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German Pages 199 [202] Year 2019
Jahrbuch für Universitätsgeschichte Band 20
JAHRBUCH FÜR UNIVERSITÄTSGESCHICHTE Schwerpunkt (S. 27–198): Geschlechtergeschichte der Universitäten und Geisteswissenschaften Gastherausgeber: Angelika Schaser und Falko Schnicke
JUG 20 (2017)
FRANZ STEINER VERLAG
jahrbuch für universitätsgeschichte Begründet von Rüdiger vom Bruch, herausgegeben von Martin Kintzinger und Wolfgang Eric Wagner Beirat: Robert Anderson, Michael Borgolte, Marian Füssel, Notker Hammerstein, Akira Hayashima, Walter Höflechner, Konrad H. Jarausch, Dieter Langewiesche, Charles E. McClelland, Sylvia Paletschek, Hilde De Rider-Symoens und Rainer C. Schwinges Redaktion: Prof. Dr. Martin Kintzinger / Stefan Hynek Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster E-Mail: [email protected], E-Mail: [email protected] www.steiner-verlag.de/jug
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1435-1358 ISBN 978-3-515-12237-5 (Print) ISBN 978-3-515-12247-4 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Martin Kintzinger Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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AUFSÄTZE Ulman Weiß Die Schließung der älteren Erfurter Universität im Herbst 1816. Was voraufging und was nachfolgte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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THEMENSCHWERPUNKT Geschlechtergeschichte der Universitäten und Geisteswissenschaften Angelika Schaser und Falko Schnicke Wege zu einer Geschlechtergeschichte der Universitäten und Geisteswissenschaften: Forschungsstand und Desiderata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Falko Schnicke Fünf Analyseachsen für eine kritische Geschlechtergeschichte der Geisteswissenschaften. Aufriss eines Forschungsfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Falko Schnicke Wissenschaftsmetaphern. Zur männlichen Kodierung der Germanistik und Klassischen Philologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Elisabeth Grabenweger Die Selbstverständlichkeit der großen Zahl. Die ersten Promovendinnen der Wiener Germanistik (1903–1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Charlotte A. Lerg Das Amerikanische College Girl – Ideal und Konstruktion. Soziale Identität und studentische Weiblichkeit in populären Bildmedien, 1890–1930 . . . . . . . . . . 119 Angelika Schaser Gabentausch. Eine Geschlechtergeschichte der Ehrenpromotionen von 1919 bis 1989 am Beispiel der Hamburger Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
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Inhaltsverzeichnis
Christine Ivanov Positionen beziehen – die Entwicklung der kritischen Weißseinsforschung in den (deutschsprachigen) Gender Studies seit den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . 177
ANHANG Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
EDITORIAL Martin Kintzinger
Ab der aktuellen Ausgabe des Jahrbuchs ist Wolfgang Eric Wagner (Münster) neben Martin Kintzinger Mitherausgeber. Als ausgewiesener Experte der Erforschung der Universitätsgeschichte insbesondere des Mittelalters hat Herr Wagner bereits an der Erarbeitung der letzten Jahrgänge beratend mitgewirkt und ist Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, der das Jahrbuch assoziiert ist. Herr Wagner wird in der Redaktion des Jahrbuchs die Zuständigkeit für den neu aufzustellenden Rezensionsteil übernehmen, der zunächst in die gedruckten Bände aufgenommen und dann zeitnah online bereitgestellt werden soll. Mitherausgeber und Verlag freuen sich auf die künftige Zusammenarbeit. In der Rubrik AUFSÄTZE berichtet der vorliegende Band über die universitätsgeschichtliche Umbruchzeit im frühen 19. Jahrhundert, die zugleich ein Ende und einen Neubeginn für die historisch gewachsene Universitätslandschaft markierte. Im THEMENSCHWERPUNKT wird mit der Geschlechtergeschichte ein moderner und aktueller methodischer Ansatz der historischen Wissenschaften aufgenommen und für die Universitätsgeschichte fruchtbar gemacht. Auch auf diesem Feld erweist sich, dass bekannte Überlieferungsbestände durch veränderte Fragestellungen neu erschlossen werden können und aktuelle Fachdiskurse von der historischen Einordnung des Gegenstandes profitieren. Mit der begründeten Ausrichtung auch auf die Geschichte der Geisteswissenschaften akzentuieren diese Beiträge das universitätswie wissenschaftsgeschichtliche Profil des Jahrbuchs. In den folgenden Bänden wird die Ausrichtung auf beide Forschungsfelder weiterhin richtungweisend bleiben. Wie in den letzten Jahren, so ist auch für den vorliegenden Band die redaktionelle Arbeit von Stefan Hynek (Münster) sowie die konstruktive Zusammenarbeit mit dem Verlag, Herrn Dr. Schaber und Frau Stüdemann, dankend hervorzuheben.
AUFSÄTZE DIE SCHLIESSUNG DER ÄLTEREN ERFURTER UNIVERSITÄT IM HERBST 1816 Was vorausging und was nachfolgte Ulman Weiß
Die Schließung der älteren Erfurter Universität geschah am 12. November 1816. Für den späten Vormittag waren alle Bediensteten, vom Rektor bis zum Pedell, zur Regierung am Hirschgarten gerufen worden. Was sie erwartete, konnte ihnen nicht zweifelhaft sein. In betont preußischer Bestimmtheit sprach der Regierungspräsident von den Verdiensten der Universität in früherer Zeit, von bekannten Professoren und Förderern, um sogleich das Eigentliche anzufügen: Die Fonds der Universität reichten nicht aus, sie länger zu erhalten; auch sei in einer Stadt, die zur Festung erhoben werde, kein Platz für eine Universität. Es war das Erwartete, und doch, als die Männer in ihrer Amtstracht es hörten, ergriffen sie lauter schmerzliche Empfindungen, die den Umstehenden nicht verborgen blieben.1 Erst zwei Monate vorher, am 10. September, hatte der zuständige Minister dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. in einer Denkschrift dargelegt, dass es angeraten sei, die Universität in Erfurt zu schließen. Seit den Jahren der Revolution, hatte er geschrieben, sei sie aus dem Zustand der Mittelmäßigkeit, in dem sie sich schon lange befunden habe, in den Zustand des Agonisierens gesunken, weshalb alle Mittel, die auf einen absterbenden Körper nur vergeblich verwandt würden, besser zu neuem lebendigen Ertrage eingesetzt werden sollten. Und den versprach sich der Minister, wenn die Vermögenswerte der Universität dem katholischen und evangelischen Unterrichtswesen in der Stadt zugute kämen. Die Universität, hatte er erinnert, war als Bildungseinrichtung von der Stadt gegründet worden; überdies war das Vermögen der Universität durch positive Bestimmungen an sie gebunden, weshalb von Rechts wegen, was sie besaß und ihr an Einkünften zufloss, auch künftig an Bildungseinrichtungen in der Stadt gelangen musste, obgleich diese unterdes nicht mehr städtische, sondern staatliche geworden waren. Von diesem Grundsatz getragen, hatte der Minister in einzelne Punkte gefasst, was zu tun er für notwendig hielt: Die Aufhebung der Universität und alles damit Zusammenhängende wird der Regierung in Erfurt anbefohlen; die Professoren beziehen ihre Einkünfte bis zur anderweitigen Anstellung; die Erträgnisse der Universität erhalten je zur Hälfte die katholische und
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Universitäten-Chronik. Erfurt, in: Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, Jena 1816, Sp. 633; ausführlich Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, T. 4, Leipzig 21988, S. 289–291.
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Ulman Weiß
die evangelische Konfession für Stipendien an einer preußischen Universität; die Erträgnisse der katholischen Fakultät dienen dem katholischen Unterrichtswesen, die der juristischen und philosophischen Fakultät den wissenschaftlichen Sammlungen, vornehmlich dem zwischen Löber- und Auguststraße gelegenen langgestreckten botanischen Garten mit dem chemischen Laboratorium und dem anatomischen Theater; die Erträgnisse der drei großen Kollegien (des Kollegiums Zur Himmelspforte in der Michaelisstraße, des Sachsenkollegiums in der Allerheiligenstraße und des Juristenkollegiums in der Mainzerhofstraße) werden dem katholischen und dem evangelischen Gymnasium zugewiesen; die Universitätsbibliothek wird zur gemeinschaftlichen Benutzung des wissenschaftlichen Publikums und beider Gymnasien bestimmt; alles andere aber, was das Inventarium sonst ausweist und nicht nötig ist für nützliche Zwecke, wird verkauft und fließt in den einzurichtenden Universitätsfonds, für den alle Vermögen und Einkünfte zu sichern sind. Am Schluss der Denkschrift hatte der Minister auf das nahende Wintersemester verwiesen und gebeten, die endliche Entscheidung nicht verziehen zu wollen.2 Die ließ auch nicht auf sich warten. Am 24. September gab der König die Kabinettsorder und autorisierte den Minister, seinen Vorschlägen gemäß zu verfahren. Bis diese in ein Dekret gebracht waren, vergingen Wochen. In Erfurt war zwischenzeitlich ein Vorlesungsverzeichnis gedruckt worden – für 18 immatrikulierte Studenten, denen 20 Professoren ankündigten, was sie, zumeist in ihrer Wohnung, zu lesen gedachten, unter ihnen der Professor für Theologie, Placidus Muth, der Prokanzler der Universität war, der Professor für Medizin, Johann Gottlieb Erhard, der als letzter Rektor gewählt worden war, oder der Professor für Geschichte, Jacob Dominicus, der am entschiedensten für den Erhalt der Universität eingetreten war. Doch dann der Ruf zur Regierung. Nicht am 10. November (am Geburtstag Martin Luthers) nicht am 11. November (am Tag des Heiligen Martins von Tours), um weder die Evangelischen noch die Katholischen zu kränken; also am 12. November. Ebenso wie den königlichen Befehl über die Schließung der Universität verlas der Regierungspräsident die anderen Anordnungen, unter denen die für manche wahrscheinlich wichtigste die über die Fortzahlung der Bezüge bis zur anderweitigen Anstellung war. Mit Handschlag wurden alle, vom Rektor bis zum Pedell, in die Pflicht des preußischen Staates genommen. Keiner, der diesen Handschlag verweigerte. Dann nahm Prokanzler Muth, an den Regierungspräsidenten sich wendend, das Wort. In dieser Stunde des Scheidens, wie er sagte, wollte er nicht schlechthin an das Schöne erinnern, was die Beziehung auf vergangene herrliche Zeiten den Gedanken und Gefühlen eingab, vielmehr wollte er dieses schöne, eigentümliche Bild dem Gemüthe zur Aufbewahrung einprägen und daran die lebendige Hoffnung knüpfen, dass auch aus diesem Tode ein neues Leben hervorgehen werde.3 Ehe die Denkschrift an den König gelangt war, hatte sie Wilhelm von Humboldt gelesen und sie mit seinem Vidi-Vermerk versehen. Von Humboldt war der geistige Kopf der preußischen Bildungspolitik. Was Philosophen wie Immanuel
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Alfred Overmann, Die letzten Schicksale und die Aufhebung der Universität Erfurt, in: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 9 (1919), S. 97–103 (Edition). Universitäten-Chronik (Anm. 1), Sp. 633 f.
Die Schließung der älteren Erfurter Universität im Herbst 1816
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Kant, Friedrich Schelling oder Friedrich Schleiermacher in der zurückliegenden Zeit über die so dringliche Erneuerung des Studiums geschrieben hatten, brachte er in praktische Politik. Das hatte sich zuerst an der im Jahre 1810 gegründeten Universität in Berlin gezeigt, die später den Namen des Königs trug. Neu zu nennen war nicht ihre Struktur mit dem Rektor an der Spitze, mit den vier Fakultäten und den Dekanen und Professoren, nein, wirklich neu war das Selbstverständnis, das die Universität von Wissenschaft hatte: Wissen nicht als das Gewusste, sondern als das zu Wissende, das zu Suchende und zu Erforschende, wozu es kritischen Verstandes bedurfte, um Wahres von Unwahrem, Wichtiges von Unwichtigem zu sondern, und dies ungetrübt von jedwedem Beizweck, allein um des Wissens willen; in der Freiheit des auf wissenschaftliche Wahrheit gerichteten Forschens waren der Professor und der Student verbunden; der Staat gab dazu das Geld, der Staat berief auch die Professoren – alles andere war nicht sein Amt. Das neue Selbstverständnis hatte sich gleich danach an der im Jahre 1811 gegründeten Universität in Breslau gezeigt, die nachmals ebenfalls den Namen des Königs trug; zur gleichen Zeit war die alte Universität in Frankfurt an der Oder geschlossen, ihr Archiv aber und ihre Bibliothek flussaufwärts nach Breslau gebracht worden. Gleicherweise mit der alten Universität in Wittenberg zu verfahren, wurde in Berlin erwogen, als die endliche Entscheidung über die Universität in Erfurt gefällt war: einige Monate später, im Frühjahr 1817, wurde auch sie geschlossen, genau gesagt, mit der Universität in Halle vereinigt, die sich fortan Vereinigte Friedrichs-Universität nannte. Und schließlich, im Herbst 1818, wurde in Bonn die dritte vom neuen Selbstverständnis bestimmte preußische Universität gegründet, die wie die beiden anderen später den Namen des Königs trug. Diese drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten (die märkische in Berlin, die schlesische in Breslau, die rheinländische in Bonn) waren die bedeutendsten Bastionen preußischer Bildungspolitik und sollten es auch nach der Gründung des deutschen Reichs im Jahre 1871 bleiben.4 In der Denkschrift für den König hatte der Minister vermutet, dass es der Universität, bliebe sie bestehen, an Behauptungsmut mangeln werde im Konkurrenzkreis der Universitäten in Göttingen, Halle, Jena, Leipzig und Erlangen. Tatsächlich war Behauptungsmut schon seit längerm nicht mehr zu bemerken: ein Hinsinken, so scheint es, mit wiederholten Versuchen des sich Aufrichtens. Beispielsweise hatten es die letzten Rektoren seit dem Jahre 1800 unterlassen, die Namen der immatrikulierten Studenten aus dem vorläufigen Verzeichnis in das Matrikelbuch einzutragen, geschweige dass sie, wie jahrhundertelang üblich, den Bericht über ihre Amtszeit geschrieben hätten. Und nach dem Jahre 1813 war gar kein Rektor mehr gewählt worden, sodass der letzte, Professor Erhard, bis zur Schließung weiteramtieren musste. Doch das Consilium academicum hatte mitunter beraten, wie der Universität aufzuhelfen sei, und es begrüßt, dass Professor Dominicus mehr als einmal für die 4
Christophe Charle, Das preußische Universitätsmodell, in: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 3, hg. von Walter Rüegg, München 1996, S. 55–59; Jürgen John, „Nutzlose Symbolpolitik?“. Universitäre Namen, Namensvergaben und Namensdebatten in Deutschland. Eine typologische Übersicht mit Fallbeispielen, in: Ambivalente Orte der Erinnerung an deutschen Hochschulen, hg. von Joachim Bauer, Stefan Gerber, Jürgen John und Gottfried Meinhold, Stuttgart 2016, S. 148 u. 150 f.
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Universität eingetreten war, und zuletzt, kurz vor dem Ruf zur Regierung, hatte es das Consilium academicum für richtig gehalten, ein Vorlesungsverzeichnis drucken zu lassen. Es mutet an wie ein Nichtwahrhabenwollen, was sich in Wirklichkeit vollzog. Nach der Schließung indes schickten sich alle ins Geschehene. Das tat auch die Bürgerschaft, obwohl sie doch auf vielfältige Weise jahrhundertelang mit der Universität verbunden gewesen war. Das Wartegeld bis zur anderweitigen Anstellung wurde für einige wie Professor Erhard oder den Pedell ein Wartegeld bis zum Tode, für Professor Erhard bereits nach zwei Monaten, für den Pedell nach zwei Jahren; für einige wie Professor Dominicus oder den jungen Privatdozenten Heinrich August Erhard (den Sohn des letzten Rektors) fand sich sofort eine anderweitige Anstellung als Aufhebungs=Commissare und danach als preußische Beamte in Koblenz und in Münster.5 Beide waren Rendanten gewesen und kannten sich aus in der sehr verfächerten Finanzverwaltung der Universität, die auch in jeder Fakultät, in jedem Kollegium sehr verfächert war. Alle Vermögenswerte mussten nun erfasst, alle Stiftungen und Stipendien aufgelistet, die Insignien des Rektors und der Dekane, die Gedenkmedaillen und Gemälde und vieles andere mehr verzeichnet werden – bis hin zu den abgelegten Amtstrachten des Rektors und der Dekane. Von denen ist allein die des Rektors erhalten geblieben und heute zu sehen in einer Vitrine des Stadtmuseums; andere Amtskleider aber, da für nützliche Zwecke nicht nötig, mögen veräußert, vielleicht verschneidert worden sein, wie das schon in reformatorischer Zeit mit manchem Messgewand geschehen war. Waren diese Kleidungsstücke und vieles andere tote Vermögenswerte, so nicht die Stiftungen und die Stipendien. Dass die ihnen zustehenden Einkünfte fortzulaufen und nunmehr in den Universitätsfonds zu gelangen hatten, wurde wenige Tage nach der Schließung der Universität allen Zinspflichtigen im Amtsblatt der Regierung bekanntgegeben.6
* Was der Schließung vorausging, was überhaupt in dieser Zeit vor sich ging, war ohne Beispiel in der westeuropäischen Universitätslandschaft. Seit im hohen Mittelalter jenseits der Alpen und jenseits des Rheins die ersten Universitäten entstanden und seit ihnen im späten Mittelalter auch diesseits der Alpen und diesseits des Rheins Universitäten nachgefolgt waren, hatte es, allen Kriegen und Konfessionskämpfen zum Trotz, keine derartigen Umbrüche gegeben. Freilich waren die Universitäten in Misskredit geraten und jahrzehntelang von den westeuropäischen Aufklärern als völlig veraltete Anstalten verachtet worden. Die einen hatten sie abschaffen und durch Fachhochschulen ersetzen, die anderen sie aus einer neuen Idee neu erschaffen
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Universitäten-Chronik (Anm. 1), Sp. 638; Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Erfurt, Erfurt 1816, S. 487 f. (19. Nov. 1816). Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Erfurt, S. 487 f. (19. Nov. 1816); Fritz Wiegand, Die Vermögenswerte der ehemaligen Universität Erfurt um das Jahr 1816, in: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt (1392–1816) 13 (1967), S. 149–151 u. 167–169.
Die Schließung der älteren Erfurter Universität im Herbst 1816
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wollen. Die Zeit, das eine und das andere zu tun, war mit der Französischen Revolution und den Umstürzen im westlichen Europa gekommen. In Frankreich waren im Herbst 1793 fast alle Universitäten geschlossen worden gemäß dem Grundsatz der Rechtseinheit für die ganze Nation, der weder für Personen wie Adlige oder Geistliche noch für Institutionen wie Zünfte oder Universitäten Sonderrechte kannte. An ihrer Stelle waren die im Geiste der Aufklärung schon vor Jahren entstandenen, für einzelne Fächer bestimmten Hochschulen, die Écoles supérieures, nun vom Staat unterhalten und durch neue, wie beispielsweise die École de santé in Montpellier, vermehrt worden. Als das Revolutionsheer den Rhein überschritten und die staatlichen Strukturen im Westen des Reichs zerbrochen hatte, war auch hier (in Straßburg, Mainz, Trier, Köln) das Universitätswesen umgewandelt worden – für manchen deutschen Jakobiner nicht gründlich genug. Gewiss war die Theologie und anderes weggefallen, die Vorlesungen waren fortan öffentlich und kostenlos, indes waren unter denen, die sie hielten, nicht wenige aristokratisch gesinnte Professoren, die den Eid auf die Republik verweigert hatten.7 Die Professoren in Erfurt hatten die Vorgänge am Rhein, namentlich in Mainz, um so genauer beobachtet, als mit der Zerschlagung des Mainzer Kurfürstentums auch der Kurfürst lediglich geistlicher, aber nicht mehr weltlicher Herr, mithin nicht mehr Kanzler der Erfurter Universität war, was hieß, es hatte kein Examen eröffnet, keine Lehrerlaubnis erteilt, keine Promotion vorgenommen werden dürfen. Indes war sehr schnell der preußische König an die Stelle des Mainzer Kurfürsten getreten, nachdem er als Entschädigung für Gebietsverluste im Westen unter anderem die kurmainzischen Gebiete in Thüringen (Erfurt und das Eichsfeld) dazu die Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen erhalten und dies der Reichsdeputationshauptschluss im Februar 1803 bestätigt hatte. Schon vorher, gleich nach der Besetzung der Stadt im Spätsommer 1802, hatte die preußische Behörde als erstes ein Verzeichnis der besoldeten Personen an der Universität verlangt, als nächstes eine lichtvolle Darstellung über die beiden wichtigen Fragen, welchen Nutzen die Universität dem Staat bringe und welcher Mittel sie zu ihrer Hebung bedürfe.8 Wahrscheinlich war der Behörde an der Selbstsicht gelegen, um über das weitere Vorgehen verantwortungsvoll befinden zu können. Vor zehn Jahren hatte die Universität, die einst von der ganzen Kommune gegründet worden war, ihre vierte Säkularfeier begangen, stolz auf das Alter, stolz auf die stabilen Strukturen; an ihnen war Jahre vorher der Mainzer Kurfürst gescheitert, als er versucht hatte, die Universität im Geiste der Aufklärung einer Reform zu unterziehen (wie ihm das mit der landesherrlichen Universität in Mainz gelungen war) und unter anderem neben der Fakultät für katholische Theologie eine neue für evangelische Theologie mit den 7
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Charle, Universitätsmodell (Anm. 4), S. 43 f. u. 52–55; Willem Frijhoff, Grundlagen, in: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2, München 1996, S. 81 f. u. 84; Karlheinz Goldmann, Verzeichnis der Hochschulen und hochschulartigen Gebilde sowie ihrer Vorläufer und Planungen in deutsch- und gemischtsprachigen Gebieten, Neustadt (Aisch) 1967, S. 345 f., 245–247, 355 u. 206–208; Klaus Pabst, Der Kölner Universitätsgedanke zwischen Französischer Revolution und preußischer Reaktion (1794–1818), in: Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 2, hg. von Bernd Heimbüchel und Klaus Pabst, Köln/Wien 1988, S. 16–22. Stadtarchiv Erfurt, 1-1 X B XIII 56, Bl. 1a –8a (11. Sept. und 11. Nov. 1802).
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von ihm berufenen Professoren einzurichten; an den stabilen Strukturen war aber auch der gelegentlich erwogene Gedanke zerschellt, die im thüringischen Teil des Kurstaates benötigten Beamten in Mainz auszubilden und die Universität in Erfurt zu schließen.9 Der preußischen Behörde war all dies nicht unbekannt gewesen, als sie von Rektor und Rat eine lichtvolle Darstellung verlangt hatte. Verfasst hatte sie vermutlich Professor Dominicus; denn im Dezember hatte er darüber, über die Nothwendigkeit, die Wichtigkeit und den Nutzen, den die Erhaltung der Erfurter Universität dem preußischen Staat gewähren kann und wie derselbe ohne große Kosten und ohne Nachtheil für andere Königl. Preuß. Universitäten aufgeholfen werden könne, einen Vortrag gehalten.10 Die „lichtvolle Darstellung“ war zur Kenntnis genommen worden, mehr nicht. Was sollte der preußische Staat mit einer Universität, in der nur 38 Studenten immatrikuliert waren, die fast alle aus Erfurt und aus dem Eichsfeld stammten, zu einem großen Teil gebunden durch einen Freitisch oder ein Stipendium!11 Das Einzugsgebiet der Universität, die nun in einem Zipfel des preußischen Staates lag, konnte auch künftig nur ein kleines sein, und Mittel, die auf sie verwandt wurden, mussten der Universität in Halle, die reichsweit (nicht allein im preußischen Staat) zu den angesehensten zählte, nur zum Nachteil gereichen. Nein, die Erfurter Universität sollte geschlossen und was sie an Fonds besaß, an andere preußische Universitäten gegeben werden. So war es dem König im März 1803 vorgeschlagen worden.12 Nicht nur gerüchtweise hatten die Erfurter Professoren davon gehört; unter ihnen war es wieder Dominicus, der es in einem Vortrag unternommen hatte, sowohl die rechtliche Unmöglichkeit, die Fonds der Erfurter Universität an andere preußische Universitäten zu vertheilen als den Schaden, der daraus für Erfurt ohne Nutzen für andere Universitäten entstehen würde, im einzelnen nachzuweisen.13 Es hatte nicht viel verfangen; als im April 1804 die Kabinettsorder über die Schließung der Universität ergangen, war lediglich hinsichtlich der Fonds festgelegt worden, dass sie in der Stadt bleiben und hauptsächlich den beiden Gymnasien zugute kommen sollten.14 Da aber hatte sich das Consilium academicum veranlasst gesehen, der 9
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Kleineidam, Universitas (Anm. 1), S. 247–253 sowie 158–165, 192–207 u. 224; zur Reform der Mainzer Universität s. Helmut Mathy, Die Universität Mainz 1477–1977, Mainz 1977, S. 136–146; zur ökonomisch begründeten Notwendigkeit, im Kurfürstentum allein die Mainzer Universität zu erhalten, s. Sascha Weber, Hochschulreformen in Kurmainz. Zur Ökonomisierung der Universitäten zu Mainz und Erfurt im 18. Jahrhundert, in: Kalkulierte Gelehrsamkeit. Zur Ökonomisierung der Universitäten im 18. Jahrhundert, hg. von Elizabeth Harding, Wiesbaden 2016, besonders S. 218. Jürgen Kiefer, Die Vortragstätigkeit an der „Akademie gemeinnütziger Wissenschaften“ zu Erfurt während der Jahre 1904–1945. M. e. Anhang: Ders., Die Vortragstätigkeit an der „Akademie nützlicher Wissenschaften“ zu Erfurt während der Jahre 1754–1803; Wilhelm Heinzelmann, Gesamtregister über die von 1804–1903 in den Sitzungen der Akademie vorgetragenen bzw. in ihren Schriften erschienenen Abhandlungen, Erfurt 1993, S. 111. Alfred Overmann, Die ersten Jahre der preußischen Herrschaft in Erfurt, 1802–1806, Erfurt 1902, S. 122 f. Hermann Granier, Preußen und die katholische Kirche seit 1640. Nach den Acten des Geheimen Staatsarchives, T. 8, Leipzig 1902, Nr. 563; Kleineidam, Universitas (Anm. 1), S. 278 f. Kiefer, Vortragstätigkeit (Anm. 10), S. 111. Overmann, Schicksale (Anm. 2), S. 82.
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preußischen Behörde in einer Denkschrift sehr detailliert darzulegen, dass es neben dem eine Ehre bedeutenden hohen Alter gewichtigere Gründe gab, die für den Erhalt der Universität sprachen: Sie war die einzige gemischt konfessionelle in Preußen, ja im Reich und in Europa, und diese ihre Eigenschaft musste als höchst nützlich für das Ganze angesehen werden; außerdem sprach für den Erhalt, dass sie, modern gesagt, ein Wirtschaftsfaktor war: wenn nur 100 Studenten immatrikuliert waren, von denen jeder etwa 200 Reichstaler im Jahr verbrauchte, wenn die juristische Fakultät durch ihre Urteile mindestens 1800 Reichstaler, die medizinische Fakultät durch ihre Gutachten 900 Reichstaler und wenn durch etliche literarische Arbeiten 1800 Reichstaler einkamen und der akademische Buchdruck und Verlag veranschlagt wurde, so waren dies jährlich 100 000 Reichstaler, mit denen die Stadt ganz gewiss rechnen konnte – im Unterschied zu den höchst ungewissen Erträgen aus dem Handel, der bekanntlich von den so unsicheren äußeren Verhältnissen abhing. Mithin lag es in der Macht des Königs, die Universität als Wirtschaftsfaktor zu stärken, wenn er verfügte, dass beispielsweise die Professoren ein größeres, aus alten Stiftungen fließendes Gehalt bekommen, dass bloß Professoren berufen werden, die ihre Gelehrsamkeit mit der Gefälligkeit ihres Vortrags zu schmücken wissen oder dass neue Professuren eingerichtet werden, beispielsweise die Professur der Kriegswissenschaften oder die Professur juris germanici et Borussici.15 Bewirkt hatte die Denkschrift nichts. Nach einer neuen Kabinettsorder sollte keine frei werdende Professur mehr besetzt werden und die Schließung zu einem Zeitpunkt erfolgen, an dem die dann noch anwesenden Professoren mit den unterdes eingezogenen Besoldungen entschädigt werden konnten.16 Und so war verfahren worden. Doch im Herbst 1806, als die Universität schon vier Professuren eingebüßt, das Militär das Große Kolleg als Lazarett requiriert und die Universität in Halle ihre Hände nach der Bibliothek ausgestreckt hatte,17 war erneut alles umgestürzt. Der preußische König hatte die gewonnenen Gebiete verloren, der französische Kaiser sie besetzt und, für Erfurt am wichtigsten, die Stadt als ein Domaine réservé sich unmittelbar unterstellt. Das hieß: Die Stadt war weder besetztes Gebiet noch ein Teil Frankreichs geworden, sie hatte eine ganz eigene Stellung, und somit hatte, was die Universität anging, allein der Kaiser über ihr Schicksal entscheiden können. Das hatte er aber vorläufig unterlassen. Daher hatte sich die französische Verwaltung (wie vorher schon die preußische Behörde) lediglich ein Verzeichnis der besoldeten Personen geben lassen, dies indes, um sie gleich anderen Einwohnern mit Einquartierungen, Kriegskontributionen und anderen Steuern belegen zu können, ansonsten war die Universität sich selbst überlassen und folglich wieder mit der von der preußischen Behörde entzogenen Realjurisdiktion versehen worden.18 Als allerdings der Kaiser im Herbst 1808 in seinem domaine réservé die Fürsten um
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Stadtarchiv Erfurt, 1-1 X B XIII 56, Bl. 24a –30a . Overmann, Jahre (Anm. 11), S. 124. Overmann, Schicksale (Anm. 2), S. 84. Universitäten und öffentliche Lehranstalten. Erfurt. Geschichte der Universität während der französischen Herrschaft vom 16. Oct. 1806 bis zum 6. Jan. 1814, in: Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, Jena 1814, Sp. 98.
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sich versammelt und mit dem russischen Zaren verhandelt, hatte er einigen Professoren, unter ihnen Rektor Muth und Professor Dominicus, eine Audienz gewährt, während der er ein auf feinstem weißen Atlas gedrucktes Huldigungsgedicht, das ihn als den Germaniae Pacificatorem pries,19 entgegengenommen und Zusagen für die Zukunft gegeben hatte. Wochen später waren der Universität die Einkünfte aus Gütern säkularisierter Klöster, einige Grundstücke für den großen botanischen Garten sowie die Bibliotheken der Abtei St. Peter, der Kartause und des Stiftes St. Severi zugewiesen und die Besetzung frei werdender Professuren bewilligt worden. Fortan hatte sich die Universität allein aus diesen Erträgnissen unterhalten müssen, war dadurch aber, gemessen an den Einkünften in kurmainzischer Zeit, in viel schlechtere finanzielle Verhältnisse geraten.20 Wichtiger ist wohl, dass die Universität überall in Deutschland nur noch abschätzig als eine von des Kaisers Gnaden existierende Institution angesehen worden war, deren Professoren gehuldigt, aus Gefälligkeit auch Doktorhüte gegeben, aber geschwiegen hatten, wo es auf Meinungen angekommen war.21 Welcher Patriot war zum Studium nach Erfurt gegangen?! Und welcher Patriot in Erfurt hatte hier studiert?! Wer wohlhabend genug war, dem Patriotismus nachzuleben, war in diesen Jahren nach Jena oder nach Göttingen gegangen. Dort sind die Apel, die Breitenstein, die Hucke und all die anderen eingeschrieben, die später aber, seit dem Herbst 1813, nach Erfurt zurückgekehrt, indes nicht ins Kolleg gegangen, sondern bei der „Landwehr“, bei den „Schwarzen Husaren“, beim „Jägercorps“ eingetreten waren.22 Dann waren die Preußen das zweite Mal gekommen, und was sie zehn Jahre früher vorgehabt hatten, wurde nun verwirklicht: die Schließung der Universität im Herbst 1816. Gewiss hatten die Erfurter Professoren und die politisch bestimmenden Bürger in der Stadt kaum das Ohr der reformorientierten Berliner Politiker, wie auch die Universität ohne Zweifel gründlicher Reform bedürftig gewesen war – gleich den Universitäten in Königsberg oder in Halle; dass diese aber bestehen blieben, jene indes geopfert worden war, gehört in den Zusammenhang der anderen universitätspolitischen Entscheidungen, die nach der territorialen Neuordnung des Wiener Kongresses vom preußischen Gesamtstaat zu treffen gewesen waren.
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[Theodor Ferdiand Kajetan Arnold,] Erfurt in seinem höchsten Glanze während der Monate September und Oktober 1808, Erfurt 1808, S. 87 (Reprint mit Kommentar hg. von Franz-Ulrich Jestädt und Horst Moritz, Erfurt/Waltershausen 2008). 20 9769 Rt gegenüber 6026 Rt, in: Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, Jena 1819, Sp. 637. 21 Promotion des Intendanten Alphons Devismes zum Dr. jur., 5. März 1810, und des Generalinspektors der Hochschulen in Frankreich, Marcel de Serre zum Dr. phil., 14. Febr. 1811, in: Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, Jena 1814, Sp. 99, 113, 117. 22 Zu Johann Christian Apel, Wilhelm Breitenstein, Arnold Huke, Franz v. Piper s. Universitätsarchiv Jena, Ms prov., Fol. 116, S. 57, 58, 64; Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen, hg. von Götz von Selle, Hildesheim 1937, S. 522 sowie Stadtarchiv Erfurt, 1-1 X B XIII 46, Bd. 5, S. 146, 148.
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* Was der Schließung nachfolgte, war eine universitätslose Zeit – für Erfurt wie für die anderen Städte, die im Epochenumbruch ihre Universität verloren und nachmals eine neue erhalten haben: Köln, Mainz, Frankfurt an der Oder, um nur diese zu nennen. Blickt man über sie hin, ist unverkennbar, dass es stets gesamtstaatliche Erwägungen, hauptsächlich der politische und wirtschaftliche Nutzen gewesen sind, die über das Schicksal der Universität entschieden haben. Doch ist von den Behörden, auch von denen des republikanischen Frankreich, Rücksicht genommen worden auf Gefühle und Gewohnheiten; in Köln hat es die Obrigkeit geduldet, dass die von ihr geschaffene Zentralschule sich als Université de Cologne, organisée en Ecole centrale, verstanden hat, in Erfurt hat sie anfangs sogar erwogen, die Universität erst nach einiger Zeit zu schließen, wenn die neuen Unterthanen Vertrauen auf die Regierung gefasst haben.23 Indes haben sich unter den unseligen Umständen weder in Erfurt noch in anderen Städten Stimmen erhoben und sich für den Erhalt der Universität ausgesprochen, lediglich in Frankfurt an der Oder ist der Magistrat mit dieser Bitte an den König herangetreten.24 Vergebens. Allerdings sind die Behörden überall bemüht gewesen, den universitären Geist sich nicht völlig verflüchtigen zu lassen, indem sie beispielsweise in Mainz ein Priesterseminar mit philosophischtheologischem Studium eingerichtet haben;25 ein Gymnasium und ein Lyzeum ist das wenigste gewesen. Zu vermuten ist freilich, dass das Bildungsstreben in den universitätslos gewordenen Städten fürs erste gelitten hat, da eben nicht mehr die heimische Universität, sondern eine auswärtige hat bezogen werden müssen. In Erfurt sind die zwei konfessionell getrennten Gymnasien (das städtische evangelische und das kurfürstliche katholische) geschlossen worden, um statt ihrer sogleich das Königlich preußische Gymnasium zu eröffnen. Zudem hat es in der Stadt die in kurmainzischer Zeit als Heimstatt sogenannter nützlicher Wissenschaften gegründete Akademie gegeben, der das anatomische Theater, der botanische Garten und andere Institute zu eigen gewesen und deren Mitglieder oft auch Professoren der Universität gewesen sind. Nicht zuletzt wegen dieses engen Zusammenhangs ist die Existenz der Akademie in der ersten preußischen Zeit aufs höchste gefährdet gewesen; erst in nachnapoleonischer Zeit ist ihr Wert als eine Vereinigung von Wissenschaftlern, die den Staat kaum etwas kostet, gesehen und daher als angemessen erachtet worden, sie als Königliche Akademie ohne weitere Förderung fortleben zu lassen. Bis zur Jahrhundertmitte haben sie Professoren der geschlossenen Universität,
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Pabst, Universitätsgedanke (Anm. 7), S. 16; Granier, Preußen (Anm. 12), Nr. 563 (16. März 1803). 24 Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1, Berlin 1910, S. 145–147. 25 Goldmann, Verzeichnis (Anm. 7), S. 246. Von Ludwig Lenhart, Die alte Mainzer Universität. Gedenkschrift anläßlich der Wiedereröffnung der alten Universität Mainz als Johannes-GutenbergUniversität 1946, Mainz 1946, S. 30, als „Geistesbrücke“ zur neuen Universität bezeichnet; ebenso, ohne Verweis, von Helmut Mathy, Universität (Anm. 9), S. 270. Die in französischer Zeit eingerichtete medizinische Schule bestand bis 1822, vgl. Goldmann, Verzeichnis (Anm. 7), S. 245 f.
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deren namhaftester der Pharmazeut Johann Bartholomäus Trommsdorff gewesen ist, in ziemlicher Höhe halten können. Mit deren Tod jedoch ist der universitäre Geist gestorben. Trommsdorffs Laboratorium hat eine Zeitlang ungenutzt gestanden, ehe es vom Universitätsfonds auf Abbruch verkauft worden ist; der botanische Garten hat kurzzeitig dem erwerbsmäßigen Gartenbau gedient, ehe er gestückelt und grundstückweise ebenfalls verkauft worden ist. So hat sich die Akademie zu einer Gesellschaft gewandelt, die am Gewussten Gefallen gefunden, aber nicht mehr nach dem zu Wissenden gestrebt hat, wie ja auch ihre Mitglieder kaum Gelehrte, vielmehr Beamte, Militärs, Pfarrer und Lehrer gewesen sind, die indes gern Gelehrte zugewählt haben; denen wiederum hat die Ehre, einer der ältesten deutschen Akademien anzugehören, geschmeichelt, zu deren wissenschaftlichem Leben beizutragen ist ihnen aber nur selten Bedürfnis gewesen. Erst spät, seit den 1860er Jahren, sind die Jahrbücher der Akademie erschienen, die sich vorzugsweise Themen der Philosophie, Philologie und einer aufs Regionale und Lokale eingeschränkten Geschichte gewidmet haben. Das hat sich mit den sich verändernden Zeiten nicht verändert, so dass die Akademie im Zweiten Weltkrieg ohne weiteres hat eingehen können.26 Dazu passt, dass es in ihr und auch sonst in der Stadt zu keinem Zeitpunkt den Gedanken an eine Neugründung der Universität gegeben hat, den es angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen und kulturellen Verfasstheit der Stadt auch gar nicht hat geben können. Auch im Jahre 1929, als der preußische Staat die Pädagogische Akademie, um die sich die Stadt sehr bemüht, in Erfurt eingerichtet hat, ist an sie nicht der Gedanke an eine neue Universität geknüpft, lediglich von einer ausgleichenden Gerechtigkeit für den Verlust der alten Universität ist gesprochen worden.27 Eine Hochschule im eigentlichen Sinne ist die Akademie, die Volksschullehrer ausgebildet hat, auch nicht gewesen, hat sie doch ohne Bindung an eine Universität und ohne Universitätslehrer auskommen müssen, ganz abgesehen davon, dass sie, ohne ausgebaut worden zu sein, bereits nach vier Jahren wieder geschlossen worden ist. Anders ist das in Mainz gewesen. Hier hat der hessische Staat bereits im Jahre 1925 ein Pädagogisches Institut geschaffen, das allerdings geführt worden ist als Einrichtung „bei der Technischen Hochschule Darmstadt“, deren Lehrer auch den Unterricht erteilt haben. So hat in Mainz mit gewissem Grund erwogen werden können, das Institut zukünftig zur philosophischen Fakultät zu erweitern, ebenso das städtische Krankenhaus zur medizinischen Fakultät und das im Jahre 1804 gegründete, wenngleich zwischenzeitlich geschlossen gewesene Priesterseminar zur neuen theologischen Fakultät; nicht zufällig sind diese Gedanken im zeitlichen Zusammenhang des 450jährigen Universitätsgedenkens aufgekommen und, angesichts 26
Jürgen Kiefer, Abriß zur Geschichte der Akademie nützlicher (gemeinnütziger) Wissenschaften zu Erfurt in den Jahren 1754–1991, in: Erfurt 742–1992. Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, hg. von Ulman Weiß, Weimar 1992, S. 441–459. 27 Entschließung der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt in der Frage der Pädagogischen Akademie (Stadtarchiv Erfurt, 1-2/235-8441, Bl. 54a f.) Zu den mehrheitlich promovierten Lehrern der Akademie s. die Namenliste (S. 821) und die biographischen Angaben von Alexander Hesse in Ders., Die Professoren und Dozenten der preußischen Pädagogischen Akademien, 1925–1933, und Hochschulen für Lehrerbildung, 1933–1941, Weinheim 1995; s. auch Steffen Raßloff, Die Pädagogische Akademie Erfurt 1929–1932. Ein vergessenes Kapitel Erfurter Hochschulgeschichte, in: Stadt und Geschichte 32 (2006) S. 22 f.
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der Besatzung nicht überraschend, sofort nationalistisch eingetönt worden; erst der Umbruch des Jahres 1933 hat diesen von der Stadtverwaltung betriebenen Plänen ein Ende bereitet.28 Indes sind sie gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgelebt, und zwar bei der französischen Besatzungsmacht. Die hat dem Geist der von ihr sofort wieder eröffneten Universitäten in Tübingen und in Freiburg nicht ohne Grund misstraut; nur einer neuen Universität, hat die Besatzungsmacht gemeint, lasse sich ein neuer, demokratischer und vor allem francophiler Geist einblasen, der auf seine Weise die Bestrebungen befördern könne, das linke Rheinufer ein für allemal von Deutschland abzutrennen.29 In Mainz ist das nicht erkannt worden; hier ist die Neugründung im Frühjahr 1946, deren Hebamme die Besatzungsmacht gewesen ist, als ein Zeichen der Wiedergutmachung gesehen und folglich von der „Wiedereröffnung der alten Universität“ gesprochen worden, deren Charakter einer gott- und christusverbundenen Wissenschaft auch der eben eröffneten Universität wieder hat zu eigen sein sollen.30 Das spricht für die Wirkkraft von Tradition. Früher ist in Köln nach der Neugründung getrachtet worden. Köln und Erfurt waren die ersten Städte im spätmittelalterlichen Reich gewesen, in denen die ganze Kommune, Rat und Gemeinde, beim Papst die Privilegierung der in ihren Mauern schon seit langem bestehenden großen Schulen betrieben und dann hatten bemerken können, dass die von ihnen gegründeten und ausgestatteten Universitäten zusammen mit denen in Wien und in Leipzig generationenlang zu den reichsweit besuchtesten zählten. Und beide waren geschlossen worden. In Köln indes ist dies, ebenso wie der Verlust der Reichsstandschaft, als etwas zeitbedingt Vorübergehendes gesehen worden. So hat der Magistrat nach dem Sturz Napoleons auf die alte Reichsstandschaft gehofft, um dann die alte städtische Universität wieder errichten zu können; erst als dies misslungen ist, hat sich der Magistrat von Reichsstandschaft und Universität verabschiedet.31 Doch der Entwicklung der nunmehr im Zentrum der preußischen Rheinprovinz liegenden Stadt hat das nicht geschadet, im Gegenteil, gerade in Wirtschaft und Handel hat sie solch einen Aufschwung genommen, dass nicht zufällig zuerst in der Handelskammer angeregt worden ist, eine Handelshochschule als städtische Einrichtung zu gründen. Das Stiftungskapital hat der Kölner Industrielle Gustav Mevissen im Jahre 1879 der Stadt übergeben, allerdings hat es dann noch bis zum Jahre 1901 gedauert, ehe die Hochschule eröffnet worden ist. In der Folge, noch vor dem Ersten Weltkrieg, hat die Stadt eine Akademie für praktische Medizin und eine Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung gegründet, die alle drei zwar kein Promotionsrecht besessen, aber das Fundament gebildet haben, auf dem die Großstadt gleich nach dem Kriege ihre neue, die zweite Universität hat gründen können; mit deren drei Fakultäten (der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen, der medizinischen und der juristischen) hat der Praxis- und Sozialbezug betont werden sollen. Natürlich ist von Staats wegen alles begünstigt worden, weil der neuen 28 29
Mathy, Universität (Anm. 9), S. 281–284 u. 286–290. Corinne Defrance, Die Franzosen und die Wiedereröffnung der Mainzer Universität, 1945–1949, in: Kulturpolitik im besetzten Deutschland 1945–1949, hg. von Gabriele Clemens, Stuttgart 1994, S. 120. 30 Lenhart, Die alte Mainzer Universität (Anm. 25), S. 22 (Heinrich Metzner). 31 Pabst, Universitätsgedanke (Anm. 7), S. 75 f.
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Universität zugedacht gewesen ist, deutschen Geist und deutsche Kultur am Rhein zu stärken.32 In Erfurt, wie gesagt, ist zu keiner Zeit an eine neue Universität gedacht worden – und in sozialistischer Zeit erst sehr spät; indes sind sehr früh Institutionen entstanden, die mit Blick auf eine Universität Zukunftswert in sich getragen haben: das katholische Priesterseminar mit dem Philosophisch-Theologischen Studium im Schatten des Doms, das Pädagogische Institut und die Medizinische Akademie. Diese drei Institutionen sind am 5. Juni 1952, am 12. September 1953 und am 7. September 1954 eröffnet worden. Der zeitliche Zusammenhang ist ein zufälliger, den sachlichen aber begründet die deutsch-deutsche Geschichte, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg verlaufen ist. Schon im Jahre 1946 hat die sowjetische Militäradministration den Bischöfen in der sowjetischen Zone empfohlen, eine Ausbildungsstätte für Priester einzurichten; da die Universität in Halle sich einer katholischen Fakultät versagt hat, haben sich die Bischöfe für eine kirchliche Hochschule entschieden, als deren Standort Erfurt und als deren Rektor Erich Kleineidam, der bis Kriegsende an einer schlesischen Hochschule gewirkt hat, bestimmt worden ist. Für die katholische Kirche im sozialistischen Staat ist das Philosophisch-Theologische Studium ein geistig-geistlicher Kraftquell sondergleichen gewesen; dass auf ihm immer der Schatten des Doms gelegen hat, ist kirchlicherseits und staatlicherseits gleichermaßen gewünscht gewesen.33 Demgegenüber ist auf das Pädagogische Institut und auf die Medizinische Akademie das hellste Licht gefallen. Der junge sozialistische Staat brauchte Lehrer und Ärzte im Sinne der Bildungspolitik mit der völlig neuartigen, für alle Kinder sehr bald verpflichtenden zehnklassigen polytechnischen Schule und der Gesundheitspolitik mit dem ebenso neuartigen, sehr sozial strukturierten Medizinalwesen. Pädagogische Institute sind in verschiedenen Städten der Republik entstanden; das Institut in Erfurt, dem „politischen und wirtschaftlichen Mittelpunkt des Landes Thüringen“, das auf freiem, zur Erweiterung einladenden Gelände am Rande der Stadt sehr rasch gebaut worden ist, hat sich als die „erste Hochschuleinrichtung“ seit der Schließung der Universität im Jahre 1816 gesehen, daran aber zeit seines Bestehens, also auch nach der Erhebung zur Pädagogischen Hochschule im Sommer 1969, keine Tradition geknüpft, was gewiss nicht nur dem Umstand geschuldet ist, dass es keinen Lehrstuhl für Geschichte gegeben hat und keine Geschichtslehrer ausgebildet worden sind.34 Anders die Medizinische Akademie. Neben der in Erfurt sind zur gleichen Zeit Akademien in Magdeburg und Dresden eingerichtet worden, doch nur die Erfurter hat in einer Hochschultradition gestanden. Und die hat sie von Anbeginn auf das nachdrücklichste gepflegt und sich darin vom Rat der Stadt bestärkt gesehen, der sehr wohl gewusst hat, dass die Erfurter Universität eine städtische 32
Bernd Heimbüchel, Die neue Universität. Selbstverständnis – Idee und Verwirklichung, in: Kölner Universitätsgeschichte 2 (Anm. 7), S. 115–118, 120–122, 134–138, 141 f., 144–146, 186–189, 200–207, 217–219, 239–241, 249 f., 307 u. 325–335. 33 Josef Pilvousek, Theologische Ausbildung und gesellschaftliche Umbrüche. 50 Jahre Katholische Theologische Hochschule und Priesterausbildung in Erfurt, Leipzig 2002, S. 9–40. 34 Fritz Theuerkauf, Einige ökonomische Betrachtungen zur Geschichte der Pädagogischen Hochschule „Dr. Theodor Neubauer“ Erfurt/Mühlhausen, Typoskript [1973], Bl. 2 f. (Universitätsarchiv Erfurt Archiv der PH Erfurt/Mühlhausen Nr. 10331).
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gewesen war. So hat er sich angelegen sein lassen, die Amtskette des Rektors der Akademie zu stiften, eine Kette mit den nachgebildeten Siegeln des Rektors der älteren Universität, der medizinischen Fakultät, des Arztes Amplonius Ratingk de Berka und mit dem Erfurter Stadtwappen. Das ist zeichenhaft. Schon die kleine, in ihrem Gehalt gewichtige Festschrift zur Gründung der Medizinischen Akademie hat erkennen lassen, dass eine Tradition für tragende Ziele und Zwecke lebenskräftig hat erweckt werden sollen.35 Den ersten Professoren, die allesamt ein wenig braun eingefärbt gewesen sind, ist das gelungen.36 Das Collegium Musicum, der Chor, die öffentlichen Vorlesungen zu Kunst, Literatur und zur Geschichte der Medizin, dazu die Einrichtung des Studentenclubs nicht von ungefähr im Hause Zur Engelsburg, an dem die Überlieferung der Dunkelmännerbriefe haftet – das und anderes mehr hat auf das städtische Leben ausgestrahlt und ihm etwas von akademischer Atmosphäre gegeben. Überdies ist den ersten Professoren gelungen, nicht nur einen Lehrstuhl, sondern auch eine Forschungsabteilung für Geschichte der Medizin zu errichten. Während die Geschichte der Medizin gelehrt, ist zur Geschichte der Erfurter Medizin und überhaupt zur Geschichte der Erfurter Universität geforscht worden, und dies in einer neuen, von marxistischer Methodologie geleiteten gesellschaftsgeschichtlichen Ausrichtung. Die Erträge sind in über 20 Bänden erschienen, von denen einige Nachauflagen erlebt haben.37 Zur gleichen Zeit, da Horst Rudolf Abe zur Sozialstruktur der Studenten und etlichen anderen Themen geforscht, hat Erich Kleineidam eine Gesamtgeschichte der Universität geschrieben, die er bescheiden, da der Lücken bewusst, einen „Überblick“ genannt hat: einen „Überblick“ in vier Bänden, deren erster im Jahre 1964, deren letzter in erweiterter Auflage 1992 erschienen ist.38 Die beiden Männer haben sich in ihren Arbeiten wechselseitig aufeinander bezogen, sich gekannt, das Gespräch gesucht haben sie aber nicht. Es erstaunt nicht, dass es die Medizinische Akademie gewesen ist, in der sich der Gedanke an eine neue Erfurter Universität zuallererst geregt hat: Sie sollte um das Vorklinikum erweitert und danach mit der Pädagogischen Hochschule und der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar zu einer neuen Universität vereint werden, und dies im Jahre 1992 als die angemessenste, auf jeden Fall sehr würdige Form des Gedenkens an die Gründung der Universität vor 600 Jahren; es ist von einer kultur- und wissenschaftspolitischen Leistung gesprochen worden und von 35
Festschrift zur Eröffnung der Medizinischen Akademie Erfurt, zus. gestellt von Harry Güthert, Erfurt [1954]. 36 Harry Waibel, Diener vieler Herren. Ehemalige NS-Funktionäre in der SBZ/DDR, Frankfurt a. M. 2011, S. 308 (Egbert Schwarz), 117 (Harry Güthert), 301 (Kurt Schröder) u. 334 (August Sundermann). 37 Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt (1392–1816), hg. von Rektor der Medizinischen Akademie Erfurt, 23 Bde. (1962–1991/1994), ab Bd. 20 (1984/1986): Beiträge zur Hochschulund Wissenschaftsgeschichte Erfurts. 38 Horst Rudolf Abe, Die soziale Gliederung der Erfurter Studentenschaft im Mittelalter (1392–1521), Teil 1: Der Anteil der Geistlichkeit an der Erfurter Studentenschaft im Mittelalter (1392–1521), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt 8 (1961) S. 5–38; s. auch Ders., Die Frequenz der Erfurter Universität im Mittelalter (1392–1521), in: Ebd. 1 (1962) S. 7–69; Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, 4 Teile, Leipzig 21985, 21992, 1980, 21988.
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deren beachtlichen innen- und außenpolitischen Wirkungen, die nicht zuletzt das sozialistische Nationalbewußtsein insbesondere unter der Intelligenz stärken würden.39 Die Neugründung der Universität ist ein Gedanke, die Erweiterung der Medizinischen Akademie ein Plan geblieben. Erst Jahre später, nachdem im Herbst 1987 die als eine Bürgerinitiative sich begreifende Interessengemeinschaft „Alte Universität Erfurt“ unter dem Dach des Kulturbundes entstanden ist, hat der Universitätsgedanke sich erneut geregt und nun sich allgemein Gehör zu verschaffen gewusst. Ziel ist gewesen, die Universität ins Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise zu bringen und zu diesem Zweck die alten Universitätsgebäude mit Gedenktafeln zu versehen und für die Rekonstruktion des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Großen Kollegs zu wirken – doch dies mit perspektivischem Blick auf eine neue Universität in der Stadt. Die Zustimmung der Altmagnifizenzen der Medizinischen Akademie und der Pädagogischen Hochschule hat die Bürgerinitiative beflügelt, seit dem Frühjahr 1988 hat sie die „Tage der Alten Universität“ mit Straßentheater, Umzug, Vortrag und Universitäts- und Ratsmusik im Umkreis des Großen Kollegs veranstaltet und damit den Resonanzboden bereitet, auf dem sie im Zeitumbruch mit größtem Geschick für die „Europäische Universität Erfurt“ hat werben können.40 Die Gunst der Stunde, in der noch keine Landesregierung im Amt gewesen ist, hat verlockt, auch die neue Universität als eine städtische ins Leben zu rufen, und so hat der Magistrat nicht gezögert, wenige Monate nach der Wahl, im August 1990, den Gründungsausschuss mit in- und ausländischen Wissenschaftlern, unter ihnen den Präsidenten des Deutschen Hochschulverbandes Hartmut Schiedermair, zu berufen.41 Natürlich sind die hochfliegenden Hoffnungen durch das Zeit und Ziel setzende Jahr 1992 genährt worden, doch sind sie zerstoben, als die Parteipolitik der Pläne sich bemächtigt hat. Die Bürgerinitiative ist beharrlich geblieben. Nunmehr als „Gesellschaft zur Förderung der Europäischen Universität Erfurt“ mit einem Präsidenten an der Spitze hat sie beansprucht, an der Strukturierung der Universität mitzuwirken – und hat scheitern müssen im Zeichen der „konservativen Modernisierung“, das der neuen Universität wie überhaupt dem ostdeutschen Hochschulwesen eingeprägt worden ist.42 Folgerichtig haben die ambitioniertesten Akteure der „Gesellschaft“ den Rücken gekehrt, 39
Bericht von Wolfgang Mühle, Sekretär der Betriebsparteiorganisation der SED in der Medizinischen Akademie, für die Bezirksleitung der SED, 8. 12. 1980, Typoskript, Bl. 4, 5 (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar Bestand Bezirksleitung der SED Erfurt Altregistratur Nr. 40 11 10 09). Die im Herbst 1991 im Erfurter Parteiarchiv eingesehene Akte konnte für die erneute Einsicht im Frühjahr 2017 nicht ermittelt werden. Im Einheitsaktenplan der SED, Ausgabe C von 1987, findet sich die Aktenplannummer 40 11 10 09 nicht; sie könnte im Bezirksparteiarchiv vergeben worden sein – freundliche Auskunft Dr. Jeannette Godau, Weimar. 40 Gründungsaufruf „Für eine Europäische Universität Erfurt“ (9. März 1990), in: Europäische Universität Erfurt. Dokumente und Reflexionen einer Bürgerinitiative 1987 bis 1994, hg. von Aribert W. J. Spiegler und Elmar Schmid, Weimar 2002, S. 74, mit dem bemerkenswertem Hinweis, dass einst die Universität ihre Existenz einem „dem Neuen aufgeschlossenen, wirtschaftlich starken und selbstbewußten Bürgertum“ verdankte. 41 Spiegler/Schmid, Universität, S. 178–180. 42 Mitchell G. Ash, Die Universitäten im deutschen Vereinigungsprozeß. „Erneuerung“ oder Krisenimport?, in: Ders., Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 127, mit Kennzeichnung allein des Erfurter Max-Weber-Kollegs an der Universität als einer etwas „gewagteren Initiative“.
