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German Pages 527 Year 2002
Janusz Korczak Sämtliche Werke Band 7
Janusz Korczak Sämtliche Werke
Ediert von Friedhelm Beiner und Erich Dauzenroth †
Gütersloher Verlagshaus
Janusz Korczak Sämtliche Werke Band 7
SOZIALKRITISCHE PUBLIZISTIK DIE SCHULE DES LEBENS Bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann
Gütersloher Verlagshaus 2002
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Aus dem Polnischen von Charlotte Eckert und Ester Kinsky Die Edition Janusz Korczak - Sämtliche Werke erfolgt auf der Grundlage der polnischen Werkausgabe Janusz Korczak: DZIEŁA Verlag Oficyna Wydawnicza , Warschau Redaktionskomitee: Hanna Kirchner, Aleksander Lewin (Leitung), Stefan Wołoszyn, Marta Ciesielska. Diesem Band liegen die Texte aus den Bänden 3 * und 3 ** und 4 der polnischen Werkausgabe zugrunde, bearbeitet von Elżbieta Cichy, Marta Ciesielska, Maciej Demel, Bożena Wojnowska und Stefan Wołoszyn. Die Sämtlichen Werke (dt.) folgen einem eigenen Editionskonzept; sie sind anders zusammengestellt, selbständig bearbeitet und kommentiert.
Die Edition wird von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit aus Mitteln der Bundesrepublik Deutschland finanziell unterstützt. Edycja wspierana finansowo przez Fundację Współpracy Polsko-Niemieckiej ze środków Republiki Federalnej Niemiec.
Copyright © 2002 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Texterfassung und Satz: Renate Möckershoff, Wuppertal ISBN 978-3-641-24775-1 www.gtvh.de
Inhalt Band 7
SOZIALKRITISCHE PUBLIZISTIK IJ
DIE SCHULE DES LEBENS JII
Kommentar 457
Zu diesem Band 459 A. Der junge Korczak in seiner Zeit 46I B. Die sozialkritische Publizistik des jungen Korczak »Bildung für alle!« 4 77 Warschauer Elend 479 Theater in der Kritik 482 Eine öffentliche >>Stimme>Von Amts wegenL6dzer« Boten I67 Im Blickfeld. Gedanken in den vier Wänden I72 In finsterer Nacht ... I77 Der Arbeitstag I 8 I Im Blickfeld. Arbeiter - und Büroangestellte I 84 Belanglose Angelegenheiten I89 Die bürgerliche Seele I9I Ein Brief I94 Gegen Ausschweifung I96 Sosnowiecer Kurier 200 Statt einer Berichterstattung >>Michal Muttermilch: Juden« An eine Abonnentin von >>Glos« 208
204
5. Sozialkritik nach der niedergeschlagenen Revolution. Beiträge in linksorientierten Zeitschriften (I 906- I 9 I 2) Sursum corda 2IJ Justitia 2I5 Löst man sie auf oder nicht? 2I7 Brot! 22r Statt über Bialystok 224 Kommen wir einander näher oderenfernen wir uns voneinander? 226 Geehrter Herr Stanislaw! 229 Mittelalter 2 3 3 Otto Ernst: »Die Geschichte eines jungen Lebens« 236 Elend und Verfall 2 3 7 Das reiche Ausland 242 »Wot tak istoria >Kastor und Pollux>Kinder des Unglücks> Volkshäusern >Leben mit dem Leben des Volks zu einem starken Bund zusammenfließtin ihren Vätern, Brüdern und Söhnen zu leben>Sehen Sie«, begann er nach einer Weile, >>ich bin Gewohnheitstrinker.« >>Das habe ich schon bemerkt. Selbst jetzt sind Sie nicht ganz nüchtern.« >>Ach, was soll ich tun? Man muß sich betäuben, um das zu vergessen, an was man sich nicht erinnern will. Ach, viele, viele Dinge muß ich vergessen, um nicht verrückt zu werden, oder mir nicht eine Kugel in den Kopf zu schießen. Denn, wissen Sie, man war einmal wohlhabend, jung, schön, stark. Und was habe ich aus alledem gemacht?