Neuformulierung des Judentums als Ergänzung oder Alternative zum »Galut-Judentum« der rabbinischen Deutung des Judentums und der Tora. Die Suche nach einer solchen Neu- oder Umformulierung des Judentums auf der Grundlage der Schriftlichen Tora (allein) muss demnach aus der Konfrontation mit der Geschichte geschehen, die Philosophie muss beim »Leben in die Schule gehen.«123 Die dafür 121
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234.
122
Fackenheim, To Mend, S. 17.
123
Fackenheim, To Mend, S. 23. 100; vgl. B. Pollock, Thought Going to School with Life? Fackenheims Last Philosophical Testament, in: S. Portnoff, J. A. Diamond, M. Yaffe (Hg.), Emil L. Fackenheim. Philosopher, Theologian, Jew, S. 55–87; Pollock meint, Fackenheim habe gegen Ende seines Lebens von diesem für »To Mend the World« zentralen Gedanken Abschied genommen: »Fackenheimʼs late turn to thought as the only medium through which the ultimate truth of the Holocaust may be confronted, opposes his long-standing commitment to go to school with Holocaust and post-Holocaust life.« (S. 86). Der Hauptgrund dieser Wende, so Pollock, ist, dass Fackenheim nicht mehr die wenigen widerständischen HolocaustOpfer als letztgültige Zeugen des Geschehens betrachtet, sondern den »Muselmann«, bei dem die Widerstandskraft und das Denken schon ausgesetzt hatten – Fackenheims Wende sei nicht zuletzt im Zusammenhang mit Primo Levis Freitod zu verstehen (S. 82–83).
Emil L. Fackenheim
534
geeigneten Denk-Werkzeuge zu finden ist das Ziel des Buches To mend the World. Schon oben war geklärt worden, dass der dafür hilfreichste philosophische Ansatz nolens volens der des »beschmutzten« Heidegger ist.
6.4
Das menschliche Dasein als zeitliches und geschichtliches – Fackenheim an der Hand von Heidegger
Die entscheidende Position am Heideggerschen Denken ist für Fackenheim dies: »In Sein und Zeit erscheint die Geschichtlichkeit als das, was das gesamte Sein des Menschen durchdringt und unentrinnbar ist; doch weit davon entfernt ein Fluch zu sein, ist sein Kern – des Menschen Sein zum Tode – die entscheidende Bedingung aller menschlichen Freiheit. Der Mensch kann sein eigenes Leben nur frei leben, weil er frei ist, seinen eigenen Tod zu sterben.«124 Mit dieser brennpunktartigen Zusammenfassung des Heideggerschen Denkens durch Fackenheim wird indessen zugleich der Trennungspunkt benannt, an dem sich Fackenheim von Heidegger abwenden wird, nämlich die Freiheit des Menschen, den eigenen Tod zu sterben als der Grundbedingung menschlicher Freiheit. Zunächst aber muss hier die gemeinsame Linie verfolgt werden und die ist die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins als Ganzes: »Des Menschen Existenz und seine Wahrheit sind untrennbar. Sein Denken ist wie sein Dasein – zum Tode.«125 Fackenheim geht es, wie oben schon deutlich wurde, um den konkreten Lebensvollzug der Menschen, aus dem allein das Denken lernen könne – dies ist es, was er an den spontanen Reaktionen der Opfer und der Überlebenden des Holocaust verstanden hatte. Die Philosophie kann demnach das menschliche Leben nicht erfassen, indem sie ohne das wirklich gelebte Leben, ohne das ontische Geschehen, ohne das Existenzielle, einen Entwurf des menschlichen Seins, eine Ontologie, entwirft. Andrerseits kann aber auch eine bloße Beschreibung dieses ontischen Geschehens, also der Sammlung von Ereignisfakten, keine Ontologie entwerfen, keine existentiale Analyse des menschlichen Daseins erstellen. Es bedarf hierfür einer Transzendierung dieser Fakten. Wie aber soll das geschehen, wenn die Transzendenz des »alten Denkens« (um mit Rosenzweig zu sprechen) obsolet und unhaltbar geworden ist.126 Das für Fackenheim an Heidegger Faszi-
124
Fackenheim, To Mend S. 150.
125
Fackenheim, To Mend, S. 153.
126
Vgl. Fackenheim, To Mend, S. 163.
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535
nierende ist es, dass Heidegger es vermochte, auch innerhalb des endlichen menschlichen Daseins, und innerhalb der Endlichkeit des Seins eine Transzendenz zu entdecken und zu formulieren: »Heidegger weist die metaphysische Tradition nicht zurück, er akzeptiert sie – und findet ihren, bisher verborgenen, Grund im Sein zum Tode. Und dies muss als ein Fund, als eine Entdeckung, ernst genommen werden, nämlich weil das Sein zum Tode zugleich als letztgültige Manifestation der menschlichen Endlichkeit und auch als die – einzig mögliche – Form einer Transzendenz begriffen wird.«127 Die zuvor beschriebene Verwobenheit von Ontischem und Ontologischem, also von realem Geschehen und dieses Geschehen überschreitendem Denken, gehören nach Heidegger im menschlichen Dasein und zu dessen Verstehen zusammen. Das eine kann ohne das andere nicht auskommen, kann nur so eigentliches Dasein, sprich menschliches Leben werden. Mit Heideggers Sein und Zeit: »Zum Sein des Daseins gehört Selbstauslegung. Im umsichtig-besorgenden Entdecken der ›Welt‹ ist das Besorgen mitgesichtet. Dasein versteht sich faktisch immer schon in bestimmten existenziellen Möglichkeiten, mögen die Entwürfe auch nur der Verständigkeit des Man [sprich der vorgegebenen Alltäglichkeit] entstammen. Existenz ist, ob ausdrücklich oder nicht, ob angemessen oder nicht, irgendwie mitverstanden. Jedes ontische Verstehen hat seine wenn auch nur vor-ontologischen, das heißt nicht theoretisch-thematisch begriffenen ›Einschlüsse‹. Jede ontologisch ausdrückliche Frage nach dem Sein des Daseins ist durch die Seinsart des Daseins schon vorbereitet. Aber gleichwohl, woran ist abzunehmen, was die ›eigentliche‹ Existenz des Daseins ausmacht? Ohne ein existenzielles Verstehen bleibt doch alle Analyse der Existenzialität bodenlos. Liegt der durchgeführten Interpretation der Eigentlichkeit und Ganzheit des Daseins nicht eine ontische Auffassung von Existenz zugrunde, die möglich sein mag, aber doch nicht für jeden verbindlich zu sein braucht? Die existenziale Interpretation wird nie einen Machtanspruch über existenzielle Möglichkeiten und Verbindlichkeiten übernehmen wollen. Aber muß sie sich nicht selbst rechtfertigen hinsichtlich der existenzialen Möglichkeiten, mit denen sie der ontologischen Interpretation den ontischen Boden gibt? Wenn das Sein des Daseins wesenhaft Seinkönnen ist und Freisein für seine eigensten Möglichkeiten und wenn es je nur in der Freiheit für sie bzw. in der Unfreiheit gegen sie existiert, vermag dann die ontologische Interpretation anderes als ontische Möglichkeiten (Weisen 127
Fackenheim, To Mend, S. 162.
Emil L. Fackenheim
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des Seinkönnens) zugrundezulegen und diese auf ihre ontologische Möglichkeit zu entwerfen? Und wenn das Dasein sich zumeist aus der Verlorenheit in das Besorgen der ›Welt‹ auslegt, ist dann nicht die im Gegenzug dazu gewonnene Bestimmung der ontisch-existenziellen Möglichkeiten und die darauf gegründete existenziale Analyse die solchem Seienden angemessene Weise seiner Erschließung?«128 Diese Erschlossenheit des eigenen Seins kann der Mensch jedoch verfehlen, wenn er sein Selbstsein in einer Verfremdung verfehlt, oder aber es kann ihm gelingen. Das Gelingen eines solchen erschlossenen Selbstseins nennt Heidegger ein »eigentliches« Dasein, eigentliches Leben, das Verfehlen ein »uneigentliches«. Hängen Ontisches und Ontologisches, reales Erfahren und richtiges denkerisches Transzendieren desselben Daseins in der richtigen Weise zusammen, kann man von einem »eigentlichen« (in Fackenheims englischer Terminologie: authentischen) Dasein und einem »uneigentlichen« (nicht-authentischen) Dasein sprechen.129 Diese Unterscheidung wird für Fackenheims Urteil über Heidegger zentral werden. Zuvor aber muss festgestellt werden, dass die enge Zusammengehörigkeit dieser beiden Ebenen, welche die Unterscheidung von eigentlich und uneigentlich erlaubt oder verlangt, ein Lebens- und Denkzusammenhang ist, bei dem beides, das existenzielle Verstehen und die existenziale Analyse in stetem Austausch aneinander gemessen werden. Das eine wird nur durch das andere verstanden – ein klassischer hermeneutischer Zirkel.130 Fackenheim illustriert diesen denkerischen Zirkel an der Angst, die nach Heidegger sich um »das in der Welt sein ängstet«.131 Ist diese Angst nicht die grundsätzliche Angst des Daseins zum Tode, so ist sie eine uneigentliche. Diese uneigentliche Angst ist eine, die nicht die grundsätzliche Daseins-Angst ist, sondern sich vor etwas Bestimmten fürchtet. Aber, so betont Fackenheim, die Daseins-Analyse bedarf ja des hermeneutischen Zirkels, nach welchem die grundsätzliche ontologische Angst eine ontische Matrix braucht, also eine ontische Angst, eine »authentic anxiety« eine Vorkenntnis von wirklich erfahrener Angst, von der es eine konkrete, im Alltag erfahrene (ontische) Angst und eine allgemeine nicht konkret vorliegende (ontologische) Angst des in der Welt Seins im Ganzen gibt. Aussagen über die ontologische Angst sind aber uneigentlich (unauthentisch), wenn sie nicht von einer real erfahrenen Angst geprägt sind. Mit dieser »Vorkenntnis« von ontischer Angst ausgestattet kann die ontologische Angst richtig gedacht werden: 128
M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979 (15. Auflage), S. 312 (§ 63).
129
Fackenheim, To Mend, S. 163.
130
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 152–153 (§ 32); Fackenheim, To Mend, S. 162–166.
131
Heidegger, Sein und Zeit, S. 187 (§40).
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»Es ist die ontologische Analyse, die zwischen eigentlicher (authentischer) Angst und der Fülle von Verfälschungen oder Verdrängungen von deren Endgültigkeit unterscheidet. Jedoch ist eine solche Analyse wurzel- und bodenlos, es sei denn sie hat eine ontische Vorkenntnis als Matrix, und diese muss eine eigentliche (authentische) Angst sein. Der Zirkel ist offensichtlich.«132 Zum Verstehenwollen des menschlichen Daseins und zur Gestaltung eines »eigentlichen« Lebens gehört also dieser Zirkel von konkretem gelebtem Leben und dem nötigen und zugehörigen Nachdenken darüber – angesichts der Endlichkeit des menschlichen Daseins, angesichts des eigenen Todes: »Der ontisch-ontologische Zirkel existiert, weil die ontologische Analyse (die universale Gültigkeit haben muss) auf einem ontischen Vorwissen beruht (das absolut partikular ist); und es heißt, er [der Zirkel] ist nicht fehlerhaft [vitiosus], weil das ontische Vorwissen selbst sich zur Universalität erhebt: so dass also in meinem eigenen existenziellen Sein zum Tode die existenziale Bedeutung aller Zeitlichkeit enthüllt wird.«133 Diese Feststellung des Weges zur Erlangung von »Eigentlichkeit«, »Authentizität« ist für Fackenheim darum wichtig, weil er anhand ihrer hernach Heidegger selbst »Uneigentlichkeit, »Unauthentizität« vorwirft. Zum zweiten hält Fackenheim an diesem hermeneutischen Zirkel zur Erlangung von Authentizität fest, wenn er nach einer »authentischen Antwort«, einem »authentic response« auf den Holocaust sucht.
6.4.1 Differenz und Kritik – die Trennung der Wege von Fackenheim und Heidegger In der Heideggerschen zirkularen Formel auf dem Weg zur »Eigentlichkeit« des menschlichen Daseins sieht nun allerdings Fackenheim ein Problem bestehen. Dieses besteht in den unterschiedlichen Konsequenzen, die hinsichtlich der Zeitlichkeit einerseits und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins andererseits gezogen werden. Die »Zeitlichkeit« des menschlichen Daseins ist eine abstraktere Bestimmung des menschlichen Daseins als dessen »Geschichtlichkeit«. In § 74 von Sein und Zeit134 sagt Heidegger zur »Grundverfassung der Geschichtlich132
Fackenheim, To Mend, S. 164.
133
Fackenheim, To Mend, S. 165, an dieser Stelle wird Fackenheim jedoch zugleich die Schwä-
134
M. Heidegger, Sein und Zeit; Fackenheim, To Mend, S. 160.
chen Heideggers bezüglich dieser Formel aufdecken.
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keit« des Menschen (Daseins): »So erweist sich im Grunde die Interpretation der Geschichtlichkeit des Daseins nur als eine konkrete Ausarbeitung der Zeitlichkeit.« Will sagen, die Definition der »Zeitlichkeit« des menschlichen Daseins ist eine weniger konkrete Bestimmung als die »Geschichtlichkeit«, die ihrerseits die konkrete Ausarbeitung der Zeitlichkeit ist. So sagt Fackenheim zu dem am Ende des vorangehenden Kapitels zitierten Passus hinsichtlich der Zirkularität der ontologischen Analyse des menschlichen Daseins, dass dieser Zirkel bezüglich der »weniger konkreten Zeitlichkeit« des Daseins akzeptabel sei. Hingegen erscheine dieser Zirkel bezogen auf die Bestimmung von der »Geschichtlichkeit« des Menschen weniger akzeptabel oder geradezu bedenklich. Denn zur Geschichtlichkeit des Daseins gehört nach Fackenheim, laut Heidegger, das »schicksalhafte Mitsein« des Menschen in »einer Gemeinde oder, möglicherweise einem Volk«, hinzu gehört hier ebenfalls die »Wiederholung ererbter Möglichkeiten« sprich die Aufnahme und persönliche Rezeption von »Tradition«.135 Beides sind partikulare, auf das Einzelschicksal bezogene Größen. Auch diese sehr partikularen Phänomene müssen, nach der Struktur des ontisch-ontologischen Zirkels, für eine ontologische Aussage Universalität beanspruchen. Wie soll das geschehen? Heidegger äußert sich, so Fackenheim, dazu nicht, weil er sich nicht mit realer Geschichte befasst, sondern nur mit der Wesensaussage der Geschichtlichkeit des Daseins – wo bleibt dann die geforderte ontische Matrix, also das real erfahrene Ereignis, zu dem dann auch das »Mitseiende«, das Mitleben der anderen Menschen mitzuberücksichtigen ist?136 Heidegger sagt: »Die Welt des Daseins [das heißt des Menschen] ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.«137 Die Einbeziehung dieser Mitseienden Anderen als der ontischen Matrix in den Zirkelschluss hätte, das kritisiert Fackenheim an Heidegger, die konkreten Geschehnisse der Schoah unbedingt in Rechnung stellen müssen. Dem aber hat sich Heidegger konsequent entzogen. Gegen Ende seiner Ausführungen zu Heideggers hermeneutischem Zirkel sagt er:
135
In Sein und Zeit, S. 386, im Kapitel »Grundverfassung der Geschichtlichkeit (§ 74)« schreibt Heidegger unter anderem: »Das in der Entschlossenheit liegende vorlaufende Sichüberliefern an das Da des Augenblicks nennen wir Schicksal. In ihm gründet mit das Geschick, worunter wir das Geschehen des Daseins im Mitsein mit Anderen verstehen. Das schicksalhafte Geschick kann in der Wiederholung ausdrücklich erschlossen werden hinsichtlich seiner Verhaftung an das überkommene Erbe. Die Wiederholung macht dem Dasein seine eigene Geschichte erst offenbar.«
136
Vgl. Fackenheim, To Mend, S. 165–166.
137
Heidegger, Sein und Zeit, S. 118 (§ 26).
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»Oben haben wir die Frage zur Beziehung von Heideggers Seinsgeschichte und der Geschichte der normalen Sterblichen gestellt, sie aber nicht beantwortet. Hier nun die Antwort: Seine Seinsgeschichte ist von auch nur einem einzigen Mord und Totschlag138 [zur Zeit der Schoah] abgekoppelt und dies trotz oder wegen der Tatsache, dass diese ohne Präzedenz in der gesamten Geschichte war. Nur weil in seiner generalisierenden Seinsverlassenheit 139 die Schreie der Kinder und das Schweigen der Muselmänner nicht gehört wird, gibt es da die Möglichkeit, gegenüber diesen Ereignissen eine konsequente philosophische Haltung einzunehmen, nämlich die ›Gelassenheit‹, die Dinge ›hinzunehmen‹. Aber nach Auschwitz gibt es einige Dinge, welche das Denken nicht hinnehmen kann und denen gegenüber eine weit von Gelassenheit entfernte Haltung nötig ist. […] angesichts des Holocaust und des Dritten Reiches als Ganzem ist sein [Heideggers] Denken in die Uneigentlichkeit (Un-Authentizität) abgerutscht.«140 Fackenheim wirft Heidegger hier vor, dass er seinen eigenen Forderungen auf dem Weg zur »Eigentlichkeit« nicht nachkommt, das heißt er blendet die »ontische Matrix«, das partikulare Geschehen, zu dem auch die dem Menschen begegnenden »Anderen«, die »Mitseienden« gehören, aus. Neben dieser systemimmanenten Verfehlung Heideggers, den eigenen kategorischen Imperativ zu beachten, nämlich »eigentlich« (authentisch) zu leben,141 kommt noch ein weiteres, objektives Faktum hinzu, nämlich die Zerstörung dessen, was für Heideggers endlich-zeitliche Ontologie Zentrum und Angelpunkt war, nämlich die Möglichkeit, den eigenen Tod zu sterben, der in den Todeslagern Deutschlands den Menschen geraubt worden war, worauf sogleich noch näher einzugehen sein wird.
6.4.2 Die Zerstörung des zentralen Heideggerschen Daseins-Existenzials – die Möglichkeit des eigenen Todes – durch die Nationalsozialisten Fackenheim, der wie kaum ein Philosoph seiner Zeit auf die schrecklichen Details der Ereignisse in den Todeslagern der Schoah eingeht, die er aus der eigenen Erfahrung im KZ-Sachsenhausen und dann vor allem aus den Berichten Überlebender – voran von Elie Wiesel – kennt, ist bemüht, die ihm einleuchtenden Gedanken Heideggers zum Finden eines Standpunktes voll einzusetzen. Da138
Eine Formulierung die Fackenheim von Rosenzweig übernimmt, Fackenheim, To Mend,
139
Seinsverlassenheit bedeutet hier: Versäumnis der Frage nach dem Sinn von Sein.
140
Fackenheim, To Mend, S. 190.
141
Vgl. Fackenheim, To Mend, S. 166. 269.
S. 33.
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bei gelangt er zu der Erkenntnis, dass der Angelpunkt der Daseins-Lehre (traditionell würde dies die Anthropologie sein) von Heidegger durch den Tötungsapparat der Konzentrationslager schlechtweg vernichtet wurde. Dieser Angelpunkt, der Existenzielles und Existenzial, Ontisches und Ontologie, also konkretes Lebensgeschehen und Seinserschlossenheit ermöglicht, ist das Sein des Daseins zum Tode. Wichtig bei dieser Festlegung ist, dass hier nicht der Tod allgemein gemeint ist, sondern der je eigene, ganz persönliche »jemeinige« Tod, wie dies auch Fackenheim wiedergibt: »In Sein und Zeit erscheint die Geschichtlichkeit als das, was das gesamte Sein des Menschen durchdringt und daher unentrinnbar ist; jedoch weit entfernt davon, dass dies ein Fluch ist, ist sein Kern – des Menschen Sein zum Tode – die entscheidende Bedingung aller wahren menschlichen Freiheit. Der Mensch kann sein eigenes Leben nur frei leben, weil er frei ist, seinen eigenen Tod zu sterben.«142 Und gerade diese kardinale Möglichkeit des eigenen Todes haben die Todeslager ihren Opfern geraubt – damit ist das Heideggersche Menschenbild nach Fackenheim untergraben. Um dies zu zeigen, kommt Fackenheim wiederholt auf die von Primo Levi geschilderten »Muselmänner« zu sprechen, die entseelten, noch lebenden, aber eigentlich schon dem Leben erloschenen Gestalten, die bereits entseelten Arbeits-Nicht-Menschen, deren Tod eigentlich kein Sterben mehr ist, schon gar kein persönliches: »Ihr Leben ist kurz, aber ihre Zahl endlos; sie, die Muselmänner, die Verlorenen, bilden das Rückgrat des Lagers, eine stets erneuerte und immer gleichbleibende anonyme Masse von Nicht-Menschen, die schweigend dahingehen und arbeiten, der göttliche Funke in ihnen ist erloschen, schon zu sehr entleert um noch wirklich leiden zu können. Man zögert, sie lebend zu nennen; man zögert, ihren Tod Tod zu nennen.«143 (Hervorhebung E. Fackenheim) Ähnlich beschreibt Jean Améry den »Muselmann«: »Der sogenannte ›Muselmann‹, wie die Lagersprache den sich aufgebenden und von den Kameraden aufgegebenen Häftling nannte, hatte keinen Bewußtseinsraum mehr, in dem Gut oder Böse, Edel oder Gemein, Geistig oder
142
Fackenheim, To Mend S. 150.
143
Zitiert nach Fackenheim, The Holocaust and Philosophy, S. 15. Die englische Buchausgabe P. Levi, Survival in Auschwitz. The Nazi Assault on Humanity, New York – London 1958 (7. Aufl. 1978), S. 82, weicht von Fackenheims Text leicht ab, entsprechend die deutsche Ausgabe: P. Levi, Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz, Frankfurt a. M. 1961 (Taschenbuch 1979, S. 94); bei Fackenheim nochmals in: To Mend, S. 99–10; Return, S. 246.
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Ungeistig sich gegenüberstehen konnten. Er war ein wankender Leichnam, ein Bündel physischer Funktionen in den letzten Zuckungen.«144 Fackenheim zitiert zur Erläuterung dieses »Novums« der Anthropologie, der absoluten Entindividualisierung des Menschen bis hinein in den Tod, Theodor Adornos Negative Dialektik, in der Adorno zu der Aussage kommt, in den Lagern der Nazis sei nicht mehr das Individuum, sondern das »Exemplar« Mensch gestorben. Damit ist, wie gesagt, das Menschenbild Heideggers und dessen zentrale Formel von der ›endlichen Zeitlichkeit des menschlichen Selbst‹, vom ›menschlichen Sein zum Tode‹ zerbrochen, eine Formel, welche die Transzendenz des endlichen menschlichen Daseins beschreiben und die es dem Menschen ermöglichen sollte, ganz bei sich selbst zu sein. Adorno schreibt: »Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung ist der Tod etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war. Keine Möglichkeit mehr, daß er in das erfahrene Leben der Einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Übereinstimmendes eintrete. Enteignet wird das Individuum des Letzten und Ärmsten, was ihm geblieben war. Daß in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar, muß das Sterben auch derer affizieren, die der Maßnahme entgingen.«145 »Dieses Sterben war ein novum, das alles Sterben danach für immer betrifft«, kommentiert Fackenheim diese Worte Adornos. Es betrifft also nicht nur die konkreten Opfer des Holocaust, sondern ist nunmehr die gegebene Möglichkeit des Menschseins schlechthin. Damit ist Heideggers Denken als Weg zum Verstehen der Schoah recht eigentlich zerstört. Diese Destruktion der Heideggerschen Formel, nach welcher das Bewusstsein vom Dasein als Sein zum eigenen Tod, als dem Weg zur Eigentlichkeit, zum Selbstsein versteht, hindert Fackenheim indessen nicht daran, den ontisch-ontologischen hermeneutischen Zirkel Heideggers beizubehalten und mittels seiner nach der »authentischen Antwort« auf den Holocaust zu suchen.
144
Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, S. 23.
145
Th. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1975, S. 355; bei Fackenheim, To Mend, S. 132–133; u. vgl. To Mend, S. 99. 130.
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6.5
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Post-Holocaust-Dasein als Widerstand – die authentische Antwort der Nachlebenden
6.5.1 Die existenziell-ontische Seite des hermeneutischen Zirkels – der Widerstand im Lager Theodor Adorno sagt in seiner Negativen Dialektik zum Thema der Sinnfindung in der Geschichte: »Das Erdbeben von Lissabon reichte hin, Voltaire von der Leibnizʼschen Theodizee zu kurieren, und die überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, verglichen mit der zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich entzieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlich Bösen bereitete. Gelähmt ist die Fähigkeit zur Metaphysik, weil, was geschah, dem spekulativen metaphysischen Gedanken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung zerschlug.«146 Fackenheim nimmt die Bemerkung Adornos vom denkerischen Ende aller Metaphysik angesichts einer mit ihr nicht vereinbaren Realität auf, um von ihr ausgehend erneut die Frage nach einer »Transzendenzdebatte« zu eröffnen, allerdings mit der Einschränkung, dass er von einer transzendentalen Ontologie nur im Sinne Heideggers sprechen kann. Das heißt, er macht sich auf die Suche, ob nach dem Holocaust ein »eigentliches«, »authentisches« Dasein dennoch möglich ist, ein menschliches Leben, das die Geschehnisse in ihrer vollen Unbegreiflichkeit wahrnimmt und sein Denken dennoch nicht »erlahmen« lässt, was ja die Voraussetzung allen eigentlichen Daseins ausmacht. Um in dieser Suche nach einer Möglichkeit zur Eigentlichkeit, der Authentizität, zu gelangen, begibt sich Fackenheim nochmals mitten hinein in das Geschehen der Todeslager, um zu lauschen, ob es dort Hinweise auf eine solche Möglichkeit gibt. Denn eine »authentische« Reaktion auf dieses Geschehen kann, so Fackenheim, nur inmitten des Geschehens gelingen. Alle Nachgeborenen können aus ihrer anderen Realität diese Schoah-Realität nicht existenziell erfassen und daraus eine Ontologie, ein Verstehen des menschlichen Seins, ableiten. Es müssen also die Berichte und Hinweise aus dieser existenziellen Situation der Lager sein, welche allein dazu geeignete Hinweise geben können. Die Nachgeborenen haben dann im Sinne der Heideggerschen ›Vorgegebenheit von partikularen Traditionen‹ die Möglichkeit der Wahl eigener Helden aus solchen vorgegebenen Traditionen, deren Tun sie persönlich rezipieren und aktualisieren
146
Adorno, Negative Dialektik, S. 354.
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können, und so im eigenen gelebten Dasein in einer kreativen Rezeption »wiederholen«.147 Das sogleich anzuführende Zeugnis von Jean Améry aus der Todesmaschine scheint zunächst alle solche Illusionen von einer »Wiederholbarkeit« vergangenen Daseinsverstehens zu zerstören, wenn er berichtet, dass die Intellektuellen in den Lagern anfangs meist durch intellektuelle Strategien die Möglichkeit des Geschehens in Frage stellten, aber alsbald selbst gebrochen waren und solche denkerischen Bewältigungsstrategien aufgaben.148 Demgegenüber sieht Fackenheim dennoch eine Reihe von Zeugnissen mitten aus den Todeslagern, die zeigen, dass auch da das Denken nicht völlig zum Erlahmen kam, dass es Formen der geistigen Reaktion auf das Erfahrene gab, die als solches »transzendierendes« Denken verstanden werden können, das für eine aktualisierende »Wiederholung« geeignet ist. Die Realisierung solcher transzendierender geistiger Antworten inmitten der Lager sieht Fackenheim in dem Phänomen des »Widerstandes«. Widerstand nicht unbedingt mit den Waffen in der Hand, auch ohne Aussicht auf Erfolg bei der Gegenseite, sondern Widerstand um der eigenen Würde willen, um des eigenen Menschseins willen. Inwiefern man solche auf das eigene Ich bezogene Reaktionen / Antworten (responses) als Widerstand bezeichnen kann, erörtert Fackenheim eingehend. Um solches Tun als Widerstand zu verstehen, müsse, so meint er, erst bewusst gemacht werden, was es denn in Wirklichkeit war, dem da widerstanden wurde. Hat man verstanden, wogegen hier agiert wurde, ist es erst möglich zu erkennen, was »Widerstand« in einem solchen Fall bedeutet und ausmacht.
6.5.2 Das Objekt des Widerstandes in den Todeslagern Schon oben wurde in dem Kapitel »Die Einzigartigkeit des Holocaust« das Wichtigste zu Fackenheims Auffassung, was die Einzigartigkeit dieses Genozids ausmacht, zusammengetragen. Hier muss dennoch auf dieses Thema zurückgekommen werden, weil es nun in einen philosophischen Erörterungskontext gestellt wird. In ihm soll, wie gesagt, die Frage nach dem »ob« einer verbliebenen Geistigkeit der Opfer in den Todeslagern gestellt werden, das heißt nach der Möglichkeit eines Restes von »Eigentlichkeit – Authentizität«, trotz der Beraubung der Möglichkeit des eigenen Todes, von dem oben die Rede war. Also ob bei diesen Opfern, welche der Möglichkeit eines individuellen Todes beraubt worden waren, noch Spuren einer »Eigentlichkeit«, einer Fähigkeit, das eigene
147
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 385–386 (siehe unten); Fackenheim, To Mend, S. 161.249f.
148
Vgl. Das aufschlussreiche Kapitel »An den Grenzen des Geistes«, von J. Améry in seinem Buch Jenseits von Schuld und Sühne, S. 15–36.
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Selbst denkerisch zu bewahren, möglich gewesen sind. Erst wo dies gegeben ist, kann auch die Möglichkeit einer »wiederholenden« Rezeption als authentische »Antwort« der Nachgeborenen gesucht werden. Fackenheim nennt die von ihm in den Berichten Überlebender beschriebenen Verhaltensweisen in extremen Lebenssituationen, solche »ultimate« (äußerste) Reaktions- und Reflexionsformen, »Widerstand«. Wogegen dieser Widerstand gerichtet war, gilt es nun genau ins Auge zu fassen. Der Widerstand dieser Opfer ist nicht der politisch-militärische Aufstand gegen das »Dritte Reich«, sondern es ist der Aufstand gegen das, was Fackenheim die »Welt des Holocaust«, das »Holocaust kingdom«149 nennt. Dies ist eine Welt, die außerhalb der bisherigen Welterfahrung steht, in der, was bisher Recht war, als Unrecht galt, was bisher kriminell, als gut und höchstes menschliches Ziel, nämlich die Ausrottung des »Virus Jude«, die, wie es Hitler formulierte, dem deutschen Volk seine Gesundheit wieder geben sollte.150 Das, dem sich die Gefangenen der Lager ausgesetzt sahen, nennt Fackenheim mit Jean Améry die »Logik der Vernichtung«, die Améry in seinem Buch Jenseits von Schuld und Sühne so beschreibt:151 »Das rational-analytische Denken war im Lager und speziell in Auschwitz nicht nur keine Hilfe, sondern führte geradenwegs in eine tragische Dialektik der Selbstzerstörung. Was ich damit meine, ist leicht verdeutlicht. Zunächst einmal nahm der geistige Mensch die unvorstellbaren Zustände nicht so einfach als gegeben zur Kenntnis wie der ungeistige. Ein langes Training, die Erscheinungen der Alltagswirklichkeit in Frage zu stellen, verbot ihm das schlichte Eingehen auf die Lagerrealität, denn diese stand in allzu schroffem Gegensatz zu allem, was er bisher als möglich und dem Menschen zumutbar angesehen hatte. […] und durchaus wollte er nicht begreifen, was nun wahrhaftig gar nicht kompliziert war, nämlich: daß ihm, dem Häftling, gegenüber die SS eine Logik der Vernichtung gebrauchte, die in sich ebenso folgerichtig operierte wie draußen die Logik der Lebenserhaltung. Man mußte stets sauber rasiert sein, aber strengstens war verboten, Scherzeug zu besitzen, und zum Barbier kam man nur einmal in vierzehn Zagen. Es durfte am Zebragewand bei Strafe kein Knopf fehlen, wenn man aber bei der Arbeit einen verlor, was unvermeidlich war, dann gab es praktisch kaum die Möglichkeit, ihn zu ersetzen. Man mußte kräftig sein, aber man wurde systematisch geschwächt. […] Der geistig nicht weiter geübte Lagerhäftling nahm diese Umstände meist mit einem gewissen Gleichmut zur Kenntnis, demselben 149
Fackenheim, To Mend, S. xiv; Return, S. 258 u. ö.
150
Siehe die oben zitierte Bemerkung Hitlers nach der Wannseekonferenz.
151
Ich übernehme aus dem deutschen Text von Améry mehr Textteile als Fackenheims englische Übersetzung.
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Gleichmut, der sich draußen bewährt hatte bei Feststellungen wie ›Es muß Arme und Reiche geben‹ oder ›Kriege werden immer sein‹. […] Der Intellektuelle aber revoltierte dagegen in der Ohnmacht des Gedankens. Für ihn galt im Anfang die rebellische Narrenweisheit, daß nicht sein könne, was doch gewiß nicht sein darf. Allerdings nur am Anfang.«152 Diese Schilderung von Jean Améry zeigt klar und deutlich, worin diese Logik der Vernichtung bestand. Es wurden sich gegenseitig ausschließende Bestimmungen erlassen, die den Häftling so oder so »schuldig« werden und damit der »Lager-Justiz« verfallen ließen, das heißt der anscheinend berechtigten Hinrichtung und Bestrafung der Opfer. So sagt es auch der von Fackenheim angeführte Filip Müller153 »Läuse zu haben, war in Auschwitz ein ernsthaftes Verbrechen und konnte einem Menschen das Leben kosten.« Und dies, wo es kaum Möglichkeiten für Hygienepflege im Lager gab. Ein weiteres Beispiel ist das Verbot, nach Bedürfnis sich von seinen Ausscheidungen zu erleichtern, weshalb der Autor eines Berichtes mitteilt: »Bald wusste ich, mit dem Durchfall umzugehen, indem ich Schnüre um die unteren Ende meiner Unterhosen band.«154 Es ist dies was auch die oben schon zitierte Pelagia Lewinski zu dem »excremental assault« (Fäkalien-Angriff) schrieb: »Zu Anfang haben mich die Unterbringungsorte, die [Fäkalien-]Gräben, der Morast, die Haufen von Exkrementen hinter den Blöcken mit ihrem schrecklichen Dreck angeekelt […] Aber dann sah ich das Licht! Ich erkannte, dass dies nicht eine Frage der Unordnung oder mangelnder Organisation war, sondern im Gegenteil, der Existenz des Lagers lag ein sehr wohl durchdachter und bewusster Gedanke zugrunde. Sie hatten uns dazu verdammt, in unserem eigenen Schmutz zu sterben, im Morast zu versinken, in unseren eigenen Ausscheidungen. Sie wollten uns erniedrigen, unsere menschliche Würde zerstören, jeglichen Rest an Menschlichkeit auslöschen […] uns mit Horror und Verachtung vor uns selbst und unseren Mitgenossen erfüllen.« 155 Aus alledem wird deutlich, was die »Umstände« waren, gegen die ein Widerstand sich richten sollte und konnte. Dies ist kein offener Widerstand mit der Waffe, sondern ein Widerstand der sich gerade dagegen wandte, was das Ziel des
152
J. Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, S. 24–25.
153
Bei Fackenheim, To Mend, S. 208, nach Y. Bauer, Auschwitz Inferno, London 1979, S. xi.
154
Fackenheim, To Mend, S. 207, nach M. Maurel, An Ordinary Camp, New York, S. 38ff; und
155
Pelagia Lewinska, Twenty Months at Auschwitz, zit. nach Fackenheim, To Mend, S. 25; Fran-
Des Pres, The Survivor, S. 55 ff. zösisch, P. Lewinska, Vingt mois à Auschwitz, S. 60–61.
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Lagers war, nämlich zum einen die geistige Vernichtung der Persönlichkeit, die Auslöschung des »göttlichen Funkens« im Menschen, wie dies Primo Levi in seiner Beschreibung der »Muselmänner« formulierte. Außerdem ist es die physische Vernichtung, die möglichst gar als Selbstvernichtung der zu verfilzten ekelhaften Gestalten deformierten Menschen führen sollte.156 Um dies nochmals mit Améry abzuschließen: Die »Logik der Vernichtung« war das genaue Gegenbild der Logik der Lebenserhaltung, wie sie draußen vor den Toren der Lager galt, es war so, »daß ihm, dem Häftling, gegenüber die SS eine Logik der Vernichtung gebrauchte, die in sich ebenso folgerichtig operierte wie draußen die Logik der Lebenserhaltung.« Nachdem nunmehr die Zielsetzung der Lager anschaulich wurde, ist die Ausrichtung und die Qualität eines möglichen Widerstandes dagegen richtiger zu erkennen. Der Widerstand musste genau das Gegenteil von dem erstreben, was die Lager-Logik sich vorgenommen hatte, und dies ist in erster Linie die pure Lebenserhaltung und sodann, die eigene Selbstachtung und Ehre als Mensch zu bewahren. So verstand es die schon zitierte Pelagia Lewinska, die ihren obigen Lagerbericht mit den folgenden Worten fortsetzt: »Aber von dem Augenblick an, in dem ich das Leitprinzip [des Lagers] verstanden hatte […], war es, als ob ich aus einem Traum erwachte. Nun, würde der Tod nicht bedeuten, die Absichten des Feindes zu vollenden, seine Pläne durchzuführen? Ich fühlte mich unter einem Befehl zu leben. Nein! Dies nicht! Und wenn ich in Auschwitz sterben sollte, sollte es als menschliches Wesen sein, ich würde weiter an meiner Würde festhalten. Ich würde nicht der verachtungswürdige, ekelhafte Nicht-Mensch werden, zu dem mich mein Feind machen wollte [….] Und nunmehr begann ein fürchterlicher Kampf, der Tag und Nacht andauerte.«157 Leben, Überleben und dies in Menschenwürde – auch für den Fall des Todes, dies ist die Botschaft von Pelagia Lewinska, die für Fackenheim zentral wird: »Wir sind hiermit, zum ersten Mal auf ein unanfechtbares Zeugnis gestoßen, welches bezeugt, dass einige, nicht gelehrte oder tiefsinnige Denker, sondern gewöhnliche Männer und Frauen diesem ganzen Horror, noch solange sie in ihm gefangen waren, ins Auge sahen und ihn begriffen, und dass sie ohne dieses klare Verstehen nicht hätten tun können, was sie taten.«158 Damit ist erwiesen, dass
156
Fackenheim, To Mend, S. 208–209.210. 212.
157
zit. nach: Vingt mois à Auschwitz, Paris 1966 (2. Aufl.), S. 71; bei Fackenheim nach »Twenty
158
Fackenheim, To Mend, S. 218.
Months at Auschwitz«, etwas verkürzt, To Mend, S. 25. 217.
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es inmitten des Horrors eine Einsicht gab, welche zu einer »eigentlich-authentischen« Antwort auf das Geschehen gefunden hat. Fackenheim führt noch weitere Beispiele von solchem »nichtbewaffneten« Widerstand an, der eher nach innen als nach außen gerichtet war. Das eine ist das Beispiel von in Buchenwald inhaftierten Ḥasidim, denen ein ukrainischer Kapo ein Paar Tefillin (Gebetsriemen) zum Kauf anbot, die er selbst aus der »Asservatenkammer« des Lagers gestohlen hatte. Die von ihm geforderte Summe betrug vier Tagesrationen Brot, ein für die Häftlinge mit der Todesgefahr des Verhungerns verbundener Preis. Sie kauften die ihnen heiligen Gegenstände dennoch und beteten dank des erworbenen Schatzes mit einer sonst nie gekannten ekstatischen Hingabe.159 Ein anderes Beispiel sind die schwangeren Mütter in Auschwitz, die sofort zur Vergasung bestimmt waren, weshalb sogar orthodoxe Rabbiner – wider die Bestimmungen der Halacha – die Abtreibung erlaubten. Es gibt aber keine belegten Fälle, in denen Frauen dies taten. Was waren die Gründe? Die natürliche Mutterliebe und einfach ein starker Wille? Sie können – so Fackenheim – diese erstaunliche Weigerung nicht erklären. Hier sieht er wie bei Pelagia Lewinska und bei den Ḥasidim eine andere Kraft am Werk, die er als ein »ultimate«, eine »äußerste, letztgültige Dimension« bezeichnet, was im nächsten Kapitel noch näher erklärt werden muss.160 Auch im Blick auf die Ghetto-Kämpfer in Warschau und Bialystok und anderen Orten, die militär- und machtpolitisch von vorneherein als aussichtslos gelten mussten, erblickt Fackenheim dieses »ultimate« am Werk. Es waren dies Kämpfe, deren Ziel es letztlich nicht sein konnte, die Nazis wirklich zu besiegen, sondern dies war »eine einzigartige Bekräftigung […] jüdischer Selbstachtung. […] Der jüdische Widerstand musste das jüdische Selbstbewusstsein und die jüdische Selbstachtung wiedererschaffen.« Dieser »ehrenvolle Selbstmord« der Ghettoaufstände war »eine einzigartige Zelebrierung des jüdischen Lebens, und damit des Lebens als solchem.«161 Fackenheim zitiert in diesem Zusammenhang Rabbi Jizchak Nissenbaum, der im Warschauer Ghetto die Formel prägte: »Jetzt ist eine Zeit für den Kiddusch ha-Ḥajjim, die Heiligung des Lebens, und nicht für den Kiddusch ha-Schem, die Heiligung [Gottes], durch das Martyrium.«162 Mit anderen Worten, der Widerstand in dieser Situation hat das Ziel, der »Logik der Vernichtung« zu widerstehen und dies durch das Leben, das Dasein schlechthin, durch das pure Überleben.
159
Fackenheim, To Mend, S. 218.
160
Fackenheim, To Mend, S. 217. 218. 219. 225.
161
Fackenheim, To Mend, S. 222–223.
162
Fackenheim, To Mend, S. 223, nach S. Esh, The Dignity of the Destroyed, in: The Catastrophe of European Jewry, ed. Y. Gutman and L. Rothkirchen, Jerusalem 1976, S. 355.
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Es bleibt noch eine letzte Frage zu klären, die vor allem angesichts der früheren, oben schon erwähnten, Formulierung Fackenheims von Bedeutung ist, nämlich dass von Auschwitz eine »Befehlsstimme« ausgehe, ein 614. Gebot. Hier, wo es um die philosophische Behandlung der Frage geht, muss diese religiöse Formulierung zunächst als nur eine mögliche Formulierung zurücktreten. Demgegenüber kommt nun zuallererst die Formulierung von Pelagia Lewinska zum Zuge. Sie sagte in ihrem oben zitierten Bericht: »Aber von dem Augenblick an, in dem ich das Leitprinzip [des Lagers] verstanden hatte […] fühlte ich mich unter einem Befehl zu leben.« Woher kam dieser Befehl, was war es, das sie drängte, diesem Befehl zu gehorchen? Eine Antwort darauf lässt sich kaum geben. Um hier nicht den theologischen Begriff »Gott« verwenden zu müssen, spricht Fackenheim stattdessen von dem schon genannten »ultimate«, also einer »äußersten Dimension«, welche Frau Lewinska nötigte, dem Befehl zum Leben zu gehorchen. Die Ḥasidim hingegen, welche die Tefillin erwarben, um dann ekstatisch zu beten, wären, so Fackenheim, um eine Antwort auf diese Frage wohl eher nicht verlegen gewesen, wie dies etwa Rabbi Zwi Hirsch kommentierte: »Wir können unmöglich erklären und verstehen, was und warum dies so geschah. Das einzige Ziel war, im vollkommenen Glauben stärker zu werden dank der mystisch-symbolischen Wirkung der Tefillin. Dies ist der Grund, weshalb das Gebot der Tefillin in Auschwitz so beliebt war, denn es hielt die gebrochenen Herzen auf, ihren Glauben, wenn auch nur für einen Augenblick, vollends zu verlieren, wenn sie ihre Not nicht verstanden oder keinen Grund dafür erkennen konnten.«163 Dies war eine mögliche Deutung für Menschen, die religiös waren und ihren Glauben noch nicht ganz verloren hatten. Die Nichtreligiösen kannten einen solchen Bezug nicht mehr. Für sie musste der Antrieb ihres Handelns von anderer Seite gekommen sein.
6.5.3 Die existenzial-ontologische Seite des hermeneutischen Zirkels – Widerstand als ontologische Möglichkeit menschlichen Seins Das Ziel, welches Fackenheim nach der Beschreibung der existenziellen Dimension von Vernichtungsbedrohung und Widerstand im Holocaust verfolgt, benennt er in der Überschrift des entsprechenden Kapitels in aller Deutlichkeit. Er will zeigen, dass der zuvor gezeichnete tatsächlich gelebte Widerstand einzelner Holocaust-Opfer mehr als nur zufällige Einzelfälle sind, sondern dass dieser gelebte Widerstand als eine ontologische Möglichkeit allen menschlichen Lebens gelten darf. Darum lautet die Überschrift des besagten Kapitels: »Resistance as
163
Bei Fackenheim, To Mend, S. 219.