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die „vergebene Chance“ bürgerschaftlicher Beteiligung beklagend43 und einem Förderverein westdeutschen Zuschnitts, den sie in der künftigen „Gesellschaft“ gesehen haben, sich verweigernd. In der Republik hat es neben Erfurt nur eine Stadt gegeben, deren Universität im frühen 19. Jahrhundert geschlossen worden ist: Frankfurt an der Oder. Im Unterschied zu Erfurt ist dort der universitäre Geist sofort verschwunden, ja vorher schon, im Sommer 1811, die Gelehrte Gesellschaft zum Nutzen der Künste und Wissenschaften zerfallen; und noch kürzer als in Erfurt, nur zwei Jahre, hat die Pädagogische Akademie bestanden.44 Auch in sozialistischer Zeit ist keine Hochschule errichtet worden, daher auch kein Gedanke aufgekommen, die weithin ins Vergessen geratene Universität neu zu gründen. Dass es jedoch lohnend sei, ihrer Geschichte näher zu treten, ist im zeitlichen Zusammenhang des republikweiten Diskurses über Erbe und Tradition der deutschen Geschichte das Anliegen einer im Jahre 1979 veranstalteten Tagung und Ausstellung gewesen. Noch bevor die Vorträge im Druck erschienen, war der große, die Gesamtgeschichte der Universität überblickende und ihre Bedeutung in der deutschen und „europäischen Wissenschaft“ etwas zu kräftig betonende Eröffnungsvortrag von Günter Mühlpfordt bereits separat in einem Heft der „Frankfurter Beiträge zur Geschichte“ verbreitet worden.45 Seither ist die einstige Universität auch in breiteren Bevölkerungskreisen wieder zu einem Begriff geworden. Insofern verwundert nicht, dass im Herbst 1989, als die staatlichen Strukturen rissig zu werden begannen, der Gedanke, die Universität neu zu gründen, aufgekommen ist. Zeitbewegte Bürger, Ärzte des Bezirkskrankenhauses und Techniker des Instituts für Halbleiterphysik der Berliner Akademie der Wissenschaften haben sich im letzten Jahr der Republik in einem Verein zur „Wiedergründung der alten Universität Viadrina“ zusammengeschlossen und ein Gründungskonzept erarbeitet, für das sie ebenso wie der neue Magistrat, der es sich zu eigen gemacht hat, um so mehr Möglichkeiten gesehen haben, als die Landesregierung von Anfang an willens gewesen ist, die Universität neu zu gründen. Diese sollte eine gemeinsam mit den Europäischen Nachbarn in Ost und West zu entwickelnde Europa-Universität werden.46 Sehr schnell, nachdem sich im Herbst 1991 das Gründungsgremium konstituiert hat, sind im folgenden Jahr die ersten Studenten immatrikuliert worden. Den alten Namen Viadrina und das alte Siegel für die in mancher Hinsicht wirklich sehr neuartige Universität hat sich die Stadt ausgebeten, die es ansonsten hat hinnehmen müssen, dass von dem Gründungskonzept, in dem beispielsweise ein naturwissenschaftlicher und ein medizinischer Fachbereich vorgesehen gewesen sind, nur wenig geblieben ist.47 43 44 45
Spiegler/Schmid, Universität (Anm. 40), S. 20. Goldmann, Verzeichnis (Anm. 7), S. 129; Hesse, Professoren (Anm. 27), S. 821. Die Oder-Universität Frankfurt. Beiträge zu ihrer Geschichte, hg. von Günther Haase, Weimar 1983; Günter Mühlpfordt, Die Oderuniversität Frankfurt (1506–1811). Eine deutsche Hochschule in der Geschichte Brandenburg-Preußens und der europäischen Wissenschaft, in: Frankfurter Beiträge zur Geschichte 9 (1981), S. 3–52. 46 Regierungserklärung von Manfred Stolpe am 6. Dezember 1990 vor dem Landtag Brandenburg, S. 12, (17. 5. 2018). 47 Knut Ipsen, Erwartungen – Visionen – Hoffnungen, in: „Blütenträume“ und „Wolkenkuckucksheim“ in „Timbuktu“. 10 Jahre Europa-Universität Viadrina, hg. von Ulrich Knefelkamp, Berlin
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Die Parallelen zwischen Erfurt und Frankfurt an der Oder sind nicht zu übersehen: Hier wie dort der Impuls aus Kreisen der Intelligenz, die bürgerschaftliche Beteiligung, die Gestaltung des Konzepts, das Zusammenwirken von Bürgerschaft und Stadtverwaltung; hier wie dort das Bekenntnis zur Interdisziplinarität, zur Internationalität, zum Europa-Gedanken – im Zeichen von Maastricht hat das gar nicht anders sein können. Hier wie dort aber auch Divergenzen; in Erfurt bieten sie geradezu den Stoff für ein Musterbuch der im bildungspolitischen Bereich praktizierten Vereinigung der deutschen Staaten. Wenigstens eine Parallele zwischen Erfurt und Frankfurt an der Oder läuft zudem nach Köln und nach Mainz: Allen Neugründungen, die es in Wahrheit gewesen sind (auch wenn sie in Mainz als eine Wiedergründung verstanden worden ist), hat die ältere Universität über die Schulter geschaut, mithin ist naheliegenderweise gefragt worden, ob und (wenn ja) wie eine Tradition genutzt werden kann. In Köln und in Frankfurt an der Oder ist die Frage mit der Verwendung des Siegels der älteren Universität zeichenhaft beantwortet worden, in Mainz hat die wieder aufgebaute domus universitatis den Bezug herstellen sollen, in Erfurt aber ist allein der Anschein jedweden Bezuges geflissentlich vermieden, daher auch das rekonstruierte Große Kolleg nicht bezogen worden.
ABSTRACT The closure of the Erfurt university, which was founded in 1392, in the fall of 1816 is seen in connection with the transformation of the university landscape in the early 19th century. The new foundation in spring 1994 is also presented with regard to other re-established German universities: Cologne (1919), Mainz (1946), and Frankfurt/Oder (1992).
2001, S. 31 u. 35, sowie Universitätsarchiv Frankfurt (Oder) Sign. 3537, Information über den Stand konzeptioneller Überlegungen zur Gründung der Frankfurter Oder-Universität „Viadrina“, Frankfurt (Oder) 1990, bes. S. 6.
THEMENSCHWERPUNKT GESCHLECHTERGESCHICHTE DER UNIVERSITÄTEN UND GEISTESWISSENSCHAFTEN
WEGE ZU EINER GESCHLECHTERGESCHICHTE DER UNIVERSITÄTEN UND GEISTESWISSENSCHAFTEN Forschungsstand und Desiderata* Angelika Schaser und Falko Schnicke
Auf die Frage, welche Nachricht ihr im Jahr 2015 wichtig gewesen sei, verwies die Schriftstellerin und in New York lehrende Philosophin Rebecca Newberger Goldstein auf einen Artikel, der in Science erschienen war.1 Dort hatte ein Autor/inn/enteam von Daten berichtet, die zeigen, dass Frauen in jenen Universitätsdisziplinen unterrepräsentiert sind, in denen am stärksten von der Bedeutung von natürlicher Begabung und gegebenem Genie ausgegangen wird. Die Autor/inn/en nennen diese Vorannahme, die sie über Befragungen von hauptamtlich Beschäftigten und Promovierenden aus 30 Disziplinen ermittelt haben, „field-specific ability beliefs“.2 Die Repräsentation von Frauen bemaßen die Autor/inn/en nach dem Anteil, den diese an allen abgeschlossenen Dissertationen in den jeweiligen Fächern hatten.3 Sie stellten fest: „Disciplines that emphasized raw talent were more likely to endorse the idea that women are less suited for high-level scholarly work [. . .]. In turn, higher endorsement of this idea was associated with lower female representation.“4 Diese Situation gehe mit einer unterschiedlichen Offenheit einher: „Disciplines that valued giftedness
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Für die konstruktive Diskussion des vorliegenden Textes danken wir neben den Autorinnen des Themenschwerpunktes auch Levke Harders (Bielefeld), Cornelia Linde (London), Berit Schallner (Köln) und Hannes Ziegler (London). Rebecca Newberger Goldstein, The En-Gendering of Genius, in: Edge (24. Dezember 2015), (20.01.2017). Als deutsche Übersetzung ist erschienen: Rebecca Newberger Goldstein, Das Drama der begabten Frau, übs. von Susan Vahabzadeh, in: Süddeutsche Zeitung (12. Januar 2016), (20.01.2017). Sarah-Jane Leslie, Andrei Cimpian, Meredith Meyer u. Edward Freeland, Expectations of brilliance underlie gender distributions across academic disciplines, in: Science 347.6219 (2015), S. 262–265, hier S. 262. Ebd. Während dieser Maßstab in der angloamerikanischen Universitätslandschaft, die häufig mit tenure track arbeitet, angemessen sein mag, wäre er das für das deutsche System mit der noch immer wichtigen Habilitation bzw. den habilitationsadäquaten Leistungen nicht. Hier gilt im Gegenteil, dass eine erfolgreich abgeschlossene Promotion noch nicht die hinreichende Möglichkeit einer dauerhaften Beschäftigung in der Forschung bedeutet. Untersuchungen, die die Funktionsweisen des deutschen Systems analysieren, definieren deshalb die Professur als „Position des Erfolges“. Vgl. etwa Steffanie Engler, „In Einsamkeit und Freiheit“? Zur Konstruktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit auf dem Weg zur Professur, Konstanz 2001. Leslie u. a., Expectations (Anm. 2), S. 264.
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over dedication rated themselves as less welcoming to women [. . .], and fields that viewed themselves as less welcoming had fewer female Ph. D.’s.“5 Die Erklärungskraft dieses Ergebnisses liegt darin, dass sich dieser Effekt über die etablierten Grenzen zwischen Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften hinweg für alle untersuchten Fächer belegen lässt. Unter der Einschränkung, dass dies nicht die einzige Determinante sein muss,6 erklären die Autor/inn/en diesen Befund mit einer negativen Stereotypisierung, die Frauen per se weniger Genie zuschreibt.7 Neuere kulturwissenschaftliche Untersuchungen bestätigen das: „Der dominanten Genieformel zufolge waren ‚Genies‘ immer männlich, weiß, aus der westlichen Sphäre stammend.“8 Weil für nicht-weiße Minderheiten wie African Americans oder Asian Americans ein analoges Diskriminierungsmuster gelte, konnten die Autor/inn/en eine ähnliche Korrelation von Befähigungsglauben und Unterrepräsentation auch für diese Gruppen zeigen. Dabei irritiert allerdings, dass diese Gruppen nicht nach Geschlecht binnendifferenziert werden, wie das für die weiße Bevölkerung geschieht, sondern homogen betrachtet sind.9 Als Goldstein diese Studie zu ihrer Nachricht des Jahres machte, war ihr klar, dass sie angesichts anderer Meldungen, etwa der von den schmelzenden Polkappen, klein erscheinen mochte. Und deshalb habe Goldstein, wie sie mitteilt, auch zunächst begonnen, über die Polkappen zu schreiben – bis ihr auffiel, dass die Marginalisierung der Geringschätzung der Hälfte der Menschheit ein Teil dieser Geringschätzung ist. Goldsteins Auswahl unterstreicht damit, dass Geschlechtergerechtigkeit nach wie vor ein aktuelles Thema ist. Für eine so einflussreiche Institution wie die Universität gilt das im Besonderen, schließlich wird an ihr Wissen nicht nur generiert, sondern auch geordnet und hierarchisiert. Zugleich wird mit der Zugänglichkeit zu ihr über Lebenschancen ganzer Bevölkerungsgruppen und über Einfluss auf die gesellschaftliche Wissensproduktion entschieden. Mehr als einhundert Jahre nach Einführung des Frauenstudiums an deutschen Universitäten seit Beginn des 20. Jahrhunderts10 5 6 7 8
Ebd. Ebd. Ebd., S. 262. Julia Barbara Köhne, Geniekult in Geisteswissenschaften und Literatur um 1900 und seine filmischen Adaptionen, Wien/Köln/Weimar 2014, S. 531. Leslie u. a., Expectations (Anm. 2), S. 264. African und Asian Americans gelten den Autor/inn/en 9 sogar explizit als „similarly stigmatized groups“ zur Gruppe der weißen Frauen. Ebd., S. 262. Zu fragen wäre demgegenüber, ob z. B. afroamerikanischen Frauen mit einem anderen feldspezifischen Glauben an Befähigung begegnet wird als afroamerikanischen Männern. Eine solche Differenzierung hat gerade die amerikanische Forschung unter dem Schlagwort Intersektionalität eingefordert, denn, so das Argument, schwarze Frauen werden nicht entweder als Frauen oder Schwarze diskriminiert, sondern sind mit sich überkreuzenden Ungleichheitslagen zu ihren Ungunsten konfrontiert – und so als schwarze Frauen diskriminiert. Vgl. dazu nur den einflussreichen Text von Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, in: The University of Chicago Legal Forum (1989), S. 139–167. 10 Über die Gründe für die unterschiedlichen Zulassungsdaten in den deutschen Ländern: Ilse Costas, Von der Gasthörerin zur voll immatrikulierten Studentin: Die Zulassung von Frauen in den deutschen Bundesstaaten 1900–1909, in: Der Weg an die Universität. Höhere Frauenstudien vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Trude Maurer, Göttingen 2010, S. 191–210.
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ist auch trotz aller Erfolge der Frauenförder- und Gleichstellungspolitik der letzten Dekaden11 selbst in den Fächern noch kein gleicher Anteil der Geschlechter hinsichtlich der Anzahl der Professorinnen erreicht, in denen mindestens die Hälfte der Studierenden Frauen sind.12 Gleichzeitig hat die Bedeutung und die Funktion, die Geschlecht in der universitären Praxis einnimmt, eine lange Tradition, die mindestens so alt ist wie die moderne Forschungsuniversität selbst. Die Etablierung13 vieler moderner Disziplinen sowie der humboldtschen Universitätsidee fiel in das Zeitalter der Ausbildung des bürgerlichen Geschlechtermodells14 und wurde von ihm beeinflusst. Untersuchungen zu einer Geschlechtergeschichte der Universität und der Wissenschaften können sich auf wegweisende Studien stützen, die zur Universitätsgeschichte in den letzten Jahren vorgelegt wurden. Entscheidende Anregungen gingen dabei von Forschungen zu den Universitäten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit aus. Stellvertretend dafür seien hier die wegweisenden Arbeiten von Rainer Schwinges15 und Marian Füssel16 genannt. Schwinges hat bereits in den 1980er Jahren auf die sozialgeschichtlichen Potentiale der Universitätsgeschichte aufmerksam gemacht. Am Beispiel der Universität Köln wies er auf die Potentiale einer Langzeitanalyse hin, die etwa die verschiedenen Aufgabengebiete von Professoren in den Blick nimmt oder die Verbindung von Fragen nach dem Berufungswesen bzw. nach den mittelalterlichen Rezeptionen mit Fragen nach den sich wandelnden Besoldungsformen der Professoren stellt.17 Marian Füssel hat nach seiner Dissertation mit weiteren Arbeiten zu frühneuzeitlichen universitären und akademischen Praktiken wie der
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Dazu aus institutioneller und biographischer Perspektive: Ulla Bock, Pionierarbeit. Die ersten Professorinnen für Frauen- und Geschlechterforschung an deutschsprachigen Hochschulen 1984–2014, Frankfurt a. M./New York 2015. Vgl. dazu die Daten des Statistischen Bundesamtes von 2015: Die Übersicht der Studierenden nach Fächern und Geschlecht (Code: 21311-0003) und die Übersicht zu Wissenschaftlichem Personal nach Fächern und Geschlecht (Code: 21341-002), (19. 7. 2018). Dieser Begriff fasst summarisch einen vielschichtigen Prozess zusammen, der in die Organisationsbildung (Institutionen), die Professionalisierung des Berufsbildes, die Standardisierung von Methoden und der Disziplinierung, d. h. der Ausbildung einer kollektiven Identität, untergliedert werden muss. Vgl. dafür: Gabriele Lingelbach, Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003, S. 23–31. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 19–49 [zuerst in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hg. von Werner Conze, Stuttgart 1976, S. 363–393]. Rainer Christoph Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches, Stuttgart 1986. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. Rainer Christoph Schwinges, Ordnung, Ämter und Karrieren: Die mittelalterlich-vormoderne Universität als soziale und kulturelle Institution, in: Wissenschaft mit Zukunft. Die „alte“ Kölner Universität im Kontext der europäischen Universitätsgeschichte, hg. von Andreas Speer und Andreas Berger, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 115–135, hier S. 134–135.
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Disputation,18 der Wissensvermittlung19 und dem studentischen Lebensstil20 für die Einbettung der Universitätsgeschichte in die „allgemeine Sozial- und Kulturgeschichte [und ihre] interdisziplinäre Erschließung“21 plädiert und die Bedeutung von Medialität, Materialität und Ökonomisierung betont, deren Untersuchung zu einer „Historisierung universitäts- und wissenschaftshistorischer Großnarrative“ beitragen können.22 Dabei sollten immer „sowohl Phänomene des Wandels als auch der Persistenz sichtbar gemacht“ werden.23 Für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts setzten Marita Baumgarten und Sylvia Paletschek Maßstäbe. Baumgarten legte eine beeindruckende Sozialgeschichte ausgewählter deutscher Universitäten vor, in der sie den Fragen nach Innovation und Lehrstuhlentwicklung, der Berufungskultur, nach der sozialen Herkunft der Gelehrten und deren Karriereverläufen sowie nach der Konkurrenz zwischen den Universitäten und den sich ausdifferenzierenden Disziplinen nachging.24 Paletschek betrachtete die Universität Tübingen aus unterschiedlichen Perspektiven, analysierte die Situation und Lage der Universität in der Stadt, die Studierenden, die (Selbst-)Verwaltung, die Lehrenden, Lehre und Lehrformen sowie die Finanzierung und den Etat der Universität.25 Dabei wies sie wie Baumgarten die begrenzte Reichweite des „Humboldtschen Modells“26 nach und lieferte zahlreiche neue Erkenntnisse zur Universitätsgeschichte in Bereichen, die bis dahin kaum Gegenstand der Forschung waren. 2011 forderte Paletschek in einem Artikel zum Stand der Universitätsgeschichte nochmals nachdrücklich die Dekonstruktion von Meistererzählungen und Mythen der Universitätsgeschichte und plädierte für eine „politik-, kultur-, sozialund wissenschaftsgeschichtlich inspirierte Strukturgeschichte der Universität, die [. . .] über eine Vielzahl an Quellen und Zugriffen die Institution und ihre Wissenspro-
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Marian Füssel, Die Praxis der Disputation. Heuristische Zugänge und theoretische Deutungsangebote, in: Frühneuzeitliche Disputationen. Polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens, hg. von Marion Gindhart, Hanspeter Marti und Robert Seidel, Köln u. a. 2016, S. 27–48. Marian Füssel, Lehre ohne Forschung? Die Praxis des Wissens an der vormodernen Universität, in: Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. von Martin Kintzinger und Sita Steckel, Basel 2015, S. 59–87. Marian Füssel, Studentenkultur in der Frühen Neuzeit. Praktiken – Lebensziele – Konflikte, in: Wissenschaft mit Zukunft. Die „alte“ Kölner Universität im Kontext der europäischen Universitätsgeschichte, hg. von Andreas Speer und Andreas Berger, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 173–204. Ebd., S. 204. Füssel, Lehre (Anm. 19), S. 86. Marian Füssel, Vom Nutzen der Universitätsgeschichte. Zehn historische Schlaglichter, in: Zukunftslabor Lehrentwicklung. Perspektiven auf Hochschuldidaktik und darüber hinaus, hg. von Markus Weil, Münster 2018, S. 97–111, hier S. 97. Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler, Göttingen 1997. Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001. Sylvia Paletschek, Verbreitete sich ein „Humboldt’sches Modell“ an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert?, in: Humboldt international. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Rainer Christoph Schwinges, Basel 2001, S. 75–104.
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duktion“27 in den Blick nehmen soll. Stefan Gerber forderte 2015, die Konzeption von Paletschek aufgreifend, in seinem Vorschlag für eine „zeitgemäße“ Universitätsgeschichte ebenfalls die umfassende Untersuchung von Konkurrenz, Wirtschaftsund Finanzgeschichte der Universitäten sowie deren informelle Kommunikation und symbolischen Repräsentationen.28 Die Beiträge im vorliegenden Themenschwerpunkt können dieses Forschungsprogramm nicht vollständig umsetzen, wollen aber dazu beitragen, indem sie nach der Bedeutung und der Funktion der Kategorie Geschlecht für die Universität und die Wissenschaften fragen. Damit eröffnet sich ein ergiebiges Feld, das über fundamentale Logiken, Mechanismen und Machtverhältnisse akademischer Wissensproduktion aufklärt. Hier sind zahlreiche neue Erkenntnisse zu erwarten, denn geschlechtergeschichtliche Ansätze sind bislang kein Schwerpunkt der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte gewesen – vielmehr ist ihr von Heike Berger noch 2007 eine „Leerstelle Geschlecht“29 attestiert worden. Wenn inzwischen auch einige neue Arbeiten erschienen sind, wird doch deutlich, dass sich die Kritik an der Universitätsund Wissenschaftsgeschichte, sie befördere den Glauben, dass „Wissenschaft scheinbar ohne Geschlecht funktioniere“,30 noch lange nicht erledigt hat. Deshalb bietet der erste Teil dieser Einleitung eine Bestandsaufnahme der bisherigen Forschung, den folgenden Beiträgen entsprechend mit einem Schwerpunkt auf dem späten 19. und 20. Jahrhundert. Sie kann eine vollständige Bibliographie nicht ersetzen; vielmehr geht es hier um einen Entwicklungsbericht, der die Konjunkturen in der Literatur zur Geschlechtergeschichte von Universität und Wissenschaft identifiziert. Im vorliegenden Themenschwerpunkt konzentrieren sich die Autor/inn/en auf die Universitätsund Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, wobei viele der Beiträge zeigen, dass beide Bereiche eng miteinander verknüpft sind. Aus pragmatischen Gründen liegt der Fokus dabei auf den Geisteswissenschaften. Im Anschluss an diese Einleitung stellt Falko Schnicke einen systematischen Aufriss vor, der die Frage stellt, was eine Geschlechtergeschichte der Wissenschaften sein kann. Im zweiten Teil der Einleitung wird erläutert, welche der dort vorgeschlagenen Analyseachsen in den Beiträgen dieses Themenschwerpunktes zur Anwendung kommen, bevor wir im letzten Abschnitt schließlich skizzieren, wo unseres Erachtens die größten Potenziale für die künftige Forschung liegen.
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Sylvia Paletschek, Stand und Perspektiven der neueren Universitätsgeschichte, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 19 (2011), S. 169–189, hier S. 185. Stefan Gerber, Wie schreibt man „zeitgemäße“ Universitätsgeschichte?, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 22 (2014), S. 277–286, hier S. 282–285. Heike Anke Berger, Deutsche Historikerinnen 1920–1970. Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 31. Levke Harders, American Studies. Disziplingeschichte und Geschlecht, Stuttgart 2013, S. 10.
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1. ENTWICKLUNGSLINIEN DER FORSCHUNG ZUM SPÄTEN 19. UND 20. JAHRHUNDERT Die bisherige Forschung hat im Wesentlichen auf vier Feldern wichtige Bausteine zu einer Geschlechtergeschichte der Universitäten und Wissenschaften bereitgestellt: Erstens wurde der Zugang von Frauen zu höherer Bildung und zu den Universitäten untersucht, zweitens wurden biographische Studien zu einzelnen Akademikerinnen und bekannten Wissenschaftlerinnen vorgelegt, drittens wurde die Bedeutung wissenschaftlicher Leistungen von Frauen für die Entwicklung einzelner Disziplinen analysiert und viertens nach dem symbolischen Geschlecht und akademischen Männlichkeiten gefragt. Insbesondere zum Eintritt von Frauen in die Welt der höheren Bildung und der Wissenschaft wurden Studien vorgelegt, die die Situation von Frauen in Deutschland an verschiedenen Universitäten, in einzelnen Disziplinen und an außeruniversitären Forschungsinstituten untersuchten.31 Gerade die Anfänge des Frauenstudiums wurden für einzelne Universitäten und Fächer intensiv erforscht32 und die Universität als männliche Institution analysiert.33 Es konnte gezeigt werden, dass der Eintritt von Frauen in die Universitäten in akademischen Kreisen vorwiegend als Bedrohung der herrschenden Geschlechterordnung und als Konkurrenz um „führende Positionen in der Berufswelt“34 wahrgenommen wurde. Die Vorstellungen von der adäquaten Rolle der bürgerlichen Frau und die Eröffnung eines „vierten Weges“ für Frauen an die Universitäten in Preußen beeinflussten deren Fächer- und Berufswahl im 20. Jahrhundert maßgeblich: Nach Abschluss eines Lehrerinnenseminars und einer zweijährigen Praxis als Lehrerin an einer höheren Mädchenschule konnten sie ein Studium ausschließlich an einer Philosophischen Fakultät aufnehmen, um dort das Examen für das Lehramt ablegen zu können. Das führte dazu, dass sich Frauen
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Eine Entwicklungslinie vom Mittelalter bis zur Gegenwart nachzuzeichnen versuchten: Elke Kleinau und Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, 2 Bde., Frankfurt a. M./New York 1996 und Juliane Jacobi, Mädchen- und Frauenbildung in Europa. Von 1500 bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2013. Beide Darstellungen verdeutlichen gleichzeitig die Forschungslücken, die auf diesem Gebiet noch bestehen. 32 Beispielhaft dafür: Verein Feministische Wissenschaft Schweiz (Hg.), Ebenso neu als kühn. 120 Jahre Frauenstudium an der Universität Zürich, Zürich 1988; Edith Glaser, Hindernisse, Umwege, Sackgassen. Die Anfänge des Frauenstudiums in Tübingen 1904–1934, Weinheim 1992; Hadumod Bußmann (Hg.), Stieftöchter der Alma Mater? 90 Jahre Frauenstudium in Bayern – am Beispiel der Universität München, München 1993; Annette Kuhn, Brigitte Mühlenbruch und Valentine Rothe (Hg.), 100 Jahre Frauenstudium. Frauen an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn, Dortmund 1996; Annette Vogt, Vom Hintereingang zum Hauptportal? Lise Meitner und ihre Kolleginnen an der Berliner Universität und in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Stuttgart 2007. 33 Karin Hausen und Helga Nowotny (Hg.), Wie männlich ist die Wissenschaft?, Frankfurt a. M. 1986; Patricia M. Mazón, Gender and the Modern Research University. The Admission of Women to German Higher Education, 1865–1914, Stanford 2003; Ulrike Auga, Claudia Bruns, Levke Harders u. a. (Hg.), Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2010. 34 Claudia Huerkamp, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900–1945, Göttingen 1996, S. 79.
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überwiegend an den Philosophischen Fakultäten einschrieben.35 Frauen wurden als Neulinge in der männlichen Welt der Wissenschaften charakterisiert, die nicht nur auf strukturelle Probleme und Nachteile trafen,36 sondern deren Weiblichkeit durch die Inanspruchnahme von höherer Bildung in Frage gestellt wurde. Typisch für diese Arbeiten sind Fragen nach der Bedeutung dieser „Verspätung“ und der Fächerwahl der Frauen, wobei auch konfessionelle Gesichtspunkte thematisiert werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Jüdinnen unter den Studentinnen im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil deutlich überpräsentiert (und Katholikinnen unterpräsentiert).37 Dieser hohe Anteil von Jüdinnen unter den ersten Studentinnen hatte verschiedene soziale und kulturelle Gründe.38 Die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung dieser Jüdinnen in der Zeit des Nationalsozialismus stellten daher für den Eintritt von Frauen in die universitäre Welt eine wichtige Zäsur dar, da mit den Jüdinnen viele der ersten erfolgreichen Wissenschaftlerinnen verschwanden und sich im akademischen Betrieb wieder „frauenfreie Räume“39 bildeten, die weit über die NS-Zeit hinauswirken sollten.40 Gerade im internationalen Vergleich fällt der geringe Frauenanteil unter den Professorinnen in Deutschland bis heute auf,41 auch wenn dieser Vergleich sich zumeist auf (unterschiedlich aufbereitetes) Zahlenmaterial konzentriert und eine qualitative Bestandsaufnahme aufgrund der historischen Unterschiede und der ungleichen nationalen Forschungsstände schwierig ist. Eine zweite Gruppe stellen biographische Studien und Lexika zu Akademikerinnen und bekannten Wissenschaftlerinnen dar. Diese Arbeiten knüpfen an ältere Bemühungen aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und dem frühen 20. Jahrhundert an, die dem populären Vorurteil und Argument gegen das Frauenstudium zu begegnen suchten, es habe keine bemerkenswerten wissenschaftlichen Leistungen von Frauen gegeben.42 In den neueren Forschungen dieser Gruppe konnte geleistet
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Claudia Huerkamp, Frauen, Universitäten und Bildungsbürgertum. Zur Lage studierender Frauen 1900–1930, in: Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien akademischen Berufe im internationalen Vergleich, hg. von Hannes Siegrist, Göttingen 1988, S. 200–222, hier S. 208–209. Dies bestätigt die Arbeit von Marco Birn, der auch das Zahlenmaterial nichtpreußischer Hochschulen miteinbezieht: Marco Birn, Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland. Das Streben nach Gleichberechtigung von 1869–1918, dargestellt anhand politischer, statistischer und biographischer Zeugnisse, Heidelberg 2015, S. 345–355. Vgl. z. B. Elisabeth Dickmann und Eva Schöck-Quinteros (Hg.), Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland, Berlin 2000. Birn, Anfänge (Anm. 35), S. 345 und Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (Anm. 34), S. 24. Huerkamp, Frauen (Anm. 35), S. 207. Vogt, Vom Hintereingang (Anm. 32), S. 448. Ebd., S. 448–449. Vgl. auch Michael Grüttner, Zwischen Numerus clausus und Dienstverpflichtung. Studentinnen im Nationalsozialismus, in: Die BDM-Generation. Weibliche Jugendliche in Deutschland und Österreich im Nationalsozialismus, hg. von Dagmar Reese, Berlin 2007, S. 321–341. Çi˘gdem Borchers, Frauenstudium und Hochschulkarrieren in der Türkei. Historische Entwicklungen vom 19. Jahrhundert bis heute mit vergleichendem Blick auf Deutschland, Münster 2013, S. 430–432, hier S. 452. Z. B. Adele Gerhard Helene Simon, Mutterschaft und geistige Arbeit. Eine psychologische und sociologische Studie auf Grundlage einer internationalen Erhebung mit Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung, Berlin 1901.
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werden, was im Kaiserreich nur Perspektive geblieben war, denn sie zeichnen die akademisch-beruflichen Biographien von Frauen nach und unterstreichen damit ihre Fähigkeit zur wissenschaftlichen Tätigkeit.43 (Gruppen-)Biographisch orientierte Studien zu Frauen in einzelnen Disziplinen und verschiedenen Ländern konnten zudem zeigen, dass die historischen Bedingungen, auf die sie bei ihrem Einzug in die Universität stießen, höchst unterschiedlich waren, und hier ein differenzierter Blick auf die je lokalen Kontexte nötig ist.44 So wurden wichtige Grundsteine gelegt, die Frauen an Universitäten und in den Wissenschaften sichtbar machten und ihre systematische Diskriminierung im akademischen Bereich offenlegten. Die Arbeiten zu den Anfängen des Frauenstudiums und den ersten Wissenschaftlerinnen fokussierten in vielen Fällen auf die Ausbildung und beruflichen Werdegänge der Wissenschaftlerinnen und stellten dabei die strukturellen Hindernisse und Benachteiligungen in den Mittelpunkt. Frauen wurden häufig als marginalisierte Gruppe oder als Minderheit beschrieben, ohne dass ihre Leistungen genauer in die Entwicklung der jeweiligen Disziplinen eingeordnet wurden. Das änderte sich in den 1990er Jahren. Seitdem wurde in einer dritten Gruppe von Studien die Bedeutung und der Anteil von Frauen an der Entwicklung von Wissenschaften untersucht. Barbara Hahn gab 1994 ein Buch über Frauen in den Kulturwissenschaften heraus, in dem von den Autoren und Autorinnen der Schwerpunkt auf die Interpretation des Werkes dieser Frauen im Kontext der jeweiligen Disziplin gelegt wurde.45 Theresa Wobbe behandelte mit den Frauen und der Soziologie zwei Neuankömmlinge im amerikanischen und deutschen Hochschulsystem.46 Diese Arbeiten würdigten die wissenschaftlichen Leistungen von Frauen nicht isoliert, sondern fragten auch nach ihrem spezifischen Beitrag in den einzelnen Forschungsfeldern. 43
Johanna Bleker und Sabine Schleiermacher (Hg.), Ärztinnen aus dem Kaiserreich. Lebensläufe einer Generation, Weinheim 2000; Beate Ceranski, Scientists as heroes? Einstein, Curie and the popular historiography of science, in: Popular historiographies in the 19th and 20th centuries. Cultural meanings, social practices, hg. von Sylvia Paletschek, Oxford/New York 2011, S. 172–187; Hiram Kümper, Historikerinnen. Eine biobibliographische Spurensuche im deutschen Sprachraum, Kassel 2009; Cordula Tollmien, Fürstin der Wissenschaft. Die Lebensgeschichte der Sofja Kowalewskaja, Weinheim u. a. 1995. 44 Vgl. nur folgende Auswahl: Margaret W. Rossiter, Women Scientisits in America, 3 Bde., Baltimore 1982–2012; Levke Harders, Studiert, Promoviert: Arriviert? Promovendinnen des Berliner Germanistischen Seminars (1919–1945), Frankfurt a. M 2004; Brigitte Bischoff, „. . . junge Wienerinnen zertrümmern Atome . . .“. Physikerinnen am Wiener Institut für Radiumforschung, Mössingen 2004; Anna Nordenstam, The Margin and the Centre. Early Pioneering Women in Swedish Literary Historiography, in: Gendered Academia. Wissenschaft und Geschlechterdifferenz 1890–1945, hg. von Miriam Kauko, Sylvia Mieszkowski und Alexandra Tischel, Göttingen 2005, S. 169–193; Iwona Dadej, Nicht nur Madame Curie – Zum Phänomen der polnischen Bildungsmigrantinnen an westeuropäischen Universitäten im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Femina Migrans. Frauen in Migrationsprozessen (18.–20. Jahrhundert), hg. von Edeltraut Aubele und Gabriele Pieri, Sulzbach 2011, S. 69–98. 45 Barbara Hahn (Hg.), Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt, München 1994. 46 Theresa Wobbe, Wahlverwandtschaften. Die Soziologie und die Frauen auf dem Weg zur Wissenschaft, Frankfurt a. M./New York 1997. Vgl. zur Germanistik jetzt auch Elisabeth Grabenweger, Germanistik in Wien. Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933), Berlin 2016.
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In den letzten Jahren wurden, viertens, nicht nur verstärkt nach Frauen in der akademischen Welt, sondern nach dem symbolischen Geschlecht der Wissenschaften selbst gefragt47 und das bipolare Geschlechtermodell differenziert, indem etwa verschiedene Typen akademischer Männlichkeiten analysiert wurden.48 Die Forderungen nach einer Geschlechtergeschichte der Universitäten und der Wissenschaften sind dabei nicht neu: Ihrer Zeit voraus, hat etwa Helene Lange in ihrer Rezension zu Arthur Kirchhoffs Sammlung „Die akademische Frau“ schon 1897 festgestellt, dass die dort abgedruckten Gutachten weniger über die Befähigungen von Frauen Auskunft gäben als vielmehr „eine höchst interessante Studie über die deutschen Gelehrten“ sei,49 die „einmal einen ganz brauchbaren Maßstab [. . .] für ‚der Herren eigenen Geist‘ abgeben“ werde.50 In diese Richtung weisende Untersuchungen zu akademischen Männlichkeiten blieben aber lange aus, weil Geschlecht in der Forschung oft lediglich in Zusammenhang mit Frauen relevant erschien, während Männer und ihre wissenschaftliche Arbeit nicht als geschlechtlich bestimmt wahrgenommen wurden. Die Frage nach dem Geschlecht in der weitgehend frauenfrei gedachten männlichen Welt der Gelehrsamkeit traf zunächst bei vielen Historiker/innen auf Unverständnis und Skepsis. Eine frühe Ausnahme stellte der Band „Wie männlich ist die Wissenschaft?“ von 1986 dar, in dem Karin Hausen und Helga Nowotny sich mit einer Reihe von Kolleginnen vornahmen, „die spezifischen Merkmale der Männer-Wissenschaft [. . .] herauszuarbeiten“.51 Im Rückblick bewerteten sie die dem Band zugrundeliegende Tagung als „waghalsig und ungewohnt“,52 denn geschlechtergeschichtliche Ansätze galten vor allem für die Zeit plausibel, in der Frauen in größerer Zahl Zugang zu akademischer Bildung erlangten. Die Frage nach dem Geschlecht wurde so in der Universitätsgeschichtsschreibung bislang vor allem für das 19. und 20. Jahrhundert gestellt. Sie spielte in der Forschung zu den Universitäten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit lange Zeit kaum eine Rolle, trat doch Geschlecht in dieser Perspektive nur in vereinzelten Sonderfällen, als Irritation in der Gestalt weiblicher Gelehrsamkeit auf der universitären Bühne oder – später – im Salon auf.53 Für das 19. und 20. Jahrhundert legte 47
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Bonnie Smith, The Gender of History. Men, Women, and Historical Practice, Cambridge/Massachusetts 1998; Margaret W. Rossiter, The Matthew Matilda Effect in Science, in: Social Studies of Science 32.2 (1993), S. 325–341. Tanja Paulitz, Mann und Maschine. Eine genealogische Wissenssoziologie des Ingenieurs und der modernen Technikwissenschaften 1850–1930, Bielefeld 2012; Harders, American Studies (Anm. 30); Falko Schnicke, Die männliche Disziplin. Zur Vergeschlechtlichung der deutschen Geschichtswissenschaft 1780–1900, Göttingen 2015. Helene Lange, Die akademische Frau (1897), in: Dies., Kampfzeiten. Aufsätze und Reden aus vier Jahrzehnten, Bd. 1, Berlin 1928, S. 217–226, hier S. 218. Ebd., S. 218–219. Karin Hausen und Helga Nowotny, Vorwort, in: Wie männlich (Anm. 33), S. 9–14, hier S. 10. Ebd., S. 13. Eva Brinkschulte und Eva Labouvie (Hg.), Dorothea Christiana Erxleben. Weibliche Gelehrsamkeit und medizinische Profession seit dem 18. Jahrhundert, Halle 2006. Einen neuen Zugang eröffnet hier Monika Mommertz, Geschlecht als „Markierung“, „Ressource“ und „Tracer“. Neue Nützlichkeiten einer Kategorie am Beispiel der Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschungen, hg. von Christine Roll, Frank Pohle und Matthias Myrczek, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 573–592.
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Paletschek mehrere für die Geschlechtergeschichte der Universität wegweisende Arbeiten vor.54 Auch die vorliegenden geschlechtergeschichtlichen Studien haben bislang wenig daran geändert, dass Universität und Wissenschaft vor der Einführung des Frauenstudiums seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute immer noch als weitgehend geschlechtslos thematisiert werden und nicht detailliert nach der sozialen, inhaltlichen und symbolischen Bedeutung von Geschlecht gefragt wird. Die meisten Studien sind auf einzelne Universitäten, Disziplinen und Personen konzentriert. Trotz vielversprechender Ansätze sind regional übergreifende und transnational vergleichende geschlechtergeschichtliche Arbeiten zu Universität und Wissenschaft noch selten. Untersuchungen wie jene von Christine von Oertzen zur International Federation of University Women sind immer noch die Ausnahme.55 Sie verbindet überzeugend biographische und organisationshistorische Ansätze, indem sie die internationale Vernetzung sowie die unterschiedlichen Kulturen an Universitäten und weiteren akademischen Einrichtungen in Kontinentaleuropa, Großbritannien und in den USA untersucht. Um festzustellen, wie weit die Geschlechtergeschichte in die Universitätsgeschichtsschreibung inzwischen integriert ist, verspricht ein Blick in neuere Arbeiten zu Universitäten im deutschsprachigen Raum anlässlich von Jubiläen aussagekräftige Antworten, da solche Darstellungen Gelegenheit bieten, Forderungen nach Neuerungen in der Universitätsgeschichtsschreibung umzusetzen. Konsultiert wurden zu diesem Zweck Darstellungen zum 550-jährigen Bestehen der Universität Greifswald (2006),56 dem 400-jährigen der Universität Gießen (2007),57 dem 550jährigen der Universität Freiburg (2007),58 dem 450-jährigen der Universität Jena (2008),59 dem 600-jährigen der Universität Leipzig (2009),60 dem 200-jährigen der (Humboldt-)Universität Berlin (2010–2015),61 dem 100-jährigen der Universität 54
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Sylvia Paletschek, Berufung und Geschlecht. Berufungswandel an bundesrepublikanischen Universitäten im 20. Jahrhundert, in: Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas, hg. von Christian Hesse und Rainer Christoph Schwinges, Basel 2012, S. 307–352; Sylvia Paletschek, Ermentrude und ihre Schwestern. Die ersten habilitierten Historikerinnen in Deutschland, in: Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Festgabe für Barbara Vogel, hg. von Henning Albrecht u. a., Hamburg 2006, S. 175–187. Christine von Oertzen, Strategie Verständigung. Zur transnationalen Vernetzung von Akademikerinnen 1917–1955, Göttingen 2012. Dirk Alvermann und Karl-Heinz Spieß (Hg.), Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, 2 Bde., Rostock 2006. Horst Carl u. a. (Hg.), Panorama. 400 Jahre Universität Gießen. Akteure, Schauplätze, Erinnerungskultur, Frankfurt a. M. 2007. Martin Bernd u. a. (Hg.), 550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 5 Bde., Freiburg/München 2007. Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert (Hg.), Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1955, Köln u. a. 2009. Neben diesem Band sind noch weitere Tagungsbände erschienen. Senatskommission zur Erforschung der Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (Hg.), Geschichte der Universität Leipzig, 5 Bde., Leipzig 2009. Heinz-Elmar Tenorth u. a. (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden, 1810–2010, 6 Bde., Berlin 2010–2015. Vgl. zu einem Teil dieser „modernen Jubiläumsgeschichten“ auch Paletschek, Stand (Anm. 27), S. 182–186.
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Frankfurt am Main (1989, 2012 und 2014)62 und dem 650-jährigen der Universität Wien (2015).63 Diese Jubiläumsschriften fallen ganz unterschiedlich aus: Ein- bis sechsbändige Darstellungen, die von einer einzelnen Person über mehrere Jahrzehnte verfasst wurden, bis zu Publikationen, die von großen Autor/inn/engruppen in wenigen Jahren geschrieben wurden. Trotz innovativer Beiträge, der Diskussionen um die Notwendigkeit einer kritischen Universitätsgeschichtsschreibung und den Forderungen nach einer Neuausrichtung der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte dominieren weiterhin die alten Meistererzählungen: Professoren und Berufungen sowie die Entwicklung der Disziplinen und der Universitätspolitik stehen im Mittelpunkt; struktur- und sozialgeschichtliche, politikgeschichtliche sowie kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Ansätze prägen die Darstellungen; der ereignisgeschichtliche Charakter ist insbesondere für die jüngste Zeit sehr ausgeprägt.64 Zwar wird neben der Innensicht und der Konzentration auf Professoren und Disziplinen der Blick geweitet auf weitere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie die Studierenden und die kommunalen, regionalen, nationalen und internationalen Verbindungen der Universitäten. Die Geschlechtergeschichte spielt jedoch weiterhin nur eine marginale Rolle. In den Vorworten wird sie meist gar nicht thematisiert. Im Text sind typischerweise einzelne Kapitel oder Passagen zu den Anfängen des Frauenstudiums, den ersten Akademikerinnen im Fach und den ersten Professorinnen zu finden. Die Darstellungen zu den Frauen an den Universitäten bleiben in der Regel allerdings additiv und führen nur selten dazu, dass die Autoren und Autorinnen Universitäten oder Disziplinen konsequent geschlechtergeschichtlich analysieren. Wenn etwa für die Berliner Universität die „Professoren an der FriedrichWilhelms-Universität“ untersucht werden, dann erscheinen Frauen hier unter der Rubrik „Professorengattinnen“.65 Das Kapitel „Studium und die Studenten“ im selben Band geht zwar auf die Frauen als „größte ‚Minderheit‘“ ein,66 nutzt jedoch die Erkenntnisgewinne einer Geschlechterperspektive bei der Darstellung der Fächerwahl der Studenten, der Studienkosten oder der Stipendienvergabe nicht für die Untersuchung. Aus diesem Grund hat das Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin im Jubiläumsumfeld ergänzend einen kommentierten Quellenband zu Frauenstudium und Wissenschaftlerinnenkarrieren herausgegeben, um geschlechtergeschichtliche Forschungsperspektiven anzuregen – explizit über die offiziellen Jubiläumsbände hinaus.67 62 63 64 65
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Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1989, 2012 und 2014. Friedrich Stadler (Hg.), 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert, 4 Bde., Wien 2015. Vgl. Stefan Gerber, Einleitung, in: Traditionen – Brüche – Wandlungen (Anm. 59), S. 1–22, hier S. 13. Charles E. McClelland, Professoren an der Friedrich-Wilhelms-Universität, in: Geschichte der Universität Unter den Linden, 1810–2010, hg. von Heinz-Elmar Tenorth, Bd. 1, Berlin 2012, S. 427–511, hier S. 506. Charles E. McClelland, Studium und Studenten, in: Geschichte (Anm. 65), S. 513–566, hier S. 549–556. So das Vorwort: Gabriele Jähnert, Einleitung, in: Störgröße „F“. Frauenstudium und Wissenschaftlerinnenkarrieren an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin – 1892 bis 1945. Eine
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Eine Ausnahme bildet die Universität Wien, die für die Publikation zum Jubiläum ein „international scientific board“ einrichtete und im Vorwort ausdrücklich „die Berücksichtigung der Gender-Perspektive“ hervorhebt.68 Auch wenn dieser eingeforderte geschlechtergeschichtliche Blick nicht konsequent eingesetzt wurde, so weist diese vierbändige Jubiläumsschrift mit Aufsätzen zu einzelnen Wissenschaftlerinnen, zu Studentinnen, zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte, zur sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung sowie zu „Gender-Dimensionen“ der Universität einen deutlich höheren Anteil an geschlechtergeschichtlichen Beiträgen als die anderen Werke auf. Bei dieser Forschungslage ist es nicht verwunderlich, dass sich übergreifende transnationale Darstellungen wie jene von Rüegg69 zur Geschlechtergeschichte der Universitäten wenig beisteuern können. Eine Internationalisierung der Universitätsgeschichte70 bleibt ebenso wie eine „konsequente Geschlechtergeschichte der Universität“71 ein Desiderat. Zu Letzterer will der vorliegende Band beitragen.
2. BEITRÄGE IN DIESEM BAND Alle Beiträge des vorliegenden Themenschwerpunkts thematisieren jeweils mehrere Analyseachsen und beziehen dafür sehr unterschiedliche Quellen ein. Dabei werden sowohl bekannte, unter anderen Gesichtspunkten schon vielfach untersuchte Quellen neu gelesen als auch bislang nicht berücksichtigte Quellen erschlossen. Beides zeigt, welch innovatives Potenzial die Geschlechtergeschichte von Universität und Wissenschaft bietet und wie sehr sie eine produktive Ergänzung zu klassischen Ansätzen darstellt. Nach der Vorstellung von fünf Analyseachsen für die Geschlechtergeschichte der Geisteswissenschaften untersucht Falko Schnicke in einem empirischen Beitrag die Sprache, die Germanisten und Klassische Philologen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Selbstbeschreibung ihrer Arbeit verwandten. Die von den diskursbestimmenden Protagonisten eingesetzten Metaphern zielten auf die sozialen Grenzen ihrer Fächer inklusive der Außenseiter und die Bestimmung der disziplinären Persona nach innen. In der Analyse der Fachkommunikation in Form von Briefwechseln, die privilegierte Orte für diese Reflektionen darstellten, lassen sich
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kommentierte Aktenedition, hg. vom Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin/Projektgruppe Edition Frauenstudium, Berlin 2010, S. 9–16, hier S. 13. Friedrich Stadler, Vorwort, in: 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert, Bd. 1, hg. von Katharina Kniefacz, Elisabeth Nemeth, Herbert Posch u. a., Göttingen 2015, S. 19–24, hier S. 21. Walter Rüegg, Themen, Probleme, Erkenntnisse, in: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 4: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, hg. von dems., München 2010, S. 21–45. Vgl. dazu die Sammelrezension von Charles McClelland, Modern German Universities and Their Historians since the Fall of the Wall, in: The Journal of Modern History 77.1 (2005), S. 138–159, hier S. 159. Paletschek, Stand (Anm. 27), S. 179.
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diverse vergeschlechtlichende und sexualisierende Metaphern identifizieren, die dazu dienten, die sozialen Voraussetzungen des wissenschaftlichen Subjekts, das Quellenmaterial und die Arbeitsweisen zu definieren. Elisabeth Grabenweger kommt in ihrer Untersuchung der ersten Promovendinnen im Fach Germanistik an der Universität Wien von 1903 bis 1938 zu einem überraschenden Ergebnis: Wie sie aus der Analyse der Promotionsakten belegen kann, reichten 1925 mehr Frauen als Männer im Fach Deutsche Philologie eine Dissertation ein. Ab den 1930er Jahren stellten Frauen dann etwa die Hälfte der Promovenden. Hier waren Frauen also keine „Ausnahmeerscheinungen“ mehr. Promovierte Germanistinnen waren bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Wien zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Charlotte Lergs Beitrag untersucht die visuelle Konstruktion von Studentinnen in amerikanischen Bildmedien während der so genannten Progressive Ära (1890–1930). Besonderes Augenmerk gilt dabei den populären Publikationen wie Zeitschriften und Werbeplakaten. Anders als in Europa war das Frauenstudium zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den USA bereits verbreitet und gesellschaftlich grundsätzlich akzeptiert. Das College Girl, das ein immer selbstverständlicherer Frauentyp in der populären Imagination wurde, hatte jedoch nur noch wenig gemein mit den „Pionierinnen“, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ihr Recht zu studieren erkämpft hatten. Stattdessen erschienen die jungen Frauen auf dem Cover von Life, Ladies’ Home Journal oder Scribner’s „ent-akademisiert“ und stärker sexualisiert. Indem der Artikel diese Bilder mit den gesellschaftlichen Diskursen und den ästhetischen Gepflogenheiten der Zeit in Bezug setzt, wird erkennbar, dass diese populäre Konstruktion von studentischer Weiblichkeit in einem komplexen Gefüge aus Marktlogik und Klassendynamik entstand. Um die Jahrhundertwende wurde die Collegeerfahrung in den USA für Männer und Frauen zu einem distinkten Merkmal der weißen Mittelklasse. Die populären Bildmedien der Zeit wussten dieses Ideal zu bedienen. Angelika Schaser nutzt die Vergabe von Ehrenpromotionen als Sonde um zu zeigen, wie wissenschaftliche Leistungen im universitären Rahmen definiert und hierarchisiert wurden. Erstmals werden die Hamburger Ehrenpromotionen im 20. Jahrhundert untersucht und Frauen vorgestellt, die mit der Vergabe eines Ehrendoktors an deutschen Universitäten gewürdigt wurden. Als Akteure bei diesem Gabentausch treten Vorschlagende und Geehrte auf, die mit verschiedenen Institutionen wie Universitäten, Fakultäten, Fachbereichen, Ministerien und Berufsorganisationen in Verbindung stehen. An Inhalten stehen die Leistungen im Fokus, für die die Ehrenpromotionen vergeben oder nicht vergeben wurden. Zugleich thematisiert der Beitrag auch symbolische Ordnungen und akademische Praktiken, da mit Ehrenpromotionen wissenschaftliche Leistungen und die wissenschaftliche Persona definiert werden, diese Übergaberituale sich in die universitäre Festkultur eingeschrieben haben und Teil der universitären Traditionsbildung und spezifischen Fächerkultur bilden. Christine Ivanov stellt einen neuen Bereich der und einen methodisch innovativen Zugriff auf Universitätsgeschichte vor: Die Gender Studies. Am Beispiel neuer Einführungsmonographien zu den deutschsprachigen Gender Studies untersucht sie die Formierung dieser Studiengänge seit den 1970er Jahren als „weiße Disziplin“. Dafür greift sie auf die Theoriebildungen und Kritik schwarzer Wissenschaftler/innen
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Angelika Schaser und Falko Schnicke
zurück und zieht, daran anknüpfend, eine mehrdimensionale Konzeptualisierung von Weißsein heran, mit der Weißsein als Strukturkategorie und Mythos, als (unsichtbare) Norm, als Privileg und als herrschende Position analysierbar wird. Die Ausblendung von Perspektiven kritischer Weißseinsforschung in den Gender Studies bietet, wie Ivanov ausführt, Anlass zur kritischen Selbstreflexion nicht nur der Gender Studies, sondern auch der Frauen- und Geschlechtergeschichte.