« Er stand vom Stuhl auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. >>Leihen Sie mir einen Rubel, ich werde Ihnen sehr dankbar sein. Ich habe heute noch nichts gegessen. Ich weiß, daß Sie mich für einen Bettler halten, aber heute ist mir alles egal.« Und was kann man für einen solchen Menschen mehr tun, als- ihm einen Rubel geben, damit er für ein paar Kopeken ein warmes Gericht ißt und sich für den Rest Wodka kauft? Er war begabt, vermögend, kräftig gewesen, heute ist er ein Bettler, ein Trinker, schwach und zugrunde gerichtet. Heute ist er ein Mensch, der vergeudet, entgleist, gefallen ist. Solche Menschen hat jede Gesellschaft, jedes Volk, und je mehr geistige Eigenschaften ein Volk hat, desto mehr solcher unglücklichen Verbrecher gebiert es. Ja, ein solcher Mensch ist ein Verbrecher an seinem Volk, so sehr er uns auch leid tun mag, denn er hat alle Pflichten mit den Füßen getreten, alle Fäden durchschnitten, die ihn mit der Allgemeinheit verbanden, er ist nicht nur ein Parasit, er fügt der Gesellschaft auch Schaden zu, weil er auf andere schwache Individuen Auswirkungen hat, die fremden Einflüssen und bösen Einflüsterungen erliegen. Stellen wir uns einmal vor, daß der Mensch ein Familienvater ist: Was erwartet seine Frau, was für eine Zukunft bereitet er seinen Kindern? Die Frau erwartet das Elend, die Kinder Rückständigkeit und Untergang. Fragen wir die Gefängnismauern, wie viele Kinder ähnlicher Menschen sie mit ihrem steinernen Ring umschlossen haben, fragen wir die Krankenhausmauern, wie vielen verelendeten Menschen sie beim Sterben zugesehen haben, und nur eine Nonne sprach an ihrem Kopfende ein Gebet.
Entgleist
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Kein Bereich ist frei von diesen entgleisten und tief gesunkenen Menschen. Wer kennt sie nicht, wer hat sie nicht getroffen? Keine Kraft ist imstande, sie aufzuheben, ihnen die Augen zu öffnen, die mit dichtem Nebel verdeckt sind. Wir haben an eine der schmerzlichsten und hartnäckigsten Wunden der Gesellschaft gerührt, wir schreiben unter dem Einfluß des jüngst im Theater aufgeführten Einakters Pietro Karuzo. Da sahen wir in einem lebenden Bild das Schicksal der Tochter eines gefallenen Menschen. Einen erschütternden, einen tragischen Eindruck macht diese Gestalt des unglücklichen Vaters, der die Frucht seines elenden Lebens sieht, dem sich plötzlich die Augen für all das öffnen, an was er sich nicht erinnern wollte. »Ich verstehe, ich verstehe allesSeien Sie doch so freundlich, Fräulein, und schicken Sie mir morgen die Rechnung, dann bezahle ich sogleich.>Morgen« eine so schwere Last ist, die auf dem Leben dieser armen Näherin liegt, dann würde sie gewiß bereitwilliger ihren Beutel öffnen und eher noch etwas dazulegen als ein paar Kopeken abzuknapsen. Aber die Dame weiß das nicht oder will es nicht wissen. Morgen. Aber heute muß Naphtaöl gekauft werden, Brötchen, Milch, Faden, Nadel, vielleicht muß die Gehilfin bezahlt werden, vielleicht muß das Geld für die Miete abgegeben werden. Also schickt man wieder oder geht selbst, nicht um das Geld zu verlangen, sondern um das verdiente Geld zu bitten. Und, erzürnt über die Aufdringlichkeit, sagt die reiche Dame: >>Wenn sie mich so plagt, werde ich sie gar nicht bezahlen.>Konnten Sie es nicht stückweise abarbeiten?>Wer wußte denn, daß Sie es so schnell verlangen würden?> Irgendwie ist die Zeit verflogen, ich hatte noch etwas anderes zu machen, ich habe gedacht, ich schaffe es.