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an Ontological Category«.164 Wiewohl es dem Duktus der Fackenheimschen Erörterung dieser Hypothese nicht auf Anhieb anzusehen ist, bleibt Fackenheim dabei doch in der oben gezeichneten Heideggerschen Struktur des zirkularen Zusammenhangs von ontisch-ontologischem Schluss. Er bestätigt dies aber selbst an einer eher kurz dahingeworfenen Bemerkung, wo es heißt: »Nur Heidegger hätte diesen Punkt erreichen können, denn sein Denkweg war in die Geschichte eingesenkt«.165 Fackenheim sagt dies, wiewohl Heidegger dann selbst in der Wirklichkeit sein selbst formuliertes Ziel verfehlt hat, wiewohl seine Denkstruktur dies bereitgehalten hatte. Also schreitet Fackenheim selbst den von dieser Philosophie bereitgestellten Weg korrekt zu Ende; dass er dies tun will, sagt er später nochmals, wenn er auf Heideggers Formel der »Wiederholung« (recovery) der Tradition zu sprechen kommt.166 Man darf demnach mit Recht die Grundfrage, die Fackenheim zu Beginn dieses Kapitels stellt, mit Hilfe der Heideggerschen Struktur beantworten. Folgt man ihr, so darf man sagen, dass es Fackenheims Anliegen war, den Nachweis zu erbringen, »dass der Widerstand gegen den Holocaust […] eine äußerste (ultimate) Dimension offenbart.«167 Was nun ist diese »äußerste Dimension«, die Fackenheim zunächst nicht weiter definiert? Eugene B. Borowitz erkennt in Fackenheims procedere gleichfalls die Heideggersche Denkstruktur. Und er gibt zugleich seine eigene Antwort auf die Frage nach diesem »ultimate«. Er sagt in seiner Besprechung des Fackenheimschen Buches To Mend the World: »Fackenheim glaubt, dass wir die potentielle moralische Degeneration, die in Heideggers Denken lauert, vermeiden können, auch wenn wir eines seiner Schlüsselkonzepte aufnehmen, nämlich: wenn wir uns ›eigentlich‹ (authentisch) unserem eigenen Tod stellen, wird unser Leben von der Transzendenz berührt (Heideggers philosophisches Äquivalent für den letztlich Einen der Religion).«168 Das heißt für das Verständnis der im Widerstand gegen das Vernichtungsprinzip der Lager sichtbar gewordenen »ultimate dimension« Fackenheims, dass sie an der Stelle steht, an welcher Heidegger das »Dasein als Sein zum Tode« platziert. Der während des Holocaust tatsächlich geleistete »Widerstand« beinhaltet nicht nur die Tat, sondern auch das zugehörige Denken, welches den ontisch-ontologischen Zirkel abschließt. Damit ist der Widerstand als ontologische Kategorie des menschlichen Seins zu begreifen, die somit auch die Möglichkeit eröffnet, diese ontologische Kategorie im eigenen Leben zu rea-
164
Fackenheim, To Mend, S. 225.
165
Fackenheim, To Mend, S. 240.
166
Fackenheim, To Mend, S. 249.
167
Fackenheim, To Mend, S. 225.
168
Eugene B. Borowitz, Emil Fackenheim as Lurianic Philosopher, To Mend the World (New York: Schocken Books, 1983), in: At First Glance Archive, http://www.clal.org/w1aa.html
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lisieren. Das Heideggersche »Sein zum Tode« wird bei Fackenheim zum »Sein im Widerstand«. Bevor Fackenheim dann selbst diese »ultimate dimension« inhaltlich umschreibt, sieht er sich genötigt, zunächst eine Reihe von falschen, sprich nicht authentischen (uneigentlichen), Denkannäherungen an den Holocaust abzuweisen. Da ist zunächst die psychologische Erklärung des Geschehens, das versucht, die psychische Situation von Tätern und Opfern zu beschreiben. Diese Herangehensweise wird von Fackenheim abgewiesen, weil der Holocaust eine Situation geschaffen habe, die nicht mit den üblichen psycho-mentalen Umständen der normalen Welt zu vergleichen ist. Jede psychologische Erklärung muss – das ist die Methode der Wissenschaft – mit festen Kategorien an seinen Gegenstand herantreten, um ihn erklären zu können. All solche psychischen Erklärungsversuche mit Hilfe von Begriffen wie »Desorientierung«, »Traumatisierung« und dergleichen, scheinen der eigentlichen Schoah-Situation auszuweichen, oder ihr nie wirklich nahezukommen, und sind deshalb als »Eskapismus« zu betrachten, eine Flucht vor einer nicht erklärbaren Realität.169 Ähnliches sieht Fackenheim in den historischen Erklärungen, die sich zumeist nur auf die Frage »Was ist geschehen?« konzentrieren, also versuchen, die Fakten zusammenzutragen. An der Frage »Warum ist es geschehen?«, wenn sie denn überhaupt gestellt wird, scheitern letztlich auch die Historiker, wie dies einmal Raul Hilberg Fackenheim gegenüber aussprach, als er auf diese Frage nach dem »Warum?« lapidar antwortete: »Sie haben es getan, weil sie es wollten«, wodurch das Rätsel in voller Schärfe bestehen bleibt.170 Letztlich bleibt demnach nur noch die philosophische Herangehensweise, welche die Frage nach dem bei der gesamten Debatte zugrundeliegenden Menschenbild stellt, eine Frage die ja auch durch die Heideggersche Formel vom »Sein zum Tode« gestellt wurde. Besitzt man, wie dies in der älteren Philosophie und auch Theologie der Fall ist, ein fest vorgezeichnetes Menschenbild, so stellt sich die Beurteilung der Geschehnisse gemäß diesem Bild dar. Wenn man etwa wie Immanuel Kant davon ausgeht, dass die Menschen zwar gewiss keine Heiligen sind, dass aber doch »in jedem Menschen ein guter Wille ruht«,171 dann kann man davon ausgehen, dass nach Kant auch jeder Mensch »Würde« besitzt, und dass er an den Menschen glaubt. Fackenheim ergänzt: »Zweifellos beruht Kants Aufruf ›behandle jeden als Person, die mit Würde ausgestattet ist!‹ auf dem Glauben, dass reale, empirisch vorhandene Menschen Personen sind, die mit
169
Fackenheim, To Mend, S. 226–230.
170
Fackenheim, To Mend, S. 231.
171
Fackenheim, To Mend, S. 272; nach H. J. Patton, The Categorial Imperative, Chicago 1948, S. 171.
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Würde ausgestattet sind.«172 Fackenheim stellt diesen Glauben an das Gute und an die allenthalben vorhandene Anerkennung der Würde jedes Menschen nach Auschwitz in Frage.173 Deshalb meint er, müsse man von einem solchen festen Menschenbild abgehen, »so dass das, was menschlich möglich oder unmöglich ist, nicht durch eine [angenommene] beständige menschliche Natur offenbar wird, sondern durch die unbeständige menschliche Geschichte. Dieses moderne Konzept bedeutet, dass der Mensch letztlich unendlich geformt werden kann.« Dies aber nicht nur, wie man in unschuldigeren Zeiten glaubte, allein zum Guten, sondern vor allem auch zum Bösen.174 Eine solche Neufassung des Menschenbildes hat natürlich zur Folge, dass man davon ausgehen muss, dass die Täter in Auschwitz im Ende Menschen wie Du und Ich sind, ein erschreckendes Resultat, welches offenbar auch Hannah Arendt175 mit ihrer Rede von der »Banalität des Bösen« meinte. Doch einer solch vorschnellen Einebnung schiebt Fackenheim einen Riegel vor und meint: »Während nun dieses Resultat [dass die Täter Menschen wie Du und Ich sind], einem das Innerste erstarren lässt und die Sinne betäubt, darf es uns dennoch keineswegs zu der anscheinend ›liberalen‹ aber tatsächlich banalen, gemeinen und eskapistischen Vernachlässigung des Unterschiedes zwischen denen, die es hätten tun können – ich und Du und der benachbarte Gemüsehändler – und denen, die es tatsächlich taten, verführen. […] der Sprung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit ist in diesem Fall absolut. Während die Täter tatsächlich gewöhnlich waren, war doch die Tat, die sie vollführten absolut und unüberbietbar.«176 Damit ist die Linie angezeigt, nach welcher Fackenheim Hannah Arendt zustimmt und wo er sich von ihr unterscheidet. Fackenheim stimmt zu, dass die Täter zwar »banal« waren, dass aber das System, in welchem sie handelten keineswegs banal war. Arendt sieht laut Fackenheim also nur die eine Seite der Medaille. Ihr muss noch hinzugefügt werden, dass diese beiden genannten Seiten engstens ineinander verwoben sind, denn »die ganze Wahrheit ist die, dass so wie das ›totalitäre‹
172
Fackenheim, To Mend, S. 272–273.
173
Fackenheim, To Mend, S. 273.
174
Fackenheim, To Mend, S. 233.
175
H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Mit einem einleitenden Essay und einem Nachwort zur aktuellen Ausgabe von Hans Mommsen, Piper, München/Zürich 2011.
176
Fackenheim, To Mend, S. 235–236. Es ist angebracht, an dieser Stelle an das Buch von D. J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, München 2013, zu erinnern.
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System die Herrscher und Täter hervorbrachte, es ebenso die Herrscher und die Täter waren, die das System produzierten.«177 Man muss demnach beide Seiten des Geschehens ins Auge fassen und sich dann von dem ganzen Horror beunruhigen lassen und nicht in die anscheinend »beruhigende« Banalisierung flüchten. Aus alledem folgt, dass man zwar die Banalität der Täter begreifen mag, dass aber die Schrecklichkeit des gesamten Systems philosophisch unbegreifbar bleiben muss. Darum bleibt alleine, zu dem Heideggerschen ontisch-ontologischen Zirkel zurückzukehren und die ontische Realität zum Maßstab für die Ontologie zu nehmen. Ein auch nur annäherndes Verstehen muss das schreckliche Ganze des Geschehens aufnehmen und nur so kann es zu einer Antwort (response) finden. Das heißt, das richtige Denken oder die richtige, authentische, Antwort auf die Ereignisse kann nur von den unmittelbar Beteiligten erlernt werden.178 Man muss lauschen, wie sie das Erlebte mit ihrem Daseinsverständnis verbanden, nämlich als den gezeichneten Widerstand. In diesem Sinne sagt Fackenheim: »Die Wahrheit, die aus diesem Grauen offenbar wird, ist, dass man den Holocaust in seiner umfassenden Horribilität nicht verstehen und nicht transzendieren kann, sondern nur eine Möglichkeit bleibt, Nein zu ihm zu sagen oder ihm zu widerstehen. Der gesamte Horror des Holocaust existiert (denn er ist geschehen); aber er dürfte nicht existieren (und hätte nicht geschehen dürfen). […] Das Denken würde dem Eskapismus verfallen, wenn es sich auf das ›er sollte nicht sein‹ alleine beschränkte; und es würde in lähmende Ohnmacht stürzen, wenn es sich ausschließlich mit den nackten katastrophalen Fakten befasste. Nur wenn es zugleich das ›es existiert‹ und das ›es sollte nicht geschehen‹ festhält, kann das Denken ein authentisches (eigentliches) Überleben erlangen. Das wahrhafte Denken muss die Form des Widerstandes annehmen.«179 Das bedeutet, ein philosophisches Nachdenken über den Holocaust, das sich in den Elfenbeinturm zurückzieht, ist ein unauthentisches, uneigentliches, Denken. Zu einem authentischen Denken gehört der Gang auf die Straße, hinaus in das geschichtliche und gesellschaftliche Kampfgebiet, um dort das Denken im Widerstand zu realisieren.180 Der Widerstand in Denken und Handeln ist die einzig authentische Form, philosophisch mit dem Holocaust umzugehen. Fackenheim formuliert dieses Resultat auch nochmals in Heideggerscher Terminologie: »Wi-
177
Fackenheim, To Mend, S. 237.
178
Fackenheim, To Mend, S. 248.
179
Fackenheim, To Mend, S. 239.
180
Fackenheim, To Mend, S. 247.
Schoah
553
derstand in dieser extremen Situation, war eine Weise des Seins. Für unser Denken ist es darum jetzt eine ontologische Kategorie.«181 Abschließend stellt sich die Frage, ob das, was in den Todeslagern authentisches (eigentliches) Sein war, nämlich der Widerstand, ob dies auch für die Nachgeborenen noch gelten kann? Ist das, was dort in den Lagern möglich war, das heißt ein authentisches widerständiges Denken, auch für uns Nachgeborene in einer anderen Situation noch möglich und wenn ja, dann verpflichtend? Dies kann man, so Fackenheim, nur bejahen, sofern zwischen dem Damals und dem Heute eine denkerische oder wenigstens eine historische Kontinuität besteht. Diese Kontinuität aber ist nicht mehr gegeben. Mit dem Holocaust ist ein vollkommener Bruch geschehen, eine Zäsur eingetreten.182 Damals starben nicht nur die Menschen, sondern auch das Menschenbild, auch ist »unsere ›Entfremdung von Gott« so ›grausam‹, dass wir, auch wenn er uns nun ansprechen würde, keine Möglichkeit hätten zu verstehen wie ihn zu ›erkennen‹.«183 Der Bruch in Geschichte und menschlichem Denken, eingeschlossen in Theologie und Philosophie, ist so total, dass die alten Kategorien nicht ausreichen, diesen Abgrund zu überbrücken. Aus diesem Grund meint Fackenheim, bedürfe es einer neuen Kategorie, eines Neuanfangs, der es ermöglicht, mit dem durch den Holocaust entstandenen Bruch umzugehen und eine neue »Kontinuität« zu ermöglichen. Dies wird im Folgenden darzustellen sein.
6.6
Tikkun ʽOlam – die Wiederherstellung zuvor gewesener Daseinsmöglichkeiten – Dasein als Wiederholung des Widerstandes von einst
Für die letzte Wendung seiner Überlegungen auf dem Weg zu einem neuen menschlich authentischen Dasein nach der Schoah greift Fackenheim – zugegebenermaßen184 – nochmals auf die Denkstruktur Heideggers zurück. Nach den §§ 74–75 von Sein und Zeit gehört zur Grundverfassung des menschlichen Daseins als Geschichtlichkeit die Möglichkeit des Rückgriffs oder der »Wiederholung« von einst gewesenen menschlichen Daseinsformen, also der Rückgriff auf Tradition und die Wahl eigener Helden aus der Vergangenheit. Heidegger sagt dort:
181
Fackenheim, To Mend, S. 248.
182
Fackenheim, To Mend, S. 260.
183
Fackenheim, To Mend, S. 250, nach E. Wiesel, Legends of Our Time, New York 1968, S. 230;
184
Fackenheim, To Mend, S. 257. 310.
u. Martin Buber, bei Fackenheim, To Mend, S. 196.
554
Emil L. Fackenheim
»Wohl aber liegt in der Zeitlichkeit des Daseins und nur in ihr die Möglichkeit, das existenzielle Seinkönnen, darauf es sich entwirft, ausdrücklich aus dem überlieferten Daseinsverständnis zu holen. Die auf sich zurückkommende, sich überliefernde Entschlossenheit [Wahlfreiheit möglicher Handlungsangebote]185 wird dann zur Wiederholung einer überkommenen Existenzmöglichkeit. Die Wiederholung ist die ausdrückliche Überlieferung, das heißt, der Rückgang in Möglichkeiten dagewesenen Daseins. Die eigentliche Wiederholung einer gewesenen Existenzmöglichkeit – daß das Dasein sich seinen Helden wählt – gründet existenzial in der vorlaufenden Entschlossenheit, denn in ihr wird allererst die Wahl gewählt, die für die kämpfende Nachfolge und Treue zum Wiederholbaren frei macht. Das wiederholende Sichüberliefern einer gewesenen Möglichkeit erschließt jedoch das dagewesene Dasein nicht, um es abermals zu verwirklichen. Die Wiederholung des Möglichen ist weder ein Wiederbringen des ›Vergangenen‹, noch ein Zurückbinden der ›Gegenwart‹ an das ›Überholte‹. Die Wiederholung läßt sich, einem entschlossenen Sichentwerfen entspringend, nicht vom ›Vergangenen‹ überreden, um es als das vormals Wirkliche nur wiederkehren zu lassen. Die Wiederholung erwidert vielmehr die Möglichkeit der dagewesenen Existenz. Die Erwiderung der Möglichkeit im Entschluß ist aber zugleich als augenblickliche der Widerruf dessen, was im Heute sich als ›Vergangenheit‹ auswirkt.«186 Für Fackenheim ist dieser Zusammenhang von Vergangenheit und jeweiliger gelebter, existenzieller Gegenwart zentral. Die Nachgeborenen können sich in ihrer zeitlich veränderten Situation eigentlich nicht mehr authentisch zur Schoah, zur Situation in den Todeslagern, verhalten. Allerdings gibt es nach dem Heidegger185
A. Luckner, Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit, in: T. Rentsch (Hg.), M. Heidegger, Sein und Zeit, Berlin S. 149–168: »Entschlossenheit. Zusammenfassend lässt sich sagen, daß eine Person dann ›eigentlich existiert‹, wenn sie institutionell gegebene – nicht etwa nur gegenwärtig sich anbietende, sondern auch und gerade geschichtlich ›wiederholbare‹ (vgl. 382ff.) – Handlungsregeln (oder: ›Maximen‹ in einer ›existenziellen Modifikation‹ sich aneignet, daß sie nicht nur ihnen gemäß, sondern gleichsam aus ihnen heraus handelt. Erst dann kann man auch von einer moralischen Persönlichkeit sprechen – was bedeutet, daß eine Person sich selbst Ansprüchen unterstellt, an denen sie gemessen werden will. Das heißt ›Entschlossenheit‹ bzw. ›Gewissen-haben-wollen.«, S. 165); Craig M. Nichols. Primordial Freedom: The Authentic Truth of Dasein in Heidegger’s ‘Being and Time’, in: Thinking Fundamentals, IWM Junior Visiting Fellows Conferences, Vol. 9: Vienna 2000, »Resoluteness (Entschlossenheit) indicates for Heidegger the authentic mode of being-toward-death (i.e., the existentially constitutive anticipation of the ultimate nonrelational possibility of Dasein) in which Dasein ›owns up‹ to the nihil, the abyss, present within itself (i.e., the nothingness encountered within the meaningful horizon of its own being).«
186
Heidegger, Sein und Zeit, S. 385–386.
Schoah
555
schen Daseinsverständnis, wie er es in dem zitierten Passus darlegt, die Möglichkeit der existenziellen »Wiederholung«, im Sinne einer existenziell angepassten Rezeption des Tuns der »Helden« der Vergangenheit. Das heißt, »eigentlichauthentisches« Handeln in der Nach-Schoah-Zeit kann nur gelingen, wenn man die Tradition, das Gewesene existenziell aufnimmt und »wiederholt«. Dieser Denk-Modus erklärt, warum es für Fackenheim so wichtig war, widerständisches Handeln in den Todeslagern selbst aufzufinden, das als »wiederholbares«, »eigentliches« Tun in dem beschriebenen Sinn existenziell modifiziert aufgenommen werden kann. Diese Möglichkeit gilt indessen nicht nur für die jüdischen Nachgeborenen, die sich in der beschriebenen Weise mit der jüdischen Opfer-Tradition authentisch neu entwerfen können. Das gilt analog auch für das Christentum, für das die Schoah im selben Maße, wenn nicht noch mehr, eine Infragestellung des eigenen Selbstverständnisses ist, auch wenn dies von vielen bedeutenden Vertretern dieser Religion noch nicht wahrgenommen wird.187 Daher sucht Fackenheim den Fall des Berliner Domprobstes Bernhard Lichtenberg auf, der in der Berliner Hedwigs Kathedrale mit dem Beginn der sogenannten »Reichskristallnacht«, am 10. November 1930 bis zu seiner Verhaftung am 23. Oktober 1941, die 1942 zu seinem Tode führte, öffentlich »für die Juden und die armen Gefangenen der Konzentrationslager« betete.188 Und dies gilt analog für die deutsche Philosophie, die gleichfalls versagte, aber doch eine Ausnahme in dem Münchener Philosophieprofessor Kurt Huber fand, der die Studenten der »Weisen Rose« auch und gerade vor dem »Volksgerichtshof« mit philosophischen Argumenten verteidigte, bevor er selbst mit den Studenten hingerichtet wurde.189 Auch damit wurde ein authentischer Widerstand gelebt, der sich zur »Wiederholung« für die nachgeborenen Philosophen anbietet. Allerdings ergibt sich für die Anwendung des bislang beschriebenen Denkmodells von Heidegger auf die Post-Schoah Existenz ein gravierendes Problem. Heideggers Konstrukt und seine Realisierbarkeit geht, nach Fackenheim, wie oben schon vermerkt, von einer Kontinuität der Geschichte und des Denkens aus, nur so ist der beschriebene Rückgriff möglich. Zwar können die Nachgeborenen die Geschichte nicht eins zu eins wiederbeleben, weil sowohl das damalige Geschehen wie auch das heutige Verstehenwollen zeitlich bedingt sind. Die Aneignung des Geschehenen durch die Nachgeborenen geschieht immer mit einem zeitbedingten »Vorverständnis«. Aber gerade darin liegt normalerweise eine vorteilhafte Möglichkeit: 187
Fackenheim, To Mend, S. 133.192–193. 280–288.
188
Fackenheim, To Mend, S. 289.
189
Fackenheim, To Mend, S. 266–273.
Emil L. Fackenheim
556
»Jedoch, dieses voreingenommene Vorverständnis, weit entfernt davon uns von der Vergangenheit abzuriegeln, eröffnet uns geradezu unseren einzigen Zugang zu ihr. Die Vergangenheit ist geschichtlich, und so ist die Gegenwart: und dadurch besteht eine Kontinuität zwischen ihnen. Eine je schon existierende vorwärtsschreitende Kontinuität aus der Vergangenheit zur Gegenwart ermöglicht eine rückwärtsschreitende hermeneutische Rückgewinnung aus der Vergangenheit in die Gegenwart.«190 Die Schoah hat nun aber, wie die vorausgegangenen Darlegungen Fackenheims zeigten, einen Bruch (rupture) herbeigeführt, hat die Kontinuität zerbrochen. Die Schoah ist eine absolute Zäsur, die es unmöglich macht, im Heideggerschen Sinn auf gelebte Daseinsmöglichkeiten der Zeit davor, das heißt auch auf die Zeit des Holocaust selbst zurückzugreifen. Die Kontinuität, welche die »Wiedergewinnungsmöglichkeit« und die »Wiederholung« ermöglichte ist durch den Holocaust auf allen Ebenen der menschlichen Kultur zerbrochen. »Der Holocaust hat nicht nur diese oder jene Seite des menschlichen Seins in Frage gestellt, sondern alle. Er zerbricht Zivilisationen, Kulturen, Religionen, nicht nur innerhalb des einen oder anderen sozialen Kontextes, sondern innerhalb aller möglicher Kontexte.« 191 Für das originäre philosophische Denken sieht Fackenheim offenbar keine Möglichkeiten mehr, diesen Abgrund zu überwinden. Um dennoch nicht das Ende der philosophischen Auseinandersetzung mit der Schoah verkünden zu müssen, greift er zu einem religiösen Konzept aus der jüdischen kabbalistischen Tradition, nämlich dem Konzept des Tikkun, der »Wiederherstellung«, wie es von der lurianischen Kabbala entworfen wurde, deren Details hier im zweiten Band ausführlich dargestellt wurden.192 In der lurianischen Kabbala ist der Tikkun gleichfalls die Wiederheilung eines zuvor erfolgten absoluten Bruches, der jegliche Kontinuität beendete. Allerdings, und dies muss nachdrücklich betont werden, was auch Fackenheim selbst weiß, werden in seiner eigenen rezeptiven Deutung von »Bruch« und »Tikkun« beide Begriffe aus der lurianischen Kosmologie und, hinsichtlich des Bruchs der Adams-Seele,193 aus der Anthropologie, auf die Geschichte und Kultur übertragen oder auf die Kontinuität der »Geschichtlichkeit«. Dennoch, das Resultat ist analog. Fackenheim bezeichnet das Tun von Pelagia Lewinska, der Ḥasidim in Buchenwald, der Mütter, die keine Abtreibungen vornahmen, und der Ghettokämpfer – auf Seiten der Opfer, und das Tun des Berliner Domprobstes Lichtenberg für die Christen (die Täter) und 190
Fackenheim, To Mend, S. 257.
191
Fackenheim, To Mend, S. 262.
192
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 634–657. 662–671.
193
Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 662–671.
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das von Professor Huber für die Philosophie (ebenfalls Täter) als Tikkun. Tikkun bedeutet hier, dass inmitten der Katastrophe, wo solcher Widerstand eigentlich ausgeschlossen war, dieser Widerstand tatsächlich gelebt wurde. Damit ist der existenziellen »Logik der Vernichtung« eine existenzielle »Logik des Lebens« entgegengesetzt. Entsprechend würde auf der Seite des »Tätervolkes« dem Wegsehen ein helfen wollendes Einschreiten entgegengesetzt und zwar mit den genuinen Mitteln der »Helfer«, nämlich mit religiösen Mitteln (dem Fürbittgebet) hier und der genuinen philosophischen (philosophische Argumentation) dort. Dem Bruch auf allen Seiten wurde je ein Tikkun entgegengesetzt eine »Wiederherstellung«, war sie auch noch so gering, wurde sie so doch als existenzielle Möglichkeit gelebt und gewinnt so ontologische Qualität. Am Beispiel der Philosophie stellt sich die so dar: »Hubers Aktion war ein Tikkun. Er war altmodisch genug, das ungeschriebene Gesetz anzurufen, als ob es, gleichsam in einem Platonischen Himmel vorhanden, jederzeit zugänglich wäre, während seine eigene Gegenwart in einer solch [absoluten] Weise davon abgeschnitten war, dass es nur durch einen Tikkun wieder zugänglich wurde. Seine Aktion war indessen der nötige Tikkun selbst. Indem er dem ungeschriebenen Gesetz folgte, hat er dieses Gesetz wieder hergestellt, indem er es in sein eigenes Herz eingeschrieben hat – es muss ja irgendwo niedergeschrieben sein. Indem er gemäß von Kants – hier zerbrochenem – Konzept von der Menschheit (Humanity) gehandelt hat, hat er dieses Konzept wiederhergestellt (mended),194 denn er hat deren Matrix oder Boden in der aktuellen Menschheit wiedererschaffen, wenn auch nur in seiner eigenen Person. Das war Hubers Tikkun der Philosophie, zur Zeit ihres absolut katastrophalen Bruchs. Dieser Tikkun hat, damals und heute, die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Post-Holocaust Philosophie im Hier und Jetzt geschaffen.«195 Und wie für Heidegger eine solche »Wiedergewinnung des Gewesenen« nicht einfach eine »Wiederholung« sein kann, wird auch diese neue post-Holocaust Philosophie nur in Form einer existenziellen Neugestaltung geschehen können. Das heißt, das alte durch den Holocaust zerbrochene Menschenbild muss in einer anderen, den Geschehnissen genügenden, Weise neu formuliert werden.196
194
Daher der Titel des Buches: To Mend the World.
195
Fackenheim, To Mend, S. 276.
196
Fackenheim, To Mend, S. 276.
558
7.
Emil L. Fackenheim
Authentisches jüdisches Leben nach der Schoah – die Bedeutung des Staates Israel
Die Schoah ist, das haben die bisherigen Erörterungen gezeigt, für Fackenheim ein Geschehen, welches das menschliche Dasein auf allen Ebenen verändert hat. Dies gilt demnach auch für die seit der Emanzipation und bis hinein in die moderne israelische Rechtsdebatte gestellte Frage, was das Judesein eines Menschen ausmache, wodurch er Jude sei, was jüdische Identität ist. Mit dieser grundsätzlichen Frage und einer anschließend bestürzenden Antwort eröffnet Fackenheim sein Kapitel über die »Jewish Existence after the Holocaust«. Er schreibt: »Was ist ein Jude? Wer ist ein Jude? Diese Fragen haben die Juden gequält seit die Emanzipation all die traditionellen Antworten fraglich gemacht hatte – die der Nichtjuden wie die der Juden selbst. Heute aber lassen diese gleichen alten Fragen, wenn sie von Juden gestellt werden, eine verborgene Scheu erkennen. Gewiss sind die alten postemanzipatorischen Antworten, [auf die Frage was das Judentum sei], noch mit uns: eine ›religiöse Konfession‹, eine ›Nationalität‹, eine ›Nation wie jede andere‹, oder – in NordAmerika gerade modern – eine ›ethnische Gruppe‹. Auch die ältere halachische Antwort – ›ein von einer jüdischen Mutter geborenes Kind oder ein Konvertit‹ hat wieder Einfluss bekommen; und dies, ob man dies zugibt oder nicht, dank der Existenz des Staates Israel. Schließlich hat das Faktum der Existenz des Staates Israel selbst, eines modernen Staates in einer modernen Welt, sämtliche alte Antworten erschüttert und durcheinandergebracht […], was der Frage nach der jüdischen Identität eine neue Dringlichkeit bescherte. […] weder erschöpfen all die obengenannten Definitionen, alleine oder zusammengenommen, die Tiefe der Frage, noch berühren sie eine [besondere] Dimension die heute eine [wesentliche] Seite von ihr ist. […Diese ist:] Ein Jude ist heutzutage jemand, der, außer dank eines historischen Zufalls – nämlich Hitlers Niederlage im Krieg – entweder ermordet, oder erst gar nicht geboren worden wäre.«197 Diese schockierende Formulierung soll nicht die übrigen Antworten auf die Frage nach der jüdischen Identität ersetzen, aber sie muss nach Auffassung Fackenheims als unausweichliche Dimension in alle möglichen und de facto gegebenen Antworten mit integriert werden. Dies ist eine neue Dimension des Judeseins, der jüdischen Identität nach der Schoah. Die Einbeziehung dieser zusätzlichen Dimension wird folglich alle im Folgenden vorzustellenden Beschreibungen
197
Fackenheim, To Mend, S. 294–295.
Schoah
559
Fackenheims, von dem, was er als ein authentisches jüdisches Leben nach der Schoah erachtet, prägen. Wo immer diese Dimension aus einer der Definitionen ausgeschlossen wird, sieht er eine nicht-authentische Definition, nicht- authentisches jüdisches Leben und Selbstverständnis nach der Schoah. Schon anlässlich der Erörterung des »614ten Gebotes« oder der »commanding voice of Auschwitz« wurde deutlich, dass zu einem solchen authentischen jüdischen Leben nach Auschwitz gehört, Hitler keinen posthumen Sieg zu verschaffen und dies in physischer wie in kultureller und religiöser Hinsicht. Das bedeutet, dass alles zu unternehmen ist, was das Überleben des Judentums als Volk »von Fleisch und Blut« wie auch als Kulturgröße und Religion sichert. Dies gilt für die individuelle Ebene – im Sinne des Kinder-Gebärens und jüdisch Erziehens – und auf der kollektiven Ebene in der Ermöglichung eines jüdischen Lebens, das nicht mehr der demütigenden und machtlosen Situation der VorHolocaust und Holocaust-Zeit selbst ausgeliefert ist, ein Leben, das nicht mehr von der Gnade anderer Völker abhängig ist.198 Und es ist klar, dass die Gründung des Staates Israel für Fackenheim hier eine zentrale Rolle einnimmt: »Was ist der Tikkun? Er ist Israel selbst. Es ist ein Staat, von einem Volk gegründet, erhalten und verteidigt, von dem man einst glaubte, es habe die Staatskunst und die Fähigkeit zur Selbstverteidigung für immer verloren. Es ist die Kultivierung und Bewaldung eines Landes, das, wie es einst schien, aus unrettbaren Sümpfen und Wüsten bestand. Ein Volk aus allen vier Enden der Welt auf einem Territorium versammelt – von dem Experten einst meinten – es habe nicht einmal genug Raum, um sich darin zu umzuwenden. Es ist eine lebendige Sprache, von der einst sogar die Freunde fürchteten, dass sie unwiederbringlich tot sei. Es ist eine Stadt,199 von der die Welt einst glaubte, sie sei verurteilt, ewig eine Ruine zu bleiben. Und es ist in diesem allem und durch all dies eine einzigartige Feier des Lebens, nach beispiellosem Tod, im Namen des zufällig verbliebenen Restes.«200 Es ist diese Einschätzung, welche der Gründung eines jüdischen Staates nach zweitausend Jahren der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins, zentrale Bedeutung für jegliche jüdische Existenz nach dem Holocaust verleiht. Schon in seinem Buch über die Rückkehr des Judentums in die Geschichte, formuliert Fackenheim seine These, dass Hitler erst dann wirklich besiegt sein wird, wenn die Sicherheit des Staates Israel gewährleistet ist. Er geht noch weiter und glaubt, dass eine Zerstörung des Staates Israel »das Ende des jüdischen Volkes nach fast 198
Fackenheim, To Mend, S. xliii.
199
Gemeint ist Jerusalem.
200
Fackenheim, To Mend, S. 312–313.
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560
viertausend Jahren bedeuten würde«.201 Der Bestand dieses Staates und seine Anerkennung durch die Völker der Welt ist auch erstmals die Anerkennung des Judentums als Volk, als Nation, und nicht nur die Emanzipation der Juden als Individuen, wie dies zur Zeit der Emanzipation in der französischen Nationalversammlung dekretiert and auch in Deutschland zum Leitmotiv wurde: »Dem Juden als Individuum alles, dem Judentum in seiner Geschichte nichts.«202 Dieser Staat ist daher aus der Sicht Fackenheims eine moralische Notwendigkeit für alle Völker dieser Welt203 – insbesondere Europas – ja, und insbesondere des Christentums.204 Die Begründung eines jüdischen Staates nach dem Holocaust war für die überlebenden Opfer die einzig wahrhafte und adäquate Antwort auf den Genozid am europäischen Judentum: »als Antwort (response) auf den Holocaust war die Begründung des Staates Israel die einzige mögliche Alternative zur endgültigen und vollkommenen Verzweiflung […] Die Gründung des Staates Israel war der Ausdruck von Mut, Hoffnung und Glauben an eine Zukunft.«205 Darum glaubt Fackenheim: »Christen müssen nach dem Holocaust […] Zionisten sein, nicht nur um der Juden, sondern um des Christentums selbst willen. Juden müssen nach dem Holocaust, so wird nun deutlich, Zionisten sein, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern um der gesamten post-Holocaust-Welt willen. […] Nach dem Holocaust schuldet das jüdische Volk der gesamten Welt, sie nicht mehr länger zu deren Laster zu ermutigen- im Falle der Bösen, die Mordinstinkte, im Falle der guten Menschen, mit Hochmut gepaarte Gleichgültigkeit – indem sie Machtlosigkeit tolerieren. Ohne einen jüdischen Staat gäbe es keinen post-Holocaust Tikkun der jüdisch–nichtjüdischen Beziehungen. […] Der jüdische Austritt aus der Machtlosigkeit […] war und ist eine moralische Errungenschaft von weltgeschichtlicher Bedeutung.«206 Der Staat Israel ist demnach ein Fundament nicht nur für das Selbstbewusstsein der Juden nach dem Holocaust, sondern muss es auch für die Christen und die Völker dieser Welt sein. Mit diesem Staat wird ein Unrecht – nein man kann
201
Fackenheim, Return, S. 113.
202
So formulierte es Stanislas Clermont-Tonnere 1791 in der französischen Nationalversammlung, vgl. A. Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997, S. 15; Fackenheim, Return, S. 156.
203
Fackenheim, To Mend, S. 14. 304.
204
Fackenheim, To Mend, S. 285. 303.
205
Fackenheim, Return, S. 186; To Mend. S. 92.
206
Fackenheim, To Mend, S. 303–304.
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561
nicht sagen »wieder gutgemacht«, sondern erlangt seinen Tikkun, dessen alle Völker dieser Welt, insbesondere eben jene, welche sich an den Juden schuldig gemacht haben, bedürfen. Bei dieser Sicht, nach welcher dieser Staat und der Zionismus zum unersetzbaren Fundament gerade auch für authentisches jüdisches Leben nach dem Holocaust, darstellen, kann es nicht verwundern, dass Fackenheim auch nach der andern Seite der Medaille blickt und gegen jene Juden polemisiert, welche diese unausweichliche Lehre aus dem Holocaust nicht wahrhaben wollen und glauben, weiterleben zu können, als sei all dies nicht geschehen. Den Holocaust nicht zu thematisieren und daraus nicht die nötigen Lehren, insbesondere auch hinsichtlich des jüdischen Staates, zu ziehen, bedeutet für ihn, dass solche Juden in ein nichtauthentisches »uneigentliches« Dasein oder Judesein abgleiten. Als Beispiele nennt er den Trotzkisten Isaac Deutscher (1907–1967), der mit Marx das partikulare Judesein ablehnt und in eine universale Menschheit auflösen will,207 ebenso Ernst Bloch, der den Holocaust als spät-bourgeoises Phänomen sehen wollte und einem post-Judentum das Wort redete,208 ja selbst Martin Buber trifft dieser Vorwurf, der in seinem »Dialogismus« das Böse nicht wirklich wahrhaben will und in einem nach dem Krieg versuchten Dialog mit Heidegger das »heikle Thema« des Holocaust ausklammerte.209 Auch die Todesfuge von Paul Celan ist – entgegen Celans Absicht – der Gefahr ausgesetzt, zu einer »Flucht in die Literatur, weg von dem mühseligen Nachdenken« zu verführen.210 Fackenheim geißelt auch jene Juden, die sich um alle Sorgen und Nöte dieser Welt kümmern, sich aber den notwendigen Bedürfnissen des Judentums und insbesondere des jüdischen Staates entziehen. »So kam es, dass Juden als besonders mutig erscheinen, wenn sie ihre jüdische Identität zurückweisen oder zumindest ›universale‹ Rechtfertigungen für diese Identität suchen, indem sie sich für alle möglichen edlen Angelegenheiten einsetzen, außer den jüdischen. Und der Nordamerikanische jüdische Held scheint geradezu der zu sein, der sich de facto gegen sein eigenes Volk wendet, weniger weil er auf die Schaffung eines palästinisch-arabischen Staates aus ist, sondern weil er die Zerstörung des jüdischen Staates anstrebt.«211 Fackenheim sieht den alten Antisemitismus wiederaufstehen, wenn man die Zionisten als die bösen Juden bezeichnet, weil sie nicht willens sind, politischen Selbstmord zu begehen, und »eine Generation nach Hitler« »ihr Schicksal als Juden nicht der Gnade der Welt« anvertrauen wollen, während solche Juden, die »um der Menschheit willen ihre jüdische Identität auflösen«,
207
Fackenheim, To Mend, S. 193.
208
Fackenheim, To Mend, S. 194.
209
Fackenheim, To Mend, S. 190–191.
210
Fackenheim, To Mend, S. 198.
211
Fackenheim, Return, S. 98.
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562
als die wahren und guten Juden betrachtet werden.212 Judentum ohne Zionismus ist unauthentisch: »Anti- oder Nicht-Zionismus bleibt für die heutigen Juden eine Möglichkeit. Aber es ist eine Möglichkeit ohne Selbstachtung.«213
212
Fackenheim, Return, S. 223.
213
Fackenheim, To Mend, S. 97.
IV. HOLOCAUST UND STAATSGRÜNDUNG ISRAELS ERÖFFNEN EINE NEUE ÄRA DES JUDENTUMS IRVING YITZCHAK GREENBERG (GEB. 1933) 1.
Biographisches
Irving Yitzchak Greenberg, genannt Yitz Greenberg, wurde 1933 in Brooklyn – New York geboren. Er ist orthodoxer Rabbiner, der eine Erneuerung der Orthodoxie erstrebt, mit dem Ziel, diese solle die Gegebenheiten der Moderne in Theologie und Ritus ernster nehmen. 1953 an der Yeshiva Universität (Yeshiva Bet Yosef) ordiniert, amtierte er als Rabbiner an unterschiedlichen Stellen, unter anderem an der Brandeis University. Er studierte außerdem am Brooklyn College und an der Harvard University, wo er 1960 einen Doktorgrad erwarb. Von 1959–1972 war er Assistant- dann Associate- Professor für Geschichte an der Yeshiva University, von 1972–1979 Mitbegründer, Professor wie auch Chairman des Departement of Jewish Studies an der City University of New York. Entscheidend war seine Präsidentschaft (1974–1997) am National Jewish Center for Learning and Leadership (CLAL),1 die eng mit seinem »jüdischen Denken« verbunden ist, wie im Folgenden noch deutlich werden soll. Neben weiteren Aktivitäten in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Verbänden ist nennenswert Greenbergs Berufung zum Chairman des United States Holocaust Memorial Council Museum von 2000–2002, das die Aufgabe der Planung und Errichtung des Washingtoner Holocaust-Museums hatte. – Kurz, ein Mann von großer öffentlicher Wirkung, was für das Gewicht seiner Darlegungen nicht unerheblich ist, Darlegungen die zum Teil als offizielle Publikationen des CLAL erschienen sind.
2.
Grundlinien des Denkens
Irving Greenberg war einer jener jüdischen »Intellektuellen«, die nach der Publikation von Raul Hilbergs The Destruction of the European Jews (1961), den Büchern von Hannah Arendt (The Origin of Totalitarianism, 1951, Eichmann in Jerusalem, 1963),2 von Elie Wiesel und von Primo Levi, die Schoah für das jüdische Denken und Selbstverständnis als zentralen Topos erkannten.3 Greenberg 1
Diese Abkürzung liest sich zugleich als das hebräische Wort »Gesamtheit«, was als Programm
2
Deutsch: H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht vor der Banalität des Bösen, Mün-
3
Vgl. M.L. Morgan, Beyond Auschwitz: Post-Holocaust Jewish Thought in America 2001;
gedacht war: Die Vereinung aller Strömungen des Judentums. chen 1964. auch in: Oxford Scholarship Online: November 2003.
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kennt also dieselben Berichte aus den Todeslagern wie Emil Fackenheim, er zitiert darüber hinaus aus den Verhörprotokollen der Nürnberger Prozesse, arbeitet mit Motiven, wie sie auch Fackenheim verwendet, so dass man zunächst eine große Nähe der beiden Denker, die sich gegenseitig nennen und hohen Respekt füreinander haben, vermuten könnte. Aber das Gegenteil ist der Fall. Zwischen ihnen stehen Welten. Da ist bei Fackenheim, dank seiner deutschen Herkunft, vor allem die enge Verbundenheit mit der deutschen – und deutsch-jüdischen – Philosophie und im Gefolge davon ein grundsätzlich theologischer und philosophischer Denkansatz. Demgegenüber lässt der Amerikaner Greenberg keine Verbindung zu den Fackenheimschen Denkwurzeln erkennen, und zum anderen ist er nicht in der Philosophie, sondern in der Geschichtswissenschaft und in der Soziologie zuhause. Dieser Unterschied äußert sich zunächst daran, dass dem theologisch-philosophischen Denker Fackenheim alles daran gelegen ist, die Opfer in den Todeslagern zu verstehen. Ihnen gilt sein ganzes Interesse, in der Meinung, dass, wenn überhaupt, nur von ihnen eine adäquate Antwort auf das schreckliche Geschehen zu gewinnen ist. Demgegenüber denkt Greenberg vor allem an die Täter, versucht zu verstehen oder zu erklären, warum sie tun konnten, was sie taten. Dieses Nachforschen nach den Tatmotiven wie auch nach den Hilfe-Unterlassungsmotiven geschieht im Wesentlichen durch eine ausgreifende Ideologie-Kritik an den zur damaligen Zeit bestehenden Wertsetzungs-Institutionen und Ideologien, mit dem Resultat, dass diese während der Schoah allesamt versagt haben. Verbunden mit Fackenheim und Rubenstein ist Greenberg hingegen in der Auffassung, dass die Geschichte einen unausweichlichen Einfluss auf das Denken, insbesondere das jüdische Denken haben müsse. Nach der Darlegung des Versagens aller während der Schoah vorhandenen Denksysteme richtet Greenberg seinen Blick in die Gegenwart und Zukunft und fragt nach den aus diesem Versagen zu ziehenden Schlussfolgerungen für die nachgeborenen Generationen. Greenberg stellt demnach die Frage, welche Fehler es zu vermeiden gilt und welche sozialen Strukturen und welches soziale Handeln geeignet wären, um künftig zu verhindern, was damals geschah. Solchen Handlungsbedarf sieht Greenberg auf Seiten der möglichen künftigen »Übeltäter« wie auch auf Seiten derer, die das Richtige und Gute tun sollten. Seine Frage lautet also: Was müssen die Menschen, die Völker dieser Welt vermeiden, und was einrichten und verändern, damit sie nicht wieder zu solch mörderischem Tun fähig sind und was müssen die potentiellen Opfer, insbesondere die Juden, tun, um sich vor solchen möglichen Verfolgungen zu schützen. Wo Fackenheim versucht, aufgrund der Erforschung der existenziellen Situation der Opfer in den Todeslagern und derer, die sie überlebt haben, zu authentischen Lebenshaltungen des Individuums und der Gruppe, das heißt vor allem des jüdischen Volkes zu gelangen, da holt Greenberg zu übergreifenden historiographischen und soziologischen Überblicken aus, anhand derer er sein neues, sein eigenes historisch-
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gesellschaftliches Narrativ entwirft und die daraus zu ziehenden Handlungsnotwendigkeiten entwickelt. Ich habe hier bewusst den etwas abgewetzten Begriff des »Narrativs« verwendet, weil das Geschichts-Bild, das Greenberg entwirft, zwar auf soliden historischen, religionsgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Erkenntnissen aufgebaut wird, aber als Gesamtschau dann doch eher ein historiosophisches denn historiographisches Bild ergibt. Greenberg sieht dies im Grunde selbst so, wenn er sagt: »Das Judentum ist ein Midrasch zur Geschichte.«4 Die Aufgabe dieses Midraschs ist es, so Greenberg, das Geschehen dieser Welt, die Widerfahrnisse Israels in eine Midrascherzählung einzufügen.5 Der in seinen Texten entfaltete umfassende Geschichtsmidrasch Greenbergs erkennt drei Epochen der jüdischen Geschichte, die biblische, die rabbinische und die »dritte«, die post-Holocaust Epoche, die neben dem Holocaust wesentlich durch die Staatsgründung Israels gekennzeichnet ist. Jede dieser Epochen hat ihre eigene für sie typische und adäquate Theologie (Gotteslehre), Anthropologie, Ethik und Gesellschaftslehre, was im Folgenden im Detail darzustellen sein wird. Greenberg hat seine – für einen orthodoxen Rabbiner – revolutionären Auffassungen nicht in einem Buch, sondern in einer Reihe von Aufsätzen niedergelegt, von denen einige, wie schon erwähnt, als offizielle programmatische Verlautbarungen des National Jewish Center for Learning and Leadership (CLAL) publiziert wurden.6
3.