3. DESIDERATA Die Geschlechtergeschichte von Universität und Wissenschaft hat bereits wichtige Impulse geliefert, um unser Bild der Wissenschaftsgeschichte inhaltlich zu erweitern und analytisch zu differenzieren; auch die Aufsätze in diesem Themenschwerpunkt wollen dazu einen Beitrag leisten. Gleichwohl bleibt noch viel zu tun, wobei wir Desiderate auf thematischer, methodischer und theoretischer Ebene sehen. Thematisch besteht weiterer Forschungsbedarf vor allem im Bereich der Lehre und des Alltages von Universität und Wissenschaft (Gremiensitzungen, Prüfungen, tägliche Arbeitsroutinen, Zeitplanungen etc.), die ihrerseits zum kulturellen Phänomen Universität gehören und als Umgebung und Zwänge inhaltliche Entscheidungen vorprägen oder mindestens beeinflussen können; im Bereich der Arbeitstechniken, um den Stellenwert von Kooperationen und Autor/inn/enkollektiven vermessen und das Ideal des einsamen Forschers dekonstruieren zu können; im Bereich weiterer Statusgruppen wie den Studierenden oder dem Verwaltungs- und Administrationspersonal, nicht nur um die herrschenden Machtverhältnisse genauer zu verstehen, sondern etwa auch um mögliche alternative Karrierewege besser verfolgen zu können; im Bereich von akademischen Verbänden und Organisationen, um die Mitarbeit von Frauen in Fachverbänden und, zum Beispiel, die daraus resultierenden Rückwirkungen auf die oft männlich geprägten fachlichen Selbstverständnisse zu erschließen,72 aber auch um die Arbeit und den Einfluss durch Gegengründungen von weiblichen Netzwerken berücksichtigen,73 und im Bereich der Finanzgeschichte von Universität und Wissenschaften, um Handlungsspielräume und -restriktionen besser beurteilen zu können. Epochal fehlen im Wesentlichen noch Arbeiten über die Verhältnisse und Entwicklungen der Universitäten und Wissenschaften nach 1945, wobei sich das föderale System der deutschen Bildungslandschaft, in dem Hochschulsteuerung länderspezifisch organisiert ist, und die Sperrfristen von (Personal-)Akten als zentrale Probleme erweisen dürften. Methodisch stehen zum einen Langzeitstudien und internationale Vergleiche aus. Ihre Schwierigkeit liegt, neben weiteren Problemen, vor allem darin, dass es oft nicht nur an den dafür erforderlichen statistischen und anderen Daten fehlt, sondern auch schon an vergleichbaren Strukturen über Länder- und Epochengrenzen
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Vgl. dazu u. a. Harders, American Studies (Anm. 30), S. 12. Erste Ergebnisse dazu liefern Oertzen, Strategie (Anm. 55); Angelika Schaser, Der Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung 1990 bis 2015. Wissenschaftliche Professionalisierung im Netzwerk, Hamburg 2015.
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hinweg. Dennoch sind solche Studien möglich74 und wären auch aus geschlechtergeschichtlicher Sicht dringend erforderlich, um präziser temporale wie lokale Besonderheiten von generellen Mustern unterscheiden und in ihrer Wirkungsreichweite einschätzen zu können. Zweitens stehen Transferanalysen noch weitgehend aus, die in diachroner Perspektive klären können, wie Geschlecht in verschiedenen – nationalen wie regionalen – Wissenschaftskulturen angeeignet wurde und welche Austauschprozesse und Wechselwirkungen etwa zwischen Wissenschaftskulturen mit frühem und spätem Frauenstudium bestanden. Zu denken wäre daneben ebenfalls an weitere Transferanalysen in sektoraler Perspektive, das heißt zwischen Universitäten, Fach-, Technischen und Pädagogischen Hochschulen, die der Diversität der höheren Bildung in Deutschland Rechnung tragen. Auch zum transnationalen Wissenstransfer zwischen Wissenschaftlerinnen ist noch zu wenig bekannt, was besonders für Kontakte auch jenseits von Exilsituationen gilt. Drittens fehlen fächerübergreifende Studien, die die Auswirkungen von Geschlechtervorstellungen auf das Wissenschaftsverständnis unterschiedlicher Fachkulturen integrativ untersuchen. Viertens sollte der Bereich der Oral History, der autobiographischen Reflektion von Fachvertreterinnen und Fachvertretern, gestärkt werden, um ein vollständigeres Bild zu erhalten. Während es für einige Fächer und multidisziplinäre Felder bereits entsprechende Projekte gibt,75 fehlen für viele andere hingegen die Erinnerungen der Akteure des 20. und 21. Jahrhunderts an Karrierewege und berufsbiographische Wendepunkte. Fünftens können verstärkte intersektionale Analysen dabei helfen, die Grenzen der Geschlechtergeschichte von Universität und Wissenschaft auszuloten, also die Frage zu beantworten, wo und wann Vorstellungen über Körperlichkeit, Alter oder Klassenzugehörigkeit ähnlich zentral oder sogar wichtiger werden, um Wissenschaft zu definieren, als Vorstellungen über Geschlecht. Auf theoretischer Ebene muss Geschlecht als intersektionale Analysekategorie stärker in die vorliegenden Ansätze der Disziplingeschichte, Diskursanalyse, Historischen Epistemologie, Wissenschaftssoziologie, Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsforschung, Wissensgeschichte und weitere mehr eingeschrieben werden. Wenn viele dieser Ansätze auch nicht als geschlechterkritische Werkzeuge entwickelt worden sind, worauf die Forschung bereits verwiesen hat, sind sie zu solchen ausbaubar: Bourdieu beispielsweise, der mit seiner Feld- und Kapitalartentheorie sowie seinem Habitusbegriff einflussreich für die Wissenschaftsgeschichte geworden ist, hat diese Instrumente zunächst ohne geschlechteranalytische Komponenten
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Vgl. nur Jürgen Lieske, Forschung als Geschäft. Die Entwicklung von Auftragsforschung in den USA und Deutschland, Frankfurt a. M. 2000; Lingelbach, Klio (Anm. 13); Olaf Blaschke, Verleger machen Politik. Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutsch-britischen Vergleich, Göttingen 2010. 75 Engler, „In Einsamkeit“ (Anm. 3); Ulrike Vogel (Hg.), Wege in die Soziologie und die Frauenund Geschlechterforschung. Autobiographische Notizen der ersten Generation von Professorinnen an der Universität, Wiesbaden 2006; Bock, Pionierarbeit (Anm. 11).
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Angelika Schaser und Falko Schnicke
entworfen76 und „Die männliche Herrschaft“ erst spät in seinem Œuvre vorgelegt.77 Dennoch nutzen nicht wenige Studien seine Arbeiten, nachdem sie seine Modelle geschlechterkritisch angereichert haben.78 Geschlechtergeschichtliche Perspektiven tragen damit zur Erweiterung und Fundierung bestehender wissenschaftsanalytischer Ansätze bei; eine Anstrengung, die es für Bourdieu und andere Theoretiker/innen zu intensivieren gilt. Es würde im Ergebnis darum gehen, Geschlecht nicht als eine beliebige oder beiläufige Größe aufzufassen, sondern es in seinen intersektionalen Verflechtungen aufgrund der im vorliegenden Themenschwerpunkt hoffentlich deutlich gewordenen fundamentalen Bedeutung für Universität und Wissenschaft auch in der theoretischen Konzeption von Forschungsprojekten stets kritisch mitzudenken. Umgekehrt könnte so sichergestellt werden, dass geschlechtergeschichtliche Perspektiven noch konsequenter mit den genannten Ansätzen verzahnt und so der „ständig[e] Dialog mit sich selbst“,79 als den Lutz Raphael Wissenschaftsgeschichte beschrieben hat, intensiviert werden könnte. Über die genannten thematischen, methodischen und theoretischen Perspektiven kann es gelingen, das innovative Potential geschlechtergeschichtlicher Ansätze weiterhin zu realisieren. Sie sind zudem geeignet, die Geschlechtergeschichte von Universität und Wissenschaft noch stärker als bislang in die allgemeine (Wissenschafts-)Geschichte zu integrieren – und auf diese Weise beide kooperativ weiterzuentwickeln.
ABSTRACT This introduction aims to explore what writing a gender history of universities and scholarship means. Therefore, the first of three sections offers a survey of the existing literature with a particular emphasis on the late 19th and 20th centuries Germany. Secondly, the contributions to this issue are introduced, before section three highlights desiderata to focus on in further research.
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Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übs. v. Cordula Pialoux u. Bernd Schwibs, Frankfurt a. M. 1976; Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, übs. v. Günter Seib, Frankfurt a. M. 1987; Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übs. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer, Frankfurt a. M. 2003. 77 Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, übs. v. Jürgen Bolder, Frankfurt a. M. 2005. 78 Vgl. nur Beate Krais (Hg.), Wissenschaftskultur und Geschlechterordnung. Über die verborgenen Mechanismen männlicher Dominanz in der akademischen Welt, Frankfurt a. M./New York 2000; Sandra Beaufaÿs, Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft, Bielefeld 2003; Yvonne Haffner, Mythen um männliche Karrieren und weibliche Leistung, Opladen 2007; Lily Tonger-Erk, Actio. Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre, Berlin/Boston 2012; Paulitz, Mann und Maschine (Anm. 48); Heike Guthoff, Kritik des Habitus. Zur Intersektion von Kollektivität und Geschlecht in der akademischen Philosophie, Bielefeld 2013; Schnicke, Die männliche Disziplin (Anm. 48). 79 Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 13.
FÜNF ANALYSEACHSEN FÜR EINE KRITISCHE GESCHLECHTERGESCHICHTE DER GEISTESWISSENSCHAFTEN Aufriss eines Forschungsfeldes* Falko Schnicke
Beim Blick auf die Forschung zur Geschlechtergeschichte der Wissenschaften ergibt sich ein disparates Bild: Während die empirische Breite der vorliegenden Beiträge nahelegt, dass sie ein erhebliches Spektrum abzudecken vermag,1 existieren kaum systematische Aufrisse, die grundsätzlicher klären, was ihre Reichweite sein kann. Das wurde schon für die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Wissenschaftsgeschichte insgesamt konstatiert2 und gilt auch für die Geschlechtergeschichte der Universitäten.3 Vor diesem Hintergrund das Themenfeld systematisch zu vermessen, ist sinnvoll, um die vorliegende Literatur einordnen zu können und weitere Forschungen anzuregen: Was sind also aus welchen Gründen mögliche Themen einer kritischen Geschlechtergeschichte der Wissenschaften und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Orientieren kann sich eine Antwort an den Forschungsprogrammen, die Karin Hausen und Helga Nowotny, Erika Greber und Levke Harders vorgelegt haben. Hausen und Nowotny haben 1986 drei Ansatzpunkte für die Analyse der männlichen Wissenschaft definiert. Untersucht werden sollten erstens „Gegenstände, Themen, Inhalte“ sowie deren Gewichtung und Umsetzung, zweitens die sozialen Bedingungen, unter denen wissenschaftlich gearbeitet wird, wobei besonders die Familienabhängigkeit männlicher Wissenschaftler im Mittelpunkt stand, und drittens die *
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In der Erarbeitung des vorliegenden Textes habe ich wesentlich von den Diskussionen mit Angelika Schaser (Hamburg) und den anderen Autorinnen des Themenheftes sowie von ausführlichen Kommentaren von Levke Harders (Bielefeld), Cornelia Linde (London), Berit Schallner (Köln) und Hannes Ziegler (London) profitiert. Vgl. den Literaturüberblick in der Einleitung zu diesem Themenschwerpunkt: Angelika Schaser und Falko Schnicke, Wege zu einer Geschlechtergeschichte der Universitäten und Geisteswissenschaften. Forschungsstand und Desiderata, S. 27–42. Vgl. dazu Erika Greber, Theoretische Grundüberlegungen zur Wissenschaftsgeschichtsschreibung und -forschung unter der Perspektive der Geschlechterdifferenz, in: Gendered Academia. Wissenschaft und Geschlechterdifferenz 1890–1945, hg. von Miriam Kauko, Sylvia Miezkowski und Alexandra Tischel, Göttingen 2005, S. 11–40, hier S. 16. Vgl. als Forschungsüberblicke z. B. Rüdiger vom Bruch, Methoden und Schwerpunkte der neueren Universitätsgeschichtsforschung, in: Die Universität Greifswald und die Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Werner Buchholz, Stuttgart 2004, S. 9–26; Matthias Asche und Stefan Gerber, Neuzeitliche Universitätsgeschichte in Deutschland. Entwicklungslinien und Forschungsfelder, in: Archiv für Kulturgeschichte 90 (2008), S. 159–201.
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Falko Schnicke
homosozial-männlichen Sozialisierungsformen und Räume, die für wissenschaftliche Gemeinschaften prägend sind.4 Greber legte ihr Forschungsprogramm 2005 explizit als heterosoziale Geschlechtergeschichte von Wissenschaften an: „Eine Grundidee des Projekts besteht darin, den Eintritt von Frauen in die Wissenschaft nicht isoliert durch den Fokus auf die Frau zu untersuchen, sondern die neue Form von Interaktion zugrunde zu legen: Der Eintritt von Frauen in die Wissenschaft bedeutet eine Störung der bis dato homogenen homosozialen Kommunikation des Wissenschaftsbetriebes und das Aufkommen neuer, eben heterosozialer Kommunikationsbedingungen.“5 Als konkrete Gegenstände sollten mit diesem Ansatz die „symbolischen und kulturellen Ebenen des Wissenschaftsdiskurses“ untersucht werden,6 womit Greber diskursive Ordnungen und Metaphern sowie Themen und Außenseiter meinte.7 Den umfangreichsten Forschungskatalog hat Harders vorgelegt, in dem sie 2013 zehn mögliche Zugänge unterschied. Sie reichten von „biographische[r] ‚Erinnerungsarbeit‘“ über die Rekonstruktion der disziplinären Geschlechterordnung aus Weiblichkeits- und Männlichkeitszuschreibungen, Außenseitern, Netzwerken und Förderstrukturen bis hin zum Transfer in außeruniversitäre Einrichtungen.8 Alle drei Zusammenstellungen sind verdienstvoll, weil sie – mit je eigenen Gewichtungen und unterschiedlichen Reichweiten – ein breit angelegtes, anspruchsvolles Verständnis einer geschlechtergeschichtlich orientierten Wissenschaftsgeschichte skizzieren. Zudem weisen die Ansätze zu Recht auf noch immer bestehende Forschungslücken hin. Gleichzeitig überlappen sich die aufgelisteten Zugänge allerdings zum Teil und stehen tendenziell unverbunden nebeneinander. Daneben bietet auch die Universitätsgeschichte vielfältige Anregungen, die für eine geschlechtersensible Perspektivierung der Wissenschaftsgeschichte relevant sind. Sie hat nicht nur betont, dass „[u]niversitätsgeschichtliche Forschung ohne angemessene Berücksichtigung der in dieser Institution betriebenen Erkenntnisarbeit [. . .] ein leeres Gehäuse [bliebe]“,9 sondern widmet sich auch konkreten Gegenständen, die für eine Geschlechtergeschichte der Wissenschaften anschlussfähig sind: So kann sie von der grundlegenden Analyse der Verankerung der Universität in der Gesellschaft profitieren;10 einer Perspektive, die daran erinnert, dass Wissenschaften Abbilder und Koproduzenten von gesellschaftlichen Hierarchien und Werten sind. Auch das Arbeitsfeld der Sozialgeschichte der Universität und ihrer Akteursgruppen bildet einen Schwerpunkt in der neueren Universitätsgeschichte.11 Wenn die soziale Ordnung der Universität im Mittelpunkt steht, geht es immer auch um hetero- oder homosoziale
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Karin Hausen und Helga Nowotny, Vorwort, in: Wie männlich ist die Wissenschaft?, hg. von dens., Frankfurt a. M. 1986, S. 9–14, hier S. 11 f. Greber, Grundüberlegungen (Anm. 2), S. 13. Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 20–31. Levke Harders, American Studies. Disziplingeschichte und Geschlecht, Stuttgart 2013, S. 11 f. vom Bruch, Methoden (Anm. 3), hier S. 10. Vgl. Charles McClelland, Modern German Universities and Their Historians since the Fall of the Wall, in: The Journal of Modern History 77.1 (2005), S. 138–159. Vgl. Asche/Gerber, Universitätsgeschichte (Anm. 3), S. 190–201.
Fünf Analyseachsen für eine kritische Geschlechtergeschichte
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Gruppen und ihre internen Rangfolgen und Statusabstufungen.12 Zudem ist das Interesse an einer kritischen Geschichte von Studierenden und Studentenverbindungen, die auf einen Brückenschlag von Organisations- und Mentalitätsgeschichte abzielt, neu erwacht.13 Hinzukommen individuell- und gruppenbiographische Arbeiten, die die Universitäten als Karriereort und Sozialverbund erschließen.14 Aufbauen kann ein geschlechtergeschichtlicher Ansatz der Wissenschaftsgeschichte auch auf der kulturgeschichtlichen Öffnung der Universitätsgeschichte der letzten Jahre.15 Dabei kamen vielfältige symbolische Ordnungen oder akademische Habitus in den Blick.16 Schon länger waren außerdem akademische Jubiläen oder universitäre Festtage Thema der universitätsgeschichtlichen wie auch der Bürgertums-Forschung und politischen Geschichte.17 Auch wenn „eine konsequente Geschlechtergeschichte der Universität“ nach wie vor ein Desiderat geblieben ist, wie Sylvia Paletschek festgestellt hat,18 haben sich explizit geschlechtergeschichtliche Arbeiten der Universitätsgeschichte auf Inszenierungen und Sozialisierung von Studenten konzentriert oder das Berufungswesen untersucht – um nur einige Beispiele zu nennen –, weil
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Vgl. z. B. Rainer Christoph Schwinges, Ordnung, Ämter und Karrieren: Die mittelalterlichvormoderne Universität als soziale und kulturelle Institution, in: Wissenschaft mit Zukunft. Die „alte“ Kölner Universität im Kontext der europäischen Universitätsgeschichte, hg. von Andreas Speer und Andreas Berger, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 115–135. Vgl. vom Bruch, Methoden (Anm. 3), S. 19–20; Asche/Gerber, Universitätsgeschichte (Anm. 3), S. 197–201. Vgl. McClelland, Universities (Anm. 10). Vgl. Asche/Gerber, Universitätsgeschichte (Anm. 3), S. 199; Sylvia Paletschek, Stand und Perspektiven der neueren Universitätsgeschichte, in: Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 19 (2011), S. 169–189, hier S. 179. Vgl. z. B. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. Marian Füssel, Die relationale Gesellschaft. Zur Konstitution ständischer Ordnung in der Frühen Neuzeit aus praxeologischer Perspektive, in: Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, hg. von Dagmar Freist, Bielefeld 2015, S. 115–137. Vgl. nur Winfried Müller, Erinnern an die Gründung. Universitätsjubiläen, Universitätsgeschichte und die Entstehung der Jubiläumskultur in der frühen Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 21 (1998), S. 79–102; Michael Maurer, Prolegomena zu einer Theorie des Festes, in: Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie, hg. von dems., Köln/Weimar/Wien 2004, S. 19–54; Wolfgang Flügel und Stefan Dornheim, Die Universität als Jubiläumsmultiplikator in der Frühen Neuzeit. Akademiker und die Verbreitung des historischen Jubiläums, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 9 (2006), S. 51–70; Marian Füssel, Ritus Promotionis. Zeremoniell und Ritual akademischer Graduierungen in der frühen Neuzeit, in: Examen, Titel, Promotionen: Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, hg. von Rainer Christoph Schwinges, Basel 2007, S. 411–450; Sylvia Paletschek, Festkultur und Selbstinszenierung deutscher Universitäten, in: Mittendrin. Eine Universität macht Geschichte. Eine Ausstellung anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Humboldt-Universität zu Berlin, hg. von Ilka Thom und Kirsten Weining, Berlin 2010, S. 88–95; Winfried Müller, Inszenierte Erinnerung an welche Tradition? Universitätsjubiläen im 19. Jahrhundert, in: Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, hg. von Rüdiger vom Bruch, München 2010, S. 73–92; Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt a. M./New York 2013. Paletschek, Stand (Anm. 15), S. 179.
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Falko Schnicke
sie Möglichkeiten bieten, Vorstellungen von Männlichkeiten, Weiblichkeiten und Universitäten gemeinsam zu hinterfragen.19 Der folgende Vorschlag beinhaltet fünf übergreifende Analyseachsen für die Geschlechtergeschichte der Wissenschaften: erstens Akteure; zweitens institutionelle Strukturen; drittens Wissensbestände; viertens akademische Praktiken; und fünftens symbolische Ordnungen. Sie können für die retrospektive Analyse separiert werden, aber in der zu untersuchenden historischen Praxis bildeten sie eine Einheit, in der sie in Beziehung zueinander standen, miteinander vernetzt waren und sich überschnitten. Der Fokus des vorliegenden Aufsatzes liegt auf dem deutschsprachigen Universitätssystem und den Geisteswissenschaften seit dem 19. Jahrhundert, wobei die Geschichtswissenschaft aus pragmatischen Gründen im Mittelpunkt steht. Dabei geht es explizit nicht darum, zeitlich zusammenhängende Beispiele zu diskutieren, sondern durch eine Reihe zeitlich und thematisch disparater Aspekte ein thematisch möglichst breites Spektrum zu präsentieren.
1. AKTEURE Die personale Achse ist grundlegend, weil sie darüber aufklärt, wer die zentralen Akteure in Universität und Wissenschaft sind und wem welche Handlungsmacht zukommt. Zwar geht es mit den hier diskutierten fünf Analyseachsen gerade darum, festzustellen, dass die Wissenschaften nicht nur in dem Sinne geschlechtlich kodiert sind, dass es in vielen Disziplinen lange ausschließlich männliche Fachvertreter gab. Gleichzeitig ist es aber für die Ausprägung der disziplinären Identität zentral, dass es beispielsweise in der deutschen Geschichtswissenschaft bis 1964 gedauert hat, bis die Mediävistin Edith Ennen (1907–1999) in Saarbrücken und die Althistorikerin Ruth Altheim-Stiehl (geb. 1926) in Münster als erste Frauen zu Professorinnen berufen wurden.20
1.1 Institutionell angebundene Wissenschaftler/innen Das liegt daran, dass nur institutionell an Universitäten, außeruniversitären Forschungsinstituten oder Akademien angebundene Wissenschaftler/innen in der Lage
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Vgl. Sylvia Paletschek, Berufung und Geschlecht. Berufungswandel an bundesrepublikanischen Universitäten im 20. Jahrhundert, in: Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas, hg. von Christian Hesse und Christoph Schwinges, Basel 2012, S. 307–352; Marian Füssel, Studentenkultur in der Frühen Neuzeit. Praktiken – Lebenstile – Konflikte, in: Wissenschaft mit Zukunft. Die „alte“ Kölner Universität im Kontext der europäischen Universitätsgeschichte, hg. von Andreas Speer und Andreas Berger, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 173–204, hier S. 183–184. Vgl. Sylvia Paletschek, Ermentrude und ihre Schwestern. Die ersten habilitierten Historikerinnen in Deutschland, in: Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Festgabe für Barbara Vogel, hg. von Hennig Albrecht, Gabriele Boukrif, Claudia Bruns u. a., Hamburg 2006, S. 175–187, hier S. 181.
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sind, nach außen als Vertreter/innen eines bestimmten Faches oder bestimmter universitärer Funktionen aufzutreten und Ämter auszuüben. Im Gegensatz zu Personen, denen der Zugang verweigert wurde oder die als Privatgelehrte oder Amateure abqualifiziert wurden, verfügen sie über institutionelle und damit wissenschafts- und disziplinpolitische Macht, die unter anderem für die Geschlechterordnung bestimmend ist. „Eigenmächtig die Themen zu bestimmen, die man prioritär in Forschung und Lehre verfolgt, setzt eine gesicherte Stellung und eine anerkannte Position in der Hochschule voraus“,21 stellt etwa Ulla Bock nach ihren Interviews mit 38 Professorinnen fest. Der Einfluss auf Relevanzhierarchien22 oder symbolische Ordnungen wie die Entscheidung darüber, ob und in welchem Sinn beispielsweise Archivarbeit als sexualisierte Praxis verstanden wird,23 basiert elementar auf dem Zugang zu internen Diskursen. In der Regel kann nur jemand, der als vollwertiges Mitglied des Faches von seinen Kolleg/innen legitimiert ist, Wissenschafts- und Fächerkulturen aktiv gestalten. Ergänzend zur Frage nach dem Geschlecht sind für die sozialgeschichtliche Zusammensetzung der diskursbestimmenden Akteure auch andere Kategorien wie Klasse, Religion, regionale Herkunft oder das Berufsprofil der Eltern ausschlaggebend, weil sie, wie sich historisch nachweisen lässt, Einfluss auf die fachliche Ausbildung haben.24
1.2 Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft Damit erschöpft sich die personale Ebene aber noch nicht, denn die gerade erwähnten Machtstrukturen würden reproduziert, wenn nicht auch die ausgeschlossenen und die negierten Gruppen berücksichtigt werden. Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft operieren nicht selten mit Geschlechterstereotypen, die Frauen, aber auch Homosexuelle oder Juden, als das Andere definieren und als Amateure disqualifizieren.25 Um solche Grenzziehungen zu analysieren, bieten sich zwei Wege an, die im Folgenden dargestellt werden.
1.2.1 Definition der wissenschaftlichen Persona Zum einen können die Logiken der Herstellung derartiger Unterscheidungen innerhalb wissenschaftlicher Debatten rekonstruiert werden, wozu sich die Analyse 21 22
23
24
25
Ulla Bock, Pionierarbeit. Die ersten Professorinnen für Frauen- und Geschlechterforschung an deutschen Hochschulen 1984–2014, Frankfurt a. M./New York 2015, S. 246. Vgl. Angelika Schaser und Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten (1970–1990), in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 16 (2013 [2015]), S. 79–110, hier S. 83–87 u. 93–106. Vgl. Bonnie G. Smith, The Gender of History. Men, Women, and Historical Practice. Cambridge/London 4 2001, S. 116–129; Falko Schnicke, Die männliche Disziplin. Zur Vergeschlechtlichung der deutschen Geschichtswissenschaft 1780–1900, Göttingen 2015, S. 361–412. Vgl. Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, Frankfurt a. M. 2 1987. Zu diesem Mechanismus Smith, Gender (Anm. 23), S. 3.
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der Konstruktion der wissenschaftlichen Persona, das heißt des überindividuellen Idealbildes des wissenschaftlichen Akteurs, anbietet. Hierbei geht es um einen Typus, der allgemein anerkannt ist und aufgrund der ihm zukommenden Eigenschaften und Werte als erstrebenswert und nachahmenswert gilt.26 Da mit diesen Werten nicht selten soziale Vorstellungen verbunden sind, trägt die Untersuchung der jeweils vorherrschenden wissenschaftlichen Persona dazu bei, die geschlechtliche Kodierung von Wissenschaft zu erklären. Ein Beispiel ist die Orientierung auf Fakten und Wahrheit in der frühen Geschichtswissenschaft. Diese objektive Persona wurde seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so sehr mit generell Männern zugeschriebenen Eigenschaften wie Selbstregulierung, Transparenz, Authentizität oder der Repräsentation des Universellen assoziiert, dass sie für Frauen ausgeschlossen war. Zusätzlich wurden der Wissenschaft entgegenstehende Werte wie Oberflächlichkeit, Fehlerhaftigkeit, Unübersichtlichkeit, Unvernunft und Stilempfinden feminisiert.27 Über die Analyse der Persona können auch Abwehrstrategien der traditionellen Universität erfasst werden. Sieht man sich etwa das Bild an, das die Historiker des 19. Jahrhunderts von Weiblichkeit entworfen haben, wird ersichtlich, wie strategisch es eingesetzt wurde. Während es lange ausgereicht hatte, Weiblichkeit als unwissenschaftlich zu klassifizieren, lässt sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die lauter werdenden Forderungen nach der Zulassung von Frauen zum Studium eine Verschärfung zu einer antiwissenschaftlichen Weiblichkeit nachweisen: Es wurde nicht mehr nur argumentiert, Frauen könnten nicht wissenschaftlich arbeiten, sondern nun auch, dass Frauen in ihrer Weiblichkeit die Wissenschaft in ihrer Wissenschaftlichkeit gefährden würden – und umgekehrt.28 Solche Analysen zeigen, wie fragil das Selbstbild männlich kodierter Wissenschaften in der Selbstwahrnehmung war, wie wenig selbstverständlich sie sich selbst galten und wie stark sie von außen verunsichert werden konnten. Karin Hausen hat etwa darauf hingewiesen, dass in der Debatte um Frauen an der Universität die Rolle von Frauen in der Gesellschaft insgesamt diskutiert wurde. Die Auswirkungen auf den Heiratsmarkt, das heißt auf die Ordnung des bürgerlichen Haushaltes und der Familie, waren dabei ebenso präsent wie die Frage nach dem eigentlichen, dem vorgeblich natürlichen Wesen der Frau als Gattin und Mutter.29
26
Vgl. Lorraine Daston und H. Otto Sibum, Introduction. Scientific Personae and Their Histories, in: Science in Context 16 (2003), S. 1–8; Lorraine Daston, Die wissenschaftliche Persona. Arbeit und Berufung, in: Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Theresa Wobbe, Bielefeld 2003, S. 109–136. 27 Vgl. Smith, Gender, (Anm. 23), S. 130–146. 28 Vgl. Schnicke, Disziplin (Anm. 23), S. 71–113. 29 Vgl. Karin Hausen, Warum Männer Frauen zur Wissenschaft nicht zulassen wollten, in: Wie männlich ist die Wissenschaft?, hg. von ders. und Helga Nowotny, Frankfurt a. M. 1986, S. 31–40, hier S. 36–38.
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1.2.2 Außenseiter und „Amateure“ Der zweite Weg, um den personellen Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft nachzugehen, liegt in der Thematisierung jener Akteure, deren Arbeit nicht als Teil von Wissenschaft anerkannt wurde. Sie nicht in die Betrachtung einzubeziehen, würde ihren zeitgenössischen Ausschluss in der Fachgeschichtsschreibung wiederholen. Mit dem Ausschluss bestimmter Akteure war zudem nicht selten die Marginalisierung von Themen oder Zugängen verbunden, die als nichtwissenschaftlich galten.30 Angelika Epple hat in ihrem Buch „Empfindsame Geschichtsschreibung“ etwa die Historiographie von Frauen um 1800 untersucht und eine Reihe von meist adeligen Frauen wiederentdeckt, die zeitgenössisch nicht als professionelle Historikerinnen anerkannt wurden. Sie schrieben Geschichte als private Unternehmung oder als Geschichtserzählungen in der Familie, standen in Verbindung mit der Salonkultur der Aufklärung und bedienten sich einer großen Bandbreite an Genres (u. a. Autobiographien, fiktive Briefe), die nicht als wissenschaftlich galten und deshalb abgewertet wurden.31 Analog lässt sich auch im späten 19. Jahrhundert die Ausgrenzung nicht-weißer und nicht-europäischer Wissenschaftler aus der deutschen Technikwissenschaft beobachten. Sie betraf auch Männer, die als wissenschaftsfremd definiert wurden,32 und macht damit deutlich, wie zentral die Differenzierung verschiedener Männlichkeiten für die Rekonstruktion wissenschaftlicher Selbstentwürfe ist.
1.3 Bedingungen erfolgreichen Agierens – Netzwerke, Förderstrukturen, Arbeitsteilungen und (familiäre) Hilfestellungen Es schließt sich die Frage an, unter welchen Bedingungen die in der Wissenschaft tätigen Akteure dort arbeiten und erfolgreich agieren konnten: Welchen sozialen, generationellen, religiösen und ideologischen Hintergrund haben sie? Welchen Patronageund Fördernetzwerken entstammen sie? Daniela Saxer konnte etwa zeigen, dass nicht wenige der männlichen Historiker des 19. Jahrhunderts von der finanziellen Unterstützung weiblicher Verwandter abhängig waren.33 Welche anderen familiären Strukturen und funktionalen Arbeitsteilungen sind für den Wissenschaftsbetrieb außerdem prägend? Hilfestellungen im bürgerlichen Haushalt wie im Wissenschaftsalltag waren
30
Vgl. Barbara Hahn, Außenseiter. Eine Skizze, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. von Christoph König, Hans-Harald Müller und Werner Röcke, Berlin/New York 2000, S. 273–279. 31 Vgl. Angelika Epple, Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus, Köln/Weimar/Wien 2003. Vgl. auch Hiram Kümper (Hg.), Historikerinnen. Eine biobibliographische Spurensuche im deutschen Sprachraum, Kassel 2009. 32 Vgl. Tanja Paulitz, Mann und Maschine. Eine genealogische Wissenssoziologie des Ingenieurs und der modernen Technikwissenschaften 1850–1930, Bielefeld 2012, S. 187–220. 33 Vgl. Daniela Saxer, Die Schärfung des Quellenblicks. Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914, München 2014, S. 181–196.
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vielfach elementar, gelten aber als selbstverständlich und verschwinden in Selbstdarstellung wie Außenperspektive oft hinter der Arbeit des einzelnen (männlichen) Akteurs. Unsichtbar bleiben damit die vielfältigen Entlastungs- und Zuarbeiten von Ehefrauen, Angestellten, Töchtern und Söhnen34 oder auch von Laborassistent/innen und Techniker/innen.35 Aspekte wie diese berühren das Verständnis und die Erinnerungsarbeit von Wissenschaft grundlegend und verweisen auf die handlungs- und wahrnehmungsprägenden Funktionen ihrer Institutionen.
2. INSTITUTIONELLE STRUKTUREN Die zweite Analyseachse für die Geschlechtergeschichte der Wissenschaften stellen ihre institutionellen Strukturen dar. Dabei ergeben sich vielleicht die deutlichsten Überschneidungen mit der Universitätsgeschichte, die – häufig im Rahmen von Jubiläen betrieben – traditionell auf die Entwicklung institutioneller Strukturen fokussiert war36 und in diesem Bereich methodische Anregungen, aber auch Quellen und Datensammlungen zur Verfügung stellen kann. Institutionelle Strukturen sind der Rahmen, in dem die Akteure agieren, der ihr Handeln strukturiert, dem sie gleichzeitig aber nicht ausgeliefert sind, sondern den sie je nach Position und Umständen aktiv mitgestalten. Institutionen, in denen Wissenschaft gemacht wurde, waren auch vor dem Eintritt der Frauen durch Vorstellungen angemessener Männlichkeit und der Marginalisierung und Feminisierung bestimmter Gruppen und Themen geprägt.
2.1 Rolle und Funktion von Universitäten Erschlossen werden kann das beispielsweise auf der diskursiven Ebene, auf der Universität als Ort der Gesellschaft entworfen wurde und die unter der Frage nach der Rolle und Funktion der Universitäten ein wichtiges Arbeitsfeld der Universitätsgeschichte darstellt.37 So ist es ein grundsätzlicher Unterschied, ob die Universität als Ort demokratisch-inklusiven Lernens verstanden wird und sich internationalem Austausch öffnet oder als nationale Stätte für die Charaktererziehung des jungen Mannes konzipiert ist, das heißt faktisch und symbolisch auf Männer limitiert wird, wie das Heinrich von Treitschke noch kurz vor Einführung des Frauenstudiums in den 1890er Jahren vorgesehen hatte.38 34
35
36 37 38
Vgl. dazu Hausen/Nowotny, Vorwort (Anm. 4), S. 11 f.; Monika Mommertz, Schattenökonomie der Wissenschaft. Geschlechterordnung und Arbeitssysteme in der Astronomie der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000, hg. von Theresa Wobbe, Berlin 2002, S. 31–62. Vgl. Margaret W. Rossiter, Women Scientists in America 1. Struggles and Strategies to 1940, Baltimore 1982, S. 51–73; Steven Shapin, The Invisible Technician, in: American Scientist 77.6 (1989), S. 554–563. Vgl. Asche/Gerber, Universitätsgeschichte (Anm. 3), S. 179–190; Paletschek, Stand (Anm. 15), S. 173. Vgl. ebd., S. 176 f. u. 179–181. Heinrich von Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin 1, hg. von Max Cornicelius, Leipzig 2 1899, S. 252.
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2.2 Gesetze und rechtliche Regelungen Mitentscheidend sind dabei rechtliche Regelungen, weil sie den Zugang zu Bildung kodifizieren. Beginnend mit dem Abitur regeln Gesetze und Erlasse, welchen Gruppen welche Bildungsinstitutionen offenstehen. Formale Studienbeschränkungen für Frauen wurden allerdings erst relativ spät erlassen, was auf ihren defensiven Charakter hindeutet und den Ausschluss als lange Zeit gültige Selbstverständlichkeit auswies: So regelte noch 1886 ein Erlass des preußischen Kultusministers die Nichtzulassung von Personen weiblichen Geschlechts zu den Vorlesungen an den Universitäten,39 bevor 1907/1908 auch in Preußen das Frauenstudium eingeführt wurde. Zudem boten rechtliche Regelungen Spielräume, wie der Erlass zur Zulassung von Frauen zum gastweisen Besuche von Universitätsvorlesungen von 1896 zeigt. Er gestattete es, Frauen zu immatrikulieren – vorbehaltlich des Einverständnisses der betreffenden Lehrer.40 Eine solche Regelung konnte keine einheitliche Umsetzung zur Folge haben. Sie öffnete nicht nur Willkür hinsichtlich der notwendigen Voraussetzungen Tür und Tor,41 sondern sicherte auch den Einfluss jener (männlichen) Inhaber universitärer Machtpositionen, die gegen die Bildungspartizipation von Frauen Position bezogen hatten.42
2.3 Vielfalt der institutionellen Strukturen Wissenschaftliche Forschung war historisch und ist bis heute nicht auf Universitäten limitiert. Vielmehr wurde und wird sie daneben in so unterschiedlichen Umgebungen wie wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereinen, in der Industrie, in Akademien, Pädagogischen und Technischen Hochschulen betrieben, die alle ihre eigenen Entwicklungsgeschichten haben. Damit ist auch die geschlechtergeschichtliche Analyse mit einer Vielzahl an institutionellen Formen konfrontiert, die privat (bürgerliche Geselligkeit), wirtschaftlich oder staatlich organisiert waren. Zu klären ist dabei, ob alle diese Umgebungen ähnlichen Regeln folgten oder sich vielmehr unterschiedliche, unter Umständen auch konträre Geschlechterlogiken nachweisen lassen. Solche Untersuchungen stehen noch ganz am Anfang.
39 40 41
42
Nichtzulassung von Personen weiblichen Geschlechts zu den Vorlesungen an den Universitäten, in: Centralblatt für die gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen 28 (1886), S. 620 f. Zulassung von Frauen zum gastweisen Besuche von Universitätsvorlesungen, in: Centralblatt für die gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen 38 (1896), S. 567. Vgl. Ilse Costas, Von der Gasthörerin zur voll immatrikulierten Studentin. Die Zulassung von Frauen in den deutschen Bundesstaaten 1900–1909, in: Der Weg an die Universität. Höhere Frauenstudien vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Trude Maurer, Göttingen 2010, S. 191–210, hier S. 196–200. Vgl. beispielhaft Schnicke, Disziplin (Anm. 23), S. 455–495.
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2.4 Aufsichtsbehörden und Universitätsgremien Der Einfluss der Kulturministerien und Wissenschaftsbehörden (bzw. ihrer Vorläuferorganisationen) auf die Universitäten und Forschungsinstitutionen unterlag großen Schwankungen zwischen autonomer Selbstverwaltung und direktivem Einfluss – etwa, aber nicht nur, im System Althoff,43 im Nationalsozialismus und während der Reeducation – und hing zum Teil stark von einzelnen Persönlichkeiten ab. Hinzu kommen die akademischen Selbstverwaltungsinstanzen wie Senate, Fakultäten und (später) Dekanate, in denen Berufungen und deren Denominationen vorbereitet und inhaltliche Ausrichtungen beschlossen werden. In allen diesen Institutionen versuchten die Ministerien und Professoren in „enge[r] personelle[r] Verbindung“44 von „Innen“ und „Außen“ die Personalpolitik, Mittelverteilung und Institutsstruktur mit Hilfe von internen Absprachen und Kooptionsverfahren zu gestalten. Seit ihrer Existenz haben auch Hochschulrektorenkonferenzen, studentische Gruppen sowie Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte dabei wechselnden Einfluss.45
2.5 Disziplinen und Subdisziplinen Die gegenstandsbezogene Wissensproduktion wird in den einzelnen Disziplinen geleistet. Neben Institutionen wie Hochschulen oder Forschungseinrichtungen sind Disziplinen im Sinne eines wissenschaftlichen „Kommunikationszusammenhang[es]“,46 als „‚gegenstandsorientierte Tätigkeitssysteme‘“47 zentral, weshalb viele wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten disziplinhistorisch ausgerichtet sind. Disziplinen definieren sich über gemeinsame Gegenstandsbereiche, Fragestellungen und Methoden, wobei gerade die Grenzziehungsarbeit zwischen den Disziplinen und „Boundary Work“48 zu der als nicht-wissenschaftlich klassifizierten Wissensproduktion aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive aufschlussreiche Einblicke in interne Logiken und Hierarchien von Wissenschaften erlaubt. 43
44 45
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48
Vgl. dazu z. B. Bernhard vom Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907. Das „System Althoff“, in: Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreiches, hg. von Peter Baumgart, Stuttgart 1980, S. 9–118. Bernhard vom Brocke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive, Hildesheim 1991. Annette Vogt, Vom Hintereingang zum Hauptportal? Lise Meitner und ihre Kolleginnen an der Berliner Universität und in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Stuttgart 2007, S. 102. Vgl. etwa Andrea Löther (Hg.), Bundeskonferenz der Frauenbeauftragten und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen e. V. Arbeitsplatz Hochschule. Dokumentation der 22. Jahrestagung, 20.–22. September 2010 Trier, Bonn 2011, (13. 09. 2017). Rudolf Stichweh, Wissenschaftliche Disziplinen. Bedingungen ihrer Stabilität im 19. und 20. Jahrhundert, in: Sozialer Raum und akademische Kulturen. Studien zur europäischen Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Jürgen Schriewer, Edwin Kleiner und Christophe Charle, Frankfurt a. M. 1993, S. 235–250, hier S. 241. Martin Guntau und Hubert Laitko, Entstehung und Wesen wissenschaftlicher Disziplinen, in: Der Ursprung der modernen Wissenschaften. Studien zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen, hg. von dens., Berlin 1987, S. 17–89, hier S. 26. Vgl. zu diesem Konzept Paulitz, Mann (Anm. 32), S. 47–50.
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2.6 Arbeitsgruppen und Netzwerke Dasselbe gilt für die jeweiligen Subdisziplinen, wobei hier die personale, thematische und institutionelle Ebene eng miteinander verwoben sind, denn viele inhaltliche Schwerpunkte werden von bestimmten Forschungsverbünden, Arbeitsgruppen und Netzwerken getragen, die relativ abgeschlossen gegen andere sind, auch international. So hat die deutsche Sozialgeschichte etwa frauen- und geschlechtergeschichtliche Themen zwar Mitte der 1980er Jahre in ihre Selbstbestimmungen aufgenommen,49 dafür im Vergleich zu Großbritannien, Österreich oder den USA aber lange gebraucht.50
2.7 Publikationsinfrastrukturen Weil es im wissenschaftlichen Feld „wesentlich darum geht, ‚sich einen Namen zu machen‘“,51 kommen als institutionelle Elemente noch Publikationsinfrastrukturen dazu. Die Untersuchung des themen- und geschlechterspezifischen Zugangs zu prestigeträchtigen Zeitschriften und Publikationsreihen ist essentiell für das Verständnis von universitären Machtstrukturen. Wie Paletschek festgestellt hat, dauerte der Eintritt in die führenden Fachjournale wesentlich länger als der Eintritt in die Universität nach der Einführung des Frauenstudiums: In der 1859 gegründeten Historischen Zeitschrift etwa wurde nicht früher als 1924 der erste Artikel einer Frau veröffentlicht und noch in den 1980er Jahren betrug der Autorinnenanteil lediglich 2,9 %.52 Erst in den 1990er Jahren zeichnete sich eine „zunehmende, wenn auch noch nicht ausgeglichene Teilhabe von Frauen an der academic community ab“.53 Hinzu kam eine langanhaltende „Rezeptionssperre“ gegenüber frauen- und geschlechtergeschichtlichen Themen in traditionellen Zeitschriften,54 die die Macht der diese Organe tragenden Netzwerke spiegelte.55 In einem System, das Verbreitung und häufige Zitate belohnt, besteht diese Macht darin, bestimmte Autor/innen, Themen und methodische Zugänge infrastrukturell privilegieren und andere verhindern zu können. Im Gegenzug bedürfen gerade neue Forschungsrichtungen „Orientierungshilfen“,56 Selbstverständigungen, Überblicke und programmatischer Beiträge, 49 50
51 52 53 54 55 56
Vgl. Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme, Göttingen 2 1986, S. 139–141. Vgl. Ute Frevert, Geschichte als Geschlechtergeschichte? Zur Bedeutung des ‚weiblichen Blicks‘ für die Wahrnehmung von Geschichte, in: Saeculum 43 (1992), S. 108–123, hier S. 116–122; Hanna Schissler, Einleitung. Soziale Ungleichheit und historisches Wissen. Der Beitrag der Geschlechtergeschichte, in: Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, hg. von ders., Frankfurt a. M. 1993, S. 9–36, hier S. 14; Edith Saurer, Frauengeschichte in Österreich. Eine fast kritische Bestandsaufnahme, in: L’Homme 4.2 (1993), S. 37–63, hier S. 40. Pierre Bourdieu, Homo academicus, übs. von Bernd Schwibs, Frankfurt a. M. 2002, S. 32. Vgl. Paletschek, Ermentrude (Anm. 20), S. 184. Ebd., S. 185. Dagmar Freist, Zeitschriften zur historischen Frauenforschung. Ein internationaler Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 97–117, hier S. 98. Vgl. Paletschek, Ermentrude (Anm. 20), S. 184 f. Freist, Zeitschriften (Anm. 54), S. 100.
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um zu weiteren Arbeiten anregen zu können. Zu fragen ist also, wie sich solche Netzwerke herausbildeten, wie sie funktionierten. Welche ergänzenden oder Gegenstrategien sind zu beobachten? Wo konnten frauen- und geschlechtergeschichtliche Forschungsergebnisse wann publiziert werden? Zu klären ist auch, ob die für die Geschlechterforschung in den Geschichtswissenschaften beobachtete Entwicklung von allgemeinen Zeitschriften in der Frühphase hin zu speziellen Zeitschriften57 für alle Fächergruppen gilt. Was wird als institutionelle Handlungs- und Deutungsmacht definiert und wie wird sie gewonnen und behauptet? Beispielhaft sei nur auf Zeitschriften wie Feministische Studien (1983–), Die Philosophin (1990–2005), L’Homme (1990–), Metis (1992–2003) oder die Reihe Geschichte und Geschlechter (1992–) verwiesen, die mit exklusiv aus Frauen bestehenden Herausgebergremien explizit angetreten sind, um erstens Autorinnen und zweitens feministische und geschlechtergeschichtliche Themen „sichtbar zu machen“.58 Die „wissenschaftliche Außenseiterinnenposition“, in der sie sich selbst sahen, konnte dabei auch als Potenzial für Veränderung genutzt werden.59
2.8 Finanzen und Drittmittel Schließlich stellt die Finanzierung der Forschung einen institutionellen Aspekt dar, dem bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist – zu Unrecht, denn er ist hochrelevant sowohl für individuelle Bewegungsspielräume als auch für die Universitäten als Ganze,60 weshalb die Vernachlässigung der ökonomischen Strukturbedingungen von Forschung und Lehre als „empfindliche Lück[e]“ der Universitätsgeschichte beschrieben worden ist.61 Geschlechtergeschichtlich sind monetäre Aspekte erstens deshalb von Bedeutung, weil finanzielle Unterschiede Statusdifferenzen innerhalb der Gruppe der männlichen Hochschullehrer begründeten. So hat die Forschung darauf hingewiesen, dass in Kaiserreich und Weimarer Republik nicht nur zwischen etatisierten und nichtetatisierten Hochschullehrern, sondern die Mitglieder der letzten Gruppe zusätzlich auch dahingehend zu unterscheiden sind, ob sie über eine Assistentenstelle verfügten oder sich lediglich über Kolleggelder finanzieren mussten.62 Entlang dieser Linien verliefen institutionell bedingte Hierarchie- und Abhängigkeitsverhältnisse, deren Niederschläge im Selbstbild und Kollegenverhältnis nachzugehen wäre.63 57 58 59 60
Vgl. ebd., S. 98. Editorial, in: L’Homme 1 (1990), S. 3–5, hier S. 3. Ebd., S. 4. Vgl. dazu Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001, S. 445–514. 61 Vom Bruch, Methoden (Anm. 3), S. 25. 62 Vgl. Christian Jansen, Die soziale Lage der Hochschullehrerschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik im Vergleich. Zum Beispiel Heidelberg, in: Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Kolloquium des Lehrstuhls für Pommersche Geschichte der Universität Greifswald in Verbindung mit der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, hg. von Werner Buchholz, Stuttgart 2004, S. 169–189, hier S. 183. 63 Hinweise dazu bei Paletschek, Berufung (Anm. 19), S. 308.
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Zweitens sind mit Förderstrukturen zumindest in der Universitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts individuelle Karrieren und symbolische Ordnungen verbunden.64 Stipendien etwa sind nicht nur ein wichtiger Baustein für die Reproduktion von Eliten, sondern die Logiken, die ihrer Vergabe zugrunde liegen, lassen auch Rückschlüsse auf den zeitgenössischen Wert der damit geförderten Bildung zu.65 Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass in den USA lange sozial benachteiligte Gruppen von Stipendien ausgeschlossen waren66 und auch in Deutschland Frauen finanziell diskriminiert wurden: Zwar wurden einzelne Stipendien für Studentinnen zum Teil schon früh, das heißt vor der Einführung des Frauenstudiums Mitte des 19. Jahrhunderts, eingerichtet,67 dennoch blieb es auch danach noch strittig, ob sie für die Förderung in Frage kämen, da die Förderinstitutionen für männliche Bewerber geschaffen worden waren.68 Drittens steuert auch die institutionelle Forschungsförderung den Erfolg einzelner Akteure – spätestens nachdem der Umfang eingeworbener Drittmittel mit dem Aufstieg der unternehmerischen Hochschule seit den 1990er Jahren zum Ausweis wissenschaftlicher Exzellenz aufgestiegen war – sowie die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen ganzer Fächer. Empirisch lassen sich dabei ambivalente Beobachtungen machen, denn einerseits stehen Leistungen von Frauen in der Gefahr, nicht anerkannt zu werden, wie etwa Ursula Müller, Professorin für Soziologie in Bielefeld, berichtet: „Die von mir massenhaft eingeworbenen Drittmittel mussten sich lange Zeit gegen den Verdacht wehren, aus politischen und nicht aus wissenschaftlichen Exzellenzmotiven vergeben worden zu sein“.69 Andererseits haben Drittmittel historisch dazu beigetragen, die Frauen- und Geschlechterforschung zu etablieren: „Je mehr Drittmittel mit Projekten aus der Frauen- und Geschlechterforschung eingeworben werden konnten“, stellt Ulla Bock fest, „desto mehr wuchs auch die Aufmerksamkeit, die Kollegen und Kolleginnen diesem Forschungsbereich zollten“.70 Dabei ist es allerdings bezeichnend und institutionengeschichtlich relevant, dass die ersten großen Drittmittelprojekte zur Frauenforschung nicht an Universitäten, sondern an außeruniversitären Einrichtungen angesiedelt waren.71
64 65 66 67 68 69
70
71
So auch Harders, Studies (Anm. 8), S. 12. Vgl. Thomas Adam, Stipendienstiftungen und der Zugang zu höherer Bildung in Deutschland von 1800 bis 1960, Stuttgart 2008, S. 230. Vgl. Jerome Karabel, The Choosen. The Hidden History of Admission and Exclusion at Harvard, Yale, and Princeton, Boston/New York 2005. Vgl. Adam, Stipendienstiftungen (Anm. 65), S. 209. Ebd., S. 212 f. Ursula Müller, Leben lernen, forschen gehen. Eine autobiographische Beschreibung, in: Wege in die Soziologie und die Frauen- und Geschlechterforschung. Autobiographische Notizen der ersten Generation von Professorinnen an der Universität, hg. von Ulrike Vogel, Wiesbaden 2006, S. 274–287, hier S. 285. Bock, Pionierarbeit (Anm. 21), S. 137. So auch Ulrike Vogel, Nachwort. Frauen- und Geschlechterforschung und die Soziologie, in: Wege in die Soziologie und die Frauen- und Geschlechterforschung. Autobiographische Notizen der ersten Generation von Professorinnen an der Universität, hg. von ders., Wiesbaden 2006, S. 289–307, hier S. 302. Vgl. Bock, Pionierarbeit (Anm. 21), S. 42.
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3. WISSENSBESTÄNDE Die dritte Ebene, auf der vermessen werden kann, welche Bedeutung Geschlecht für Wissenschaft und Universität hat, ist die thematisch-inhaltliche Ausrichtung ihrer Fächer in der Forschung wie der Lehre; also zum Beispiel die Frage, welche Themen relevant sind.
3.1 Behandelte und marginalisierte Themen Dabei kann man verschiedene Aspekte in den Mittelpunkt stellen: erstens die Themen, die ausgeklammert wurden und zweitens die Fragestellungen, die bevorzugt behandelt worden sind. So lässt sich fachgeschichtlich feststellen, dass jene Themen, die als weiblich galten, mit der fortschreitenden Professionalisierung der Geschichtswissenschaft als unwissenschaftlich ausgeschlossen und vom Mainstream der Forschung nicht weiterverfolgt worden.72 Verwissenschaftlichung bedeutete hier eine inhaltliche Verengung, wie Barbara Stollberg-Rilinger ausgeführt hat: In einem Aufsatz in der Historischen Zeitschrift wendete sie sich gegen die Vorstellung, dass Frauengeschichte in den 1970/80er Jahren aufgekommen sei und stellte vielmehr fest, dass Geschlecht bereits eine Kategorie der Zivilisationsgeschichte des 18. Jahrhunderts gewesen ist. In der Aufklärung sei das Geschlechterverhältnis nicht nur ein fester Bestandteil des Naturrechts, zum Beispiel im Rahmen der Diskussionen um die Ehe, gewesen,73 sondern es habe daneben auch ein breites Verständnis von Geschichte vorgeherrscht, das auch die Variabilität der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern im Blick hatte.74 So bezog etwa Herder das Geschlechterverhältnis in seine „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ von 1784 ein und sprach davon, dass es gelte, eine Geschichte des Mannes und des Weibes zu schreiben.75 Dann aber habe um 1800 – das ist der gleiche Zeitraum, in dem die geschichtsschreibenden Frauen aus der Disziplin hinausgedrängt wurden – eine Auslagerung von Frauen aus der Geschichte stattgefunden. Ihr ruhendes, gleichbleibendes Wesen könne besser von der Anthropologie behandelt werden, während der rastlose, bewegte Mann in der Geschichte zu Hause sei: „Mit der Historisierung der Welt des Mannes, des Reichs der sittlichen Freiheit, so könnte man überspitzt formulieren, korrespondierte die Biologisierung der Frau.“76 Insgesamt stand die Geschlechtergeschichte im 18. Jahrhundert auch nicht im Zentrum der Überlegungen zur Geschichte und es dominierten weitgehend essentialistische Konzepte von überzeitlicher, wahrer Weiblichkeit,77 aber solche Ansätze waren vorhanden und 72 73
74 75 76 77
Vgl. Epple, Geschichtsschreibung (Anm. 31); Kümper, Historikerinnen (Anm. 31). Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Väter der Frauengeschichte? Das Geschlecht als historische Kategorie im 18. und 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 39–71, hier S. 42. Vgl. ebd., S. 44–59. Herder – zit. nach ebd., S. 50. Ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 50.