>Welchen Sinn hat es schon, wenn ich einzelne Existenzen verbessere, wo doch Millionen leiden?>Wenn ich ihnen helfe, dann schmückt ein Lächeln die, die jetzt Tränen in den Augen haben. Vielleicht werde ich morgen noch kräftiger sein, dann kann ich morgen mehr und für eine größere Anzahl Menschen etwas Gutes tun.>Ehemann im Krankenhaus, sieben kleine KinderBlinde Witwe mit fünf kleinen Kindern>Zyklen>Schutz der WälderFreiwilligen Wächters>aberfür die Kinderlein« halten wir für eine ausgezeichnete Idee, das gleiche trifft auch auf die bunte Beilage weltlichen Inhalts und die illustrierten Fünfzehn Geheimnisse des heiligen RosenkranzesJ zu. Nur solche Zeichnungen haben einen Wert, weil sie bei den Massen einen Sinn für das Schöne entwickeln. Zwei kleine Bemerkungen: Wäre es nicht besser, die Zeichnungen, die eine ganze Kalenderseite einnehmen, nur einseitig zu drucken, damit sie eingerahmt werden können? Und könnte man nicht die Ratschläge, die jedem Monat beigegeben werden, 4 in größeren Lettern drucken, damit das Lesen keine Schwierigkeiten bereitet? Möglicherweise ist Ziemianin Polski. Kalendarz Rolniczy na rok zwyczajny r900 (Der polnische Landbesitzer. Der bäuerliche Kalender für das Jahr 1900), hg. von St. Dzierzbicki, 2. Jahrgang, Warszawa 1899, gemeint. 2. Kalendarz Marianski na rok panski r9oo (Marienkalender für das Jahr des Heils 1900), 17. Jg. Herausgabe und Druck: Karo! Miarka. Mikolow-Warszawa. (Karo! Miarka jun. vertrat polnische Interessen in Oberschlesien.) Der Marienkalender erschien seit 1894. Er war in Kongreßpolen sehr populär, vor allem auf dem Lande. 3· Titel des Anhangs des Marienkalenders für das Jahr 1900. Im Anhang waren auf einer Seite 1 5 Illustrationen zu einzelnen Geheimnissen des Rosenkranzes abgedruckt. 4· Die Ratschläge wurden vermutlich von Karo! Miarka jun. selbst verfaßt. In einem der genannten didaktischen Texte des Kalenders wird vor dem Lesen >>der schlechten französischen Romane, die sich in unsere Hütten eindrängen, zum Teil als Originale und zum Teil als schlechte Übersetzungen>Die Welt gehört den Nüchternen und EnthaltsamenSie sagen in der Anzeige, daß Sie Unterricht anbieten?>Ja wohl, mein Herr.>Also ... ich wollte ... das heißt, sagen Sie mir ganz offen, wenn Sie nicht wollen ... ich weiß nicht, warum ich plötzlich auf diese Idee gekommen bin ... vielleicht ist es lächerlich ... ich weiß, aber wenn ich es Ihnen erkläre, dann verstehen Sie mich vielleicht ... >Aber bitte, sagen Sie mir doch, um was es geht, mein HerrSehen Sie, ich muß ganz von vorne anfangen. Wissen Sie, ich möchte gerne lernen.>Aber daran ist doch nichts Verwunderliches.>Warten Sie, ich werde es Ihnen erklären ... ich habe überhaupt keine Schulbildung. Bis ich zehn Jahre alt war, lebte ich in Lublin. Dann kam ich hier zu meinem Onkel; mein Onkel arbeitete in einer Gerberei. Ich habe nichts gelernt. Jetzt bin ich Schaffner bei der Eisenbahn. Sehen Sie, ich habe vier Kinder und schicke sie in die Schule. Das kostet viel, obwohl eine Dame die Kinder vorbereitet hat, ohne dafür Lohn zu nehmen. Der Junge ist in der zweiten Klasse, das Mädchen in der dritten, einer ist in der Einführungsklasse in einer privaten Schule und den vierten unterrichtet meine Tochter, die schon in der dritten Klasse ist. Und wissen Sie, für einen Jungen bezahle ich Schulgeld>, und Hefte und Kleidung sind r. Korczak erteilte während seiner Schul- und Studienjahre Nachhilfeunterricht, 2.