Das Versagen der überkommenen Denksysteme vor und während der Schoah
Greenberg, der sich auch im jüdisch-christlichen Dialog engagierte, fasst beide Religionen zunächst zusammen, wenn er feststellt, dass die grundlegenden Aussagen beider Religionen, was den Wert des menschlichen Lebens anbelangt, von 4
I. Greenberg, The Third Era of Jewish History: Power and Politics, in: Perspectives. A CLAL
5
Greenberg, Third Era, S. 9.
6
I. Greenberg, Cloud of Smoke, Pillar of Fire: Judaism, Christianity, and Modernity after the
Thesis, New York 1987, S. 1.
Holocaust, in: E. Fleischer (Hg.), Auschwitz: Beginning of a New Era? Reflections on the Holocaust, New York 1974, S. 7–55; I. Greenberg, Judaism and History: Historical Events and Religious Change, in: Shefa 2, 1 1979, S. 19–37; I. Greenberg, The Third Great Cycle of Jewish History; Voluntary Covenant; The Third Era of Jewish History: Power and Politics, in: Perspectives. A CLAL Thesis, New York 1987; I. Greenberg, Theology after the Shoah: The Transformation of the Core Paradigm, in: Modern Judaism, 26, 3 (Oct. 2006), S. 213–239 (URL: http:www.jstor.org/stable/3876368). Die meisten dieser und weitere Arbeiten sind abrufbar auf der Homepage: http://rabbiirvinggreenberg.com/
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der Tiefe des menschlichen Leidens in der Schoah widerlegt wurden. Die Rede von Gottes Liebe zum Menschen, wie vom höchsten Wert des menschlichen Lebens in beiden Religionen, muss nach dem Holocaust obszön klingen.7 Für das Judentum stellt Greenberg überdies fest, dass dessen Hinwendung zur Moderne seit der Aufklärung fraglich geworden sei, weil eben gerade der Holocaust ein Produkt dieser Moderne gewesen war, so deren Technologie, Bürokratie und anscheinend wertfreien Wissenschaft.8 Gleichermaßen in die Krise geraten ist aber auch die rabbinische Orthodoxie, die ihre Hoffnung auf einen rettenden Messias setzt und den Zionismus als Bedrängen des Endes verwirft.9 Manche Beobachter beklagen das immerhin teilweise Scheitern der zionistischen Lösung, da deren Möglichkeiten zur Rettung von Juden während der Schoah quantitativ zu gering waren und zeitlich zu spät gekommen seien. Außerdem seien zionistische Überlegenheitsgefühle und Unnachgiebigkeiten zu politischen Fehlkalkulationen und schwacher Prioritätenbildung geführt hätten – letzteres sagt Greenberg in seinem Aufsatz von 2006.10 Aber es sind nicht nur die christlichen Kirchen und die verschiedenen jüdischen Richtungen, die nach Greenbergs Auffassung versagt haben. Auch die »moderne Kultur« insgesamt muss sich kritische Fragen gefallen lassen. Dies insbesondere hinsichtlich der Werteentschränkung der Moderne, denn »Keine Bewertung der modernen Kultur kann die Tatsache ignorieren, dass die allgemein anerkannten Blüten der Moderne, nämlich Wissenschaft und Technologie, ihren Höhepunkt in den Todesfabriken gefunden haben. Das Bewusstsein, dass der unbegrenzte, wertfreie Einsatz des Wissens und der Wissenschaft, die wir als die große Kraft zur Verbesserung der menschlichen conditio wahrnehmen, den Weg für den bürokratischen und wissenschaftlichen Todes-Feldzug geebnet haben. Da ist der Schock, anerkennen zu müssen, dass die humanistische Revolution, die als die Befreiung der Menschheit schlechthin gefeiert wird, weil sie den Menschen von der jahrhundertelangen Abhängigkeit von Gott und Natur befreite, nun entlarvt ist, in ihrem innersten Kern die Fähigkeit für Tod und das dämonische Böse zu tragen.«11 Auch die sozialen Errungenschaften wie Liberalismus, Demokratie und Internationalismus haben sich als unfähig erwiesen, die Schoah zu verhindern und das Leben von vielen Menschen zu retten. Die Demokratien bombardierten die Bu-
7
Greenberg, Cloud of Smoke, S. 9–11.
8
Greenberg, Theology after the Shoah, in: Modern Judaism 26, 3 (Oct. 2006), S. 215.
9
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 216f.
10
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 217.
11
Greenberg, Cloud of Smoke, S. 15.
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na-Werke in Auschwitz, nicht aber die Todesfabriken, das Schicksal der jüdischen Opfer wurde als Schicksal ziviler Kriegsopfer universalisiert und damit neutralisiert, mit den entsprechenden Prioritätensetzungen der alliierten Kriegsgegner.12 Greenberg schreckt auch nicht davor zurück, dem weltweiten Judentum entsprechende Vorhaltungen zu machen. Viele jüdische Gemeinschaften hatten Furcht, ihre Stimme für ihre verfolgten Brüder und Schwestern zu erheben, weil sie Sorge hatten, sich dadurch dem Vorwurf der Illoyalität, und gegen die nationalen Interessen ihrer »Heimatländer« gerichtet zu sein, auszusetzen. Auch hier spielte das Bestreben, liberal, politisch gleichwürdig und integriert erscheinen zu wollen, eine Rolle, weshalb sich die jüdischen Organisationen und Individuen zurückhielten ihre Stimme zu erheben.13 Zusammenfassend heißt dies, selbst die besten und erhabensten Ideen gerieten in Verruf, wo sie sich unfähig erwiesen, gegen den Genozid etwas zu unternehmen. Das Resümee aus all dem ist: »wie wertvoll immer eine Philosophie erscheint, wie überzeugend und kohärent sie sich auch darstellt, wenn sie fähig ist, als Basis für das grenzenlos Böse zu dienen, dann muss sie in Frage gestellt, erschüttert und neu überdacht werden – sofern sie überhaupt überlebensfähig ist. Das Versagen, radikal zu kritisieren und umzustrukturieren, bedeutet nichts weniger als Kollaboration bei der Ermöglichung von Wiederholungen.«14 Es sind diese radikalen Folgerungen, die Greenberg nun vor allem auf das Judentum anwendet, den »ideologischen« Bereich, dem er sich in allererster Linie verantwortlich fühlt. In diesen Folgerungen sieht er die Rechtfertigung für seine im Folgenden zu beschreibenden Änderungsvorschläge zur Gestaltung des Judentums nach dem Holocaust und nach der eng mit ihm verflochtenen Gründung des jüdischen Staates.
4.
Die Unmöglichkeit neuer abgeschlossener Denksysteme
Der Zusammenbruch aller überkommenen Wertesysteme – inklusive des traditionell jüdischen – kann aber, so Greenberg, nicht bedeuten, dass an ihre Stelle 12
Greenberg, Cloud of Smoke, S. 17–19.
13
Greenberg, Cloud of Smoke, S. 19. Zu dieser Problematik s. z. B. D. S. Wyman, The Abandonment of the Jews. America and the Holocaust, With an Introduction by E. Wiesel, New York 1988; T. Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek 1995.
14
Greenberg, Cloud of Smoke, S. 20.
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einfach ein Neues, ein schlüssiges Gesamt-Konzept treten müsse oder könne. Dies ist ausgeschlossen, weil die Geschehnisse des Holocaust keine klaren Positionen erlauben, die Dinge sind menschlich viel zu verschlungen, als dass man aus ihnen eindeutige moralische Regeln ableiten könnte: »Der Holocaust stellt die Ansprüche aller Standards, die um des Menschen Zustimmung ringen, in Frage. Er gibt auch keine einfachen, klaren Antworten oder endgültige Lösungen. Zu beanspruchen, dass er dies tue, heißt, die [in den Krematorien von Auschwitz teilweise lebendig] verbrannten Kinder nicht ernst zu nehmen.«15 Um die Vieldeutigkeit, die Vielwertigkeit des Geschehens zu illustrieren, greift Greenberg auf eine viel zitierte Geschichte aus Elie Wiesels Trilogie Die Nacht zu begraben, Elischa16 zurück, sie berichtet von der seit ihrem zwölften Lebensjahr im KZ zur Prostitution gezwungenen Sarah. Das Kind wird von den deutschen Schergen sexuell missbraucht, woran das Kind neben Abscheu auch irgendwie Gefallen gefunden hatte. Sie selbst, die nach der Schoah in Paris noch als Prostituierte ihren Lebensunterhalt verdient, erzählt ihre Geschichte dem jungen Elischa in Paris, als sie ihm unentgeltlich ihre Dienste anbieten wollte. Der junge Elischa konnte, nachdem er all das gehört hatte, in ihr nur noch eine Heilige sehen. Seine Schlussfolgerung aus der Begegnung, die für Greenberg zentral wird, lautet: »Ich denke an sie und ich verwünsche mich, wie ich die Geschichte verwünsche, die das aus uns gemacht hat, was wir sind: Quellen der Verwünschung. Diese Geschichte verdient den Tod, die Vernichtung. Wer Sarah hört und nicht sein Leben ändert, wer in Sarahs Welt eindringt und sich keine neuen Götter, keine neuen Religionen schafft, verdient Tod und Vernichtung. Sie allein, Sarah, hatte Anrecht darauf, über Gut und Böse zu richten, das Wahre von dem zu unterscheiden, was sich das Antlitz des Wahren anmaßt.«17 Das Leben der kleinen Sarah, die auch noch nach dem Holocaust Prostituierte bleibt und sich dem jungen Elischa umsonst anbietet und auf dessen Drängen zugleich ihre Geschichte erzählt, woraufhin dieser sie zur Heiligen und einzig berechtigten Moral-Richterein ausruft, ist ein Dokument dafür, dass es hier keine eindeutigen und klaren moralischen Urteilsmaßstäbe geben kann. Der Betrachter 15
Greenberg, Cloud of Smoke, S. 22.
16
E. Wiesel, Die Nacht zu begraben, Frankfurt a. M./Berlin 1990, S. 354–373; Englisch: The
17
Wiesel, Die Nacht zu begraben, S. 365.
Accident, New York 1991.
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dieser Lebensgeschichte wird in seinem Urteil hin und her gerissen, er kann keine klare eindeutige Aussage machen. Das Resultat ist, einzig eine Dialektik zwischen Abscheu und Würdigung, ein ständiges Changieren, kann diesem Leben Gerechtigkeit widerfahren lassen: »Sarahs Leben als Prostituierte, nach den klassischen Begriffen von Religion und Moral negativ, erfährt eine kategorische Umkehr. Im Kontext ihres Lebens und ihrer fortgesetzten Antwort auf ihre Holocaust-Erfahrung ist es leidende Heiligkeit. Doch diese Geschichte gewährt uns keinen bequemen Sabbatianismus,18 nach welchem jede Tat, die sich hinter dem Holocaust bergen kann, gerechtfertigt wäre, so dass die alten Kategorien nicht mehr gälten. Die letztliche Spannung der Dialektik wird beibehalten, das heißt, der moralische Ekel, den Saras Leben in ihr (und in Wiesel? und in uns?) auslöst ist keinesfalls ausgeräumt. Je mehr wir die Geschichte analysieren, desto mehr wirft sie uns von einem Extrem zum anderen in unablässiger Spannung.«19 Diese Dialektik der Wertesetzung und des Urteils ist es, die Greenberg zum Leitmotiv seiner Vorschläge für eine sachgerechte künftige Gestaltung gerade auch des jüdischen Lebens nach der Schoah nimmt. Er sieht in dieser Einsicht in die grundlegende Dialektik des menschlichen Lebens und Verstehens geradezu eine neue Offenbarung – in welchem Sinne, wird im Folgenden noch deutlich werden müssen.
5.
Die Validität der modernen Orthodoxie vom Schlage Greenbergs
5.1
Das alte-neue orthodoxe Glaubensbekenntnis
Trotz der zum Teil sehr heftigen Kritik an den unterschiedlichsten Denksystemen und Theologien will Greenberg natürlich ein orthodoxer Jude – wenn auch der eigenen Definition entsprechend – bleiben. Das Credo dieses modernen orthodoxen Judentums formuliert Greenberg am Anfang seiner Programmbroschüre des CLAL:
18
Viele Nachfolger des Pseudomessias Schabtaj Zwi huldigten der Auffassung, dass nun in der messianischen Zeit das alte Gesetz aufgehoben und zum Teil geradezu umgekehrt ist. Vgl G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1967, S. 342. 344– 345.
19
Greenberg, Cloud of Smoke, S. 23.
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»Das Judentum ist ein Midrasch zur Geschichte. Seine grundlegende Aussage ist die, dass das menschliche Leben und die Geschichte ihre Wurzeln im Göttlichen (divine), der unendlichen Quelle des Lebens und des Guten, haben. Die Geschichte bewegt sich daher einer letzten Vollkommenheit entgegen. Am Ende wird das menschliche Leben erlöst sein und jeder Mensch wird seinen oder ihren vollkommensten Ausdruck erlangen als ein Geschöpf, das im Ebenbild Gottes erschaffen wurde. In diesem [künftigen] Zeitalter wird der unendliche Wert, die Gleichheit und Einzigartigkeit jedes Menschen von den sozio-ökonomischen Gegebenheiten der Welt getragen werden: Es wird keine Unterdrückung oder Ausbeutung mehr geben; es werden zur angemessenen Versorgung jedes einzelnen Lebens genügend Ressourcen zur Verfügung stehen. Die physischen, emotionalen und Beziehungs-Aspekte des Lebens jedes Einzelnen werden vollkommen sein. Das Judentum träumt davon, dass das Leben so weit gelangen wird, dass schließlich sogar die Krankheit und der Tod überwunden sein werden. Das Judentum ist der Überzeugung, dass diese unglaubliche Vollkommenheit in dieser irdischen Welt, in der Wirklichkeit der menschlichen Geschichte, erreicht werden wird. Gott, die höchste Quelle des Lebens und der Energie, hat dies verheißen. Als Gegenleistung haben sich die Juden verpflichtet, ihr Leben im Gehorsam gegenüber dem göttlichen Auftrag und als Zeugen für die verheißene Vollendung zu führen. Diese gegenseitige Verpflichtung bildet den Bund des jüdischen Volkes.«20 Es war nötig, dieses sehr traditionelle Credo, das zweifellos Elemente des 19. Jahrhunderts von der Aufwärtsentwicklung der Menschheit hin zum messianischen Zeitalter enthält,21 hier in ganzer Länge aufzunehmen, um anzuzeigen, in welchem Kontrast dieses sehr traditionelle Bekenntnis Greenbergs zu seinen kritischen Bemerkungen bezüglich der überkommenen Denksystemen steht. Noch viel mehr stellt sich angesichts dieser Verheißungszuversicht und der Hoffnung auf die stete Weiterentwicklung der Menschheit die Frage, wie sich dies mit den offenbar verheerenden Rückschritten und der erschütterten Glaubhaftigkeit der göttlichen Verheißungen in Einklang bringen lässt. Diese Überbrückung zwischen eingetretener Enttäuschung und dennoch festzuhaltender Hoffnung zu leisten, muss deshalb die im Folgenden zu beschreibende Aufgabe des orthodoxen Rabbiners Greenberg sein.
20
Greenberg, The Third Great Cycle of Jewish History, S. 1.
21
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3. S. 646–649.
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5.1.1 Die Auflösung des Konfliktes zwischen orthodoxem Credo und der Wirklichkeit Zur Lösung des Konfliktes zwischen dem oben zitierten »orthodoxen« Glaubensbekenntnis Greenbergs mit den beiden so widersprüchlichen Geschehnissen seiner Zeit, der Schoah und der Staatsgründung Israels, die beide überkommene orthodoxe Glaubensvorstellungen in Frage stellen, griff Greenberg zu einer Reihe von kategorial sehr unterschiedlichen strategischen Konzepten, die er im Laufe seiner Publikationstätigkeit nacheinander entwickelte. Das erste Konzept stellt die Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung und Geschichte (die dogmatische Lösung), das zweite die Frage, was denn der »Glaube« sei, wie und was man glauben kann (dies ist die: anthropologisch-fideistische Lösung). Später wurde diese letztere Konzeption durch eine ontologisch-epistemologische Erklärung ersetzt oder ergänzt (die ontologisch-epistemologische Lösung), und zuallerletzt bot Greenberg eine umfassende religionsgeschichtlich-historiosophisch-theologische Lösung an, wonach die jüdische Geschichte und Religionsgeschichte in drei unterschiedliche Epochen (zwei vergangene und eine gerade beginnende) zerfällt, in denen je unterschiedliche Entwicklungen stattfanden oder noch stattfinden müssen, aus denen sich die genannten Widersprüche erklären und überbrücken lassen (die historiosophisch-theologische Lösung).
5.1.2 Offenbarung in der Geschichte – die dogmatische Lösung Wie Emil Fackenheim stellt auch Irving Greenberg die Frage, ob es denn nach der einmaligen und gewöhnlich vom orthodoxen Judentum als endgültigen und einzigen erachteten Offenbarung am Sinai noch weitere Offenbarungen in der Geschichte gegeben habe. Eine Antwort auf diese Frage gewinnt Greenberg nun gerade aus einer genaueren Betrachtung, oder Deutung, der traditionellen Offenbarung am Sinai samt dem Exodus-Geschehen. Dazu stellt er fest, dass diese beiden Ereignisse zeigt, dass dieser Gott sich gerade innerhalb der Geschichte, in einem geschichtlichen Ereignis, offenbart und dass darum die Geschichte auch für den Sinaibund zentrale Bedeutung hat (history is meaningful). Und so wie die erste Erlösung im Exodus ein Ereignis in der Geschichte war, so werde auch die endgültige Erlösung durch den Messias ein Geschehen in der Geschichte sein. Das Bewusstsein der Geschichtlichkeit der Offenbarung Gottes als Erlöser sei im Judentum so elementar gewesen, dass selbst die mächtigen Spiritualisierungstendenzen bezüglich der Erlösungserwartung in der Antike und im Mittelalter22 die geschichtliche messianische Erlösungshoffnung nicht zu verdrängen vermochte. 22
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 202–205. 263–272. 414–418. 424–430. 471–478. 521–525. 583–584; Bd. 2, S. 22. 103. 112. 755. 626–627.
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Klammert man die Geschichte aus dem Offenbarungsverständnis aus, so Greenberg, isoliert man das Exodus-Sinai Geschehen von dem widersprechenden Weltgeschehen und damit von der Realität. Die Alternative zu dieser Trennung von Offenbarung und Lebensrealität beschreibt Greenberg auf diese Weise: »Es gibt eine Alternative für diejenigen, deren Glaube das Dämonische, die vernichtenden Flammen des Krematoriums zu durchschreiten vermag, nämlich die Bereitschaft und die Fähigkeit, weitere Offenbarungen zu vernehmen und sich neu zu orientieren. Das ist der Weg zur Vollkommenheit. Rabbi Nachman von Bratzlaw sagte einst: Es gibt kein so vollkommenes Herz wie ein gebrochenes Herz. Nach Auschwitz gibt es keinen vollkommeneren Glauben, als den in den Öfen erschütterten – und wieder-aufgeschmolzenen Glauben.«23 Dass auch die antiken Rabbinen die Bedeutung der Geschichte als Ort der Offenbarung und als Schmelztiegel des Glaubens verstanden haben, zeigt sich an ihrer Restrukturierung der altbiblisch-jüdischen Religion zur neuen rabbinischjüdischen Religion nach der verheerenden Zerstörung des Zweiten Tempels und der mit ihm verbundenen religiösen Strukturen und Vorstellungen – ihre Details werden unten bei der Darstellung der »historiosophisch-theologische Lösung« Greenbergs zu skizzieren sein. Das Beispiel der Restrukturierung der jüdischen Religion durch die Rabbinen nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, zu der damals auch die Verkündigung des Endes der Prophetie gehörte,24 und statt ihrer die Einsetzung des rabbinischen Diskurses über die Aussagen der Offenbarung zeigt, dass die alte biblische Offenbarung durch einen Offenbarungsschrei der Geschichte zu neuem Verstehen, neuer Offenbarung führte. Die damals in der biblischen Offenbarung wahrgenommenen Widersprüche erschienen nunmehr durch die Neudeutung der alten Texte als Widersprüche innerhalb einer überwundenen Stufe der Offenbarung, die dank des neuen Verstehens nunmehr aufgehoben sind. Neues Verstehen räumt die Widersprüche des unvollkommenen älteren Verstehens aus. Das alte Dogma wurde einer Revision unterzogen.
5.1.3 Die fideistische Lösung – Augenblicke des Glaubens Nach seiner Erörterung des Versagens der überkommenen Denksysteme hatte Greenberg am Beispiel der im KZ zur Prostitution gezwungenen kleinen Sarah gezeigt, dass durch die Geschehnisse der Schoah auch die Möglichkeit für einen
23
Greenberg, Cloud of Smoke, S. 24.
24
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 172. 227–234.
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eindeutigen Wertekanon erschüttert war und alleine die Wahrnehmung und Einbeziehung oft gegensätzlicher Pole der menschlich-irdischen Wirklichkeit gerecht werden können. Erst das Hin und Her zwischen den widersprüchlichen Extremen, Verwerfung und Verstehen, für das es keinen Kompromiss geben kann, ermöglicht ein auch nur annäherungsweise adäquates Umgehen mit dieser Wirklichkeit. Nur eine solche dynamische Dialektik kann der Wirklichkeit gerecht werden. Diese Erkenntnis der Notwendigkeit einer Dialektik überträgt Greenberg schließlich auch auf den Glaubensbegriff. Der Glaube ist für ihn nunmehr keine Konstante, auf die man sich stets verlassen kann, die von keiner Anfechtung aus dem Gleis geworfen werden könnte, sondern der Glaube ist, wie das moralische Wertesystem, einer Dialektik ausgesetzt, die zwischen Glaube und Unglaube schwankt. Es gibt Momente, oder Augenblicke des Glaubens, denen alsbald solche des Unglaubens, der Verzweiflung am Glauben folgen – der Holocaust ist ein Geschehen, der solche Phasen des Unglaubens erzeugt und erzeugen musste. Andrerseits gab es Menschen, die auch da und trotzdem an ihrem Glauben festhielten. Ein solcher Glaube ist nicht der Glaube an dogmatische Aussagen, sondern der Glaube, den das hebräische Wort Emuna zuallererst meint, nämlich das Vertrauen in das von Gott betreute Leben: »Dies zeigt: Der Glaube ist eine gelebte Antwort der gesamten Person auf die Gegenwart [Gottes] im Leben und in der Geschichte. Und wie das Leben selbst, wogt diese Antwort in steter Ebbe und Flut. Der Unterschied zwischen einem Skeptiker und einem Gläubigen ist nur die Häufigkeit, die Frequenz der Glaubensmomente, nicht die Gewissheit der Position. Die Zurückweisung des Ungläubigen durch den Gläubigen ist nichts anderes als die Verleugnung oder der Versuch der Unterdrückung von etwas, das in einem selbst [dem Gläubigen] vorhanden ist. Die Fähigkeit mit einem solchen AugenblicksGlauben zu leben, ist die Fähigkeit mit einem Pluralismus zu leben, ohne die selbstgefälligen, ethnozentrischen Lösungen, welche die Religion verkrümmen und zur Quelle von Hass der Anderen führt.«25 Das alles bedeutet: Der Glaube stellt sich auf die Geschehnisse der Geschichte ein, er trotzt ihnen nicht, sondern er schreitet mit ihnen durch die Tiefen und mag dann irgendwann wieder das Licht erblicken. Diese Auffassung von der schwankenden Natur des Glaubens als einer ontologischen Unausweichlichkeit ist es, die Greenberg zu seinen unerwarteten praktischen und konkreten Reformvorschlägen für die neue jüdische Gegenwart und Zukunft führen, wie sie später noch gezeigt werden sollen. 25
Greenberg, Cloud of Smoke, S. 27.
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5.1.4 Die ontologisch-epistemologische Lösung – die Gebrochenheit der Erkenntnis In seinem 2006 veröffentlichten Aufsatz »Theology after the Shoah: The Transformation of the Core Paradigm« widerrief Greenberg sein bis dahin gültiges Konzept der Glaubens-Augenblicke vollkommen. Er sagte jetzt: »Rückblickend ist jenes Konzept von der Natur der Wahrheit und des Glaubens falsch; diese Deutung lässt die Einsicht in die volle Sprengkraft des Holocaust vermissen, das heißt, es bezieht das Paradigma der Gebrochenheit nicht ein. Jegliche Wahrheit ist Augenblickswahrheit, sie wird es bleiben bis der Messias kommt, solange die Welt mangelhaft und fragmentiert ist.«26 Das bedeutet, Greenberg geht nun von einer grundsätzlichen Gebrochenheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit durch die Schoah aus. Der durch die Schoah entstandene Bruch ist ein Bruch der Erkenntnisfähigkeit und –möglichkeit des Menschen. Es gibt demnach auch keine Augenblicke des Glaubens im Sinne der Erfassung der ganzen Wahrheit oder der göttlichen Präsenz. Selbst die Erkenntnis der Wahrheit des Glaubens ist eine gebrochene. Der Gläubige mag beständig im Glauben sein, was er dabei aber in der Hand hält ist nicht die volle Wahrheit, sondern der Blick durch ein zerbrochenes Fenster. Das nicht mehr wieder hinwegzudenkende Brecheisen für die menschliche Erkenntnis ist der Holocaust, der fortan für Greenberg zum »Prüfstein« jeglicher menschlichen Erkenntnis werden muss. An ihm muss sich künftig jegliche Aussage über die Welt, über den Menschen, die Wahrheit und die Religion messen lassen: »Wenn der Holocaust als Prüfstein anerkannt wird, dann ist die Prüfung der Gültigkeit von Theologien nicht mehr nur eine Prüfung von deren intellektueller und moralischer Stimmigkeit, sondern die Prüfung, ob die gemachte Aussage angesichts des Holocaust oder im Lichte seiner Auswirkungen (implications) glaubhaft ist. (Zum Beispiel die Annahme, dass die Religion auf der grundsätzlichen Güte der menschlichen Natur begründet sei, oder dass Krankheit und Leiden dem Menschen von der Vorsehung wegen seiner Sünden auferlegt worden seien – all dies sind Auffassungen, deren Gültigkeit im Lichte der Schoah weniger leicht aufrecht zu erhalten sein werden.) Zugleich führt die Konfrontation mit diesem Geschehen zu einer Transformation der Kategorien, welche die religiösen Antworten beurteilen und begründen. Diese radikalere (Wurzel-) Reaktion [auf die Schoah] ist die Anerkenntnis des
26
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 227.
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massiven Gewichts dieses Geschehens und der Tatsache, dass es, je weiter man es überblickt, viele fundamentale allseits anerkannte Weltanschauungen des Judentums wie der modernen Kultur erschütterte.«27 Mit anderen Worten: Das Geschehen in der Schoah muss nach der Auffassung von Greenberg »nicht weniger als frühere große Tragödien wie die Zerstörung des Zweiten Tempels ein Beschleuniger / Katalysator für die Neugestaltung der Auffassung von Religion und Metaphysik sein.«28 Hier ist aus dem Bewusstsein der Zerstörung durch die Schoah die Folgerung zur Reformulierung gerade auch jüdischer Auffassungen und Gegebenheiten gezogen, die Greenberg in seiner im Folgenden noch darzustellenden historiosophischen Darstellung gibt. Die neue Erkenntnis von der Gebrochenheit aller menschlichen Wahrheit, auch der Wahrheit des religiösen Glaubens und aller ethischen Wertesysteme, führt mithin zur Relativierung aller menschlichen Normen und Wertesysteme und Wertekategorien. Bezogen auf das Judentum präzisiert Greenberg diese Relativierung und Gebrochenheit in drei zum Teil schon oben erwähnten Punkten: Erstens hat der Holocaust die nachemanzipatorische Aufklärungs- und Modernitätsgläubigkeit des Judentums erschüttert, weil eben der Holocaust gerade durch die Errungenschaften der Moderne, ihrer Technologie und Bürokratie, ihrer »wertefreien« Wissenschaften und ihres Universalismus, ermöglicht wurde. Greenberg zitiert dazu ein Resümee von Alexander Donat: »Die osteuropäischen Juden blickten nach Berlin als dem Symbol von Gesetz, Ordnung und (moderner) Kultur … Wir sind unserem modernen Glauben an die Menschheit zum Opfer gefallen, unserem Glauben, dass der Humanismus der Erniedrigung und Verfolgung der Mitmenschen Grenzen gesetzt hätte.«29 Zum Zweiten hat die Schoah gleichermaßen das klassische und traditionelle Paradigma der rabbinischen Orthodoxie erschüttert, nämlich dass man als Jude geduldig auf die Erlösung durch einen wundertätigen Messias warten müsse, eine Auffassung, welche den Zionismus als Bestürmung der Tore der Erlösung ablehnte.30 Dieser Auffassung galt politische und militärische Macht als Gojim Naches, das heißt Dinge, welch die Gojim erfreuen, während die Juden sich auf ihren rettenden Gott verlassen könnten.
27
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 214.
28
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 214.
29
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 216, nach. A. Donat, The Holocaust Kingdom, New
30
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 216.
York 1978, S. 103.
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Zum Dritten hat auch der Zionismus, wie oben schon vermerkt, nicht alle Erwartungen erfüllen können. Nachdem Greenberg die Verluste durch das Zerbrechen der menschlichen Erkenntnissysteme beschrieben hat, zeigt er auf der anderen Seite, dass die Anerkenntnis dieser Gebrochenheit unabdingbar ist und dass sie als einzige eine positive Entwicklung der Menschheit in der Zukunft ermöglicht. Es war nach seiner Auffassung gerade die angenommene Ungebrochenheit, der Glaube an die Vollkommenheit der eigenen Denksysteme, welche den Holocaust ermöglicht hat. Nur wer an die völlige Wahrheit der eigenen Systeme und Auffassungen glaubt, ist imstande andere Meinungen und andere Menschen zu unterdrücken und auszuschalten. Allein solche absolutistischen Auffassungen erzeugen totalitäre Herrschaftssysteme und dies ist – in Greenbergs theologischer Terminologie – »Götzendienst«: »Durch die Errichtung grenzenloser Autoritäten und des Erlassens von absoluten Befehlen, wie sie den Krieg der Nazis gegen die Juden beherrschten, überschritt der Nazismus eine Linie und wurde zum Götzendienst.«31 Daraus folgert Greenberg, dass alle menschliche Autorität »gebrochen« sein müsse und in mehrere Hände verteilt werden muss. Es war der Mangel an Grenz-Setzung, der die Naziherrschaft die Grenzen überschreiten und die Setzung der eigenen Auffassung als eine künftige »Weltordnung« verherrlichen ließ, die alles ermöglichte, selbst den Mord an Kindern. Die daraus zu ziehende Folgerung ist, »dass jeder, der künftig etwas dem Holocaust ähnelnden verhindern möchte, daran arbeiten muss, allen Ideen, Werten und Mächten, die Absolutheit beanspruchen, Grenzen zu setzen.«32 Die Gebrochenheit der Welt, sprich der menschlichen Welterkenntnis, wird für Greenberg zum umfassenden Konzept der Weltgestaltung. Er verweist dabei natürlich – wie auch Emil Fackenheim33 – auf die lurianische Lehre vom Bruch der Gefäße und der menschlichen Aufgabe zum Tikkun (Wiederherstellung).34 Die wesentliche Erkenntnis aus diesem Verweis auf die Kabbala liegt für Greenberg darin, dass der Mensch die Aufgabe zur »Wiederherstellung«, zur »Ordnung« (beides bedeutet das hebräische Tikkun) nur dann angehen kann, wenn er zuvor die Tatsache der Gebrochenheit der Welt erkennt und anerkennt. Übertragen von der lurianischen Kosmologie in die ontologische Erkenntnislehre Greenbergs, bedeutet dies eben, dass man die Relativität aller menschlichen Konzepte anerkennen muss. Erst von dieser Anerkenntnis ausgehend, kann man sich dem Tikkun widmen. Zu diesem gehört nach all dem schon Gesagten: Die
31
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 218.
32
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 219.
33
Siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, III, 6.6.
34
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 220; und siehe zu Lurjas Lehre Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 638–657.
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Anerkennung der Grenzen auch der eigenen Konzepte und die Akzeptanz anderer. Dies führt zu einer Pluralität und zur demokratischen Teilung der Macht – also dem absoluten Gegenteil zur Gleichschaltung, welche das Geheimnis des nazideutschen Machtapparates war.35 Diese Lehren bezieht Greenberg nun gleichermaßen auf die innerjüdischen Fraktionen, Orthodoxie, Conservative, oder Reform,36 wie auch auf die muslimische Welt, in welcher der Dschihadismus absolutistische Ansprüche vertritt.37 Für die innerjüdische Debatte besonders schmerzlich ist die Mahnung an die jüdischen Mitbrüder und Schwestern, nicht despektierlich vom Christentum zu denken, was in liberalen wie in orthodoxen Kreisen noch zu finden sei.38 Heftig ist auch Greenbergs Kritik an den Orthodoxen in Israel, welche in ihrer »Ungebrochenheit« christliche Missionare attackieren und arabisches Leben für minderwertig erachten und die hinsichtlich der Landansprüche im Heiligen Land unnachgiebig sind39 – er nennt eigens, scharf verurteilend, den radikalen Nationalisten Rabbi Meir Kahane.40 Resümierend sagt Greenberg: »Pluralismus ist das Zusammenleben von absoluten Wahrheiten / Glaubensweisen / Systemen, die ihre eigene Begrenzung erkannt und akzeptiert haben und so Raum für die Würde und die Wahrheit der anderen schaffen. Diese gebrochene Wahrheit ist die Zukunft der Wahrheit in einer gebrochenen Welt. Rav Nachman von Bratzlaw schrieb dereinst, dass es kein vollkommeneres Herz gibt als das gebrochene. Nach der Schoah wird die Welt erkennen müssen, dass es keine so vollkommene Wahrheit gibt wie die gebrochene Wahrheit.«41
35
Vgl. Greenberg, Theology after the Shoah, S. 221–222.
36
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 221.
37
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 223.
38
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 226.
39
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 226.
40
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 231. Greenberg nennt dazu folgende Schriften Kahanes auf: M. Kahane, Never Again! A Project for Survival, Los Angeles 1971; ders., They Must Go, New York 1981; ders., Israel: Revolution or Referendum, Secaucus N. J. 1990; über Kahane s. A. Ravitzki, The Roots of Kahanism: Consciousness and Political Reality, Jerusalem Quarterly 39 (1986), S. 90–108.
41
Greenberg, Theology after the Shoah, S. 231–232.
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5.1.5 Die historiosophisch-theologische Lösung – die drei Epochen der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens 5.1.5.1 Offenbarung und Geschichte – der Exodus als Lebensmodell Die Grundlage für das historiosophische Drei-Epochen-Modell Greenbergs ist die an Martin Buber und Emil Fackenheim angelehnte Offenbarungslehre,42 nach welcher Offenbarung und Geschichte aufs engste miteinander verbunden sind, ja mehr, Offenbarung geschieht stets an der Geschichte, durch die Geschichte und ist somit auch von deren Empfänger und Deuter, dem Menschen, abhängig, oder ihm zum Verständnis anheimgestellt. Die Betonung der Geschichte bedeutet zugleich, dass wie für die beiden genannten Autoren auch für Greenberg das Exodusgeschehen – nicht der Sinai – in den Mittelpunkt der Offenbarungslehre rückt: »Der Exodus wurde die zentrale, normative Orientierungserfahrung der jüdischen Tradition. Der Exodus wurde nicht als einmaliges Geschehen verstanden, sondern als Norm, durch welche das gesamte Leben und jegliche andere Erfahrung beurteilt und ausgerichtet werden kann. Er wurde zum Interpretationsschlüssel, durch den alle Geschehnisse verstanden werden. […] er ist der letztgültige Prüfstein allen Geschehens.«43 Der Exodus ist für Greenberg ein »Modell«, ein Orientierungsmodell. Als solches setzt es eine alternative Konzeption von der Welt. Das heißt: Die Welt ist auf Erlösung ausgerichtet, allerdings eine Erlösung, die in der Geschichte stattfindet. Zugleich aber ist diese Erlösung in einer Spannung befindlich, weil sie vorläufig und nie vollkommen ist, also das Böse nicht aus der Welt verschwinden lässt und andrerseits den jeweiligen status quo der Welt herausfordert und diesen nicht als endgültigen moralischen Wert erachtet, weil die vollkommene Erlösung ja noch aussteht. Das Exodusmodell ist das Modell der Spannung zwischen Realität und Ideal und weist so die Richtung zur endgültigen Vollkommenheit, schenkt die Hoffnung auf Erlösung aus der je anstehenden tragischen Situation.44 Es ist ein Modell der Erlösung, das als Hoffnung gebendes die Überwindung historischer und menschlicher Tragödien ermöglicht.
42
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, II, 5.2.
43
I. Greenberg, Judaism and History: Historical Events and Religious Change, in: ders., Judaism and History: Historical Events and Religious Change. Ancient Roots and Modern Meaning: A Contemporary Reader in Jewish Identity, ed. Jerry V. Diller. New York: Bloch Publishing, 1978. 139–162; hier S. 140; auch: http://rabbiirvinggreenberg.com/writing/scholarly-articles/
44
Greenberg, Judaism and History, S. 140–141. 146.
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5.1.5.2 Die theologische Deutung als komplementäres Lebensmodell Natürlich weiß Greenberg, dass der Geduldsfaden der menschlichen Hoffnung auf Erlösung auch einmal brüchig werden und reißen kann. Um diese Klippe zu überwinden, tritt neben das Exodus-Modell das theologische Interpretations-Modell. Dieses besagt, dass im Falle der Unbegreiflichkeit des Ausbleibens des göttlichen Erlösungshandelns und des Versagens des Exodus-Modells, das heißt der die Tragödie überwindenden Hoffnung, das Problem offenbar in einem falschen Gottesbegriff des Menschen liegt. Der Mensch hatte offenbar falsche Erwartungen an diesen seinen Gott, weshalb es geboten ist, dass er seine Gottesvorstellung ändert: »Die zweite wesentliche Strategie der jüdischen Religion, mit der Tragödie fertig zu werden, war, zu behaupten, dass das Verständnis von der Natur Gottes oder der Erlösung fehlerhaft war. Aber im Licht der Tragödie entsteht das neue Verständnis.«45 Als Beispiel für einen solchen Vorgang der Neudeutung des Gottesbegriffs und von der zu erwartenden Erlösung führt Greenberg wie Fackenheim die theologischen Neudeutungen durch das rabbinische Judentum nach der Zerstörung des Zweiten Tempels und die Kabbala nach der Vertreibung der Juden aus der iberischen Halbinsel an. Was dazu im Einzelnen hinzugehört, soll später noch dargestellt werden. Das für Greenberg zentrale Element dieser stets voranschreitenden Neudeutung der Gottesvorstellung soll hier schon vorweggenommen werden: Es ist ein zunehmender Rückzug der Gottheit aus der offenen Weltbühne in die Verborgenheit. Komplementär zum göttlichen Rückzug gehört dann die entsprechend zunehmende Selbstverantwortung des Menschen für seine »Erlösung«. Rückzug Gottes bedeutet mehr Verantwortlichkeit seitens des Menschen.46 Mit der letzten Bemerkung zur gesteigerten »Selbstverantwortung des Menschen« als Komplementärbegriff zur Gottesvorstellung ist zugleich ein weiterer für Greenberg wichtiger Gedanke verbunden. Da die Erlösung in der Geschichte stattfinden soll, ist sie immer auch eng nicht nur mit den eingetretenen geschichtlichen Ereignissen verbunden, sondern ebenso mit der menschlichen Gesellschaft, die erlöst werden soll. Das bedeutet, nach Auffassung von Greenberg sind die Geschichte, die Theologie, die Gestaltung der gesellschaftlichen Institutionen und die dort agierenden Führungs-Kader, eng miteinander verwoben.47 Mit ande-
45
Greenberg, Judaism and History, S. 146.
46
Zu den analogen Positionen von Berkovits und Jonas siehe unten.
47
Greenberg, The Third Great Cycle of Jewish History, S. 2. 1.
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ren Worten, die Theologie ist aufs engste mit der Soziologie verwachsen. Wo das eine sich verändert, hat dies auch Folgen für das andere. Nachdem diese Grundsäulen des historisch-theosophischen Denkens der Greenbergschen Geschichtskonzeption skizziert sind, kann nun sein dreistufiges Gesamtkonzept vorgestellt werden. 5.1.5.3 Die drei Epochen der jüdischen Geschichte und des jüdischen Denkens Eine systematische Vorstellung seines dreistufigen Geschichtsbildes gibt Greenberg in seinem programmatischen Aufsatz »The Third Great Cycle of Jewish History«. Diese drei geschichtlichen Epochen sind die »biblische Epoche«, die »rabbinische Epoche« und die »Dritte Epoche«, welche nach der Schoah und der Begründung des Staates Israel begonnen hat. In seiner Darstellung der drei Epochen hat Greenberg natürlich vor allem die dritte Epoche im Blick, denn diese muss erst gestaltet werden. Und gerade die Faktoren welche für diese Neugestaltung entscheidend sind, werden auch in den beiden voraufgegangenen Epochen aufgesucht – dies ist Geschichtsschreibung im Interesse der Zukunftsgestaltung. Nach den hier vorangestellten Erörterungen zu den beiden Modellen dieser Geschichtskonzeption beschreibt Greenberg für jede der drei Epochen die folgenden Faktoren: 1. Das die Epoche einleitende und charakterisierende historische Ereignis – das zugleich als Offenbarungsträger verstanden wird. 2. Die Gottesvorstellung. 3. Das entsprechende Menschenbild. 4. Die für die Epoche entscheidenden Führungspersonen und deren Funktionen. 5. Das Medium der »offenbarenden« Belehrung, das heißt die »Heiligen Schriften«. 5.1.5.3. I. Die biblische Epoche Die biblische Epoche wurde, nach dem eigenen biblischen Verständnis, mit dem Exodus eingeleitet. Er ist »die Befreiung der hebräischen Sklaven aus der ägyptischen Gefangenschaft.« Die Lehre aus dieser Befreiung ist, dass »es einen Erlöser-Gott« gibt und dass die menschliche Macht nicht absolut, sondern begrenzt ist, es also nicht »erlaubt sein wird, Menschen ohne Ende zu unterdrücken und dass Freiheit und Würde die angestammten Rechte jedes Einzelnen sind. Und dass dies in der messianischen Zeit, zum Ende der Geschichte universal gültig sein wird.«48 Hinzu kommt, dass diese oberste Macht, die sich um die Menschheit kümmert, in ihrem Bund den Menschen auf ihre Gebote verpflichtet.49
48
Greenberg, The Third Great Cycle of Jewish History, S. 1.
49
Greenberg, The Third Great Cycle of Jewish History, S. 2.
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Hinsichtlich Gottes ist in der Bibel zu erkennen, dass er in hohem Maße in die irdischen Geschehnisse eingreift, belohnt und straft, je nach dem Verhalten der Menschen.50 Da das alte Israel ein irdischer Staat war, gab es Könige und deren Führungspersonal, welche die Souveränität des Volkes verteidigten, was allerdings zu Konflikten mit den Bundesverpflichtungen führte. In solchen Konfliktfällen traten andere Führungspersönlichkeiten auf, nämlich die Propheten. Eine weitere Gruppe war die Priesterschaft, welche die kultischen Interessen des Bundes vertrat. »Die Dialektik von Macht und Bundes-Werten wurde in der Konfrontation zwischen den Propheten und den Königen ausgetragen wie auch die Notwendigkeit der Legitimierung und religiösen Führung Könige, Priester und Hofpropheten vereinte.«51 5.1.5.3. II. Die rabbinische Epoche Das eigentliche Lehrstück zur Anwendung der oben genannten beiden Grundmodelle (Exodus und theologische Deutung) zum Verstehen von Geschichte und Theologie, ist die Zerstörung des Zweiten Tempels.52 Diese Katastrophe stellte in bis dahin ungekannter Weise die Frage nach der rettenden Präsenz der Gottheit. Viele Juden haben daraus den Schluss zogen, der Gott Israels habe seinem Volk nicht beistehen wollen oder können und haben deshalb das Judentum verlassen – hin zum Christentum und Hellenismus –, oder sind wegen ihrer rückwärtsgewandten Restaurationsversuche (Wiedererrichtung des Tempels) schließlich untergegangen (die Sadduzäer). Einzig die rabbinischen Gelehrten zogen daraus den Schluss, welcher das Judentum schließlich rettete. Der Schluss war, dass das Judentum neu definiert, die alten Auffassungen revidiert und neue Wege des Gottverstehens gesucht werden müssen. Die erste wichtige Veränderung geschah im Gottesbild. Man verstand nun, dass die Gottheit sich in die Verborgenheit zurückgezogen habe und sie in der Welt nicht mehr sichtbar eingriff, sondern nur als Schechina,53 als Einwohnung, präsent sei. Dieser Rückzug Gottes sollte sich auch in der Kommunikationsweise Gottes mit seiner Welt auswirken: Propheten, die im Namen Gottes dessen Willen verkündeten, sollte es nun nicht mehr geben. Die Rabbinen verkündeten das
50
Greenberg, The Third Great Cycle of Jewish History, S. 3.