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wurden von wichtigen Akteuren innerhalb des Faches vertreten. Beides ging im 19. Jahrhundert verloren, als die Geschlechtergeschichte aus der Disziplin verdrängt und nur noch von Autor/innen betrieben wurde, die am Rand des Faches standen:78 „‚Geschlechtergeschichte‘ wurde zu einem Widerspruch in sich, wenn man mit ‚der Geschichte‘ nur mehr die Männer und mit ‚dem Geschlecht‘ nur mehr die Frauen meinte“.79 Das war kein Zufall, sondern spiegelte eine im Vergleich zur Aufklärung strukturell veränderte Geschichtskultur wider.80 Sie wurde getragen von einer Gruppe zumeist national-preußisch gesinnter Historiker, die als politische Schriftsteller oder Parlamentsmitglieder oft selbst direkt in politische Prozesse involviert waren,81 und flankiert von Fachorganen, die, wie Heinrich von Treitschke in einem Vorwort zur Historischen Zeitschrift von 1896 ausführte, gezielt eine bestimmte Art von Geschichte förderte und alle anderen marginalisierte: Nach dem übereinstimmenden Gefühle aller Völker [. . .] sind die Männer der That die eigentlich historischen Helden.82
3.2 Kategorien der Forschung Eine an Inhalten ausgerichtete geschlechtergeschichtliche Wissenschaftsgeschichte ist nicht komplett ohne die Problematisierung dessen, was in Forschung und Lehre in den jeweils behandelten Themen unter Frauen und Männern, Weiblichkeit und Männlichkeit verstanden wird. Nicht nur das „weiße Subjekt“ der Frauenbewegung ist in diesem Sinne kritisiert worden, weil es schwarze und andere nicht-weiße Subjekte vernachlässigt habe,83 sondern auch die Geschichte von Männlichkeiten bemüht sich um eine Differenzierung ihres Gegenstandes entlang der Kategorien Klasse, Ethnizität/race, Körper, Alter, Nationalität, Religion oder Sexualität.84
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Vgl. ebd., S. 65 f. Ebd., 68. Vgl. Horst Walter Blanke und Jörn Rüsen (Hg.), Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens, Paderborn u. a. 1984. Vgl. Ingrid Voss, Die preußische Ausrichtung der deutschen Historiographie im 19. Jahrhundert, in: Historismus, Sonderweg und dritte Wege, hg. von Gérard Raulet, Frankfurt a. M. 2001, S. 32–50. Heinrich von Treitschke, Vorbemerkung, in: Historische Zeitschrift 76 (1896), S. 1–5, hier S. 3. Vgl. Isabell Lorey, Der weiße Körper als feministischer Fetisch. Konsequenzen aus der Ausblendung des deutschen Kolonialismus, in: Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus, hg. von Martina Tißberger, Gabriele Dietze, Daniela Hrzán u. a., Berlin 2006, S. 61–84; Gabriele Dietze, Weiße Frauen in Bewegung. Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken, Bielefeld 2013. Vgl. z. B. Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt a. M./New York 2008; Jeff Hearn, Vernachlässigte Intersektionalitäten in der Männerforschung: Alter(n), Virtualität, Transnationalität, übs. von Thorsten Möllenbeck, in: Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielsichtigen Konzepts, hg. von Helma Lutz, Maria Teresa Herrera Vivar und Linda Supik, Wiesbaden 2010, S. 105–123.
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3.3 Quellen Daneben ist von einem breiten Verständnis von Wissensbeständen auszugehen, das auch die herangezogenen Quellen, die angewandten Methoden und die grundlegenden Analysesysteme sowie deren unterschiedliche und sich wandelnde Bewertungen miteinbezieht. Die jüngere Wissenschaftsgeschichte hat darauf hingewiesen, dass die universitäre Wissensproduktion in ihren epistemologischen Prämissen und als Produkt der sozialen Formationen begriffen werden muss, die sie hervorbringen.85 Ein wesentlicher Teil dieser Arbeit besteht in der geschlechtergeschichtlichen Wissenschaftskritik. Dazu einige kurze Beispiele: Dass die Quellen oder Daten, die die Grundlage der Forschung bilden, deren Ergebnisse mitbestimmen, ist weithin bekannt. Gleichwohl zeitigt diese Einsicht erhebliche Konsequenzen. So lässt sich feststellen, dass viele empirische Untersuchungen in der klinischen Psychologie nur mit männlichen Probanden durchgeführt werden, weshalb sich die meisten therapeutischen Empfehlungen unreflektiert an ihnen ausrichteten.86 Andersherum hat der Fokus auf weibliche Hormone in der Biomedizin des 20. Jahrhunderts dazu geführt, dass primär weibliche Körper als hormongesteuert und therapiebedürftig wahrgenommen werden,87 während das für den männlichen Körper zumindest nicht in gleicher Weise gelte, wie nicht zuletzt die Schwierigkeiten bei der Entwicklung und Einführung der sogenannten Pille für den Mann belegen.88 Auch die Kanons der Literaturwissenschaften und der Kunstgeschichte sind von Gattungshierarchien durchzogen, in denen sich Bedeutung mit Geschlecht verbindet: Während – abhängig von Ort und Epoche – Briefe und Porträts wegen ihrer vermeintlichen Emotionalität und Nachahmung als weibliche Gattungen galten, wurden Romane und Historiengemälde wegen der Entwicklungsfähigkeit der Protagonisten und der für sie notwendigen Inventio als männlich aufgefasst.89 Wenn dabei zudem traditionell fast ausschließlich Werke von Männern berücksichtigt und Arbeiten von Frauen 85
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Vgl. Volker Roelcke, Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Universitäten und Disziplinen in der modernen Wissenschaftsgesellschaft, in: Wissenschaften im 20. Jahrhundert: Universitäten in der modernen Wissensgesellschaft, hg. von dems. und Jürgen Reulecke, Stuttgart 2008, S. 9–16. Vgl. Ute Habel, Emotionen und Geschlecht. Verhalten, Erleben und neuronale Korrelate, in: Gender schafft Wissen. Wissenschaft Gender? Geschlechtsspezifische Unterscheidungen und Rollenzuschreibungen im Wandel der Zeit, hg. von Dominik Groß, Kassel 2009, S. 79–94, hier S. 79. Vgl. Ilana Löwy, Gender and Science, in: Gender & History 11.3 (1999), S. 514–527, hier S. 516–522. Vgl. dazu nur „Damit in den Frauen Ruhe herrscht“. Die Pille für den Mann ist vorerst gescheitert. Wissenschaftlerin Lisa Malich über Verhütung und Männer, die mehr Verantwortung übernehmen sollten, in: Tagesanzeiger, 17. 11. 2016, (20. 01. 2017). Vgl. nur Sigrid Schade und Silke Wenk, Inszenierungen des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, hg. von Hadumod Bußmann und Renate Hof, Stuttgart 1995, S. 340–407; Renate von Heydebrand und Simone Winko, Arbeit am Kanon: Geschlechterdifferenz in Rezeption und Wertung von Literatur, in: Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, hg. von Hadumod Bußmann und Renate Hof, Stuttgart 1995, S. 206–261; Ina Schabert, Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Eine neue Darstellung aus Sicht der Geschlechtergeschichte, Stuttgart 2006.
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als unwichtig eingestuft wurden, beeinflusst das die Definition künstlerischer Leistung: Sie wird mit der Produktion von Frauen nur selten verbunden, womit „unsere Wahrnehmung des literarischen Lebens [. . .] unvollständig bleibt“.90
3.4 Methoden Hinsichtlich der Methoden lassen sich neben der aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammenden abstrakten Zuschreibung, dass Methodengebrauch ein Signum männlicher Wissenschaft sei,91 auch ganz praktische Vergeschlechtlichungen belegen. In der Nationalökonomie der Jahrhundertwende wurden beispielsweise Frauen zugeschriebene Charakteristika als Grundlage neuer Erkenntnisse aufgefasst. Weibliche Sympathie und Zuneigung galten Heinrich Herkner als zentral, um die Sozialfraktionen des Kaiserreiches zu erforschen, denn damit könne bei Befragungen der Zugang auch zu Arbeiterinnen gesichert werden; ein Zugang, der männlichen Wissenschaftlern nicht in gleichem Umfang möglich sei.92 Diese wissenschaftsgenerierende Sicht auf vermeintlich weibliche Eigenschaften ist sicher eine Ausnahme im wissenschaftlichen Denken der Zeit und ihr liegt ein essentialistisches Weltbild zugrunde. Sie verdeutlicht aber, dass die Vergeschlechtlichung wissenschaftlicher Methoden im Einzelfall Frauen auch fördern und in begrenztem Maße wissenschaftlich integrieren konnte.93 Und sie schlug sich in der geleisteten Forschung insofern nieder, als etwa die Hälfte der Frauen, die an der Berliner Universität zwischen 1906 und 1936 in Nationalökonomie bei Herkner, Gustav Schmoller und anderen promoviert wurden, sozialpolitische Themen verfolgt hatten, die sich mit der Lebenswelt von Frauen, Männern und Kindern beschäftigten, und dabei zum Teil persönliche Begegnungen eingeflossen sind. Bei den männlichen Promovenden war das nur bei 5,9 % der Fall, und Interviews bezogen sie überhaupt nicht mit ein.94 Daneben hat die Forschung darauf hingewiesen, dass der Ausschluss von Frauen vom männlich definierten Kern der Geschichtswissenschaft zu fachlichen Innovationen geführt hat. Ist das durch die Fächerwahl belegt worden, in denen Wissenschaftlerinnen oft an der Ausbildung neuer und oft noch marginalisierter Subdisziplinen beteiligt waren,95 gilt das auch hinsichtlich des methodischen Vorgehens, wenn von ihnen mit Gerichtsprotokol-
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Claudia Benthien und Inge Stephan, Einleitung, in: Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert, hg. von dens., Köln/Weimar/Wien 2005, S. 9–19, hier S. 16. Vgl. Schnicke, Disziplin (Anm. 23), S. 349–361. Vgl. Marynel Ryan Van Zee, „Womanly Qualities“ and Contested Methodology: Gender and the Discipline of Economics in Late Imperial Germany, in: Gender & History 22.2 (2010), S. 341–360, hier S. 346–350. Vgl. ebd., S. 343 u. 351–354. Vgl. Sabine Betram, Frauen promovieren: Doktorandinnen der Nationalökonomie an der Berliner Universität 1906–1936, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 11 (2008), S. 111—133, hier S. 120–125. Vgl. Heike Anke Berger, Deutsche Historikerinnen 1920–1970. Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik, Frankfurt a. M./New York 2007.
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len, Erinnerungen oder Oral History am Rand des Faches neue Quellengattungen erschlossen wurden.96
3.5 Analysesysteme Auch Analysesysteme wie Periodisierungen tragen dazu bei, wissenschaftliches Wissen geschlechtlich zu strukturieren. So hob etwa Joan Kelly-Godal mit ihrer berühmt gewordenen Frage „Did Women Have a Renaissance?“ von 1977 hervor, dass männliche Geschichte oft allgemein als menschliche Geschichte gilt, denn die mit dieser Epoche verbundene Subjektwerdung war weitgehend auf Männer beschränkt. Kelly-Godal legte dar, dass Frauen von der Befreiung des Individuums aus politischen, sozialen, religiösen oder ideologischen Zwängen, die sie als Kennzeichnen der Renaissance verstand, nicht in der gleichen Weise profitierten oder sogar mit Einschränkungen ihrer Rechte konfrontiert waren.97 Auch wenn ihre Thesen im Einzelnen nicht unwidersprochen geblieben sind,98 verdeutlichen sie, welche auch den kulturellen Ort der Geschlechter bestimmende, ordnende Macht Periodisierungen als wissenschaftlichen Instrumenten innewohnt – nicht umsonst war die Frage einer feministischen Gegenperiodisierung der Geschichte ein Topos der Diskussion: „Eine neue Periodisierung wurde von so gut wie allen gefordert, die bei der Konstituierung der neuen Frauengeschichtsschreibung führend waren“.99
4. AKADEMISCHE PRAKTIKEN Obwohl auch die anderen Analyseachsen Praktiken beinhalten, sind sie als eigener Punkt hier aufzuführen, denn Wissenschaften bestehen nicht nur aus intellektueller Reflexion, sondern konstituieren sich durch die soziale und räumliche Interaktion konkreter Individuen. Diese Interaktionen folgen expliziten und impliziten Regeln, die über konkrete, auch epistemologische Ausformungen von Wissenschaften mitentscheiden und deren Beherrschung für die Zugehörigkeit zu einem disziplinären Zirkel ausschlaggebend sein kann. Akademische Praktiken sind damit eingebunden
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So das Fazit bei Andreas Kappeler, Der Schatten der Männer. Historikerinnen im Zarenreich, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N. F. 62.4 (2014), S. 481–531, hier S. 520. 97 Vgl. Joan Kelly-Godal, Did Women Have a Renaissance?, in: Becoming Visible. Women in European History, hg. von Renate Bridenthal und Claudia Koonz, Boston 1977, S. 137–164. 98 Vgl. nur Theresa Coletti, „Did Women Have a Renaissance?“ A Medievalist Reads Joan Kelly and Aemila Lanyer, in: Early Modern Women 8 (2013), S. 249–259; Susanna Burghartz in: Claudia Opitz-Belakhal, Monika Mommertz und Susanna Burghartz, Epochengrenzen – Epochenbilanzen: Brüche und Persistenzen in der Geschlechtergeschichte der Renaissance, in: L’Homme 25.2 (2014), S. 121–128, hier S. 124–125. 99 Gisela Bock, Geschlechtergeschichte auf alten und neuen Wegen. Zeiten und Räume, in: Wege der Gesellschaftsgeschichte, hg. von Jürgen Osterhammel, Dieter Langewiesche und Paul Nolte, Göttingen 2006, S. 45–66, hier S. 48.
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in ein Ringen um Deutungshoheit und Macht.100 Weil das Soziale von Wissenschaften weder im Subjektiven, noch in den gesellschaftlichen Normen aufgeht, müssen Praktiken als kollektive Handlungsweisen eines „spezifische[n] ‚praktische[n]‘ Können[s]“ analysiert werden.101 Dabei stehen mehr als nur einmalige Handlungen im Zentrum, nämlich Routinen, die als an Körper gebundene, „‚wissensbasierte Tätigkeit[en]‘“ aufgefasst werden.102 Damit kommt eine ganze Reihe an Praktiken in Betracht, von denen die folgenden exemplarisch genannt seien.
4.1 Lehre Obwohl noch immer die Forschung als Erzeugung von akademischem Wissen im Mittelpunkt der Wissenschaftsgeschichte steht, wenn es um Wissensbestände geht,103 muss auch die Lehre als deren Vermittlung ernstgenommen werden. Sie stellt nicht nur einen wichtigen Teil der zeitgenössischen Praktiken von Wissenschaft an den Universitäten dar, sondern kann auch Einblicke in die Methoden der Generierung akademisch anerkannten Wissens gewähren. Nicht umsonst hat sich die Geschlechtergeschichte der Geschichtswissenschaft schon früh mit dem historischen Seminar beschäftigt und es als „masculine marketplace of knowledge“ beschrieben.104 Die historischen Seminare boten den ausschließlich männlichen Teilnehmern ein gleichermaßen intensives wie intimes Training der Quellenkritik in ausgewählter Runde, anfangs in den Privathäusern der Professoren, und beförderten die Etablierung einer wirkmächtigen Trennung zwischen im Seminar ausgebildeten, professionellen Historikern und Amateuren.105 Lehre ist daher als „Anwesenheitsinteraktion“106 ernst zu nehmen und auf ihre Formen von Wissenschaftsperformanz sowie die praktische Erkenntnisproduktion unter der halb-öffentlichen Beobachtung Dritter hin zu untersuchen. Daneben kann der Blick auf die Lehre zusätzliche Akteursgruppen in der Produktion wissenschaftlichen Wissens in den Fokus rücken: Für die Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten ist die Lehre beispielsweise zentral gewesen, denn schon seit den 1970er Jahren fanden regelmäßig Veranstaltungen dazu statt. Wie die Analyse von Kommentierten Vorlesungsverzeichnissen für eine Auswahl an Historischen Seminaren zeigt, wurde sie getragen von durch Publikationen einschlägig ausgewiesenen Professorinnen, aber auch durch zum
100 Vgl. Bourdieu, Homo (Anm. 51). 101 Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32.4 (2003), S. 282–301, hier S. 289. 102 Ebd., S. 292. 103 Vgl. als wichtige Ausnahme Gabriele Lingelbach (Hg.), Vorlesung, Seminar, Repetitorium. Universitäre Lehre im historischen Vergleich, München 2006. 104 Smith, Gender (Anm. 23), S. 111. 105 Vgl. ebd., S. 105–116. 106 Marian Füssel, Vom Nutzen der Universitätsgeschichte. Zehn historische Schlaglichter, in: Zukunftslabor Lehrentwicklung. Perspektiven auf Hochschuldidaktik und darüber hinaus, hg. von Markus Weil, Münster/New York 2018, S. 99–111, S. 102.
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Teil später aus der Universität ausgeschiedene Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, die durch die ausschließliche Analyse von Veröffentlichungen unsichtbar bleiben würden, sowie durch studentische Initiativen und teilweise auch durch männliche Lehrende.107
4.2 Öffentliche Foren und Kongresse Analog zu den Publikationsformen wären daneben auch Fachkongresse und Tagungen als institutionelle Praxisformen von Universität und Wissenschaft zu analysieren, die über implizite und vergeschlechtlichte Hierarchien aufklären können: Wer vertritt Forschungsergebnisse, die kooperativ erarbeitet wurden – und wie? Wem stehen welche Kongressformate offen und wie werden sie von welchen (Status-)Gruppen genutzt?108 Welche Gesprächs- und Kritikkulturen gibt es? Wie sind die Sitz- und Raumordnungen gestaltet und welche Hierarchiezuweisungen sind damit verbunden? Öffentliche Foren wie Tagungen und Kongresse eignen sich zudem dazu, Themenkonjunkturen und aktuell geltende Kriterien innovativer Forschung oder wissenschaftlicher Leistung generell zu erschließen.
4.3 Rituale und Zeremonien Ein weiterer Bereich, in dem sich die symbolischen Geschlechterordnungen der Wissenschaften spiegeln, ist jener der universitären Feiern zu Jubiläen oder Festtagen. Solche Veranstaltungen dienen der „Aufrechterhaltung eines kulturell geformten Selbstbildes einer Gruppe“ und sind deshalb zentral, weil die erwähnten Institutionen selbst symbolische Ordnungen sind.109 Die Quellen zu Leopold Rankes 50. Promotionsjubiläum 1867 oder anlässlich des 50. Semesters der historischen Übungen von Heinrich von Sybel 1874 zeigen, dass den Zeitgenossen die gemeinschaftsstiftende Funktion solcher Feste sehr bewusst war und sie gerade ihretwillen veranstaltet wurden: Ausgerichtet von Festkomitees, die fein austariert aus verschiedenen Schülergenerationen bestanden, wurde Wissenschaft als männliche Gemeinschaft inszeniert und physisch erlebbar gemacht – durch emotionale Vergemeinschaftung und kollektive Berührungen, durch gemeinsamen Alkoholkonsum und die Visualisierung der Gruppenmitglieder in Bilderalben. Dabei wurden nicht nur Frauen, darunter auch die Ehefrauen, selbstverständlich ausgeschlossen, sondern auch „fremde Elemente“,110 das heißt jene Akteure, die explizit nicht zum inneren Kreis um den als Fachgründer 107 Vgl. Schaser/Schnicke, Marsch (Anm. 22), S. 93–105. 108 Vgl. dazu auch Harders, Studies (Anm. 8), S. 12. 109 Karl-Siegbert Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, hg. von Gerhard Göhler, Baden-Baden 1994, S. 47–84, hier S. 57. 110 Georg Waitz, Die Historischen Übungen zu Göttingen. Glückwunschschreiben an Leopold von Ranke zum Tag der Feier seines Funfzigjährigen Doctorjubiläums, Göttingen 1867, S. 5.
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verehrten Lehrer gehören sollten.111 Auf der anderen Seite konnten Frauen noch im 18. Jahrhundert keinen Disputationen beiwohnen – auch ihren eigenen nicht: Nachdem Dorothea Schlözer durch ihren Vater, den berühmten Göttinger Professor August Ludwig Schlözer, 1787 als zweite deutsche Frau ausnahmsweise eine Promotion ermöglicht worden war, musste sie ihrer Disputationsfeier fernbleiben, weil sie als Ritual unter Männern konzipiert war.112
4.4 Sport und körperliche Wettkämpfe Symbolische Gemeinschaften wurden auch über Rituale wie körperliche Wettkämpfe, in denen akademische Männlichkeit erworben und öffentlich bewiesen werden konnte, konstituiert. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Mannwerdung durch Sport für britische und deutsche Studenten ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität, allerdings unterschieden sie sich in der Wahl ihrer Mittel: Während englische Studenten sich durch Mannschaftssportarten wie Rudern als männlich-nationale Elite profilierten, stand bei deutschen Studenten die Mensur als Symbol militärischer Wehrhaftigkeit und Kameradschaft im Mittelpunkt. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor Athletik unter Studenten im Vereinigten Königreich zwar an Bedeutung, in Deutschland aber stieg ihr Wert für die Ausbildung akademischer Männlichkeit noch.113 Praktiken wie diese prägten den sozialen Raum der Universität und ihre symbolischen Ordnungen, denn sie konturierten die Formen, in denen sich die Akteure begegneten, und die Institutionen, an denen Wissenschaft stattfand. Aspekte wie diese erlauben die differenzierte Untersuchung akademischer Männlichkeiten, die weitere Kategorien wie Körper und Klasse im Sinne einer intersektionalen Analyse miteinbeziehen.
5. SYMBOLISCHE ORDNUNGEN Als fünfte Analyseachse der Geschlechtergeschichte der Wissenschaften sind symbolische Ordnungen, das heißt die Frage nach den spezifischen Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit, nach ihren kulturellen Rahmungen wie die geschlechterspezifischen Bewertungen wissenschaftlicher Leistungen, zentral. Dabei geht es um Formen oft subtiler Hierarchiezuweisungen. Sie offenbaren sich wesentlich in Form von Kategorien und Metaphern, in denen Wissenschaft gedacht wurde. Greber sprach deshalb 111 Vgl. zu beiden genannten Feiern Falko Schnicke, Rituale der Verkörperung. Seminarfeste und Jubiläen der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63.4 (2015), S. 337–358. 112 Bärbel Kern und Horst Kern, Madame Doctorin Schlözer. Ein Frauenleben in den Widersprüchen der Aufklärung, München 1988; Elke Pilz, Dorothea Schlözer – Doktorin der Philosophie, in: Bedeutende Frauen des 18. Jahrhunderts. Elf biographische Essays, hg. von ders, Würzburg 2007, S. 139–156; Schnicke, Disziplin (Anm. 23), S. 83–87. 113 Vgl. Sonja Levsen, Constructing Elite Identities. University Students, Military Masculinity and the Consequences of the Great War in Britain and Germany, in: Past & Present 198.1 (2008), S. 147–183.
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davon, „gender als implizites Element der Wissensproduktion und -organisation“ zu untersuchen.114 Die sich wandelnden Auffassungen von Wissenschaftlichkeit selbst zu historisieren, ist eine in der Wissenschaftsgeschichte insgesamt noch viel zu wenig verfolgte Perspektive.115
5.1 Konzeptionen von Geschlecht Grundlegend sind die gesellschaftlich dominanten Vorstellungen von Geschlecht, weil sie platzanweisende Funktion haben. An dieser Stelle konvergiert die allgemeine Frauen- und Geschlechtergeschichte am deutlichsten mit der Geschlechtergeschichte der Wissenschaften, denn die bürgerliche Geschlechterordnung umfasste bereits seit ihrer Etablierung um 1800 die Zuschreibung von Vernunft und Wissen als männlich, die von Empfindung und Religiosität als weiblich,116 was Einfluss auf die Konzeption von Wissenschaftlichkeit hatte. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die wissenschaftliche Eignung noch offen an Geschlechterstereotype geknüpft, wie die Interviews zeigen, die Hans Anger in den 1950er Jahren geführt hat. Die teilnehmenden Hochschullehrer befanden die Stimmen von Frauen als zu schwach, um Professorinnen (und damit Kolleginnen) werden zu können, und urteilten, sie könnten sich auf dem Katheter nicht behaupten, weil sie Frauen seien.117
5.2 Wissenschaftsmetaphern Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Art und Weise, in der über Wissenschaften und wissenschaftliches Arbeit von den Vertretern einzelner Disziplinen selbst gesprochen wird, weshalb ihr einige Aufmerksamkeit zugekommen ist. Über die „Metaphorizität des Wissenschaftsdiskurses“118 lassen sich nämlich die Dimensionen vor-inhaltlicher Definitionen von Wissenschaft erschließen. Die Germanisten und Klassischen Philologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwandten etwa eine Reihe von Konzept- als auch Methodenmetaphern, die von Sexualisierungs- über Fortpflanzungs-, Geburts- und Verwandtschafts- bis hin zu 114 Greber, Grundüberlegungen (Anm. 2), S. 20. 115 Diese Forderung bei: Hans Schleier, Fragen zum Verwissenschaftlichungsprozeß der modernen Geschichtswissenschaft. Kommentar zu Horst Walter Blanke, in: Geschichtsdiskurs 2. Anfänge modernen historischen Denkens, hg. von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin, Frankfurt a. M. 1994, S. 67–72, hier S. 67–68. Ausnahmen stellen u. a. folgende Arbeiten dar: Bruno Latour und Steve Woolgar, Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills 1979; Andrew Pickering (Hg.), Science as Practice and Culture, Chicago 1992; Lorraine Datson und Peter Galison, Objectivity, New York 2007. 116 Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, hg. von Werner Conze, Stuttgart 1976, S. 363–393, hier S. 368. 117 Vgl. Hans Anger, Probleme der deutschen Universität. Bericht über eine Erhebung unter Professoren und Dozenten, Tübingen 1960, S. 451–502. 118 Greber, Grundüberlegungen (Anm. 2), S. 21.
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Bergbau- und Kriegsmetaphern reichten. Wenn sie damit unter anderem die literarischen Texte, mit denen sie arbeiteten, als sexuell verfügbare Jungfrauen entwarfen, ihre akademische Produktion als Geburt imaginierten oder ihre wissenschaftliche Ausbildung und Karriere als homosozial-männliche Sozialisation beschrieben, vergeschlechtlichten sie als diskurmächtige Akteure ihre Disziplinen und sexualisierten deren Vorgehensweisen, weil sie sie personell und heuristisch als männliches Betätigungsfeld festlegten. Semantiken wie diese verdeutlichen, wie sich die männliche Kodierung von Wissenschaften in ihrem Alltag manifestierte, in welcher Form sie den handelnden Akteuren begegnete und von ihnen gestaltet wurde. Wissenschaftsgeschichte als Metaphernanalyse kann damit ein Schlaglicht auf das „doing gender“ von Wissenschaft werfen und verdeutlichen, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht vom „doing science“ der Germanisten und Klassischen Philologen zu trennen war.119
5.3 Raum- und Körperordnungen Eine andere grundlegende Ordnung betrifft den Ort, an dem Wissenschaft betrieben wird und die Frage, wer sie wo betreibt. So ist es etwa auffällig, dass die Gegner des Frauenstudiums in den 1890er Jahren die Einführung von Frauenuniversitäten forderten, ohne dabei auf das historische Beispiel der 1850–52 in Hamburg existierenden „Hochschule für das weibliche Geschlecht“ zu rekurrieren, um den Einzug von Frauen an den bestehenden Universitäten noch zu verhindern. Treitschke regte in diesem Zusammenhang einerseits an, eigene Hochschulen für Frauen einzurichten120 und warnte andererseits davor, unsere Universitäten der Invasion der Weiber preiszugeben und dadurch ihren ganzen Charakter zu verfälschen.121 Aus der Kombination beider Positionen wird ersichtlich, dass es ihm – wie vielen anderen auch – mit seiner Forderung nach Frauenuniversitäten nicht um emanzipatorische Teilhabe ging, sondern um das genaue Gegenteil, nämlich symbolische Abschottung durch räumliche Trennung. Mit Positionen und Handlungen wie diesen sollte das Prestige der traditionellen männlichen Universität verteidigt werden, das durch den Einzug von Frauen als gefährdet angesehen wurde. Dafür wurde auf einer rigiden Raum- und Körperordnung bestanden, die präventiv eine physische Segregation der Geschlechter selbst für den Fall aufrechterhalten wollte, dass das Frauenstudium eingeführt würde. Dahinter stand der Gedanke, dass körperliche Nähe von Frauen eine symbolische Nähe zur männlich kodierten Wissenschaft nahegelegt und diese kompromittiert hätte. Für Großbritannien konnte Sophie Forgan zeigen, dass selbst in einem nationalen Kontext, in dem akademische Bildung für Frauen etabliert war, geschlechterspezifische Raum- und Körperordnungen von zentraler Bedeutung geblieben waren. So 119 Vgl. dazu detailliert mit allen Nachweisen in diesem Band: Falko Schnicke, Wissenschaftsmetaphern. Zur männlichen Kodierung der Germanistik und Klassischen Philologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 69–95. 120 Vgl. Treitschke, Politik (Anm. 38), S. 257–258. 121 Ebd., S. 252.
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konstatiert sie, dass die klassischen Colleges in Oxford und Cambridge nur für Männer zugänglich waren und sich Frauen dort nur in männlicher Begleitung aufhalten durften.122 Frauencolleges stellten dagegen städtisch und architektonisch separierte Einheiten dar, die oft abgelegen am Stadtrand situiert waren.123 Die ländliche Ruhe sollte nicht zuletzt auf vermeintlich weibliche Bedürfnisse reagieren und Frauen helfen, sich vor der intellektuellen Überforderung zu schützen, die ein Studium für sie bedeuten könnte: „Bemerkenswert ist, daß in frühen Frauencolleges wie etwa in Somerville, Girton und Newham Krankenhausabteilungen existierten, um solchen Ängsten entgegenzuwirken. Allerdings konnte diese auch umgekehrt gerade als eine Bestätigung der behaupteten weiblichen Zerbrechlichkeit wirken“.124 Wenn Frauen und Männer in denselben Gebäuden unterrichtet wurden, bedeutete auch das keine Gleichbehandlung: „Am Ende einer Vorlesung konnte es sogar vorkommen, daß der Professor die Damen aus dem Hörsaal [. . .] eskortierte, als führte er sie durch feindliches Gelände.“125 Am University College London wurden Frauenund Männerkurse zudem eine halbe Stunde versetzt terminiert, damit sich beide Gruppen nicht begegneten.126 In solchen Organisations- und Nutzungsprinzipien von Räumen spiegeln sich nicht nur gesellschaftliche Machtstrukturen, sondern wird auf symbolischer Ebene auch vermittelt, wie sehr Männer als das eigentliche Subjekt von Wissenschaft verstanden wurden.
5.4 Traditionsbildung und Fachgeschichtsschreibung Als letztes Beispiel symbolischer Ordnungen ist die Fachgeschichtsschreibung zu erwähnen, die deshalb so wichtig ist, weil ihre Kategorien und Grenzziehungen wesentlich mitdefinieren, was unter Wissenschaft verstanden wird und wer sie legitim betreibt. Fachgeschichtsschreibung ist Teil sowohl der Disziplinbildungsprozesse als auch der gesellschaftlichen Erinnerungsproduktion127 und war historisch an der Nationalisierung und darauf folgend an der Vergeschlechtlichung von Wissen beteiligt.128 Die Frauenbewegung hat das früh kritisiert und auf der ersten Sommeruniversität für Frauen 1976 etwa zu Recht beklagt, dass Frauen bislang „weder Objekt 122 Vgl. Sophie Forgan, Eine angemessene Häuslichkeit? Frauen und die Architektur der Wissenschaft im 19. Jahrhundert, übs. von Kira Kosnick, in: Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Theresa Wobbe, Bielefeld 2003, S. 137–157, hier S. 139. 123 Vgl. ebd., S. 141–145. 124 Ebd., S. 142. 125 Ebd., S. 147. 126 Vgl. ebd. 127 Vgl. zum durchaus nicht unproblematischen Verhältnis beider Hartmut Bergenthum, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskulturen. Bemerkungen zur neueren Theoriedebatte, in: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, hg. von Günter Oesterle, Göttingen 2005, S. 121–162. 128 Vgl. Maria Grever und Kees Ribbens, The Dynamics of Memories and the Process of Canonization, in: The Gender of Memory. Cultures of Remembrance in Nineteenth- and TwentiethCentury Europe, hg. von Sylvia Paletschek und Sylvia Schraut, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 253–266, hier S. 254–257.
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noch Subjekt der Wissenschaft“ gewesen seien.129 Konsultiert man allerdings die biographischen Lexika zur Geschichtswissenschaft lässt sich bis heute feststellen, dass Frauen so gut wie nie als Historikerinnen thematisiert werden. In acht zwischen 1970 und 2007 erschienen Nachschlagewerken sind neben hunderten Männern lediglich neun Frauen erwähnt.130 Gerade weil eine Vielzahl von Historikerinnen hätte thematisiert werden können,131 offenbart eine solche Auswahl viel implizites Wissen über wissenschaftliche Leistung: So ist offenbar nur ein vollwertiger Historiker oder hat die Chance zum „Klassiker“ im Fach aufzusteigen, wer eine Professur erreicht, eine Anbindung an Universitäten132 und sowohl theoretische wie auch empirische Werke vorgelegt hat. Kriterien wie diese sind angesichts der Geschichte von Universitäten und Wissenschaften keineswegs geschlechtsneutral, weshalb Heike Bergers Antwort auf Hans-Jürgen Puhles bekannt gewordene Frage, warum es so wenige Historikerinnen gebe,133 in die richtige Richtung wies: „[D]ie Frage [war . . .] falsch gestellt, sie hätte vielmehr lauten müssen: Warum wird so wenig über Historikerinnen und die Bedeutung von Geschlecht als konstitutiver Kategorie auch für die Geschichte der Geschichtswissenschaft geschrieben?“134 Vor diesem Hintergrund besteht die Aufgabe einer geschlechtergeschichtlichen Wissenschaftsgeschichte zum einen darin, die Beiträge von Frauen – wie in der allgemeinen Geschichte auch – in die Fachgeschichte einzuschreiben und mit dieser „‚Erinnerungsarbeit‘ am disziplinären Gedächtnis“135 unsere Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte zu vervollständigen. Das ist notwendig, um historische Ausschlüsse und diskriminierende Machtstrukturen in der fachgeschichtlichen Erinnerung nicht zu reproduzieren. Zum anderen geht es darum, zu verfolgen, wann solche Kriterien von wem entwickelt wurden und wie sie die Wahrnehmung wissenschaftlicher Leistung formiert haben. Pierre Bourdieu hat in diesem Zusammenhang von einer „‚unablässigen (also geschichtlichen) Reproduktionsarbeit‘“ von Herrschaftsstrukturen gesprochen, die es zu dekonstruieren gelte:136 „Die Definition des Exzellenten steckt auf allen Gebieten voller männlicher Implikationen, deren Eigenart es ist, nicht als solche in Erscheinung zu treten“.137
6. ZUSAMMENFASSUNG: VERFLOCHTENE KOMPLEXITÄT Über alle erwähnten Beispiele hinweg zeichnet sich im Ergebnis ein komplexes Panorama an Dimensionen, eine verflochtene Komplexität ab, mittels derer den 129 Gisela Bock, Frauenbewegung und Frauenuniversität. Zur politischen Bedeutung der „Sommeruniversität für Frauen“, in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen. Juli 1976, hg. von [Gruppe Berliner Dozentinnen], Berlin 1977, S. 15–22, hier S. 15. 130 Vgl. Angelika Schaser, Zum Geleit, in: Historikerinnen. Eine biobibliographische Spurensuche im deutschen Sprachraum, hg. von Hiram Kümper, Kassel 2009, S. 9–14, hier S. 9. 131 Vgl. Epple, Geschichtsschreibung (Anm. 31); Kümper, Historikerinnen (Anm. 31). 132 Vgl. Schaser, Geleit (Anm. 130), S. 10. 133 Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Warum gibt es so wenige Historikerinnen? Zur Situation der Frauen in der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 7.3/4 (1981), S. 364–393. 134 Berger, Historikerinnen (Anm. 95), S. 11. 135 Harders, Studies (Anm. 8), S. 11. 136 Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, übs. von Jürgen Bolder, Frankfurt a. M. 2005, S. 65. 137 Ebd., S. 110.
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Geschlechtervorstellungen nähergekommen werden kann, die die Wissenschaften prägen. Diese hier vorgestellte Aufstellung umfasst fünf Analyseachsen, die von den Akteuren über die institutionellen Strukturen, Wissensbestände und akademischen Praktiken bis hin zu symbolischen Ordnungen reichen. Auch wenn die zum Teil angedeuteten Verflechtungen der Achsen untereinander unvollständig sind und die aufgelisteten Punkte sicher noch Raum für Ergänzungen bieten, dürfte doch die Mehrdimensionalität und Komplexität einer Geschlechtergeschichte der Wissenschaften deutlich geworden sein. Sie geht weit über die ihrerseits wichtigen Daten zur statistischen Verteilung von Männern und Frauen hinaus und kombiniert biographische Ansätze mit wissens-, institutionen- und kulturgeschichtlichen Perspektiven zu einer geschlechtersensiblen Wissenschaftsgeschichte. Dabei sind die fünf vorgeschlagenen Analyseachsen nicht als Ersatz der „allgemeinen“ Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte zu verstehen, die sich selbst eine Erweiterung zu einer Histoire totale verordnet hat,138 sondern sollen zu deren Differenzierung beitragen. Die angedeuteten Analyseachsen sind nicht-hierarchisch angeordnet und disziplinübergreifend anwendbar, ohne gleichzeitig den Zwang zu implizieren, stets alle Dimensionen abdecken zu müssen. In welchem Verhältnis die Achsen zueinander stehen (können), lässt sich nicht allgemein festlegen, sondern hängt von der konkreten Fragestellung und nicht zuletzt auch von den zur Verfügung stehenden Quellen ab.
ABSTRACT Currently, there are hardly any systematic outlines of what a gender history of the humanities could be. This proposal therefore discusses five comprehensive trajectories of research that a gender history of the humanities should take into consideration: first actors; second institutional structures; third knowledge; fourth academic practices; and fifth symbolic orders. While these trajectories can be separated for purposes of historical investigation, the historical elements themselves were interconnected, intertwined, and overlapping. The outlined trajectories go far beyond the statistical distribution of men and women, and combine biographical research with history of knowledge, institutional, and cultural history approaches towards a gender-sensitive history of the humanities.
138 Paletschek, Stand (Anm. 15), S. 176. So auch Asche/Gerber, Universitätsgeschichte (Anm. 3), S. 201.
WISSENSCHAFTSMETAPHERN Zur männlichen Kodierung der Germanistik und Klassischen Philologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts* Falko Schnicke
Das Urteil des Wiener Germanisten Franz Pfeiffer über seinen Kieler Kollegen Karl Bartsch war eindeutig. Im sogenannten Nibelungenstreit, einer Kontroverse, die an den Prinzipien der Erforschung des Epos durch Karl Lachmann ihren Anfang nahm und sich zu einer Kontroverse um die fachliche, sittliche und berufsethische Ausrichtung der Germanistik auswuchs,1 standen beide auf der gleichen Seite. Bartsch war, was Pfeiffer aufgrund seiner eigenen gesundheitlichen Einschränkungen mehr und mehr bewunderte, zudem sehr produktiv. In Anerkennung dieser Position und Leistung war er für Pfeiffer ein ganzer Mann und ein ganzer Freund und ein Arbeiter ohne Gleichen.2 In anderen Briefen hieß er auch Hauptkerl3 oder sogar Staatskerl4 . Solche Formulierungen stellten die höchste Form des Kompliments im Briefwechsel dar und machen deutlich, dass richtige Wissenschaft für Pfeiffer offensichtlich mit positiv besetzter, vollwertiger Männlichkeit einherging. Gleichzeitig war auch das Gegenteil der Fall, wie sich in der Abwertung seiner Gegner, vor allem der Berliner Germanistik um Karl Müllenhoff, Moritz Haupt und Wilhelm Scherer, zeigte: In den Polemiken des Nibelungenstreites, die als Schulkontroverse die Ausdifferenzierung der Germanistik spiegelt,5 galten sie ihm zum Beispiel als dumm hochmüthi[g], schulmäßig dür[r], poesielo[s]6 – und immer wieder, quasi als Pointe der Kritik, auch als impotent. Auf diese Formel der Infragestellung bürgerlicher Männlichkeit, die einer
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Ich danke den anderen Beiträgerinnen des Themenheftes sowie Felix Brahm (London), Cornelia Linde (Halle/London), Klaus Reiber (Hamburg), Berit Schallner (Köln) und Hannes Ziegler (London) für ihre kritischen Kommentare zu früheren Versionen des vorliegenden Textes. Mirko Nottscheid (Marbach) hat mich darüber hinaus auch grundlegend zu Philologenbriefwechseln des 19. Jahrhunderts beraten. Vgl. Rainer Kolk, Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur Organisation der Germanistik im „Nibelungenstreit“, Tübingen 1990, S. 8–10. Siehe auch Otfrid Ehrismann, Nibelungenlied 1755–1920. Regesten und Kommentare zu Forschung und Rezeption, Gießen 1986, S. 24–60. Franz Pfeiffer und Karl Bartsch, Briefwechsel. Mit unveröffentlichten Briefen der Gebrüder Grimm und weiteren Dokumenten zur Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, hg. von Hans-Joachim Koppitz, Köln 1969, S. 135 (Pfeiffer, 18. 03. 1863). Ebd., S. 212 (Pfeiffer, 03. 01. 1867). Ebd., S. 149 (Pfeiffer, 07. 12. 1863). Vgl. dazu detailliert Kolk, Berlin (Anm. 1), der gleichzeitig darauf hinweist, dass sich hier keine homogenen Gruppen gegenüberstanden. Ebd., S. 21. Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2), S. 98 (Pfeiffer, 13. 04. 1861).
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finalen sozialen Herabsetzung seiner Kontrahenten gleichkam, griff Pfeiffer in diversen Varianten zurück, sodass er mal vom impotenten Lachmannischen Nachwuch[s]7 sprach, mal von impotenten Köpfe[n]8 oder impotenten Berliner Neidharte[n]9 . In der Folge galten die wissenschaftlichen Opponenten nicht mehr als Männer auf Augenhöhe, sondern wurden infantilisiert und feminisiert: Pfeiffer nannte Scherer etwa Hühnchen10 , womit er auf ein junges Mädchen anspielte,11 und ein verhätscheltes Kind12 , dessen Rezension über einen Band von Bartsch bei Pfeiffer nur noch als bubenhafte Auslassungen durchgingen.13 Das Ziel dieser Metaphern lag darin, Differenz zur eigenen wissenschaftlichen Position zu etablieren; eine Differenz, die über geschlechtliche Zuschreibungen funktionierte. Im Begriff der Impotenz fielen falsche Wissenschaft, deformierte Männlichkeit und imperfekte Körper in eins. Beides, Männlichkeits- und Körpermetaphern, die dazu dienten, wissenschaftliches Arbeiten zu beschreiben, lassen sich auch in der fachlichen Kommunikation anderer Philologen nachweisen. Sie stehen im Folgenden aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive im Mittelpunkt. Neben der Vorstellung des metaphorologischen Ansatzes werden mit ihrer Analyse zwei Ziele verfolgt: Erstens soll untersucht werden, über welche Arten von Metaphern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Männlichkeit mit Wissenschaftlichkeit assoziiert wurde. In den letzten Jahren sind Forschungsarbeiten zu dieser Frage für verschiedene Disziplinen, etwa die Geschichtswissenschaft, American Studies und Technikwissenschaften vorgelegt worden.14 Diese Bemühungen gilt es fortzusetzen, um vertiefende Einsichten in die Etablierung der symbolischen Geschlechterordnungen weiterer wissenschaftlicher Disziplinen zu gewinnen. Nach vergeschlechtlichten und sexualisierten Metaphern zu fragen, nimmt die diskursmächtigen Akteure sowie die von ihnen geschaffenen symbolischen Ordnungen in den Blick und trägt dazu bei, die soziale, das heißt vor-inhaltliche Bestimmung von wissenschaftlichen Disziplinen aufzuklären. Zweitens soll geklärt werden, wie übergreifend die geschlechtliche Kodierung von Wissenschaftlichkeit gewesen ist. Bislang liegen nur Studien vor, die jeweils eine einzelne Disziplin untersuchen.15 Das ist sicher mit dem oft disparaten und weitverstreuten Quellenmaterial sowie mit der multiplen Expertise zu erklären, die für 7 8 9 10 11 12 13 14
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Ebd. Gemeint sind die Schüler Karl Lachmanns. Ebd., S. 116 (Pfeiffer, 13. 07. 1862). Ebd., S. 201 (Pfeiffer, 02. 01. 1866). Ebd., S. 156 (Pfeiffer, 06. 01. 1864). Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch 4, bearb. von Moritz Heyne, Leipzig 1877, Sp. 1877. Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2), S. 156 (Pfeiffer, 06. 01. 1864). Ebd., S. 210 (Pfeiffer, 26. 11. 1866). Vgl. Bonnie G. Smith, The Gender of History. Men, Women, and Historical Practice, Cambridge/London 4 2001; Tanja Paulitz, Mann und Maschine. Eine genealogische Wissenssoziologie des Ingenieurs und der modernen Technikwissenschaften, 1850–1930, Bielefeld 2012; Levke Harders, American Studies. Disziplingeschichte und Geschlecht, Stuttgart 2013; Falko Schnicke, Die männliche Disziplin. Zur Vergeschlechtlichung der deutschen Geschichtswissenschaft 1780–1900, Göttingen 2015. Vgl. zu den Desiderata der geschlechtergeschichtlichen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte die Einleitung zu diesem Themenschwerpunkt: Angelika Schaser u. Falko Schnicke, Wege zu einer Geschlechtergeschichte der Universitäten und Geisteswissenschaften: Forschungsstand und Desiderata, S. 27–42.
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die Analyse mehrerer Disziplinen nötig ist. Allerdings stellt sich genau wegen dieser Situation die Frage, ob und in welcher Weise die bisher vorliegenden Ergebnisse generalisiert werden können. Um einer Antwort näherzukommen, werden im Folgenden als wissenschaftsgeschichtlicher Versuch auf engem Raum Ausschnitte aus den Fachdiskursen zumindest zweier Disziplinen kombiniert ausgewertet, die hinsichtlich des männlichen Selbstverständnisses ihrer Vertreter bislang noch keine primären Gegenstände einer geschlechtergeschichtlichen Analyse waren: die Germanistik und die Klassische Philologie.16 Obwohl die Klassische Philologie deutlich älter als die Germanistik ist, die sich ihrerseits an ihr orientierte und im Untersuchungszeitraum auch noch unter der Benennung Deutsche Philologie firmierte,17 standen beide in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf einem ähnlichen Professionalisierungsniveau: Getragen vom Aufschwung des neuhumanistischen Bildungsideals war die Klassische Philologie mit schon früh – das heißt ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts – eingerichteten Professuren und der ersten philologischen Seminare 1737 in Göttingen und 1787 in Halle ein interdisziplinär Maßstab setzender Pionier der universitären Institutionalisierung. Ihre erste Hochphase wird ab dem frühen 19. Jahrhundert datiert, wobei die Etablierung der Disziplin um die Mitte des 19. Jahrhunderts als vollendet gilt.18 Die Germanistik etablierte sich, befördert nicht zuletzt vom nationalistischen Patriotismus der nachnapoleonischen Zeit, vergleichsweise rasch seit dem frühen 19. Jahrhundert, durchaus in einem Konkurrenzverhältnis zur Klassischen Philologie. Nach Uwe Meves fand die Schaffung der Lehrstühle für Deutsche Philologie zwischen 1810 und den 1840er Jahren statt (mit einem Konsolidierungszeitraum in den 1850/60er Jahren),19 bevor die Einrichtung der germanistischen Seminare im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts folgte.20 Obwohl also 16
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Diese Einschränkung ist nötig, denn natürlich liegen zum männlichen Blick (zumindest) der Germanistik, um einen Begriff von Sigrid Weigel auszuleihen, eine ganze Reihe einschlägiger Arbeiten vor. Vgl. dazu Uwe Meves, Zur Namensgebung „Germanistik“, in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart/Weimar 1994, S. 25–47. Vgl. überblicksartig zur Fachgeschichte bei: Ada Hentschke und Ulrich Muhlack, Einführung in die Geschichte der Klassischen Philologie, Darmstadt 1972, S. 88–106; Wolfhart Unte, Berliner Klassische Philologen im 19. Jahrhundert, in: Berlin und die Antike. Architektur, Kunstgewerbe, Malerei, Skulptur, Theater und Wissenschaft vom 16. Jahrhundert bis heute 2, hg. von Willmuth Arenhövel und Christa Schreiber, Berlin 1979, S. 9–67; Joachim Latacz, Moderne Philologie (ab 1800), in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike 15.2, hg. von Manfred Landfester, Stuttgart/Weimar 2002, S. 255–278, hier S. 259–271; Peter Lebrecht Schmidt, Moderne Philologie in Deutschland (ab ca. 1800), in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike 15.2, hg. von Manfred Landfester, Stuttgart/Weimar 2002, S. 298–327, hier S. 298–308. Vgl. Uwe Meves, Zum Institutionalisierungsprozeß der Deutschen Philologie. Die Periode der Lehrstuhlerrichtungen (von ca. 1810 bis zum Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp, Stuttgart/Weimar 1994, S. 115–203. Vgl. zu den Details und retardierenden Momenten dieser keineswegs linearen Entwicklung Uwe Meves, Die Gründung germanistischer Seminare an den preußischen Universitäten (1875–1895), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987: Sonderheft), S. 69–122. Außerdem Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 2003; Johannes Janota, Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810–1870, Tübingen 1980, S. 1–60.
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beide Disziplinen zeitlich versetzte Entwicklungen durchlaufen hatten, glichen sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts institutionell immer weiter an21 und präsentierten sich als entwickelte Disziplinen, was sich unter anderem daran zeigte, dass bereits 1870 und 1883 die ersten großen Fachgeschichten erschienen waren.22 Beide Fächer befanden sich in dieser Phase damit am vorläufigen Endpunkt ihrer Konstituierung und hatten Studiengänge, Laufbahnen und Berufsbilder ausgeprägt, zudem existierten differenzierte Fachdiskurse, in denen die theoretisch-methodischen Paradigmen kontrovers verhandelt wurden.23 Für die Auswahl beider Disziplinen spricht daneben, dass sie quellenseitig recht gut erschlossen sind. Die oft regelmäßig und über viele Jahre geführte Fachkommunikation in Form von Briefwechseln stellte im 19. Jahrhundert eine der zentralen Gattung wissenschaftlicher Selbstreflexion dar: Der wissenschaftsgeschichtliche Wert von Gelehrtenbriefen ist zu Recht darin gesehen worden, dass sie private mit fachlichen Informationen verbanden und dem wissenschaftlichen Alltag ihrer Verfasser stärker verhaftet waren, als die mehrere Korrekturschleifen durchlaufenden Publikationen.24 Gelehrtenbriefe stellen eine aussagekräftige Quelle dar, weil sie prominente Orte sind, an denen sich die Wissenschaften im Untersuchungszeitraum sozial und inhaltlich konstituiert haben.25 Sie dienten sowohl zur Pflege professioneller Netzwerke26 als auch zur Vorbereitung, Präzisierung und Festlegung wissenschaftlichen Wissens.27 Die dabei verwandten Bezüge zu Männlichkeits- oder Weiblichkeitsvorstellungen entstammten dem bürgerlichen Milieu ihrer Autoren und dienten der Beschreibung der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit. Vor der Analyse der konkreten vergeschlechtlichenden Wissenschaftsmetaphern wird im ersten Abschnitt zunächst der Ansatz der Metaphernanalyse kurz vorgestellt. Danach folgt im zweiten Abschnitt eine theoretische wie historische Verständigung darüber, was unter Männlichkeit (im 19. Jahrhundert) verstanden wird. Dieser Zwischenschritt ist nötig, um zu klären, worauf die Quellenanalysen fokussieren. Im dritten Teil werden dann Fallbeispiele männlichkeitsgenerierender Metaphern aus 21 22
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Vgl. dazu Meves, Institutionalisierungsprozeß (Anm. 19), S. 196. Vgl. Rudolf von Raumer, Geschichte der Germanistischen Philologie vorzugsweise in Deutschland, München 1870; Conrad Bursian, Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1883. Vgl. dazu nur Janota, Wissenschaft (Anm. 20), S. 7–12, 20–22 u. 42–46; Latacz, Philologie (Anm. 18), S. 267–271; Lebrecht Schmidt, Philologie (Anm. 18), S. 303–308. Vgl. Christoph Friedrich, Briefe im 19. Jahrhundert als wissenschaftsgeschichtliche Quelle. Dargestellt am Beispiel des Briefwechsels des Apothekers A. P. J. Du Menil (1777–1852), in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 14 (1991), S. 181–195, hier S. 182 u. 191. Vgl. dazu z. B. Hans-Harald Müller und Mirko Nottscheid, Einleitung, in: Disziplinentwicklung als „community of practice“. Der Briefwechsel Wilhelm Scherers mit August Sauer, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner aus den Jahren 1876–1886, hg. von dens., Göttingen 2016, S. 15–53, hier S. 47–53. So z. B. bei Axel C. Hüntelmann, Paul Ehrlich. Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke, Göttingen 2011, S. 268. Vgl. Mirko Nottscheid, „vorbild und muster“. Praxeologische Aspekte in Wilhelm Scherers Korrespondenz mit deutschen und österreichischen Schülern in der Konstitutionsphase der Neueren deutschen Literaturgeschichte (1876–1886), in: Zeitschrift für Germanistik 23.2 (2013), S. 374–389, hier S. 378.
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der Germanistik und der Klassischen Philologie diskutiert, die aus zehn Briefwechseln mit insgesamt mehr als 1100 Briefen destilliert wurden. Sie werden in sechs Gruppen zusammengefasst und auf ihre inhaltlichen und sozialen Implikationen hin befragt. Um unterschiedliche Generationen und disziplinäre Fraktionen erfassen zu können, wurden für die Germanistik die Briefe der Scherer-Schule, das heißt die Korrespondenzen von Bernhard Seuffert (1853–1938), Erich Schmidt (1853–1913), Richard Maria Werner (1854–1913) und August Sauer (1855–1926) jeweils mit Scherer (1841–1886), und ihrer disziplinären Gegner, der bereits erwähnte Briefwechsel zwischen Pfeiffer (1815–1868) und Bartsch (1832–1888) sowie die Briefe Friedrich Zarnckes (1825–1891), berücksichtigt.28 Für die Klassischen Philologen werden die Briefwechsel zwischen Hermann Usener (1834–1905) und seinem Schüler Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931) sowie zwischen Hermann Diels (1848–1922), ebenfalls ein Schüler Useners, und Wilamowitz, Wilamowitz und Max Fränkel (1846–1903) und schließlich zwischen Wilamowitz und dem wiederum eine Generation jüngeren Franz Boll (1867–1924) ausgewertet.29 Dabei ist in den Zitaten die zeitgenössisch teilweise übliche Kleinschreibung beibehalten worden. Nach der Diskussion der Männlichkeitsmetaphern geht es viertens um die Frage, welche Konsequenzen sie in der Praxis hatten und ob die Briefwechsel auch Alternativen zur Vermännlichung der Fächer aufwiesen.