um seine Familie finanziell zu unterstützen. Schulgeld (d.h. eine Einschreibegebühr für den Unterricht) mußte an Gymnasien, aber auch an privaten Grundschulen entrichtet werden. Im russischen Teilungsgebiet herrschte keine Schulpflicht. Vgl. Korczaks Artikel Powszechne nauczanie (Allgemeinbildung). In: Sämtliche Werke, Bd. 9·
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»Bildung für alle!«
ja auch nötig. Kann ich denn zulassen, daß sie ausgelacht werden? Früher war das anders, da konnte man auch barfuß gehen. Ach ... >Sie wollen sicher, daß ich mich mit den Kindern befasse, weil es ihnen ohne Hilfe schwerfällt?>Na, ich muß noch mal bei der Witwe vorbeischauen, ihr Stöhnen hat nachgelassen. Offenbar schläft sie ... >ich bin durchfroren und durchnäßt. >Ohne Mittel und Lust zu haben, Tausende von kostspieligen, blendenden Anzeigen über die Zeitschrift zu drucken, wenden wir uns an Euch; (... ) davon, ob Ihr für uns neue zahlreiche Bezieher der Czytelnia gewinnt, hängt die Zukunft der Zeitschrift und ihre Entwicklung ab; (... ) die Zeitschrift wird so mannigfaltig gestaltet, ihr Inhalt so ausgesucht und verbessert werden, daß sie von jedem Mitglied jeder Familie mit regem Interesse und unbestreitbarem Nutzen gelesen werden kann.>Wir wollen nicht für uns werben, liebe Leser, wir bitten Euch, für uns neue Bezieher zu gewinnen.Er ist krankDas weiß ich. Es interessiert mich wenig.Er hat mich für das letzte Vierteljahr nicht bezahlt.>Das weiß ich, aber ... >Aber ich, mein Herr, habe Kapital in mein Haus gesteckt, und das muß Prozente bringen. Aber ich, mein Herr, zahle Steuern, bezahle den Hausmeister, ich muß ... >Das weiß ichaber das interessiert mich nicht.>Das weiß ich, denn Sie sind kein Hausbesitzer.>Gajewski ist krank ... >Ich habe Ihnen schon gesagt, daß mich das nicht interessiert.>Weil Sie kein Mensch sindSind Sie fertig?>Noch nicht.>Ich höre. >Gestatten Sie mir zu sagen, was ich denke. Vielleicht sind Sie mit mir nicht einer Meinung. Sie sind ein älterer, erfahrener Mensch, in bin JUng.>Das sehe ich ... was weiter?>Mir scheint, daß Sie nur so tun, als seien Sie ein böser Mensch, daß diese Kälte nur eine Maske ihres Stolzes ist. Sie haben gewiß nicht selten in Ihrem Leben von Menschen Kränkungen erfahren, sie sind nicht selten enttäuscht worden, sie wurden den Menschen gegenüber unwillig und sagten sich, daß man böse, ja niederträchtig sein muß, dann sind Sie sicher wieder einmal von Ihrem Grundsatz abgewichen, haben sich wieder >verbrannt< und wollen jetzt in Ihrem Entschluß nicht wanken. Aber das gelingt Ihnen nicht, sie fühlen ja, daß Sie ins Wanken geraten, daß die Gutwilligkeit manchmal über die Versteinerung des Herzens siegt, und dann gerade sind Sie der Rücksichtsloseste, Sie versuchen, Niederträchtigkeiten zu begehen, gegen die Ihr Gewissen protestiert, Sie wollen, daß man Sie haßt, weil Sie Ihren eigenen Haß gerechtfertigt sehen wollen. Sie tun mir fast mehr leid als Herr Gajewski. Jener leidet, aber er ist umgeben von einer Familie, die er liebt und die ihn liebt, und ihm wird es besser gehen. Aber Ihnen wird es immer schlechter gehen. Sie müssen sehr leiden. Ja, mein Herr, denn ohne Liebe läßt es sich schlecht leben ... Habe ich Sie vielleicht ermüdet?>Nein, Sie können weiter reden.>Sehen Sie, ich bin ganz arm, das wissen Sie, ich bin Ihnen das Geld für den letzten Monat schuldig, dieser Tage bekomme ich das Geld für