51
Greenberg, The Third Great Cycle of Jewish History, S. 3; dazu vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 77–98. Zu diesen und den folgenden Amtsträgern, S. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 31–32. 65–102.
52
Zum Folgenden s. Greenberg, Judaism and History, S. 152–154, und Greenberg, The Third
53
Dazu s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 253–257.
Cycle, S. 4–6.
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Ende der Prophetie.54 Stattdessen wurde die Frage nach dem Willen Gottes den Menschen selbst übertragen, in die Hände der gelehrten Rabbinen, die im Diskussionswiderstreit den Willen Gottes aus den Schriften zu erkunden suchten. Ja eine himmlische Intervention in Sachen der Halacha-Entscheidung, wurde nach der berühmten Episode mit Rabbi Elieser ausdrücklich zurückgewiesen und festgestellt, die Tora ist nicht im Himmel, sondern hier auf Erden in den Händen der Menschen.55 Um diesen neuen Zugang zu Gottes Wort zu stärken, haben die Rabbinen das Studium der Tora, die Auslegung ihrer Texte, zum Zentrum der jüdischen Religion gemacht. Die Synagoge wurde zum Bet Midrasch, dem Haus der Erforschung der Tora. Überhaupt trat nun die Synagoge als der zentrale Gottesdienstort an die Stelle des Tempels, das Gebet ersetzte das Opfer.56 All dies sind Zeichen für die neue Sicht der Gottheit, als mehr zurückgezogene, auf der Erde nicht mehr direkt einschreitende. Greenberg deutet all diese Veränderungen durch das rabbinische Judentum als eine Art »Säkularisierung«, wie ja auch die Rabbinen ein säkularer Stand sind, der sich aus dem Volk rekrutiert und nicht aus den heiligen Priestergeschlechtern, denen in biblischer Zeit die Mittlerrolle zwischen Gott und Mensch auferlegt war.57 Ja, die Rabbinen gingen sogar so weit, zu sagen, dass Israel und der einzelne Jude durch ihre religiöse Aktivität zu Partnern Gottes wurden, wie dies im wöchentlichen Segen zum Schabbat ausgesprochen wird: »Wer am Schabbat-Abend betet und das wajechullu (vollendet wurden Himmel und Erde, Gen 2,1) singt, wird, als ob er ein Partner des Heiligen, Er sei gesegnet, in der Erschaffung der Schöpfung würde.«58 Dem Menschen ist dadurch ein höheres Maß an Verantwortung auferlegt, als dies die Bibel kannte, nicht nur in der Entscheidung des Tora-Rechtes, sondern auch zur Beförderung seiner Erlösung. Paradigmatisch für diese Veränderung und die Möglichkeit oder gar Verpflichtung an der eigenen Erlösung zu arbeiten, ist Greenberg das biblische Esther-Buch. Gottes Name wird in diesem Buch nicht genannt, während die Rettung Israels ganz in den Händen der beiden Juden, der Königin Esther und ihres Pflegevaters Mordechai lag.59 Dies ist alles in allem eine Neudeutung des Judentums auf all jenen oben genannten Ebenen. – Natürlich lehnt sich Greenberg bei all dem an die historisch und religionsgeschichtlich bestätigten Fakten an. Aber im Sinne seiner Schlussfolgerungen für die eigene Gegenwart und Zukunft geschehen dabei doch eine Reihe von homiletischen Vereinfachungen und Verkürzungen, ganz in dem von
54
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 231.
55
Zu dieser Szene siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 231–232.
56
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 141–147.221–234.
57
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 4–5.
58
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 5.
59
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 6.
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ihm schon genannten Prinzip: »Das Judentum ist ein Midrasch zur Geschichte.«60 Und wie es Ziel und Aufgabe eines solchen Midrasch schon immer war, sollen daraus Konsequenzen für die eigene Gegenwart gezogen werden. Dies tut Greenberg in seiner Projektion der »Dritten Epoche«. 5.1.5.3. III. Die »Dritte Epoche« – nach Schoah und Staatsgründung Israels Die dritte Epoche in der jüdischen Geschichte und im jüdischen Denken hatte mit der Emanzipation der Juden einen ersten Anlauf genommen. Alte jüdische Lebensformen und -ideale wurden durch westliche ersetzt, Liberalismus, Sozialismus, Revolution, Rationalismus und Evolutionsvorstellungen. Im Ansatz zeigten sich neue, nichtrabbinische, Führergestalten, die Erlösung wurde von den Zionisten in die eigenen Hände genommen und das Reformjudentum hatte mit der »Pittsburgh Platform« das rabbinische Judentum mitsamt seinem Verständnis des Judentums als »Volk Israel« verabschiedet. Aber diese Anfänge einer neuen Epoche wurden durch den Holocaust hinweggeschwemmt und zwar, weil eine spezifische Grundbedingung des jüdischen Lebens sich durch die Emanzipation nicht verändert hatte, nämlich die Machtlosigkeit der Juden, die ein Charakteristikum des rabbinischen Exil-Judentums war. Holocaust und Staatsgründung haben in dieser Frage hingegen die grundsätzliche Wende gebracht, der erstere mental, die letztere real: »Der Holocaust war eine radikale Infragestellung aller Hoffnungen und Versicherungen der Moderne und der jüdischen Existenz als ganzer. Während der wiedergeborene [Staat] Israel seinen eigenen Bann auf die Juden warf und sie zur Zentralität der Bedeutsamkeit von Erlösung und der Natur des jüdischen Lebens in unserer Zeit hinführte. Für jene Juden, die Juden bleiben wollen, haben diese Ereignisse eine Auswirkung auf die jüdische Geschichte – sie neutralisieren und erschüttern sogar den Magnet der Moderne. Künftige Generationen werden erkennen, dass in diesen beiden Ereignissen, der Zerstörung und der Erlösung, die dritte Epoche der jüdischen Geschichte geboren wurde.«61 Die Antwort auf diese beiden Ereignisse wird und muss das neue Judentum prägen, sie tragen in ihrer Wucht die Zerstörung des Zweiten Tempels und der Erlösung des Exodus in sich und werden daher, wie jene beiden Ereignisse, die neue Epoche gestalten und prägen und sind fortan Grundsteine des jüdischen Selbstverständnisses, jedes mit seinem spezifischen Gewicht. 60
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 1.
61
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 8.
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Der weiterführende jüdische Midrasch zur Geschichte muss erkennen, dass die Verborgenheit Gottes mit Auschwitz in einem bis dahin nicht geglaubten Maße zugenommen hat. »Auschwitz verdunkelt die Präsenz Gottes.«62 Dieser Rückzug Gottes hat komplementär eine Steigerung der Verantwortung des Menschen für seine Erlösung zur Folge. Gott gibt dem Menschen mehr Freiheit, macht ihn in noch höherem Maße zu seinem Partner. Und dies bedeutet, dass die religiöse Aktivität des Menschen noch weiter in die Säkularität hinausschreitet, als dies schon in der rabbinischen Deutung des Judentums geschah. Dort in der Säkularität ist Gott verborgen, da findet nun religiöses Handeln statt.63 Es ist jetzt eine Zeit des Schweigens der Theologie gekommen und stattdessen die Zeit des Handelns im Bereich außerhalb des Sakralen: »Der grundlegende religiöse Akt ist die Wiederbekräftigung des Glaubens und der Werke der Liebe und Lebensstiftung für die Erlösung und Bedeutsamkeit. In der Tat, das Erzeugen von Leben ist nur aus einem tiefen Glauben an eine letztliche Erlösung möglich. […] Das menschliche Gefäß, geprägt als Ebenbild Gottes, bezeugt durch seine bloße Existenz die Quelle dieses Ebenbildes. Vielleicht ist dieses Zeugnis das einzige was wir über Gott ablegen können.«64 Es sind diese neue Anthropozentrik und die Akzeptanz der Säkularität, die nun alle weiteren Vorschläge Greenbergs für die Neugestaltung des Judentums in seiner dritten Epoche bestimmen. Dazu gehört gerade deswegen auch die Existenz des nichtreligiösen Staates Israel mit seinem säkularen Leben, das nach dem bislang Dargelegten dennoch eine religiöse Valenz besitzt. So war schon das Geschehen in der Schoah ein lauter Schrei nach menschlicher Aktion, das Morden zu beenden, und an Israel, sich in neuer Gestalt zu erheben – dies geschah im wirklichen Sinn nur durch die Begründung des jüdischen Staates, der die Juden aus der Machtlosigkeit zur Möglichkeit führte, die eigene Erlösung – als Wohlergehen im geschichtlichen Raum – in die eigenen Hände zu nehmen. »Die Übernahme von Macht ist für die jüdische Weiterexistenz unverzichtbar. Diese Säkularität ist eine Sache von Leben und Tod.«65 In der Gewinnung von Macht in jüdischer Hand sieht Greenberg demnach die conditio sine qua non der Weiterexistenz des Judentums:
62
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 10.
63
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 9.
64
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 10.
65
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 13.
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»Die entscheidenste Veränderung in der Lage der Juden und im Wechsel des Fokus vom Sakralen zum Säkularen ist der Schritt von der Machtlosigkeit zur Macht. Die Schaffung des [Staates] Israel ist ein Akt der Wiederherstellung und Erlösung und die Bestätigung des Bundes durch eine weltliche Leistung. Sie ist der Schlüssel der Anwendung von Religion in der aktuellen Wirklichkeit und als solche ist sie der klassische Ausdruck der Verborgenheit [Gottes] und der neuen Heiligkeit des Säkularen.«66 Die neue Säkularität ist jedoch nicht mit Atheismus gleichzusetzen, weil auch in der Säkularität Moralität gelten muss und mit einem Weltengericht zu rechnen ist, vor dem sich das menschliche Tun wird verantworten müssen.67 Dies sind natürlich ebenso die Bedingungen für den neuen Machtbesitz des jüdischen Staates. Jede Handlung des Staates und das Tun seiner Bürger müssen sich an den eingangs genannten Kriterien des Exodus-Modells messen lassen.68 Darum ist auch Kritik am politischen Handeln dieses Staates gerechtfertigt und nötig, aber dies darf nicht in die sündhafte Forderung nach Machtverzicht münden, denn nach dem Holocaust ist es unaufgebbar, dass die Juden nicht mehr von der Gnade anderer abhängig sind und Herren im eigenen Land bleiben.69 Macht ist unverzichtbar, auch wenn in ihr die Gefahren der Korruption lauern. Es kann deshalb in der Kritik immer nur darum gehen, dass das Übel der Machtausübung möglichst gering zu halten ist, nicht aber um die Aufgabe der Macht. Diese unausweichliche Realität des Geschichtlichen und dessen notwendige Anfälligkeit und Vieldeutigkeit scheinen indessen jene zu vergessen, die heute den Staat Israel noch nach den alten Kriterien der jüdischen Machtlosigkeit beurteilen. Macht muss sein, sie muss aber auch für Israel nach den weltweit üblichen Kriterien beurteilt werden, und nicht nach Sonderregeln für die Juden.70 Die neue Situation des Judentums in der dritten Epoche muss – und hat tatsächlich schon – einen institutionellen und personellen Wandel herbeiführen. Greenberg beklagt zwar, dass die Synagoge, das zentrale Institut der rabbinischen Epoche, die Zeichen der Zeit nicht erkannte und aus diesem Grund bei vielen an Achtung verloren hat und im Niedergang befindlich ist. Die Synagoge erleidet in dieser Gegenwart das Schicksal des ehemaligen Jerusalemer Tempels. Es sind, so Greenbergs Analyse, nur jene Synagogen, die an Sakralität nachlassen und vermehrt säkulare Elemente von Gemeinschaft rezipieren, die diesen
66
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 13.
67
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 10.
68
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 13.
69
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 14.
70
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 15.
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Wandel überstehen werden.71 Wie die Synagogen, büßen auch die Rabbiner an Gehör bei den Menschen ein, an ihre Stelle treten allerlei unterschiedliche Laien, welche Führung und Wegweisung geben. Die wirklich der veränderten Lage entsprechenden neuen Institutionen sind allen voran der jüdische Staat mit seinen Organen, dem Parlament und den Streitkräften; aber auch die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad wa-Schem, welche an das eine der beiden epochemachenden Ereignisse, die Schoah, erinnert, ist hier zu nennen – sie alle, obwohl säkular, verkörpern einen verborgenen religiösen Wert.72 Ebenso traten im Bildungsbereich neben, oder noch eher vor die Synagoge, andere Bildungseinrichtungen, die säkularen Schulen und die Universitäten, ebenso die unterschiedlichen Medien.73 Es gibt in dieser dritten Epoche des Judentums eine institutionelle wie gesellschaftliche Pluralität – es ist die neue Form des Judentums, statt der früheren Konzentration auf die Synagoge und das Torastudium. Für einen orthodoxen Rabbiner am erstaunlichsten ist seine Schlussfolgerung hinsichtlich des maßgeblichen Schrifttums des Judentums der dritten Epoche. So sagt Greenberg: »Jede große Epoche der jüdischen Geschichte hat ihre eigene sakrale Literatur hervorgebracht. Die Offenbarungen und Lehren der jüdischen Lebensweise wurden in diese Literatur aufgenommen, und jede dieser Literaturen wurde ganz zentral von dem beherrschenden historischen Ereignis der Epoche geprägt. Noch mehr, jede hat über die Art und Weise der Offenbarung der Epoche nachgedacht.«74 Es ist deutlich, auch die Bibel wird hier nicht ausgenommen. Die heiligen Schriften jeder Epoche sind von Menschen erzeugte Literatur, welche die Lebensweisen des Volkes festhielt und zugleich prägte. Der Exodus formte die erste Epoche der jüdischen Geschichte, die in der Bibel ihre Zusammenfassung erfuhr, die Zerstörung des Zweiten Tempels gestaltete entsprechend die zweite, die im Talmud ihren Ausdruck fand. Und »Dasselbe Prinzip gilt für die entstehende dritte Epoche der jüdischen Geschichte. Wenn die These dieses Aufsatzes stimmt, dann wird ihr Bundesleben im Lichte des Holocaust und des wiedergeborenen Staates eine mächtige Neuorientierung erfahren. Wir leben in einem Zeitalter der erneuerten Offen71
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 12.
72
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 17.
73
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 18. 19.
74
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 24.
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barung. […] Das ursprüngliche Ziel bleibt stets dasselbe, aber der Inhalt des Zieles wird erst in der Geschichte erkennbar.«75 Aus alledem folgt, es werden neue Schriften entstehen, welche sich mit den beiden Gründungsereignissen der Epoche auseinandersetzen, sie erzählen und umgestalten, bis die Juden eines Tages sagen werden: »Dies ist meine Geschichte, da war ich dabei.«76 Dabei müssen diese »Schriften« nicht auf das geschriebene Wort beschränkt bleiben, es können auch Filme und Ähnliches an ihre Seite treten. Man wird sie bloß nicht sogleich als »heilige Schriften« erkennen, gemäß der Verborgenheit des Heiligen in dieser säkularen Ära. Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen, dass Greenberg hier nicht nur philosophiert und Geschichte schreiben will. All dies ist für ihn, den Präsidenten des National Jewish Center for Learning and Leadership, Programm, mit dem seine Organisation in den USA und darüber hinaus aktive jüdische Kulturarbeit betreibt.
75
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 24.
76
Greenberg, The Third Great Cycle, S. 24.
V.
GOTTES VERBORGENHEIT – MENSCHLICHE VERANTWORTUNG ELIEZER BERKOVITS (1908–1992) UND EMMANUEL LÉVINAS (1905/6–1995)
I.
ELIEZER BERKOVITS
1.
Biographisches
Eliezer Berkovits, orthodoxer Rabbiner und Professor, wurde 1908 in Oradea (Großwardein) in Austro-Ungarn (heute Rumänien) geboren und starb 1992 in Jerusalem. Seine rabbinische Ausbildung erhielt er an Jeschivot in Großwardein, Klausenburg, Preßburg und Frankfurt a. M., wo er auch das Abitur erlangte und ein Studium begann. 1928 ging er nach Berlin an das Esriel Hildesheimerʼsche Seminar (Rabbinerexamen 1934) und erwarb parallel 1933 an der Berliner Universität einen Doktorgrad in Philosophie. Von 1936–1939 amtierte er als Rabbiner in Berlin (Pestalozzistraße), nach seiner Emigration in Leeds in England (1940–1946), anschließend im australischen Sydney (1946–1950) und schließlich in Boston (1950–1958). Dort war er auch Mitglied des Rabbinical Council of America. Ab 1958 war er Professor und Chairman des Department of Philosophy am Hebrew Theological College in Skokie bei Chicago. 1975 zog er nach Jerusalem, wo er weiter als Hochschullehrer wirkte.1 Berkovits war ein sehr fruchtbarer Autor, er publizierte zu Themen der jüdischen Philosophie, zur Halacha und jüdischen Moral sowie Erziehung.2 Hier interessiert vor allem seine Deutung des Holocaust aus der Sicht eines traditionell orthodoxen, aber zugleich
1
Zur Biographie und ausführlicher Bibliographie s. M. Brocke & J. Carlebach, Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945, Berlin 2009; Ch. Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben, S. 306– 324. 324–328. 501.
2
Auswahl an Büchern: E. Berkovits: Faith after the Holocaust, New York 1973; Towards Historic Judaism, Oxford 1943; Judaism: Fossil or Ferment?, New York 1956; God, Man, and History: Studies in Biblical Theology, Wayne 1969; Prayer, New York 1962; A Jewish Critique of the Philosophy of Martin Buber, New York 1962; Man and God: Studies in Biblical Theology, Wayne 1969; Major Themes in Modern Philosophies of Judaism, New York 1974; Crisis and Faith, New York 1976; With God in Hell: Judaism in the Ghettos and Death Camps, New York & London 1979; Not in Heaven: The Nature and Function of Halakha, Jerusalem 2010 (1983); Torat ha-Higajon ba Halacha (Logic in Halacha), Jerusalem 1986; Unity in Judaism, New York 1986; Maschber ha-Jahadut be-Medinat ha-Jehudim (Die Krise des Judentums im Staat der Juden), Jerusalem1987; Jewish Women in Time and Torah, New York 1990; Essential Essays on Judaism, Jerusalem 2002, ed. David Hazony.
Schoah
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der Moderne und dem Staat Israel aufgeschlossenen Autors, die er in seinem Buch Faith after the Holocaust3 darlegte.
2.
Grundlinien des Denkens – die Stellung des »Holocaust« in der jüdischen Geschichte
Eliezer Berkovits ist wie der zuvor besprochene Irving Greenberg ein orthodoxer Rabbiner, vertritt aber eine völlig andere Ausrichtung der Orthodoxie als dieser. Es ist eine Orthodoxie, welche die theologische Tradition des rabbinischen Judentums für unumstößlich erachtet, auch nach der Schoah. Berkovits glaubte nicht, dass die Schoah ein grundsätzliches Umdenken in der jüdischen Theologie oder gar in der religiösen Praxis erfordere. Andrerseits war er der Auffassung, dass die Wiedererlangung der jüdischen Souveränität im Staat Israel die Anpassung der Halacha an die neuen Verhältnisse erfordere, im Sinne einer Präsenz der Halacha in allen Lebensbereichen. Aber auch da, wo er überkommene theologische Denk-Traditionen und Denkmuster verteidigt, tut er dies auf dem Wege einer Interpretations-Klärung. Mit dieser Formel soll gesagt sein, dass Berkovits die übernommenen Traditionen nicht einfach neu deutet, sondern er tut, was ein Rabbiner schon immer tat, er sucht in der Traditionsliteratur nach Deutemustern, die es erneut in Erinnerung zu bringen gilt, um sie in den neuen Fragehorizont hineinzustellen. Dies ist auch der Grund, weshalb, Berkovits hier ein eigenes Kapitel gewidmet werden konnte, wiewohl in der Einleitung dieses Bandes die Regel aufgestellt worden war, dass hier nur solche Denker ausführlicher vorgestellt werden, die nicht der traditionellen Erklärungsweise der Katastrophen – inklusive der Schoah – folgen, nämlich dass sie eine Strafe oder die Folge der eigenen Sünden der betroffenen Menschen oder ganz Israels seien. Berkovits weist hinsichtlich der Schoah die klassische rabbinische Theodizee-Formel mipne ḥataʼenu (um unserer Sünden willen)4 zwar mit allem Nachdruck zurück und spricht bezüglich der Schoah von einem eklatanten Unrecht, das Gott zugelassen habe.5 Dennoch gehört Berkovits nicht zu den eingangs genannten »AntiTheodizee«-Theologen, denn er hält recht eigentlich an einer Theodizee, auch für die Schoah, fest. Allerdings – und dies entspricht dem zuvor Gesagten – trägt er keine hamartologische (sündenbezogene) Theodizee vor, sondern eine ontologische, in welcher er Gott und Mensch ihre je eigenen Rollen und Verantwortlich-
3
E. Berkovits, Faith after the Holocaust, New York 1973. Das Kapitel 5 »The Historical Context of the Holocaust»; deutsch auch bei M. Brocke und H. Jochum (Hg.), Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust, Gütersloh 1982.
4
Vgl. bei Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 120.
5
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 9; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 46.
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Eliezer Berkovits und Emmanuel Lévinas
keiten in der Geschichte zuweist, was ihn mit dem im Anschluss besprochenen Emmanuel Lévinas eint. Die orthodoxe Traditionstreue von Berkovits zeigt sich schließlich in der Frage nach der Stellung der Schoah in der jüdischen Geschichte. Ist die Schoah einzigartig, wie dies Fackenheim, Greenberg und Rubenstein glauben, und damit ein Wendepunkt in der jüdischen Geschichte und Denk-Geschichte, oder ist sie in die übrigen Katastrophen des Judentums einzureihen? Hier bezieht Berkovits klar die traditionelle Position und sieht – zunächst – die Schoah nicht als kategorial neues Ereignis in der jüdischen Verfolgungsgeschichte, sondern »nur« als ein weiteres Glied, wenn auch ein besonders schreckliches. Darum betont er, – anders als Greenberg und Fackenheim – der Holocaust könne von nun an nicht der wesentlichste oder gar einzige Bezugspunkt des jüdischen Selbstverständnisses werden. Das bedeutet zugleich, dass mit den Todeslagern in Europa die Glaubensfrage – und damit die Frage der Theodizee – sich keinesfalls neu stellte: »Betrachtet man den Holocaust, so ist die wichtigste Überlegung die Einsicht, dass er nicht die gesamte jüdische Geschichte ersetzen kann. Man darf mit dem Glaubensproblem nicht ringen, als wäre der Holocaust alles, was wir über den Juden und seine Beziehung zu Gott wissen. Es gibt eine Vergangenheit vor dem Holocaust und eine Holocaust-Gegenwart und es gibt auch eine Zukunft, die in weitem Maße in Israels eigener Verantwortung steht. Auschwitz umfasst nicht die gesamte Geschichte Israels, es ist nicht die alles umfassende jüdische Erfahrung. Was die Vergangenheit anbelangt, sollte man auch bedenken, dass der Jude, der so viele Male erlebte dass ›Gott sein Angesicht verborgen‹ hat, das göttliche Antlitz auch geoffenbart sah. Trotz Auschwitz, ist das Leben der Patriarchen noch immer in ihm, der Exodus wurde zu keinem Phantombild, der Sinai ist nicht zu Boden gestürzt, die Propheten wurden nicht zu Scharlatanen, die Rückkehr aus dem Babylonischen Exil hat sich nicht als Märchen entpuppt.«6 Berkovits gesteht zu, dass das in diesen Worten vorgetragene Geschichtsbild eine »Glaubens-Geschichte« ist. Aber wenn man, so fährt er fort, die Ereignisse dieser Glaubensgeschichte, die von einer göttlichen Präsenz in der Geschichte sprechen, als historisch falsch erachtet, dann nicht nur wegen Auschwitz. Und wenn die Aussagen von Gottes Präsenz für wahr gehalten werden, dann werden sie durch Auschwitz nicht zu Lügen. »Es macht keinen Sinn, die gesamte jüdische Geschichte ausschließlich auf der Grundlage der Erfahrung der Todeslager des europäischen Judentums zu deuten.«7 Berkovits will die ganze jüdische Ge6
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 134.
7
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 134–135.
Schoah
591
schichte mit ihren hellen und dunklen Seiten für das Selbstbewusstsein des Judentums ansetzen. Die Schoah und der danach entstandene Staat Israel sind nur weitere Beispiele für diese Geschichte, keine kategorialen Wendepunkte.8
3.
Ist die Schoah einzigartig? – die Möglichkeit des Kiddusch ha-Schem
Für die Auffassung, dass mit der Schoah ein Wendepunkt in der jüdischen Geschichte – und damit auch im jüdischen Denken – eingesetzt habe, ist es entscheidend, ob die Schoah ein einzigartiges Geschehen der jüdischen, oder gar der Weltgeschichte, sei. Ist sie nämlich nur eine weitere Instanz des sich immer wiederholenden Verfolgungsschemas, kann sie nicht eine solche Wendefunktion beanspruchen. Neben anderen, zum Beispiel von Emil Fackenheim aufgezählten,9 Fakten, welche laut seiner Auffassung die Einzigartigkeit des Holocaust ausmachten, gehört auch die Frage des Kiddusch ha-Schem, also der Heiligung des Gottesnamens (beziehungsweise der Heiligung Gottes, denn nichts anderes bedeutet das »Schem« hier«) im Martyrium.10 Nach Fackenheims Meinung unterscheidet sich die Schoah zum Beispiel von den mittelalterlichen »Judenschlachten« im Rheinland während der Kreuzüge vor allem darin, dass in der Schoah auch die Möglichkeit des Kiddusch ha-Schem vernichtet worden sei. Während im Mittelalter der Märtyrer – wenigstens theoretisch – die Wahl hatte, zwischen dem Tod oder der Konversion zum Christentum zu wählen, wodurch erst ein richtiges bewusstes und gewolltes Zeugnis (Martyrium) für den Gott Israels entstanden sei, war diese Möglichkeit in der Schoah ausgeschlossen. Denn in den deutschen Todeslagern wurde nicht mehr nach einer Entscheidung gefragt. Jeder Jude, ob religiös oder Atheist, wurde ungefragt wegen seines Jude-Seins ermordet. Die Wahl zum Martyrium blieb ihm demnach nicht. Die Möglichkeit zum Martyrium war vernichtet – so weit Fackenheim. Eliezer Berkovits widerspricht dieser Auffassung mit dem klassisch-talmudischen Beispiel des Martyriums von Rabbi Akiva,11 den die Römer grausam fol8
Zu Leben und Denken von Berkovits, s. auch: Raffel, Ch. M., Eliezer Berkovits, in: Contemporary Jewish Thinkers, ed. S. Katz, Washington D.C. 1993, S. 1–16; N. E. Pasachoff, Eliezer Berkovits, in: Great Jewish Thinkers: Their Lives and Work, Springfield 1992, S. 203ff.
9
Vgl. oben, Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, III, 3.
10
Zum Kiddusch ha-Schem, siehe K.E. Grözinger, Gründe und Grenzen des Kiddusch haSchem – Heiligung des Gottesnamens, in: Martyriumsvorstellungen in Antike und Mittelalter. Leben oder sterben für Gott?, hg. S. Fuhrmann & R. Grundmann, Leiden, Boston, 2012, S. 241–254.
11
Babylonischer Talmud, Berachot 61b.
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terten und zu Tode brachten, ohne ihm eine Wahlmöglichkeit anzubieten. Akiva hatte das römische Verbot der Religion Israels übertreten und weiterhin Schüler in der Tora unterrichtet. So blieb ihm als »Staatsfeind« keine Wahl mehr zwischen Märtyrertod und Unterwerfung wie auch den Opfer in den deutschen Lagern keine solche Wahl geblieben war. Was Rabbi Akiva aber blieb, so Berkovits, war die Möglichkeit, bei seinem Hinscheiden das Schmaʽ Jisrael, das Bekenntnis zur Einzigkeit des Gottes Israels auszurufen – er erfüllte das Gebot Gottes ungeachtet seiner vor ihm stehenden Mörder. Er akzeptierte sein Schicksal in der Anerkennung Gottes. Im Blick auf die Situation in den deutschen Todeslagern geht Berkovits sogar noch einen Schritt weiter und erklärt: Die höchste Form des Kiddusch ha-Schem liegt noch nicht einmal da, wo man öffentlich das Gebot erfüllt, wo man öffentlich Gottes Einzigkeit bezeugt, sondern dort, wo alles zum Tode entschieden ist und der Mensch ganz mit sich und seinem Gott allein ist und er dann in dieser Situation, trotz Gottes Schweigen, Gottes Einzigkeit bekennt: »Die höchst Phase des Kiddusch ha-Schem beginnt erst, nachdem die Entscheidungen gefallen sind, wenn der Märtyrer den Scheiterhaufen besteigt. Die Welt ist ihm dann gestorben, er ist kein Teil mehr von ihr. Er steht nicht mehr den Menschen und ihrem Tun gegenüber. Er ist allein – mit seinem Gott. Und sein Gott schweigt, Gott verbirgt sein Angesicht. Gott hat ihn verlassen. Der Mensch ist nun vollkommen allein. Wenn er in diesem Augenblick fähig ist, seine vollkommene Verlassenheit von Gott als ein Geschenk Gottes anzunehmen, das ihn befähigt, seinen Gott von ganzer Seele zu lieben, ›selbst wenn er dir deine Seele / Leben nimmt‹, hat er die höchste Stufe des Kiddusch ha-Schem erreicht.«12 Dies war, so Berkovits, eine Weise des Kiddusch ha-Schem, die auch in den europäischen Todeslagern noch möglich war und vielfach erfüllt wurde, wenn vielleicht auch nur von einer verschwindenden Minderheit. Somit ist das Fackenheimsche Argument, der Vernichtung der Möglichkeit des Kiddusch ha-Schem, für die Einzigartigkeit des Holocaust ausgeschieden – hierin gleicht er auch früheren Verfolgungssituationen. Ein anderer Aspekt des Kiddusch ha-Schem, der auch während der Verfolgungen in der Nazizeit hundertfach vollführt wurde, tritt noch hinzu, der für ihn ebenfalls aus dem Beispiel von Rabbi Akiva abzulesen ist. In der talmudischen Geschichte wird erzählt, dass die Mörder Akivas gerade zu der Stunde zu ihm kamen, als die Zeit für die Schmaʽ-Rezitation gekommen war. Akiva aber blieb seiner eigenen religiösen Agenda treu und ließ sich durch die Häscher nicht von 12
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 81.
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seiner religiösen Pflicht abbringen, er hatte Wichtigeres zu tun als auf seine Mörder zu achten. Berkovits bringt aus der Nazizeit dafür das Beispiel der frommen Juden, die durch Bart und Kleidung öffentlich ihr eigenes jüdisches Leben bekannten und fortsetzten, obwohl sie gerade dadurch zur Zielscheibe von Hass und Demütigung wurden. Auch dies ist demnach eine Form des Kiddusch ha-Schem13 und somit ein weiteres Beispiel dafür, dass sich der Holocaust – wohl quantitativ aber nicht qualitativ – von anderen Situationen der jüdischen Verfolgungsgeschichte unterscheidet. Mit diesen Deutungen des Kiddusch ha-Schem bezieht Berkovits jenes Verhalten in die »Heiligung des Namens Gottes« mit ein, das Emil Fackenheim als »Widerstand« in den Lagern deutet. Berkovits reintegriert damit eine von Fackenheim als Novität gesehene Handlung der verfolgten Juden in das traditionelle religiöse Vokabular. Was für Fackenheim zum zentralen Muster der authentischen Antwort auf den Holocaust wurde, nämlich das Widerstehen, ist für Berkovits eine traditionelle und seit Jahrhunderten geübte jüdische Praxis. Es gibt da noch einen weiteren Gedanken, der die Einzigartigkeit der Schoah markieren und somit als Auslöser einer nie zuvor gekannten Glaubenskrise bestimmen könnte. Die Frage nämlich, ob alleine die ungeheure Zahl an ermordeten Opfern dazu angetan ist, den jüdischen Glauben in Frage zu stellen, anders als die früheren quantitativ geringeren Katastrophen. Für Emil Fackenheim zumindest spielt diese Frage eine Rolle, wenn er davon spricht, dass gut ein Drittel des gesamten jüdischen Volkes vernichtet wurde – die Quantität der Katastrophe wird dadurch zu einer neuen Qualität.14 Aber gerade hier erhebt Berkovits Einspruch und meint: »Genau genommen hat die Infragestellung der Gerechtigkeit Gottes in der Geschichte wenig mit der Quantität des unschuldigen Leidens zu tun. Das ungeheure Ausmaß der Zahl an Märtyrern unserer Generation – sechs Millionen – ist für den Zweifel nicht ausschlaggebend. Was unseren Glauben an einen absolut gerechten und gnädigen Gott anbelangt, bedeutet das Leiden eines einzigen unschuldigen Kindes kein geringeres Problem für den Glauben als das unschuldige Leiden von Millionen. Was also den Glauben an einen persönlichen Gott betrifft, besteht kein Unterschied zwischen sechs, fünf, vier Millionen Opfern oder nur einer Million.«15 Natürlich spielen auch nach Berkovitsʼ Auffassung solche Zahlendifferenzen hinsichtlich der Schuld der Täter eine Rolle, ein Massenmörder hat mehr Schuld 13
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 83.
14
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, III, 3.
15
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 128.
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auf sich geladen als der, welcher nur eine Person ermordete. Aber im Blick auf die Absolutheit Gottes macht dies keinen Unterschied, bei der das Leiden einer einzigen Person ebenso viel Gewicht hat wie das von vielen. Mit anderen Worten, die Anzahl der unschuldigen Opfer, der unschuldig Leidenden berührt nach Berkovits die Frage der Theodizee nicht wesentlich. Die Verhandlung der Theodizee-Frage anhand von Quantitäten und Opferzahlen erscheint ihm sogar als moralisch bedenklich. Denn die Konsequenz daraus ist, dass man bereit ist, einzelne oder wenige Opfer in Kauf zu nehmen, ohne dadurch aufgewühlt zu werden und die Gerechtigkeits-Frage zu stellen. Vielmehr muss jedes einzelne Opfer muss den Menschen beunruhigen und jedes einzelne Opfer muss Anlass sein, den Glauben in Frage zu stellen und nach der Gerechtigkeit Gottes zu fragen: »Für Gott muss die Quantität der Ungerechtigkeit unerheblich sein. Anders zu denken ist selbst ein Zeichen abgestumpfter Gleichgültigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit und menschlichem Leiden. Vorzuschlagen, dass man mit einem geringeren Ausmaß an Übel und Ungerechtigkeit sich abfinden könne, nicht hingegen mit so viel, ist grausam und unethisch. In Wahrheit war der Holocaust nur möglich weil die Menschheit sehr wohl bereit war, geringeres als den Holocaust zu tolerieren.«16 Für den vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, dass es unethisch und grausam ist, die Theodizee-Frage erst im Angesicht des Holocaust zu stellen. Sie muss bei schon geringeren Anlässen einsetzen. Und wenn dies so ist, dann kann der Holocaust in der Gottes- und Glaubensfrage keine grundsätzlich neue Bedeutsamkeit haben.
4.
Ist Gott trotz des menschlichen Leidens in der Welt der gerechte Gott der Geschichte? – eine ontologische Theodizee
Nachdem er die Schoah trotz ihrer unfasslichen Ausmaße in die »normale« jüdische Leidens-Geschichte eingeordnet hat, stellt Berkovits die brennende Frage, wie denn der Glaube an einen persönlichen Gott, an dem er als orthodoxer Rabbiner natürlich festhalten will, mit dem Bösen dieser Welt, inklusive des Holocaust, vereinbar ist: »Aber wenn wir an unserem Glauben an einen persönlichen Gott festhalten, dann kann eine solch absolute Ungerechtigkeit nicht einfach eine Panne in der göttlichen Planung sein. Irgendwie muß sie dies zulassen, und die
16
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 130.
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letztliche Verantwortung für dieses äußerste Böse muß bei Gott liegen.«17 Um diese Frage zu beantworten, holt Berkovits weit bis in die biblischen Texte hinab aus. Er zeichnet dazu das auch dem Religionshistoriker wohlbekannte Bild der Entwicklung der Theodizeefrage in der Bibel bis zu den rabbinischen Texten der Antike – wie sie auch in meinem ersten Band des Jüdischen Denkens dargestellt wurden.18 Der religionsgeschichtliche Einsatz von Berkovits beginnt mit der »naiv […] vereinfachenden[n] Weise«, nach welcher die biblischen Texte einen linearen Zusammenhang von Tun und Ergehen des Menschen behaupten, so etwa im Buch Deuteronomium 30, 15–18, wo Gott diesen Zusammenhang so formuliert: Ist Israel gehorsam, wird es ihm gut ergehen, wenn aber ungehorsam, entsprechend schlecht. Das zeigt, nach der Auffassung vieler biblischer Texte ist »Gott […] ein Gott der Geschichte. Er greift dadurch in die Geschichte ein, daß er die Sünder19 vernichtet und bewirkt, daß es den Gerechten wohlergeht.«20 Schon der nachexilische Prophet [Deutero]-Jesaja sah sich angesichts dieser Sicht in Abwehr des manichäischen Dualismus genötigt, die theologische Konsequenz dieses Denkens grundsätzlich zu formulieren, wie dies bis heute in der täglichen synagogalen Liturgie mit einer leicht mildernden Abwandlung21 wiederholt wird: »Ich bin der Ewige und keiner sonst, der das Licht bildet und Finsternis schafft, Frieden stiftet und Unheil schafft, ich, der Ewige, tue dies alles.« (Jes 45, 6–7).22 Aber mit dieser Konsequenz des monotheistischen Denkens – Gott ist der Schöpfer des Guten wie des Bösen – ist das Problem der Gerechtigkeit Gottes, wie es zuvor formuliert worden war, nicht gelöst. Warum entspricht die Verteilung von Gut und Böse nicht dem Tun der Menschen? Diese »simplizistische« Vorstellung des gradlinigen Zusammenhangs von Tun und Ergehen wird indessen schon in der Bibel selbst – nicht erst durch Voltaire23 – in Frage gestellt – etwa durch den Propheten Jeremia: »O Herr, du bleibst ja im Recht, wenn ich wider dich hadre, und doch muss ich mit dir rech17
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 89; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 46; zum Thema vgl. auch: M. Fox, Berkovitsʼ Treatment of the Problem of Evil, in: Tradition14, 3 (Spring 1974), S. 116–124; S. Katz, Eliezer Berkovitsʼ Post Holocaust Jewish Theodicy, in: ders., Post-Holocaust Dialogues: Critical Studies in Modern Jewish Thought, New York 1983, S. 268–286.
18
Zur Theodizeefrage siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 148–149. 199. 206. 223. 242. 260. 267.
19
Bei Brocke-Jochum Übersetzungsfehler.
20
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 91; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 49.
21
Im Jozer-Gebet am Morgen heißt es: »der das Licht bildet und Finsternis schafft, Frieden stif-
22
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 127.
23
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 92; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 50.
372. 273-280. 480; Bd. 2, S. 144. 239. 426. 694; Bd. 3, S. 403–404.
tet und Alles erschafft«, z. B. Siddur Safa berura, S. 33.
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ten: warum geht es den Gottlosen so gut und leben so sicher alle, die treulos handeln?« (Jer 12, 1). Der Prophet Habakuk fragt nach dem Leiden der Gerechten (Hab 1, 13) und das gesamte Buch Hiob ist der Frage gewidmet, weshalb der Gerechte leidet und es den Frevlern gut geht. Von den Freunden Hiobs wird in diesem Buch nochmals der Versuch unternommen, die alte Theorie zu rechtfertigen, wird aber von »Gott selbst« zurückgewiesen.24 Es waren schließlich die Lehrer des Talmud, welche von »Gottes Schweigen« in der Geschichte sprachen und mit dieser Formel Gottes Untätigkeit bei der Zerstörung des Zweiten Tempels beklagten. Damit nehmen sie einen schon in der Bibel ausgesprochenen Gedanken auf, nämlich dass Gott sein Angesicht vor dem Leid seines eigenen Volkes oder einzelner Frommer verbirgt (Ps. 44, 18–27; 13, 2; 10, 12–13; Jes 49, 14).25 Mit diesem Vorwurf haben die biblischen Beter und die Rabbinen die alte Vorstellung vom Tun-Ergehens-Konnex verworfen. Es sind nicht die Sünden eines Menschen oder Volkes, welche das Leid über sie bringen. Allerdings muss betont werden, wo die alten Beter und Prediger vom Schweigen Gottes oder vom Verbergen seines Angesichts (Hester Panim) sprechen, sie nicht wie die modernen sogenannten »radikalen Theologie« etwa vom Schlage Richard L. Rubensteins,26 den Tod Gottes oder dessen Nichtexistenz verkünden, sondern sie sagen: Es gibt einen Gott, der schweigt und sich verbirgt. Diesen Widerspruch aufzulösen, das Festhalten an Gott und seinen Geboten, an der Hoffnung auf sein künftiges Erlösungshandeln und auf die Totenauferweckung auf der einen Seite und seinem Wegschauen angesichts des Leidens seines Volkes und seiner Frommen auf der anderen, wird nun die Aufgabe sein, der sich Berkovits mit seiner Lösung der »Theodizee-Frage« stellt. Ausgehend von einer Diskussion im Talmud über das Wesen der Welt und deren Auswirkung im Bereich der Ethik, versucht Berkovits, seinen Lösungsvorschlag anzugehen. Die talmudische Debatte beginnt mit dem Kohelet-Vers 7, 14 »Gott hat das eine gegenüber dem anderen gemacht«. Im Weiteren wird die Frage gestellt, was denn damit gemeint sei. Die eine Antwort lautet: »Von allem, das der Heilige, gesegnet sei Er, in seiner Welt erschuf, erschuf er auch dessen Gegenteil.«27 Damit, so kann man sagen, wird eine grundsätzliche Dialektik der Schöpfungsrealität beschrieben: Es gibt Berge nur neben Tälern und Ozeane nur neben dem Festland, das eine ist ohne das andere nicht denkbar. An diese Dialektik musste sich der Schöpfer halten, wenn er eine Welt erschaffen wollte. Die Frage ist nun, ob dieses Prinzip auch für den Bereich der Ethik und Moral gilt, so
24
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 91–93; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 48–51.
25
Vgl Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 103–112.
26
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, II.
27
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 102; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 60 – ich folge hier dem besseren englischen Original.
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wie dies der spätere Häretiker Rabbi Elischa Ben Abuja28 nach einer Aussage von Rabbi Akiva verstehen wollte, nämlich: »Gott erschuf die Gerechten und er erschuf die Frevler.« Dies würde bedeuten, Gott erschuf beide gleichermaßen, so daß der Mensch, recht besehen, für seine Bosheit oder Gerechtigkeit keine Verantwortung trägt. Und Gott, der beide erschuf, steht somit über der Moral, er ist ethischen Maßstäben gegenüber gleichgültig. Dies war dann auch der Grund, weshalb Elischa Ben Abuja zum Häretiker wurde und die Auffassung vertrat: Es gibt keinen Richter und kein Gericht.29 Nun hat aber der ehemalige Schüler des Elischa Ben Abuja, Rabbi Meʼir, in der Debatte mit seinem Lehrer den Text aus Kohelet zwar zunächst so gedeutet: »Von allem, das der Heilige, gesegnet sei Er, in seiner Welt erschuf, erschuf er auch dessen Gegenteil«. Aber danach hat er diesen Grundsatz von den geschaffenen innerweltlichen Gegensätzen mit einem eigenartigen Beispiel illustriert. Diese Schöpfungsgegensätze stellen sich ihm so dar: »Er erschuf Berge und er erschuf Hügel; er erschuf Meere und er erschuf Flüsse.« Die Gegensätze die Rabbi Meʼir hier aufstellt sind keine absoluten Gegensätze, sondern nur relative. Rabbi Meʼirs eigenartige Gegensatzpaare machen nur Sinn, wenn sie auf die Ethik bezogen werden, auch wenn sie in Meʼirs Illustration in kosmologischer Terminologie formuliert sind. Daraus folgert nun Berkovits, dass hier gesagt sein soll: Gott bestimmt nicht im Voraus, wer ein Gerechter und wer Frevler wird, wenn auch die logische Grundaussage erhalten bleibt, dass nämlich Gerechtigkeit und Frevelhaftigkeit nur als dialektische Gegenpositionen sichtbar werden und möglich sind. Wo es nicht möglich ist, ein Frevler zu sein, da gibt es auch keine Möglichkeit ein Gerechter zu sein. Dieses logisch-dialektische Gegenüber will aber, so Berkovits, Rabbi Meʼir durch seine eigenartigen Gegensätze als relativ darstellen: »Die ethische Bedeutung von Rabbi Meʼirs ›schlechter‹ Dialektik ist, dass [die Möglichkeit], ein Zaddik (Gerechter) zu sein, dadurch bedingt ist, dass der Mensch die Freiheit hat, den Weg der Gottlosigkeit einzuschlagen, genauso, wie [die Möglichkeit] ein Rascha (Frevler) zu werden, die Freiheit voraussetzt, dass man sich auf den Weg der Gerechtigkeit begeben kann. Der Zaddik ist durch den Rascha wie der Rascha durch den Zaddik definiert. Wenn etwas gut ist, so wegen der Möglichkeit des Bösen und umgekehrt. Wenn also in der Welt das Prinzip der Dialektik wirkt, so sind doch die vorhandenen Gegensätze nicht als absolute Kategorien der Schöpfung und des 28
Zu ihm siehe Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 311.