1. WISSENSCHAFT AUS METAPHERN Wissenschaftsmetaphern zu untersuchen, ist insofern aufschlussreich, als Wissenschaften wesentlich in metaphorischer Rede kommunizieren; und das trotz der seit der Antike bis weit in die Neuzeit tradierten Metaphernverbote, die sie für „undeutlich“ (Aristoteles) hielten oder in ihnen „Trugbilder“ (Thomas Hobbes) oder sogar
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Vgl. Disziplinentwicklung als „community of practice“. Der Briefwechsel Wilhelm Scherers mit August Sauer, Bernhard Seuffert und Richard Maria Werner aus den Jahren 1876–1886, hg. von Hans-Harald Müller und Mirko Nottscheid, Göttingen 2016; Wilhelm Scherer und Erich Schmidt, Briefwechsel. Mit einer Bibliographie der Schriften von E. Schmidt, hg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert, Berlin 1963; Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2); Friedrich Zarncke, Der Lehrer. Aus den Briefen Friederich Zarnckes, hg. von Ulrich Pretzel, in: Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur 100.3 (1978), S. 369–387. 29 Vgl. Hermann Usener und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Usener und Wilamowitz. Ein Briefwechsel 1870–1905, hg. von Herman Dieterich und Friedrich von Hiller, Leipzig/Berlin 1934; Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, „Lieber Prinz“. Der Briefwechsel zwischen Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1869–1921), hg. von Maximilian Braun, William M. Calder III und Dietrich Ehlers, Hildesheim 1995; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und Max Fränkel, „Der geniale Wildling“. Briefwechsel. 1874–1878, 1900–1903, hg. von William M. Calder III und Robert Kirstein, Göttingen 1999; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und Franz Boll, Wilamowitz und Franz Boll. Ein Gelehrtenbriefwechsel (1894–1923), hg. von Stephan Heilen, in: Wilamowitz und kein Ende. William M. Calder III zum 70. Geburtstag von Freunden und Schülern, hg. von Markus Mülke, Zürich/New York 2003, S. 87–159.
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„Werkzeug[e] des Irrtums und Betrugs“ (John Locke) erkannten.30 Ralf Klausnitzer hat in seiner Typologie solcher Verbote festgestellt, dass sie selten absolut vorgetragen wurden und die genannten Autoren selbst tropische Formen verwandten.31 Das gilt auch für Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der in seiner Literaturgeschichte der Antike einerseits festhielt, dass Wissenschaft [. . .] die „kahle“ Rede [braucht], die uns nicht „auf den Flügeln des Gesanges“ erhebt, sondern „zu Fuße geht“,32 andererseits aber vom Ausleben der Literatur sprach33 und annahm, dass Sprachen neues Blut zu[geführt] werden müsse.34 Dass wissenschaftliche Sprache poetisch sein kann und gerade im 19. Jahrhundert auch gewesen ist, zeigen die untersuchten Philologen damit selbst. In ihren Briefen griffen sie reichlich zu metaphorischen Wendungen wie Heißhunger (Ungeduld),35 Küstenschiffahrt (zu quellennahe Darstellung),36 ungeziefe[r]37 (Druckfehler) oder zuckerwaare (Freundschaftsbriefe).38 Wenn Werner einmal angab, nun ohne blume sprechen zu wollen,39 verdeutlichte diese Metapher für Metaphern, dass er sich der Verwendung metaphorischer Rede bewusst war und sie intentional einsetzte. Auch generell lässt sich, selbst wenn man keiner der Theorien anhängt, die jedes Sprechen zu metaphorischem Sprechen erklären,40 die Ubiquität von Wissenschaftsmetaphern konstatieren – in allen Disziplinen und in allen Epochen seit der wissenschaftlichen Revolution des 16. bis 18. Jahrhunderts. Als Übertragungen (gr. metaphorá) stellen Metaphern „sachl[iche] oder gedankl[iche] Ähnlichkeit (similitudo)“ zwischen verschiedenen Vorstellungsbereichen her und generieren durch „Analogie und Assoziation“ erweiterte oder neue Bedeutungsräume.41 Blumenbergs absolute Metapher ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sich ihr „Mehr an Aussageleistung“42 nicht ohne semantischen Verlust auflösen lässt.43 Für die Wissenschaftsgeschichte sind weniger verblasste, konventionalisierte
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Vgl. Ralf Klausnitzer, Inventio/Elocutio. Metaphorische Rede und die Formierung wissenschaftlichen Wissens, in: Rhetorik. Figuration und Performanz, hg. von Jürgen Fohrmann, Stuttgart/Weimar 2004, S. 81–130, hier S. 90–100. Vgl. ebd., S. 99. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische Literatur des Altertums, in: Ders., Karl Krumbacher, Jakob Wagerhagel u. a., Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, Berlin/Leipzig 2 1907, S. 3–238, hier S. 34. Ebd., S. 204. Ebd., S. 87. Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2), S. 67 (Bartsch, 06. 11. 1859). Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 51 (Scherer, 30. 01. 1875). Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 40. (Wilamowitz, 14. 11. 1879). Scherer/Sauer/Seuffert/Werner, Disziplinentwicklung (Anm. 28), S. 118 (Seuffert, 12. 07. 1881). Ebd., S. 212 (Werner, 10. 03. 1877). Am bekanntesten: George Lakoff, Metaphors We Live By, Chicago 6 2011. Eberhard Däschler und Günther Schweikle, Metapher, in: Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen, hg. von Günther Schweikle und Irmgard Schweikle, Stuttgart 2 1990, S. 301–302, hier S. 301. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1998, S. 9. Vgl. ebd., S. 10.
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Metaphern interessant,44 als bewusste, akzidentielle Metaphern,45 weil an ihrem aktiven Einsatz konzeptionelle Überzeugungen und strukturelle Entscheidungen rekonstruiert werden können. Aus diesem Grund werden Wissenschaftsmetaphern gleichzeitig als „Denkfiguren und Textelemente“ verstanden, „deren spezifische Eigenschaften erst aus einer simultanen Betrachtung dieser beiden Aspekte erkennbar werden“.46 Sie stehen damit nicht neben dem von ihnen vermeintlich unabhängigen, eigentlichen wissenschaftlichen Wissen, sind nicht (nur) sein äußerer Ornatus, sondern ein essentieller Teil von ihm, indem sie es mit hervorbringen. Metaphern haben, wie die Kognitionslinguistik herausgearbeitet hat, für die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse unter anderem heuristische Funktion, indem sie Forschung in Gang setzen, theoriekonstitutive Funktion, indem sie sie programmatisch lenken, und paradigmatische Funktion, indem sie Leitbilder und Weltanschauungen ausprägen.47 Konkret können mittels Metaphern Bezeichnungslücken geschlossen,48 Aufmerksamkeiten gelenkt49 oder argumentative Schwachstellen verdeckt werden.50 Die Wissenschaftsforschung hat in diesem Sinne, um nur eine kleine Auswahl zu nennen, etwa das Verhältnis von metaphorischer Rede und experimenteller Praxis bei Francis Bacon51 und Methodenmetaphern bei Descartes und Kant untersucht,52 sich biologischen Metaphern in der Soziologie des 19. Jahrhunderts gewidmet,53 nach ihrem Einfluss auf die Ausbildung der Bakteriologie Robert Kochs54 wie auf die 44
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Vgl. als Gegenbeispiele aber z. B. Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978; Michael Zimmermann, Quelle als Metapher. Überlegungen zur Historisierung einer historiographischen Selbstverständlichkeit, in: Historische Anthropologie 5.2 (1997), S. 268–287. Diese Typologie bei Däschler/Schweikle, Metapher (Anm. 41), S. 301. Bettina Wahrig, Metapher, in: Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Ein Handwörterbuch, hg. von Ute Frietsch und Jörg Rogge, Bielefeld 2013, S. 277–282, S. 277. Vgl. Petra Drewer, Die kognitive Metapher als Werkzeug des Denkens. Zur Rolle bei der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis, Tübingen 2003, S. 58–75. Vgl. Klausnitzer, Inventio (Anm. 30), S. 107. Vgl. Dirk Werle, Methodenmetaphern. Metaphorologie und ihre Nützlichkeit für die philologischhistorische Methodologie, in: Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, hg. von Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase und dems., Wiesbaden 2009, S. 101–123, hier S. 122. Vgl. Axel Rüth, Metaphern in der Geschichte, in: Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, hg. von Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase und Dirk Werle, Wiesbaden 2009, S. 125–143, hier S. 134. Vgl. Christiane Schildknecht, Experiments with Metaphors. On the Connection between Scientific Method and Literary Form in Francis Bacon, in: From a Metaphorical Point of View. A Multidisziplinary Approach to the Cognitive Content of Metaphor, hg. von Zdravko Radman, Berlin/New York 1995, S. 27–50. Vgl. Werle, Methodenmetaphern (Anm. 49). Vgl. Peter M. Hejl, Biologische Metaphern in der deutschsprachigen Soziologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850–1914), hg. von dems. und Achim Barsch, Frankfurt a. M. 2000, S. 167–214. Vgl. Silvia Berger, Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland 1890–1933, Göttingen 2009; Marianne Hänsler, Metaphern unter dem Mikroskop. Die epistemologische Rolle von Metaphorik in den Wissenschaften und in Robert Kochs Bakteriologie, Zürich 2009.
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Entwicklung der Molekularbiologie gefragt55 und die Wissenschaftspolitik durch Metaphern der Annales-Schule unterstrichen.56 Die Pointe all dieser Studien liegt darin, dass sie metaphorische Rede als wissenschaftskonstitutiv auffassen.57 Die „Metaphorizität des Wissenschaftsdiskurses“58 ernst zu nehmen, heißt damit die sprachliche Generierung wissenschaftlicher Inhalte, Methoden und Werturteile zu verfolgen. Das aber bedeutet, die Übertragungen nachzuvollziehen, die in Metaphern eingelagert sind, was durchaus in originär wissenschaftsfremde Lebensbereiche führen kann, da „in der Regel [. . .] vertrauteres Wissen zum Ausgangsbereich der Metaphorisierung“ wird.59 Indem Wissenschaftsmetaphern in James Bonos bekannter Formulierung als „medium of exchange“ verstanden werden, über die Bedeutungen aus außerwissenschaftlichen Diskursen in die Wissenschaften importiert werden,60 erweitert sich die Wissenschaftsgeschichte um die Wissensgeschichte dieser Diskurse, das heißt die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Wissenschaft entsteht und stattfindet. Gerade dieser Zusammenhang ist ein zentraler Ansatzpunkt einer geschlechtergeschichtlichen Wissenschaftsgeschichte, denn angesichts der komplexen Funktionen von Metaphern gibt es keinen Grund, ihre Analyse nur auf konzeptgeschichtliche Dimensionen zu verengen. Vielmehr sollte sie zusätzlich auf die soziale Dimension von Wissenschaft, die zur Wissensgenerierung führende Interaktion zwischen Akteuren, fokussieren. Damit geht es um die wirkmächtigen vor-inhaltlichen Definitionen von Wissenschaft, für die die Art, in der Metaphern verwandt werden, relevant ist. Im Folgenden wird deshalb keine metapherntheoretische, sondern eine metapherngeschichtliche Analyse angestrebt, die nach der mentalitätsgeschichtlichen Funktion von Metaphern in ihren jeweiligen Verwendungskontexten fragt. Olaf Briese hat das Potenzial einer solchen Perspektive vorgeführt und gezeigt, dass sich darüber „ein Arsenal von Bildern und Vorstellungswelten“ rekonstruieren lässt.61 Für einen solchen Ansatz ist es entscheidend, dass Metaphern im Gegensatz zu Begriffen keinen Kohärenzanforderungen unterliegen und „sehr flexibel in unterschiedlichen Kontexten auf unterschiedliche Weise verwandt werden können“.62 Diese Flexibilität ist aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive produktiv, denn sie ermöglicht es den historischen Akteuren, im wissenschaftlichen Sprechen soziale Hierarchien zu reproduzieren. Da Wissenschaftler/innen in den Worten ihrer Gegenwart sprechen und schreiben (müssen),63 sind auch in ihren Metaphern die sozialen Werte ihrer 55 56 57 58
59 60 61 62 63
Vgl. Christina Brandt, Metapher und Experiment. Von der Virusforschung zum genetischen Code, Göttingen 2004. Vgl. Rüth, Metaphern (Anm. 50), S. 132–142. Vgl. zur Entwicklung dieser neueren Haltung Klausnitzer, Inventio (Anm. 30), S. 100–104. Erika Greber, Theoretische Grundüberlegungen zur Wissenschaftsgeschichtsschreibung und -forschung unter der Perspektive der Geschlechterdifferenz, in: Gendered Academia. Wissenschaft und Geschlechterdifferenz 1890–1945, hg. von Miriam Kauko, Sylvia Miezkowski und Alexandra Tischel, Göttingen 2005, S. 11–40, hier S. 21. Klausnitzer, Inventio (Anm. 30), S. 109. James J. Bono, The World of God and the Languages of Man. Interpreting Nature in Early Modern Science and Medicine 1, London 1995, S. 147. Olaf Briese, Die Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben und Kometen im Gefüge der Aufklärung, Stuttgart/Weimar 1998, S. 14. Werle, Methodenmetaphern (Anm. 49), S. 107. Vgl. Rüth, Metaphern (Anm. 50), S. 125.
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Gegenwart repräsentiert. Wissen um Geschlecht gehört dazu und es ist, wie die Beispiele im dritten Abschnitt zeigen werden, vielfältig eingesetzt worden, um wissenschaftliches Arbeiten zu beschreiben und dabei affirmativ an die Traditionen homosozial-männlicher Universitäten anzuknüpfen.
2. MÄNNLICHKEIT ALS THEORETISCHES MODELL UND HISTORISCHES PHÄNOMEN IM 19. JAHRHUNDERT Inhaltlich wurden im 19. Jahrhundert über Metaphern Vorstellungen von Männlichkeit transportiert, die nur als Teil der bürgerlichen Geschlechterordnung zu verstehen sind. Diese gingen von Männern und Frauen als zwei polaren Geschlechtern aus, die sich physisch, psychisch und sozial komplementär ergänzten.64 Um 1800 entstanden, und im Laufe des 19. Jahrhunderts durch eine Flut an normativen Texten verbreitet, basierte dieses Modell neben philosophischen und religiösen vor allem auf anthropologischen, biologischen und vielfältigen medizinischen Begründungen, die es mit der Natur des Menschen plausibilisierten.65 Menschliche Körper und ihre Deutungen waren damit zentral für die Etablierung des als natürlich ausgegebenen Unterschiedes zwischen Männern und Frauen.66 Zumindest im Bürgertum wurde die Geschlechterordnung zusätzlich durch die familiäre Sozialisation intergenerationell eingeübt und über das Bildungssystem systematisch perpetuiert.67 Die Praxisrelevanz des bürgerlichen Geschlechtermodells, das zunächst einmal als „Orientierungsmuster“ aufzufassen ist,68 resultiert in der aus ihm abgeleiteten Arbeitsteilung der Geschlechter, die unterschiedliche Lebenschancen bedeutete. Getragen von der monogamen, patriarchalen Ehe erstreckte sich die Aufgaben- und Arbeitsteilung auf alle gesellschaftlichen Bereiche von der Familie über die Berufswelt bis hin zum Recht, wobei die unterschiedlichen Aufgaben, die Männern und Frauen zugeteilt wurden, paradoxerweise als gleichwertig galten69 und dennoch mit vielfältigen Hierarchien zugunsten von Männern einhergingen.
64
65
66 67
68 69
Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, hg. von Werner Conze, Stuttgart 1976, S. 363–393. Vgl. nur Ludmilla Jordanova, Sexual Visions. Images of Gender in Science and Medicine between the Eighteenth and Twentieth Centuries, Madison 1989; Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt a. M./New York 1992. Dazu grundlegend Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft, übs. von Jürgen Bolder, Frankfurt a. M. 2005. Vgl. Hausen, Polarisierung (Anm. 64), S. 369; Gunilla Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994, S. 149–304. Hausen, Polarisierung (Anm. 64), S. 371. Vgl. Ute Planert, Vater Staat und Mutter Germania. Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, hg. von ders., Frankfurt a. M./New York 2000, S. 15–65.
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Soziologisch ist Männlichkeit deshalb als doppelt hierarchische Beziehung und Praxis beschrieben worden, in der Männlichkeit erstens eine Position im Geschlechterverhältnis darstellt, die Weiblichkeit übergeordnet ist, und sich zweitens relativ zu anderen Männlichkeiten verortet. In Bourdieus Definition von Männlichkeit stellt sie ein Herrschaftsverhältnis dar, das Frauen über symbolische Gewalt in Abhängigkeiten von Männern positioniert und mit Stigmatisierungen belegt. Mittels der Verkörperlichung, der „Somatisierung des Herrschaftsverhältnisses“70 , werde Männlichkeit als „Nichtweiblichkeit“ definiert.71 Diese Bewertung hat für Bourdieu weit ausgreifende symbolische, kulturelle, aber auch praktische Folgen: „Viele Positionen sind für Frauen deshalb so schwer erreichbar, weil sie maßgeschneidert sind für Männer, deren Männlichkeit durch Entgegensetzung zu den heutigen Frauen konstruiert wurde“.72 In der intramännlichen Konkurrenz hat Connell die hegemoniale Männlichkeit definiert als „jene Form von Männlichkeit, die in einer gegebenen Situation des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt“;73 und zwar sowohl gegenüber Frauen als auch gegenüber untergeordneten, komplizenhaften und marginalisierten Männlichkeiten. Letztere werden unter anderem entlang der Kategorien „Rasse“, Klasse und Sexualität unterschieden.74 Historisch hätte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die hegemoniale Männlichkeit nur ausfüllen können, wer ein gesunder, weißer Militär mit Offiziersrang gewesen wäre. Er hätte zusätzlich ein verheirateter Bürger mit mehreren Kindern (darunter mindestens ein Sohn) sein und in finanziell geordneten Verhältnissen leben müssen, die er durch seine (akademische) Ausbildung und regelmäßige Berufstätigkeit in gehobener Stellung selbst absichern konnte. Durch einen Posten in einem Verein, einer Partei oder einer christlichen Kirche hätte er eine in der Öffentlichkeit respektierte Position und würde zum liberal-konservativen Spektrum gehören. Die zweithöchste Stufe nahmen die Wirtschafts- und Bildungsbürger ohne militärischen Beruf als komplizenhafte Männlichkeiten ein. Zu ihnen gehörten auch Wissenschaftler, die sich in ihren Stilisierungen nicht selten an Militärs anzunähern versuchten.75 Als untergeordnete Männlichkeit am unteren Ende der intramännlichen Hierarchie standen Homosexuelle76 und andere als verweiblicht wahrgenommene Männer, während Obdachlose, Bauern und Angehörige anderer unterbürgerlicher Schichten oder Schwarze marginalisierte Männlichkeiten darstellten.77
70 71 72 73 74 75 76
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Bourdieu, Herrschaft (Anm. 66), S. 99. Ebd., S. 111. Ebd. Robert [Raewyn] Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit, Opladen 1999, S. 97. Vgl. ebd., S. 98–102. Vgl. exemplarisch Schnicke, Disziplin (Anm. 14), S. 187–189 u. 212. Als Terminus ist „homosexuell“ selbst ein Produkt des späten 19. Jahrhunderts. Vgl. Rüdiger Lautmann (Hg.), Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte, Frankfurt a. M./New York 1993. Vgl. zu diesen Profilen George L. Mosse, Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, übs. von Tatjana Kruse, Frankfurt a. M. 1997, S. 57–106; Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 149–232.
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Wie alltagsprägend und wirkmächtig das bürgerliche Geschlechtermodell im 19. Jahrhundert gewesen ist, zeigt der Umstand, dass sich Verweise darauf auch in Wissenschaftsmetaphern finden: Maria Osietzki etwa hat nachgewiesen, um nur ein Beispiel anzuführen, dass schon die elementaren Grundlagen der modernen technisch-wissenschaftlichen Welt in geschlechtlichen Kategorien gedacht wurden. So galten Dampf, Energie und Arbeit im Zeitalter der Industrialisierung als männliche Kräfte, während die von ihnen bearbeitete Natur als weiblich konzipiert war.78 In den thermodynamischen Debatten der Zeit erschien die weibliche Natur lediglich als Ressource einer „[m]ännliche[n] Naturaneignung“.79 Das hatte Rückwirkungen auf das Verständnis des männlich-bürgerlichen Wissenschaftlers, denn über dieses Verständnis setzte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch der „arbeitszentriert[e] Entwurf von Männlichkeit“ durch.80 Obwohl Wissenschaft im 19. Jahrhundert also ein gesellschaftliches Feld darstellte, auf dem Männlichkeit erworben und bewiesen werden konnte, war sie dort durchaus auch in Gefahr. Schon Pfeiffers oben zitierte Vorwürfe der Impotenz aus dem Nibelungenstreit illustrieren, dass Männlichkeit nicht ohne interne Widersprüche und Spannungen, nicht ohne Infragestellungen zu denken ist. Gerade weil ihr ein großer sozialer Wert zugemessen wurde, konnte aus ihrem (symbolischen) Entzug Kapital geschlagen werden. In diesem Sinne sind auch Männer Opfer der männlichen Herrschaft:81 Weil sie den sozial an sie gestellten Anforderung konstant gerecht werden müssen, wird Männlichkeit für sie zur „Falle“.82 Gelingt es nicht, die permanente Prüfung, die Männlichkeit in diesem Verständnis bedeutet, vor sich und den anderen zu bestehen, droht ihre Negierung. Um solche Fallen fachlichen Gegnern öffentlich auszulegen – auch dafür wurden Wissenschaftsmetaphern von Philologen des 19. Jahrhunderts verwendet.
3. SECHS GRUPPEN MÄNNLICHKEITSGENERIERENDER METAPHERN AUS GERMANISTIK UND KLASSISCHER PHILOLOGIE In den hier ausgewerteten Briefwechseln findet sich eine Vielzahl männlichkeitsgenerierender Metaphern. Sie reichen wesentlich tiefer als die direkten Formulierungen, mit denen die Philologen mitteilten, dass ihnen die sichere Männlichkeit des Kollegen imponierte83 oder sie Wissen über die Qualitäten des Wissenschaftlers als gentleman austauschten.84 In systematischer Perspektive lassen sich sechs Gruppen
78 79
80 81 82 83 84
Vgl. Maria Osietzki, Die allegorischen Geschlechter der Energie, in: Unbedingt modern sein. Elektrizität und Zeitgeist um 1900, hg. von Rolf Spilker, Bramsche 2001, S. 12–25. Maria Osietzki, „Dämon“ gegen „Wärmetod“. Energie und Information in der männlichen Naturaneignung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Freiburger FrauenStudien 11 (2001), S. 89–112, hier S. 101. Ebd. Vgl. Bourdieu, Herrschaft (Anm. 66), S. 90–96. Ebd., S. 92. Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 142 (Schmidt, 26. 06. 1880). Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 130 (Diels, 25. 08. 1896).
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von Metaphern unterscheiden, mit denen Germanisten und Klassische Philologen ihr wissenschaftliches Arbeiten vergeschlechtlichten und sexualisierten. Sie reichen von (1) Sexualisierungs- über (2) Fortpflanzungs-, (3) Geburts- und (4) Verwandtschaftsbis hin zu (5) Bergbau- und (6) Kriegsmetaphern. Sie greifen teilweise ineinander und bedingen sich gegenseitig, lassen sich aber idealtypisch in diese Gruppen trennen. Wie die Bezeichnungen bereits andeuten, handelt es sich bei all diesen Formen um semantische Metaphern, das heißt Metaphern, die sich durch einen begriffserweiternden, bedeutungsgenerierenden Übertrag auszeichnen.85 Ihnen ist gemeinsam, dass die Übertragungen dem sozialen, außeruniversitären Lebensumfeld ihrer Produzenten entstammen: Sie griffen auf Erfahrungen aus ihrem Privat- und Familienleben zurück, in dem sie nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Brüder, Söhne, Ehemänner, Liebhaber und Väter waren, die in diesen Funktionen verschiedenartige soziale Begegnungen hatten. Das dabei gewonnene Wissen um Geschlecht, Sexualität und die mit ihnen gesellschaftlich verbundenen Bedeutungen übersetzen sie mit den genannten Typen von Metaphern in Wissen über ihre wissenschaftliche Tätigkeit. Darauf hat auch Walter Erhart hingewiesen: „Philologians led their lives as family-men while the realm of the family was literally and metaphorically linked to the realm of a philologian’s object: the mother tongue and the mother soil.“86 Die Überträge sind quantitativ signifikant, weil, wie schon die Vielzahl ihrer Formen nahelegt, sie nicht ephemer sind, sondern so häufig auftreten, dass sie als etablierte, alltägliche Muster anzusehen sind; und sie sind qualitativ relevant, weil die zu beschreibenden Metaphern Konsequenzen für die Lebenschancen konkreter Akteure haben konnten, denen Ausbildungs- und Berufsfelder offenstanden oder verwehrt wurden. Die Identifikation solcher Metaphern generalisierend als Fehlinterpretationen pejorativ so genannter „‚feministische[r] Zirke[l]‘“ abzutun und die geschlechtergeschichtliche Metaphernanalyse damit politisch disqualifizieren zu wollen,87 zeugt daher von einer geringen Quellenkenntnis und geht an den Eigenlogiken der historischen Akteure vorbei.
3.1 Sexualisierungsmetaphern Über Sexualisierungsmetaphern konnten die Textgrundlagen, auf die die Philologen ihre Arbeiten stützten, in beiden Disziplinen als sexuell verfügbare Frauen imaginiert werden. Nicht nur Institutionen wie die Preußische Akademie der Wissenschaften wurden als alt[e] Jungfe[r] anthropomorphisiert,88 sondern auch literarische Texte, die dann etwa als weiblicher Umgang galten.89 Auf dieser Grundlage konnten ihnen sexuelle Eigenschaften zugeschrieben werden: Diels sprach zum Beispiel in 85 86
87 88 89
Diese Definition bei Däschler/Schweikle, Metapher (Anm. 41), S. 301. Walter Erhart, The Gender of Philology – A Genealogy of „Germanistik“, in: Gendered Academia. Wissenschaft und Geschlechterdifferenz 1890–1945, hg. von Miriam Kauko, Sylvia Mieszkowski und Alexandra Tischel, Göttingen 2005, S. 41–64, hier S. 57. Mit Bezug auf Studien zu Bacons Metaphern so bei Klausnitzer, Inventio (Anm. 30), S. 112. Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 165 (Wilamowitz, 17. 02. 1897). Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 49 (Schmidt, 07. 01. 1875).
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mehrfacher Hinsicht zweideutig von jungfräuliche[n] Quellen,90 als er im Mai 1870 stolz von der rasch beendeten Abschrift einer umfangreichen Handschrift berichtete. Innerhalb des kopierten Textes bezog sich diese Stelle auf Wasserläufe, die einen Wanderer erfrischten.91 Diels eigene Verwendung der Passage hingegen veränderte ihre Bedeutung, denn er wählte sie als Motto seiner gebundenen Abschrift. Statt auf einen inhaltlichen Aspekt bezog sie sich damit nun auf den Text als solchen. Hatte Diels ihn transkribiert, um ihn während seiner Studien verwenden zu können, war auf diese Weise die Arbeitsgrundlage seiner philologischen Forschungen zur „jungfräulichen Quelle“ geworden. Da jungfräulich hier im Sinne von rein, unberührt und unbearbeitet verwendet wird,92 hauptsächlich aber der „hervorhebung des geschlechtlich unbefleckten“ bei Frauen dient,93 liegt in dieser Formulierung eine Übertragung geschlechtlich-sexueller Semantiken auf wissenschaftliches Arbeiten. In dieselbe Richtung wies auch Bernhard Seufferts Wort von der keuschen94 Quelle, das er im Brief an Scherer 1878 verwendete. Seuffert teilte Scherer mit, dass er sich mit der Legende von Genoveva, der sagenumwobenen Tochter des Herzogs von Brabant, beschäftigen wolle. Dass eine Bearbeitung des Motives bislang ausgeblieben sei, fasste er in die Formulierung, noch nicht mit ihren [Genovevas] keuschen armen umfangen worden zu sein.95 Die literarischen Texte, die den Gegenstand literaturgeschichtlicher Studien bilden sollten, wurde dabei als weibliche Figur personifiziert und als keusch, das heißt auch schon zeitgenössisch als „unberührt von (unerlaubten) geschlechtlichen lüsten“,96 beschrieben. Keusch wird hier zugleich im Sinne einer Forschungslücke verwandt, worin das Material der Forschung, die literarischen Werke, als sexuell verfügbare Frauen erscheinen. Gemeint ist nämlich nicht primär die historisch ohnehin strittige Person Genovevas, sondern es sind jene literarischen Texte, die sie zum Thema nehmen; denn sie sind es, die den Gegenstand der Germanistik darstellen. Imaginationen wie diese waren nicht hierarchiefrei, denn ihnen ist dadurch ein Machtgefälle eingeschrieben, dass die weiblichen Quellen lediglich als passive Objekte männlichen Begehrens erscheinen, mit denen die Philologen nach eigenem Ermessen umgingen. Passive Objekte sind die Quellen auch insofern, als sie innerhalb dieses Bildfeldes im Laufe des Forschungsprozesses „entjungfert“ werden. Impliziert wird dabei eine binäre Vorher/Nachher-Logik, in der der Zustand des Unerforschtseins als „jungfräulich“ oder „keusch“ und die philologische Übersetzungs90
91 92 93 94 95 96
Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 26 (Diels, 25. 05. 1870). Im Brief zitiert Diels einen Vers von Lukrez auf Latein (iuvat integros accedere fontis), den er in seiner Nachdichtung von dessen De rerum natura selbst als Da freut’s, jungfräuliche Quellen zu finden übersetzt hat. Vgl. Lukrez, Von der Natur 2, übs. von Herman Diels, hg. von Johannes Mewaldt, Berlin 1924, S. 36 (I, 927). Ebd. Vgl. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch 10, bearb. von Moritz Heyne, Leipzig 1877, Sp. 2392. Ebd. Scherer/Sauer/Seuffert/Werner, Disziplinentwicklung (Anm. 28), S. 91 (Seuffert, 06. 07. 1878). Ebd. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch 11, bearb. von Rudolf Hildebrand, Leipzig 1873, Sp. 651.
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und Interpretationstätigkeit, die den transkribierten Text vom unbearbeiteten, unberührten in einen bearbeiten, berührten Zustand überführt, mit Geschlechtsverkehr parallelisiert wird. Handelnder Akteur dieser geschlechtlichen Erweckung ist dabei allein der männliche Wissenschaftler, dem die aktive Wahl der Umstände obliegt, während das als weiblich identifizierte Material ohne eigene Interessen und auf Abruf zur Verfügung steht. In Zuschreibungen wie diesen griffen die Philologen das generelle Wissen der bürgerlichen Geschlechterordnung auf, in dessen Ideal Frauen als passiv, ergeben, abhängig und empfangend galten und Männer als aktiv, selbständig, willenskräftig und erwerbend gedacht wurden,97 und wandten es auf die Praxis ihrer textbasierten Forschung an. Schmidt bestätigte das indirekt, indem er davon sprach, nach einer Quelle seine lüsterne Hand ausstrecken zu wollen.98 Wer das nicht konnte, war entsprechend kein vollwertiger Mann, weshalb es ausreichte, Autoren, deren Arbeit man ablehnte, als sexuell unreife Jungens zu schmähen.99 Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die verfolgten Wissenschaftsmetaphern nicht nur Männlichkeit im Allgemeinen generierten, sondern gleichzeitig Aussagen zu aufeinander bezogenen Männlichkeiten und auch zu Weiblichkeiten machten.
3.2 Fortpflanzungsmetaphern Mit Fortpflanzungsmetaphern imaginierten die Philologen aufbauend darauf die wissenschaftliche Produktion als heterosexuellen Geschlechtsverkehr. Die breite, seit der Antike virulente Tradition, intellektuelle oder ästhetische und sexuelle Produktion semantisch zu koppeln,100 sorgte dafür, dass die Fortpflanzungsmetaphern das ausdifferenzierteste Bildfeld darstellten, zu dem fast jeder Briefwechsel beider Disziplinen beitrug. Dabei war es der Normalfall, von gelingendem Geschlechtsverkehr auszugehen, um die eigenen Publikationen zu bezeichnen. So hatten Bücher einen Vater,101 wurden mit rührender zeugungstreue verfertigt102 oder profitierten von einer augenblickliche[n] Fruchtbarkeit an Einfällen.103 Von Bonnie Smith stammt die These, dass sexuelle Phantasien wie diese die Beschwerden archivalischer Forschung kompensieren sollten.104 Wie detailliert solche Vorstellungen dabei sein konnten, verdeutlichen Metaphern, die im Zyklus männlicher Erregungs- und Entspannungsphasen gefasst waren: Während ihrer Tätigkeit sahen sich die Philologen nämlich Samen [. . .] ausstreuen,105 bis das nicht mehr ging, weil sie bis zur Erschlaffung 97 98 99 100
101 102 103 104 105
Vgl. Hausen, Polarisierung (Anm. 64), S. 368. Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 193 (Schmidt, 07. 10. 1884). Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2), S. 220 (Pfeiffer, 2./5. 11. 1867). Vgl. dazu z. B. Christian Begemann und David E. Wellbery (Hg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg i. B. 2002; Matthias Krüger, Christine Ott und Ulrich Pfisterer (Hg.), Die Biologie der Kreativität. Ein produktionsästhetisches Denkmodell in der Moderne, Zürich 2013. Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 69 (Diels, 20. 02. 1891). Wilamowitz-Moellendorff/Fränkel, Wildling (Anm. 29), S. 269 (Wilamowitz, 30. 12. 1877). Scherer/Sauer/Seuffert/Werner, Disziplinentwicklung (Anm. 28), S. 144 (Scherer, 17. 07. 1882). Vgl. Smith, Gender (Anm. 14), S. 116–129. Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2), S. 51 (Pfeiffer, 07. 11. 1858).
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gearbeitet hatten.106 Dieser Logik folgend, wurden Zwischenergebnisse als Stadien entwicklungsbiologischer Reifeprozesse beschrieben. So teilten sich die Briefpartner mit, dass einzelne Interpretationen erst embryonische[r] Gestalt seien,107 der Bericht embryonisch geblieben war108 oder bestimmte Überlegungen mehr embryonische Gedanken, als ein entworfenes System darstellten.109 Der Embryo stand hier gleichzeitig für den Beginn des Lebens und einer wissenschaftlichen Idee. Zu beobachten war dabei ein Wissenstransfer, der zeigt, wie grundlegende Ergebnisse der biologischen Forschung in das Alltagswissen eingewandert waren. Hatten Biologen seit dem späten 18. Jahrhundert und in qualitativ zunehmender Weise seit den 1820er Jahren Embryonen beschrieben,110 fanden sie schnell in die ästhetische Theorie Eingang.111 In dem Teil der fachlichen Kommunikation der philologischen Disziplinen, der mit den hier analysierten Briefwechseln abgedeckt ist, lassen sich die zitierten Formulierungen schließlich ab den 1870er Jahren nachweisen. Mit ihnen konnten sich die Philologen zugleich als modern ausweisen, ohne traditionelle Standpunkte aufgeben zu müssen, denn in konservativen Kreisen blieb noch bis zur Jahrhundertwende die aristotelische Impulstheorie dominant, nach der lediglich Männer formenden Anteil an der Entwicklung des Embryos hatten.112 Thematisiert wurde daneben auch verhinderter oder misslingender Geschlechtsverkehr. Ausbleibende oder als fehlgehend eingestufte Forschung wurde dabei mit sexueller Unerfahrenheit oder fehlender Potenz parallelisiert. Über Johann Heinrich Hübschmann, Professor für Vergleichende Sprachwissenschaft in Straßburg, hieß es etwa, dass er auf dem Gebiet des Germanischen von jungfräulicher Unschuld geblieben war.113 Auch die Sorge um die Zukunft des eigenen Faches konnte semantisch hier eingepasst werden: Glaube mir, es geht zurück mit unserer Wissenschaft: mit Ausnahme von 6–8 Leuten nirgends ein rechter Trieb, nirgends ein Nachwuchs, der etwas verspräche.114 Weitere Beispiele waren eine zu detaillierte und deshalb schlecht konzipierte Monographie, die als unfruchtba[r] bezeichnet wurde;115 in anderen Fällen wurden mangelhafte Forschung – wie auch schon bei Pfeiffer in der Einleitung gesehen – als Willkür und Impotenz116 oder impotent[e] Dürre beschrieben.117 Hier wurde deutlich, dass der Leistungsbetrieb der Forschungsuniversitäten 106 107 108 109 110
111
112 113 114 115 116 117
Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 146 (Wilamowitz, 18. 11. 1896). Ebd., S. 48 (Diels an Wilamowitz, 25. 06. 1882). Wilamowitz-Moellendorff/Fränkel, Wildling (Anm. 29), S. 226 (Wilamowitz, 23. 08. 1875). Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 180 (Scherer, 04. 12. 1882). Vgl. dazu nur Scott F. Gilbert (Hg.), A Conceptual History of Modern Embryology, New York/London 1991; Renato G. Mazzolini, Embryology, in: The Oxford Companion to the History of Modern Science, hg. von James Bartholomew u. a., Oxford 2003, S. 249–251. Vgl. David E. Wellbery, Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur, in: Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, hg. von Christian Begemann und David E. Wellbery, Freiburg i. B. 2002, S. 9–36, hier S. 28. Vgl. Sabine Föllinger, Differenz und Gleichheit. Das Geschlechterverhältnis in der Sicht griechischer Philosophen des 4. bis 1. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart 1996, S. 138–169. Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 95 (Schmidt, 08. 11. 1877). Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2), S. 115 (Pfeiffer, 13. 07. 1862). Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 14 (Diels, 22. 01. 1870). Ebd., S. 152 (Wilamowitz, 30. 11. 1896). Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 186 (Schmidt, 13. 11. 1883).
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des 19. Jahrhunderts auch gefährlich werden konnte, denn mit von Dritten nicht anerkannten Arbeiten stand die Männlichkeit der Wissenschaftler auf dem Spiel. Diese Formation zeigt, dass Wissenschaft und Männlichkeit im 19. Jahrhundert so eng miteinander verbunden waren, dass über Männlichkeitsentzüge wissenschaftliche Kontroversen ausgetragen werden konnten. Rufen Fortpflanzungsmetaphern immer auch die geschlechtsspezifische Ordnung der Gesellschaft auf,118 konnten über sie weibliche Schwäche und intellektuelles Unvermögen auch auf Männer übergehen. Die angeführten Metaphern wiesen Männlichkeit also auch als umkämpft und darin prekär aus. Das belegt auch ein letztes Beispiel, das erneut die Plastizität des erörterten Denkens vorführt. Als es darum ging, einen Aufsatz von ihm für den Druck zu kürzen, verwahrte sich Wilamowitz 1872 dagegen im Brief an Fränkel mit dem wirkmächtigen Bild der organischen Verunmöglichung aktiver männlicher Sexualität: Abdrucken oder Ablehnen gilt mir gleich, nur gegen castration erkläre ich mich entschieden.119
3.3 Geburtsmetaphern Geburtsmetaphern komplettierten bei Germanisten und Klassischen Philologen gleichermaßen die Sexualisierung der philologischen Wissenschaften: Nachdem die Sexualisierungsmetaphern mit den Quellen das Arbeitsmaterial vergeschlechtlicht und sexualisiert hatten, beschrieben die Fortpflanzungsmetaphern den Prozess wissenschaftlicher Forschung, dessen Ergebnis die Geburtsmetaphern thematisieren. Usener bezeichnete beispielsweise eines seiner Bücher als Kind120 und Scherer gratulierte Sauer [z]um heranwachsenden Kleist.121 Auch Werner ließ Scherer wissen: Gerne, sehr gerne haette ich meinen erstgebornen, bei dessen geburt Sie mir als arzt und lochmutter zur seite standen, unter Ihrem schutze in die welt geschickt.122 Um die mit ihnen verbundenen Anstrengungen oder Schwierigkeiten zu betonen, wurden Publikationen regelmäßig als schmerzenskind123 oder, wie bei Diels und Seuffert, als Schwergeburt bezeichnet.124 Auch bei in der Entstehung befindlichen Arbeiten blieben die Philologen im Bild. Wilamowitz kündigte etwa einen Vortrag als das ungeborne Kind an125 und hatte sich zuvor weitere Belastungen verboten: wenn man so viel unversorgte bücher hat, wie ich, kann man nicht an andere windelnäßer
118 Vgl. Anja Zimmermann, Biologische Metaphern. Zu einem Denkstil der Moderne zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Biologie, in: Biologische Metaphern. Zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Wissenschaft in Neuzeit und Moderne, hg. von ders., Berlin 2014, S. 9–32, hier S. 12. 119 Wilamowitz-Moellendorff/Fränkel, Wildling (Anm. 29), S. 228 (Wilamowitz, Frühjahr 1876). 120 Usener/Wilamowitz-Moellendorff, Usener (Anm. 29), S. 44 (Usener, 05. 10. 1887). 121 Scherer/Sauer/Seuffert/Werner, Disziplinentwicklung (Anm. 28), S. 302 (Scherer, 19. 01. 1880). 122 Ebd., S. 212 (Werner, 10. 03. 1877). Ob „Lochmutter“ hier Hebamme meint, ist unklar. 123 Ebd. 124 Ebd., S. 125 (Seuffert, 22. 10. 1881); Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 86 (Diels, 06. 11. 1893). 125 Ebd., S. 221 (Wilamowitz, 26. 12. 1905).
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denken.126 Unbearbeitete Themen, wie im konkreten Fall die attische Verfassung, wurden auch als in den Windeln lieg[end] beschrieben.127 Es ist bemerkenswert, dass die Philologen nur darauf bestanden, Nachwuchs zu produzieren, nicht aber gleichzeitig auch dessen Geschlecht festlegten. In fast allen Fällen – nur Werner sprach von dem Erstgeborenen – genügte der Hinweis auf ein Kind im Neutrum. Daran wurde ersichtlich, dass es aus Sicht der Philologen der prokreative Akt selbst war, der ihre Männlichkeit verbürgte. Diese Semantik basierte auf einer organischen Vorstellung geistigen Schaffens, in der die Klassischen Philologen stärker als die Germanisten, intellektuelle Arbeit eine gereifte Frucht128 hervorbringen sahen und einen unorganische[n] Auswuchs in dem Gedankengang erkannten.129 In den Mittelpunkt gestellt wurde eine rege männliche Produktion, die geeignet war, weibliche Intellektualität präventiv abzuwerten. Die Metaphern waren dabei flexibel genug, um auch für Projekte, die man für unergiebig hielt, zu gelten (totgeborenes Kind)130 oder auf Menschen übertragbar zu sein: So nannte etwa Pfeiffer den Schützling eines Kollegen abfällig Schoßkind.131 Wie ernst diese Metaphern zu nehmen sind, zeigen die zum Teil direkten Parallelisierungen mit tatsächlichen Geburten im Umfeld der Philologen. Während h. professor Lexer sein wörterbuch zu einem recht hübsch ausgestatteten jungen verkleinert, schrieb etwa Seuffert, schenkte ihm seine frau ein frisches mägdlein.132 Wenige Jahre später verurteilte er es als fatal, dass Matthias Lexer mit seinem Anteil am Deutschen Wörterbuch nicht früher zu „niederkunft“ kommt als seine frau.133 Obwohl in solchen Geburtsmetaphern, die auf viele Jahrhunderte alten Vorstellungen aufsetzen,134 einerseits auf den Anteil des weiblichen Körpers an der Prokreation reflektiert ist,135 kann in ihnen andererseits der Versuch gesehen werden, das Potenzial von Männlichkeit zu steigern: Indem Männer sich damit originär weibliche Körperfunktionen aneigneten, womit die Grenzziehung von Natur und Kultur aktualisiert und zugleich negiert wird,136 wiesen sie sich als komplette Menschen aus, die weibliche und männliche Eigenschaften in sich verbinden konnten.137 Das wissenschaftliche Werk kommt in diesem Vergleich nicht durch den Unterleib der Frau zur Welt, sondern aus dem Kopf des Mannes, worin die grundlegende Paradoxie der Metapher liegt: „The linguistic, religious, and historical resonance of the childbirth
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Wilamowitz-Moellendorff/Fränkel, Wildling (Anm. 29), S. 268 (Wilamowitz, 30. 12. 1877). Ebd., S. 250 (Fränkel, 05. 06. 1877). Usener/Wilamowitz-Moellendorff, Usener (Anm. 29), S. 1 (Wilamowitz, 27. 07. 1870). Ebd., S. 31 (Usener, 15. 02. 1883). Scherer/Sauer/Seuffert/Werner, Disziplinentwicklung (Anm. 28), S. 260 (Werner, 17. 11. 1882). Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2), S. 71 (Pfeiffer, 06. 01. 1860). Scherer/Sauer/Seuffert/Werner, Disziplinentwicklung (Anm. 28), S. 92 (Seuffert, 06. 07. 1878). Ebd., S. 151 (Seuffert, 15. 10. 1882). Vgl. nur Caroline W. Bynum, Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley/Los Angelas 1982. 135 Vgl. Susan Stanford Friedman, Creativity and the Childbirth Metaphor: Gender Difference in Literary Discourse, in: Feminist Studies 13.1 (1987), S. 49–82, hier S. 49. 136 Vgl. Wellbery, Kunst (Anm. 111), S. 13. 137 Vgl. zu diesem Konzept Martina Kessel, The „Whole Man“. The Longing for a Masculine World in Nineteenth-Century Germany, in: Gender & History 15.1 (2003), S. 1–31.
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metaphor contradicts the fundamental comparison the metaphor makes“.138 Schon bevor Gebärphantasmen in der europäischen Moderne geradezu zu einer Obsession wurden139 und auch in der Germanistik des 20. Jahrhunderts eine breite Konjunktur erlebten,140 boten Geburtsmetaphern auf diese Weise eine Möglichkeit, wissenschaftliche Produktivität und kreative Männlichkeit zugleich auszuweisen: Philologische Männlichkeit erschien als prokreativ und prozessbestimmend.
3.4 Verwandtschaftsmetaphern Verwandtschaftsmetaphern definierten wissenschaftliche Ausbildung und Karriere als homosozial-männliche Sozialisation und wiesen die untersuchten Philologien als patrilineare Abstammungsgemeinschaften aus. Bekannt ist Julius Petersens retrospektive Geschichte der Germanistik als Familiensaga von 1913.141 Die Briefwechsel zeigen, wie üblich eine solche Sicht bereits selbstbeschreibend im 19. Jahrhundert gewesen ist. Zu beobachten ist zum einen die Infantilisierung jüngerer oder niederrangiger Kollegen und Hörer. Sie hießen Knaben142 oder Jungen143 , auch wenn Personen wie Hugo Kühlewein gemeint waren, der zu diesem Zeitpunkt schon etwa 50 Jahre alt war und um Hilfe in Bezug auf eine Anstellung bat. Schüler konnten als meine Jünglinge bezeichnet werden,144 wobei diese Wortwahl die Hierarchien der Ordinarienuniversität reflektierte und gleichzeitig eine Schutzverantwortung gegenüber ihnen ausdrückte. Zum anderen finden sich vor allem bei den Germanisten Metaphern, die das akademische Schüler-Lehrer-Verhältnis in eine biologische Verwandtschaft transformierten, was besonders in der Scherer-Schule der Fall war. Werner etwa sah sein Studium und die sich anschließende philologische Ausbildung zunächst als geschlechtlichen Reifungsprozess im Sinne der Pubertät als er 1877 schrieb: Ich kam nach Straszburg wie ein wissenschaftliches kind, ich glaube in Straszburg ward ich zum Jüngling – ob ich wol in Berlin zum Manne werde?145 Ein Jahr später griff er diesen Faden wieder auf und ergänzte in diesem Bild Scherer als leiblichen Elternteil: Sie lehrten mich erst sehen, ja fast erst denken, und darum wurde mir
138 Friedman, Creativity (Anm. 135), S. 53–54. 139 Vgl. dazu Christine Kanz, Maternale Moderne. Männliche Gebärphantasien zwischen Kultur und Wissenschaft 1890–1933, München 2009. 140 Vgl. Walter Erhart, Der Germanist, die Dichtung und die „nicht mehr zeugungsfähigen Mächte“. Wissenschaftshistorische Anmerkungen zum paternalen Selbstwertgefühl der deutschen Literaturwissenschaft, in: Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, hg. von Christian Begemann und David E. Wellbery, Freiburg i. B. 2002, S. 353–379. 141 Vgl. Julius Petersen, Literaturgeschichte und Philologie, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 5 (1913), S. 625–640, hier S. 625–626. 142 Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 151 (Wilamowitz, 30. 11. 1896). 143 Ebd., S. 129 (Wilamowitz, 23. 08. 1896). 144 Ebd., S. 54 (Diels, 07. 01. 1883). 145 Scherer/Sauer/Seuffert/Werner, Disziplinentwicklung (Anm. 28), S. 220 (Werner, Sept. 1877).
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der abschied von Ihnen [. . .] so schwer, mir wars als verliesze ich zum erstenmale das vaterhaus.146 Weitere drei Monate später schickte er Scherer erneut einen Brief, der ihm ihr imaginäres Verwandtschaftsverhältnis auseinandersetzte – und ihn als Mutter entwarf: Sie erscheinen mir immer wie eine mutter die nach und nach ihre töchter in verschiedenen städten verheiratet [. . .]. Dass ich Sie aber mit einer mutter und nicht mit einem vater vergleiche glaube ich dadurch rechtfertigen zu können, dass Sie an uns viel mehr mutterschmerzen als vaterfreuden erleben, und weil Sie uns wie eine mutter viel besser verstehen in dem wenigen guten und dem vielen schlechten das an uns ist, als dies ein vater je zu stande bringt.147 Die Gratwanderung, die in dieser spielerisch-scherzhaften Analogie lag, war Werner bewusst, weshalb er sie dadurch entschärfte, dass er sich selbst zur Tochter machte. Andere Schüler schlossen sich dem an und suchten in Schreiben an Scherer dessen väterlichen Rat148 oder hofften halb ironisch, halb eifersüchtig, Sie möchten jetzt nachdem Ihnen ein Sohn geboren wurde der Familie Ihrer Schüler und Freunde nicht ganz vergessen.149 Gegenüber Wilamowitz sprach auch Fränkel vom Vater,150 wenn es um den gemeinsamen Berliner Lehrer Adolf Kirchhoff ging. Metaphern wie diese erklären sich sicher durch den Umstand, dass besonders die Schüler Scherers ein enges, auch persönliches Verhältnis zu ihrem Lehrer unterhielten,151 und lange viele Lehrstühle in der Germanistik besetzten. Die Metaphern können damit durchaus auch als strategische Investitionen in eine wertschätzende Beziehung zu jemandem gelesen werden, der für Karriereentscheidungen nicht unwichtig war. Daneben übersetzten sie aber intellektuelle Anleitung und Zusammenarbeit in genetische Abstammung, um Vertrautheit, Zugehörigkeit und männliche Familiarität ausdrücken zu können, die, wie schon im Fall der Fortpflanzungsmetaphern, ohne Frauen auskam.
3.5 Bergbaumetaphern Mit Bergbaumetaphern wiesen sich die Philologen als physisch hart arbeitende Männer aus. Wenn sie in Bibliotheken oder Archiven mit Transkriptionen, Textkollationen oder ähnlichen Arbeitsschritten der philologischen Grundlagenforschung beschäftigt waren, sahen sie sich Ausgrabungen durchführen152 und Stollen bohren: Befasst mit einer Detailfrage zu Diogenes, ließ Diels beispielsweise wissen, dass die aktuelle Forschungslage zeige, dass mehrere Schachte als bisher bis zu den Primärquellen getrieben werden müssen.153 Textkritik war hier in das Bild eines Bergwerkes gekleidet, in dem Klassische Philologen die Schächte als Teil ihrer
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Ebd., S. 228 (Werner, 24. 04. 1878). Ebd., S. 233 (Werner, 15. 07. 1878). Ebd., S. 284 (Sauer, 26. 01. 1879). Ebd., S. 307 (Sauer, 01. 03. 1880). Wilamowitz-Moellendorff/Fränkel, Wildling (Anm. 29), S. 263 (Fränkel, 27. 12. 1877). Vgl. Müller/Nottscheid, Einleitung (Anm. 25), S. 47–50. Wilamowitz-Moellendorff/Boll, Wilamowitz (Anm. 29), S. 100 (Boll, 11. 06. 1899). Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 48 (Diels, 25. 06. 1882).
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wissenschaftlichen Arbeit aushoben. Was sie dort zu finden hofften, stand ihnen deutlich vor Augen, denn sie jagten ihrer beute nach154 und waren auf der Suche nach ungehobene[n] Schätze[n].155 Gemeint waren damit unbekannte Handschriften; es ging also um die Neuentdeckung literarischer Quellen, die der philologischen Forschung zugänglich gemacht werden sollten, und zum anderen um die Arbeit mit Originalen und Autographen, die nach der „Prägephase der wissenschaftlichen Edition in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“156 schon nicht mehr selbstverständlich gewesen war. War er gefunden, ging es darum, den Schatz [. . .] zu heben,157 mit dem Ziel der Ausbeutung,158 der Ausschöpfung des Archivs,159 wie das bei Scherer hieß. Dementsprechend war es eine Nachricht, wenn man festgestellt hatte, dass ein Textkorpus noch lange nicht ausgebeutet war.160 Schließlich stand die Auswertung der Funde an, die in den wissenschaftlichen Publikationen stattfand. Ganz auf der Linie der bisherigen Metaphern, hieß das Umarbeiten einzelner Textteile dann auch Umschmelzen.161 Wilamowitz teilte einmal sogar mit, dass das ganze kapitel [. . .] noch einmal in den schmelztiegel zurückgemusst hätte.162 Damit war der Produktionskreislauf vom Fördern der Rohstoffe bis zu dessen Verhüttung vollendet, was erneut belegt, dass die Metaphern weniger einzelne, ephemere Äußerungen darstellten, als ausgeprägte Überzeugungen ausdrückten: Das dafür verwendete Vokabular verwies erkennbar auf die Montanindustrie, die nicht nur eine der Schlüsselindustrien der im 19. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung darstellte, sondern auch ein Sinnbild männlicher Arbeitskraft war. Statistisch lag das angesichts des Umstandes, dass fast ausschließlich Männer in diesem Sektor tätig waren, auf der Hand. Wenn es in der Frühindustrialisierung noch in begrenztem Maße Frauen- und Kinderarbeit im Bergbau gegeben hatte, war das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von marginalen Ausnahmen abgesehen, nicht mehr der Fall.163 Bergbau und Hüttenindustrie konnten in der Folge als Inbegriffe physisch fordernder Männerarbeit gelten, die durch körperliche Anstrengungen und Gefahr gekennzeichnet war.164 Hinzu kommt, dass das Motiv in der Literatur der Romantik als Thema männlicher Reifung in den Bildungsromanen von Goethe bis Novalis
154 Scherer/Sauer/Seuffert/Werner, Disziplinentwicklung (Anm. 28), S. 120 (Seuffert, 05. 10. 1881). 155 Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 225 (Schmidt, 06. 01. 1886). 156 Bodo Plachta, Dilettanten und Philologen. Debatten über den Umgang mit Texten in Editionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Ästhetische Erfahrung und Edition, hg. von Rainer Falk und Gert Mattenklott, Tübingen 2007, S. 59–71, hier S. 60. 157 Zarncke, Lehrer (Anm. 28), S. 381 (an Wilhelm Braune, 05. 01. 1886). 158 Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 202 (Scherer, 21. 05. 1885). 159 Ebd., S. 205 (Scherer, 04. 06. 1885). 160 Ebd., S. 48 (Scherer, 23. 12. 1874). 161 Ebd., S. 96 (Schmidt, 08. 11. 1877). 162 Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 92 (Wilamowitz, 03. 12. 1893). 163 Vgl. Christina Vanja, Frauenarbeit im Bergbau – ein Überblick, in: Frauen und Bergbau. Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten. Ausstellung des Deutschen Bergbau-Museums Bochum vom 29. August bis 10. Dezember 1989, Bochum 1989, S. 11–29. 164 Vgl. nur Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn 1977; Stephen H. F. Hickey, Workers in Imperial Germany. The Miners of the Ruhr. Oxford 1985, S. 109–168.