Der Wucherer
meine Nachhilfestunden und werde Sie bezahlen. Ich bin ganz arm, aber glücklich. Mehr noch, ich habe einen Freund, der, auch wenn er nur vierzig Rubel im Monat verdiente, das Fräulein heiraten würde, das er liebt, und er wäre glücklich. Ich könnte Ihnen viele solcher Beispiele geben. Denn wer liebt, mein Herr, der hat das Glück schon in der Hand. Und Sie? Meine Worte kommen Ihnen komisch vor, nicht wahr? Sie glauben nicht an die Liebe, an das Mitleid, an Dankbarkeit, Herzlichkeit, an das menschliche Herz.>Heute glauben Sie auch noch daran, aber das wollen Sie nicht zugeben. Sie müssen daran glauben, es ist so offensichtlich. Sie haben sich nur in Ihrem Stolz eingeredet, daß man daran nicht glauben soll, und obwohl Sie in dieser Maske leiden, haben Sie nicht genug Willenskraft, um sie abzuwerfen. An Gefühle, mein Herr, an das Herz kann nur ein Dummkopf nicht glauben, aber Sie sind sehr klug, Sie haben viel Erfahrung, Sie kennen das Leben, aber nur sehr einseitig.« »Meinen Sie?« »Ja, mein Herr, Sie haben das Leben und die Seele der Menschen mit dem Verstand betrachtet, aber man muß >mit dem Herzen< sehen.« »Hm, nun gut.>Ich bin vierzehn Jahre altund ich bin angeblich sehr reif; ich bin nicht böse, ich habe Mitleid mit den Unglücklichen, ich kann nicht ohne Tränen Leid mit ansehen, selbst nicht bei Tieren. Ich gebe den Armen Almosen und unterrichte ein armes Kind. Mehr kann ich in meinem Alter nicht tun. Ich fühle, daß ich nicht böse bin. Aber ich habe, ich weiß nicht warum, keine so starke Zuneigung zu meinen Eltern, wie ich sie haben sollte. Oft mache ich ihnen absichtlich Kummer, damit sie denken, daß ich nicht gut bin, und dann weine ich in der Nacht, weil ich daran denke, wie der Vater so hart arbeitet und die Mutter an uns denkt, und ich bin so undankbar.Ich weiß, wenn ich eine Freundin hätte, würde ich ihr alles sagen und sie mehr lieben als meine Eltern. Oder wenn ich eine Lehrerin hätte, wie ich sie mir vorstelle, dann würde ich für sie durchs Feuer gehen. Und nachts träume ich manchmal davon, daß ich eine solche Lehrerin habe, daß sie an Schwindsucht erkrankt ist und ich sie pflege, mich bei ihr anstecke und auch sterbe. Dann wieder träume ich, daß es brennt und ich sie rette usw. Aber von meinen Eltern träume ich nie. Nur wenn ich daran denke, daß sie eines Tages sterben, bekomme ich schreckliche Gewissensbisse und weine, aber morgens bin ich wieder böse zu ihnen und gehorche ihnen nicht. Sagen Sie mir doch, was ich tun soll .. . Sie lachen sicher über mich, deshalb unterschreibe ich diesen Brief auch nicht ...