29
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 103; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 62; zur Ableugnung des Gerichts als Ausdruck der Gottesleugnung s. Grözinger, Kafka und die Kabbala (2014), S. 222 (Kapitel: Schuld und Sühne in den Romanen und Aphorismen).
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Seins aufzufassen; dann bedeutet der Umstand, dass Gott den Zaddik und den Rascha schuf [nur], dass er dem Menschen die beiden Möglichkeiten gab, Zaddik oder Rascha zu werden. […] Er [Gott] schuf das Böse dadurch, dass Er die Möglichkeit zum Bösen schuf; Er stiftete den Frieden, dadurch dass Er die Möglichkeit dazu schuf. Er musste die Möglichkeit zum Bösen schaffen, wollte er die Möglichkeit für dessen Gegenteil, Frieden, Güte und Liebe, schaffen.«30 Der Gedankengang ist hier also folgender: Die absoluten kosmologischen Gegensätze wurden zu relativen ethischen Gegensätzen transformiert. Aus einer absoluten Dialektik (kosmologischen) wurde eine relative (ethische). Die Erklärung dieser Relativierung wird nun dadurch erreicht, dass der Schöpfer im Bereich des Ethischen die dialektischen Gegensätze nur als Möglichkeit nicht aber de facto erschuf. Schließlich zieht Berkovits noch die rabbinische Lehre vom freien Willen des Menschen hinzu,31 so dass nun der Mensch zum Hauptträger der relativen Dialektik der ethischen Gegensätze wird. Wo Gott die Möglichkeit für Gut oder Böse erschaffen hat, da hat der menschliche Wille die Möglichkeit sich zum Guten oder Bösen zu entscheiden, er kann de facto Zaddik oder Rascha werden. Damit sind die Verantwortlichkeiten für das Gute und das Böse in der Welt klar verteilt. Gott schuf die Möglichkeit für beides – dies erfordert die Dialektik der Schöpfung – der Mensch ist genötigt, das eine oder das andere zu wählen und damit Gut oder Böse aus der Potenz in die Realität zu überführen. Dies kann nur der Mensch. Gott ist das absolut Gute, der Mensch, in der irdischen Dialektik gefangen, muss und kann das eine oder das andere realisieren. Das Ganze ist so, weil Gott dem Menschen die freie Wahl gegeben hat – dies war Gottes unerklärliche Entscheidung. Und mit dieser Wahlmöglichkeit, das sagten schon die antiken Rabbinen,32 ist das Menschsein definiert. Berkovits sagt dies so: »Soll es den Menschen geben, so muß ihm gestattet sein, seine Entscheidungen in Freiheit zu treffen.« Und aus dieser Entscheidungsmöglichkeit des Menschen entsteht das Leid in dieser Welt. Die Theodizee-Frage muss folglich umformuliert werden: »Deshalb lautet die Frage nicht: Warum gibt es unverdientes Leid? Sondern, warum gibt es den Menschen? Wer die Frage nach der Ungerechtigkeit in der Geschichte stellt, fragt: Warum gibt es eine Welt, warum eine Schöpfung?«33 Gemäß dieser Neuformulierung der Theodizee-Frage ergibt sich die überraschende wie schockierende Konsequenz:
30
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 104; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 63.
31
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 278–280.
32
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 278–280.
33
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 105; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 64.
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»Setzt man [die Existenz ] des Menschen voraus, könnte Gott das moralisch Böse und das Leiden, die von ihr verursacht wird, nur dadurch aus der Welt schaffen, daß er den Menschen aus der Welt schafft, dadurch daß er die Welt des Menschen ins Nichts zurückholt.«34 In dieser Konsequenz steckt das, was Berkovits als das Dilemma Gottes bezeichnet. Will er den Menschen haben, so muss er ihm seine Freiheit lassen – zum Guten wie zum Bösen. Die Freiheit des Menschen, in der Geschichte zu agieren, erfordert demnach, dass Gott sich aus der Geschichte zurückzieht und dem freien Willen des Menschen seinen Spielraum lässt: »Wenn der Mensch in eigener Verantwortlichkeit handeln soll, ohne fortwährend durch die Übermächtigkeit Gottes eingeschüchtert zu werden, muß Gott sich aus der Geschichte zurückziehen.«35 Das bedeutet zugleich, dass dieser Gott mit den Frevlern in dieser Welt nachsichtig sein muss, er muss sie handeln lassen, ohne sie sogleich aus der Welt zu entfernen – immer hoffend, dass sie sich bekehren. Und gerade in diesem Dilemma Gottes sieht Berkovits die Tragik der menschlichen Existenz, die auch Gott nicht ändern kann, wenn er den Menschen Mensch sein lassen will, also ein Wesen, das nach seinem freien Willen handelt: »Das ist das unausweichliche Paradox der göttlichen Vorsehung. Während Gott den Sünder duldet, muß er das Opfer preisgeben. Während er mit den Frevlern Nachsicht übt, muß er sich den Gepeinigten, die in ihrer Qual zu ihm rufen, verschließen. Das ist die tiefste Tragik der menschlichen Existenz: Gerade weil Gott barmherzig und nachsichtig ist, gerade weil er den Menschen liebt, bedingt das die Preisgabe von Menschen an ein Schicksal, das sie durchaus als Gleichgültigkeit Gottes gegenüber Gerechtigkeit und menschlichem Leiden erfahren können. Es ist die tragische Paradoxie des Glaubens, daß Gottes unmittelbare Sorge um den Sünder für so viel Schmerz und Leid auf Erden verantwortlich ist. Deshalb unsere Schlußfolgerung: Wer von Gott Gerechtigkeit verlangt, muß den Menschen aufgeben; wer außer Gerechtigkeit von Gott Liebe und Barmherzigkeit erwartet, muß sich mit dem Leiden abfinden.«36 Die einzige und wirkliche Schuld Gottes ist demnach, dass er die Welt überhaupt erschaffen hat, mit einem Menschen, der frei ist, die Geschichte zu gestalten.37 Diese Aussage ist gewiss ein großer Schritt weg vom Glauben an einen Gott der 34
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 105–106; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 64.
35
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 107; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 66.
36
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 106; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 65–66.
37
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 136.
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Eliezer Berkovits und Emmanuel Lévinas
Geschichte, den sich das Judentum eigentlich auf die Fahnen geschrieben hat. Allerdings verzichtet Berkovits nicht völlig auf diesen Gott. Er meint nämlich, dass der Mensch in seiner Freiheit die Welt zugrunde richten würde, weshalb Gott, wenn auch als Verborgener, da sein muss.38 Wie er dies tut, soll im Folgenden besprochen werden.
5.
Die Macht Gottes und die Existenz Israels
Natürlich muss man sich nach den vorausgegangenen Darlegungen die Frage stellen, wo denn nun die seit der Bibel als Bekenntnis ausgerufene Macht Gottes, des Allmächtigen, ist, wenn dieser sich um des freien Menschen willen aus der Geschichte zurückzieht. Diese Frage stellten nach einer sogleich zu besprechenden Stelle im Talmud schon die biblischen Propheten Jeremia und Daniel, die beklagten, dass die Fremden das Volk Gottes unterjochen und den Tempel des Herrn mit Füßen traten. Und natürlich wurde diese Frage auch nach der Zerstörung des Ersten wie des Zweiten Tempels in Jerusalem gestellt. Die Weisen des Talmud gaben nun auf die Frage nach Gottes Macht im Namen Esras39 eine doppelte Antwort. An eben jener Stelle im Babylonischen Talmud (Joma 69b) wird über Esra und seine Versammlung, die sich nach der Zerstörung und dem Wiederaufbau des Ersten Tempels in Jerusalem versammelt hatten, berichtet, dass sie die Frage nach Gottes Macht und Schrecken über die Menschen in zweifacher Weise beantworteten. Die erste Antwort ist die, dass Gottes Macht darin bestehe, dass er sich selbst beherrscht und seiner Neigung zur Strafe der menschlichen Übeltäter nicht nachgibt – also Macht durch Machtverzicht. Entscheidender aber ist die zweite Antwort: Wenn es nach den normalen menschlichen Bedingungen, nach dem sattsam bekannten Verlauf der Menschheitsgeschichte ginge, nach welchem die Stärkeren die Schwächeren unterdrücken und vernichten, dann dürfte das kleine Volk Israel schon längst nicht mehr bestehen. Dies ist offenbar nur möglich, weil es bei den Menschen eine Furcht vor Gott tatsächlich gibt – auch wenn diese nicht sichtbar wahrgenommen wird. Und diese unsichtbare Furcht vor Gott ist es, welche die mächtigen Völker der Welt daran hindert, dieses kleine Volk Israel völlig zu vernichten. Nach den Worten des Talmud (bei Berkovits): »Das ist fürwahr seine [Gottes] Mächtigkeit, daß er seiner Neigung nicht nachgibt und den Frevlern Langmut widerfahren läßt. Und das selbst ist wiederum ein Beweis seiner Furchtbarkeit; denn, wenn nicht die Furcht vor ihm
38
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 107; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 66.
39
Zu ihm s. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 141–147.
Schoah
601
wäre, wie könnte da ein Volk (das heißt Israel) unter den Nationen überleben?«40 Die zweite hier gegebene Antwort auf die Frage nach Gottes Macht ist für Berkovits entscheidend: Es ist die fortdauernde Existenz des Volkes Israel, die ein »Beweis« oder Zeugnis für die Präsenz Gottes in der Geschichte ist. Gott »offenbart seine Gegenwart im Fortbestand seines Volkes Israel.«41 In diesem Sinne kann Berkovits die Entstehung des Staates Israel als einen solchen, recht eigentlich unbegreiflichen, von Gott gesandten Rettungsanker des Volkes Israel verstehen.42 Die Geschichte dieser Welt hat für Berkovits demnach zwei ineinander verschlungene Ebenen. Das eine ist die tatsächliche Geschichte des »Ist«, dessen was durch die Machtspiele der Menschen geschieht. Und die andere Ebene ist die Existenz Israels, die offenbar diesen Machtspielen zum Teil unterworfen, aber doch nicht ganz ausgeliefert ist. Dies ist die Geschichte des »Soll«, das heißt die »Geschichte des Glaubens, daß das, was menschliches Leben bestimmen sollte, eintreten möge und eintreten wird.« Es ist die Glaubensgeschichte, welche im Widerspruch zur Machtgeschichte steht. Sie ist als solche das Zeugnis »einer übernatürlichen Dimension, die in die Geschichte hineinragt.«43
6.
Imitatio Dei – Machtlosigkeit Israels – auch als Staat
Die Existenz Israels war für die Welt, die nach den Regeln der Macht lebt, schon immer unerklärlich, denn dieses Volk hat seine Fortdauer ohne Macht, in purer Machtlosigkeit, ohne Land und ohne Regierung erhalten.44 Dies ist jedoch kein Zufall, sondern Teil des »Soll« in der Geschichte. Die Geschichte der Völker hat gezeigt, dass der Gebrauch der Macht stets nur Not und danach noch größere Macht hervorbrachte. Demgegenüber ist das in Israel verkörperte »Soll« das vom Propheten Sacharja (4,6) verkündete Motto: »Nicht durch Macht und nicht durch Gewalt, sondern durch Meinen Geist, spricht der Herr.«45 Dies ist tatsächlich eine imitatio dei: Israel tritt in der Geschichte wie Gott selbst ohne physische Macht auf. Berkovits glaubt, dass die jüdische Machtlosigkeit auch Aufgabe und Ziel für den Rest der Welt sein sollte:
40
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 108; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 67.
41
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 109; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 69.
42
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 134. 87; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 34.
43
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 111–112; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 71–72.
44
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 116.
45
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 140.
602
Eliezer Berkovits und Emmanuel Lévinas
»Die Juden haben durch lange Jahrhunderte als heimatloses Volk überlebt, ohne politische Macht und besondere materielle Stärke, während die Menschheit der Illusion nachlief, dass das menschliche Schicksal durch eben jene Faktoren entschieden werden könne, die den Juden fehlten. Sie haben überlebt und bezeugen ein ums andere Mal die Nemesis der rein materiellen Macht, in einer Weltepoche, in welcher dieses jüdische Bekenntnis eine Notwendigkeit für das weltweite Überleben darstellt.«46 Natürlich meint Berkovits, dies gelte auch für das in sein altes Heimatland zurückgekehrte Volk Israel. Die Rückkehr der Juden nach Palästina ist für ihn kein Endzweck, sondern eher ein Zeichen für die Welt, die nach der geistigen Erschöpfung nach dem Holocaust eine geistige Wiedergeburt braucht.47 Entsprechend sieht Berkovits in der Rückkehr der Juden ins Heilige Land nicht den Anbruch der messianischen Zeit – allenfalls einen messianischen Augenblick – an andrer Stelle spricht er hingegen von einem zwiefältigen Messianismus, einem nationalen und einem universalen.48 Das eine messianische Ziel ist der Nationalstaat, das andere, das universale, ist die Erlösung der Schechina aus ihrem Exil, der Erlösung Gottes aus dem Exil in der menschlichen Geschichte – wenn zu ihr auch die Rückkehr der Juden in ihr Land, die nationale Erlösung, hinzugehört. Das universale Ziel ist das von Jesaja verkündete, nämlich dass kein Volk mehr das Schwert wider ein anderes erhebt, Krieg nicht mehr erlernt wird und vom Zion Tora ausgeht (Jesaja 2, 3–4). Deshalb sieht Berkovits auch den Staat Israel im Rahmen der »Macht-Geschichte« noch immer im Exil, was auch durch die politische Einsamkeit dieses Staates unter den Völkern der Welt bezeugt wird.49 Allerdings muss man beachten, dass das Exil, von dem hier die Rede ist, nicht ein einmaliges Vertreibungsgeschehen ist, sondern dieses Exil ist von anderer Kategorie. Dies ist eher eine kosmische Befindlichkeit – Gott selbst ist ein Flüchtling in dieser Welt.50 Und so hat die Geschichte Israels auch mit dieser Art Exil begonnen. Abraham verließ eine Welt, in der er keine Heimat finden konnte. »Er wählte für sich sein eigenes persönliches Schicksal«: »Er hatte eine Wahl: Entweder sich selbst treu zu bleiben und ein Fremdling zu werden, ein Wanderer, oder einer seiner Umgebung zu werden und zuhause zu bleiben. Er erwählte für sich sein persönliches Schicksal, aber um das
46
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 142.
47
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 143.
48
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 156.
49
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 164; Berkovits, Crisis and Faith, S. 157.
50
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 124.
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603
zu erreichen, musste er ins Exil gehen. Und noch bevor seine Nachkommen geboren wurden, wurde über sie beschlossen, dass sie in einem Land, welches nicht das ihre ist, Fremdlinge sein und vierhundert Jahre bedrückt und gepeinigt würden. Das war offensichtlich nicht als Strafe gedacht.«51 Auch in Ägypten, in diesem Vierhundert-Jahre-Exil, blieben die Israeliten von der angestammten Bevölkerung getrennt. Sie mussten es so halten, weil sie Vorstellungen und Ideale vertraten, die mit jenen ihrer Umwelt nicht kompatibel waren. »Das Exil des jüdischen Volkes ist ein spezieller Fall dieser kosmischen Befindlichkeit und eine notwendige Folge davon.«52 Gottes Schechina und Israel sind gemeinsam im Exil.53 Insofern ist Israel der leidende Knecht Gottes, von dem der Prophet Jesaja spricht.54 Das Volk Israel war und ist zum Teil noch in einem doppelten Exil. Das ist zum einen das geographische Exil außerhalb des Landes Israel, und das »kosmische Exil« außerhalb der Weltgewohnheiten, außerhalb der Lebensweise der anderen Völker. Deutlicher beschreibt Berkovits die zwei Arten von Exil in seinem Buch Crisis and Faith55: »Es gibt zwei Arten von Exil. Da ist das nationale Exil, das mit dem Ḥurban beginnt, mit der Zerstörung der Souveränität des Volkes und ihrer Zerstreuung in fremde Länder. Vor dem nationalen Exil gibt es, fundamentaler und universeller, das kosmische Exil. Das nationale Exil ist ein Phänomen in der Geschichte der Völker; das kosmische Exil meint die spirituelle Qualität der universellen menschlichen Conditio zu allen Zeiten der Geschichte.«56 Die Bedeutung des kosmischen Exils ist des Nähern dann dies: »Gott hat seinen Plan für die Welt. Die ganze Welt ist von einer göttlichen Zielsetzung durchdrungen, die sehnend ihre Verwirklichung im Kosmos allgemein und in der menschlichen Geschichte insbesondere sucht. Da aber die Menschheit ihre eigenen Ziele verfolgt, wie die Leidenschaft für Macht, den Wunsch nach Herrschaft, nach Besitz und Vergnügen, darum verleugnen diese egoistischen menschlichen Triebe das göttliche mit der Schaffung des
51
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 122.
52
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 124.
53
Zum Exil der Schechina s. Jüdisches Denken Bd. 2, S. 555–557.
54
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 124–127; Jesaja 42, 1–4; 49, 1–6; 50, 4–9; 52, 13 – 53,
55
E. Berkovits, Crisis and Faith, New York 1976.
56
Berkovits, Crisis and Faith, S. 154.
12.
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Eliezer Berkovits und Emmanuel Lévinas
Menschen erstrebte Ziel. Darum ist Gottes eigene Zielsetzung innerhalb der Geschichte der Menschheit im Exil. Solange der göttliche Plan in der Geschichte unerfüllt bleibt, so lange erzählt die Geschichte der Menschheit die Erzählung dessen, was die jüdische Tradition Galut ha-Schechina, das Exil der göttlichen Anwesenheit nennt. Gott ist gleichsam ein Flüchtling in der Menschenwelt. Dieses Exil geht jedem nationalen Exil voran und ist die Wurzel von allen. Dank dieses [kosmischen] Exils beginnt die jüdische Geschichte mit einem Exil. Der an Abraham erfolgte Ruf war ein Ruf zur Identifizierung mit dem göttlichen Plan in der Geschichte. Dies nötigte ihn allerdings, alles hinter sich zu lassen und am Exil der Göttlichen Anwesenheit in der Geschichte teilzunehmen.«57 Berkovits scheint hier eine platonische Denkformel zu prägen, nach welcher es eine ideelle und eine verwirklichte Form des Exils gibt. Allerdings verhalten sich die beiden nicht nur wie Potenz und Realisierung. Vielmehr gehören beide letztlich unterschiedlichen Kategorien an, auch wenn sich diese in der Realisierung überschneiden können. Das kosmische Exil ist eher ein transzendentaler »Existenz-Begriff«, während das andere Exil ein historischer Begriff ist. Nach der Klärung der zwei zu unterscheidenden Begriffe von »Exil« in seinem späteren Buch Crisis and Faith, werden auch die unterschiedlichen Aussagen von Berkovits zur Bedeutung des Staates Israel und seiner Bewertung besser verständlich, die unten nochmals aufgenommen werden müssen.
7.
Eine Neubewertung der Schoah und des jüdischen Staates mittels der Exils-Vorstellung
In seinem drei Jahre nach Faith after the Holocaust erschienenen Buch Crisis and Faith, in welchem Berkovits die Doppelung der Exilsbegriffe deutlicher geklärt hatte, kommt Berkovits – wohl dank dieser Klärung – auch zu einer neuen Einschätzung des Holocaust als der oben dargestellten. Dort sagte Berkovits, dass hinsichtlich der Theodizee und der Glaubenszweifel der Holocaust sich nicht von den anderen Katastrophen der jüdischen Geschichte unterscheidet und daher – in dieser Hinsicht – von keiner Wende gesprochen werden könne. Jetzt hingegen spricht Berkovits im Zusammenhang mit der Schoah davon, dass die gegenwärtige Phase des Exils als »eine totale Krise wegen des radikal neuen Ereignisses« erkannt werden müsse. Aus dem Grund dürfe man dieses Ereignis, diesen Genozid, weder Schoah noch Holocaust nennen, denn derer hatte es in der geschichtlichen Vergangenheit des Judentums schon mehrere gegeben, wäh-
57
Berkovits, Crisis and Faith, S. 154–155.
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605
rend der Kreuzzüge, des Schwarzen Todes, den Chmielnicki Pogromen, den Massakern in der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg und noch andere. Bezüglich der Schoah von 1933–1945 sagt Berkovits nun: »Diese Katastrophe war jedoch von all diesen unterschieden, nicht nur im Ausmaß, sondern nach seiner Art, seiner wesenhaften Qualität. Der angemessene Name dafür ist nicht Schoah, sondern Ḥurban, Vernichtung (annihilation). Denn zum ersten Mal in unserer Geschichte wurde das Exil selbst zerstört. Nach jeder anderen nationalen Katastrophe, blieb stets noch genug Kraft im jüdischen Volk, fortzufahren, wieder aufzubauen sich wieder zu erholen. Wie wir schon früher gesagt hatten, war in all den anderen Exilen stets noch etwas von der erhofften Erlösung zugegen. Was dieses Mal geschah, war radikal neu.«58 Was nun war dieses Mal neu? Es war nicht die Quantität der Opfer, sondern es war der Schade, welcher am göttlichen Ziel der Welt angerichtet wurde. Es war die Zerstörung aller menschlichen Werte, ohne die menschliches Leben sinnlos erscheinen muss, die in diesen zwölf Jahren geschah. Der Plan Gottes mit der Menschenwelt war hier aufs tiefste erschüttert, Gottes Exil in der Welt erreichte hier seinen äußersten Tiefpunkt: »In unserer Generation, der Generation des Nazismus, des Verrats an allen Werten, ohne die menschliches Leben vollkommen sinnlos wird, fiel die Galut ha-Schechina (das Exil der göttlichen Anwesenheit) auf ihren tiefsten Punkt, erfuhr ihre höchst tragische Intensität in der Geschichte.«59 Dieser Ḥurban war demnach, gleichsam analog zur Tempelzerstörung, die Zerstörung des göttlichen Weltenplanes, der die Menschheit zu einer besseren Zukunft, zu Menschlichkeit und Einheit führen sollte. Vor diesem Hintergrund der Zerstörung dieses die Welt durchdringen sollenden göttlichen »Tempels«, des Heilsplanes für die Menschheit, kann Berkovits die Entstehung des Staates Israel mit ganz neuer Stoßkraft beschreiben. Die mit dem Exil der göttlichen Schechina aufs engste verflochtene Existenz Israels kam nun gleichermaßen auf einen Tiefstpunkt, an dem die früher stets vorhandene Hoffnung auf einen Neuanfang, auf eine künftige Erlösung zum Erlöschen gekommen war. »Unser Glaube war bis auf seine Fundamente erschüttert.« Und nach einer solchen totalen Zerstörung half als Remedium nur noch eine ebenso totale Rettungsmaßnahme, nämlich die Rückkehr der Souveränität an das Volk 58
Berkovits, Crisis and Faith, S. 158.
59
Berkovits, Crisis and Faith, S. 158.
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Eliezer Berkovits und Emmanuel Lévinas
Israel in der Gründung eines eigenen jüdischen Staates. »Ohne diese [Rettung] wären wir nicht fähig gewesen, fortzufahren.«60 Diese Rettung hat die »ausgetrockneten Gebeine« wieder belebt. »Die göttliche Vorsehung hatte keine andere Wahl als uns ein gehörig Maß nationaler Erlösung zu schenken, um der nationalen Zerstörung entgegenzutreten.«61 Wenn es nun oben geheißen hatte, dass auch der Staat Israel noch im Exil lebe, so ist damit – nach dem bisher Dargelegten – zu verstehen, dass zwar ein Stück nationaler Erlösung – als Heilmittel – erfolgte, damit aber noch nicht die »kosmische Erlösung« erlangt sei. Und dies genau ist der Ansatzpunkt für die Kritik von Berkovits am gegenwärtigen Staat Israel. Aus seiner Sicht hat sich dieser Staat noch nicht auf den ihm aufgegebenen Weg begeben, und dies gilt nach Berkovits für die Säkularen und die Ḥaredim (die Gottesfürchtigen Ultraorthodoxen) wie auch für das rabbinische Establishment gleichermaßen. Diese Kritik nach allen Seiten im Staat Israel hängt von Berkovitsʼ Auffassung vom Wesen des Judentums ab. Für ihn ist das Zentrum und die Basis des Judentums natürlich die Tora.62 Aber die Tora ist nach biblischer Vorgabe eine Tora, die für das Leben bestimmt ist, eine Torat Ḥajjim, das heißt, so Berkovits, eine Lehre, welche das gesamte Leben des jüdischen Volkes zu bestimmen hat. Es ist offensichtlich, dass dies in der Diaspora beziehungsweise im Exil unter den Völkern nicht möglich war, weil dort große Teile des jüdischen Lebens von den »Gastvölkern« bestimmt wurde. Dies konnte und sollte nun nach Erlangung der eigenen Souveränität anders werden. Nicht nur der individuelle religiöse Alltag sollte jetzt der Tora unterliegen, sondern alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, der Kultur und der Wissenschaft. Natürlich stößt Berkovits mit dieser Forderung auf den Widerstand der Säkularen in Israel. Aber Berkovits will mit seiner Kritik fast noch mehr die Religiösen im Lande treffen. Ihnen wirft er vor, dass sie noch nicht begriffen haben, dass der Einfluss der Tora nunmehr – wie zur Zeit der biblischen souveränen israelitischen Staaten – auf alle Lebensbereiche auszudehnen sei. Den rabbinischen Gelehrten seiner Tage hält Berkovits vor, dass sie die Exils-Tora in den souveränen Staat Israel importiert hätten, also eine Tora der beschränkten Verwirklichung des Judentums. Deswegen fordert er mit allem Nachdruck, dass es höchste Zeit sei, die Halacha zu novellieren. Die Halacha muss sich den Forderungen der neuen Zeit stellen, muss sich herausfordern lassen und neue Antworten finden. Es braucht nun eine neue Torat ʼErez Jisraʼel, eine Tora die im Lande Israel den neuen Gegebenheiten entspricht, auf die neuen
60
Berkovits, Crisis and Faith, S. 159.
61
Berkovits, Crisis and Faith, S. 159.
62
Zum Folgenden vgl. D. Hazony, Eliezer Berkovits, Theologian of Zionism, in: Azure 17 (Spring 5764/2004), online: http://azure.org.il/include/print.php?id=223
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Herausforderungen reagiert.63 Erst wenn die Tora dieses Landes sich dieser Aufgabe stellt, macht sie sich auf den Weg, dem göttlichen Menschheitsplan gerecht zu werden. Um dies in Israel bewusst zu machen, hat Berkovits eigens ein auf Hebräisch verfasstes Buch hinausgehen lassen, mit dem provokanten Titel: Krise des Judentums im Staat der Juden.64 In diesem Buch formuliert Berkovits höchst provokative Thesen, die nur vor dem Hintergrund der skizzierten Auffassungen verständlich sind. Da heißt es zum Beispiel: »Wenn wir unsere Erörterungen zusammenfassen, müssen wir sagen, dass der Staat Israel kein jüdischer Staat ist, und dies nicht unbedingt aus Gründen der Religion und des Glaubens. Auch wer nicht gläubig ist, muss wissen, dass der Titel oder die Benennung ›Jude‹ nicht auf der Straße zu finden ist. ›Jude‹ heißt: Eine lange einzigartige Geschichte. Eine nationale Erfahrung, eine reiches originelles Schaffen aus all den Jahrhunderten der Existenz des Volkes, ein reicher Schatz an Moralvorstellungen, nationalen Werten und eine in der Menschheitsgeschichte unvergleichliche Hingabe, eine Lebensweise, ein Glaube und Gehorsam gegenüber dem Gebot – dessen Ursprung jenseits der Grenzen des nur Menschlichen liegt. All das und noch mehr prägte die jüdische Identität und entstammt ihr.«65 Die Abgeschnittenheit von dieser Tradition, so Berkovits, äußert sich zum Beispiel sogar darin, dass viele Israelis am Recht der Juden auf dieses Land zweifeln. Die besetzten Gebiete, die das Land der Väter sind, wird von vielen nur als »Gebiete« bezeichnet, die man gar als Verhandlungsmasse in Friedensgesprächen betrachten kann. Das Land der Väter, Hebron die alte Königsstadt Davids, die Gräber der Patriarchen dort, werden vom israelischen Militär »judenrein« gehalten, anstatt zum Beispiel das alte jüdische Hebron wieder zu errichten. Berkovits sieht in all dem von ihm Kritisierten, den israelischen Versuch, ein neues Volk zu kreieren, das von der langen jüdischen Tradition abgeschnitten ist.66 Aber trotz solch harscher Kritik sieht Berkovits in der Staatsgründung Israels ein messianisches Signal: »Das Entstehen des Staates nach zwanzig Jahrhunderten Exil ist ein Ereignis in der messianischen Geschichte des jüdischen Volkes und der Welt. Der
63
Berkovits, Crisis and Faith, S. 143–147.
64
Berkovits, Maschber ha-Jahadut be-Medinat ha-Jehudim, Jerusalem 1987.
65
Berkovits, Maschber ha-Jahadut be-Medinat ha-Jehudim, S. 132.
66
Berkovits, Maschber ha-Jahadut be-Medinat ha-Jehudim, S. 134.
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Eliezer Berkovits und Emmanuel Lévinas
Staat Israel ist das spirituelle Zentrum von ganz Israel, nicht dank dessen, was er ist, sondern weil er ist.«67 Das, was tatsächlich eine grundlegende Wende in der jüdischen Geschichte und im jüdischen Denken hervorgebracht hat, oder noch hervorbringen muss, ist demnach für Berkovits weniger die Schoah, sondern die wiedererlangte Souveränität des jüdischen Volkes in seinem eigenen Staat.
II.
EMMANUEL LÉVINAS
1.
Biographische Notiz
Emmanuel Lévinas wurde am 30. Dezember 1905 (nach dem julianischen Kalender) beziehungsweise am. 12. Januar 1906 (nach dem gregorianischen) in Kaunas, Litauen geboren und starb am 25. Dezember 1995 in Paris. 1923 ging er nach Straßburg zum Studium der Philosophie, von 1928–29 studierte er in Freiburg bei Edmund Husserl und Martin Heidegger – hier promovierte er über Edmund Husserl. Als französischer Unteroffizier fiel er im Juni 1940 in deutsche Gefangenschaft und blieb bis April 1945 im Stammlager Fallingbostel in der Lüneburger Heide interniert. Als praktizierender Jude war er danach Direktor der École Normale Orientale der Alliance Israélite Universelle in Paris. 1961 erfolgte seine »Habilitation« und führte zu einer Professur an der Universität Poitiers und ab 1967 an der Universität Paris-Nanterre, seit 1973 (bis 1976) an der Sorbonne. Für eine umfangreiche Bibliographie von Lévinas verweise ich auf W. Stegmaier, Levinas, 68 für die Biographie auf S. Malka, Emmanuel Lévinas. Eine Biographie. 69
2.
Gottes Verborgenheit und menschliche Verantwortung
Wäre es nicht eindeutig dokumentiert, dass Emmanuel Lévinas seinen kurzen Text »Die Tora mehr lieben als Gott«70 schon 1955 in einer Radiosendung am
67
Berkovits, Crisis and Faith, S. 146–147.
68
W. Stegmaier, Levinas, Freiburg, Basel, Wien 2002.
69
S. Malka, Emmanuel Lévinas. Eine Biographie, München 2003
70
E. Lévinas, Aimer la Thora plus que Dieu, in: Difficile Liberté. Essais sur le judaisme, Paris 1976 (1963), S. 189–193; deutsch: Die Thora mehr lieben als Gott, in: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, übs. E. Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1992, S. 109–113; und in.
Schoah
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Freitag (Schabbat-Vorabend) den 29. April 1955 in der Sendung »Höre Israel« vorgetragen hatte, könnte man glauben, diese kleine Schabbat-Ansprache sei eine Zusammenfassung der Gedanken von Eliezer Berkovits und nehme auch Gedanken von Emil Fackenheim auf, aber so muss es wohl umgekehrt gesehen und diese Rede vielleicht als Nukleus jener verstanden werden. Lévinas, der sich viel mit jüdischen Texten befasste,71 war von diesen, wie Fackenheim und Berkovits, nachhaltig beeinflusst, so dass an entscheidenden Punkten sich diese gemeinsame Tradition manifestiert. Der Philosoph Ephraim Meir von der Bar Ilan Universität weist in seinem Buch Levinasʼs Jewish Thought. Between Jerusalem and Athens72 deshalb nicht unerwartet auf Parallelen aber auch auf Differenzen bei und zu anderen jüdischen Denkern, wie Jeschajahu Lejbowitz, Emil Fackenheim, Rav Kuk (Kook) und David Birnbaum gerade in der Frage der Theodizee und des Bösen in der Welt hin. In diesem vierten Band des Jüdischen Denkens soll nicht der allgemeine Philosoph Lévinas zur Sprache kommen, sondern nur der jüdische Denker, der sich zur Schoah äußert, wiewohl auch dies nicht als vereinsamte thematische Insel im Werk von Lévinas gesehen werden darf. Die 1998 publizierten »Akten des 36. Kolloquiums frankophoner jüdischer Intellektueller«73 gibt als Titel der ersten Sitzung: »Die Schoah als ethisches Trauma im Werk von Emmanuel Lévinas«, um anzuzeigen, dass dieses Trauma im Werk von Lévinas nicht auf den expliziten kurzen Text zur Schoah beschränkt werden kann. Dennoch soll an dieser Stelle die Reduktion erlaubt sein. Der kurze hier herangezogene Text von Lévinas ist ein »Kommentar« zu dem damals gerade französisch publizierten Text von Zvi Kolitz, Jossel Rackower aus Tarnopol spricht zu Gott,74 den Lévinas einen »wahren Text, wahr wie nur Fiktion sein kann« nennt. »Der Text gibt sich als Dokument, geschrieben während der letzten Stunden des Widerstandes des Warschauer Ghettos. Der ErzähBrocke-Jochum, Wolkensäule und Feuerschein, S. 213–217 – ich folge in der Regel diesem Text, Abweichungen sind vermerkt. 71
Man bedenke seine Talmudischen Diskurse: E. Levinas, Vier Talmud-Lesungen Frankfurt a. M. 1993; Jenseits des Buchstabens, Bd. 1: Talmud-Lesungen, Frankfurt a. Main 1996; Anspruchsvolles Judentum. Talmudische Diskurse, Frankfurt a. M. 2005; (dt. von allen F. Mieting); E. Levinas, Stunde der Nationen. Talmudlektüren, Frankfurt a. M. 1994 (dt. E. Weber).
72
Ephraim Meir, Levinasʼs Jewish Thought. Between Jerusalem and Athens, Jerusalem 2008.
73
Difficile Justice. Dans la trace dʼEmmanuel Lévinas. Actes du XXXVIe Colloque des intellec-
74
Deutsch: Z. Kolitz, Jossel Rackover spricht zu Gott. Unter Mithilfe von David Kahan aus dem
tuels juifs de langue française. Hg. J.Halpérin et N. Hansson, Paris 1998. Jiddischen übersetzt von Anna Maria Jokl, Deutsche Hefte 22 (1956); nochmals in der Edition Tiessen, Neu Isenburg 1985; Z. Kolitz, Jossel Rakovers Wendung zu Gott. Zweisprachige Ausgabe mit einem Faksimile des rekonstruierten Originals, hg. und kommentiert P. Badde, Zürich1999 (1996); u. siehe R. Pesch, Anna Maria Jokl und der »Jossel Rackover« von Zvi Kolitz, Trier 2005.
610
Eliezer Berkovits und Emmanuel Lévinas
ler wäre Zeuge all der Schrecken gewesen, hätte unter grausamen Umständen seine kleinen Kinder verloren. Als letzter Überlebender seiner Familie, der nur noch wenige Augenblicke zu leben hat, hinterläßt er seine letzten Gedanken.«75 Der Ausgangspunkt von Lévinas ist ähnlich wie bei Emil Fackenheim, zum einen die eigene Erfahrung in einem deutschen Lager, zum anderen der literarische »Bericht«, von denen das Nachdenken angestoßen wurde. Gleichsam die amerikanische Entstehung und Weiterentwicklung der »Holocaust–Theologie« vorwegnehmend, nennt Lévinas als erste zu erwartende Reaktion auf dieses Geschehen diejenige, welche der erste einschlägige amerikanische Autor, R. Rubenstein wählte, nämlich zu sagen »Gott ist tot«. Lévinas führt diese mögliche Antwort als Frage ein und zeigt damit an, dass er sie dann doch ablehnen wird: »Was bedeutet dieses Leiden der Unschuldigen? Zeugt es nicht von einer Welt ohne Gott, einer Erde, auf der allein der Mensch das Maß von Gut und Böse ist? Die einfachste Reaktion wäre, sich für den Atheismus zu entscheiden.«76 In diesen ablehnenden negativen Formulierungen sind indessen schon die positiven Antworten von Lévinas enthalten, der die negativen Aussagen, der Mensch als Maß aller Dinge, die Welt ohne Gott, ins richtige Licht setzt. Bezüglich des »Atheismus« heißt das, dass eine solche Gottlosigkeit der Atheisten, eine solche Welt, über der sich ein leerer Himmel erstreckt, gerade das ist, was man als Mensch anerkennen muss, um die Dinge richtig zu verstehen, um einen Gott für Erwachsene zu konzipieren und nicht den lieben Kindergott, der stets zur Hilfe eilen sollte: »Der wahre Monotheismus ist es sich schuldig, auf die legitimen Anforderungen des Atheismus zu antworten. Ein Gott für Erwachsene zeigt sich gerade in der Leere des kindlichen Himmels. [Im] Augenblick, da Gott sich von der Welt zurückzieht und sein Antlitz verhüllt […]«77 Lévinas wird mit seiner Antwort auf die Frage nach der richtigen Reaktion auf die Schoah zunächst nur im ersten Satz dem Atheismus gerecht. In seinem Nachsatz greift er auf die wohlbekannte, oben von Berkovits schon beschriebene,
75
Lévinas, Die Tora mehr zu lieben als Gott, Brocke-Jochum, S. 213–214; Schwierige Freiheit,
76
Lévinas, Die Tora mehr zu lieben als Gott, Brocke-Jochum, S. 214; Schwierige Freiheit,
77
Lévinas, Die Tora mehr zu lieben als Gott, Brocke-Jochum, S. 214; Schwierige Freiheit,
S. 109; Difficile Liberté, S. 190. (Die beiden deutschen Übersetzungen sind verschieden). S. 109; 110, Difficile Liberté, S. 190. S. 110; Difficile Liberté, S. 190.
Schoah
611
Formel vom Rückzug Gottes zurück, der sein Angesicht vor seinen Geschöpfen verbirgt. Bei Lévinas ist demnach nicht vom Tod Gottes die Rede, auch nicht von seiner Nichtexistenz. Lévinas hält am Gott der jüdischen Tradition fest, allerdings in einer Form, welche die Leidenden, voran in den biblischen Psalmen, schon immer erkannt hatten. Lévinas: »Gott, der das Antlitz verhüllt, ist, wie wir denken, weder eine Abstraktion des Theologen, noch ein Bild des Dichters. Es ist die Stunde, in der der Gerechte keine äußere Zuflucht mehr findet, in der ihn keine Institution mehr beschützt, in der sich auch die Tröstung der göttlichen Gegenwart im kindlichen religiösen Gefühl verweigert, in der das Individuum nur in seinem Bewußtsein siegen kann, d. h. notwendigerweise im Leiden.« Lévinas beschreibt die Situation der Selbstverhüllung Gottes ähnlich wie Berkovits, wenn er vom Alleinsein des Leidenden spricht, der schon zum Schafott schreitet, und ähnlich wie Fackenheim, wenn dieser vom »Widerstand«, der geistigen Bewahrung der eigenen menschlichen Würde spricht, die für Fackenheim zentral ist.78 Die Kehrseite dieser Selbstverhüllung Gottes, der den Menschen »in einer Welt ohne Ordnung« zurücklässt, ist die Übertragung der Verantwortung für diese Welt auf den Menschen, wie dies auch Berkovits gesagt hat. Entsprechend sagt Lévinas: Diese Welt »offenbart einen Gott, der, indem er auf jede hilfreiche Manifestation verzichtet, an die volle Reife des restlos verantwortlichen Menschen appelliert.«79 Wo Fackenheim vom Bewahren der eigenen Ehre und Menschenwürde als Form des Widerstandes in den Lagern spricht, da steht für Lévinas mit Jossel Rackower der »Stolz, Jude zu sein, konkret, historisch und ganz simpel zum jüdischen Volk zu gehören.« Dieser Stolz des Judeseins wird sodann auf dasjenige Element des Judeseins gegründet, welches die Beziehung zwischen Israel und seinem Gott trägt und welches die Gegenwart Gottes in Israel repräsentiert, nämlich auf die Tora,80 »das höchste und schönste aller Gesetze und Lehren«.81 In dieser Tora drückt sich, so Lévinas, »das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen« aus, es ist »eine geistige Beziehung durch die Vermittlung der Lehre, der Tora.« Auf diese Lehre, auf deren innere Evidenz, stützt sich das Vertrauen
78
Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, III, 6.5.
79
Lévinas, Die Tora mehr zu lieben als Gott, Brocke-Jochum, S. 215; Schwierige Freiheit,
80
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 227–234. 257–262. 301–305.
81
Lévinas, Die Tora mehr zu lieben als Gott, Brocke-Jochum, S. 215; Schwierige Freiheit,
S. 111; Difficile Liberté, S. 191.
S. 111; Difficile Liberté, S. 191.
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Eliezer Berkovits und Emmanuel Lévinas
auf diesen Gott, nicht auf eine irdische Autorität. Darum Jossels Bekenntnis, welches auch Lévinasʼ Rede ihren Titel gab: »Ich liebe Ihn, aber mehr noch liebe ich seine Tora … Und selbst wenn ich von Ihm enttäuscht wäre, die Gebote der Tora würde ich nichtsdestoweniger beobachten.«82 Lévinas betont in diesem Zusammenhang jedoch nicht die sichtbare Tora, wie sie etwa in der Synagoge zum Anschauen hochgehoben wird, sondern die unsichtbare Tora, die als solche auch dem verborgenen, abwesenden Gott entspricht: »Die wahre Humanität des Menschen und seine Milde kommen mit den strengen Worten eines anspruchsvollen Gottes in die Welt; das Geistige gibt sich nicht als eine sinnlich wahrnehmbare Substanz, sondern durch die Abwesenheit; Gott wird nicht durch die Menschwerdung [wie im Christentum] offenbar, sondern durch das Gesetz; und seine Größe ist nicht der Hauch Seines heiligen Geheimnisses. Seine Größe verursacht nicht Furcht und Zittern, sondern erfüllt uns mit den erhabensten Gedanken.«83 Man erinnere sich an die oben von Berkovits angeführte Debatte darüber, worin sich Gottes Macht in der Welt ausdrückt: Die Rabbinen meinten in Gottes Selbstbeschränkung, seinem strafenden Zorn gegen die Sünder nachzugeben – auch dem stimmt Berkovits zu – aber entscheidend ist für ihn, dass sich die Macht Gottes vor allem in der fortdauernden Existenz des Volkes Israel erweist, die ein »Beweis« oder Zeugnis für die Präsenz Gottes in der Geschichte ist. Berkovits: Gott »offenbart seine Gegenwart im Fortbestand seines Volkes Israel.«84 Für Lévinas hingegen ist es die Lehre, in der sich Gottes Macht – unsichtbar – in der Welt erweist. Und es ist diese Akzentsetzung auf die Lehre der Tora, auf das Gesetz, die Lévinas wichtig ist, denn durch das Gesetz wird dem Menschen die Verantwortung für die Welt in die Hand gegeben. Aber mit diesem Gesetz hat der Mensch zugleich gegenüber der Gottheit das Recht, Forderungen zu stellen, denn auch Gott muss sich an dieses Gesetz halten: »Sich das Antlitz zu verhüllen, um vom Menschen – übermenschlich – alles zu verlangen, einen Menschen geschaffen zu haben, der antworten kann, der seinen Gott angehen kann, und zwar nicht immer als Schuldner, sondern als Gläubiger – welch wirklich göttliche Größe. Der Gläubiger schließlich hat
82
Lévinas, Die Tora mehr zu lieben als Gott, Brocke-Jochum, S. 216; Schwierige Freiheit,
83
Lévinas, Die Tora mehr zu lieben als Gott, Brocke-Jochum, S. 216; Schwierige Freiheit,
84
Berkovits, Faith after the Holocaust, S. 109; Brocke-Jochum, Wolkensäule, S. 69.
S. 112; Difficile Liberté, S. 192. S. 112; Difficile Liberté, S. 192.
Schoah
613
zwar vor allen Dingen Glauben, er ist aber auch derjenige, der sich nicht85 mit den Ausflüchten des Schuldners [sprich Gottes] abfindet. […] Mit der Fähigkeit zum Vertrauen auf einen abwesenden Gott ist der Mensch auch gleichzeitig der Erwachsene, der seine eigene Schwäche misst: die heroische Situation, in der er sich behauptet, macht die Welt wertvoll, bringt aber auch Gefahr. Gereift durch einen aus der Tora hervorgegangenen Glauben, wirft er Gott seine maßlose Größe und seine übersteigerten Ansprüche vor.«86 Es ist schließlich der Mensch, der sich dem Gesetz dieses verborgenen Gottes verschreibt, der dann letztlich auch fordern kann, dass Gott sein Antlitz enthüllt: »Aber allein der Mensch, der den verhüllten Gott erkannt hatte, kann diese Enthüllung verlangen. In welcher kraftvollen Dialektik entsteht die Gleichheit von Gott und Mensch gerade in ihrem Missverhältnis!«87. Mit der Annahme des Gesetzes des verhüllten Gottes, des abwesenden Gottes, wird der Mensch, so Lévinas, mit einer Verantwortung für die Welt ausgestattet und erhält zugleich das Recht, Gott als Gleicher gegenüberzutreten und an ihn die Forderung nach Gerechtigkeit zu stellen – deren Durchführung auf Erden aber doch dem Menschen obliegt.