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breit erprobt war.165 Als Bildungsbürger kannten die untersuchten Philologen diese Tradition und schlossen in ihren Selbstdarstellungen offenkundig daran an. In ihrer Verwendung übertrugen sie die Bergbaumetaphern auf ihre Arbeit und sich selbst, indem sie sich als Montanarbeiter in Stollen oder Hochofen imaginierten. Eine solche Übertragung war nicht ohne Widersprüche, denn die Arbeiter des Bergbaus entstammten zumeist unterbürgerlichen Schichten,166 mit denen sich die Philologen nicht positiv identifizieren konnten. Dabei manifestiert sich, was die Forschung als „aktive, kaum zu kontrollierende Wirkungsweise“ von Metaphern beschrieben hat.167 Die Assoziation eines geradezu prototypisch männlichen Beschäftigungsfeldes stellt hingegen eine Übertragung dar, die im Sinne der Autoren gewesen sein dürfte.
3.6 Kriegsmetaphern Schließlich lassen sich Kriegsmetaphern beobachten, die den Wissenschaftler als kämpfenden Mann entwarfen, der die Konfrontation nicht scheute und Risiken für seine akademischen Erfolge einging. Das konnte ironisch-distanziert geschehen, indem ein Kritiker verspottet wurde, dass er in seiner Rezension wie ein Indianer mit Siegesgeheul auf dem Toten herumtrampelt.168 Im Rahmen des schon angesprochenen Nibelungenstreites legten diverse Passagen in den Briefwechseln der Germanisten daneben auch identifikatorische Assoziationen an militärische Begegnungen nahe, bei denen Pfeiffer den Kontrahenten aus dem Sattel [. . .] heben oder aufs Korn nehmen wollte.169 Im Ringen um die Deutung einer bestimmen Stelle des Epos teilte auch Zarncke mit, dass er entschlossen sei, die Festung mit allen Mitteln eines Gneisenau und Nettelbeck bis auf den letzten Mauerstumpf zu verteidigen.170 An einer anderen Stelle wurde eine negative Rezension gegen einen Kontrahenten als Hauptschlag bezeichnet,171 was ein doppeltes Wortspiel darstellte, da sie sich gegen den Berliner Kontrahenten Moriz Haupt richten sollte. Solche Imaginationen zeugen von der Heftigkeit der Auseinandersetzung, in der 1880/81 zwischen Scherer und Bartsch auch tatsächlich Forderungen auf Pistolen erwogen worden sind.172 Die zitierten Metaphern entwarfen die akademische Debatte als physische Konfrontation und den Gelehrten als Träger soldatisch-wehrhafter Männlichkeit. Zarncke war deshalb enttäuscht, als seine Kontrahenten gestorben waren: Die grausame Weise, mit 165 Vgl. Helmut Gold, Erkenntnisse unter Tage. Bergbaumotive in der Literatur der Romantik, Opladen 1990; Theodore Ziolkowski, Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, Stuttgart 1992, S. 29–81. 166 Vgl. Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S. 393–412. 167 Philipp Sarasin, Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a. M. 2009, S. 82. 168 Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 57 (Diels, 22. 10. 1886). 169 Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2), S. 156 (Pfeiffer, 06. 01. 1864). 170 Zarncke, Lehrer (Anm. 28), S. 370 (an Scherer, 26. 07. 1868). 171 Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2), S. 155 (Bartsch, 03. 02. 1864). 172 Vgl. Wilhelm Scherer und Elias von Steinmeyer, Briefwechsel 1872–1886, hg. von Horst Brunner und Joachim Helbig, Göppingen 1982, S. 196 u. 203 f.
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der das Schicksal die Berliner Schule aus dem Wege räumen zu wollen scheint, ist gar nicht nach meinem Sinn. Ich hätte mich lieber noch länger meiner Haut gewehrt und mit den Ellenbogen vorgedrängt.173 Er bestand hier auf einer aktiv-kämpferischen Männlichkeit, die inhaltlichen Disput als selbstbestimmte, prestigereiche Tätigkeit auffasste. Wissenschaftlichkeit war damit entworfen als Auseinandersetzung unter Männern, die Frauen ausschloss, weil sie Satisfaktionsfähigkeit voraussetzte. Aufgrund der enormen mentalitätshistorischen Bedeutung des Militärs für das 19. Jahrhundert sind Analogien dazu nicht überraschend, denn für das Bürgertum bot es einen privilegierten Ort, um wissenschaftliches Arbeiten männlich zu kodieren. Das galt zumal, als die untersuchten Philologen zum Teil auch tatsächlich selbst Fronterfahrungen hatten. So berichtete Wilamowitz aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, dass er unter Waffen sei und erklärte sogleich, welche Bedeutung das für ihn hatte, nämlich für König und Vaterland seinen Mann zu stehen.174 Die Forschung hat diese enge Verbindung von bürgerlicher Männlichkeit und Militarismus als historisches Produkt des frühen 19. Jahrhunderts beschrieben und das wesentlich an der Einführung der Wehrpflicht belegt. Sie hat militärische Männlichkeiten hervorgebracht und diese von Weiblichkeit getrennt, die zwar patriotisch und unterstützend sein konnte, aber nicht selbst soldatisch.175 Das Militär avancierte zur „Schule der Männlichkeit“,176 von der Frauen ausgeschlossen waren, weil sie als nicht waffenfähig galten.177 Es ist offensichtlich, dass in den Briefwechseln sehr unterschiedliche Vorstellungen militärischer Männlichkeiten präsent waren, was zum einen ihre Omnipräsenz unterstreicht und zum anderen belegt, wie flexibel sie als männlichkeitsgenerierende Metaphern einsetzbar waren. Die zitierten Stellen rufen neben indianischen Traditionen und dem romantisierenden Bild des Ritters, das einen Schaukampf vor Publikum evoziert, auch Vorstellungen von modernen Belagerungskriegen und von dem Boxen ähnlichen Zweikämpfen auf. Während sie zum Teil ein instrumentelles Vorgehen betonten – aus dem Sattel gehoben wird mit der Lanze, aufs Korn genommen und die Festung verteidigt mit einer Feuerwaffe – und den Gelehrten als geschickten Techniker des Krieges auswiesen, hob ein zweites Modell den männlichen Körper als Mittel der Auseinandersetzung hervor. Dabei stand primär die individuelle physische Stärke im Mittelpunkt. Sie war nicht nur eines der grundlegenden Männlichkeitsmerkmale des bürgerlichen Geschlechtermodells,178 sondern implizierte, dass sich durch Training die eigene Leistung verbessern ließ, und war damit an die Lebenswelt der Philologen anschlussfähig, weil es an die philologischen Seminare erinnerte, in denen sie die Methode ihrer Disziplinen erlernten und lehrten. 173 Zarncke, Lehrer (Anm. 28), S. 381 (an Braune, 26./28. 06. 1886). 174 Usener/Wilamowitz-Moellendorff, Usener (Anm. 29), S. 1 (Wilamowitz, 27. 07. 1870). 175 Vgl. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, S. 39–62. 176 Ute Frevert, Das Militär als „Schule der Männlichkeit“. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert, in: Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von ders., Stuttgart 1997, S. 145–173. 177 Vgl. Karen Hagemann, „Mannlicher Muth und Teutsche Ehre“. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn u. a. 2002, S. 350–393. 178 Vgl. Hausen, Polarisierung (Anm. 64), S. 368.
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4. KONSEQUENZEN UND ALTERNATIVEN Die Konsequenzen des beobachteten Sprachgebrauches in den sechs Metapherngruppen sind zum Teil schon benannt worden: Sie liegen zum einen darin, dass wissenschaftlich-philologisches Arbeiten grundlegend als männliche Tätigkeit definiert wurde und Frauen so von ihm ausgeschlossen wurden. Die Sexualisierungsmetaphern entwarfen das Material der Forschung als passive Sexualpartnerinnen, während etwa speziell die Bergbau- und Kriegsmetaphern eine Sphäre aufriefen, die für Frauen weitgehend unzugänglich war. Zum anderen hatten die beschriebenen Metaphern Rückwirkungen auf die Philologen selbst, die sich mit ihnen zugleich als vollwertige Wissenschaftler und bürgerliche Männer ausweisen konnten. In ihrer Verwendung konnten sie ihre in der Wissenschaft aber auch darüber hinaus wirksamen sozialen Privilegien begründen und sichern. Die Metaphern schufen drittens aber auch weitreichendere symbolische Ordnungen, die Männlichkeit als einen zentralen wissenschaftlichen Wert in den Disziplinen etablierten. Wenn wissenschaftliche als biologische Produktion gedacht wurde, waren Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit nicht von Vorstellungen von Geschlecht zu trennen. Das hatte Einfluss auf philologische Themen und Konzepte, denn die vergeschlechtlichte und sexualisierte Vorstellung von Wissenschaft trug dazu bei, das Verständnis des Gegenstandes der entsprechenden Disziplin zu formen: Ein Beispiel stellt Scherers an diversen Stellen unternommener Versuch dar, die Entwicklung der deutschen, aber auch der europäischen Literatur als dichotome Epochen-Theorie zu fassen, in der sich sogenannte männlich[e] und weiblich[e] Epochen konjunkturell abwechseln.179 In Blüte stehe die Literatur nur in weiblichen Epochen, weil dort, wie er schwelgerisch ausführte, Frauen Herrschaft [. . .] über die Herzen üben,180 bei den Dichtern zart[e] Empfindungen wecken181 und eine stille unwiderstehliche Gewalt über die Männer haben würden, die sie zart und weich und gefühlvoll machten.182 Weibliche Epochen kämen ohne Liebe nicht aus.183 Damit manifestierten sich auffällige Überschneidungen zwischen der vergeschlechtlichten Selbstbeschreibung in den Briefwechseln und den philologischen Ergebnissen der Forschung, denn hohe Literatur wurde im Werk des vielleicht wichtigsten Literarhistorikers des 19. Jahrhunderts als Ergebnis erotisch-sexueller Faszination männlicher Dichter definiert. In dieser Konzeption spiegelte sich jenes philologische Wissenschaftsverständnis, das ebenfalls auf einer männlich-heterosexuellen Faszination gegenüber seinem Gegenstand aufgebaut war, wie die Sexualisierungs- und Fortpflanzungsmetaphern verdeutlichen, und ging in die Konzeption von Literatur ein, die die Philologen
179 Wilhelm Scherer, Die Epochen der deutschen Litteraturgeschichte, in: Ders., Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie, hg. von Konrad Burdach, Berlin 1893, S. 672–675, hier S. 675. 180 Wilhelm Scherer, Geschichte der Deutschen Dichtung im elften und zwölften Jahrhundert, Straßburg 1875, S. 2. 181 Scherer, Epochen (Anm. 179), S. 674. 182 Wilhelm Scherer, Aus dem deutschen Alterthum. Dichtung und Wahrheit, in: Preußische Jahrbücher 31 (1873), S. 481–502, hier S. 493. 183 Scherer, Epochen (Anm. 179), S. 675.
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untersuchten. Modelle wie dieses zu identifizieren und ihrer Reichweite nach zu vermessen, ist Aufgabe einer kritischen Wissenschaftsgeschichte.184 In den Briefwechseln thematisieren die Philologen vornehmlich die sozialen Konsequenzen ihrer Selbstbeschreibungen; etwa wenn sie das Gegenteil, das heißt die Abwesenheit von Wissenschaftlichkeit als weiszgewaschen[e] jungfrau bezeichneten185 oder darauf hinwiesen, dass sie ihre Damencurse außerhalb der Universität veranstalteten, um diese wissenschaftlich zu halten.186 Weil Frauen als das Andere philologischer Forschung installiert worden waren, konnten Vorlesungen ihnen nur zur erbauung dienen, während ihre Dozenten sie als damen und dämchen nicht ernst nahmen.187 Entsprechend war es nur denkbar, Frauen in Nebenbeschäftigung zu belehren,188 sie aber hauptamtlich wissenschaftlich zu unterrichten, kam nicht in Frage: So war nicht die schlechte Bezahlung das erste Argument für Schmidt, eine ihm 1876 angebotene Stelle als ungebührlich auszuschlagen, sondern das Publikum, für das er hätte lesen müssen: junge Damen!, wie er zugleich belustigt und empört zurückwies.189 Wenn Frauen als Studentinnen an regulären Übungen teilnahmen, wie das nach den preußischen Erlässen von 1879 und 1886 nach individueller Zustimmung der Professoren möglich wurde,190 nahmen die Philologen sie experimenti causa auf191 und machten mit ihnen unerwartete Erfahrungen: Vor Rührung liefen der einen die Thränen über die Backen,192 wie Diels amüsiert an Wilamowitz schrieb. Das war ein Verhalten, am Beispiel dessen sie außerhalb der Gruppe der ernsthaften Studenten gestellt und weibliche Emotionalität als wissenschaftsferner Wert etabliert werden konnte. Wilamowitz antworte, dass die Studentinnen seines Seminars sitzen und schweigen, wozu sie Grund haben.193 Es wundert vor diesem Hintergrund nicht, wenn als Ursache für mangelnde Leistung männlicher Studenten im Proseminar mütterliche[r] Einfluss vermutet194 oder ihre positive Entwicklung als Überwindung einer nicht selten weichlichen und weiblichen Schmiegsamkeit des Wesens beschrieben wurde.195 Weiblichkeit hatte schlicht keinen Platz im rekonstruierten Wissenschaftsverständnis, weshalb Frauen lediglich als Handlangerinnen für Postdienste oder Ähnliches196 und als Verehrerinnen der Werke männlicher Philologen 184 185 186 187 188 189 190
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Vgl. Erhart, Germanist (Anm. 140), wo das für das 20. Jahrhundert begonnen ist. Scherer/Sauer/Seuffert/Werner, Disziplinentwicklung (Anm. 28), S. 228 (Werner, 24. 04. 1878). Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 152 (Wilamowitz, 30. 11. 1896). Scherer/Sauer/Seuffert/Werner, Disziplinentwicklung (Anm. 28), S. 252 (Werner, 30. 12. 1880). Vgl. z. B. Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 95, wo Schmidt (08. 11. 1877) wertungsfrei von mein[em] große[n] Damenkolleg (Mittwoch nach Tisch) berichtet. Ebd., S. 75 (Schmidt, 25. 07. 1876). Vgl. Ilse Costas, Von der Gasthörerin zur voll immatrikulierten Studentin: Die Zulassung von Frauen in den deutschen Bundesstaaten 1900–1909, in: Der Weg an die Universität. Höhere Frauenstudien vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Trude Maurer, Göttingen 2010, S. 191–210. Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 144 (Diels, 15. 11. 1896). Ebd. Ebd., S. 146 (Wilamowitz, 18. 11. 1896). Ebd., S. 71 (Diels, 17. 04. 1891). Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 149 (Schmidt, 28. 09. 1880). Vgl. aus diversen Beispielen nur Pfeiffer/Bartsch, Briefwechsel (Anm. 2), S. 138 (Pfeiffer, 11. 10. 1863); Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 192 (Wilamowitz, 04. 09. 1901).
Wissenschaftsmetaphern
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in den Briefen auftauchten.197 Eine Ausnahme konnten adelige Frauen darstellen, wenn sie, wie Sophie Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, als Mäzenin auftraten. Obwohl sie sich nicht selbst wissenschaftlich betätigte, sondern lediglich die Arbeit der männlichen Philologen finanzierte, empfand Scherer die Abhängigkeit von ihr als Last, wesentlich aufgrund ihres Wunsches, erotische Schriften aus der geplanten Goethe-Ausgabe, die als Sophien-Ausgabe inoffiziell ihren Namen trug, herauszulassen,198 wie er Schmidt offen wissen ließ: Sie müssen, wenn sich unsere Hoffnungen verwirklichen, nie vergessen, daß wir uns für die Goetheausgabe [. . .] in den Dienst einer „Frau“ gestellt haben. Ihr zu dienen, das ist der Preis, den wir zahlen, damit wir Goethes Nachlaß zum Frommen der Wissenschaft in die Hand bekommen.199 Neben den bislang verfolgten Männlichkeitsmetaphern lassen sich in den untersuchten Briefwechseln auch alternative Positionierung erkennen. Sie bestanden zum einen darin, die begünstigenden Rollen und Funktionen von Frauen für die Realisierung wissenschaftlicher Projekte hervorzuheben. Schmidt setzte etwa auf die bei ihm positiv konnotierte Frauendiplomatie200 Sophies von Sachsen-Weimar-Eisenach, um an die Jugendbriefe Goethes heranzukommen, und Usener hatte die gerade erhaltene Aischylos-Übersetzung von Wilamowitz mit weiblicher Hilfe überprüft.201 Ging es bei Schmidt um die Ermöglichung von Forschung durch die Bereitstellung ihrer Grundlagen, stand bei Usener mit der Beurteilung ihrer ästhetischen Qualität die Kontrolle ihrer Ergebnisse im Mittelpunkt. In beiden Fällen hielten es die Philologen ausnahmsweise für möglich, mit Frauen im Sinne ihrer Forschung zu kooperieren. Zum anderen konnten sich die Philologen alternativ positionieren, indem sie auf männlichkeitsgenerierende Metaphern verzichteten. Die im dritten Abschnitt diskutierten Semantiken kamen entsprechend nicht in allen Briefwechseln in gleicher Intensität vor; das untersuchte Material ist mithin nicht homogen. So verwandten Boll oder Zarncke sie selten, während sie etwa bei Diels regelmäßig und vielfältig vorkommen. Selbst bei diesem fanden sich aber Ausnahmen. So berichtete er von der aktiven Abwertung eines Kollegen, ohne ihn geschlechtlich zu kodieren: Ich habe aber die Gelegenheit benutzt, [Rudolf] Helm ganz reinen Wein einzuschenken, ihm [. . .] seine wissenschaftliche Inferiorität Punkt für Punkt klar zu machen (was er mit Thränen in den Augen zugab).202 Hätten die Tränen ausreichend Gelegenheit geboten, Helm weibliche Schwäche, Emotionalität oder Empfindsamkeit vorzuwerfen,203 fand sich davon nichts in diesem Brief. Als dritte Alternative wäre theoretisch die aktive Förderung von Wissenschaftlerinnen und eines akademischen Klimas denkbar, das ihre Arbeit begünstigt hätte. Obwohl es durchaus Befürworter des Frauenstudiums unter den Philologen gab (z. B.
197 Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 70 (Schmidt, 10. 03. 1876). 198 Vgl. dazu differenziert bei Daniel W. Wilson, Goethes Erotica und die Weimarer „Zensoren“, Hannover 2015. 199 Scherer/Schmidt, Briefwechsel (Anm. 28), S. 208 (Scherer, 07. 06. 1885). 200 Ebd., S. 246 (Schmidt, 21. 07. 1886). 201 Vgl. Usener/Wilamowitz-Moellendorff, Usener (Anm. 29), S. 38 (Usener, 16. 01. 1886). 202 Diels/Wilamowitz-Moellendorff, Prinz (Anm. 29), S. 206 (Diels, 31. 10. 1903). 203 Vgl. Hausen, Polarisierung (Anm. 64), S. 368.
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Schmidt oder mit Einschränkungen Wilamowitz),204 enthielten die ausgewerteten Korrespondenzen dazu keine Beispiele. Allerdings bedeuten auch die beiden beschriebenen Alternativen keine fundamentale Infragestellung des hier entfalteten Befundes: Wie die dutzenden zitierten Belegstellen verschiedener disziplinärer Fraktionen und Generationen belegen, vergeschlechtlichten und sexualisierten die Germanisten und Klassischen Philologen ihre akademische Tätigkeit sowie Wissenschaft insgesamt. Die beiden Alternativen stellen vor diesem Hintergrund eine wichtige Nuancierung dar, die deutlich macht, dass es sich dabei nicht um eine totale, aber doch um eine dominante Erscheinung handelte.
5. RESÜMEE: DOING SCIENCE ALS DOING GENDER Mit den sechs induktiv gewonnenen Metapherngruppen konnte eine große Bandbreite an Konzept- als auch Methodenmetaphern nachgewiesen werden, die die Germanistik und Klassische Philologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergeschlechtlichten und ihre Vorgehensweisen sexualisierten, das heißt sie personell und heuristisch als männliches Betätigungsfeld festlegten. Sie verdeutlichen, wie sich die männliche Kodierung von Wissenschaften in ihrem Alltag manifestierte, das heißt in welcher Form sie den handelnden Akteuren begegnete und von ihnen gestaltet wurde. Dieses Ergebnis bedeutet weder, dass alle Fachkommunikation oder sämtliche Vertreter dieser Fächer das beschriebene Vokabular benutzten, noch, dass vergeschlechtlichte Metaphern die einzige Form der Vermännlichung der Fächer darstellten. Die zusammengestellten Beispiele werfen aber ein Schlaglicht auf das Doing Gender beider Disziplinen und verdeutlichen, dass es zeitgenössisch vom Doing Science der Germanisten und Klassischen Philologen nicht zu trennen war. Die erhebliche semantische Dimension der Vergeschlechtlichung und Sexualisierung beider Disziplinen belegt, wie sehr philologisches Wissen und Wissen um Geschlecht im 19. Jahrhundert koproduziert wurden. Die diskutierten Metaphern offenbarten zugleich ein breites Spektrum zeitgenössischer Männlichkeitsvorstellungen, das sie nicht lediglich als gesichertes Wissen abriefen, sondern durch die beobachteten Einschreibungen in philologische Konzepte (Sexualisierung der Quellen, Philologie als Bergbau) und die soziale Formation der Fächer (LehrerSchüler-Verhältnis, Kritik als Kampf) mithervorbrachten, legitimierten und in der bürgerlichen Gesellschaft verstetigen halfen. Dabei waren nahezu alle Aspekte des im zweiten Abschnitt rekonstruierten Männlichkeitsideals des 19. Jahrhundert abgedeckt; mit Ausnahme der ökonomischen Unabhängigkeit und ethnisch oder rassifizierter Verortung als europäisch und weiß. Metaphern der Kastration oder Impotenz führten dabei vor, dass wissenschaftliche Männlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs sicher war, sondern immer Gefahr lief, aberkannt zu werden. Dabei blieb sie stets an akademische Leistungen gebunden. Fehlte es an
204 Vgl. Arthur Kirchhoff (Hg.), Die Akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe, Berlin 1897, S. 215 u. 222–225.
Wissenschaftsmetaphern
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sexuellem Vermögen, war Wissenschaft nicht möglich, wie umgekehrt die Männlichkeit des Gelehrten prekär zu werden drohte, wenn seine Forschungsergebnisse als nicht überzeugend eingestuft wurden. Betrachtet man die Ergebnisse abschließend disziplinär vergleichend, ist ersichtlich, dass sich die analysierten Germanisten und Klassischen Philologen in sehr ähnlicher Weise selbst beschrieben. Beide Disziplinvertreter trugen zu den sechs thematisierten Metapherngruppen bei, wenn auch nicht in jedem Fall gleichgewichtig. Sexualisierungsmetaphern waren in den herangezogenen Briefwechsel beider Philologien eher schwach ausgeprägt. Die Verwandtschafts- und Kriegsmetaphern kamen hingegen bei den Germanisten latent häufiger vor, was sich mit der stärkeren Schulenbildung und dem erbittert geführten Nibelungenstreit erklären könnte. Hier müssen aber künftige Forschungen ansetzen, die die erörterten Funde an weiteren Quellengattungen überprüfen und schärfen. Zudem ist es, anders als das hier möglich war, nötig, generationsspezifisch danach zu fragen, ob etwa bestimmte Metaphern an einzelne Lebensabschnitte oder Qualifizierungsphasen gebunden waren. Schon jetzt ist allerdings auffällig, dass in den untersuchten Philologien solche Metaphern verwendet wurden, die sich auch in anderen Geisteswissenschaften fanden, etwa in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts oder den American Studies in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch dort wurden Sexualisierungs-, Fortpflanzungs-, Geburts-, Wachstums-, Verwandtschaft- und Goldgräber- oder Bergbaumetaphern eingesetzt,205 mit dem Ziel, die Disziplinen als „masculine marketplace of knowledge“ zu etablieren und als solchen zu erhalten.206 Bemerkenswert ist zudem die parallele Bedeutung des Körpers, der an diversen Stellen für die Etablierung der Philologien als männliche Disziplin elementar wurde und der zeitgleich auch für die Geschichtswissenschaft zentral war. Kamen dort diverse Körper zum Einsatz (männliche Körper, weibliche Körper, Individual- und Kollektivkörper sowie Körperpraktiken als Teil des wissenschaftlichen Alltages),207 war in den erörterten männlichkeitsgenerierenden Metaphern primär der männliche Arbeitskörper der Philologen adressiert. Ob sich dieser Befund erhärten lässt, muss die künftige Forschung klären – nicht zuletzt, um zu einer gesicherten Aussage gelangen zu können, inwieweit die beschriebenen Mechanismen der Vermännlichung disziplinspezifisch sind oder ob, wie es sich hier andeutet, ein übergreifendes geisteswissenschaftliches Muster vorliegt.
ABSTRACT The article investigates the language used by late nineteenth-century German and Classical philologists to describe their academic work. Analysing the use of metaphors, it focuses on protagonists who shaped the academic discourse and defined the social boundaries of their subject, including the definition of outsiders and scientific
205 Vgl. detailliert dazu Schnicke, Disziplin (Anm. 14); Harders, Studies (Anm. 14), S. 227–234. 206 Smith, Gender (Anm. 14), S. 111. 207 Vgl. zusammenfassend Schnicke, Disziplin (Anm. 14), S. 560–567.
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persona within the discipline. The study is based on sources from disciplinary communications such as correspondence, which is a primary source for the selfreflections mentioned above. As a result, several types of gendered and sexualised metaphors are identified that functioned as descriptions of the scholars’ requirements, the sources they worked with, and their scientific practices.
DIE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT DER GROSSEN ZAHL Die ersten Promovendinnen der Wiener Germanistik (1903–1938) Elisabeth Grabenweger
Die erste Frau, die an der Universität Wien im Fach Deutsche Philologie promovierte, war die Germanistin und Romanistin Helene Münz (verh. Glass). Münz reichte am 13. Juni 1903 ihre Dissertationsschrift „Achim von Arnim’s Gräfin Dolores“ an der philosophischen Fakultät ein, absolvierte am 2. Juli und am 14. Oktober ihre Prüfungen und am 27. November 1903 wurde ihr das Doktorat der Philosophie verliehen.1 Im selben Jahr folgte die Lyzeumsgründerin Rosa Fliegelmann2 und 1905 die Lehrerin, Schuldirektorin und Redakteurin Antonie Hug von Hugenstein3 sowie die spätere Privatdozentin Christine Touaillon.4 Nachdem Frauen an der Universität Wien ab dem Wintersemester 1897/98 an der philosophischen Fakultät zum Studium zugelassen worden waren, gehörte die Germanistik sogleich zu den von Studentinnen am häufigsten gewählten Fächern. Von den insgesamt 1 797 Germanisten und Germanistinnen, die von 1903 bis 1938 ihr Studium in Wien mit dem Doktorat abschlossen, waren mehr als ein Drittel, nämlich 631, Frauen.5 Damit gehörte die Wiener Germanistik zu den mit Abstand größten Instituten im deutschsprachigen Raum und zu denjenigen, an denen – ebenfalls mit Abstand – die meisten Frauen promovierten. An der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin erlangten von 1901, dem Jahr der ersten Promotion einer Germanistin, bis 1918 sieben Germanistinnen
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Universitätsarchiv Wien [UAW], Rigorosenprotokoll der philosophischen Fakultät [RP phil. Fak.] Protokollnummer [PN] 1622 und Rigorosenakt [RA] phil. Fak. PN 1622 (Helene Münz). UAW, RA phil. Fak. PN 1626. Zur Schule von Fliegelmann vgl. Gabriele Fischer, Das Mädchenlyzeum Feri-Fliegelmann, in: Geschichte der österreichischen Mädchenmittelschule, Bd. 2: Geschichte der einzelnen Anstalten, hg. von Amalie Mayer, Hildegard Meissner und Henriette Siess, Wien 1955, S. 122. UAW, RA phil. Fak. PN 1777. Zu Hug von Hugensteins Rolle in der österreichischen Frauenbewegung vgl. Hanna Hacker, Wer gewinnt? Wer verliert? Wer tritt aus dem Schatten? Machtkämpfe und Beziehungsstrukturen nach dem Tod der großen Feministin Auguste Fickert (1910), in: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 1 (1996), S. 97–106. UAW, RA phil. Fak. PN 1887. Zu Touaillon vgl. Elisabeth Grabenweger, Germanistik in Wien. Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen 1897–1933, Berlin/Boston 2016, S. 89–138. Zu den einzelnen, teils disparaten Quellen für diese Angaben s. weiter unten sowie die Anmerkungen 13 bis 15. – Da die Immatrikulation an der Universität Wien immer für eine bestimmte Fakultät, nicht aber für einzelne Fächer erfolgte, existieren keine Verzeichnisse, in denen die Einschreibzahlen von Studienfächern vermerkt sind. Aus diesem Grund können die recherchierten Promotionszahlen im Folgenden nur in Einzelfällen mit der Studierendenfrequenz an der Wiener Germanistik verglichen werden.
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das Doktorat (in Wien waren es im selben Zeitraum 83) und von 1919 bis 1932 insgesamt 17 Germanistinnen (in Wien waren es 218).6 Am Seminar für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München war die Anzahl der Promovendinnen zwar bedeutend höher als in Berlin, aber nicht annähernd so hoch wie in Wien. Die erste Germanistin in München promovierte 1908 und bis 1932 waren es insgesamt 83 (in Wien hingegen 292).7 Im Folgenden wird das Augenmerk auf die ersten Promovendinnen der Wiener Germanistik gelegt, wobei für jene 23 Studentinnen der Deutschen Philologie, die bis Ende 1910 an der philosophischen Fakultät einen Antrag auf Zulassung zu den Rigorosen stellten, sämtliche Rigorosenakten und -protokolle ausgewertet wurden, und für jene 631 Promotionskandidatinnen bis Ende 1938 statistische Erhebungen sowie universitätsrechtliche und historische Recherchen durchgeführt wurden. Die Einteilung der Untersuchungszeiträume bis 1910 und bis 1938 erfolgte anhand bildungs- und universitätshistorischer sowie politischer Kategorien: Das Jahr 1910 stellt insofern eine Zäsur dar, als zum ersten Mal an der Wiener Germanistik Frauen promovieren konnten, denen es davor möglich gewesen war, intern an einem Mädchengymnasium, und nicht wie bisher als Externistinnen an einem Knabengymnasium, die Reifeprüfung abzulegen. Mit dieser einschneidenden Veränderung in der Geschichte des österreichischen (Mädchen-)Bildungswesens „normalisierten“ sich, wie zu zeigen sein wird, die bis dahin selten kontinuierlich verlaufenden, oftmals kompliziert zusammengesetzten Schullaufbahnen der Promovendinnen. 1938 hatte der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich auch unmittelbare Folgen für die Universitäten des Landes. Noch während der mehr als einmonatigen Schließung der Wiener Universität wurde bereits am 23. April 1938 zunächst ein Numerus Clausus von 2 % für inländische jüdische Studierende erlassen und mit dem Wintersemester 1938/39 wurden jüdische Studierende ausnahmslos vom Studium ausgeschlossen.8 In Bezug auf Promotionen jüdischer Studierender wurde mit Erlass vom 20. Juni 1938 bestimmt, dass nur noch Studierende, die bereits das Absolutorium erhalten hatten, bis zum 31. Oktober 1938, später verlängert bis zum 31. Dezember 1938, zu den Rigorosen zugelassen werden sollten, wobei 40 % der unter diesen Bedingungen eröffneten Verfahren nicht mehr abgeschlossen werden konnten.9 Von den als „nicht-arisch“ klassifizierten Promovendinnen der Wiener Germanistik, deren Dissertation bereits approbiert war, konnten 1938 nur noch 8 Kandidatinnen un-
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Levke Harders, Studiert, promoviert: Arriviert? Promovendinnen des Berliner Germanischen Seminars (1919–1945), Frankfurt (Main) u. a. 2004, S. 57 u. 59. Magdalena Bonk, Deutsche Philologie in München. Zur Geschichte des Faches und seiner Vertreter an der Ludwig-Maximilians-Universität vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1995, S. 356–357. Herbert Posch, März 1938. „Anschlusz“ und Ausschluss: Vertreibung der Studierenden der Universität Wien, in: „Anschluß“ und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien, hg. von dems., Doris Ingrisch und Gert Dressel, Wien 2008, S. 99–139, hier S. 105–114. Zu den nationalsozialistischen Promotionsbeschränkungen für jüdische Studierende von 1938 vgl. ebd., S. 116–139.
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ter zahlreichen symbolischen Diskriminierungen im Rahmen eigens eingerichteter „Nichtarierpromotionstermine“ das Doktorat abschließen.10 Im ersten Abschnitt des Beitrags werden zunächst die Entwicklung des österreichischen (Mädchen-)Bildungswesens, Bestimmungen zur Erlangung der Hochschulreife, rechtliche Zulassungsbedingungen von Frauen zum Studium und die bis 1916 geltenden Sonderregelungen der Lehramtsprüfungskommission jeweils in Bezug auf die Situation der ersten Promovendinnen besprochen. Daran anschließend werden Promotionsbedingungen rekonstruiert, Rigorosenordnungen und Studierendeninstruktionen ausgewertet sowie Studierendenfrequenzen, Belegungszahlen von Studienfächern und Promotionszahlen recherchiert. Der zweite Abschnitt ist den einzelnen Rigorosenakten der 23 Promotionskandidatinnen bis 1910 gewidmet, wobei bildungs- und lebensgeschichtliche Daten (Schullaufbahn, Alter bei der Promotion) ebenso referiert und analysiert werden wie die Auswahl der Gutachter und die Einordnung der Dissertation in eines der beiden Fachgebiete der zeitgenössischen Germanistik (ältere und neuere Abteilung). Schließlich werden die in den Rigorosenakten enthaltenen Gutachten sowohl einer formalen als auch inhaltlichen Analyse unterzogen, um Bewertungskriterien und Beurteilungsschemata zu ermitteln. Am Ende des Beitrags befindet sich außerdem eine tabellarische Übersicht über alle Promovendinnen, die bis 1910 ihre Dissertation einreichten, in der unter anderem die Geburtsdaten und -orte der Kandidatinnen, die Titel der Dissertationen, die Gutachter und die Rigorosenprotokollnummern verzeichnet sind. Die vorliegende Untersuchung beruht zum überwiegenden Teil auf Quellen aus dem Wiener Universitätsarchiv, wobei vor allem die Rigorosenakten der ersten 23 Promotionskandidatinnen der Germanistik bis 1910 transkribiert und ausgewertet wurden.11 In den – durchgängig handschriftlichen – Rigorosenakten sind die Protokollnummer des Dissertationsverfahrens, das Einreichdatum sowie Erst- und Zweitgutachter (in der zeitgenössischen Universitätsadministrationssprache „Referent“ und „Coreferent“) zu finden, außerdem das Anschreiben der Promotionskandidatin, ein etwa einseitiger Lebenslauf, die Ministerialbewilligung (Zulassung der Kandidatin zu den „strengen Prüfungen“), das Dissertationsgutachten des Referenten sowie die Empfangsbestätigung der Dissertations-Begutachtungs-Taxe über 40 Kronen. Darüber hinaus enthalten einzelne Rigorosenakten die Bitte der Kandidatin um „Ausfolgung“ (Herausgabe) der Dissertationsschrift zum Zwecke der Drucklegung (Münz, Sobel, M. Minor, Spedl, Elsner, Gross-Pollak), Meldungsbögen, das heißt Listen der absolvierten Lehrveranstaltungen (Touaillon), das Maturitätszeugnis (Touaillon) oder ein Siglenverzeichnis für die Dissertation (Feichtinger). In zwei Rigorosenakten
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Herbert Posch, Akademische „Würde“. Aberkennung und Wiederverleihung akademischer Grade an der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1 (unpubl. Diss. Wien 2009), S. 237–250 u. 365–374 (vollständige Namensliste der „Nichtarierpromotionen“ von 1938). 11 UAW, RA phil. Fak. 1903–1910. Zu den einzelnen Protokollnummern vgl. Tabelle 1. – Für die Korrektur einzelner Transkriptionen danke ich Katharina Kniefacz, Universitätsarchiv Wien, Mirko Nottscheid, Deutsches Literaturarchiv Marbach, und Manuel Swatek, Wiener Stadt- und Landesarchiv, für Hinweise Holger Dainat, Universität Bielefeld, und Marianne Windsperger, Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien.
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finden sich zudem Rücktrittserklärungen der Kandidatinnen vom Dissertationsverfahren (Wertheimer, Tragau). In den Rigorosenakten nicht enthalten sind die Termine und Prüfer der Rigorosen, Prüfungsbeurteilungen und das Datum der Verleihung des Titels. Diese Angaben vermerkt das chronologisch geführte Rigorosenprotokoll der philosophischen Fakultät, das sich ebenfalls im Universitätsarchiv befindet.12 Die Namen und die Anzahl der Promovendinnen der Germanistik, die Titel der Dissertationen und das Jahr der Einreichung wurden bis 1912 anhand der Recherche und des Abgleichs von vier verschiedenen Quellen ermittelt. Zunächst anhand der gedruckten Promotionsverzeichnisse der Universität Wien.13 Die daraus entnommenen Daten wurden kontrolliert und korrigiert anhand des Rigorosenprotokolls, der Rigorosenakten und eines handschriftlichen, chronologischen Verzeichnisses aller Promovendinnen der Universität Wien (ohne Angabe des Studienfaches), das bis zum Studienjahr 1931/32 von der Pedellenkanzlei angefertigt wurde und ebenfalls im Universitätsarchiv aufbewahrt wird.14 Die Angaben zu den Promovendinnen ab 1913 sowie zu allen männlichen Promovenden beruhen, wenn nicht anders angegeben, ausschließlich auf den gedruckten Promotionsverzeichnissen der philosophischen Fakultät.15
BILDUNGSHISTORISCHER KONTEXT Mädchenschulwesen, Reifeprüfung und Zulassung zum Studium Die Zulassung von Frauen zum Studium und der Ausbau sowie die Institutionalisierung der höheren Mädchenbildung in Österreich waren von einer komplexen Ungleichzeitigkeit der Entwicklung gekennzeichnet. Obwohl sich Frauen ab dem Wintersemester 1897/98 an den philosophischen und ab 1900 an den medizinischen Fakultäten Österreichs sowohl als außerordentliche als auch als ordentliche Hörerinnen immatrikulieren durften,16 war es ihnen bis ins 20. Jahrhundert nicht möglich, 12 13
UAW, RP phil. Fak. 1903–1910. [Franz Gebauer], Verzeichnis über die seit dem Jahre 1872 an der philosophischen Fakultät der Universität in Wien eingereichten und approbierten Dissertationen, 4 Bde, hg. vom Dekanate der Philosophischen Fakultät der Universität in Wien, Wien 1935–1937; Lili Alker, Verzeichnis der an der Universität Wien approbierten Dissertationen 1937–1944, Wien 1954. 14 UAW, RP phil. Fak. 1903–1912; UAW, RA phil. Fak. 1903–1912; Verzeichnis über diejenigen Damen, welche an der k. k. Universität Wien zu Doctoren promovirt wurden 1897–1933, UAW, Akademischer Senat, S 114 (Frauenstudium). 15 Gebauer, Verzeichnis (Anm. 13); Alker, Verzeichnis (Anm. 13). Diese Angaben können geringfügige Abweichungen von der tatsächlichen Zahl der Promovenden und Promovendinnen aufweisen, da, wie die Überprüfung der Rigorosenakten bis 1912 ergeben hat, das gedruckte Verzeichnis teilweise auch Doktoratsstudierende listet, die zwar eine Dissertation verfassten und zu den Rigorosen zugelassen wurden, aber nicht promovierten. Außerdem sind sie chronologisch fortlaufend hinsichtlich des Einreichungsdatums der Dissertation und damit im Sinne der Rigorosenprotokollnummern gelistet, aber nicht im Sinne der tatsächlich erfolgten Promotion. 16 Die Zulassung von Frauen zum Studium in Österreich ging mit der Zulassung sowohl zur Promotion als auch zur Lehramtsprüfung einher. Zu dieser Thematik nach wie vor grundlegend Waltraud Heindl und Marina Tichy (Hg.), „Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück. . .“. Frauen an der Universität Wien (ab 1897), Wien 1990.
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als Schülerinnen einer staatlichen Bildungseinrichtung die Matura und damit die Berechtigung zum Universitätsstudium zu erlangen. Während das niedere Schulwesen, also die vierklassigen Volksschulen, seit der Allgemeinen Schulordnung Maria Theresias vom 6. Dezember 1774 staatlich normiert war, blieb der Bereich der höheren Mädchenbildung bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts überwiegend von privaten Initiativen abhängig.17 Zwar wurde 1869 mit dem Reichsvolksschulgesetz die Einrichtung staatlicher Lehrerinnenbildungsanstalten, in denen Frauen zu Kindergärtnerinnen sowie zu Volks- und Bürgerschullehrerinnen ausgebildet werden konnten, verfügt,18 Gymnasien und Realschulen blieben aber weiterhin der männlichen Jugend vorbehalten. Die erste höhere Mädchenschule in Wien wurde auf Antrag der Frauenrechtlerin Marianne Hainisch 1871 vom fünf Jahre davor gegründeten Frauen-Erwerbs-Verein eröffnet, nachdem der Antrag des Vereinsvorstands an die Gemeinde Wien, entweder Parallel-Klassen für Mädchen an bestehenden KnabenGymnasien oder ein eigenes Unterrealgymnasium zu eröffnen, abgelehnt worden war. Die „höhere Bildungsschule“ des Frauen-Erwerb-Vereins schloss an die Volks- und Bürgerschule an, wurde zunächst vierklassig für zwölf- bis 16-jährige Schülerinnen und ab 1877 nach dem Vorbild des 1873 gegründeten Grazer „Mädchenlyceums“, dem ersten in Österreich, sechsklassig geführt.19 Ebenfalls mit Beteiligung von Marianne Hainisch wurde 1888 der Verein für erweiterte Frauenbildung gegründet und von diesem 1892 in Wien das erste Mädchengymnasium Österreichs eröffnet. Doch trotz eines zu den Knabengymnasien äquivalenten Lehrplans mit Latein und Griechisch erhielt die sogenannte „gymnasiale Mädchenschule“ erst 1903 das Öffentlichkeitsrecht, und erst 1906 konnten die ersten Schülerinnen dort maturieren.20 Die meisten Maturantinnen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mussten aber – auch nach der Verleihung des Öffentlichkeitsrechts an dieses eine Mädchengymnasium – die Reifeprüfung weiterhin als externe Prüfungskandidatinnen nach oftmals kostspieligem und langwierigem Privatunterricht an einem der dafür bestimmten staatlichen Knabengymnasien ablegen.21
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Vgl. Gertrud Simon, Entwicklung und Normierung des Höheren Mädchenschulwesens in Österreich im Vergleich mit Preußen, in: metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis 9 (1996), S. 22–35, hier S. 23; dies., „Von Maria Theresia bis Eugenie Schwarzwald“. Mädchen- und Frauenbildung in Österreich zwischen 1774 und 1919 im Überblick, in: Geschichte der Frauenbildung und Mädchenerziehung in Österreich. Ein Überblick, hg. von Ilse Bremer und Gertrud Simon, Graz 1997, S. 178–187. Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 4: Von 1848 bis zum Ende der Monarchie, Wien 1986, S. 214–218. Simon, Entwicklung und Normierung (Anm. 17), S. 26–29. Ebd., S. 30. Diese Knabengymnasien waren ab 1896 das kaiserlich-königliche akademische Gymnasiun in Wien, die Staatsgymnasien in Linz, Salzburg, Innsbruck, Graz, Klagenfurt, Laibach/Ljubljana, Triest, Troppau/Opava (Schlesien), Krakau, Czernowitz, die italienischen Staatsgymnasien in Trient und Capodistria/Koper, das deutsche Staatsgymnasium in Prag-Kleinseite und das böhmische akademische Gymnasium in Prag, außerdem das polnische Franz Joseph-Gymnasium, das deutsche Staatsgymnasium und das ruthenische akademische Gymnasium in Lemberg, das deutsche und das böhmische Staatsgymnasium in Brünn/Brno sowie das italienische Staatsgymnasium in Zara/Zadar und das serbo-kroatische Staatsgymnasium in Spalato/Split. – Verordnung
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„Frauenstudium“ und Sonderprüfungen für das Lehramt Dass diese Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Zulassung von Frauen zum Studium und der Zulassung zu gymnasialen Bildungsmöglichkeiten durchaus staatlich gewollt war, zeigte sich bereits 1897 an zwei Ministerialverordnungen, mit denen innerhalb von nur zwei Tagen der Zugang von Frauen zu den Universitäten explizit erlaubt, der Zugang zu den öffentlichen Realschulen und Gymnasien aber untersagt wurde. So heißt es in der Verordnung des Ministers für Cultus und Unterricht vom 23. März 1897, dass Frauen [. . .] als ordentliche Hörerinnen an den philosophischen Fakultäten der Universitäten gegen Erfüllung nachstehender Pflichten [österreichische Staatsbürgerschaft, 18. Lebensjahr, Reifezeugnis; E. G.] zugelassen werden.22 Einen Tag später, im Erlass des Ministers für Cultus und Unterricht vom 24. März 1897, liest man jedoch Folgendes: Die Unterrichtsverwaltung verkennt nicht den Zug der Zeit [. . .]. Jedoch den Mädchen ohne Beschränkung den Zugang zu den für die Bedürfnisse der männlichen Jugend eingerichteten Gymnasien und Realschulen und dann weiter in alle Berufszweige, welche bereits von Männern zur Genüge oder im Übermaße besetzt sind, zu eröffnen, ist nicht in ihrer Absicht gelegen. [. . .] Wenn aber einzelne Mädchen aus eigenem Antrieb durch Privatunterricht oder an Privatgymnasien die den Jünglingen vorgezeichnete Stufe der geistigen Reife erreicht haben, so wäre es unbillig, sie an der Ablegung einer öffentlichen Reifeprüfung zu hindern [. . .]. Die bezeichneten Vorkehrungen [externe Reifeprüfung, Nostrifikation von im Ausland erworbener Abschlüsse, Zulassung zum Studium an den philosophischen Fakultäten; E. G.] beziehen sich aber nur auf einen kleinen Kreis, welchen durch Gründung öffentlicher Gymnasien künstlich zu erweitern nicht in den Absichten der Unterrichtsverwaltung liegt.23
Der Erschwerung, die für die Inskription als ordentliche Studentin erforderliche Reifeprüfung abzulegen, entsprachen universitäre Sonderbestimmungen, die Frauen von 1900 bis 1916 auch ohne Matura erlaubten, als außerordentliche Studentinnen an der Universität eigens eingerichtete Lehramtsprüfungen für Mädchenlyzeen abzulegen. Dazu mussten sie kein vollständiges Studium absolvieren, sondern, wie es im betreffenden Erlass heißt, sechs Semester an einer Universität und hievon wenigstens fünf Semester in der philosophischen Fakultät [. . .] zugebracht haben.24
des Ministers für Cultus und Unterricht vom 9. März 1896, Z. 1966, an alle Landesschulbehörden betreffend die Maturitätsprüfungen für Frauen, Ministerialverordnungsblatt Stk. VI, Nr. 18, ausgegeben am 15. März 1896. 22 Verordnung des Ministers für Cultus und Unterricht vom 23. März 1897, Z. 7155, betreffend die Zulassung von Frauen als ordentliche oder außerordentliche Hörerinnen an den philosophischen Fakultäten der k. k. Universitäten, in: Leo Beck und Carl Kelle (Hg.), Die österreichischen Universitätsgesetze. Sammlung der für die österreichischen Universitäten gültigen Gesetze, Verordnungen, Erlässe, Studien- und Prüfungsordnungen, hg. im Auftrage des k. k. Ministeriums für Kultus und Unterricht mit Benützung der amtlichen Akten, Wien 1906, S. 567–569. 23 Erlass des Ministers für Cultus und Unterricht vom 24. März 1897, Z. 895, an sämmtliche Landeschefs, betreffend den höheren Unterricht für die weibliche Jugend, Ministerialverordnungsblatt Stk. VIII, Nr. 20, ausgegeben am 15. April 1897. 24 Erlass des Ministers für Kultus und Unterricht vom 11. Dezember 1900, Z. 34551, an sämtliche Landesschulbehörden, betreffend die Mädchenlyzeen, in: Beck und Kelle, Universitätsgesetze (Anm. 22), S. 576. – Beendet wurde diese Sonderbestimmung mit einer Verordnung des Ministers für Kultus und Unterricht vom 15. Juni 1911, wo es in Artikel XXXIV heißt, dass
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An einem gleichwertigen, mit dem Doktorat abzuschließenden universitären Studium für Frauen war die staatliche Bildungspolitik also nicht primär interessiert. Vielmehr offenbaren die Sonderbestimmungen das Ansinnen der österreichischen Unterrichtsverwaltung, Frauen deshalb studieren zu lassen, um Lehrerinnen für Mädchenschulen, welche ihren Zöglingen nicht bloß eine bessere Bildung vermitteln, sondern sie vor allem zu echter Weiblichkeit erziehen sollen, [. . .] entsprechend vorgebildet und in genügender Zahl zu gewinnen.25 Die Logik hinter dieser Studienbestimmung, die ausschließlich für Frauen galt, bestand in einem Kreislauf der nicht äquivalenten Bildungsmöglichkeiten für Knaben und Mädchen, denn auch nach der Zulassung von Frauen zum Studium wurden nicht Gymnasien für Mädchen, sondern zunehmend Höhere Töchterschulen und Mädchenlyzeen gegründet.26 Wenn also in die vorliegende Studie nur Germanistinnen, die ihr Studium mit der Promotion abschlossen, aufgenommen wurden, dann darf nicht unerwähnt bleiben, dass es noch eine viel größere Anzahl an Studentinnen gab, die ihr Studium nicht mit dem Doktorat, sondern mit dem Lehramt beendeten.
Promotionsvoraussetzungen, Rigorosenordnung und Instruktionen für Studierende Den Promotionen derjenigen Studentinnen und Studenten, die hier berücksichtigt werden, lag die Rigorosenordnung der philosophischen Fakultäten vom 11. März 1899 zugrunde, die mit Beginn des Studienjahres 1899/1900 in Kraft trat. Zum Doktorat zugelassen wurden ausschließlich ordentlich immatrikulierte Studierende, die eine in- oder ausländische philosophische Fakultät [. . .] durch vier Jahre besucht habe[n]. Außerdem mussten sie eine wissenschaftliche Untersuchung über ein frei gewähltes Thema aus einem der dem Bereiche der philosophischen Fakultät angehörigen und mindestens durch eine Lehrkanzel vertretenen Fächer vorlegen, die von zwei Lehrenden des Dissertationsfaches, wenn möglich ordentlichen Professoren, begutachtet wurde. Nach positiver Bewertung der Abhandlung wurde der Kandidat oder die Kandidatin zu den beiden „strengen Prüfungen“, das heißt zu den mündlichen Rigorosen, zugelassen. Diese mündlichen Rigorosen bestanden aus einer zweistündigen Prüfung im Dissertations- und einer einstündigen Prüfung im Nebenfach und Kandidatinnen, die nur ein Reifezeugnis eines sechsklassigen Mädchenlyzeums besitzen, [. . .] bis zum Ende des Studienjahres 1915/16 um Zulassung zur Lehramtsprüfung nach dem h. o. Erlasse vom 11. Dezember 1900 [. . .] ansuchen können. Nach diesem Zeitpunkte tritt die ebengenannte Prüfungsvorschrift völlig außer Kraft. Verordnung des Ministers für Kultus und Unterricht vom 15. Juni 1911, Z. 24113, betreffend die Erwerbung der Befähigung für das Lehramt an Mittelschulen (mit Einschluß der Mädchenlyzeen), Ministerialverordnungsblatt Stk. XIII, Nr. 21, ausgegeben am 23. Juni 1911. 25 Erlass des Ministers für Cultus und Unterricht vom 24. März 1897, Z. 895 (Anm. 23). 26 1911 gab es in „Deutsch-Österreich“ 41 Lyzeen, sechs höhere Töchterschulen und 34 Lehrerinnenbildungsanstalten, jedoch nur acht Gymnasien für Mädchen, die außerdem nur zum Teil Maturaprüfungen abhalten durften. Vgl. Anonym, Die Aussichtslosigkeit des philosophischen Frauenstudiums, in: Neues Frauenleben 23.12 (1911), S. 321–324, hier S. 322. – Zur Diskussion dieser Sonderbestimmung innerhalb der Frauenbewegung s. außerdem Flora Hochsinger, Über die neue Prüfungsvorschrift für das Lehramt an Mittelschulen, in: ebd., S. 324–325.
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wurden – wie auch die Dissertationsschrift selbst – nach einem dreigliedrigen Schema mit der Beurteilung „ausgezeichnet“, „genügend“ oder „ungenügend“ beurteilt. Die ebenfalls in der Rigorosenordnung festgesetzten Prüfungstaxen beliefen sich auf jeweils 40 Kronen für die Begutachtung der Dissertation und das einstündige Rigorosum sowie 80 Kronen für das zweistündige Rigorosum.27 Zusätzlich zur Rigorosenordnung von 1899, die wesentliche Fragen der Einreichungs- und Prüfungspraxis unbeantwortet lässt, wurden ein Jahr später zum ersten Mal Instruktionen, insbesondere auch zum Gebrauche für Studierende, veröffentlicht, die, wie es im Erlass des Ministers für Cultus und Unterricht vom 27. Jänner 1900 heißt, die Einhaltung eines gleichmäßigen Vorganges bei der Erlangung des Doktorats gewährleisten sollten. Diese Instruktionen, die den Studierenden über das öffentlich einsehbare Ministerialverordnungsblatt und – wie andere Inskriptionshinweise auch – durch Aushang in den Anschlagskästen der Universität zugänglich waren,28 enthielten Angaben über die einzureichenden Unterlagen, die formalen Ansprüche an eine Dissertation und den Ablauf der Rigorosen.29 Interessant sind diese Instruktionen auch mit Blick auf die zeitgenössisch zahlreichen Einführungen in das Studium der Deutschen Philologie, die das Bedürfnis nach Orientierung, das der starke Anstieg der Studierendenzahlen und die Zurücknahme der Einzelbetreuung im Studium hervorgerufen hatte, zu stillen versuchten. Diese Studieneinführungen – mit Titeln wie „Wie studiert man neuere Philologie und Germanistik?“ (1884), „Bemerkungen über das Studium der deutschen Philologie“ (1890), „Wie studiert man Neuere Philologie?“ (1904), „Das Studium der deutschen Philologie“ (1913) oder „Wie studiert man Deutsch?“ (1917), um nur einige wenige zu nennen – hatten jedoch den Nachteil, dass sie nicht oder nur selten auf konkrete Rigorosenordnungen einzelner Universitäten und Länder eingingen, sondern vielmehr allgemeine Ratschläge für das Studium beinhalteten.30 Die offiziellen Instruktionen für die philosophischen Fa27
Verordnung des Ministers für Cultus und Unterricht vom 16. März 1899, betreffend eine abgeänderte Rigorosenordnung für die philosophischen Facultäten der Universitäten der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, in: Beck und Kelle, Universitätsgesetze (Anm. 22), S. 949–952. 28 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts (und darüber hinaus) wurden Inskriptionshinweise und „Belehrungen“ für Studierende sowohl bei den Dekanaten und der Quästur ausgehängt als auch vom Portier, bei dem die Studierenden die „Inskriptionsdrucksorten“ (also Formulare) kauften, verteilt. – Für diese und viele andere Informationen danke ich Ulrike Denk, Universitätsarchiv Wien. 29 Erlass des Ministers für Cultus und Unterricht vom 27. Jänner 1900, Z. 26385 ex 1899, an die Decanate sämmtlicher philosophischer Fakultäten, womit eine Instruction zu der mit hierortiger Verordnung vom 16. März 1899 erlassenen Rigorosenordnung für die philosophischen Fakultäten kundgemacht wird, in: Beck und Kelle, Universitätsgesetze (Anm. 22), S. 952–957. 30 Wie studiert man neuere Philologie und Germanistik? Von einem älteren Fachgenossen, Leipzig 1884; Paul Machule, Bemerkungen über das Studium der deutschen Philologie und die Prüfungsordnung für das höhere Lehramt, Leipzig 1890; Max Gaßmeyer, Wie studiert man Neuere Philologie? Leipzig 1903; Friedrich von der Leyen, Das Studium der deutschen Philologie, München 1913; Georg Baesecke, Wie studiert man Deutsch?, München 1917. – Die erste Studieneinführung, die sich speziell mit der Wiener philosophischen Fakultät auseinandersetzt, erschien erst 1927 in einer ersten, aber bereits 1928 in einer zweiten, ergänzten Auflage. Richard Meister, Studienführer für die philosophische Fakultät der Universität Wien. Im Auftrage des Professorenkollegiums, Wien/Leipzig 1928.