85
Diese Negation fehlt irrtümlicherweise in der Übersetzung von Brocke-Jochum, S. 216; vgl.
86
Lévinas, Die Tora mehr zu lieben als Gott, Brocke-Jochum, S. 216; Schwierige Freiheit,
87
Lévinas, Die Tora mehr zu lieben als Gott, Brocke-Jochum, S. 217; Schwierige Freiheit,
Schwierige Freiheit, S. 112; Difficile Liberté, S. 193. S. 112–113; Difficile Liberté, S. 192–193. S. 113; Difficile Liberté, S. 193; ich folge in der Übersetzung teilweise Eva Moldenhauer in Difficile Liberté.
VI. DER MENSCH IN DER VERANTWORTUNG DER GOTTESENTWICKLUNG HANS JONAS (1903–1993) 1.
Biographisches
Hans Jonas wurde 1903 in Mönchengladbach in eine weitgehend assimilierte jüdische Fabrikantenfamilie hineingeboren, in der die traditionellen Gebote nur noch eingeschränkt gepflegt wurden. Er studierte Philosophie, Altes und Neues Testament sowie Kunstgeschichte zunächst in Freiburg bei Edmund Husserl, Martin Heidegger, später in Marburg, wo er 1928 bei Heidegger und Rudolf Bultmann mit der epochemachenden Arbeit Gnosis und spätantiker Geist promovierte. Dazwischen wechselte er nach Berlin, um dort außer Philosophie und Religionsgeschichte auch an der Hochschule für Jüdischen Studien zu studieren, unter anderen jüdische Philosophie bei Julius Guttmann und Bibelexegese bei Harry Torczyner. In Berlin näherte er sich dem zionistischen Studentenbund, der seine Mitglieder auf eine Auswanderung nach Palästina vorbereitete. Wegen des antijüdischen Boykotts am ersten April 1933 verließ der junge Jonas Deutschland, zunächst nach England, um 1935 nach Palästina auszuwandern, wo er für sich in dem Kreis um Gershom Scholem und Hugo Bergmann an der Hebräischen Universität einen Ort suchte. 1936 trat er der jüdischen Selbstverteidigungsorganisation Hagana bei. 1939 bewarb er sich bei den britischen Streitkräften in Palästina, um so aktiv im Kampf gegen Nazideutschland zu kämpfen. 1940–1945 wurde er in die Jüdische Brigade der britischen Armee aufgenommen. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland als britischer Soldat im Jahre 1945 wurde ihm bewusst, dass seine Mutter nach der Deportation ins Ghetto Lodz anschließend in Auschwitz ermordet wurde, woran Jonas zeit seines Lebens litt, weshalb es für ihn eine Genugtuung war, 1945 die ausgebombten deutschen Städte zu sehen. 1948–1949 diente er in der israelischen Armee. Nachdem seine Laufbahn als Lehrer an der Hebräischen Universität nicht seinen Erwartungen entsprach, folgte er 1949 einem Ruf an die McGill University in Montreal, von 1950–1954 an die Carlton University in Ottawa und schließlich an die New School for Social Research in New York. Jonasʼ Auseinandersetzung mit seiner deutschen akademischen Vergangenheit war sehr viel entschlossener als etwa die von Emil Fackenheim. Im Jahre 1964 nutzte er die Gelegenheit eines Eröffnungsvortrages, den er bei einer internationalen Konferenz in New Jersey statt des ursprünglich erwarteten Martin Heidegger halten durfte, zu einer gründlichen Abrechnung mit seinem ehemaligen Doktorvater. Darin charakterisierte er dessen Philosophie als Heidentum, deren sich die christliche Theologie nicht zur Selbstexplikation bedienen sollte, da
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eben gerade diese Philosophie auch in einem inneren Zusammenhang mit Heideggers Nazi-Verstrickung zu sehen sei.1 Diese kämpferische und rigoros sachorientierte Haltung zeigte Jonas auch in der Auseinandersetzung mit seiner alten Studienfreundin Hannah Arendt, nachdem diese ihren allseits als Skandal empfundenen Bericht über den Jerusalemer Eichmann-Prozess, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, veröffentlicht hatte. Christian Wiese schreibt dazu: Jonasʼ »Empörung galt nicht nur ihrem sarkastischen, dem Leiden der Opfer gegenüber unangemessenem Tonfall und der Deutung der ›Banalität des Bösen‹, die ihm völlig verfehlt schien, sondern vor allem ihrer Bewertung des deutschen Zionismus […] All das erschien ihm als Folge einer verhängnisvollen Ignoranz in Bezug auf die jüdische Geschichte und Tradition. Sein Hauptaugenmerk galt Arendts Urteil, die These von der ›Ewigkeit des Antisemitismus‹ sei eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, mit der die Zionisten der Aufhebung der Emanzipation der Juden und der Bestreitung des Rechtes auf gleichberechtigte Integration in die Hände gearbeitet hätten.«2 Und mit Jonas selbst: »Ich war erschrocken über solches Nichtwissen vom Judentum, vor allem aber über die Art, wie sie uns und insbesondere den Zionisten, aber auch alle Juden im allgemeinen, die Mitschuld an der Shoah gab, anstatt die erzwungene Mitwirkung an der eigenen Vernichtung als tragischen, schrecklichen Tatbestand zu schildern.«3 Jonas starb im Alter von 90 Jahren 1993 in New York. – Sein Hauptarbeitsgebiet war die allgemeine Philosophie, insbesondere die Ethik im technologischen Zeitalter.4 1
Dazu und überhaupt zu Jonas’ geistiger Entwicklung siehe man das anregende Buch von Ch. Wiese, »Zusammen Philosoph und Jude«. Hans Jonas, Frankfurt a. M. 2003; Hans Jonas, Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander hg. von Ch. Wiese, Frankfurt a. M. 2003.
2 3
Wiese, Zusammen Philosoph und Jude, S. 98–99. Jonas, Erinnerungen, S. 291f; nach Wiese, Zusammen Philosoph und Jude, S. 99; Der Brief von Jonas an Arendt in der Sache bei Wiese, Philosoph und Jude, S. 100–108.
4
Die Publikationen: Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1: Die mythologische Gnosis, Göttingen 1954 (wieder 1988), Teil 2: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie, Göttingen 1993; Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973; Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1979; Was für morgen lebenswichtig ist. Unentdeckte Zukunftswerte (mit Dietmar
Hans Jonas
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2.
»Der Gottesbegriff nach Auschwitz«
2.1
Vorbemerkung
Der Grund, weshalb Hans Jonas im Zusammenhang jüdischer Stimmen zur Schoah behandelt wird, ist zuallererst seiner kleinen Schrift Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme 5 zu verdanken. Sie hat neben der Verleihung des Dr. Leopold-Lucas-Preises, zu deren Anlass sie verfasst wurde, auch ganz persönliche Gründe – den Tod des Rabbinerehepaares Lucas in Theresienstadt und Auschwitz, wo auch Jonasʼ eigene Mutter ermordet worden war. So wurde dieser Vortrag für Jonas die Erbringung einer persönlichen Schuldigkeit, nämlich den Ermordeten »so etwas wie eine Antwort auf ihren längst verhallten Schrei zu einem stummen Gott nicht zu versagen.«6 Aber auch dieser Dienst an den Ermordeten kam nicht von ungefähr. Jonas hatte sich unabhängig von diesem konkreten Anlass der Preisverleihung schon zuvor gelegentlich zur Gottesfrage in kleineren Reden oder Aufsätzen geäußert, die ihm schließlich für die Tübinger Gedenkrede zu Diensten kamen. Wiewohl die Frage nach Gott nicht zu Jonasʼ Haupt-Interessen und –Arbeitsgebieten gehörte, bewegte sie ihn doch immer wieder, nicht zuletzt im Zusammenhang der Frage nach der Begründung der Ethik, und dies mehr aus allgemeinen philosophischen als speziell jüdischreligiösen Gründen. Darum atmet auch der Gottesbegriff nach Auschwitz nicht den unverkennbaren jüdischen Geist, den man erwarten würde – ja man kann sogar sagen, Jonas versucht hier, seinen allgemeinen, nicht zuletzt an Friedrich Wilhelm Schellings »Weltaltertexte«7 erinnernden Gottesbegriff an den bibliMieth), Freiburg im Breisgau 1983; Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt am Main 1987; Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung, Frankfurt am Main 1987; Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt am Main 1987; Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt am Main 1992. 5
Der Text war ursprünglich ein Festvortrag an der Tübinger Universität von 1984 anlässlich der Verleihung des Dr. Leopold-Lucas-Preises der Evangelisch-theologischen Fakultät an Jonas. In gedruckter Form erschien er an mehreren Orten, in: H. Jonas, Reflexionen in finsterer Zeit. Zwei Vorträge von Fritz Stern und Hans Jonas, herausgegeben von O. Hofius, Tübingen 1984; ders., Gedanken über Gott. Drei Versuche, in: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. Main u. Leipzig 1992; ders., Gedanken über Gott. Drei Versuche, Frankfurt a. M. 1994; und separat: ders., Der Gottesbegriff nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1987 (nach dieser Ausgabe wird zitiert).
6
Jonas, Gottesbegriff, S. 7.
7
Zu ihnen siehe: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Die Weltalter. Fragmente. In den Fassungen von 1811 und 1813, herausgegeben von Manfred Schröter, München 1946. Auf diese Vorstellungen Schellings wird in Band fünf des Jüdischen Denkens im Kapitel zu Franz Rosenzweig ausführlich eingegangen werden. Entsprechend konsequent nimmt Jonas denn
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schen Gottesbegriff anzunähern, damit der Untertitel der kleinen Schrift »Eine jüdische Stimme« ihr Recht erfährt. Diese vielleicht etwas ernüchternde Beurteilung stimmt indessen ganz mit Jonasʼ Selbstcharakterisierung überein, die – was ihre alles überragende Bezugnahme auf die biblischen Propheten – ziemlich protestantisch klingt und für seine Generation deutsch-jüdischer Intellektueller nicht untypisch war. In seinen Erinnerungen sagt er über sich selbst: »Mein Verhältnis zum Judentum war von der Zeit an, in der ich eigenständig zu denken begann, von jener zwiespältigen Art, die wahrscheinlich generell das Verhältnis eines modernen zeitgenössischen Juden zur jüdischen Erbschaft kennzeichnet, jedenfalls dann, wenn man sie nicht einfach preisgibt und vergißt. Ich war tief ergriffen von der Bibel und gleichzeitig nicht gläubig. […] Im Zentrum stand für mich die Entdeckung des Ethos der Propheten. Sie sind für mich die eigentliche Verkörperung der Botschaft des Judentums, die in ihrer Verkündigung in die jeweilige Gegenwart hineinspricht, und zwar fast immer in Opposition zu dem, was herrscht und gilt. […] Wie weit diese Zugehörigkeit zum Judentum mit meinem allgemeinen Weltbild verbunden ist, ist mir selbst allerdings immer etwas unklar geblieben. […].«8 Im Folgenden wird es deshalb unter anderem darum gehen müssen, die Verflechtung dieser beiden Fäden in der Frage nach dem Gottesbegriff zu erhellen. Der jüdische Strang dieser Kordel weist immerhin eine gewisse Nähe zu Eliezer Berkovitsʼ Rede vom verborgenen, machtlosen und aus der Geschichte zurückgezogenen Gott auf.9
2.2
Warum Gott?
Nach dem vorausgegangenen Bekenntnis zur Glaubenslosigkeit durch Hans Jonas darf man die Frage stellen, weshalb er sich mit Blick auf Auschwitz gerade der Gottesfrage zuwendet, die man doch mit manchen der hier verhandelten Denkern und Stimmen hätte schlicht als abgeschlossen, als nicht mehr diskussionswürdig, betrachten können. Die Antwort auf diese Frage nach der Motivation zu dieser Themenwahl erhält man leichter aus jenem anderen Text von Jonas, in auch die lurianische Lehre vom Zimzum auf, nach welchem der Erste Akt der Schöpfung eine Selbstbegrenzung der Macht Gottes war, Jonas, Gottesbegriff, S. 46; und Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 626–633; u. Ch. Schulte, Zimzum. Gott und Weltursprung, Berlin 2014, hier speziell das Kapitel zu Jonas, S. 405–408. 8
H. Jonas, Erinnerungen, S. 339ff; nach Wiese Philosoph und Jude, S. 154–155.
9
Zu Berkovits s. Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, V, I.
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welchem er zum ersten Mal und sehr viel ausführlicher als in seiner AuschwitzRede seinen Mythos vom werdenden Gott entfaltet – es ist der Aufsatz »Unsterblichkeit und heutige Existenz«.10 Dort wird deutlich, dass Jonas nicht als Theologe sprechen will, sondern dezidiert als Philosoph, als Moral-Philosoph. Als solcher stellt er sich die Frage, wie man eine für alle verbindliche Ethik für unsere moderne Zeit formulieren könne. Es geht da also nicht um den Gott der Theologen oder den der frommen Juden oder Christen. Darum lautet der Titel der Auschwitzrede ja auch nicht »Gott nach Auschwitz«, sondern »Der Gottesbegriff nach Auschwitz«. Damit gibt Jonas, gewollt oder ungewollt, einen Hinweis, in welcher Tradition er mit seiner Frage nach dem Göttlichen steht. Es ist die Tradition des jüdischen Neukantianers Hermann Cohen, der hier im dritten Band ausführlich besprochen wurde.11 Auch Hermann Cohen spricht meist vom Begriff Gottes, von der Idee Gottes, statt einfach von Gott. Und wo er Letzteres tut, geschieht dies doch meist im ersteren Sinn, vom Begriff oder der Idee Gottes. Bei dieser Diktion vom Göttlichen bei Cohen wird deutlich, dass es Cohen nicht eigentlich um Gott geht, sondern um den Menschen und näherhin um die Frage, ob oder was dieser von Gott denkt, welchen »Begriff« er von Gott hat. Aber auch diese erkenntnistheoretische Kategorie ist noch nicht das Eigentliche, worauf es hier ankommt. Der Begriff, oder die Idee Gottes ist für Cohen nur eine notwendige Voraussetzung für das Wesentliche, nämlich um mit seiner Hilfe eine Begründung, einen intellektuellen Anker für die Ethik zu finden. Darum meint Cohen, in Anlehnung an Kant, welcher die »Gottesidee« als ein für die Ethik notwendiges Postulat gesehen hatte, dass die Gottesidee notwendigerweise zur Methodik der philosophischen Grundbegriffe gehöre, um eine Lücke im System zwischen der Logik und der Ethik zu schließen. Entsprechend sagt Cohen in seiner Ethik des reinen Willens: »Die Ethik hat den Begriff Gottes in ihr Lehrgebäude aufzunehmen.«12 Auch Jonas will die Ethik in ein umgreifendes »Ganzes«, eigentlich Transzendentes, gründen, und sagt entsprechend in seinem Briefwechsel mit Rudolf Bultmann im Gefolge seines »Unsterblichkeits-Aufsatzes«: »Denn eben dies ist nun meine Überzeugung, daß die Ethik auf der Ontologie gegründet sein muß, das heißt: das Gesetz menschlichen Verhaltens aus der Natur des Ganzen abgeleitet werden muß; und dies, weil das Selbstverständnis aus dem Verständnis des Ganzen folgt […] – dann nämlich, wenn das Ganze so verstanden ist, daß sich ergibt, daß der Mensch für das Ganze da ist, und nicht das Ganze für den Menschen.«13 Und die Natur des Ganzen, die Ontologie, die Jonas
10
H. Jonas, Unsterblichkeit und heutige Existenz, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei
11
Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 617–657.
Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1987 (1963). 12
Dazu siehe Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 624.
13
Jonas, Unsterblichkeit und heutige Existenz, in: ders. Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 71.
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hier im Auge hat, ist eben jene Gottheit seines von ihm gesponnenen Mythos, welcher das Ganze der Welt und den Platz und die Rolle des Menschen in diesem Ganzen darstellt. Daraus folgt, dass die Theologie oder die Ontologie, was in dem sogleich zu beschreibenden Mythos von Jonas dasselbe ist, so gestaltet sein muss, dass sie als Begründung einer menschlichen Ethik taugt. Es ist also die gewünschte Ethik, welche das Bild Gottes und der gesamten Welt bestimmt, oder salopp ausgedrückt, es ist hier gleichsam das Ei, welches die Gestalt der Henne bestimmt. Jonas versucht ein Welt- und Gottesbild zu entwerfen, das als Fundament für seine Ethik brauchbar und verpflichtend ist. Entsprechend äußert sich Jonas in seinem philosophischen Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation:14 »Die Begründung einer Ethik, die nicht mehr an den unmittelbar menschlichen Bereich der Gleichzeitigen gebunden bleibt, muß in die Metaphysik reichen, aus der allein sich die Frage stellen läßt, warum überhaupt Menschen in der Welt sein sollen:15 warum also der unbedingte Imperativ gilt, ihre Existenz für die Zukunft zu sichern. […] Ontologisch werden [in diesem Buch] die alten Fragen nach dem Verhältnis von Sein und Sollen, Ursache und Zweck, Natur und Wert neu aufgerollt, um die neu erschienene Pflicht des Menschen jenseits des Wertsubjektivismus im Sein zu verankern.«16 Es ist dieser Kontext der Begründung einer Ethik, für den Jonas seinen Mythos vom werdenden Gott kreierte und denen er erst später auf die Auschwitz-Frage übertrug. Es muss also zunächst der von Jonas erfundene Mythos in seinem ursprünglichen Kontext betrachtet werden, bevor seine Anwendung auf die Thematik der Schoah verstanden werden kann.
2.3
Der Spalt der Öffnung zum Ewigen: Das Entscheiden und das Handeln im Jetzt
Mit dem Titel »Unsterblichkeit und heutige Existenz«17 ist der Aufsatz überschrieben, in dem sich Jonas recht besehen nicht der Unsterblichkeit des Menschen als einer ontologischen Frage zuwendet. Gegenstand der Erörterungen ist vielmehr »der Gedanke der Unsterblichkeit«, die Unsterblichkeit des Menschen als »Idee« oder »Begriff«. Denn über die Unsterblichkeit als ontologischer Grö14
H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung.
15
Vgl. die ähnliche Schlussfolgerung bei Eliezer Berkovits, Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah,
16
Jonas Das Prinzip Verantwortung, S. 8.
17
H. Jonas, Unsterblichkeit und heutige Existenz.
IV, 5.1.4.
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ße kann man, weil sie ein »transzendenter Gegenstand« ist, schlechterdings nichts beweisen und auch nichts widerlegen. Worüber man allerdings diskutieren kann, und dies ist der Gegenstand von Jonasʼ Überlegungen, ist, dass die Menschen eine solche Unsterblichkeit wünschen und erhoffen, und dass sie mit dieser Hoffnung einen Sinn für ihr Leben suchen und auch ethische Folgerungen daraus ziehen. Der Grund, weshalb sich der glaubenslose Philosoph diesem Gegenstand widmet ist die Tatsache, dass sich die »Unsterblichkeitsidee« noch immer im menschlichen Geist behauptet und auch künftig behaupten wird. Kurz, auch beim Thema der Unsterblichkeit geht es um eine epistemische Frage, um das, was Menschen denken und was sie mit solchem Denken verbinden, nicht hingegen um – sagen wir – die Gewissheit, die wirkliche Existenz eines ewigen Lebens in einem jenseitigen Paradies. Gefragt ist, was denken die Menschen, nicht, was jenseits von ihnen existiert. Bevor Jonas seine eigenen Vorstellungen zu einem unserem zeitgenössischen Denken adäquaten »Begriff« von der Unsterblichkeit darlegt, untersucht er zunächst die gängigen Auffassungen von Unsterblichkeit, um sie als mit dem modernen Denken nicht wirklich vereinbar zurückzuweisen. Da ist zuerst die Vorstellung vom »Überleben im unsterblichen Ruhm«. Dies kann nach Jonas genau betrachtet keine wirkliche Unsterblichkeit sein, weil der Träger dieser »Unsterblichkeit« selbst ein vergängliches Organ ist, nämlich die menschliche Gesellschaft, das politische Gemeinwesen und gar die öffentliche Meinung. All diese Träger einer solchen Unsterblichkeitsidee sind extrem veränderlich und stehen überdies nicht jenseits des Verdachts von Parteilichkeit, Lüge und Korruption. Sie wählen auch nur wenige für einen solchen Nachruhm aus und manipulieren nur wenige Menschen dorthin. Wenn also dieses laute in die Öffentlichkeit getragene Auftreten »Unsterblichkeit« des Ruhmes garantieren soll, dann steht das »Berüchtigte« nicht weit vom »Berühmten« entfernt, »so wäre es den Hitler und Stalin gelungen, jenseits zeitlichen Gelingens oder Scheiterns Unsterblichkeit aus der Vertilgung ihrer namenlosen Opfer zu ziehen«.18 Ähnlich unzuverlässig ist die Hoffnung auf eine »Unsterblichkeit der Wirkung«, die »in gewissem Maße die Hoffnung jeder ernsten Bemühung im Dienste höheren Zweckes« ist, denn auch sie hängt von etwas Sterblichem ab, der menschlichen Kultur.19 Nicht viel besser steht es um die nichtempirischen Unsterblichkeitshoffnungen, wie der Hoffnung auf ein »Fortleben der Person in einem künftigen Jenseits«, die »dem Menschen den metaphysischen Status eines sittlichen Subjektes zusprechen, somit die Zugehörigkeit zu einer sittlichen oder intelligiblen Ord-
18
Jonas, Unsterblichkeit, S. 46.
19
Jonas, Unsterblichkeit, S. 46.
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nung außer der sinnlichen.«20 Aber solche Vorstellungen von einer jenseitigen ausgleichenden Gerechtigkeit entsprechen nicht mehr der »Seelenhaltung von uns Heutigen.« Wir unterscheiden nicht länger wie weiland die idealistischen Philosophen zwischen einer intelligiblen wahrhaften Wirklichkeit und der uns vor den Augen erscheinenden Phänomenen, dies insbesondere angesichts der Leiden in dieser Welt: »Und wenn wir mit Entsetzen auf die Bilder von Buchenwald blicken, auf die verwüsteten Leiber und verzerrten Gesichter, auf die äußerste Schändung der Menschheit im Fleische, dann weisen wir den Trost zurück, daß dies Erscheinung und die Wirklichkeit etwas anderes sei: wir blicken der schrecklichen Wahrheit ins Auge, daß die Erscheinung die Wirklichkeit ist und daß nichts wirklicher ist als was hier erscheint.«21 Immer noch genügend Heidegger-Schüler, verweist Jonas auf die fundamentale Geschichtlichkeit des Menschen und die innerste Zeitlichkeit des Seins und darauf, dass die menschliche »Endlichkeit für jedes Einzelselbst die unabdingbare Bedingung der möglichen Eigentlichkeit seines Existierens ist. Statt sie zu verleugnen, beanspruchen wir unsere Vergänglichkeit: wir wollen auf Angst und Stachel der Endlichkeit nicht verzichten; ja wir bestehen darauf, dem Nichts uns gegenüberzustellen und die Kraft zu haben, mit ihm zu leben. So wirft sich der Existenzialismus, dieser extreme Sproß der modernen Stimmung oder Verstimmung, ohne die Sicherung eines geheimen Rettungsseils in die Wasser der Sterblichkeit.«22 Dennoch, so meint Jonas, »wir fühlen, daß Zeitlichkeit nicht die ganze Wahrheit sein kann, denn im Menschen zeigt sie eine innewohnende Qualität der Selbstüberbietung, wovon Tatsache und Tasten unserer Idee der Ewigkeit ein kryptisches Zeichen ist.«23 Jonas formuliert hier einen ontologischen Ewigkeitsbeweis in Anlehnung an den alten ontologischen Gottesbeweis, nach welchem die Existenz Gottes dadurch bewiesen wird, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt einen solchen Gedanken überhaupt zu fassen. Die Qualität der menschlichen Selbstüberbietung scheint demnach das kryptische Zeichen dafür zu sein, dass etwas Transzendentes in das menschliche Leben hineinragt, das ihn zu diesem Gedanken stimuliert. Die Mystik kann es nach Jonas nicht sein, auch nicht die Liebe und Ästhetik, die solche Momente des Ewigen aufblitzen lassen mögen. Nein – auch hier wieder ganz der Marburg-Schüler – glaubt Jonas, im »Augen20
Jonas, Unsterblichkeit, S. 47.
21
Jonas, Unsterblichkeit, S. 48.
22
Jonas, Unsterblichkeit, S. 48.
23
Jonas, Unsterblichkeit, S. 49.
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blick der Entscheidung« das Gefühl der Ewigkeit ausmachen zu können, da fühle man sich ganz »unter den Augen der Ewigkeit«. Er glaubt, dass es gerade der vergängliche Augenblick der Entscheidung, das Handeln, die Tat sind, alles vergängliche aber aktive Momente, welche den Menschen mit dem Ewigen verbinden, sie sind der »Augenblick unsere[r] Offenheit zur Transzendenz.«24 »So mag denn […] nicht das, was am längsten, sondern das, was am kürzesten dauert und innerlich am meisten der Dauer abwendig ist, sich als das herausstellen, was das Sterbliche ans Unsterbliche bindet.«25 Und diese Erkenntnis des Spaltes zur Ewigkeit hin, so glaubt Jonas, könne uns nun den Weg weisen, wie wir Modernen den Begriff der »Unsterblichkeit« verstehen sollten.
2.4
Die Symbole zur Bezeichnung der Ewigkeitsteilhabe
Das Gefühl der Erfahrung des Ewigen und Transzendenten drücken die Menschen in Symbolen aus. Das heißt, das Aufblitzen solcher Ewigkeitsmomente kann nicht in einer diskursiven Sprache beschrieben werden, sondern greift schon immer in der langen Menschheitsgeschichte zu Symbolen, um sich zu explizieren. Dies wird auch der Weg der Moderne sein. Um die Suche nach einem für die Moderne adäquaten Symbol für den Transzendenzbezug des menschlichen Handelns und Entscheidens zu erleichtern, zieht Jonas ein jüdisches und ein gnostisches Symbol heran. Das jüdische Symbol ist das vor allem bei den hohen Herbstfeiertagen zentrale Symbol des »Buches des Lebens«, in welches alles Tun der Menschen eingezeichnet wird und aufgrund dessen im jährlichen Neujahrsgericht zum Guten und zum Bösen, auf Leben oder Tod entschieden wird.26 Jonas will für seine eigene Neubestimmung des gesuchten Symbols dieses jüdische Symbol jedoch dahingehend abwandeln, dass in der Neukonzeption nicht die Personen und ihr zugehöriges Tun notiert werden, sondern dass es eine Art kosmisches Buch gibt, in welchem alles Tun der Menschen sich selbst einträgt, also eine Registratur allen menschlichen Handelns, unabhängig von namentlich genannten Personen. Jonas will das personale Element deshalb herausnehmen, weil er nach dem oben Gesagten ja an die totale Zeitlichkeit des menschlichen Seins glaubt und eine personbezogene Transzendenz ablehnt. Sein Register beschreibt er darum so:
24
Jonas, Unsterblichkeit, S. 51.
25
Jonas, Unsterblichkeit, S. 52.
26
Dazu vgl. K.E. Grözinger, Kafka und die Kabbala, S. 53 (Kap. Zeiten und Weisen des Gerichts); Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 239. In der jüdischen Gerichtstradition wird indessen von drei Büchern gesprochen, eines für die Gerechten, zum Leben, eines für die Frevler, zum Tode, und eines für die noch Unentschiedenen Mittelmäßigen.
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»Mit anderen Worten, ich spreche von der Möglichkeit, daß Taten sich selbst eintragen in ein ewiges Register der Zeitlichkeit; daß was immer hier gehandelt wird – jenseits seiner Fortwirkung und schließlichen Verflüchtigung im Kausalgewebe der Zeit – sich in alle Zukunft einem transzendenten Reiche einfügt und es prägt nach Gesetzen der Wirkung, die anders sind als die der Welt, immer weiter das unabgeschlossene Protokoll des Seins anschwellend und immer neu die angstvolle Bilanz verschiebend.«27 In dieser Neudeutung des himmlischen Buches ist auch das Element des richtenden Gottes entfernt zugunsten einer mechanischen Notierung, welche nicht Entscheidungen für ein gerade anstehendes menschliches Leben fällt. Wenn Jonas auch nicht ausschließt, dass die in der Transzendenz entstehende Bilanz vielleicht doch von Seiten der Ewigkeit in einer ihr eigenen Weise zur Wirkung kommen kann. Komplementär zu diesem nun abgewandelten jüdischen Symbol vom Buch des Lebens zieht Jonas noch ein gnostisches Symbol heran, um einen Schritt weiter auf den noch zu formulierenden Gott-Welt-Mensch-Mythos hin zu tun. Das gnostische Symbol, das auch in der jüdischen Kabbala seine Resonanz gefunden hat,28 ist das vom himmlischen Doppelgänger, vom himmlischen Bild (hebräisch: Zelem) des Menschen, das sich ganz entsprechend dem Tun und Lassen des Menschen entwickelt und erst mit dem Tod des Menschen seine Vollendung – zum Guten oder Schlechten – erfährt.29 Außer diesem Individuellen himmlischen Double gibt es in der Gnosis jedoch auch ein kollektives Bild des menschlichen Tuns, es ist gleichsam das göttliche Wesen, das durch das Tun der Menschen Schritt für Schritt mitwächst und erst in einer noch unbekannten Zukunft seine Vollendung erfährt.30 Dieses so entstehende und dereinst vollendete »›Letzte Bildnis‹, das sich am Ende der Zeit vollendet, wird nach manichäischer Lehre fortschreitend über den ganzen Weltprozeß hin und durch diesen selbst aufgebaut. Alle Geschichte, des Lebens im allgemeinen und der Menschheit im besonderen, arbeitet unablässig daran und stellt in der letzten Gestalt die ursprüngliche Ganzheit jenes unsterblichen aber leidensfähigen Gottwesens wieder her, das den vielsagenden Namen ›Urmensch‹ trägt und
27
Jonas, Unsterblichkeit, S. 53.
28
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 81. 282–285. 661.
29
Jonas, Unsterblichkeit, S. 53.
30
Jonas, Unsterblichkeit, S. 53–54.
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dessen vorweltliche Selbstauslieferung an die Dunkelheit und Gefahr des Werdens das stoffliche Universum möglich und zugleich notwendig machte.«31 Mit diesem gnostischen Bild vom kosmischen Urmenschen, der durch die Taten der Menschheit erbaut wird, ist der eigene von Jonas kreierte Mythos eigentlich schon fertig, auch wenn Jonas noch einige, dem modernen wissenschaftlichen Denken entnommene Motive einfügt. – Auf alle Fälle übernimmt Jonas nicht die weltfeindliche und weltabgewandte Folie dieses manichäischen Mythos. Er glaubt jedoch mit dem manichäischen Mythos, dass in diesem Bild des Urmenschen aus den flüchtigen Ereignissen der menschlichen Geschichte eine »ewige Gegenwart« heranwächst. Alles menschliche Handeln und Geschehen geht ein in dieses göttliche Bild. Das Geschick dieses Bildes ist vollkommen abhängig vom menschlichen Tun. Das Schicksal dieses Gott-Menschen liegt in der Hand des irdischen Menschen. Jonas meint, dieses Bild vom göttlichen Urmenschen könne einen »objektiven Grund metaphysischer Rechtfertigung für jenes subjektive Gefühl von einem ewigen Interesse abgeben, das wir im Ruf des Gewissens, im Moment höchster Entscheidung, in der Hingabe der Tat und selbst in der Qual der Reue erleben – und diese Erfahrungen mögen sehr wohl die einzigen empirischen Zeichen einer unsterblichen Seite unserer Natur sein, die unser kritisches Bewußtsein auch heute noch als Zeugen zuzulassen bereit ist.«32 Sprich, das Bild ist Ausdruck eines menschlichen Gefühls oder der Ahnung einer Ewigkeit, welcher der Mensch ausgeliefert oder anheimgestellt ist.
2.5
Der moderne Mythos vom Weltabenteuer Gottes
Der neu von Jonas geschaffene Mythos beginnt mit folgenden Worten: »Im Anfang, aus unerkennbarer Wahl, entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück; kein unergriffener Teil von ihr blieb, um die umwegige Ausformung ihres Schicksals in der Schöpfung von jenseits her zu lenken, zu berichtigen und letztlich zu garantieren. Auf dieser bedingungslosen Immanenz besteht der moderne Geist. Es ist sein Mut oder seine Verzweiflung, in jedem Fall bittere Ehrlichkeit, unser In-der-Welt-Sein ernst zu nehmen: die Welt als sich selbst über-
31
Jonas, Unsterblichkeit, S. 54.
32
Jonas, Unsterblichkeit, S. 55.
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lassen zu sehen, ihre Gesetze als keine Einmischung duldend, und die Strenge unserer Zugehörigkeit als durch keine außerweltliche Vorsehung gemildert. Dasselbe fordert unser Mythus für Gottes In-der-Welt-Sein.«33 Diese Schöpfung der Welt war keine zielgerichtete, alles ordnende Gestaltung eines Kosmos, sondern ein Anfang, der alles außer der Initialzündung dem Zufall überließ. Der Seins-Grund entäußerte sich seiner selbst und begab sich in die zufällige Evolution hinaus, er gab sein eigenes gesondertes Sein auf, um dieses erst nach der ganzen Weltentwicklung, in neuer veränderter, gewachsener Form wieder zu erhalten. Dies ist, so betont Jonas, kein Pantheismus, nach welchem Gott mit der Welt identisch und alles Existierende nur Modalitäten seines vorbestimmten Seins wären.34 Alles ist ja offen, die Welt bleibt nicht als was sie zu Beginn hinaustrat und wird am Ende – wann und ob dies je sein mag – etwas anderes zufällig Entwickeltes sein und mit ihr die werdende Gottheit. Auch das Leben entsprang in diesem Entfaltungsprozess rein zufällig, nicht geplant. Und mit dem Leben entstand zugleich zwangläufig der Tod. Das Leben ist »wesentlich widerrufliches und zerstörbares Sein, ein Abenteuer der Sterblichkeit«. In einem weiteren, späteren zufälligen Entwicklungsschub entstand aus dem organischen und tierischen Leben der Mensch und mit ihm das Wissen und die Freiheit. Mit dem entstehenden Wissen und der Freiheit weicht zugleich die Unschuld der bisherigen unbewussten Entwicklung dieser Welt, und damit geschieht auch die wesentliche Auslieferung der Gott-Welt-Entwicklung in die Hände dieses Menschen: »Das Bild Gottes, stockend begonnen vom physischen All, solange in Arbeit – und unentschieden gelassen – in den weiten und dann sich verengenden Spiralen vormenschlichen Lebens, geht mit dieser letzten Wendung, und mit dramatischer Beschleunigung der Bewegung, in die fragwürdige Verwahrung des Menschen über, um erfüllt, gerettet oder verdorben zu werden durch das, was er mit sich und der Welt tut. Und in diesem furchterregenden Auftreffen seiner Taten auf das göttliche Geschick, ihrer Wirkung auf den ganzen Zustand des ewigen Seins, besteht die menschliche Unsterblichkeit.«35 Mit dieser entscheidenden Wendung in der Gott-Kosmischen Entwicklung ist der bis in die Gegenwart andauernde Zustand der Welt beschrieben, den man gewiss 33
Jonas, Unsterblichkeit, S. 55–56. Zur Gottes-Philosophie von H. Jonas siehe Th. Schieder,
34
Zu den entsprechenden Vorstellungen Spinozas vgl. Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 202–227.
35
Jonas, Unsterblichkeit, S. 58.
Weltabenteuer Gottes. Die Gottesfrage bei Hans Jonas, Paderborn, München et. al. 1998.
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auch ohne das Symbol »Gott« hätte beschreiben können, etwa mit dem Urknall statt einer Selbstentäußerung Gottes. Aber man vergesse nicht, die Symbole sind für das menschliche Denken, für dessen Selbstverstehen und dann vor allem für sein Tun von großer Bedeutung. Denn dieser ganze Mythos ist nur als solcher entworfen, um als verpflichtende Basis einer Ethik dienen zu können – und dafür braucht der Mensch das Symbol »Gott« – der Urknall ist kaum moralisch verpflichtend. Jonas nennt diesen symbolischen Mythos deshalb auch eine im Mythos angedeutete Metaphysik.
2.6
Die ethischen Folgerungen aus dem Gott-Welt-Mythos
Die grundlegende ethische Folgerung aus dieser »angedeuteten« Metaphysik ist »die transzendente Wichtigkeit« des menschlichen Tuns. Alles, was der Mensch tut, gräbt seine Linien in dieses gott-weltliche Bild ein, sei es zum Guten oder zum Bösen. Und dies gerade auch als per definitionem sterbliches Wesen, das keinen Anspruch auf ewige Dauer haben kann – seine Existenz entstand aus dem Zufall – »es gibt keine Notwendigkeit, daß überhaupt eine Welt sei« – und dafür kann der Mensch nur dankbar sein, aber daraus keine Rechte, sondern nur Pflichten ableiten. Das Dasein ist das Ur-Mysterium, es war die Selbstverneinung der Gottheit, die der Kreatur ihr Dasein schenkte. Nach all diesen mythologischen Darlegungen zieht Jonas die aus ihnen sich ergebende drastische Feststellung: »Nachdem er [der ewige Grund der Welt] sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben.«36 Das ist der neue theologische wie ethische Grundsatz, der mit Hilfe dieses Mythos symbolisch zum Ausdruck gebracht werden sollte. Das bedeutet, die gesamte Verantwortung für die weitere Entwicklung der Welt ist dem Menschen übertragen, durch sein Tun kann und muss er die Entwicklung entscheidend weitertragen. Er baut mit seinem Tun das Bild Gottes zum Guten oder zum Bösen. Dies ist das Fundament jeglicher Ethik in der Moderne. Und dies fügt sich auch in die oben gemachte Feststellung, nach welcher Jonas meinte, dass der Mensch gerade durch sein Tun, durch den Augenblick der Tat und der Entscheidung mit der Ewigkeit verbunden ist. Es ist der handelnde Mensch, der die Spuren in das Bild der Ewigkeit einträgt. Es scheint nun aber, dass Jonas mit eben diesem tatorientierten Ewigkeitsbezug des Menschen genau besehen eine zerbrochene Schüssel in Händen hält. Wie denn steht es mit jenen Menschen, die nie die Gelegenheit hatten, zu entscheiden und zu handeln, oder denen man diese Möglichkeit genommen hat? Jonas stellt diese Frage selbst und zwar gerade mit dem Blick auf die Schoah und jene Men-
36
Jonas, Unsterblichkeit, S. 60.
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schen, die in den Lagern – und wie von Primo Levi auch so beschrieben37 – als »Muselmänner« bekannt waren, die zwar physisch noch existierten aber ohne jegliche sichtbare geistige Teilnahme am Leben.38 Jonas fragt daher: »Wie ist es mit denen, die sich niemals in das Buch des Lebens eintragen konnten, weder mit guten noch bösen Taten, großen oder kleinen, weil ihr Leben abgeschnitten ward, bevor sie ihre Gelegenheit hatten, oder weil ihre Menschlichkeit zerstört wurde in Erniedrigungen so gründlicher und grausamer Art, wie keine Menschlichkeit sie überstehen kann? Ich denke an die vergasten und verbrannten Kinder von Auschwitz, an die gesichtslosen und entmenschten Gespenster der Läger und an all die anderen zahllosen Opfer der anderen Massenuntaten unserer Zeit. […] Sind sie also von einer Unsterblichkeit ausgeschlossen, in die selbst ihre Peiniger und Mörder sich Einlaß erzwangen, da sie handeln konnten – abscheulich zwar, aber zurechenbar, und so ihr finsteres Mal auf dem Antlitz der Ewigkeit hinterließen? Dies zu glauben weigere ich mich.«39 Jonas hat sich mit seinen von ihm selbst aufgestellten Qualifikationskriterien für die Ewigkeit, nämlich der Aktivität des Handelns, eine Falle gestellt, deren Konsequenzen für die Gemarterten er selbst nicht akzeptieren will. Und es ist fast tragisch anzusehen, wie der Philosoph nun seinen Ausweg im Glauben sucht: »Und dies möchte ich glauben: daß Weinen war in den Höhen über der Verwüstung und Entweihung des Menschenbildes; daß ein Stöhnen dem aufsteigenden Schrei unedlen Leides antwortete – und Zorn dem entsetzlichen Unrecht, das an der Wirklichkeit und Möglichkeit jeden so frevelhaft hingeopferten Lebens begangen wurde –, jedes von ihnen ein vereitelter Versuch Gottes.«40 Bedeutet dies das Ende der Philosophie? Kommt sie mit dem Leiden der Menschen an ihre Grenzen, die nur noch der Glaube überschreiten kann? Man hat fast den Eindruck. Jonas führt seine Glaubenshoffnung noch weiter aus und will glauben, dass der aufgestiegene Schrei der Opfer nun wie eine »Wolke des Kummers und der Anklage über unserer Welt hängt«. Und er meint, dies müsse fühlbar, wenn auch meist nicht beachtet, sein und lasse sich vielleicht an der
37
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, III, 3.
38
Vgl. Jüdisches Denken, Bd. 4, Schoah, III, 3.
39
Jonas, Unsterblichkeit, S. 60–61.
40
Jonas, Unsterblichkeit, S. 61.
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»Malaise« und »tiefen Verstimmung des zeitgenössischen Geistes« als Wirkung erahnen: »Es könnte wohl sein, daß über alle vielschichtigen innerhistorischen Faktoren hinaus auch die Verstörung der transzendenten Ordnung, die die gehäuften Untaten dieser Epoche bewirkt haben, sich uns rückwirkend mitteilt – und so in paradoxer Weise die moderne Stimmung selber die Unsterblichkeit spiegelt, die sie leugnet. Es wäre rechtens – mehr wage ich nicht zu sagen –, wenn die Gemordeten diesen Anteil an der Unsterblichkeit hätten und ihretwegen eine große Anstrengung von uns Lebenden verlangt wäre, den Schatten von unserer Stirne zu lüften und denen, die nach uns kommen, eine neue Möglichkeit der Seelenheiterkeit dadurch zu verschaffen, daß wir sie der unsichtbaren Welt zurückgeben.«41 Auch da, wo der Philosoph zum »Glauben« gedrängt wird, siegt bei ihm doch hinterher wieder das wesentliche Anliegen, nämlich der Aufruf zum ethischem Handeln, welches das Weltgeschick und damit Gottes Geschick zum Guten wendet. Es scheint, auch Jonas verspürt hier, ähnlich wie Fackenheim, die Notwendigkeit für einen Tikkun, die Wiederherstellung einer aus ihrer Entwicklung geworfenen Welt.
2.7
Die Deutung des Mythos vom göttlichen Weltabenteuer
In seinem Festvortrag zur Verleihung des Dr. Leopold-Lucas-Preises, der den Titel »Der Gottesbegriff nach Auschwitz« trägt, bietet Hans Jonas im Wesentlichen eine »theologische« Deutung seines oben besprochenen Mythos vom Weltabenteuer Gottes, den er in dieser Festrede eigens nochmals ausführlich anführt. Jonas stellt fest, dieser Mythos habe, was ihm erst allmählich klar geworden sei, »theologische Implikationen«,42 die er nun in diesem Vortrag aus der Bildersprache des Mythos in die Begriffs-Sprache der Theologie übersetzen will. Er tut das im Wesentlichen dadurch, dass er die in seinem Mythos verborgenen oder angelegten Gottesattribute explizit macht und diese gefundenen Gottesprädikate nun an seinem Verständnis der jüdischen Tradition, womit er hauptsächlich die biblische versteht, misst. Er kommt dabei jedoch mehrfach zu theologischen Aussagen, die er als »alte« jüdische oder schlechthin jüdische oder normative jüdische Theologumena versteht, deren Berechtigung allerdings weniger einer historischen Betrachtung des jüdischen Denkens als einer eher verkürzten persönlichen
41
Jonas, Unsterblichkeit, S. 61–62.
42
Jonas, Gottesbegriff, S. 24.
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dogmatischen Sicht entspricht, was hier nicht weiter verfolgt werden soll. Wesentlich ist nur darauf hinzuweisen, dass Jonas in diesem Vortrag seine eigene jüdische Auffassung vorträgt, die zum Teil mit alten oder Mehrheitspositionen übereinstimmen oder aber von ihnen abweichen. Wer die Gesamtheit und Fülle der Möglichkeiten des jüdischen Denkens auch nur einigermaßen zur Kenntnis nimmt, wird mit solchen normativen Urteilen, was wirklich jüdisch und was nicht jüdisch ist, sparsamer umgehen.
2.7.1 … »nach Auschwitz« Bevor die Aufzählung der Gottesattribute des Mythos und ihr Maßnehmen an der – vorwiegend biblischen – Tradition erfolgt, muss noch kurz auf die im Titel der Rede genannte Zeitangabe eingegangen werden. Die Zeitangabe in der Vortrags-Überschrift »Der Gottesbegriff nach Auschwitz« bezieht nolens volens eine Position in der Debatte, die zwischen jüdischer Orthodoxie und vielen der anderen hier besprochenen Denker geführt wird, nämlich ob die Schoah hinsichtlich der religiös-theologischen Fragen etwas völlig Neues, ja einzigartiges, sei, weshalb die theologischen Fragen neu zu stellen wären und neue Antworten gesucht werden müssten, oder ob sich dieses Geschehen in die altbekannten Verfolgungsmuster einfügt und deswegen keine theologische Neubesinnung erfordere. Also ist das Geschehen in der Schoah nur ein weiteres Glied der bisherigen notorischen Verfolgungen der Juden, oder hat sich hier etwas kategorial anderes ereignet? Jonas stellt diese Frage ausdrücklich: »Was hat Auschwitz dem hinzugefügt, was man schon immer wissen konnte vom Ausmaß des Schrecklichen und Entsetzlichen, was Menschen anderen Menschen antun können und seit je getan haben? Und was im besonderen hat es dem hinzugefügt, was uns Juden aus tausendjähriger Leidensgeschichte bekannt ist und einen so wesentlichen Teil unserer kollektiven Erinnerung ausmacht?«43 Das Neue, das Auschwitz der bisherigen Leidensgeschichte hinzugefügt hat, sieht Jonas vor allem darin, dass die alten Erklärungen für das Leiden Israels nach Auschwitz nicht mehr greifen, also nicht die Formel von der Strafe für die Sündenschuld, auch nicht die fast gnadenhafte Gelegenheit der Zeugenschaft im Märtyrertod, bei welcher gerade die Unschuldigen und Gerechten am meisten lit-
43
Jonas, Gottesbegriff, S. 10.
Hans Jonas
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ten, oder die Erklärung als Opfer, in welchen das Licht der messianischen Verheißung aufleuchtete.44 Denn: »Nicht Treue oder Untreue, Glaube oder Unglaube, nicht Schuld und Strafe, nicht Prüfung, Zeugnis und Erlösungshoffnung, nicht einmal Stärke oder Schwäche, Heldentum oder Feigheit, Trotz oder Ergebung hatten da einen Platz. Von alledem wußte Auschwitz nichts, das auch die unmündigen Kinder verschlang, zu nichts davon bot es auch nur die Gelegenheit. […] Dehumanisierung durch letzte Erniedrigung und Entbehrung ging dem Sterben voran, kein Schimmer des Menschenadels wurde den zur Endlösung Bestimmten gelassen […].«45 Die in der Einführung zu diesem Band angeführten orthodoxen Denker würden all das hier von Jonas Aufgezählte in das immer gleiche Bild der jüdischen Verfolgungsgeschichte einreihen, allenfalls die Quantität als eine Besonderheit herausstellen, weshalb in ihren Augen die Theologie, das Verhältnis von Mensch, Gott und Geschichte, nicht neu gefasst werden müsste, allenfalls würde demnach eine von den traditionellen Erklärungsformeln, Sündenstrafe, Zeugnis ablegen (Martyrium), oder Züchtigungen der Liebe Gottes zum Menschen in den Vordergrund beziehungsweise Hintergrund rücken. Mit anderen Worten, nach diesen orthodoxen jüdischen Auffassungen fordert auch die Schoah keine Neufassung ihrer Theologie. Führte nun die Schoah-Erfahrung bei Jonas zu einer Neujustierung des »Gottesbegriffes«? Auf den ersten Blick kann man dies bejahen, denn Jonas lehnt die alten Erklärungsformeln angesichts von Auschwitz allesamt als nicht mehr zureichend ab, stattdessen trägt er in seinem Mythos die neue Formel vom »ohnmächtigen Gott« vor, der sich seiner Macht um der Existenz der Welt willen völlig entäußert hat. Doch auf den zweiten Blick stellt sich die Frage, ob der göttliche Weltabenteuer-Mythos von Jonas nur nach der Erfahrung der Schoah gewonnen werden konnte und nicht schon im Blick auf alles und jegliches Leiden der Menschen und insbesondere Israels. Zwar hat Jonas in seinem Unsterblichkeits-Aufsatz immer schon auch auf die Schoah geblickt, aber die Gesamtkonzeption des Mythos setzt eigentlich schon viel früher an, nämlich bei der Selbstentäußerung Gottes in die Welt hinaus – sprich bei der »Schöpfung«. Und jedes von da an erfolgte Leiden und Unrecht findet hier seine Erklärung, eingeschlossen die Schoah, die dann aber für den theologischen Befund nicht eine eigene Neujustierung erforderte. Jonasʼ mythische Konzeption ist eine Gesamtkonzeption für das Geschehen in der Welt überhaupt – zum Guten wie zum Bösen –, die auch schon vor der Schoah galt und 44
Jonas, Gottesbegriff, S. 11.
45
Jonas, Gottesbegriff, S. 12.
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möglich oder »nötig« war. – Mit diesen Überlegungen soll nur angezeigt werden, dass sich auch im Denken von Jonas die Schoah für eine Neuformulierung der Theologie nicht von selbst anbietet. Das, was Jonas formulierte, war auch schon vor der Schoah formulierbar. Falls die Schoah in dieser Hinsicht wirklich etwas völlig Neues und Einzigartiges war und deswegen eine Neuformulierung aller vorausgegangenen Theologien und Philosophien erfordere, muss zunächst in einer theologie- oder philosophie-relevanten Weise beschrieben werden, worin denn dieses kategorial Neue besteht, bevor man aus ihm eine Neuformulierung der Theologie ableiten kann. Dies ist eine Aufgabe, welche die anderen hier vorgestellten Denker, insbesondere Emil Fackenheim, sehr wohl gesehen haben und sich um sie bemühten. Sie suchten zunächst das Neuartige und Einzigartige der Schoah zu erkennen und zu beschreiben, um alsdann daraus theologische oder philosophische Konsequenzen zu ziehen. All das Gesagte zeigt, wie schwer es ist, das Grauen der Schoah in eine begriffliche Theologie oder Philosophie zu überführen. Sehr viel stärker und nachhaltiger sind hierbei die berichtenden und erzählerischen Eindrücke der Betroffenen, von denen alle, die theologischen wie die philosophischen, Denker tief bewegt waren. Es ist in der Tat so, dass die mythologische Formulierung, die symbolische Ausdrucksweise, die authentischere oder beeindruckendere Beschreibung der Dinge ist, die dem erlebten Grauen sehr viel mehr gerecht zu werden vermag. Dies zeigt sich auch bei Jonas selbst, wenn er sagt: »Und Gott ließ es geschehen. Was für ein Gott konnte es geschehen lassen?«46 Oder: »Aber für den Juden, der [im Gegensatz zu den Christen] im Diesseits den Ort der göttlichen Schöpfung, Gerechtigkeit und Erlösung sieht, ist Gott eminent der Herr der Geschichte, und da stellt ›Auschwitz‹ selbst für den Gläubigen den ganzen überlieferten Gottesbegriff in Frage. Es fügt in der Tat […] der jüdischen Geschichtserfahrung ein Niedagewesenes hinzu, das mit den alten theologischen Kategorien nicht zu meistern ist. Wer aber vom Gottesbegriff nicht einfach lassen will […], der muß, um ihn nicht aufgeben zu müssen, ihn neu überdenken und auf die alte Hiobsfrage eine neue Antwort suchen. Den ›Herrn der Geschichte‹ wird er dabei wohl fahren lassen müssen. Also: Was für ein Gott konnte es geschehen lassen?«47 Diese traditionellen theologischen Formulierungen, oder Symbole wie »Herr der Geschichte« ein »Gott der schweigt« und dergleichen, sind allemal starke Symbole und können eine stärkere Wirkung entfalten als die begriffliche philosophische Sprache. 46
Jonas, Gottesbegriff, S. 13.
47
Jonas, Gottesbegriff, S. 14.
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632
2.7.2 Der Gott des neuen Mythos und der biblisch-jüdische Gott Das wesentliche Ziel des Tübinger Festvortrages – gehalten vor der Evangelischtheologischen Fakultät, die den Preis verlieh – ist es, den Gottesbegriff des neuen Weltabenteuer-Gottes-Mythos mit dem biblischen Gottesbegriff, sprich den dort erkennbaren Gottesattributen, zu vergleichen und in dem möglich erscheinenden Maße mit ihm gleichzusetzen. Dies gelingt Jonas wohl nur deshalb in einem erstaunlichen Maße, weil, religionshistorisch gesprochen, dabei Mythos mit Mythos verglichen wird. Die biblische und traditionell-jüdische Rede von Gott ist ja nicht philosophisch abstrakt, sondern anthropomorph und damit mythologisch. Weil Jonas sich auf diese Vergleichsebene einlässt, muss er auch die mittelalterlich philosophisch-theologischen Redeweisen von Gott als nicht wirklich authentisch jüdisch zurückweisen und als Usurpation durch die aristotelisch-platonische Philosophie bezeichnen – ein weiteres Indiz seines eher dogmatischen als historischen Zugangs zur jüdischen Tradition, von dem oben schon die Rede war. Im einzelnen hat Jonas fünf Gottesattribute seines Mythos mit den biblischen Vorstellungen in Übereinstimmung gefunden, nämlich die Bilder des 1. leidenden Gottes, 2. des werdenden Gottes, 3. des sich sorgenden Gottes, 4. des gefährdeten Gottes und 5. des nicht allmächtigen Gottes. 1. Der leidende Gott: Das Leiden Gottes im Jonasʼschen Mythos geschieht in der Selbstentäußerung Gottes und seiner vollkommenen Hingabe an sein Wachstum durch das Geschehen in der Welt und insbesondere das Tun des Menschen. In der Bibel sieht Jonas den Gott, der sich vom Menschen verachtet und verschmäht sieht, über den dort einmal sogar gesagt wird, Gott bereue, dass er den Menschen überhaupt geschaffen hat (Gen 6, 6) und dass er mehrfach gerade von seinem erwählten Volk enttäuscht wird.48 2. Der werdende Gott: Im Mythos ist die Gottheit eine erst im Entstehen begriffene, die sich mit der Welt entwickelt, nicht eine von vorneherein fertige und unveränderte, wie dies die mittelalterlich philosophischen Denker behaupteten. In der Bibel und der späteren Literatur wird immerhin berichtet, dass Gott von der Welt affiziert, und das heißt verändert wird. Bereits die Schöpfung verändert seinen Zustand, indem er nun nicht mehr allein existiert – Gott steht in einer Beziehung zur Welt und dies bedeutet Veränderung.49 3. Der sich sorgende Gott: Im Mythos geschieht die Besorgnis Gottes für die Welt im Akt der Selbstentäußerung und seine Hingabe an die Schöpfung, während er später dem Menschen die Sorge überträgt. In der jüdischen Tradition ist stets die Rede davon, dass Gott für die Welt und sein Volk Sorge trägt.50
48
Jonas, Gottesbegriff, S. 25–26.
49
Jonas, Gottesbegriff, S. 27–31.
50
Jonas, Gottesbegriff, S. 31–32.
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4. Der gefährdete Gott: Im Mythos hat dieser Gott seine Entwicklung der Welt und dem Menschen, das heißt der Evolution, anheimgestellt – mit ungewissem Ausgang. Nach biblisch-jüdischer Tradition ist dies die Teilhabe des Menschen an der göttlichen Weltlenkung, weil der Mensch einen freien Willen hat, mit dem er auch gegen Gott entscheiden und handeln kann. Der freie Wille des Menschen beraubt Gott eines Teils seiner Herrschaft.51 5. Der nicht allmächtige Gott: Im Mythos ist es von Anbeginn gesagt, dass Gott seine gesamte Macht der Welt und dem Menschen überliefert hat. Zur allgemeinen theologischen Begründung der nicht vorhandenen Allmacht Gottes beschreitet Jonas einen kleinen Umweg über die Logik: Dass Gott nicht allmächtig sein kann, ergibt sich schon aus der Logik, weil sich Macht ohne Gegenmacht nicht erweisen kann, und dann keine reale Macht mehr ist. Wo aber eine Gegenmacht existiert, kann Gott nicht allmächtig sein. So wie die menschliche Willensfreiheit, von der zuvor die Rede war nur real ist, wenn sie einen Widerstand hat, gegen den sie sich frei durchsetzen kann, so ist es, wie gesagt, auch bei der Macht. Eine solche eigenständige Macht gegenüber der Macht Gottes entsteht schon im Akt der Schöpfung, die ein Selbstverzicht auf grenzenlose Macht durch den Schöpfer ist.52 Entscheidend für die Frage der Allmacht Gottes ist indessen eine theologischreligiöse Überlegung, wobei Jonas allerdings einen philosophischen Gottesbegriff unterstellt, denn er sagt: »Gewiß nun ist die Güte, d. h. das Wollen des Guten, untrennbar von unserem Gottesbegriff und kann keiner Einschränkung unterliegen.«53 – Kann man nicht auch an einen Gott des Bösen denken? Hier wird Gott und das Gute begrifflich definiert. Die daraus resultierende theologische Überlegung lautet sodann wie folgt: Nimmt man an, der allgütige Gott sei allmächtig, wie kann man dann das Böse in der Welt erklären? Als Antwort kommen nur zwei Möglichkeiten in Frage: a. Gott ist nicht allmächtig und b. Dieser Gott ist gänzlich verborgen und für uns Menschen unverständlich – nur dann kann der allmächtige und gütige Gott unbegreiflicherweise auch das Böse zulassen. Das bedeutet, die drei Gottes-Attribute »absolute Güte«, »absolute Macht« und »Verstehbarkeit« stehen in einem solchen Verhältnis zueinander, dass immer eines ausgeschlossen bleibt, wenn man die beiden anderen annimmt: Ist Gott gut und allmächtig, dann ist er unverstehbar. Ist Gott gut und verstehbar, dann kann er nicht allmächtig sein. Also muss der religiöse Gottesbegriff, will er konsistent sein, eines der drei Attribute: Güte, Allmacht, Verstehbarkeit Gottes ausschließen. Von der Güte wurde das schon per definitionem abgelehnt – Gott kann ja nur gut sein. Bleibt nun die Wahl zwischen Allmacht und Verstehbarkeit. 51
Jonas, Gottesbegriff, S. 32–33.
52
Jonas, Gottesbegriff, S. 33–36.
53
Jonas, Gottesbegriff, S. 38.
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Hier nun trifft Jonas eine Entscheidung, mit der er sich nicht unbedingt auf den gesamten Strom des jüdischen Denkens berufen kann, wiewohl er von einer jüdischen Norm spricht. Er sagt: »Ein gänzlich verborgener, unverständlicher Gott ist ein unannehmbarer Begriff nach jüdischer Norm. Genau das aber müßte er sein, wenn ihm zusammen mit Allgüte auch Allmacht zugeschrieben würde. Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre. Wenn aber Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mächtig ist.«54 Natürlich kann man so als jüdischer Denker argumentieren, nur darf man dies nicht als jüdische Norm bezeichnen, nämlich dass die Annahme eines unverständlichen Gottes gerade hinsichtlich seines Weltregimentes der jüdischen Norm widerspreche. Demgegenüber muss hier betont werden, dass es seit der Bibel und durch die gesamte jüdische Denkgeschichte, woran einige der hier behandelten Autoren auch nachdrücklich erinnern, die jüdische Vorstellung vom Verbergen des Angesichtes Gottes gibt, eben gerade als ein Ausdruck oder ein mythologisches Symbol, für die Unverständlichkeit der göttlichen Weltregierung. Des Weiteren muss daran erinnert werden, worauf Emil Fackenheim eigens hinweist, dass es spätestens seit den antiken Sprüchen der Väter (Pirke ʼAvot) im rabbinischen Judentum die Vorstellung einer nie ausgeglichenen widersprüchlichen Dialektik in der Weltlenkung Gottes gibt: »Alles ist vorhergesehen, aber der freie Wille ist gegeben«, lautet die diesbezügliche Formel in den Sprüchen der Väter.55 Dieser Einwand bezüglich der Normativität des Glaubens an einen verstehbaren Gott im Judentum sei nun dahingestellt. Jonas will dies so haben! Daher lautet das aufwühlende Resultat seiner Überlegungen schließlich: »Aber Gott schwieg. Und da sage ich nun: nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein.«56
54
Jonas, Gottesbegriff, S. 39.
55
Pirke ʼAvot, 3, 15.
56
Jonas, Gottesbegriff, S. 41.
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Gott hat sich nach Jonasʼ Auffassung wie in seinem Mythos gezeichnet seit Anbeginn jeglicher Einmischung in das Weltgeschehen enthalten, er hat nicht und wird sein Volk nicht, wie am Exodus beschrieben und jährlich in der PesachHaggada proklamiert, »mit starker Hand und ausgestrecktem Arm« retten. Und Jonas gibt zu, dass er sich gerade mit dieser Aussage von der »ältesten jüdischen Lehre« entfernt. Dies auch, weil mit dieser Aussage noch weitere, etwa in Maimonidesʼ Glaubensartikeln aufgezählte Positionen hinfällig werden, nämlich: »die Sätze von Gottes Herrschermacht über die Schöpfung, seiner Belohnung der Guten und Bestrafung der Bösen, selbst vom Kommen des verheißenen Messias.« Jonas formuliert hier etwas, das traditionell im Judentum als Gottesleugnung gilt, nämlich: »Let Din we-let Dajjan«, »Es gibt weder Richter noch Gericht«.57 Damit ist Jonas – gewiss unter dem kaum ertragbaren Einfluss der Geschehnisse in der Schoah – auf anderem Wege letztlich dahin gekommen wo, auch Richard Rubenstein hingelangt war, das heißt zu der Aussage vom Tod Gottes. Allerdings ist es nur der Tod des geschichtsmächtigen und damit richtenden Gottes – ähnlich ja auch bei Rubenstein. Hingegen ist bei Jonas der in der Weltgeschichte werdende Gott, dessen wesenhafte Gestaltung in der Hand des Menschen liegt, erhalten geblieben. Und diese Schlussfolgerung ist für Jonas letztlich das Entscheidende. Es ging ihm um einen »Begriff Gottes«, der für eine Begründung der Ethik taugt. Und das tut dieser neue Gottesbegriff allemale, denn er bürdet die gesamte Verantwortung für den Verlauf der Welt dem Menschen auf. Und dieser Mensch weiß mittels dieses für sein ethisches Denken nötigen Gottes-Begriffes um die kosmische Bedeutung seines Tuns, von welcher er ohne einen solchen Gottes-Begriff nicht sprechen könnte. Es zeigt sich hier die analoge Struktur zu Hermann Cohen: Auch für ihn ist die Gottes-Idee nötig für die Begründung der Ethik. Ob es diesen Gott als separate Substanz wirklich gibt, ist dabei unerheblich. Entscheidend ist die »Existenz« der Idee oder des Begriffs, der das menschliche Handeln bewegen kann und soll.
57
Vgl. Grözinger, Kafka und die Kabbala, S. 222 (Kap. Schuld und Sühne in den Romanen Aphorismen).
VII. DIE SCHOAH, DAS ENDE DES EXIL-JUDENTUMS – DIE LEHREN AUS DER GESCHICHTE ELIEZER SCHWEID (GEB. 1929) 1.
Gedenktage und die Befindlichkeiten des jüdischen Volkes
Eliezer Schweid1 unterscheidet sich von all den vorausgegangenen Deutern der Schoah durch eine konsequente historische Betrachtungsweise. Er stellt nicht die Gottesfrage, interessiert sich nicht für die Theodizee und transzendente Bezüge.2 Nicht die zahllosen Individuen und deren Leiden können nach seiner Auffassung die Bedeutung der Schoah für das jüdische Bewusstsein bestimmen – so schmerzlich die Erinnerungen an sie auch sind und so sehr sie das Befinden aller Juden bis in die Gegenwart prägen. Schweid betrachtet die Schoah konsequent unter dem Gesichtswinkel der Geschichte des gesamten jüdischen Volkes als ein in der Menschheitsgeschichte auftretendes und aufgetretenes Kollektiv. Er fragt demnach nach der Bedeutung der Schoah für das historische Volk Israel, für dessen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als Mittel einer Antwortsuche setzt Schweid nur historische und soziologische Kategorien ein und bringt diese mit dem Bewusstsein der jüdischen Menschen insofern in Beziehung als sie sich als Kollektiv, als jüdische Gruppe, verstehen und verstehen wollen. Schweid denkt als Historiker, mehr, er denkt als zionistischer Historiker, wie er in diesem Zusammenhang eigens feststellt.3 Als solcher fragt er nicht in erster Linie nach dem Schicksal, dem Gelingen oder Misslingen einzelner Juden, sondern nach dem Ergehen dieser Menschengruppe als ganzer, nach deren Einfügung in und Ausgrenzung aus der Völkerwelt – Schweid verwendet deshalb auch ohne Zögern den Begriff der »Gastvölker«, und meint damit jene Völker in deren Mitte die jüdische Gruppe während der langen Exilszeit angesiedelt oder sogar beheimatet war. Die Rede ist hier also nicht etwa von deutschen und französischen Juden, sondern von Juden in diesen Ländern und Gesellschaften.
1
Zu den biographischen Daten siehe oben Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, IX, 1.
2
Schweid selbst hat einen Essay zum Ende aller Theodizee-Versuche aus christlicher wie aus jüdischer Seite verfasst: E. Schweid, »Faith, Ethics and the Holocaust«. The Justification of Religion in the Crisis of the Holocaust, in: Holocaust and Genocide Studies 3, 4 (1988), S. 395–412.
3
Schweid bekennt sich nachdrücklich zu einer zionistischen Sicht der Geschichte Israels, in: Maʼavak ʽad Schaḥar (Kampf bis zur Morgenröte), Israel 1996 (1990), Kap. 6, Maschmaʽut ha-Schoʼah be-Toledot Jisrael (Die Bedeutung der Schoah in der Geschichte Israels), S. 167 u. 169.
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Schweid geht mit seinem Denken zur Schoah ans Grundsätzliche, er fragt nach dem, was das Bewusstsein dieses jüdischen Volkes als Ganzes prägt und da kann es ihm nicht schwerfallen, Bewusstseinskategorien zu nennen, die sogleich und spontan die Zustimmung aller Juden, orthodoxer wie ungläubiger, gewinnen können, das heißt das, was auch noch das schwächste jüdische Bewusstsein bestimmt, nämlich die jährlichen Feste und Gedenktage, die das Judesein auch des Entferntesten prägen. Das Entscheidende wird dann sein, wie Schweid diese Feste deutet, welche Bedeutung er ihnen für das jüdische Bewusstsein zuschreibt. Gewiss wird dabei für Pesach und Schavuʽot nicht die rettende und sich offenbarende Präsenz der Gottheit genannt werden, sondern Schweid muss versuchen, hier ein nicht religiös-transzendentes Bewusstsein zu greifen, sein Ziel muss sein, eine innerirdische historische Befindlichkeit zu finden. Schweid eröffnet demgemäß den Essay »›Und du sollst das Leben wählen …‹4 – die Schoah in der nationalen Selbstbesinnung«5 wie folgt: »Im Kalender des jüdischen Volkes stehen neben den Festen und Festzeiten einige Gedenktage, die an wichtige Ereignisse in der Geschichte des Volkes erinnern, darunter solche der Rettung und Erlösung, wie Pesach, Purim, Ḥanukka und der Unabhängigkeitstag, und andere der Zerstörung und Katastrophen, wie der 9. Av,6 der 10. Tevet7 und der Schoah-Gedenktag. Dies waren jedoch nicht die einzigen Ereignisse von Rettung oder Unglück, die unser Volk in den tausenden Jahren seiner Existenz getroffen haben und nicht wenige neue Ereignisse wurden den vorangegangenen für denselben Gedenktag angefügt. Warum aber wurden gerade die genannten Geschehnisse ausgewählt und für das jährliche Gedenken ausgezeichnet. Eine Prüfung ergibt, dass die Weisen und Führer des Volkes solche beständige Gedenktage festgelegt haben, weil sie nach ihrer Meinung eine grundsätzliche und wesentliche Veränderung im Zustand des Volkes symbolisieren, Veränderungen die ein neues nationales Nachdenken (Ḥeschbon Nefesch) und ein neues Verstehen der Situation des Volkes im Kreis der Völker und vor seinem Gott nötig machten.«8 Des weiteren erklärt Schweid, dass es bei solchen Gedenktagen nicht einfach darum ging, an vergangene Geschehnisse zu erinnern, sondern dieser Ereignisse
4
Dtn 30, 19.
5
E. Schweid, »›U-vacharta ba-Ḥajjim …‹ – ha Schoʼah be-Ḥeschbon ha-Nefesch ha-leʼumi«,
6
Zur Erinnerung an die Tempelzerstörungen.
7
Beginn der Belagerung Jerusalems durch Nebukadnezar im Jahre 588 vor der Zeitrechnung.
8
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 121.
in: ders., Mi-Jahadut le-Zijonut mi-Zijonut le-Jahadut, Massot. Jerusalem 1983, S. 121–137.
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Eliezer Schweid
wird deshalb gedacht, weil die in Erinnerung gerufenen Geschehnisse etwas benennen, das für eine gesamte Epoche entscheidend und prägend wurde, etwas, was das Selbstbewusstsein des Volkes auch noch in der jeweiligen Gegenwart bestimmte. So haben zum Beispiel die beiden Tempelzerstörungen jede für sich und beide zusammengefasst eine neue Situation im Dasein des jüdischen Volkes eingeläutet, nämlich die Galut-Existenz, das Dasein Israels im Exil. Dieses Exil wurde nicht nur als Entfernung aus dem eigenen Land, der Beraubung der eigenen politischen Selbstgestaltung, sondern auch als eine gewisse Entfernung von ihrem Gott, als Hester-Panim, das heißt als Rückzug Gottes in die Verborgenheit, verstanden. Die in Erinnerung gerufenen vergangen Ereignisse haben folglich ihre Wirkung noch in der jeweiligen Gegenwart, sie bestimmen das Leben des Volkes und charakterisieren es Tag für Tag. Nun wird deutlich, welches Gewicht Schweid dem Schoah-Gedenktag zuschreibt, den er, wie viele andere jüdische Denker, nicht nach dem Vorgang des orthodoxen Denkens einfach unter die schon vorhandenen Trauer-Gedenktage, etwa den 9. Av, subsumieren will. Die Schoah hat für Schweid ein Gewicht wie einst der Exodus aus Ägypten und die Zerstörung des Zweiten Tempels. Diese geschichtlichen Ereignisse markierten jeweils den Beginn einer neuen grundsätzlich verschiedenen Epoche in der Geschichte Israels. Deswegen kann man sagen, jenseits des noch brennenden und direkten Schmerzes der erst wenige Jahre zurückliegenden Schoah hat dieses Ereignis eine grundsätzliche Veränderung in der Lage und im Selbstbewusstsein des jüdischen Volkes bewirkt: »Die Schoah markiert eine wesenhafte Veränderung in der Situation des Volkes Israel, eine Veränderung, deren Bedeutsamkeit man nicht mit jener der Tempelzerstörung in eins setzen kann. Nach der Schoah musste das Volk Israel eine neue nationale Selbstbesinnung durchführen, die sich wesentlich von jener über der Tempelzerstörung unterscheidet. Nach der Schoah – man darf hier auch den zweiten, positiven Pol hinzufügen: Nach der Errichtung des Staates Israel – lebt das Volk Israel in einer historischen Wirklichkeit, die durch diese beiden Ereignisse definiert ist, und sie müssen in einer neuen nationalen Selbstbesinnung resultieren.«9 Es ist wert, hier ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass auch für Schweid die Schoah und die Staatsgründung zu einer dialektischen Einheit verschmelzen, wie dies schon bei den oben besprochenen religiösen Denkern geschehen ist. Allerdings ermangelt dieser Verschmelzung bei Schweid, anders als bei den zuvor Besprochenen, jegliche transzendente Note. Die Schoah ist für den zionistischen Denker nur noch die letzte Bestätigung für die Richtigkeit der zionistischen Ana9
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 122.
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lyse, wie sie etwa bei Leon Pinsker und Theodor Herzl im Zentrum stand, und die vor allem um das Problem der »Judennot« kreiste. Die Schoah war demnach nur noch die schreckliche und maßlose Konsequenz der jüdischen Situation im Exil der Völker. Diese Aussage von der letzten Konsequenz eines lange anhaltenden Dauerzustandes ist allerdings schon das vorweggenommene Ergebnis der Untersuchungen des zionistischen Historikers. Tatsächlich weiß auch Schweid, dass es unter den Juden insgesamt noch keine einhellige Übereinstimmung in der Bewertung der Schoah für das jüdische Volk gibt und dass viele nicht zuletzt deshalb zu der Auskunft Zuflucht nehmen, dass die Schoah ein letztlich unbegreifliches Geschehen sei. Aber gerade gegen diese Ausflucht will Schweid ankämpfen. Er hält es für die Pflicht aller Juden, sich der Frage nach der Bedeutung der Schoah für das Volk Israel, das jüdische Volk insgesamt, zu stellen. Und eine Antwort darauf kann man nach seiner Auffassung nur aus der Geschichte gewinnen. Es muss nach Gründen für dieses Geschehen gesucht werden. Und selbst wenn man nicht von notwendigen unausweichlichen oder zwangsläufigen historischen Entwicklungen wird sprechen können, so muss es doch der Nachforschung gelingen, Umstände zu eruieren, die ein solches Geschehen erst ermöglicht und die den Boden für dessen Durchführung bereitet haben, seien es religiöse, soziale, wirtschaftliche oder technische. Selbst wenn dann letztlich doch noch unbegreifliche Elemente, wie etwa die antijüdische Obsession der deutschen Führung, hinzuzurechnen sein werden, sie alleine hätten das Geschehen nicht möglich gemacht. Daher muss, das Erkenn- und Erklärbare zusammengetragen werden, um daraus die nötigen Schlussfolgerungen ziehen zu können und die notwendigen Veränderungen für die neue Situation wahrzunehmen. Und dies ist es, was Schweid in seinen weiteren Überlegungen unternimmt. Deren Tenor ist: »Der Schoah-Gedenktag sagt uns, dass die Epoche zuende gegangen ist, in welcher das Volk Israel als Exils-Volk existierte. Im Exil hat das Volk Israel keine Zukunft – dort muss es vielmehr mit seinem Untergang rechnen.«10 Es muss an dieser Stelle nochmals betont werden, dass Schweid hier nicht von den Juden als Individuen spricht, die unter vielerlei Umständen, auch im »Exil«, leben und Erfolg haben können. Es geht hier stets um das Volk Israel als gesamte physische und kulturelle Einheit. Warum Schweid zu dieser negativen Bewertung des Exils kommt, soll der Blick in die Geschichte zeigen.
10
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 123.
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Eliezer Schweid
2.
Ursachen der Schoah
2.1
Die Verfasstheit der jüdischen Nation vor und nach der Emanzipation
In der Beurteilung der Situation des jüdischen Volkes gilt es, grundsätzlich zwischen der Zeit vor und nach der Emanzipation zu unterscheiden. Vor der Emanzipation wurde die Lage des jüdischen Volkes von dessen Mitgliedern stets als Leben im Exil verstanden, als Leben unter der Strafe Gottes, das irgendwann durch eine Erlösung und Rückführung in das ursprüngliche Heimatland beendet werden würde. Diese Situation war, auch wenn Einzelne oder ganze Gruppen in ihr Erfolg und Zufriedenheit erlangten, doch stets ein eingeschränktes Leben, ohne die Erfüllbarkeit der jüdischen Möglichkeiten. In der Zeit vor der Emanzipation konnte aber dieses Leben im Exil dennoch als ein auf Dauer angelegtes und auch eine gewisse Zufriedenheit ermöglichendes Dasein verstanden werden, weil in den antiken und mittelalterlichen Staaten die Juden, wie die anderen präsenten Nationalitäten, innerhalb der multi-ethnischen oder ständischen Staaten ein gewisses Maß an Autonomie genossen. So hatten die Juden ihre eigene Gerichtsbarkeit, ihr eigenes Führungspersonal, eigene Gesetze und eigene Bildungseinrichtungen. Auch die Berufsbilder waren entsprechend und hatten oft funktionale Bedeutung im Rahmen der Gesamtstaaten, die dafür sorgten, dass die Herrscher ein Interesse an diesen Dienstleistungen hatten und so die Juden aus wohlverstandenem Eigeninteresse vor den oft feindlichen Volksmassen schützten. Und wenn es dennoch zu Verfolgungen kam, so waren diese doch begrenzt und es bestand nicht zu befürchten, dass das ganze Volk vernichtet würde – überdies gab es außerdem noch die Möglichkeit, in einem anderen Land eine neue Bleibe zu finden. Kurz, die Juden hatten in der Voremanzipationszeit zwar eingeschränkte Lebensmöglichkeiten, aber besaßen nach innen und nach außen eine klar definierte Stellung, dank der man einen modus vivendi erreichen konnte. All das hat sich mit der Emanzipation und mit dem Entstehen von Nationalstaaten in der Neuzeit geändert. Die relative Autonomie der jüdischen Gemeinschaft wurde zugunsten der Eingliederung der Individuen in den Staat als individuellen Rechtsträgern beschränkt. Die eigenen jüdischen Gesetze wurden bis auf die Ritualgesetze vom Staat kassiert, die jüdische Rechts- und Gerichtsautonomie aufgehoben, das Führungspersonal seiner Funktionen enthoben – aus rabbinischen Richtern wurden konfessionelle Seelsorger ohne Rechtsbefugnisse, die jüdische Gemeinde als fast autonome politische Rechtsgemeinde wurde aufgelöst und zur »Kirchengemeinde« – kurz, die Juden als Gruppe verloren ihren bis dahin klar umschriebenen und definierten Ort. Diese Veränderungen betrafen auch die Berufsstrukturen, so dass die Juden nach neuen Berufsfelder suchen mussten und dabei zunehmend auf die Ablehnung und Konkurrenz ihrer nichtjü-
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dischen Mitbewerber stießen, die sie aufgrund ihrer noch bekannten und abschätzig beurteilten Gruppenzugehörigkeit auszuschließen suchten. Dies hatte auch zur Folge, dass nun staatlicherseits kein Interesse mehr bestand, die Juden als ehemalige Funktionsgruppe zu schützen, während diese ihrerseits ihre einst vorhandenen kollektiven Verteidigungsstrukturen nicht mehr besaßen. »An der Schwelle der Neuzeit sah sich das jüdische Volk als geschwächtes, fremdes und unerwünschtes Volk, kraftlos und von Feindschaft umgeben, die – wenigstens auf den ersten Blick – in keinem Verhältnis zu seiner Größe und seinem gesellschaftlichen Gewicht stand, in einer Gesellschaft, die sie ausspeien wollte.«11
2.2
Der »Juden-Hass« – dessen anthropologische und soziale Ursachen
Eliezer Schweid ist, wie schon gesagt, der dezidierten Auffassung, dass es für die Selbstbesinnung, für die Standortbestimmung, das Selbstverständnis und die Zukunftsgestaltung des jüdischen Volkes unabdingbar ist, nach Ursachen für die Schoah zu forschen. »Wir dürfen keinesfalls die Meinung vertreten – in der gewiss ein Stückchen Wahrheit steckt – dass die Schoah etwas so außergewöhnliches ist, dass man sie nie wird verstehen können, um so den [schmerzhaften] Fragen [nach den Ursachen für den Hass der Juden] ausweichen zu können. Diese Fragen bedürfen einer absolut notwendigen Klärung für unser Selbstverständnis und für den Kampf um unsere Zukunft.«12 Die Frage nach dem den Juden entgegengebrachten Hass ist für die Selbstklärung der Situation der Juden in der Vergangenheit und die daraus für die Zukunftsgestaltung zu ziehenden Schlussfolgerungen unverzichtbar. Was war es, das die Beziehung der Gastvölker, der christlichen wie der muslimischen, zu der jüdischen Minderheit bestimmte und schließlich zu der schwierigen Situation führte, die in der Schoah ihren grausamen Höhepunkt fand. Als erstes betrachtet Schweid den »normalen Hass«, der zwischen den Menschen, Individuen wie Gruppen immer latent und de facto da ist, der sich an Fragen der Konkurrenz oder auch an der Furcht vor dem Fremden entzündet. Dies sind Aspekte wie sie, so Schweid, insbesondere von Theodor Herzl und Leon Pinsker, schon als Ursachen für die jüdische Ausgrenzung und Verfolgung benannt wurden: »Der Hass auf den konkurrierenden Fremden ist einfach natürlich«13 – wozu man die entsprechenden Kapitel der vorliegenden Darstellung vergleichen mag.14
11
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 126.
12
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 126.
13
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 127.
14
Siehe oben, Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, II, 3; III, 3.
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Indessen scheint dieser natürliche Hass auf den Fremden, der in mancher Hinsicht als Konkurrent auftritt, noch keine genügende Antwort auf den spezifischen, den Juden entgegengebrachten Hass zu sein, der im Verhältnis zur geringen Zahl an Juden und deren Machtlosigkeit in den Gastgesellschaften ein Ausmaß und eine Intensität entwickelte, welche die Schoah schließlich ermöglichte. Als erste Besonderheit, die zum Hass anregen konnte, war, wie Schweid meint, dass die Juden seit so langer Zeit ein »Volk im Exil« waren und sich als solches erhalten hatten, und sich nicht in der Mehrheit der Gastvölker auflösten. Es scheint, dass dieses Volk eine innere Kraft besaß, die es ihm ermöglichte, trotz äußerer Schwäche und Abhängigkeit von den Gastvölkern seine Abgesondertheit zu erhalten. Es ist dieses Paradox der Verbindung einer ungewöhnlichen Kraft mit einer außergewöhnlichen Abhängigkeit, das Anlass zu Hassgefühlen sein konnte. Natürlich war die zentrale Säule dieser inneren Kraft die Tora mit ihren das Leben gestaltenden Geboten ebenso wie die Treue zum Bund mit dem Gott dieser Tora, sie waren es, welche die Assimilation in den Gastvölkern verhinderten. Die christlichen und muslimischen Gastnationen der Voremanzipationszeit hatten allerdings mentale und gesellschaftliche Strukturen, die ein solches abgesondertes Dasein einer Minderheit ermöglichten. Diese Strukturen, welche es der Gruppe der Mutterreligion unter beiden Tochterreligionen erlaubte, ihr Sonderdasein zu leben, waren jedoch wiederum mit einer paradoxalen inneren Spannung belastet, denn »Die Religionen dieser Völker standen dem Glauben Israels einerseits zustimmend gegenüber und andrerseits in Auseinandersetzung mit ihm. Mit beidem, der Zustimmung und der Auseinandersetzung gleichermaßen, halfen diese Religionen dem Volk Israel seine abgeschiedene Sonderstellung zu behaupten.«15 Die Juden partizipierten auf der anderen Seite an der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und zum Teil auch kulturellen Infrastruktur der Gastvölker, haben sich aber zugleich in religiöser Hinsicht aufs schärfste von ihnen distanziert. Damit ergab sich ein weiteres Mal ein beachtliches Spannungselement. Eine gesellschaftlich und politisch unbedeutende Minderheit war in Fragen der Religion zugleich die zentrale Herausforderung schlechthin. Der Fortbestand der jüdischen Religion war für beide Gastreligionen eine Infragestellung von deren eigenen universalen Wahrheitsansprüchen, war ein steter Stachel im spirituellen Fleisch der christlichen wie der muslimischen Völker. Hinzu trat ein weiteres Element, nämlich dass diese kleine »unbedeutende« Minderheit in bestimmten Bereichen des gesellschaftlich-beruflichen Lebens herausragte, etwa in der Finanzwirtschaft, in bestimmten Wissenschaften, vor allem der Medizin, und sogar im politischen Bereich – ein Faktor, der aber den Juden als Gruppe keinen machtpolitischen oder sonstigen Gewinn brachte. Und 15
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 128.
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wieder sieht Schweid hier ein Paradox, welches die Juden zur leichten Zielscheibe machte: Die herausragende Position Einzelner auf der einen und die Machtlosigkeit, der sie als Juden ausgeliefert waren, auf der anderen Seite. All dies diente der Ausgrenzung von außen, hatte wohl aber auch eine Kohäsionsfunktion nach innen. Es waren dies Umstände, welche die Juden in den Augen der Mehrheitsgruppen zum Symbol des Bösen, ja gar des Dämonischen werden ließen: »So wurde der Jude, insbesondere in der christlichen Gesellschaft, zum gefürchteten und gehassten Negativsymbol wie zum Symbol des Verachteten und Verspotteten. Je weniger er in der Lage war, sich zu verteidigen, wuchs der Hass auf ihn. Dies ist das historische Paradox schlechthin: Die innere Kraft, welche das jüdische Volk im Exil erhalten hatte, hat es zugleich zum Gegenstand des Hasses gemacht. Und die für seine Existenz als Exils-Volk typische nationale Schwäche verstärkte nur den ihm entgegengebrachten Hass.«16
2.3
Der Verlust des gemeinsamen religiösen Nenners in der Neuzeit – die Masse als neue Basis der Gesellschaften und neue technische Möglichkeiten
Zu den oben schon beschriebenen sozialen Veränderungen in der Neuzeit kommt hinzu, dass die Religionen als regulierendes Machtinstrument und herrschender gesellschaftlicher Faktor in der Neuzeit im Rückzug begriffen waren. Dies hatte zur Folge, dass der gemeinsame Nenner der Religion, wiewohl er kontroverse Seiten hatte und als stabilisierender Faktor der Anerkennung des Judentums als Gruppe zunehmend ausfiel. Damit geriet das bis dahin bestehende relative Gleichgewicht ins Wanken – die Juden galten in der Antike und im Mittelalter bis zu ihrer erhofften schließlichen Bekehrung für die Tochterreligionen als erhaltenswerte Gruppe, die dereinst als Mutterreligion die Wahrheit der Töchter durch Konversion anerkennen würde. Diese Umfriedung der jüdischen Religions-Gruppe war mit dem Niedergang der Macht der Tochterreligionen in ihren jeweiligen Gesellschaften zunehmend eingerissen worden. Damit verschwand die relative schützende Macht der nichtjüdischen religiösen Hierarchien und die Verfolgungen durch den Pöbel konnten von ihnen nicht länger aufgehalten werden. In der früheren Neuzeit blieb indessen die Wanderung der jüdischen Gruppen in andere Länder – auf welche auch die Juden immer materiell und psychisch vorbereitet waren – noch immer eine Option, weshalb die Vernichtung
16
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 130.
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des gesamten jüdischen Volkes, eine »Endlösung der Judenfrage« noch keine reale Drohung am Horizont war. Mit dem Verlust der regulierenden Macht der Religionen trat jedoch in den neuen Zentralstaaten, seien sie demokratisch oder totalitär, ein neues Element der Machtbasis auf, nämlich die Stützung der Macht im Staat auf die Massen. Dadurch fiel das Regulativ gegen die Pogrome von Seiten der Massen fort, und vielfach erschien es den Machthabern als opportun, ihre Macht bei den Massen durch die Preisgabe der Juden zu stärken. Im Zuge der Emanzipation, in der man den Juden als Individuen zwar dieselben Bürgerrechte einräumte, zugleich aber die Gruppenstrukturen, welche jüdische Interessen vertreten konnten, abbaute, trat eine weitere Verschärfung der jüdischen Lage ein, weil die »gleichberechtigten« Juden im Wirtschaftsleben, durch ihr teilweise sehr erfolgreiches Eindringen gerade auch in erfolgversprechenden Berufen, nunmehr in neuem Maße von der Mehrheitsgesellschaft als Konkurrenz gesehen wurden, wobei zusätzlich der Gruppen-Makel als Juden an ihnen haften blieb. Außerdem hat der religiöse Abscheu gegen die Juden als Christus- oder Gottesmörder,17 der mit dem Rückzug des Religiösen eigentlich nachlassen sollte, sich nunmehr in neuen Ideologien Ersatz geschaffen. Bei gleichzeitigem Nachlassen der innerreligiösen Bindung auch bei den Juden führte diese Situation oft dazu, dass es schließlich vor allem der Hass und die Ausgrenzung waren, welche bei vielen Juden das Bewusstsein Jude zu sein, erhielten. Mit den vor allem bis in das 20. Jahrhundert hinzugekommenen militärischen und technologischen Entwicklungen trat ein neues Element auf, welches den Herrschenden nun unvergleichliche Mittel an die Hand gaben, ihre Aversion gegen die Juden nicht nur als »begrenzte« Pogrome und Vertreibungen zu realisieren, sondern in der totalen Vernichtung.
3.
Die Schoah war nicht unausweichlich und bleibt auch weiterhin eine Möglichkeit – Schlussfolgerung
Der Blick zurück in die Geschichte und die Suche nach den Ursachen der Schoah hat nach Schweids Auffassung ergeben, dass die Schoah zwar nicht eine zwangsläufige Folge aus den gezeichneten Entwicklungen und Umständen war, aber, dass, nachdem sie einmal geschehen ist, sich auch in der Moderne jederzeit wiederholen kann, wie die Geschehnisse weltweit zeigen. Dass die potentielle Möglichkeit der Schoah zu einer Wirklichkeit wurde, ist gewiss der Obsession oder
17
Dazu s. K. E. Grözinger, Bilder der Judenfeindschaft: Die »Gottesmörder« in: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, hrsg. v. J. H. Schoeps und J. Schlör, München 1995, S. 57–66.