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kultäten in Österreich können als Reaktion auf diese akademische „Ratgeberliteratur“ gesehen werden. Sie gaben konkrete Anweisungen, welche Unterlagen dem Gesuch beizulegen waren: der Tauf- oder Geburtsschein, das Gymnasialmaturitätszeugnis, das Abgangszeugnis einer in- oder ausländischen Universität, ein Curriculum Vitae, in dem der Verlauf der Universitätsstudien detailliert dargestellt wird, und eine handschriftliche oder gedruckte wissenschaftliche Dissertationsschrift. Diese musste auf deutsch, also in der Vortragssprache der Universität abgefasst werden (Ausnahmen bilden die Klassische Philologie und die Fremdsprachenphilologien), im Falle eines Manuskripts wohl geordnet und deutlich geschrieben sein und sie durfte nur dann als Inaugural-Dissertation publiziert werden, wenn sie von den Referenten als hierfür geeignet befunden wurde.31 Angaben, nach welchen inhaltlichen Kriterien Dissertationen beurteilt wurden, finden sich jedoch weder in der Rigorosenordnung von 1899 noch in den Instruktionen von 1900. Aufschluss darüber gibt aber, wie im zweiten Teil deutlich werden wird, die Analyse der in den Rigorosenakten enthaltenen Dissertations-Gutachten. Diese Gutachten waren ab 1910 außerdem mit dem vorgedruckten Hinweis versehen, dass es ausdrücklich hervorzuheben [ist], wenn die betreffende Abhandlung vermöge ihrer wissenschaftlichen Qualität das Maß des Gewöhnlichen weit übertrifft und die Eignung zur selbständigen Forschung in exceptionell ausgezeichneter Weise dartut.32
Studierendenfrequenzen und Fächerwahl Im Wintersemester 1897/98, dem ersten Semester, in dem Frauen an der Universität Wien studieren durften, waren an der philosophischen Fakultät insgesamt 37 Frauen immatrikuliert. Davon wurden 3 als ordentliche Studentinnen geführt, die übrigen 34 waren außerordentliche Hörerinnen, Frequentantinnen und Hospitantinnen.33 Im Sommersemester 1900 waren unter insgesamt 800 ordentlich und 211 außerordentlich immatrikulierten Studierenden der philosophischen Fakultät 30 ordentliche und 20 außerordentliche Hörerinnen. In den folgenden Jahren stieg die Gesamtstudierendenzahl und mit ihr die Anzahl der studierenden Frauen massiv an. Im Wintersemester 1905/1906 waren bereits 1 858 ordentliche Studierende, davon 87 Frauen, und 723 außerordentliche Studierende, davon 168 Frauen, an der philosophischen Fakultät eingeschrieben. Ein Jahr später, für das Wintersemester 1906/07, verzeichnet die Studierendenstatistik 1 993 ordentliche Studierende, davon 98 Frauen, und 853 außerordentliche Studierende, davon 230 Frauen. Nach diesem Anstieg stagnierten die Studierendenzahlen oder gingen wieder leicht zurück: Im Wintersemester 1913/14, dem letzten Herbstsemester vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, waren an der philosophischen Fakultät 1 784 ordentliche Studierende, darunter 314 31
Erlass des Ministers für Cultus und Unterricht vom 27. Jänner 1900 [. . .], womit eine Instruction zu der [. . .] 1899 erlassenen Rigorosenordnung für die philosophischen Fakultäten kundgemacht wird, in: Beck und Kelle, Universitätsgesetze (Anm. 22), S. 954. 32 Das erste Gutachten, das diese Instruktion für die Gutachter enthält, ist das von Jerina Mazzura. UAW, RA phil. Fak. PN 3051. 33 Heindl und Tichy, Erkenntnis (Anm. 16), S. 80.
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Studentinnen, und 891 außerordentliche Studierende, darunter 233 Studentinnen, eingeschrieben. Während des Ersten Weltkriegs gab es aufgrund der hohen Zahl an Kriegseinsätzen unter den Studenten zum ersten Mal knapp mehr ordentliche Hörerinnen als Hörer an der philosophischen Fakultät: Von den im Wintersemester 1916/17 insgesamt 1 125 ordentlich immatrikulierten Studierenden waren 602 Frauen. Bereits im ersten „Friedenssemester“, im Sommersemester 1919, war das Zahlenverhältnis aber wieder deutlich umgekehrt: Unter den 1 974 ordentlich immatrikulierten Studierenden fanden sich „nur mehr“ 598 Hörerinnen. Im Wintersemester 1937/38, dem letzten vor dem „Anschluss“, belief sich die Gesamtstudierendenzahl der Universität Wien auf 9 180; an der philosophischen Fakultät gab es insgesamt 3 168 Studierende, davon waren bereits 42,4 %, also 1 343, Frauen. Ein Jahr später, im Wintersemester 1938/39, war die Studierendenzahl stark gesunken; um insgesamt 41,7 % auf 5 351.34 Von den Nationalsozialisten wurde 1938 fast ein Viertel (23 %) aller Studierenden der Wiener Universität verfolgt und vertrieben.35 Die Lehrveranstaltungen der Deutschen Philologie gehörten unter den Studentinnen der Wiener Universität von Anfang an zu den mit Abstand beliebtesten. Zwar lassen sich keine Aussagen über die tatsächliche Wahl eines bestimmten Studienfaches treffen, die semesterweise von allen Studierenden auszufüllenden Nationalen (Inskriptionsblätter) geben jedoch für alle Studierenden einzeln Auskunft über die jeweils belegten Vorlesungen, Übungen und Seminare. Bereits im Wintersemester 1897/98 schrieben sich 18 der insgesamt 32 österreichischen Studentinnen für Lehrveranstaltungen der Germanistik ein, 1904/05 waren es 186 von 218 und 1913/14 immer noch 305 von 520.36 Die einzigen Lehrveranstaltungen, die in manchen Semestern von Frauen etwas häufiger belegt wurden als germanistische, waren philosophische. Diese waren jedoch – unabhängig vom Fach der Promotion – für die Erlangung des Doktorats an der philosophischen Fakultät verpflichtend, ebenso wie der Besuch von Lehrveranstaltungen der Psychologie und Pädagogik für den Lehramtsabschluss nachgewiesen werden musste. Lässt man demgemäß diese Studienrichtungen außer Acht, waren 1897/98 die – weit nach der Germanistik – am häufigsten gewählten Lehrveranstaltungen in absteigender Reihenfolge aus den Fächern Geschichte, Mathematik, Physik und Chemie. Erst danach folgten Romanische Philologie und Kunstgeschichte.37
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Die einzelnen Studierendenzahlen sind den semesterweisen, gedruckten Vorlesungsverzeichnissen entnommen, in denen sich im Anhang jeweils eine Übersicht über die an der Universität Wien inskribierten Hörer und Hörerinnen befindet. – Öffentliche Vorlesungen an der K. K. Universität zu Wien, Wien 1897–1918; Öffentliche Vorlesungen an der Universität zu Wien, Wien 1919–1939. 35 Vgl. zu diesen Zahlen und deren Analyse Herbert Posch, Die Studierenden von 1938, in: „Anschluß“ (Anm. 8), S. 141–177, hier S. 154–155. 36 Die Angaben zur Fächerwahl sind der Studie von Waltraud Heindl und Marina Tichy entnommen. Diese berücksichtigt aber – leider ohne darauf hinzuweisen – für die Erhebungen der von Studentinnen inskribierten Lehrveranstaltungen nur „österreichische“ Hörerinnen, weshalb hier für das Wintersemester 1897/98 nicht 37 Studentinnen, sondern nur 32 vermerkt sind. Heindl und Tichy, Erkenntnis (Anm. 16), S. 86–87. 37 Ebd.
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Promotionszahlen Die erste Frau, die an der Universität Wien promoviert wurde, war die Ärztin Gabriele Possanner von Ehrenthal, deren medizinischer Abschluss an der Universität Zürich von 1894 bereits vor der Zulassung von Frauen zum Studium in Wien, am 2. April 1897, nostrifiziert wurde. Die erste Promovendin der Philosophie, Gabriele von Wartensleben, geborene Freiin von Andrian-Werburg, hatte ebenfalls nicht an der Universität Wien, sondern an der Universität Zürich und als außerordentliche Hörerin an den Universitäten Leipzig und Heidelberg studiert, bevor sie ihre Dissertation in Klassischer Philologie an der Universität Wien einreichte und dort am 3. Mai 1900 promovierte. Wenige Wochen später folgte die Mathematikerin Cäcilie Wendt und ein Jahr später die Romanistin Elise Richter, die 1907 außerdem die erste habilitierte Frau in Österreich wurde. Demnach war Helene Münz 1903 zwar die erste promovierte Germanistin, aber bereits die 22. oder, wenn man das Ehrendoktorat für Marie von Ebner-Eschenbach von 1900 mitrechnet, die 23. Frau, der an der Wiener Universität das Doktorat verliehen wurde. Bis Ende des Jahres 1912 promovierten an der Universität Wien insgesamt 216 Frauen, davon 139 an der philosophischen und 77 an der medizinischen Fakultät. Unter den promovierten Philosophinnen finden sich 30 Germanistinnen.38 Die Promotionszahlen unter den Wiener Germanistinnen nahmen kontinuierlich zu. Waren es 1903 mit Helene Münz und Rosa Fliegelmann noch zwei Frauen, die das Doktorat erhielten, und 1905 mit Antonie Hug von Hugenstein und Christine Touaillon ebenfalls zwei, so gab es 1911 bereits acht Promotionen von Germanistinnen.39 Bis Ende 1918 promovierten insgesamt 83 Germanistinnen an der Universität Wien und bis Ende 1938 waren es bereits 631. Die Anzahl der promovierten Männer des Faches war – trotz der beachtlichen Zahl an promovierten Frauen – zunächst freilich ungleich höher. In demselben Zeitraum, von 1903 bis 1918, erhielten neben den 83 Germanistinnen 486 Germanisten das Doktorat. Bereits in den 1920er Jahren beginnt sich das Zahlenverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Promovierenden aber auszugleichen: 1921 stehen 36 Promovenden 20 Promovendinnen, 1922 16 Promovenden 10 Promovendinnen und 1924 20 Promovenden 15 Promovendinnen gegenüber. Besonders auffallend und überraschend ist, dass bereits 1925 erstmals mehr Frauen als Männer an der Universität Wien im Fach Deutsche Philologie das Doktorat erhielten: In diesem Jahr standen 21 Promovenden 23 Promovendinnen gegenüber.40 38
Diese Angaben beruhen auf der Auswertung von zwei Quellen: dem „Verzeichnis über diejenigen Damen, welche an der k. k. Universität Wien zu Doctoren promovirt wurden“ (UAW, Akademischer Senat, S 114 (Frauenstudium)), das zwar zwischen medizinischen und philosophischen Promotionen unterscheidet, aber keine Angabe der Promotionsfächer enthält. Diese wurden anhand des Abgleichs mit den Rigorosenakten der philosophischen Fakultät eruiert (ebenfalls im UAW). 39 Rosine Feichtinger, Jerina Mazzura, Helene Freiin von Benz, Emilie Sachs, Agathe Tochten, Therese Pupini, Maria Jezewicz und Emilie Kermeniˇc. 40 Die Anzahl der Promotionen von Germanistinnen bis 1912 wurden anhand der Rigorosenprotokolle und Rigorosenakten im UAW recherchiert, ab 1913 folgen die Angaben: Gebauer, Verzeichnis (Anm. 13); Alker, Verzeichnis (Anm. 13).
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AUSWERTUNG DER RIGOROSENAKTEN BIS 1910 Bildungslaufbahn und Alter der Promovendinnen Die Schullaufbahnen der ersten Promovendinnen der Wiener Germanistik spiegelten die Situation der zeitgenössischen Bildungsmöglichkeiten für Mädchen sowie deren Ausbau um die Jahrhundertwende wider. Klar zu erkennen ist, dass die Geburtsjahrgänge vor 1878 die diskontinuierlichsten Bildungswege aufweisen. Von den insgesamt 23 Germanistinnen, die bis 1910 eine Dissertation einreichten und zu den Rigorosen zugelassen wurden, fallen in diese erste Gruppe die Wienerinnen Antonie Hug von Hugenstein, geboren 1869, Marianne Zycha, geboren 1874, und Amalie Sobel, geboren 1876, sowie die 1878 in Mähren geborene, spätere Privatdozentin Christine Touaillon. Antonie Hug von Hugenstein, die bis 1910 älteste Promovendin der Germanistik, besuchte zunächst von 1884 bis 1888 die kaiserlich-königliche Lehrerinnenbildungsanstalt in Wien, legte 1890 die Lehrbefähigungsprüfung für Volksschulen und 1894 für Bürgerschulen ab und gehörte im Wintersemester 1897/98 als außerordentliche Hörerin zu den ersten Studentinnen der Wiener Universität. 1901 holte sie nach Privatstudien mit 32 Jahren als Externistin die Reifeprüfung nach und 1905 promovierte sie bei Jakob Minor über die „Textgeschichte von Novalis’ Fragmenten“.41 Marianne Zycha, die fünf Jahre später geborene Lehrerin und prominente Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung, war 1897/98 ebenfalls unter den ersten (außerordentlichen) Studentinnen. Sie hatte die Volks- und Bürgerschule sowie die Lehrerinnenbildungsanstalt in Wien absolviert, war seit Dezember 1894 Volksschullehrerin und seit Mai 1897 Bürgerschullehrerin für Deutsch, Geographie und Geschichte. Von 1900 bis 1902 unterbrach sie ihr Universitätsstudium, um sich auf die Reifeprüfung vorzubereiten, die sie als 28-jährige Privatistin 1902 ablegte. 1907 promovierte sie ebenfalls bei Jakob Minor über „Goethes Naturaufsatz“.42 Amalie Sobel, die spätere Lyzeumsgründerin, besuchte die Volks- und Bürgerschule sowie eine gewerbliche Fortbildungsschule in Wien, legte im Mai 1897 am kaiserlichköniglichen Akademischen Gymnasium die Lehramtsprüfung für Klavier ab und bereitete sich ab 1899 mit Privatunterricht auf die Reifeprüfung vor, die sie im September 1902 im Alter von 26 Jahren am kaiserlich-königlichen Deutschen Gymnasium in Prag Kleinseite absolvierte, um sich als ordentliche Studentin an der Universität Wien zu immatrikulieren. Ihre Dissertation „Börne als Dramaturg“ reichte sie 1906 ein.43 Die letzte in dieser Gruppe, Christine Touaillon, besuchte nach Volks- und Bürgerschule die Höhere Töchterschule des Beamtenvereins in Wien und ab 1893 die Lehrerinnenbildungsanstalt des kaiserlich-königlichen Civilmädchenpensionats. Im Wintersemester 1897/98 immatrikulierte sie sich als außerordentliche Studentin, im September 1902 maturierte sie 24-jährig als Externistin am kaiserlichköniglichen Staatsgymnasium Salzburg und 1905 promovierte sie über „Zacharius Werners ‚Attila, König der Hunnen‘“.44 41 42 43 44
UAW, RA phil. Fak. PN 1777. UAW, RA phil. Fak. PN 2139. UAW, RA phil. Fak. PN 2082 UAW, RA phil. Fak. PN 1887. Ein Exemplar der handschriftlichen Dissertation ist unter ihrem Mädchennamen Auspitz in der UB Wien zu finden.
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Das Geburtsjahr 1878 markiert die Grenze, ab der es in Wien für Mädchen die Möglichkeit gab, die 1892 gegründete gymnasiale Mädchenschule zu besuchen, die als einzige Bildungseinrichtung Mädchen explizit auf die Reifeprüfung vorbereitete und somit zum ersten Mal eine kontinuierliche Schullaufbahn bis zur Matura ermöglichte. Einziger Umweg blieb, wie dargestellt, die Reifeprüfung selbst, die die Schülerinnen bis 1906 extern an einem Knabengymnasium absolvieren mussten. Während Touaillon noch die bis dahin höchste Schullaufbahn für Mädchen, eine Höhere Töchterschule und eine Lehrerinnenbildungsanstalt, absolvierte, besuchte die ebenfalls 1878 geborene Germanistin Rosa Fliegelmann ab 1892 bereits den ersten Jahrgang der sechsklassigen gymnasialen Mädchenschule des Vereins für erweiterte Frauenbildung in der Hegelgasse 12 im ersten Wiener Gemeindebezirk. Diese Schule beendete Fliegelmann im Juni 1899, um 21-jährig im Sommer desselben Jahres sogleich die Reifeprüfung am kaiserlich-königlichen Akademischen Gymnasium abzulegen und sich daraufhin als ordentliche Studentin an der Universität einzuschreiben. Sie promovierte 1903 über „Achim von Arnims ‚Halle und Jerusalem‘“.45 Die gymnasiale Mädchenschule in Wien war ab ihrer Gründung die wichtigste und am häufigsten besuchte Bildungseinrichtung späterer Promovendinnen der Germanistik. Von den weiteren 18 Doktoratsanwärterinnen bis 1910 hatten 14 die Schule des Vereins für erweiterte Frauenbildung besucht.46 Von diesen legten 11 die Reifeprüfung extern entweder am kaiserlich-königlichen Akademischen Gymnasium in Wien, am kaiserlich-königlichen Ersten Staatsgymnasium Graz oder am Deutschen Gymnasium in Prag ab. Theodora Spedl, Helene Elsner und Julia Liggi gehörten der ersten Generation von Schülerinnen an, die 1906 intern am Mädchengymnasium des Vereins für erweiterte Frauenbildung maturieren konnte. Von dieser Gruppe war Karoline Huber mit 22 Jahren die älteste Maturantin und Rosine Feichtinger mit 18 Jahren die jüngste. Das Alter dieser Gruppe bei der Reifeprüfung war also schon deutlich niedriger als das derjenigen vier Promovendinnen, die bis 1878 geboren wurden und noch nicht das Mädchengymnasium besuchen konnten; diese waren bei der Matura 24, 26, 28 und 32 Jahre alt.47 Die einzigen vier Promovendinnen ab Geburtsjahrgang 1879, die nicht die gymnasiale Mädchenschule in Wien absolvierten, waren – bis auf eine – nicht aus Wien. Friederika Schlemüller wurde 1879 in Thürnthal in Niederösterreich geboren, Taube Weißbraun 1882 in Stryj in Galizien, Gisela Pitsch 1884 in Wien und Agathe Tochten 1888 in Czernowitz in Mähren. Schlemüller absolvierte die Lehrerinnenbildungsanstalt und maturierte nach Privatstudien 1902 extern am kaiserlich-königlichen Akademischen Gymnasium in Wien.48 Weißbraun besuchte als einzige Promovendin
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UAW, RA phil. Fak. PN 1626. Helene Münz (geb. 1879), Karoline Huber (geb. 1880), Jaroslava Wesely (geb. 1882), Emilie Wertheimer (geb. 1883), Margarete Minor (geb. 1883), Clara Freiin von Westenholz (geb. 1883), Esther Groß (geb. 1883), Theodora Spedl (geb. 1884), Therese Pupini (geb. 1884), Helene Elsner (geb. 1885), Julia Liggi (geb. 1885), Hedwig Tragau (geb. 1885), Jerina Mazzura (geb. 1886) und Rosine Feichtinger (geb. 1887). 47 Zu den einzelnen Protokollnummern der Rigorosenakten, aus denen die Angaben entnommen sind, s. Tabelle 1. 48 UAW, RA phil. Fak. PN 2123.
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überhaupt keine Schule, sondern wurde in Lemberg und Czernowitz von Privatlehrern unterrichtet. Die Reifeprüfung legte sie 1904 – ebenfalls als einzige Promovendin in dieser Gruppe – in einem der Kronländer, nämlich am Staatsgymnasium Czernowitz, ab.49 Pitsch besuchte das öffentliche Mädchenlyzeum in Prag und das Privatmädchenlyzeum am Franziskanerplatz in Wien I und von 1901/02 bis Juni 1905 den von Eugenie Schwarzwald neu gegründeten Gymnasialkurs. Die Reifeprüfung absolvierte sie in demselben Jahr am kaiserlich-königlichen Akademischen Gymnasium in Wien.50 Tochten, die letzte und jüngste hier berücksichtigte Promovendin, ging in die Volksschule in Czernowitz, in die Bürgerschule in Mährisch Ostrau, erhielt daraufhin Privatunterricht und maturierte 1906 mit 18 Jahren am kaiserlich-königlichen Akademischen Gymnasium in Wien. Ihre Dissertation über das altgermanistischsprachwissenschaftliche Thema „Konkurrenz von altem iu und u“ reichte sie nach acht Semestern Studium 22-jährig im Dezember 1910 ein.51
Fächerwahl und Gutachter Im Fach Deutsche Philologie konnte man Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie die Zuteilung der Erstgutachter zeigt, entweder in Neuerer Deutscher Literaturgeschichte (Literatur ab 1600) oder in (Älterer) Deutscher Sprache und Literatur (Literatur vor 1600, Altertumskunde und Sprachwissenschaft) promovieren. Üblicherweise war der Inhaber des Lehrstuhls der betreffenden Fachrichtung Erstgutachter und der Inhaber der anderen Fachrichtung Co-Referent. Bei der Themenwahl der ersten Promovendinnen wird eine Tendenz deutlich, die um 1900 auch allgemein zu bemerken war, nämlich dass die ältere Abteilung zusehends weniger Studierende aufzuweisen hatte und die neuere Abteilung stark an Attraktivität gewann.52 Von den 23 bis 1910 eingereichten Dissertationen sind 20 der Neueren Deutschen Literaturgeschichte zuzurechnen. Als Erstgutachter fungierte bei allen Jakob Minor, der von 1885 bis 1912 die Neuere Professur in Wien innehatte. Einzig die Dissertation seiner eigenen Tochter, Margarete Minor, über „Charlotte Corday in der deutschen Dichtung“ beurteilte Minor 1909 nicht selbst, sondern sein Kollege Alexander von Weilen, der außerordentlicher Professor im Neueren Fach war.53 Bei neugermanistischen Dissertationen als Co-Referent neben Minor fungierte zunächst Richard Heinzel, der bis 1904 Professor für (Ältere) Deutsche Sprache und Literatur war, 1905 übernahm einmal Max Herrmann Jellinek, außerordentlicher Professor
49 50 51 52
53
UAW, RA phil. Fak. PN 3067. UAW, RA phil. Fak. PN 2651. Zu Eugenie Schwarzwald und ihrer Bedeutung für das Schulwesen s. Deborah Holmes, Langeweile ist Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald, Salzburg 2012. UAW, RA phil. Fak. PN 3088. Zu dieser Entwicklung s. u. a. Herbert H. Egglmaier, Entwicklungslinien der neueren deutschen Literaturwissenschaft in Österreich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994, S. 204–235; Grabenweger, Germanistik (Anm. 4), S. 77–88. UAW, RA phil. Fak. PN 2729.
Die Selbstverständlichkeit der großen Zahl
111
für das Ältere Fach, von 1906 bis 1909 und einmal auch 1910 Heinzels Nachfolger Josef Seemüller, der jedoch ab 1910 häufig krankheitsbedingt ausfiel, sodass 1910 alle weiteren neugermanistischen Dissertationen wieder Jellinek als Co-Referent beurteilte. Die bei weitem am häufigsten beforschte Epoche in den Dissertationen war die Deutsche Romantik, aber auch während der Romantik wirkende, ihr nicht direkt zuordenbare Autoren standen hoch im Kurs (von den insgesamt 23 Dissertationen sind dieser Gruppe 12 zuzuordnen): Mit Achim von Arnim beschäftigen sich zwei Arbeiten, mit Novalis ebenfalls zwei, eine mit Zacharius Werner, eine mit dem österreichischen Arzt und Schriftsteller Ernst von Feuchtersleben und dessen Auseinandersetzung mit der romantischen Moral, je eine mit Ludwig Tieck und mit Heinrich Jung-Stilling und der Romantik. Außerdem widmete sich jeweils eine Dissertation Heinrich Heine, Ludwig Börne, Amalia Schoppe und Karoline Pichler. Drei Promovendinnen beschäftigten sich mit Literatur des späten 18. Jahrhunderts, nämlich mit dem 1782 entstandenen, Goethe zugeschriebenen Essay „Natur“ (Marianne Zycha), mit Friedrich Maximilian Klingers späten Dramen (Jaroslava Wesely) und mit Christoph Martin Wielands Roman „Aristipp“ (Hedwig Tragau). Zwei Studentinnen arbeiteten zu Texten und Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei eine darüber hinaus auch zeitgenössische Literatur aufnahm: Karoline Huber schrieb über Gustav Freytags „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ und Klara von Westenholz über Wolfgang Müller von Königswinter und die beiden Gegenwartsautoren Alfred Friedmann und Siegfried Lipiner. Nur eine Dissertantin beschäftigte sich mit Literatur des 17. Jahrhunderts, nämlich Helene Elsner in ihrer Arbeit über Grimmelshausens „Der fliegende Wandersmann nach dem Mond“. Margarete Minors und Ester Pollaks Dissertationen lassen sich als einzige nicht einzelnen Autoren, sondern stoffgeschichtlichen Themen zuordnen. Erstgenannte schrieb über die französische Adelige Charlotte Corday, die einen Revolutionär ermordete und guillotiniert wurde, in der deutschsprachigen Literatur und Ester Pollak über „Ariadne in der deutschen Oper und im Melodram“. Die insgesamt nur drei Dissertationen im älteren Fach wurden alle 1910 eingereicht und von Josef Seemüller als Erst- und Jakob Minor als Co-Referent begutachtet. Diese Qualifikationsschriften behandelten mit „Satzverbindungen und Satz in Elsbet Stagels ‚Leben der Schwestern zu Töss‘“ (Rosine Feichtinger) einen Text aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, mit „Der Stil in Konrad von Heimesfurts ‚Marias Himmelsfart‘ und ‚Urstende‘“ (Jerina Mazzura) Texte aus dem frühen 13. Jahrhundert und mit „Konkurrenz von altem iu und u“ (Agatha Tochten) ein sprachwissenschaftliches Thema.
Wiederkehrende Muster in den Dissertationsgutachten 19 der insgesamt 23 analysierten Gutachten, die – bis auf eines – alle in der Handschrift der jeweiligen Erstreferenten vorliegen,54 wurden von Jakob Minor verfasst, 54
Nur das Gutachten von Minor über Emilie Wertheimers Dissertation stammt von fremder Hand. UAW, RA phil. Fak. PN 2300.
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Elisabeth Grabenweger
eines von Alexander von Weilen und drei von Josef Seemüller. Innerhalb der Gutachten lassen sich klare Tendenzen erkennen: Während der Neugermanist Jakob Minor, der mit Abstand die höchste Betreuungszahl vorzuweisen hatte (und diese auch wiederholt beklagte),55 bestimmte Formulierungen mehrfach verwendete und seine Gutachten selten mehr als eine dreiviertel Seite umfassten, sind die drei Gutachten von seinem weniger mit PromovendInnenbetreuung belasteten altgermanistischen Kollegen und das einzelne Gutachten von Alexander von Weilen etwas ausführlicher und weniger schematisch in der Wortwahl. Minors Gutachten beginnen meist mit der Erklärung, wie der Untersuchungsgegenstand der Dissertation ausgewählt wurde. So findet man in 17 von 19 Fällen die Information, dass das Thema von dem unterzeichneten Referenten empfohlen wurde oder – in einer anderen häufig von Minor benutzten Formulierung – dass die Kandidatin dem Referenten das Thema verdankt. Fünf dieser 17 Themen waren außerdem zunächst Gegenstand einer Seminararbeit. Keine Angabe zur Themenfindung enthält Minors Gutachten über Marianne Zychas Dissertation „Goethes Naturaufsatz“ von 1906. Und das einzige Thema, das laut Minor selbst ausgewählt wurde, ist das der 1909 eingereichten Dissertation „Die Merlinsage bei Wolfgang Müller von Königswinter, Alfred Friedmann und Siegfried Lipiner“ von Clara von Westenholz. Dieses selbstgewählte Thema leide aber, so Minor weiter, darunter, dass es freilich keine bedeutenden Dichtungen, vielmehr drei der schwächsten Merlindichtungen, die auch literaturgeschichtlich wenig in Betracht kommen, umfasse.56 Nach der Klarstellung, wie es zur jeweiligen Themenfindung kam, gibt Minor zumeist eine kurze Erläuterung des Untersuchungsgegenstands und des Aufbaus der Arbeit, bevor die eigentliche Beurteilung der Dissertation erfolgt. Diese Beurteilung besteht aus einer jeweils variablen Anzahl der Kategorien „Literaturkenntnis“, „Methode“, „Umgang mit Quellen“, „Sprache, Stil und Darstellung“, „Disposition“ sowie „Fleiß“, „Sorgfalt“ und „Selbstständigkeit“. Hervorgehoben werden diese Beurteilungskriterien vor allem in jenen Fällen, in denen ihnen laut Minors Gutachten besonders gut oder besonders schlecht entsprochen wird. [U]ngewöhnliche[n] Fleiß und einen regen kritischen Sinn schreibt er Antonie Hug von Hugenstein zu,57 großen Fleiß Theodora Spedl58 und Fleiß sowie Belesenheit Marianne Zycha und Emilie Wertheimer.59 Fleiß und Geschick attestiert Minor außerdem Jaroslava Wesely60 und Fleiß und Sorgfalt Gisela Pitsch.61 Zu wünschen übrig lassen diese Eigenschaften
55
56 57 58 59 60 61
Insgesamt betreute Minor während seiner Wiener Professur 361 Dissertationen als Erstreferent. Dazu und zur Überfüllung von Minors Vorlesungen, für die teilweise Platzkarten vergeben werden mussten, s. Sigfrid Faerber, Ich bin ein Chinese. Der Wiener Literarhistoriker und seine Briefe an August Sauer, Frankfurt/Main u. a. 2004, S. 155 u. 179–180. Zu Minors Klagen über den Massenbetrieb an der Germanistik s. Stefan Hock, Jakob Minor [Nekrolog], in: Neue Freie Presse (13. 10. 1912), S. 31–33, hier S. 33. UAW, RA phil. Fak. PN 2779. UAW, RA phil. Fak. PN 1777 (1904). UAW, RA phil. Fak. PN 2870 (1910). UAW, RA phil. Fak. PN 2139 (1906) u. PN 2300 (1907). UAW, RA phil. Fak. PN 2438 (1907). UAW, RA phil. Fak. PN 2651 (1909).
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laut Minor jedoch bei Rosa Fliegelmann, deren Dissertation, wie es im Gutachten heißt, etwas eilfertig zum Abschluß gebracht worden sei.62 Inhaltliche und stilistische Beurteilungskriterien kommen seltener vor, aber bei Christine Touaillon heißt es, dass sie über gute Kenntnisse auf dem Gebiete der Romantik, eine gute Methode und eine gewandte Darstellung verfüge,63 bei Friederika Schlemüller, dass ihre Untersuchung sehr klar und überzeugend geführt sei, eine saubere [. . .] Form aufweise und dass [d]ie Kandidatin [. . .] vorzügliche Kenntnisse nicht nur auf literaturgeschichtlichem, sondern auch auf philosophischem Gebiet besitze.64 In Marianne Zychas Gutachten erfährt man, dass ihre Arbeit von Fleiß, Belesenheit und tieferem Verständnis der Goetheschen Weltauffassung65 zeuge, und bei Emilie Wertheimer spricht Minor von guter Belesenheit in den Werken des Dichters und von Umsicht auf dem Gebiete der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts.66 In Helene Elsners Gutachten wird die klare und umsichtige Untersuchung und, wie auch bei Taube Weißbraun und Theres Pupini, die gute [. . .] Methode betont;67 die Darstellung der letztgenannten leide jedoch, wie Minor hinzufügt, unter konzeptionellem Ungeschick.68 Stilistische Begabung sieht Minor unter anderem bei Amalie Sobel und auch bei Jaroslava Wesely, obwohl deren Arbeit in einzelnen Äußerungen die Nichtdeutsche erkennen lasse.69 Deutlich wird Minor im Gutachten von Theodora Spedl, über deren Dissertation er urteilt, dass [l]eider [. . .] mit ihrem Fleiß nicht auch das kritische Urteil und die Methode auf gleicher Höhe stehen und dass besonders der Stil der Arbeit zu wünschen übrig lasse, da die Kandidatin [i]n dem Bestreben schwungvoll und gemütvoll zu schreiben, eine Entgleisung nach der anderen begehe und der Referent [. . .] es endlich [hat] aufgeben müssen, alle wegzustreichen.70 Doch trotz mancher kritischer Bewertungen und negativer Urteile hat Minor keiner einzigen Dissertation die Approbation verweigert. Dementsprechend ähneln sich auch die letzten Sätze der Gutachten, in denen Minor festlegt, ob die Arbeiten die gesetzlichen Anforderungen erfüllen. So gibt es Dissertationen, die laut Minor in vorzüglicher Weise,71 die in nicht gewöhnlichem Grade72 und die vollkommen73 entsprechen, aber auch welche, die einfach nur entsprechen,74 und schließlich welche, die noch75 oder nur unter Vorbehalt und bei Anwendung eines milden Maßstabes76 entsprechen. 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73
UAW, RA phil. Fak. PN 1626 (1903). UAW, RA phil. Fak. PN 1887 (1905). UAW, RA phil. Fak. PN 2123 (1906). UAW, RA phil. Fak. PN 2139 (1906). UAW, RA phil. Fak. PN 2300 (1907). UAW, RA phil. Fak. PN 2879 (1910), PN 2996 (1910) u. PN 3067 (1910). UAW, RA phil. Fak. PN 2996 (1910). UAW, RA phil. Fak. PN 2434 (1907). UAW, RA phil. Fak. PN 2870 (1910). UAW, RA phil. Fak. PN 1777 (1904). UAW, RA phil. Fak. PN 2978 (1910). UAW, RA phil. Fak. PN 1622 (1903), 1887 (1905), 2027 (1906), 2082 (1906), 2123 (1906), 2978 (1910). 74 UAW, RA phil. Fak. PN 1626 (1903), 2139 (1906), 2300 (1907), 2434 (1907), 2651 (1909), 2779 (1909), 2996 (1910), 3051 (1910), 3067 (1910). 75 UAW, RA phil. Fak. PN 2880 (1910) u. 2914 (1910). 76 UAW, RA phil. Fak. PN 2870 (1910).
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Besonderheiten in den Dissertationsgutachten Zwei der 23 analysierten Gutachten unterscheiden sich klar von den anderen und verdienen gesonderte Beachtung. Zum einen ist es das Gutachten zu Esther Pollaks Dissertation „Ariadne in der deutschen Oper und im Melodram“ von 1910, in dem Minor, wie bei anderen auch, die Leistung der Kandidatin kritisch beurteilt. So hebt Minor hervor, dass Pollak an das Thema [zwar] einen großen Fleiß, leider aber eine sehr geringe Urteilskraft gewendet habe und dass [d]er Mangel an Kenntnissen, die über den Gegenstand hinausgehen, und die Unsicherheit der Methode [. . .] sich auf Schritt und Tritt bemerkbar gemacht haben. Ungewöhnlich an diesem Gutachten ist nicht die wenig positive Beurteilung, sondern Minors Begründung für das geringe Niveau der Arbeit. Es handelt sich nämlich um das einzige Gutachten, in dem Minor, wenn auch indirekt, auf die Bedingungen der zeitgenössischen Mädchenund Frauenbildung und damit auch darauf eingeht, dass er die Dissertation einer Studentin und nicht eines Studenten beurteilt. Gleichsam zur Verteidigung der Promotionskandidatin führt er deren schwierigen Bildungsgang an, der sich aber, wie gezeigt wurde, nicht von den anderen unterschied. Trotzdem möchte der Gutachter ihn hervorgehoben wissen, denn, so Minor in seiner Schlussbewertung: [A]n Talent fehlt es ihr nicht.77 Das zweite Gutachten, das auffällt, da es sich – trotz vieler weiterer sehr gut bewerteter Dissertationen – deutlich von den anderen unterscheidet, ist jenes der Dissertation von Hedwig Tragau. Sie reichte 1910 ihre Arbeit über „Die antiken Elemente in Wielands Roman Aristipp“ ein und Minor, der unter Kollegen und Schülern eigentlich als strenger und zuweilen harscher, jedenfalls als sehr förmlicher Kritiker galt,78 kommt ins Schwärmen. In dem ausschließlich positiv gehaltenen und besonders ausführlichen Gutachten heißt es: Der Referent bekennt gern, daß ihm im Laufe eines Vierteljahrhunderts nur wenige Arbeiten von gleicher Reife der Methode und von gleicher Fülle der Ergebnisse in die Hände gekommen sind. Besonders die Quellenuntersuchung, bei welcher ein paar Dutzende von antiken Autoren im Original und in Übersetzungen neben zahlreichen abgedruckten Quellen zu berücksichtigen waren, zeugt von einer Umsicht und Genauigkeit, die heute auch in der Literatur nur selten anzutreffen sind, die man aber bei einer Anfängerin kaum voraussetzen würde. Auch die Entstehungsgeschichte, das Erlebte in dem Roman, und Sprache und Stil werden sehr ausführlich und eingehend behandelt. Die Arbeit, in der Form musterhaft sauber, entspricht den Anforderungen vollkommen und in nicht gewöhnlichem Grade.79 77
UAW, RA phil. Fak. PN 2914 (1910). Jakob Minor gehörte unter den Professoren der Universität Wien zu den frühen Befürwortern der Zulassung von Frauen zum Studium, wie er bereits 1895 in einem Zeitungsartikel erkennen lässt. Die ungenügende [. . .] Vorbildung sah er aber noch 1904 als Problem sowohl für die Frauenbewegung als auch für die Universitäten. Jakob Minor, Historisches zur Frage des Frauenstudiums, in: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst 5/6 (1895/96), Nr. 58, S. 87–88.; Anonym, Das gemeinsame Universitätsstudium der Geschlechter (Fortsetzung), in: Neues Frauenleben 16 (1904), Nr. 3, S. 5–12, hier S. 10. 78 Vgl. u. a. Alexander von Weilen, Jakob Minor [Nekrolog], in: Jahrbuch der GrillparzerGesellschaft 24 (1913), S. 164–187, hier S. 185–186; Stephan Hock, Jakob Minor [Nekrolog], in: Neue Freie Presse (13. 10. 1912; Beilage), S. 31–33, hier S. 32; Robert Hohlbaum, Jakob Minor [Nekrolog], in: Fremden-Blatt (10. 10. 1912), S. 9–10, hier S. 9. 79 UAW, RA phil. Fak. PN 2978 (1910).
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Doch trotz dieses herausragenden Gutachtens, in dem Minor der Dissertation ein weit überdurchschnittliches wissenschaftliches Niveau attestiert, promovierte deren Verfasserin nicht. Drei Jahre nach Einreichung der Arbeit, am 4. Jänner 1913, teilte Tragau der philosophischen Fakultät ohne Angabe von Gründen mit, dass sie auf Ablegung des Rigorosums und aller sonstigen damit in Verbindung stehenden Prüfungen verzichte.80 Damit war Tragau – neben Clara von Westenholz – eine von zwei Kandidatinnen, die zwar eine Dissertation verfasste, die auch positiv beurteilt wurde, aber schließlich nicht promovierte. Westenholz hatte 1909 ihre Dissertation eingereicht und am 8. März 1910 auch das einstündige Rigorosum bestanden, aus Familienrücksichten verzichtete sie aber, wie sie in einem Brief an das Dekanat der philosophischen Fakultät vom 19. Oktober 1921 erklärt, auf die Ablegung des zweistündigen Rigorosums und damit auf die Promotion. Dass diese „Familienrücksichten“ mit der zwischenzeitlich erfolgten Heirat der Kandidatin zusammenhängen, ist zu vermuten. Der Brief ist nämlich mit Clara Fritsch, geb. Westenholz unterzeichnet.81
DIE SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT DER GROSSEN ZAHL – CONCLUSIO Nach den ersten vereinzelten Promotionen von Studentinnen der Germanistik zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte sich, wie gezeigt wurde, bemerkenswert rasch ein zahlenmäßiger Ausgleich zwischen Promovenden und Promovendinnen des Faches ein. Nachdem 1925 das erste Mal mehr Frauen als Männer ihre Dissertation eingereicht hatten, ging der Anteil promovierender Frauen zunächst zwar wieder zurück, Anfang der 1930er Jahre zeigen die Zahlenverhältnisse aber, dass über Jahre hinweg etwa gleich viele Dissertanten und Dissertantinnen um Zulassung zu den Rigorosen ansuchten, dass sich also so etwas wie „Normalität“ eingestellt hatte. 1931 listet das Promotionsverzeichnis 29 Kandidatinnen und 35 Kandidaten, 1932 sind es 38 Frauen und 40 Männern, 1933 und 1934 ist es umgekehrt: 38 Promovendinnen stehen 32 Promovenden gegenüber und ein Jahr später 50 Promovendinnen 47 Promovenden. Während des weiteren Untersuchungszeitraums, bis Ende 1938, ändern sich diese Angaben nur geringfügig, mal sind es mehr Kandidatinnen, mal sind es mehr Kandidaten. Damit lassen sich zumindest zwei überraschende Ergebnisse hervorheben: Zum einen, dass bereits 1925 mehr Frauen als Männer an der Wiener Germanistik promovierten, und zum anderen, dass von 1931 bis 1938 durchgehend etwa gleich viele Frauen wie Männer an der Wiener Germanistik das Doktorat erhielten. Die zeitgenössisch viel beschworene „Ausnahmeerscheinung“ der „promovierten Frau“ findet also keine Entsprechung in der Doktoratsstatistik. Vielmehr zeugen die Zahlen – und auch die Gutachten – davon, dass der Abschluss des Germanistikstudiums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Wien zu einer Selbstverständlichkeit geworden war.
80 81
Brief von Tragau an die philosophische Fakultät vom 4. Jänner 1913, UAW, RA phil. Fak. PN 2987 (1910). UAW, RA phil. Fak. PN 2779 (1909).
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Elisabeth Grabenweger
ABSTRACT This contribution focuses on the first female doctoral candidates at the Viennese German Departement in the years 1903 to 1938. First, the developments in the history of education in the late 19th and early 20th century are outlined, with special attention on the development of the girls’ schooling system, the admission of women to the highschool graduation (Reifeprüfung), and to university studies. Furthermore, student numbers, figures on the obtained doctorates, and the concrete terms and conditions of doctoral studies will be discussed. In the second part of the article, archival files of the first 23 doctoral candidates in the years up to 1910 are analysed in order to identify their respective age, their school career, their fields of dissertation, and their advisors. Finally, the article looks into the individual scientific reports in order to uncover research topics that were popular at that time as well as evaluation criteria, formal and content-related patterns. In addition to legal documents on university and study matters as well as research on the history of institutions, of academic fields, and of education, this article is based on the evaluation and analysis of partly unexplored archival material and sources that have not yet been taken into consideration (written records and minutes of the oral exams and the doctoral thesis, files and registers of the candidates a. o.). Methodologically and thematically, this research touches the fields of the history of German studies, of the doctoral system, of the education of women, and of gender studies. At the same time it approaches university history from a practice theoretical perspective. Special emphasis will be placed on the great number of female doctoral candidates at the Wiener Germanistik, where, by the end of the year 1938, 600 women had completed their doctorate.
Einreichdatum 13.06.1903
16.06.1903
24.06.1904
02.05.1905
12.04.1906
08.05.1906
09.06.1906
14.06.1906
27.04.1907
14.04.1908
15.04.1909
12.06.1909
14.07.1909
30.03.1910
31.03.1910
PN 1622
1626
1777
1887
2027
2082
2123
2139
2300
2434
2651
2728
2779
2870
2879
Helene Elsner
Theodora Spedl
Clara Freiin von Westenholz, verh. Fritsch
Margarete Minor
Gisela Pitsch, verh. Mayer
Jaroslava Wesely
Emilie Wertheimer
Marianne Zycha
Friederika Schlemüller
Amalie Sobel
Christine Touailllon, geb. Auspitz Karoline Huber
Antonie Hug von Hugenstein
Name Helene Münz, verh. Glass Rosa Fliegelmann
18.08.1885 Ried, Oberösterreich
06.12.1884 Wien
21.08.1883 Wien
16.12.1883 Prag
21.05.1884 Wien
12.07.1883 Baden, Niederösterreich 19.03.1882 Wien
14.03.1874 Wien
10.07.1879 Thürnthal, Niederösterreich
01.07.1876 Wien
27.02.1878 Iglau/Jihlava, Mähren 23.01.1880 Wien
31.03.1869 Wien
Geburtsdatum u. -ort 03.08.1879 Pötzleinsdorf, Niederösterreich 28.02.1878 Wien
18.07.1906 (intern) MädchenObergymnasium (vormals gymnasiale Mädchenschule), Wien 16.07.1906 (intern) MädchenObergymnasium (vormals gymnasiale Mädchenschule), Wien ...
11.07.1904 (extern) Staatsgymnasium, Graz 11.07.1903 (extern) k. k. Akademisches Gymnasium, Wien
26.09.1902 (extern) k. k. Akademisches Gymnasium, Wien 11.07.1902 (extern) Staatsgymnasium, Graz 11.07.1903 (extern) k. k. Akademisches Gymnasium, Wien 29.09.1905 (extern) k. k. Akademisches Gymnasium, Wien
Matura (Reifeprüfung) 12.07.1899 (extern) k. k. Akademisches Gymnasium, Wien 12.07.1899 (extern) k. k. Akademisches Gymnasium, Wien 13.07.1901 (extern) Dt. Staatsgymnasium, Troppau/Opava, Schlesien 22.09.1902 (extern) Staatsgymnasium, Salzburg 12.07.1902 (extern) k. k. Akademisches Gymnasium, Wien 29.09.1902 (extern) Dt. Staatsgymnasium, Prag-Kleinseite 14.07.1902 (extern) k. k. Akademisches Gymnasium, Wien
Grimmelshausens „Der fliegende Wandersmann nach dem Mond“
Schillers Einfluß auf die späteren Dramen von Klinger Der Sturm. Ein Schauspiel von Shakespeare, für das Theater bearbeitet von Ludwig Tieck Charlotte Corday in der deutschen Dichtung Die Merlinsage bei Wolfgang Müller von Königswinter, Alfred Friedmann und Siegfried Lipiner Heinrich Jung-Stillings Beziehung zur Romantik
Heinrich Heine und die bildende Kunst
Die Beziehungen in Feuchterslebens „Zur Diätetik der Seele“ zur romantischen Moral Goethes Naturaufsatz
Zacharius Werners „Attila, König der Hunnen“ Gustav Freytags „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ Börne als Dramaturg
Zur Textgeschichte von Novalis’ Fragmenten
Achim von Arnims „Halle und Jerusalem“
Titel der Dissertation Achim von Arnims „Gräfin Dolores“
Tabelle 1: Promotionskandidatinnen der Wiener Germanistik (1903–1910)
1. Jakob Minor 2. Max Hermann Jellinek
1. Jakob Minor 2. Max Hermann Jellinek
1. Alexander Weilen 2. Josef Seemüller 1. Jakob Minor 2. Josef Seemüller
1. Jakob Minor 2. Josef Seemüller 1. Jakob Minor 2. Josef Seemüller 1. Jakob Minor 2. Josef Seemüller 1. Jakob Minor 2. Josef Seemüller
1. Jakob Minor 2. Max Hermann Jellinek 1. Jakob Minor 2. Josef Seemüller 1. Jakob Minor 2. Josef Seemüller 1. Jakob Minor 2. Josef Seemüller
Gutachter 1. Jakob Minor 2. Richard Heinzel 1. Jakob Minor 2. Richard Heinzel 1. Jakob Minor 2. Richard Heinzel
27.06.1910
16.07.1910
abgebrochen
21.12.1909
10.07.1909
18.08.1908
26.03.1908
27.07.1907
20.12.1907
21.12.1906
06.07.1906
07.07.1905
31.03.1905
27.11.1903
Promotion 27.11.1903
Die Selbstverständlichkeit der großen Zahl
117
Einreichdatum 31.03.1910
22.04.1910
25.05.1910
04.06.1910
17.06.1910
03.10.1910
05.11.1910
12.12.1910
PN 2880
2914
2957
2978
2996
3051
3067
3088
Agathe Tochten
Taube Weissbraun
Therese Pupini, verh. Zeitlinger Jerina Mazzura
Hedwig Tragau
Esther Groß, verh. Pollak Rosine Feichtinger
Name Julia Liggi
08.05.1888, Czernowitz, Mähren
09.05.1886 Agram/Zagreb, Kroatien 10.07.1882 Daszawa, Galizien
24.10.1884
12.02.1885 Klagenfurt
08.03.1883 Stanislau, Galizien 12.03.1887 Salzburg
Geburtsdatum u. -ort 30.08.1885 Wien
27.09.1904 (extern) Dt. Staatsgymnasium, Czernowitz, Mähren 14.10.1906 (extern) k. k. Akademisches Gymnasium, Wien
19.09.1904 (extern) Dt. Staatsgymnasium, Prag-Kleinseite 19.07.1904 (extern) Dt. Staatsgymnasium, Prag-Kleinseite 05.07.1906 (extern) Staatsgymnasium, Graz
Matura (Reifeprüfung) 17.07.1906 (intern) MädchenObergymnasium (vormals gymnasiale Mädchenschule), Wien 08.07.1904 (extern) Dt. Staatsgymnasium, Prag-Kleinseite 11.07.1905 (extern) Staatsgymnasium, Graz
Konkurrenz von altem iu und u
Novalis und Fichte. Ihr gegenseitiger Einfluß
Der Stil in Konrad von Heimesfurts „Marias Himmelfahrt“ und „Urstende“
Ariadne in der deutschen Oper und im Melodram Satzverbindungen und Satzgefüge in Elsbet Stagels „Leben der Schwestern zu Töss“ Die antiken Elemente in Wielands Roman „Aristipp“ Karoline Pichlers Romane
Titel der Dissertation Amalia Schoppe, geborene Weise
1. Josef Seemüller 2. Jakob Minor
1. Jakob Minor 2. Josef Seemüller
1. Jakob Minor 2. Max Hermann Jellinek 1. Jakob Minor 2. Max Hermann Jellinek 1. Josef Seemüller 2. Jakob Minor
1. Jakob Minor 2. Max Hermann Jellinek 1. Josef Seemüller 2. Jakob Minor
Gutachter 1. Jakob Minor 2. Max Hermann Jellinek
30.06.1911
16.07.1913
28.03.1911
11.07.1911
abgebrochen
28.03.1911
23.07.1912
Promotion 27.06.1910
118 Elisabeth Grabenweger
DAS AMERIKANISCHE COLLEGE GIRL – IDEAL UND KONSTRUKTION Soziale Identität und studentische Weiblichkeit in populären Bildmedien, 1890–1930 Charlotte A. Lerg
MEDIENÖFFENTLICHKEIT, GENDER UND UNIVERSITÄT Der Plakat- und Werbezeichner Howard Chandler Christy fasste 1906 in einem kleinen Buch seine Gedanken über die populären Frauentypen der Zeit zusammen. Gleich das erste Kapitel widmete er dem „Sweet Girl Graduate“.1 Dieser Titel war der Ballade „The Princess“ von Alfred Lord Tennysson entliehen, in der der englische Dichter 1847 das Traumbild einer Frauenuniversität heraufbeschworen hatte: With prudes for proctors, dowagers for deans / And sweet girl graduates in their gold hair.2 Tennyssons goldlockige Studentinnen waren eine beliebte Referenz in der wachsenden Literatur über die Vorzüge und Nachteile des Frauenstudiums in den USA ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.3 Christy selbst kam erfreut zu dem Schluss: What Tennyson fabled has been fulfilled a thousand fold, and the educated young woman has ceased to be a prodegy – even to herself.4 Die Historikerinnen Sherrie Inness und Lynn D. Gordon argumentieren, dass das Frauenstudium etwa ab 1900 in den USA tatsächlich immer selbstverständlicher wurde, das Image der Studentin aber in der amerikanischen Öffentlichkeit – nicht zuletzt in den Zeichnungen von Howard Chandler Christy – systematisch ent-akademisiert und stattdessen sexualisiert wurde. Das populär konstruierte Bild des College Girls, so Innes, sollte einer „cultural uneasiness“ entgegen wirken, die gebildete Frauen bei Männern auslösten.5 1
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Howard Chandler Christy, The American Girl, New York 1906, S. 31–50. Die anderen Kapitel des Buches trugen die Titel: II. „The Debutante“, III. „The American Girl in the Country“, IV. „The American Girl in the City“, V. „The American Girl in Society“, und VI. „The American Girl as a Bride“. Alfred Lord Tennysson, The Princess. A Madly (1847), in: C. Ricks (Hg.), Tennyson. A Selected Edition, London 2007, Z. 141 f. Lynn Peril, College Girls. Bluestockings, Sex Kittens, and Coeds, Then and Now, New York 2006, S. 31; Vgl. auch Edward H. Clarke, Sex in Education. or, a Fair Chance for Girls, Boston 1873. Christy, American Girl (Anm. 1), S. 34. Sherrie Inness, Intimate Communities. Representation and Social Transformation in Women’s College Fiction, 1895–1910, Bowling Green 1995, S. 3; Lynn D. Gordon, The Gibson Girl Goes to College. Popular Culture and Women’s Higher Education in the Progressive Era, 1890–1920, in: American Quarterly 39 (1987), Nr. 2, S. 211–230. Innes argumentiert später in ihrem Buch, dass die sexualisierten College Girls als „antidote“ gegen gesellschaftliche Ängste vor zu starken, (unweiblichen) gebildeten Frauen zu lesen seien. Vgl. Innes, Intimate Communities (Anm. 5), S. 100.