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dem Wahn der Herrschenden zuzurechnen, denen die Vernichtung des Judentums wichtig erschien, ohne dass dadurch wirtschaftliche oder sonstige Vorteile zu gewinnen waren – eine Einschätzung, die inzwischen von manchen Historikern und Wirtschaftsgeschichtlern anders beurteilt wird (KEG). Die Schoah war gewiss eine Wahnsinnstat, »aber man kann sagen, dass dieser Wahnsinn in der politischen und gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit unserer Tage ziemlich normal ist.«18 Und dies gilt es auch für das Volk Israel zu bedenken und ernst zu nehmen: »Eine Nation, die über ihre Existenz und Zukunft nachdenkt, muss dies bedenken. Sie muss fähig sein, sich auch gegen eine solche Möglichkeit zu verteidigen, deren reale Verwirklichung droht. Solange sie nicht dazu fähig ist, erscheint ihre Sicherheit in der Zukunft nicht ausreichend, um ihr und ihren Mitgliedern ein geordnetes Leben zu ermöglichen, geschweige denn ein erfülltes und unabhängiges schöpferisches Leben. Die Möglichkeit sich gegen eine weitere Schoah zu verteidigen besteht nicht im Exil. Denn das Exil beherbergt das gesamte Ensemble von Umständen, die eine solche möglich machen. […] Deswegen symbolisiert die Schoah, wie gesagt, das Ende der Epoche des Exils. Wenn das Volk Israel weiterhin existieren soll, dann nur in seinem eigenen Land und seinem eigenen Staat.«19 Schweid beendet seine Überlegungen und Schlussfolgerungen nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Schoah nicht zum ausschließlichen Identifikations-Faktor des Judentums werden darf oder kann. Entscheidend dafür ist die Liebe zu diesem Volk und zu seinen kulturellen Traditionen. Er weist auch darauf hin, dass das zionistische »Rettungswerk« noch nicht vollendet und letzte Sicherheit noch nicht erreicht ist, dies umso mehr, als regionale Konflikte in unserer Zeit sogleich globale Auswirkungen haben und Interessenkoalitionen erzeugen, in denen sich alte Muster wiederholen und dass das »was zur Zeit der Schoah als Antisemitismus definiert war, heute als Antizionismus definiert wird.«20 – Eine Ergänzung zu diesen letzteren Gedanken findet man in Schweids oben skizzierten Auffassungen zur Rolle des Zionismus in der Zeit nach der Gründung des Staates Israel.21
18
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 134.
19
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 135.
20
Schweid, U-vacharta ba-Ḥajjim, S. 136.
21
Oben, Jüdisches Denken, Bd. 4, Zionismus, IX, 6.
EPILOG Der Rückblick auf die vielen Stimmen, die in diesem Band zu Wort kamen, lässt erkennen, dass sich das Judentum unserer Gegenwart tatsächlich unter dem Einfluss dessen, was hier reflektiert und beschrieben wurde, nachhaltig verändert hat. Dies gilt selbst für jene Wenigen, die sich, eingeschlossen in ihr altes Weltbild, all diesem verweigern wollen. Ihre Position ist aus der Mitte des Judentums an den Rand gerückt – auch wenn man dies nicht unbedingt in Zahlen ausdrücken kann. Dass diese Veränderungen wirklich stattgefunden haben und noch stattfinden, wird man erneut an jenen Autoren erkennen, die im folgenden Band fünf des Jüdischen Denkens besprochen werden sollen. Auch wenn sie sich nicht ausdrücklich mit den beiden hier verhandelten Themen befassen, kann doch keiner und keine von ihnen an diesen vorbeikommen und muss in der einen oder der anderen Weise Bezug auf sie nehmen. Es scheint wahrhaftig eine neue Epoche des Judentums begonnen zu haben.
REGISTER A Av, 9ter 58, 79, 505, 637, 638 Abraham 291, 604 Abraham Ruschiner 160 Achad Haam 23, 30, 159–214, 410, 437 Achi’asaf 162 Ackererde 396 Adorno, Theodor 541, 542 Ahron aus Staroselje 380 ʽAkeda 36–39, 471 ʽAlija 217 Alkalai, Jehuda 31, 74, 287–317, 438 Allgemeinbegriffe 356 Altizer, Thomas 491 Altneuland 137, 154, 424, 450 Amalek 59 Améry, Jean 509, 540, 541, 543, 544, 545, 546 Angst 200, 487, 536, 537, 621 Anomalie des jüdischen Lebens 121 Anthropozentrik 584 Antisemitismus 35, 118, 124, 127, 128, 136, 139, 140, 157, 171, 427, 431, 434, 435-436, 440, 444, 445–446, 510, 561, 615, 645 Anti-Theodizee: siehe Theodizee Apokalyptik 289–292 arabische Bevölkerung und Volk 417, 439, 465 Arbeit 214, 216, 217, 219, 220, Hauptarbeiten, neununddreißig 272 Lehre von der 271–78 Arbeits-Ethos 262, 263, 271, 276– 278 als Umkehr zur Natur, 269, 422 Religion der Arbeit 269–271, 276, 277, 280, 285 in der Bibel und rabbinisch 271–273 im 19. Jahrhundert 273–275 Arendt, Hannah 530, 551, 563, 615 Arier 93 Armenier 507 Armilos 309, 310 Arndt, Ludwig 146 ʼAtḥalta di-Geʼulla 324, 397, 401 Äther 90, 109
Auferstehung der Nation 75, 78, 79, 102, 103, 105, 123, 387–391, vgl. Wiedergeburt Auferstehung, Individuen 79, 101, 197, (Geist 211), 290, 305, 352 Aufstieg, geistig und mystisch 224, 338 343, 344, 376, 377, 381–383, 403, 404 Auge um Auge 187 Auslegungsparadigma 168, 198, 289 Auswanderung, der Juden nach Palästina 116, 213 Authentizität 537, 539, 542, 543, 558 Autoemancipation 118 Avivi, J. 322 Avraham Ha-Kohen (Wisbord) 325 Avramoviz, A. 322 Aylat-Yaguri, Tamar 328
B Baʽal Schem Tov 60, 61, 337, 342, 343, 408 Baeck, Leo 501, 502 Balfour, Artur James 151, 163, 319 Banalität des Bösen 551, 563, 615 Bank Leʼumi 409 Bar Mizwa 490 Baseler Programm 135 Bauer, Bruno 71 Becker, Nikolas 80 Befreiungskriege 74 Beinart, Peter 425 Bergmann, Shmuel Hugo 28, 215, 220, 229, 236, 264, 321, 614 Bergson, Henri 32, 178, 218, 234, 235, 239, 327–337, 345, 360, 381, 382 Berkovits, Eliezer 41, 588–608, 612 Bewegungsformen, der dynamischen Stofflehre 88–90 Bewusstsein, jüdisches 19, 22, 57, 76– 80, 90, 123, 129, 134, 143, 182– 183, 194, 210, 213, 389, 437, 441, 443–445, 452, 454, 455, 459–464, 494, 512, 541, 571, 575, 636–637, 644 Bilu 181
* Autoren moderner Sekundärliteratur werden hier nur auswahlweise aufgenommen. Eine Gesamtlistung findet sich in der Bibliographie.
648 binationales Gemeinwesen 417, 423 binationationaler Staat 413, 415, 416, 423, 427, 428, 436, 455 Birnbaum, Nathan 35, 609 Bismarck, Otto von 135 Bittachon 470 Bloch, Jochanan 73 Bne Brak 424 Bne Mosche, Loge 162, 185, 192 Bodenheimer, Max Isidor 69 Bonhoeffer, Dietrich 487 Borowitz, Eugene B. 549 Böses 41, 47, 59, 197, 200, 376, 469– 470, 474, 511, 542, 511, 551, 561, 564, 567, 568, 578, 594–595, 597– 599, 609, 610, 615, 622, 626–627, 630, 633 Braiterman, Zachary 28, 41, 424, 481 Bräuche 313, 420 Brauchtum 103 Brenner, Josef Hajjim 28, 219, 225, 482 Britannien 303 Brocke, Michael 42, 273, 275 Bruch, kultureller 19, 61, 68, 71, 86, 132, 222, 274, 316, 399, 400, 402, 451, 499, 503, 504, 506, 529, 553, 556, 557, 574, 575 Bruderliebe 312–313 Brumlik, Micha 427 Buber, Martin 32, 33, 72, 159, 219, 237, 275, 344, 410, 411, 412, 414, 415, 416, 417, 419, 420, 421, 422, 414–23, 423, 426, 439, 485, 513, 519, 522, 523, 530, 553, 561, 578, 588 Buch des Lebens 622 Buddha 218 Burg, Avraham 427 Butler, Judith 430, 431, 432
C Celan, Paul 561 Chaluz 422 Chartered Company 148–150 Chasaren 84 Chebrath Erez Noschabeth 115 Clermont-Tonnere, Stanislas 560 Cohen, Arthur A. 47
Register Cohen, Gustav G. 35 Cohen, Hermann 5, 35, 47, 72, 118, 205, 254, 328, 618, 635 Cohn, Albert 115 Commanding Voice of Auschwitz 516, 523 Comte, Auguste 164, 165, 166, 167 Craig, M. Nichols 554 creatio ex nihilo 346, 373
D Dämonisierung, der Juden und Israels 125, 425 Dan, Joseph 319–320 Darwin, Charles 165, 202 Darwish, Mahmoud 430 Dasein, menschliches 21–23, 88, 98, 99, 208, 230, 236, 254, 285, 373, 382, 455, 519, 530, 534–536, 538, 541–543, 547, 549, 553–554, 558, 561, 626, 638, 642 Dauer siehe durée David Kohen, der »Nasiräer« 321, 322, 324–325, 327, 329, 347 Demokratie 92–95, 155–156, 426 Versagen 566 Denksysteme, Ende der geschlossenen 567–569 Der Gesellschaftsmensch 193–98 Der Jude, Zeitschrift 415 Judenstaat 26, 135–138, 140, 142–145, 148, 151, 152, 155, 157, 162, 211, 410, 417, 435, 436, 453 Schrift Herzls 132, 142, 162, 434 Derech ʼErez 272, 277 Des Pres, Terence 509 Detailbegriffe und Einzelbegriffe 356– 357 Devekut, Gottesanhaftung 326, 403, 404, 406, 471, 475, vgl. unio mystica Diaspora 20, 24, 27, 43, 116, 148, 152, 171, 175, 210, 213, 313, 314, 412, 414, 425, 427, 429, 431, 432, 436, 437, 438, 440, 441, 445, 449, 453, 454, 456, 497, 606 Dilthey, Wilhelm 328 Displaced Persons 416, 469 Donat, Alexander 575
Register Dov Ber aus Mesritsch 472, 475 Drischat Zion, Schrift von Kalischer 34, 114, 115, 116 durée 235, 331 Durkheim, Emile 164, 486 Dynamische Stofflehre 82, 85, 88–91
E Ebenbild 186, 197, 230, 232–233, 279, 282–283, 385, 570, 584, s. auch imago dei u. Zelem ʼElohim Efraim aus Siedilkov 255 eigener Tod 539–541 eigentlich 217, 331, 535, 536, 542, 552, 553, 555, vgl. Authentizität einfaches Leben 262 Einfall 239 Einheit bei Spinoza 107 der Gottheit 59, 110, 338, 339, 340 des Geistes 183 des jüdischen Volkes 103, 171, 183, 202, 210, 313, 439, 440, 451– 455, 517 des Seins 85, 323, 334, 340, 341, 380, 381 kabbalistisch 339 kulturelle, Israels in der Zukunft 313 Mensch und Natur und Sein 219, 228, 247, 249, 250, 253, 264, 276, 277 von Geist und Materie 87 von Gott und Welt 85, 107, 379– 380 des jüdischen Volkes 451–454 seelisch 60, 223, 245, 247, 260, 266, 270, 271, 338, 339 Einzigartigkeit der Schoah /Holocaust 46, 50, 51, 503,505–511, 543, 591– 594 Eissfeld, Otto 501 élan vital 235, 332, 334, 381, 402 Elijahu 290 Elischa Ben Abuja 597 Emanation 340, 345, 373 Emanationslehre 346 Emanzipation 6, 30, 31, 35, 66, 68, 70, 72, 73, 76, 80, 99, 119, 120, 126,
649 137, 139, 140, 171, 173, 174, 302, 558, 560, 583, 615, 640, 644 ʼEn Sof 339, 340 Endlösung 507, 644 Engels, Friedrich 67, 68 Entmenschlichung 510 Entwicklung der Weltgeschichte und des Kosmos 29, (innergöttlich 47, 615, 633), 85, 90–100, 105–111, 201, 210, 211, 244, 625, 626, 628, alle Lebensbereiche, incl. Religion 165–180, 183, 187, 188, 201, 251, 252, 330, 332, 333, 353, 367, 368, 377, 400, 403, 452, 570, 576 epochemachendes Ereignis: siehe epoch-making-event, -experience Epochen der jüdischen Geschichte 49, 58, 197, 208, 293, 301, 531, 532, 533, 565, 571, 578–587, 639, 645 biblische 580–581 rabbinische 581–583 die dritte, Schoah und Staatsgründung 583–587 epoch-making event 519, 532 epoch-making experience 526–528, 531 Erfahrung 86–87, 107, 109, 165, 199, 216, 232, 519, 520–527, 544, Erinnerung 52–62, 76, 79, 83, 175, 178–180, 195, 203, 204, 412, 521, 523, 636,–638 Erkenntnis 24, 32, 78, 101, 107, 165– 166, 199, 216, 229, 234–236–248, 251, 254–258, 264, 267, 268, 276, 281, 283, 286, 329–337, 340–342, 344, 345–352, 354–361, 363, 365, 367, 378, 379–381, 382, 390, 391, 400–403, 406, 477, 527, 532, 574– 576, 618 Erkenntnislehre 199, 215, 220, 328, 234, 335–337, 346, 361, 576 nach Gordon 235–37 Er-leben 234, 236–40, 243, 244, 251, 254, 256, 257, 276–277 Er-lebnis 229, 237 Erleuchtung 239, 341, 356,–358, 371, 379 Erlösung 292, 303, 399, 402, 417, 470, 584, 602, 606
650 natürlich und übernatürlich 293, 295–296 und Erinnern 295–296 Erlösung durch Arbeit 217, 219, 220, siehe Arbeit, Religion der Erwählung 24, 189, 383–387, 486, 512 Erziehung 79, 168, 178, 179, 182, 184,454, 456 Esra 600 Essenz des Seins ist Israel 386 Ethik 30, 183. 186–188, 226,253– 256,334, 491, 596, 597, 616, 618,619,626,653, u. siehe Moral deren Grundlage, nach Gordon 253 nationale 188–92, 188 und Religion 188 jüdisch-nationale Ethik 185, 186, 188–92, 193 etwasen 259 excremental assault 509, 545 Exil 24, 27, 32, 45, 50, 59, 61, 171, 175, 304–305, 417, 436, 461, 462, 602–608 Exil- /Galut-Judentum 19, 20–22, 41, 49, 78, 104, 132, 174, 201, 213, 218, 273, 284, 298, 324, 389, 396, 411, 527, 532, 533, 538–639, 643, 645 und Erlösung 52, 58, 60, 61 Existenz Israels, Zeichen der Gottesmacht 600 Existenzbereiche, im kosmischen Leben 91–92
F Fackenheim, Emil L. 40, 41, 44, 48, 49, 51, 479, 501–562 Fäkalien-Anschlag: siehe excremental assault Falaqera, Schem Tov 327 Feuchtwanger, Lion 529 Fichte, Johann Gottlieb 86, 327 Freud, Siegmund 486
Register G Gabirol, Schlomo Ibn 327, 373 Galutpolitik 414 Garb, J. 323 Gastvölker 76, 284, 313, 463, 606, 636, 642 Gebet 43, 77, 78–80, 103, 166, 344, 470, 471, 474, 478, 487, 582 Gebot, 614tes 517, 518 Gedankenflüge 343 Gedenktage 58, 505, 636–639 Gefühl 79, 81, 90, 136, 156, 181, 182, 183, 185, 203, 215, 223, 236, 237, 238, 243, 249, 250, 251, 254, 255, 256, 264, 283, 349, 351, 352, 355, 359, 362, 369, 379, 420, 458, 459, 460, 485, 622, 624 Geiger, Abraham 24, 26, 77, 78, 81, 98, 105, 173, 176, 180, 182, 250, 254, 309 Gelber, N. M. 26 Gematria 291 Gemeinschaft 251, 279, 411, 419–421 genetischen Weltanschauung 82, 85– 88, 95, 117 Gennep, Arnold van 486 Genozid 19, 20, 35, 42, 416, 436, 480, 482, 503, 504, 505, 506, 507, 526, 527, 560, 567, 604 Gerber, R. 322 Geschichte 590 ihre Bedeutung für das Judentum 511–17 ihre Bedeutung für Israel 283 Judentum als Midrasch zur 565 Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins 529 Geschichtskultus jüdischer 102 Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden 118 Gesetze 44, 103, 116, 139, 155, 179, 184, 196, 222, 235, 249, 263, 273, 369, 490, 519, 611, 625, 640 Ghetto 17, 39, 44, 140, 170, 171, 173, 190, 209, 210, 433, 472, 524, 547, 614 Gikatilla, Josef 474 Ginzberg, Ascher: siehe Achad Haam
Register Glaube 333, 335, 345, 349, 363, 361– 72, 572, 380, 386, 404, 480, 494, 495, 496, 513, 514, 520, 531, 571, 573, 627 Gleichschaltung 577 Glick, Hirsch 524 Glück 192, 196, 197, 347, 348, 356, 358, 381 Gog 293, 297, 309 Goldberg, David J. 426 Goldmann, Elieser 327 Gordon, Ahron David 30, 153, 215–86 Gordon, Yael (Jael) 217 Gott 347, 475 in Kosmos und Geschichte 106–111 als Verborgener Intellekt 253–261 absolutes Wesen 108 als Arbeit 275 als Natur 270, 271 als Nichts 498–500 als Postulat der Ethik 254 außerhalb des Seins? 347–348 Gott als ultimate concern 494–498 der Geschichte, trotz Holocaust 479, 594–600 die Antagonismen der Weltentwicklung 109 Dilemma Gottes 599 Einheit von Gott und Welt 379–381 in der Bibel und nach Auschwitz 632 in der Geschichte 48, 512 in Kosmos und Geschichte 106 Mythos vom werdenden 618 Ohnmacht 633 Präsenz in der Geschichte 590, 601, 612 Rückzug aus der Geschichte 49, 599, 611, siehe: Hester Panim sein Ziel in der Geschichte 603 und Weltentwicklung 110 Verborgenheit 474, 513, 585, 592, 600, 608, 610, 611, siehe: Hester Panim Tod Gottes 226, 481, 483–486, 498 Gott-Welt- Mythos 624–626, 632– 635 Religion ohne Gott 486–493 Gottes-Attribute 632–633 Gottesbegriff 493–500, 617, 618
651 Gottesgegenwart 205, 520, 521, 522, 523 Gottesmörder 128, 644 Gottesnamen 391 Greenberg, Irving Yitzchak 49, 563– 87, 590 Grözinger, Elvira 433 Guenzburg, Josef Baron 216 Gusch ʼEmunim 395 Guttmann, Julius 614
H Ha-ʼArez 424, 428 ḤaBaD 257, 348, 366, 380, 384 Habakuk 596 Haeckel, Ernst 85 Hagana 441, 614 Halacha 170, 249, 334, 387, 390, 478, 493, 582, 589, 606 Hamburger, Binjamin S. 424 Ha-Poʽel ha-Zaʽir 28, 276 Harlap, Jaʽakov Mosche 322 Hartom, Menachem Immanuel 44–45 Haschiloach 163 Ḥasidim 547 Ḥasidismus 60, 160 und Schoah 469–72 Ḥawaja 261, siehe Er-leben Hebräisch 35, 36, 117, 156, 183, 287, 288, 314, 318, 426 Hegel, G. W. Friedrich 71, 86, 182, 222, 263, 274, 480, 485, 501, 528, 529 Heidegger, Martin 48, 504, 508, 528, 529, 530, 534, 535, 536, 537, 538, 539, 540, 543, 549, 553, 554, 555, 557, 561, 608, 614, 621 Heidentum 491, 492 Heilige Schrift 203, 204 heilige Schriften 102 Heimat 24, 30, 45, 76, 123, 131, 134, 153, 155, 158, 284, 410, 412, 414, 433, 442, 449, 451, 459, 460, 461, 462, 602 Begriff 459 Boden der 284 und Zuhause 459 Heimatland des jüdischen Volkes 457– 466
652 Heimatländer Juden und ihre 567 hermeneutische Technik 294 hermeneutisches Paradigma 294 Herzl, Theodor 22, 29, 132, 135–158, 409, 434 Hess, Moses 29, 65–117, 327 Hester Panim 49, 469, 513, 596, 611, 612, 638 Auschwitz verdunkelt die Präsenz Gottes 584 Ḥibbat Zion 118, 161, 176, 177, 289 Hilberg, Raul 563 Hiob 596 Hirsch, Baron Maurice de 135 Hirsch, Emanuel 508 Hitler, Adolf 38, 39, 44, 46, 55, 59, 427, 483, 486, 501, 507, 508, 514, 517, 518, 544, 559, 561, 620 Holocaust Prüfstein für Glaube und Theologie 574 und Staatsgründung 512 zum Begriff und seiner Verwendung 35–40 Holocaust-Theologie 480, 481, 504 Horwitz, Jeschajahu 387 Ḥoveve Zion 30, 118, 132, 138, 142, 152, 154, 161, 162, 168, 398, 410 Huber, Kurt 555, 557 Hume, David 199, 200, 201 Ḥurban 603, 605 Husserl, Edmund 608, 614 Hutner, Jizchak 45–46 Hypnose 178, 179, 204 Hypothese und Erkenntnis 349, 355, 359
I Ich 180, 257, siehe Individuum das nationale 180 der Person 177 Idealismus 6, 85, 109, 242 ʼIḥud 416, 417, 423 Imagination: siehe Phantasie imago dei 232, 233, siehe Ebenbild imitatio dei 186, 272, 315, 601–604
Register Individuum 30, 61, 110, 178, 220, 225–229, 230–231, 234–241, 242– 47 Entfremdung 242–48 kollektives 30, 278 nach Gordon 242–48 Instinkt 330, 125, 182, 234, 239, 247, 329, 330, 389, 390, 491, 560 Intellekt 205, 229, 231, 234, 240, 243, 340, 276–277, 32–333, 352–354, 355–356, 357, 358, 360–372, 377– 376, 381, 402, höchster, verborgener 253, 255– 262, 276, 340, 351, 353, 355 natürlicher 352, 353, 357 oberer, göttlicher 354 Interkalation 291 Internationalismus 566 Intuition 234–235, 239, 329–334, 345, 360 ʼIsch Schalom, Benjamin 346, 403 Israel Ruschiner 160 Israel und zionistische Politik 455–56 Israel-Seele 386
J Jacobs, Walter 311 Jakob Josef aus Polnaʼa 194, 477 Jargon 27, 184 Jehuda ha-Levi 366–367, 384, 386, 393, 460, 521 Jehuda Liwaj Ben Bezalel: siehe Maharal aus Prag Jeremia 38, 44, 206, 401, 595, 600 Jerusalem Post 424, 425 Jesaja 107, 181, 295, 298, 520, 521, 595, 602, 603 Jeschiva, zentrale, in Jerusalem 319 Jewish Company 7, 136, 141, 148, 150, 151, 152 Jochanan Ben Sakkai 170, 211 Johnson, Ch. 149 Jom ha-Sikkaron le-Schoah 52, 505 Jonas, Hans 49, 50, 51, 614–35 Judenhass 29, 81, 125, 127–129, 136, 140, 442, 532, 641–643 Judennot 7, 29, 101, 119, 120, 122, 137, 139, 140, 141, 170, 209, 210, 211, 418, 434, 436–437, 639
Register judenrein 507, 607 Judentum als Volk und Nation 29, 76–79, 80, 101, 112, 175–184, 186, 446–450 Exil-Galut-Judentum 19, 49, 413, 527, 532, 533, 636 kulturelle Größe 173, 210, 438 nach der Schoah 512, 526–529 neue Ära des Judentums 563, 578– 587 ohne Theodizee 47–49 rabbinisches 43, 170, 181, 187, 533, 579, 581–583, 589 Reform: siehe Reformjudentum Rückkehr in die Geschichte 511– 512, 527 Situation im 20. Jh. 30, 169–174 und die heilige Geschichte der Menschheit 111 und Staat Israel 49, 558–562, 607 Weltmission 33, 420 Jüdische Brigade 614 jüdische Mutter 181, 558 Jüdischer Verlag 415 Jung, C. G. 486
K Kabbala 39, 47, 49, 59, 60, 107, 229, 235, 240, 250, 255, 261, 265, 266, 289, 307, 308, 316, 318, 319, 323, 334, 340, 351, 360, 372, 383, 387, 393, 400, 401, 404, 406, 407, 471, 474, 477, 487, 494, 499, 514, 556, 576, 579, 597, 622, 623, 635 Kadushin, Max 407 Kafka, Franz 59, 406, 487, 514, 597, 622, 635 Kaiser Franz Josef 303 Kalischer, Zwi Hirsch 6, 34, 65, 74, 76, 112, 114, 115, 288, 289, 398 Kalonymos Kalmisch Schapiro 472–479 Kaminka, Dr. 329 Kant, Immanuel 218, 249, 253, 254, 255, 257, 327, 550, 618 Kaschrut 490 Keller, F. L. von 146 Kellner, Viktor 219
653 Kiddusch ha-Ḥajjim 547 Kiddusch ha-Schem 36, 37, 39, 51, 471, 478, 479, 504, 547, 591, 592, 593 Märtyrertod 513 Kierkegaard, Søren 328, 482, 485, 517, 528, 529 Kinder in der Schoah 476, 513 Klausner, Josef 163 Klima, Einfluss auf Völker 96 Kohelet 596, 597 Kohen, David 324, 327, 329, 347 Kolonisation 138, 152, 169 Koltun-Fromm, Ken 70 Kommunistisches Manifest 67 Königin Viktoria 303 Konzentrationslager 44, 502, 503, 509, 511, 540, 555, u. s. Todeslager Koran 433 Krankheit Antisemitismus 120, 124 Psychose der Judenfeindschaft 127 Kreuzzüge 605 Krochmal, Nachman 98, 179, 180, 182 Kuk (Kook), Avraham Jizchak, 32 318–408, 439, 450, 652, 609 Kuk (Kook), Zwi Jehuda 32, 319, 393– 395, 395–397 Kultur 27, 30, 132, 134, 160, 168, 170, 171–173, 174, 177, 178, 183, 188, 192, 198–204, 208–213, 279, 282, 314, 335, 354–355, 370, 396, 418, 459–460, 490, 556, 566, 575 Kulturzionismus 30, 160, 177 Kyros 303
L Laharanne, Ernest 6, 26, 112, 113, 114 Land Israel 131, 213, 215, 271–278, 283–286, 292, 307–308, 324, 391, 392–397, 400, 422, 448–449, 457– 466, Lassalle, Ferdinand 68 Lebensphilosophie 218 Lebensrhythmen 91 Lebenssphäre, sozial, organisch, kosmisch 99, 106 Leers, Johann von 508 Lejbowitz, Jeschaja 609
654 Leone Modena 279 Let Din we-let Dajjan 635 Levi, Primo 52, 53–58, 430, 563 Lévinas, Emmanuel 49, 50, 608–13 Lewinska, Pelagia 509, 516, 545, 546, 547, 548, 556 Liberalismus 566 Licht, göttliches 240, 253, 339–341, 342, 343, 344, 356, 357, 360, 362, 365, 367, 391, 406, 407, 477 Licht des Messias 398, 400–402 Lichtenberg, Bernhard 555 Lilienblum, Moses Leib 34 Literatur 26, 27, 29, 34, 35, 59, 72, 77, 79, 84, 95, 164, 176, 179, 184, 186, 188, 196, 202, 211, 212, 216, 218, 240, 267, 272, 273, 274, 287, 290, 292, 293, 306, 309, 320, 327, 330, 377, 391, 392, 403, 419, 424, 430, 433, 461, 480, 561, 586, 632 Holocaust-Literatur 481, 483 Locke, John 274 Löwenstein, M. R. 127 Lucas, Leopold 616 Luckner, A. 554 Luft des Landes Israel 396 Lurja, Jizchak 60, 240, 327, 380, 384, 400, 402, 499, 500 Luzzato, Mosche Hajjim 327 Lyotard, Jean-Francois 40
M Magog 293, 297, 309 Maharal aus Prag 366, 384 Maimonides 102, 202, 359, 373, 387 Malka, S. 608 Margulies (Margalit), Heinrich 32, 33 409–14, 415, 423, 427, 438, 439 Marx, Karl 66, 67, 68, 71, 72, 73, 218, 237, 266, 275, 529, 561 Materialismus 71, 85, 88, 109, 193 Maybaum, Ignaz 41, 505 Meir, Ephraim 609 Meʼir, J. 323 Menachem Asarja di Fano 327 Menschenbild 30, 31, 193, 196–197, 198, 242, 531, 540, 541, 550, 551, 553, 557, 580 Menschentypus 421, 422
Register Menzer, Paul 501 Merkas ha-Rav 319 Merkas ruḥani 174, 175, 209, 213, 393 Messias 21, 102, 123, 291, 500, 566 Anti-Messias 309 Ben David 293, 295–301 Ben David und Ben Josef 304–306 Ben Josef 293–306, 309–313 Licht des 398–402, 406 messianische Geschichte 607 messianische Politik 312 messianisches Ziel 602 Pseudomessiasse 424 zwei, Ben Josef und Ben David 304–306 Meyer, Thomas 42, 529, 530 Middat ha-Din 293 Middat ha-Raḥamim 293 Midrashic thought 525 Mieses, Fabius 327 Militär Heer des Judenstaates 156 jüdische Polizei und Militär 116 Mill, John Stuart 26, 164, 165, 166, 177, 179 Minoritätenschutz 413 mipne Ḥataʼenu 470, 589 Mizrachi 439 Moleschott, Jacob 85 Monarchie 155, 156 Monismus 6, 85, 87, 235 Monotheismus 95, 166, 201, 202, 346, 381, 610 Montefiore, Moses 115, 289, 300, 301 Moral 55, 66, 104, 179, 183, 184, 185, 186, 221, 232, 254, 255, 267, 280, 282, 326, 334, 358, 362, 365, 368, 387, 568, 569, 588, 596 Morris, Benny 428 Mosche de Coucy 58 Moses 387, 388, 432 Müller, Filip 545 Munitz, Me'ir 321, 322, 323, 324, 394 Muselmänner 510, 539, 540, 546, 627 Mysterien 343, 352 Mystik 346, 403, 404, 499, 500, siehe: Seele, Kuk Mystiker 357 mystisches Heidentum 491
Register Mythos 50, 60, 159, 432, 486, 618, 619, 623, 624, 626, 628, 629, 630, 632, 633, 635
N Na’aman, Shlomo 67 Nachman von Bratzlaw 577 Nachmanides 102 Nation 26 als große Familie 279 als kollektive Lebensform 278 als soziale Kategorie 23 das sie konstituierende 181 Definitionen 82–85 Elemente des Nationalen 122 ihre Stellung zwischen Mensch und Kosmos 280 jüdische 28, 76, 78, 102, 168, 169, 182, 446, u. s. Judentum als Volk und Nation und Rasse 96 zwischen Mensch und Kosmos 281 National Jewish Center for Learning and Leadership 563 Nationalfahne 156 National-Geist, jüdischer 101, 171, 176, 183, 198, 208, 210, 213, Nationalität: siehe Nation u. s. Judentum als Volk Nationaltrauer 75, 79, 505, 638 Natur 30, 96, 99, 107, 215–216, 219, 231, 233 als Weltschöpferin 271 kosmische und der Mensch 264 und Mensch 219, 220, 230, 233, 236, 237, 239, 245, 261, 262, 264–269–271, 275, 280–282, 284,–285 negotiorum gestio 141, 146, 147 neoplatonischen Weltbild 338 Neture Karta 20, 301, 438 Neue Historiker 428 Nietzsche, Friedrich 48, 218, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 237, 242, 249, 250, 263, 266, 274, 411, 482, 484, 485 Not des Judentums 436 Notarikon 291 Nürnberger Prozesse 564
655 O Oberrabbinat, israelisches 32, 318 Offenbarung 30, 47, 99, 100, 183, 190, 200, 258, 323, 338, 365, 399, 401, 406, 474, 475, 476, 516, 517–526, 571–572, 519–525, 571, 578, 586 Ofir, Adi 50 Opfer 166, 192, 252, 336, 490 Holocaust als 35–40 Organizismus 167, 168, 327 Orthodoxie , 311, 388, 502, 589 Krise 566 neues Glaubensbekenntnis 569–571
P paganism 491 Palästina 29, 31, 32, 34, 79, 114, 116, 119, 132, 133, 136, 151, 155, 161, 169, 181, 192, 212, 216, 276, 288, 300, 410, 411, 412, 416, 471, 602, 615 Palmach 441 Panspermisten 90 Pappe, Ilan 426, 428 Pesach 53, 56, 58, 401, 470, 505, 521, 635, 637 Pesch (Hess), Sibylle 66, 68 Petach Tikwa 423 Phantasie /Imagination 251, 252, 326, 349–352, 354–355, 356, 359, 360, 361, 363, 367, Pharisäer 170, 198, 211, 493 Pidajon ha-Ben 490 Pilpul 407 Pinsker, Leon 29, 118–34, 435 Pionier 217, 422, 424 Pittsburgh Platform 311 Pluralität, religiös, kulturell 577, 586 Politik israelische 140, 426, 427, 430, 431, 435, 444, 449, 455–456, 457, jüdische 19, 22, 30, 31, 33, 101, 136, 151, 155, 410, 413, 414, 415, 422, 426 nationaljüdische 75, 82 zionistische 33, 455–456 Positivismus 164
656 Post-Zionisten 32–33, 409, 410 423– 433, 442 Priester 167, 168, 204–207, 304, 486– 492, 496, 497, 581, 582 progressus 338, 348, 499 Prophet 204–208, 252, 253, 323, Prophetie 351, 384, 393, 405, 476, 478, 482, 489, 491, 496, 497, 519, 572, 581–582, 590, 617
R Raʽanan, Schalom Nathan 322 Rabbi Meʼir 597 Rabbinen 102, 198, 272, 273, 490, 511, 572, 581, 582, 596, 599, 612 rabbinische Richter 640 Rackower, Jossel 611 Radical Theology 483, siehe Tod Gottes Raschi-Schrift 314 Rasse 76, 82, 84, 91–95, 95–99, 101, 507 Rasswjet, jüdische Zeitschrift 118 Rebbe von Gur 469 Reflexionstexte 328 Reformjudentum 43–44, 81, 101–104, 123, 173, 175–176, 180, 210, 309– 312, 450–452,488, 583 regressus 338, 348, 499 Reichskristallnacht 501, 503 Religion 123, 184, 186, 313, 334, 420, 437–438, 445, 447, 448, 643–644 bei Gordon 232, 248–53 Form und Inhalt 251, 260, 261, 262 gesellschaftlich-psychisches Phänomen 210, 210, 486–488 heidnisch-biblische 48, 486 ist jüdischer Patriotismus 103 jüdische, als Herausforderung 642 kultische 491 neues individualistisches Verständnis nach Gordon 232, 248–253, 260 Niedergang in der Neuzeit 644 ohne Gott 260, 483, 486–493 ohne Theodizee 47–50 priesterliche 489, 491 und Erinnern 53–62 und Ethik 254
Register und nationale Kultur 198–204, 211, 282 und Nation 27–28,29, 30, 77, 78, 81, 96, 101–106, 123, 156, 165, 168, 179, 182, 183, 185–192, 198– 203, 440, 446, 447, 450 Religion der Arbeit 30, 219, 269, 271, 276, 277, 280, 285 Schöpfung des Volksgeistes 104 Teil der jüdischen Kultur 198 und Er-leben 254 und Nation 101, 449 und nationale Moral 185 Ursprung der 200 Wesen der Religion in der Kultur 248–53 Religiosität 419–420, 422 Renan, Ernest 26, 83, 177, 179 res divina 384 response 48, 503–504, 515, 517, 526, 527, 532, 533, 537, 552, 560 Rheinischen Zeitung 67 rite de passage 490 Ritualmord 128, 288, 289, 301, 490 Ritus 56, 341, 488, 490, 491 Röd, Wolfgang 85, 88, 165, 166, 167, 199, 234, 328, 333, 334 Röhl, Vera R. 409–414, 439 Rom und Jerusalem, Buch von Hess 65, 68–73, 73–75 root experience 518–522, 525–526– 529 Rosenblum, Jonathan 425 Rosenzweig, Franz 511, 519, 521, 527, 528 rote Kuh 304 Rotenstreich, Nathan 24, 159 Rothschild 115, 135, 300 Roznik, A. 322 Rubenstein, Richard L. 41, 44, 48, 56, 480–500, 511, 564, 590, 596, 610, 635 Rückzug Gottes 240, 474, 579, 581, 584, 611, 638 Ruge, Arnold 274 Rülf, Isaak 34
S Sachsenhausen 502
Register Sadagora 160 Said, Edward 430, 432 Saint Simonismus 99 Säkularität 49, 159, 183, 335, 376, 387, 399, 425, 438, 439, 450, 514, 515, 515, 518, 582, 584–587 Salvador, Joseph 34 Sand, Shlomo 25, 82, 84, 120, 424, 425, 428, 429, 442 Sanhedrin 319 Sarah, die Prostituierte 568, 572 Schalom-Elieser, der Razwirter 470 Schapira, Avraham 229, 259, 260, 261, 266, 320, 397, 398, 399, 400 Schapiro, Jeschaja 472 Schapiro, Kalonymos Kalmisch 255, 472–479 Schechina 603, 605 im Exil, Galut 604 Schelilat ha-Galut 174 Schelling, Friedrich Wilhelm 327, 616 Schindler, Pesach 470 Schmaʽ Jisrael 57, 95, 107, 270, 341 Schneur Salman aus Liadi 257, 499, 380 Schoah nicht ausschließlicher Identifikationsfaktor 645 nicht unausweichlich, bleibt stets möglich 644 Schoah-Gedenktag 638, 639 Schoeps, Julius H. 34, 35, 73, 104, 115, 118, 124, 127, 128, 135, 151, 509, 644 Scholem, Gershom 614 Schopenhauer, Arthur 32, 218, 234, 235, 328, 345, 346, 374, 375, 376, 377, 378 Schreiben, als Seelenhygiene 335–338 Schulze, Hermann 142, 143, 144, 145 Schwartz, Dov 31, 320, 321, 323, 324, 325, 326, 392, 393, 395, 396, 397, 439 Schwarzer Tod 605 Schweid, Eliezer 33, 220, 323, 429, 636–46, 636–46 Sechel 229, 255, 349, 350, 351, 352, 354 Sechstagekrieg 17, 29, 41, 319, 395, 435, 441, 443, 444, 445, 457, 503 Seele 90, 194–195
657 in Gordons Natur-Lehre 223, 224, 229, 230–232, 237, 239, 245, 247, 251, 253, 258, 260, 262, 264, 266, 271, 284 kabbalistisch 60–61, 556 in der Erlösung 290, 291, 293 Zentrum der Lehren von Kuk 335– 372 Israelsseele 384, 385, 386, 389, 391, 394, 395, 396, 397 im mystischen Aufschwung 403, 404, 405, Seelenstufen 401 Seelenmord im lebendigen leib 510 Seelsorger 640 Seeskin, K. 504 Segev, Tom 426 Sein und Zeit, Heideggers Buch 529, 530, 534, 535, 536, 537, 538, 540, 543, 553, 554 Selbstverständnis jüdisches 19–20, 23 49, 58, 123, 164, 222, 449–451, 519, jüdisches und Holocaust 555, 559, 563, 583, 590, 641 Seligmann, Caesar 181, 182, 283, 437 Siebentjahr-Brache 318 Silberner, Edmund 66, 68, 70, 71, 72, 73, 74, 77, 80, 84, 112, 113, 114 Simon, Leon 159 Singer, Bashevis I. 500 Singer, Wolf 266 Society of Jews 7, 141, 142, 148 Sozialdemokratie 65 Soziologie 21, 24,27, 164, 168, 204, 564, 580 Spektor, Elchanan 318 Spencer, Herbert 88, 164, 165, 166, 167, 168, 172 Spinoza, Baruch 65, 79, 85, 86, 95, 99, 107, 111, 381, 475, 528, 529 Spiritualismus 88, 193 Staat, jüdischer (Israel) 20–22, 26, 29, 30, 33, 43, 49, 50, 72, 82, 113, 122, 131, 132, 137, 156, 160, 198, 397, 413, 442, 449, 450, 453, 454, 456, 563, 597, 512, 514, 524, 527, 558– 562, 583–587, 589 (und Halacha), 601–606 Ausdruck von Mut und Hoffnung 560
658 und jüdisches Selbstbewusstsein 560 Staatsgrundlage, rechtliche 142–148 Staatsgründung 141, 142, 151, 152, 157–158, 417, 418, 531, 532, 533, 563, 565, 571, 580, 583–587, 591, 601, 607, 638 Kritik-Debatte 160, 198, 211, 263, 409–440, 443–446, 455, 601–606, 645 Steinmann, Eliezer 61 Stirner, Max 221, 222, 223, 224, 231 Sultan Abdulla 303, 315 Sündenfall 60, 272, 351 Symbol 36, 59, 137, 157, 440, 454, 575, 622, 623, 626, 634, 643 Symbole 7, 56, 155, 385, 491, 496, 497, 622, 626, 631
Register des Individuums 230, 253, 337, 366 Gesetz des Gottes des Heiligen Landes 313 Licht 253, 343, 406 und Ethik 30, 189, 277, 312, 336, 344, 517–518 und Geschichte 46, 290, Tora li-Schmah 342 Torat ʼErez Jisraʼel 313, 606–607 Torat Ḥajjim 606 Torczyner, Harry 614 Trachtenberg, Joshua 127 Trauer 79, 473, 475–477, 505, 638 Treblinka-ʽAkeda 36–40 Turner, Victor 486 Turoff, Isaak 35
U T Tempel Aufbau 294, 298, 303, 304–306, 316, 395 Zerstörung 19, 42, 43–44, 49, 79, 170, 197, 201, 202, 205, 455, 490, 519, 526–527, 532, 572, 575, 579, 581–582, 586, 596, 600, 605, 638 Territorialisten 132 Territorium 119, 129–132 133, 136, 144–145, 152, 154–155, 177, 410, 413, 448 Teschuva: siehe Umkehr Theichtal, Jissachar Schlomo 471 Theodizee 41–42, 45, 47–48, 470, 476, 503, 513, 542, 589–590, 594, 595– 600, 604, 609 Sündenstrafe nicht mehr denkbar 629, siehe: mipne Ḥataʼenu Theurgie 344, 474 Tikkun 49, 303, 308, 336, 351, 368, 400, 402, 472, 499, 529, 553–557, 559–561, 576, 628 Tillich, Paul 483, 486, 489, 493, 494, 495, 496, 497 Tod Gottes 48, 481, 482, 483–486, 494, 611, 635 Tolstoj, Lev 218, 262, 263 Tora 290, 611 der Natur 270
Übermensch 223, 225, 228, 229, 230 Uganda 136, 155, 410, 463 ultimate concern 494–497 Umkehr 45, 269–271, 292, 294–312, 316 , 350, 391, 405, 439 kollektiv und individuell 306–309 Unification Church 481 unio mystica 267, 342, 404, 471, 475 Universität 276 Urmensch 624 Ursachen der Schoah 640–644
V Vaterland 26, 114, 122, 131, 134, 414 Verantwortung 49–50, 196, 223, 254, 525, 452, 462, 463, 464, 579, 582, 584, 590, 608–613, 626, 635 Verborgener Intellekt 229, 231, 253–, 262, 276 Vernunft emanierte 352 heilige 355 natürliche und heilige 355 via purgativa 404 Völkerfrühling 22, 70, 75 Völkermord 506, 512, siehe Genozid Volksgeist 183, 201, 210 Volksgott 200
Register Volkstum 76, 122, 420 jüdisches 76 Volkstypen 96, 97 Vos, J. P. De 164
W
659 Wunder 295–296, 398, 402, 477, 522– 523, 525 Zehntabgabe 315–17
X Xenophobie 128
Weber, Max 27, 83, 84, 122, 164, 609 Weizmann, Chaim 151, 163, 208, 319, 414 Welt als Wille und Vorstellung 345 Weltabenteuer Gottes 624–632 Weltgesetz 106 Weltjahre 292 Weltseele 247, 260, 262, 266, 339– 342, 377, 384 Wendepunkt in Geschichte und Denken 19–22 Widerstand 39, 289, 542, 543, 544, 545, 546, 547, 548, 552, 555, 557, 593, 606, 611, 633 Wiederbelebung, -geburt des jüdischnationalen Lebens 71, 77, 78, 82, 95, 99, 102, 104, 105, 111, 117, 328, 335, 418–419, 434, 602 Wiese, Christian 43, 162, 615, 617 Wiesel, Elie 35, 516, 539, 553, 563, 567, 568, 569 Wille 355, 373–78 freier, des Menschen 599 Wissenschaft 21, 24, 25, 29, 32, 46, 94, 109, 110, 111, 143, 153, 154, 164, 202, 210, 212, 332, 335, 345, 354– 355, 358, 359, 360, 364, 368, 382, 486, 566575, 606, Wissenschaft des Judentums 42, 180, 283, 501 Wissotzki, Kalman 163, 169
Z Zaddik 386, 597 Zeitlichkeit 537, 541, 554, 621, 622, 623 Zelem ʼElohim 233, 279, 282, 623 Zentrum: siehe Merkas ruḥani nationales 213 Ziele des Zionismus 442–443 Zimzum 230, 499 als Wahrnehmungskategorie 238– 242, 252, 258, 279 existenielle Kategorie 499 Zionismus Kulturzionismus 32–33 politischer 32–33, 409 Post-Zionisten 32–33 religiöser 32–33 Selbstfindung in Natur und Arbeit 32–33 Zionismuskritik 409–440 zionistische Weltorganisation 22135, 393, 414, 439 Zionistischer Weltkongress 135, 209 zionistisches Programm 112–117, 135– 136, 177, 211, 292–295, 312–315, 317, 418–423, 463 Zlocisti, Theodor 69 Zola, Émile 275 Zur Judenfrage, von K. Marx 73
BIBLIOGRAPHIE Die Bibliographie für alle Bände des Jüdischen Denkens findet man auf der Website des Campus Verlags unter: http://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/geschichte/juedisches_denken_ theologie_philosophie_mystik-9963.html