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Ihre Analyse, die nur die weibliche Perspektive berücksichtigt, übersieht jedoch eine grundsätzlichere Tendenz der Zeit: In der öffentlichen Wahrnehmung wurde das amerikanische Campusleben generell fern von akademischer Leistung imaginiert. Sport, Mode und soziale Distinktion standen auch bei den Darstellungen männlicher Studenten im Mittelpunkt.6 Geschlechtertypische Stereotypen aber waren – und sind – gerade deshalb in der populären Konstruktion des amerikanischen Campus besonders ausgeprägt. Für eine Analyse der (bild-)medial vermittelten Vorstellungen der akademischen Welt, bieten sich die USA zwischen 1890 und 1930, während der sogenannten Progressive Era, besonders an. Dieser Fokus basiert auf zwei verschiedenen Beobachtungen, die in auffälligem Gegensatz zu den europäischen Verhältnissen stehen: Zum einen lässt sich schon früh, etwa ab dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, eine Kommerzialisierung der amerikanischen Hochschullandschaft feststellen, die sich schnell auch in visuellen Medien ausdrückte. Zum anderen war der Anteil der Studierenden pro Geburtenjahrgang mit gut 4 % um 1900 und 8 % um 1920 zwar noch gering, aber doch fast doppelt so hoch wie etwa in Deutschland.7 Diese beiden Phänomene sowie das Selbstverständnis der US-Hochschulen als demokratische Institutionen im Dienste der Gemeinschaft hatten eine sehr viel direktere Anbindung an gesellschaftliche Strömungen zur Folge und damit auch an Markt und Medienöffentlichkeit. In der Universitätsgeschichte spielen materielle Formen der Überlieferung (material culture) sowie Zeremonien und Rituale eine zentrale Rolle, vor allem mit Blick auf die Hochschule der Frühen Neuzeit und auf die Repräsentation der Universität gegenüber der sie umgebenden Gesellschaft.8 Visualität war und ist dabei ein zentraler Kommunikationsmechanismus. Weit weniger Aufmerksamkeit aber erhält in der Forschung die populäre Konstruktion der Universität, die nur bedingt von der Institution selbst gesteuert werden kann. Indem die vorliegende Analyse hier ansetzt, wirft sie neues Licht auf das Verhältnis zwischen Universität und Gesellschaft. Bei Zeitschriftencovern, Romanillustrationen oder in Werbeanzeigen hat nicht die authentische Darstellung Priorität, sondern die Schaffung imaginierter Welten und Figuren. Dazu gehört es, Topoi zu kreieren, sie zu bedienen und weiterzuentwickeln sowie durch
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Zur populären Konstruktion studentischer Männlichkeit auf dem amerikanischen Campus s. z. B. Daniel A. Clark, Creating the College Man. American Mass Magazines and Middle-Class Manhood, 1890–1915, Madison 2010; David Castronovo, The American Gentleman. Social Prestige and the Modern Literary Mind, New York 1991; Michael Oriard, King Football. Sport and Spectacle in the Golden Age of Radio and Newsreels, Movies and Magazines, the Weekly and the Daily Press, Chaple Hill 2001. Für eine europäische Perspektive vgl. z. B. Sonja Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929, Göttingen 2006; Thomas Weber, Our Friend „the Enemy“. Elite Education in Britain and Germany before World War I, Stanford 2008. George M. Marsden, The Soul of the American University. From Protestant Establishment to Established Nonbelief, New York 1994, S. 238; Helen Lefkowitz Horowitz, Campus Life: Undergraduate Cultures from the End of the Eighteenth Century to the Present, Chicago 1988, S. 5. Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2012.
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Symbolsprache, visuelle Rhetorik und Assoziation Narrative entstehen zu lassen.9 In der historischen Analyse gilt es diese verschiedenen Mechanismen zu identifizieren, um durch sie die gesellschaftspolitischen Dynamiken und zeitgenössischen Diskurse zu untersuchen. Illustrierte Printmedien erlebten dank billigerer Produktionsmethoden um die Jahrhundertwende eine Konjunktur als erstes Massenmedium der industriellen Moderne.10 Die Reproduzierbarkeit von Photographien machte rapide Fortschritte und ab den 1890er Jahren entschieden sich immer mehr Publikationen wie Life, Vanity Fair, Ladies Home Journal, Scribner’s, Cosmopolitan oder Collier’s für ein neues Layout, das visuellen Elementen mehr Platz einräumte.11 Doch auch wenn zahlreiche Photographien Artikel bebilderten, hielten die meisten Zeitschriften noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend an gezeichneten Titelseiten fest, denn diese boten noch lange die besseren technischen Möglichkeiten, farbenfrohe Idealtypen zu präsentieren. An der Schnittstelle von kommerzieller Massengesellschaft, demokratischem Ideal und Leistungsgesellschaft erhielt der Campus um die Wende zum 20. Jahrhundert eine Prominenz in der öffentlichen Wahrnehmung, die zu jener Zeit in Europa noch keine Entsprechung hatte. Von Groschenromanen für junge Leser/innen, die ihren eigenen Collegejahren entgegen fieberten, über Kurzgeschichten in der Unterhaltungspublizistik bis zu literarischen Meisterwerken eines F. Scott Fitzgeralds,12 an narrativen Darstellungen des Lebens der Studierenden mangelte es nicht. Im Fokus dieser Erzählungen stand allerdings von Anfang an nicht die Universität im Ganzen, sondern fast ausschließlich der extracurriculare Erfahrungsraum und die Kultur der Undergraduates, das „college life“.13 Bald begannen Zeitschriften entweder zu Semesterbeginn („College Number“) oder im Sommer zum Semesterabschluss („Commencement Number“) jeweils ein ganzes Heft dieser Campuskultur zu widmen (s. Abb.3). Für ihre Leser/innen war der Campus eine Spielart des Gesellschaftslebens, das sie auch an anderer Stelle in den Illustrierten begeistert verfolgten. Mit einer Mischung aus Neugier, Faszination und Sensationslust ließen sie sich das Leben der Studierenden in glamourös aufbereiteter Form präsentieren.14 Modernität, Jugend- und Körper-Kult sowie Sportbegeisterung und unbeschwerter Hedonismus boten dabei zusätzlich einen besonderen Reiz. Die akademische Seite dieses Lebens stellte lediglich den Hintergrund für den erzählerisch ausgeschmückten Lebensstil dar. Auch die junge Filmindustrie inszenierte elaborierte Stummfilmabenteuer auf dem Campus mit den Superstars der Zeit Clara Bow oder Harold Lloyd in den Titelrollen.15 Als Betty Co-Ed flackerte 1931 9 10
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Roland Barthes, Rhetorik des Bildes, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. M. 1990, S. 28–46. Mark Hampton, Represtenting the Public Sphere. The New Journalism and its Historians, in: Transatlantic Print Culture, 1880–1940, hg. von Ann Ardis and Patrick Collier, London 2008, S. 15–29. Carolyn L. Kitch, The Girl on the Magazine Cover. The Origins of Visual Stereotypes in American Mass Media, Chapel Hill 2001, S. 4. Vor allem F. Scott Fitzgeralds erster Roman This Side of Paradise (1920) evoziert das Leben auf dem Campus. Lefkowitz Horowitz, Campus Life (Anm. 7), S. X. Inness, Intimate Communities (Anm. 5); Clark, College Man (Anm. 6). Z. B. Wild Party (Paramount Pictures 1929); The Freshman (Pathé 1925).
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gar eine studentische Version des beliebten Cartoon Pin-Ups Betty Boop über die Leinwände.16 Doch bereits bevor bewegte Bilder den Markt eroberten, bedienten visuelle Medien das gesteigerte Interesse der breiteren Öffentlichkeit am Leben hinter efeuberankten Mauern. Schnell etablierten sich standardisierte Marker und Accessoires, die das Collegeleben symbolisierten: ein dekorativer Stapel Bücher hier, ein keck aufgesetzter Doktorhut dort.17 Unverkennbar waren stets Schals und Wimpel in Collegefarben sowie einschlägige Sportgeräte: Für Männer vor allem der Football oder das Paddel der Rudercrew – für Frauen besonders Golfschläger und Tennisracket oder der Basketball, Spielgerät einer Sportart, die vor allem an den Frauencolleges Konjunktur hatte (s. Abb. 1).18 Vielen derjenigen aber, die diese Bilder konsumierten, war das tatsächliche Collegeleben völlig fremd und würde es auch bleiben. Gerade der Campus des Frauencolleges blieb in der Populärkultur lange ein überwiegend indirekt vermittelter Raum.19 Trotzdem gab es eindeutige Überschneidungen, denn Studierende und Studienanwärter/innen waren eine wichtige Zielgruppe für die Gesellschaftsjournale der Zeit sowie für die Unterhaltungs- und Modeindustrie (s. Abb. 2).20 Medien reflektieren nicht nur, sondern formen auch Ideale und Vorstellungswelten, erst recht Bildmedien.21 Damit beeinflusste der populär konstruierte Bilderkanon auch zukünftige Generationen von College-Studenten und Studentinnen, die darauf bedacht waren dem etablierten Image zu entsprechen.22 Zum Leben einer Studentin um 1910 beispielsweise gehörten, den zeitgenössischen Medien zufolge, bestimmte Sportarten, heimliche Pyjama-Partys, der richtige Verehrer und eine Busenfreundin (s. Abb. 3). Sie hatte einen speziellen Kleidungsstil, war fast ausschließlich weiß und wohlgeformt. Mehr noch als die Geschichten und Romane trug die visuelle
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Betty Co-Ed (Fleischer Studios 1931). Der Filmtitel bezog sich auf den gleichnamigen Song, mit dem der amerikanische Sänger Rudy Vallée im Jahr zuvor große Erfolge gefeiert hatte. Am Ende des Cartoons wurde das Lied eingespielt und das Publikum war aufgefordert mitzusingen. 15 Jahre später folgte unter demselben Titel ein weiterer Film mit Starlet Jean Porter in der Hauptrolle (Betty Co-Ed, Columbia Pictures 1946). Der Name Betty Co-Ed war zum Synonym der stereotypen koketten Studentin geworden. Im amerikanischen Kontext ist der als Mortarboard bekannte schwarze Hut, der in deutscher Übersetzung als Doktorhut erscheint, nicht zwingend mit diesem höheren Abschluss verknüpft. Im Gegenteil: In der Regel beinhaltet die Garderobe bei der Promotion eine weiche Kappe (cap) oder eine Kapuze (hood). Roberta J. Park, Sport, Gender and Society in a Transatlantic Victorian Perspective, in: From „Fair Sex“ to „Feminism“. Sport and the Socialization of Women in the Industrail and PostIndustrial Eras, hg. von James Anthony Mangan and Roberta J. Park, London 1987, S. 86; Martha Banta, Imaginging American Women. Idea and Ideals in Cultural History, New York 1987, S. 90; Peril, College Girls (Anm. 3), S. 237–239. Für eine ausführlichere theoretische Auseinandersetzung mit diesem Phänomen gerade in Bezug auf Frauencolleges unter Berufung auf die Arbeit von John Bender zur fiktionalen Darstellung von Gefängnissen: John Bender, Imagining the Penetentiary, Chicago 1987. Vgl. Inness, Intimate Communities (Anm. 5), S. 3 f. Hampton, New Journalism (Anm. 10). Dazu speziell mit Blick auf die Zeitschriften der Progressive Era s. Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 3–5. Innes, Intimate Communities (Anm. 5), S. 3.
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Abbildung 1: Cole Phillips, A Ball Gown, in: Gallery of Girls, New York, 1911, S. 78.
Inkarnation studentischer Identität zur Popularisierung und Kommerzialisierung des College-Erlebnisses bei. Sie suggerierten die zentrale Bedeutung von Mode, Accessoires und sozialen Praktiken – für Männer und Frauen. In der Analyse populärer College-Narrative hat die visuelle Dimension bisher nur wenig Aufmerksamkeit erhalten,23 obgleich sie mit dem Aufziehen des „Jahrhundert[s] der Bilder“ ein nicht zu unterschätzendes Analysepotential bereithält.24 Gerade hier ist die geschlechtergeschichtliche Perspektive besonders beachtenswert. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Funktion weiblicher Körper als Marker in der kulturellen Repräsentation. Sie waren bis dahin primär als mythische Personifikation oder antike Göttinnen in Erscheinung getreten, um abstrakte Ideale und Tugenden zu verkörpern oder für Nationen einzustehen (Germania, Britannia, Columbia, Marianne).25 In diesem Sinn hatten auch weibliche Figuren in
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Einige Ausnahmen Clark, College Man (Anm. 6); Gordon, Gibson Girl (Anm. 5); Amy Scott Metcalfe, Imag(in)Ing the University. Visual Sociology and Higher Education, in: The Review of Higher Education 35 (2012), Nr. 4, S. 517–534. 24 Gerhard Paul, Das Jahrhundert der Bilder 1900–1949, Göttingen 2009; James Carey, Walter Benjamin, Marshall McLuhan, and the Emergence of Visual Society, in: Marshall McLuhan (Hg.), Critical Evaluations in Cultural Theory, Bd. II, Theoretical Elaborations, London/New York, 2005, S. 273–282. 25 Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurden alte visuelle Traditionen mit den neuen Repräsentationspraktiken vermischt. Martha Banta zeigt diesen Wandel zwischen 1870 und 1920 am Beispiel der Figur der Columbia, die die USA symbolisiert. Vgl. Banta, Imagining Women (Anm. 18), S. 1–3.
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Abbildung 2: Will Houghton: The Book Worm and Her Favorite Book, in Puck, 16.5.1914, Titelseite.
der Ikonographie von Wissenschaft und Universität eine Funktion; sei es Minerva oder die „nährende Mutter“ Alma Mater, die Bildhauer Daniel Chester French noch 1903 für den neuen Campus der Columbia Universität in Bronze goss. In der immer visueller gesteuerten Industriegesellschaft erhielten Frauenbilder konkretere Züge, blieben aber dennoch weiterhin Stereotype.26 Die Kulturhistorikerin Martha Banta setzt sich mit der Bedeutung des Begriffs „Typus“ oder „Type“ in diesem Kontext auseinander und weist darauf hin, dass schon Zeitgenossen sich des komplexen Zusammenspiels von Realität, Imagination, Ideal und Repräsentation bewusst waren. Sie zeigt weiter, dass gerade das Frauenbild in den USA während der Progessive Era und darüber hinaus primär Projektionsfläche von Idealen war. Dabei ging es nicht nur um die ideale Frau, sondern auch um abstrakte Werte, nationales und soziales Selbstverständnis und die damit verbundene Moralvorstellung. Innerhalb dieses Netzwerks von Bildern und Zuschreibungen identifiziert Banta das „American Girl“ als besonders wirkmächtige Ikone, die in verschiedenen Variationen auftrat.27 War das College Girl einer dieser Typen oder war es vielmehr Teil einer grundsätzlicheren Kultur der Kommerzialisierung und Kommodifizierung, die sowohl Hochschule als auch Geschlechterrollen erfasste?
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Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 6. Banta, Imagining American Women (Anm. 18), S. 5–15; zu der Funktion des American Girl als Ideal ebd., S. 2 und 21. Banta typisiert 1. „The Charmer“, 2. „The [sophisticated] New England Girl“ und 3. „The Outdoors Pal“. Ebd., S. 46 f.
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Abbildung 3: Walter Tittle, A Knock at the Door, in: Life, 25.5.1911, Titelseite.
Die Berührungspunkte von Visual Studies und Gender Studies sind sowohl methodisch als auch inhaltlich greifbar. Entscheidende Impulse für die Entwicklung von Visual Studies als einem eigenen interdisziplinären Forschungsfeld in den 1980er und 1990er Jahren kamen von der feministischen Filmanalyse der 1970er Jahre und der neuen Kunstgeschichte, die sich mit Fragen des „männlichen Blicks“ (male gaze) auseinandersetzte. Beide Ansätze haben inzwischen kritische Modifizierungen und eine eigene Historisierung erfahren.28 Diese frühe Verknüpfung der beiden Forschungsfelder aber liefert den Ausgangspunkt für die Fragestellung, wie das Bild des modernen amerikanischen Campuslebens im Spannungsfeld von Geschlechterhierarchien, Kommerzialisierung und Medienöffentlichkeit verhandelt wurde.
HOCHSCHULEN UND FRAUENSTUDIUM IN DEN USA Im Vergleich zu Kontinentaleuropa weist die Entwicklung der Hochschullandschaft in den USA eine in vielerlei Hinsicht abweichende Chronologie und Struktur auf. Die ersten Hochschulen, die noch während der Kolonialzeit entstanden, etwa Harvard, Yale, Princeton oder Columbia (damals noch King‘s College) waren primär Ausbildungsstätten für den protestantischen Klerus. Auch viele der Gründungen während der ersten Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit schulten vor allem die lokalen Eliten der verschiedenen Glaubensgemeinschaften. Auch wenn sich im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Colleges einer weltlichen Klientel öffneten
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Lisa Cartwright, Art, Feminism and Visual Culture, in: The Handbook of Visual Culture, hg. von Ian Heywood und Barry Sandywell, New York 2012, S. 310–325, hier S. 318; Nicholas Mirzoeff, The Subject of Visual Culture, in: The Visual Culture Reader, hg. von Dems., London/New York 1998, S. 3–23, hier S. S. 10–13.
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und ihr Curriculum an den Freien Künsten ausrichteten, blieb die höhere Bildung bis zum Bürgerkrieg größtenteils lokal, gar provinziell. Ab den 1860er Jahren begann sich die Hochschullandschaft in den USA grundlegend zu wandeln und exponentiell zu wachsen; bis 1900 hatten sich die Studierendenzahlen fast verneunfacht.29 Zwei entscheidende Entwicklungen leisteten dieser Erneuerung Vorschub: Zum einen verabschiedete der US-Kongress 1862 und 1890 die beiden Morrill Acts (auch Land-Grant-Acts). Diese Gesetze stellten den einzelnen US-Bundesstaaten Land zur Verfügung, um Hochschulen zu gründen.30 Die so entstehenden Land-Grant Colleges, in vielen Fällen die heutigen State Universities, waren ursprünglich oft als technische- und landwirtschaftliche Hochschulen angelegt. Sie waren nicht mehr ausschließlich Ausbildungs-, sondern auch Forschungsstätten mit Laboren, Montagehallen und Feldern für Anbau- und Landwirtschaftsversuche. In den 1870er Jahren folgte zum anderen eine Welle von universitären Neugründungen, die vollständig aus Privatspenden finanziert waren und dezidiert darauf abzielten, neben der Collegeausbildung auch weiterführende Studien und Abschlüsse anzubieten.31 Die Gründung der Johns-Hopkins-University 1876 gilt als der Beginn der privaten Forschungsuniversitäten in den USA. Weitere prominente Beispiele sind etwa die vom Eisenbahnmagnaten Leland Stanford zur Erinnerung an seinen verstorbenen Sohn gegründete Leland Stanford Junior University in Kalifornien (1891) und die mit Geldern des Ölmillionärs John D. Rockefeller finanzierte University of Chicago (1893). So bildete sich zwischen 1870 und 1910 die US-Hochschullandschaft in ihrer heutigen vielschichtigen Struktur heraus.32 Neben den sich national und bald auch international positionierenden Forschungsuniversitäten, die mit einigen Ausnahmen sowohl postgraduate- als auch undergraduate-Programme anboten, existierten auch zahlreiche Colleges weiter, die ausschließlich einem (Aus-)Bildungsauftrag treu blieben. Auf dieser Ebene machte sich die Spendenfreudigkeit der neuen industriellen Klasse ebenfalls bemerkbar. Während des Gründungsbooms der 1860er wurden neben unzähligen Einrichtungen für Männer auch Studienmöglichkeiten für Frauen geschaffen, darunter die als Seven Sisters bekannten Frauencolleges: Vassar College (1861), Wellesley College (1870), Smith College (1871), Bryn Mawr (1885) Mount Holyoke (1888), Baranard College (1889) und Redcliffe College (1894).33
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Geraldine J. Clifford, Introduction, in: Lone Voyagers. Academic Women in Coeducational Universities 1870–1937, hg. von ders., New York 1989, S. I–XV, hier S. XIII. Roger L. Geiger und Nathan M. Sorber, The Land-Grant Colleges and the Reshaping of American Higher Education, New Brunswick 2013. John R. Thelin, A History of American Higher Education, Baltimore 2004, S. 111–115. Grob vereinfacht ist das College die Institution für die (Aus-)Bildung der Studenten und Studentinnen, die Universität die Einrichtung für die Forschung (ab dem ersten Abschluss). Die großen (Forschungs-)Universitäten vereinen beide Missionen, ähnlich dem Ideal der kontinentaleuropäischen Universität. Vgl. Robert Glidden, Mobility and Service. The Dual Role of Higher Education in US-Society, in: German and American Higher Education: Educational Philosophies and Political Systems, hg. von Helmbrecht Breinig, Jürgen Gebhardt und Berndt Ostendorf, Münster 2001, S. 111–136. Helen Lefkowitz Horowitz, Alma Mater. Design and Experience in the Women’s Colleges from their Nineteenth-Century Beginnings to the 1930s, Amherst, 1985. Die Jahreszahlen beziehen sich auf die Datierung der College Charter.
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Die Seven Sisters gehören auch deshalb zu den bekanntesten Frauencolleges, weil sie alle mit prestigereichen Universitäten, die noch ausschließlich Männer vorbehalten waren, assoziiert waren. Diese als Coordinated Education bekannte Form breitete sich rasch aus. Üblich war es, dass die (fast ausschließlich männlichen) Professoren der Partneruniversitäten eigene Veranstaltungen an den Frauencolleges anboten.34 Zum Teil durften die Frauen regulär mit den Männern zusammen Seminare und Vorlesungen besuchen, aber ihr gesamtes extracurriculares Leben fand auf ihrem separaten Campus, in einer eigenen Institution statt. Parallel zu den Coordinated Colleges und den zahlreichen kleineren FrauenColleges, Lehrerinnenseminaren, Schwesternschulen, Konservatorien und anderen single-sex Einrichtungen, die völlig unabhängig von den Institutionen für Männer operierten, entschieden sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr Einrichtungen für Co-Edukation. Den Anfang machte das Oberlin College in Ohio und ließ 1837 die ersten weiblichen Studierenden zu, nachdem es zwei Jahre zuvor bereits ein anderes Tabu gebrochen und schwarze Studenten aufgenommen hatte.35 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlief die weitere Ausbreitung des Frauenstudiums jedoch zunächst schleppend. Auch hier hatten die Land-Grant-Universitäten der 1860er Jahre und die privaten Neugründungen der 1870er Jahre, die größtenteils von Anfang an koedukativ konzipiert waren, entscheidenden Einfluss auf die Verbreitung. Um 1900 besuchten etwa 60 % der amerikanischen College-Studentinnen gemischtgeschlechtlichen Einrichtungen, die übrigen überwiegend coordinated Institutionen.36 Es studierten, relativ zur Gesamtbevölkerung, anteilig etwa halb so viele Frauen wie Männer. Der Prozentsatz der Frauen zwischen 18 und 21, die sich einschrieben, stieg jedoch von 2,2 % (1890) in zwanzig Jahren auf 3,3 % (1910) an, was bedeutete, dass die Immatrikulationsrate für Frauen fast doppelt so schnell anwuchs, wie die ihrer männlichen Altersgenossen.37 Die Jahre zwischen 1890 und 1910 gelten im Rückblick außerdem als „Golden Age“ der Frauencolleges, denn gut 40 % aller weiblichen Studierenden schrieb sich an single-sex oder coordinated Hochschulen ein. Dies war ein wesentlich höherer Anteil als in späteren Generationen, als Studienanwärterinnen verstärkt koedukative Optionen wählten.38 Darüber hinaus aber 34
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Clifford, Lone Voyagers (Anm. 29), S. 9–13; nur im Fach Hauswirtschaftslehre, das sich zeitgleich mit den wachsenden Studentinnen-Zahlen entwickelte, waren weibliche Lehrkräfte überproportional vertreten. Vgl. dazu Maresi Nerad, The Academic Kitchen. A Social History of Gender Stratification at the University of California, Berkeley, Albany 1999. In den 1890er Jahren gab es noch so gut wie keine weiblichen Lehrpersonen an den Fakultäten der amerikanischen Hochschulen. Eine Ausnahme war die Position des Dean of Women wie sie etwa die University of Chicago 1899 schaffte. Ursprünglich als eine Art Hausmutter gedacht, setzten die ersten Vertreterinnen ihren Status als faculty, also als Mitglieder des Lehrkörpers, durch. Mit Verweis auf die gesonderten Betreuungsansprüche für Studentinnen konnten Frauen sich außerdem über den Umweg des Sports Positionen an Universitäten erkämpfen, denn die Leitung von Athletikprogrammen war in der Regel an eine faculty position geknüpft. Clifford, Lone Voyagers (Anm. 29), S. 12 f. Lefkowitz Horowitz, Campus Life (Anm. 7), S. 193. Claudia Goldin und Lawrence F. Katz, Putting the Co in Education. Timing, Reasons, and Consquences of the College Coeducation from 1835 to the Present, in: Journal of Human Capital 5 (2011), Nr. 4, S. 377–417, S. 379. Innes, Intimate Communities (Anm. 5), S. 5 f. Ebd., S. 1.
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regten diese exklusiven Frauencolleges ganz besonders die populäre Imagination an und prägten damit auch nachhaltig das öffentliche Bild des Frauenstudiums in den USA generell. Die tatsächlichen Erfahrungen der Studentinnen im College unterschieden sich jedoch erheblich, je nachdem an welcher Institutionsform sie ihre Studien absolvierten. An den single-sex und coordinated Frauen-Colleges entwickelte sich rasch eine Campuskultur, die in vielerlei Hinsicht den an Einrichtungen für Männer üblichen Strukturen folgte. An koedukativen Hochschulen hingegen blieben die weiblichen Studierenden zunächst Außenseiter. Während die Studentinnen an Frauencolleges die verschiedensten Team- und Individualsportarten betrieben, ihre eigenen Publikationen herausgaben, debattierten und Campuspolitik machten, mussten sich die „Co-Eds“, wie sie umgangssprachlich hießen, entweder gesonderte parallele Formen erst aufbauen oder sich mühsam ihre Rechte ertrotzen, etwa die Sportanlagen überhaupt nutzen zu dürfen, sich in der Studierenden-Vertretung repräsentiert zu sehen oder für die Studentenzeitung schreiben zu können.39 Anfangs waren Frauen auf dem Campus schlicht in der Minderheit, doch als sich das Geschlechterverhältnis ab der Jahrhundertwende auszugleichen begann, ergriff man an mehreren Hochschulen Maßnahmen, die Frauen erneut ins Hintertreffen geraten ließen. Es gab eine Zugangsbegrenzung nach Quoten und einige koedukativ konzipierte Institutionen, wie beispielsweise die Tufts University, siedelten ihre weiblichen Studenten in ein neu gegründetes coordinated Frauen-College aus. Wo man bei der ursprünglichen gemischtgeschlechtlichen Organisation blieb, begann ab der Jahrhundertwende verstärkt eine physische Trennung von männlichen und weiblichen Studierenden, etwa in separaten Sportanlagen oder indem dezidiert darauf geachtet wurde, Männer- und Frauen-Wohnheime, wenn auch auf demselben Campus, doch räumlich so weit wie möglich voneinander entfernt zu planen.40
VON DER PIONIERIN ZUM COVER GIRL Nicht nur die äußeren Gegebenheiten für das Frauenstudium in den USA wandelten sich in der Zeit zwischen Bürgerkrieg und Börsenkrach, sondern auch die Einstellungen der Studentinnen. In der Forschung hat sich eine Kategorisierung entlang dreier Generationen etabliert:41 Die „Pionierinnen“ (von den 1860er bis in die 1880er Jahre) mussten sich noch jedes neue Recht erkämpfen und waren sich ihrer Vorreiterrolle mehr als bewusst. Die Mehrzahl dieser Frauen kam aus bescheidenen Verhältnissen und studierte mit einem konkreten Berufsziel, das in der Regel noch in den für Frauen akzeptierten Berufsfeldern, vor allem Schulunterricht, angesiedelt war. Sie 39
Lefkowitz Horowitz, Campus Life (Anm. 7), S. 195–201. Obgleich sie automatisch eine Nutzungsgebühr für alle Campusanlagen entrichteten, die in den Studiengebühren inbegriffen war. Thelin, Higher Education (Anm. 31), S. 182. 40 Innes, Intimate Communities (Anm. 5), S. 7. 41 Für eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Generationen s. Lefkowitz Horowitz, Campus Life (Anm. 7), S. 200 f.; Barbara Miller-Solomon, In the Company of Educated Women, New Haven 1985, S. 95.
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würden mit ihrem Abschluss einer selbstständigen Arbeit nachgehen. Angesichts ihrer Zielstrebigkeit und des noch ausgeprägten Bewusstseins, dass ihr Studium und die damit verbundene Unabhängigkeit hart erkämpfte Privilegien waren, legte diese erste Generation eine Ernsthaftigkeit an den Tag, die für ihre männlichen Kommilitonen der gleichen Generation eher verpönt war. Im College-Life der Männer erlangte man den Status des „big man on campus“, also an der Spitze des studentischen Mikrokosmos, durch sportliche und andere extracurriculare Leistungen oder soziale Kontakte; akademisch reichte in der Regel ein sogenanntes „gentleman’s C“, also gerade gut genug, um nicht durchzufallen.42 Tatsächlich gehörte es zum guten Ton, den wissenschaftlichen Anforderungen möglichst wenig Aufmerksamkeit zu zollen.43 Mit der zweiten Generation weiblicher Studierender, etwa ab den 1890er Jahren, entwickelte sich das sogenannte „all-around-girl“ an den Frauencolleges als eine weibliche Entsprechung zum stereotypen „big man on campus“. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die zeitgenössischen Quellen Studenten immer als men bezeichneten (nicht als boys). Studentinnen aber waren fast durchgehend girls. Das „all-around-girl“ war ein „Rundumtalent“ oder, wie Innes es formuliert, eine „Progressive Era superwoman“. Sie brachte sportliche Höchstleistung, war wohltätig engagiert, stand an exponierter Stelle in der sozialen Hierarchie des Campus und, anders als ihr männliches Pendant, brillierte auch akademisch.44 Um sich Ansehen in der weiblichen Campus Society zu verschaffen, galt es darüber hinaus, einem Schönheitsideal zu entsprechen, Stil und Eleganz an den Tag zu legen und sich bei allen Aktivitäten weiterhin immer bescheiden weiblich zu geben. Denn die Studentinnen der zweiten Generation sahen sich zwar auch noch als Vorreiterinnen, konnten jedoch dank der steigenden Immatrikulationszahlen von Töchtern aus gutem Hause auf eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz zählen, solange sie sich dem gängigen Bild von Weiblichkeit fügten, wie es etwa das Ladies’ Home Journal propagierte. Sie brachten damit jedoch auch gleichzeitig wieder traditionellere Frauenbilder auf den Campus und begannen selbst mit dem Image des College Girls zu kokettieren, um sich so temporäre Freiräume zu schaffen. Wie ihren männlichen Altersgenossen sollte es auch ihnen vergönnt sein, ihre Jugend einige Jahre auszuleben, rauere Sportarten zu treiben, sich politisch und publizistisch auszuprobieren und auch sonstigen Experimenten jenseits der gesellschaftlichen Norm zu frönen – von extravagantem Kleidungsstil bis zu gleichgeschlechtlichen Romanzen, die generell als vorübergehende Phase galten.45 Während der Collegejahre war ein gewisser Grad an Devianz erlaubt, vorausgesetzt das College Girl war bereit, sich nach seinem Abschluss den etablierten Normen der Gesellschaft zu fügen, Ehefrau und Mutter zu werden, sich züchtig zu kleiden und unterzuordnen.46
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Everett C. Hughes, Howard S. Becker und Blance Geer, Student Culture and Academic Effort, in: College and Character, hg. von Nevitt Sanford, New York/London 1964, S. 153–161. Ebd., S. 107. Innes, Intimate Communities (Anm. 5), S. 97 u. S. 102. Christy, American Girl (Anm. 1), S. 46 f. Innes, Intimate Communities (Anm. 5), S. 105.
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Abbildung 4: Paul Stahr, Choosing her Profession, in: Life, 24.6.1915, Titelseite.
Die dritte Studentinnen-Generation (in den späten 1910er und 1920er Jahren) wuchs in eine bereits etablierte Collegekultur für Frauen hinein, die sie selbstbewusst auslebte und auch immer selbstverständlicher genoss. Ebenso selbstverständlich aber war es auch geworden, dass sie nach dem College nicht etwa einer selbstständigen Arbeit nachgingen oder sich hauptamtlich in sozialen Projekten engagierten, wie es noch viele Absolventinnen der ersten zwei Generationen getan hatten, sondern sich mit Leidenschaft der Rolle widmeten, die die amerikanische Gesellschaft von einer Frau der gehobenen Mittelklasse erwartete. Anhand der Einstellung zur Ehe lässt sich diese Rückkehr konservativerer Werte exemplarisch ablesen. Hier zeigen sich die veränderten Prioritäten der College Girls: Martha Cary Thomas, die erste Präsidentin von Bryn Mawr (im Amt 1894–1922), war noch eine klassische Pionierin. Sie vertrat die Überzeugung, only our failures get married.47 Ab den 1910er Jahren jedoch sahen sich unverheiratete weibliche Dozentinnen vermehrt mit dem Spott und Mitleid ihrer Studentinnen konfrontiert und Eltern äußerten Bedenken, dass ledige Dozentinnen ein schlechtes Beispiel für junge Mädchen seien.48 Den Abschluss in der Hand, galt es einen Ehemann zu wählen (s. Abb. 4). Während die „Pionierinnen“ der ersten Generation auf ihre Unabhängigkeit bestanden, die für viele eine der wichtigsten Motivationen gewesen war, ihr Studium aufzunehmen, wurde die Ehe für die überwiegende Mehrheit der Absolventinnen ab der zweiten und mehr noch in der dritten Generation wieder grundsätzlich erstrebenswert. Schnell entstand damit die Vorstellung, dass viele College Girls primär auf der Suche nach einem geeigneten Ehemann seien, vor allem an koedukativen Einrichtungen. Das Aufbrechen der viktorianischen Moralvorstellungen ermöglichte
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Zit. nach Lefkowitz Horowitz, Campus Life (Anm. 7), S. 198. Clifford, Lone Voyagers (Anm. 29), S. 30 f.
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jungen Männern und Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts alltäglicheren Umgang miteinander. An die Stelle jener Regeln der Elterngeneration trat die Praxis des Dating mit nicht minder streng vorgeschriebenen Geschlechterrollen, wie sie die amerikanische Populärkultur bis heute immer wieder bestätigt. Natürlich genossen auch die Frauen das Tanzen, Flirten, Küssen und zuweilen auch mehr, doch leicht sahen sich gerade die Studentinnen an gemischtgeschlechtlichen und coordinated Einrichtungen in eine Rolle gedrängt, die sie letztlich fast ausschließlich in Relation zu ihren männlichen Kommilitonen zu definieren schien.49 Sie waren Begleiterinnen oder gar Status-„objekte“, denn in der minutiös stratifizierten Campusgesellschaft war es für den männlichen Studenten ein Distinktionsmerkmal, mit dem hübschesten Mädchen auszugehen.50 Dieses Bild fand auch immer wieder Ausdruck in der populären Ikonographie der Campuskultur. Das „Fangirl“ bejubelte den männlichen, traditionell breitschultrigen Footballstar (s. Abb. 5).51 Bewundert und besungen als „The Beautyful Co-Ed“ oder „The Sweetheart of Sigma Chi“, erschienen diese Frauen auf dem Campus letztlich eher als das CollegeÄquivalent der Trophy Wife. Es überrascht nicht, dass ihre akademische Bildung kaum wirkliche Bedeutung hatte, ihr Aussehen dafür umso mehr. Schnell wurden Studentinnen zu eifrigen Kunden der aufblühenden Mode- und Schönheitsindustrie.52 Die Jahre am College waren für Amerikanerinnen und Amerikaner mehr als nur Teil eines Ausbildungs- oder Karrierewegs. Die Studierenden selbst, Männer wie Frauen, aber auch Eltern und Hochschulorganisatoren sahen diese Zeit als wichtigen Teil des Erwachsenwerdens und der Persönlichkeitsbildung, bei dem nicht allein inhaltliches, akademisches Wissen zählte, sondern mindestens ebenso viel soziales Wissen erlangt werden sollte. Es ging darum, Praktiken des gesellschaftlichen Umgangs zu lernen und zu pflegen, einen vollendeten Geschmack und guten Stil zu entwickeln sowie Kontakte zu knüpfen, um sich so einen privilegierten Platz im Leben zu sichern.53 Zu diesem Zweck pflegte man das extracurriculare Leben und die Campuskultur und in diesem Kontext war „husband-hunting“ vor allem in den späteren Generationen durchaus ein legitimes Ziel für Studentinnen, allzumal wenn es möglicherweise einen sozialen Aufstieg mit sich brachte.54 Wie das Dating etablierten sich unzählige offizielle und inoffizielle Bräuche, die ausgiebig Gelegenheit zum Kennenlernen und Umwerben boten.55 Während Tanzveranstaltungen
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Miller-Solomon, Educated Women (Anm. 41), S. 102 f. Lefkowitz Horowitz, Campus Life (Anm. 7), S. 211. Das Fangirl kann als Vorläufer der später stereotypen Cheerleader gelten. Zwar begann sich Cheerleading parallel zum College-Football in den 1880er Jahren zu professionalisieren, allerdings waren die offiziellen Cheerleader bis in die 1920er Jahre noch ausschließlich männlich – die Stimme zu erheben galt als unweiblich. Ellen Hanson, Go!Fight!Win! Cheerleading in American Culture, Bowling Green 1995, S. 10–16; Park, Sport, Gender (Anm. 18), S. 81. Zur Entwicklung der Schönheitsindustrie s. z. B. Lois W. Banner, American Beauty. A Social History through Two Centuries of the American Idea, Ideal and Image of the Beautiful Woman, New York 1983, bes. Kapitel 2: The Beauty Business. The Early Development of Beauty Culture, S. 28–44 u. Kapitel 10: The Culture of Beauty in the Early Twentieth Century, S. 202–225. Lefkowitz Horowitz, Campus Life (Anm. 7), S. 7; Clark, College Man (Anm. 6), S. 7. Peril, College Girls (Anm. 3) S. 277–280. Lefkowitz Horowitz, Campus Life (Anm. 7), S. 208–211.
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Abbildung 5: Earl Christy, Football Sammelkarten, c. 1905 (30.6.2017)
etwa an den meisten Colleges bis in die 1890er Jahre verboten gewesen waren, ließen sich ab der Jahrhundertwende immer mehr Institutionen auf wohl beaufsichtigte Vergnügungsnachmittage dieser Art ein, verbaten sich aber zum Ärger der Studierenden die populären Tänze der Tanzlokale, etwa den unschuldigeren „Bunny Hop“ und erst recht den aufreizenden Tango.56 Damit lassen sich mit Blick auf das Frauenbild um die Wende zum 20. Jahrhundert zwei gegenläufige Entwicklungen auf dem Campus beobachten: Während ihr Status als College-Girls gesellschaftlich immer mehr Akzeptanz fand und ihnen mehr Freiheiten einräumte als vorherigen Generationen, orientierten sich die jungen Frauen selbst wieder stärker an den traditionelleren Bildern von Weiblichkeit, die ihrer tatsächlichen oder angestrebten Mittelklasse-Identität entsprachen. 56
Banner, American Beauty (Anm. 52), S. 176; Miller-Solomon, Educated Women (Anm. 41), S. 101.
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GIBSON, CHRISTY UND FISHER – DIE ZEICHNER UND IHRE GIRLS Die populären Bildmedien der Zeit waren für Künstler ein lukratives Geschäft. Zeichner wie Charles Dana Gibson, C. Allan Gilbert oder Howard Chandler Christy konnten mit ihren Titelillustrationen ein Jahreseinkommen zwischen 65 000 $ und 75 000 $ erzielen.57 Zusätzlich zeichneten sie für die aufblühende Werbeindustrie, die wiederum ihre Anzeigen verstärkt in denselben Zeitschriften schaltete. Auf diese Weise wurden ein bestimmter Zeichenstil und die darin enthaltene Bildsprache innerhalb derselben Publikationen immer wieder in leichter Abwandlung reproduziert – sowohl von den etablierten Zeichnern, als auch von denen, die ihnen nacheiferten.58 Wie homogen die Darstellungsformen tatsächlich waren und wie sehr Bilder akademischer Weiblichkeit schnell Teil dieses Repertoires wurden, zeigt sich in einem Vergleich dieser beiden Titelillustrationen (s. Abb. 6a u. 6b): Ladies Home Journal (Feb. 1903) „Mr. Gibson’s American Girl“ von Charles Dana Gibson und das Sunday Magazine of the New York Tribune (26. Mai 1905) „Ideal American Beauties no. 5“ von Allan Gilbert. Obgleich sie von unterschiedlichen Künstlern und aus unterschiedlichen Publikationen stammen, weisen sie eine geradezu verblüffende Parallelität auf – mit dem entscheidenden Unterschied, dass Gilberts „American Beauty“ nicht nur mit der Rose dieses Namens geschmückt ist, sondern auch einen Doktorhut auf dem Kopf trägt. Das zwar selbstbewusste, doch stets damenhafte, geradezu aristokratische „Gibson Girl“ mit der voluminösen Hochsteckfrisur und in der Gesamtansicht immer mit charakteristischer Wespentaille hatte 1890 seinen ersten Auftritt in Life. Schnell wurde es zur vielkopierten und immer wieder re-interpretierten kulturellen Ikone.59 Nicht nur auf den Seiten von Illustrierten war diese Frauenfigur zu finden, sondern bald auch auf Geschirr, Tapeten und Streichholzschachteln. Korsettmacher und Coiffeure ließen sich inspirieren und machten mit der allseitigen Begeisterung ihre Geschäfte.60 Das College Girl erschien, ebenfalls in Gibson-Girl-Manier, auch von anderen Zeichnern interpretiert (s. Abb. 7). Zeitgenössische Frauenrechtlerinnen wie Charlotte Perkins Gilman priesen die augenscheinliche Unabhängigkeit der Frauen, die Gibson und seine Nachahmer zeichneten. Tatsächlich aber standen sie nur auf der Schwelle von traditioneller Weiblichkeit und der frühen Manifestation der New Women.61 Gibson Girls spielten Golf oder vergnügten sich in männlicher Begleitung am Strand. Allerdings erlaubt ihr Zeichner ihnen selbst beim Fahrradfahren keine Hosen und ihre eng geschnürten
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Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 5 u. 45. Zur Präsenz bestimmter visueller Typen in den populären Printmedien s. Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 6. Angesichts dieser Homogenität und der prägenden Rolle von Gibsons Illustrationen spricht Kitch vom „first visual stereotype of women in American mass media.“ Ebd. S. 37. Banner, American Beauty (Anm. 52), S. 154–156. Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 41; Banner, American Beauty (Anm. 52), S. 154. Banner, American Beauty (Anm. 52), S. 156.
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Abbildung 6a: Charles Dana Gibson, Mr. Gibson’s American Girl, in: The Ladies’ Home Journal, Februar 1903, Titelseite.
Taillen lassen ein Korsett erahnen, das einer wirklichen sportlichen Betätigung entschieden hinderlich gewesen sein dürfte (s. Abb. 8a u. 8b).62 Die betonte Weiblichkeit in diesen Bildern setzte jedoch einen Kontrapunkt zum Image der sonst als allzu maskulin dargestellten New Woman. Sport gehörte ebenso zu ihrem neuen Selbstbewusstsein wie Kleidungsstil und Stimmrecht: beginnend mit der Fahrradbegeisterung der 1880er über die Anfänge des professionalisierten Frauensports im Tennis und Golf um die Jahrhundertwende bis zu den ersten autofahrenden Frauen um 1910. Mobilität, Bewegungsfreiheit und Wettbewerbsgeist war bis dahin Männern vorbehalten gewesen. Sport an sich – sowohl aktiv als auch passiv – war in der anglo-amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts männlich konnotiert.63 62 63
Banta, Imagining American Women (Anm. 18), S. 89; Banner, American Beauty (Anm. 52), S. 157. Park, Sport, Gender (Anm. 18) S. 59; Donald J. Mrozek, The Amazon and the American „Lady“. Sexual Fears of Women Athletes, in: From „Fair Sex“ to „Feminism“. Sport and the Socialization
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Abbildung 6b: C. Allan Gilbert, Ideal American Beauties no. 5, in Sunday Magazine of the New York Tribune, 28.05.1905, Titelseite.
Frauen, die sich diese Privilegien nahmen, setzten ein politisches Zeichen. Männliche Kritiker, die athletische Leistungen von Frauen als Bedrohung ihrer eigenen sozialen Dominanz empfanden, mahnten immer wieder den Verlust von Weiblichkeit und Dekorum an.64 Dem Bild vom Mannweib aber standen nun die grazil gezeichneten Damen entgegen, die in eleganten Outfits Golfschläger schwangen. So prominent war das Bild der Golferin, dass Martha Banta sogar eine eigene „the-lady-golferis-beautyful pose“ ausmacht.65 Die verschiedenen Gibson Girls aber waren in der Regel nicht berufstätig oder als Suffragistinnen aktiv. Dank ihrer gehobenen sozialen Herkunft, die ihr Schöpfer ihnen so gekonnt visuell zu verleihen vermochte, schienen sie Derartiges nicht nötig zu haben. Sie waren Gesellschaftsdamen und „ladies of leasure“.66 Kurz darauf entwickelten auch andere Zeichner Frauentypen mit Wiederkennungswert und bald konkurrierte das Gibson Girl etwa mit dem „Christy Girl“ von Howard Chandler Christy, dem „Fisher Girl“ von Harrison Fisher und den „fadeawaygirls“ von Cole Phillips (s. Abb. 9 u. 10).67 Durch eine besondere graphische
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of Women in the Industrail and Post-Industrial Eras, hg. von James Anthony Mangan and Roberta J. Park, London 1987, S. 283–289, hier S. 283. Mrozek, Sexual Fears (Anm. 63), S. 284 f.; vgl. auch Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 53. Banta, Imagining American Women (Anm. 18), S. 77. Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 41. Christys frühe Zeichnungen lassen seine Orientierung an Gibson noch deutlich erkennen, z. B. in The American Girl (Anm. 1), doch schon bald entwickelte er seinen eigenen Stil. Zu Fisher s. Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 50 f.
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Abbildung 7: C. Allan Gilbert, Wellesley College illustrated in the May Scribner’s, Werbeplakat 1898, Boston Public Library, Print Department (30. 6. 2017).
Darstellungsform unterschied sich Phillips in seinem Stil von den anderen: Farbenspiel und Auslassungen ließen seine Figuren eins mit der Umgebung werden. Allerdings ging es dabei nicht darum, sie in den Hintergrund zu drängen, sondern prägnant Akzente zu setzen.68 In „A Call to Arms“ spielt der Künstler ganz bewusst mit dem eigentlich männlich konnotierten Ruder (s. Abb. 10). Die Gesichtszüge und Kleidung all dieser neuen Inkarnationen des Frauenideals waren weniger damenhaft. Noch nicht die Kindfrauen der 1920er Jahre, wurde doch jugendliche Unbefangenheit immer prominenter in Szene gesetzt, und der Campus bot dafür einen idealen Hintergrund. Dabei spielte es durchaus eine Rolle, dass prominente Zeichner wie Fisher oder Christy höhere Bildung für Frauen explizit begrüßten, ganz besonders die damit immer eng assoziierte athletische körperliche Ertüchtigung. Die besondere Aufmerksamkeit, die diese einflussreichsten Illustratoren Frauen im akademischen Milieu zollten, fand viele Nachahmer. Das neue College Girl stand für eine jüngere Version der New Women und besonders für die zweite und dritte Generation von Studentinnen.69 Kleidung und Frisur waren funktionaler, obgleich immer elegant und stilvoll, wie es das Image der bürgerlichen Mittelklasse verlangte. Nach wie vor idealisiert, schienen diese Frauen und Mädchen näher am Leben und entsprachen so auch dem neuen Trend, der Natürlichkeit, Bodenständigkeit und Naturverbundenheit wieder stärker betonte.70 Die Frauen des neuen Typus wirkten stets eher aktiv als dekorativ. Diesen Effekt erzielten die Zeichner einerseits durch 68 69 70
Coles Phillips, A Gallery of Girls, New York 1911. Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 48. Banner, American Beauty (Anm. 52), S. 202.
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Abbildung 8a: Charles Dana Gibson, Advice to Caddies, in: Life, 07. 7. 1900, S. 486–487.
die Wahl der Situationen, in denen sie die Frauen und Mädchen darstellten, zum anderen dadurch, dass ihre Figuren den Betrachter in der Regel direkt anschauten, anstatt, wie das Gibson Girl, mit leicht erhobenem Kinn von oben herab zu blicken.71 Für das Image des College Girls hatte die Darstellung von Sport und Gesundheit noch einen weiteren Grund. Die Verfechter des Frauenstudiums sahen sich gezwungen, den Beweis anzutreten, dass höhere Bildung für den weiblichen Körper weder physisch noch psychisch eine Gefahr darstellte. Hartnäckig hielt sich die Überzeugung, dass studierende Frauen auf Dauer auch dem „Volkskörper“ Schaden zufügen würden.72 Sei es, weil sie nicht heirateten oder ihr auf Grund intellektueller Arbeit „vernachlässigter Uterus“ keine gesunden Kinder produzieren könnte. Der Mediziner Edward H. Clarke warnte in seinem 1873 erstmals erschienenen und bis in die 1910er Jahre immer wieder neu aufgelegten Werk „Sex in Education“: They graduated from school or college excellent scholars, but with undeveloped ovaries.73 Die elaborierten Darstellungen von wohlgeformten, gesunden, weiblichen Körpern war eine visuelle Gegenargumentation. Howard Chandler Christy stellte die Vorteile von sportlicher Betätigung für Frauen immer wieder heraus. Diese sei nicht schädlich, sondern vielmehr unterstützend für die weibliche Gesundheit, auch mit
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Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 51. Miller-Solomon, Educated Women (Anm. 41), S. 104; Innes, Intimate Communities (Anm. 5), S. 3 u. 5; Park, Sport, Gender (Anm. 18), S. 77. Clarke, Sex and Education (Anm. 33) S. 39.
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Abbildung 8b: Chares Dana Gibson, Scribner’s for June, Werbeplakat 1895, Library of Congress, Washington DC, Artist Posters Collection (30. 6. 2017).
Blick auf ihre zukünftige Rolle in der Gesellschaft: The hand that swings the tennis racquet is the hand that rocks the cradle, schrieb er 1906.74 Die populäre Konstruktion von studentischer Weiblichkeit war somit mehr als nur die Illustration beliebter Erzählmotive und Ideale. Sie entstand im Kontext gesellschaftlicher Debatten, beeinflusst von den Praktiken und Parametern der Plakat- und Werbezeichner-Szene. Damit entstanden Bilder in einem breiteren Zusammenhang, der sozialen Anforderungen und ästhetischen Gepflogenheiten folgte, aber nicht zuletzt auch eine Marktlogik bediente. Die Bilder vom sportlichen Vassar Girl, vom kecken Co-Ed oder dem Football Fangirl hinterließen ihre Spuren in der populären Konstruktion des Frauenstudiums in den USA.75 Die damit einhergehende Sexualisierung des College Girls war ein willkommener Zusatzeffekt, der sich ebenfalls vermarkten ließ. Während das Ladies’ Home Journal noch bis 1907 vehement gegen die angebliche Unschicklichkeit von Schönheitswettbewerben argumentiert hatte, vollzog man 1911 eine redaktionelle Kehrtwende und schrieb selbst einen solchen Wettbewerb aus. Die zahlreichen Teilnehmerinnen träumten davon durch ihre Schönheit berühmt zu werden, denn die Gewinnerin würde von Charles Dana Gibson
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Christy, American Girl (Anm. 1) S. 38. Peril, College Girls (Anm. 3).
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Abbildung 9: Harrison Fisher, [ohne Titel], in: The Ladies’ Home Journal, Juni 1913.
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Abbildung 10: Cole Phillips, A Call to Arms, in Gallery of Girls, New York, 1911, S. 47; ursprünglich Life, 27.07.1911, Titelseite, allerdings mit anderem Text: „A Safe Guide?“.
portraitiert werden.76 In diesem Sinne schufen die Federn von Männern wie Gibson, Fisher, Philips, Christy und vielen mehr ein „visual vocabulary of womanhood“ und Frauenbilder, die das Schönheitsideal und die Cover-Girl-Ästhetik nicht nur in den USA bis heute prägen.77
KONSUM UND KLASSE Kommerziell vermittelte Schönheit und der Umgang damit veränderte und professionalisierte sich stetig. In den ersten Schönheitssalons hofften amerikanische Frauen schon ab den 1870er Jahren, sich dem Idealbild, das ihnen die Medien suggerierten, anzunähern. Industrielle Produktionsmethoden und standardisierte Passformen ließen das einst individualisierte Luxusgut Mode zu einer Option für die Massen
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Zur veränderten Einstellung im Ladies Home Journal und zu dem ersten Wettbewerb 1911 s. Mrozek, Sexual Fears (Anm. 63), S. 288 f. 77 Kitch, Girl on the Magazine (Anm. 11), S. 3, 14 u. 44. Mit Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 verpflichtete die Propagandaabteilung der amerikanischen Regierung die bekanntesten und etablierten Plakat- und Werbezeichner der Zeit. In diesem Propagandamaterial sind die visuellen Parameter der Vorjahre deutlich erkennbar und auch das College Girl kam zum Einsatz. George Creel, How We Advertised America, New York 1920.
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werden. Neben Kleidung verkauften die prunkvollen Kaufhäuser, die um die Mitte des 19. Jahrhundert in den großen amerikanischen Städten ihre Türen öffneten, auch die Make-Up Produkte, die in den USA früher als in Europa gesellschaftlich akzeptiert waren.78 Die Modeindustrie setzte Studentinnen und Studenten prominent in Szene. Auch wenn der offizielle Dresscode auf dem Campus Bescheidenheit und Zurückhaltung zu forcieren suchte, avancierte der College-Look männlicher wie weiblicher Studenten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem modischen Standard zwischen der stilsicheren Eleganz der gehobenen Gesellschaft und der jugendlichen Lust an zuweilen gewagten Experimenten und am Herausfordern etablierter Normen.79 Dabei waren das College Girl und sein männlicher Gegenpart immer sowohl Model als auch Konsumentenzielgruppe (s. Abb. 11). Wirklich erschwinglich war der neue Lebensstil jedoch nach wie vor nur für einen Teil der Gesellschaft, aber die suggerierte Erreichbarkeit übte große Faszination aus. Wie sehr eine Collegeausbildung Teil dieses kommodifizierten Lebensentwurfs der gehobenen Mittelklasse geworden war, zeigt sich auch im Urteil eines der bekanntesten zeitgenössischen Kritiker. In einer rigorosen Abrechnung mit der kommerzgesteuerten „Leasure Class“ legte der Soziologe Torstein Vebelen 1915 dar, wie Konsumverhalten Klassenunterschiede verstärkte und vor allem sichtbar machte. Ein ganzes Kapitel widmete Veblen der Hochschulbildung.80 Seine Kritik zielte nicht allein darauf ab, dass eine Collegeausbildung Teil der klassendefinierenden Gesellschaftspraktik sei, vielmehr prangerte er an, wie sich die politische und soziale Dynamik der US-Gesellschaft an den Hochschulen sowohl strukturell als auch performativ abbildete. Konkret bedeutet dies nicht nur, dass sich Eliten reproduzierten und so immer weiter fortsetzten, sondern auch, dass das Leben auf dem Campus die Regeln und Gepflogenheiten nachahmte, die ausschließlich Prestige und gesellschaftliche Distinktion zum Ziel hatten. Er identifizierte dieselben Mechanismen der Exklusion und Inklusion, die er auch für die gesamte US-Gesellschaft diagnostiziert hatte: Formen des demonstrativen – und damit statusgerichteten – Konsums („conspicious consumption“).81 Bezeichnend ist, wie Veblen die Rolle der Frauen in dieser auf Konsum fußenden Klassengesellschaft beschrieb: Die titelgebende „Leisure Class“, erklärte er, seien jene oberen Zehntausend, die für ihren Lebensunterhalt keiner Arbeit nachgehen müssten und diesen Luxus durch verschwenderische Ausgaben und demonstrative Freizeit zur Schau stellten. Der überwiegende Teil der Gesellschaft aber könne sich einen derartigen Lebensstil nicht ohne Weiteres leisten. 78
Banner, American Beauty (Anm. 52), S. 32 f. u. 41–43. Während in Europa besonders Rouge und Lippenstift noch bis in die 1890er Jahre mit dem leichten Leben des Theaters (oder moralisch noch fragwürdigeren Milieus) assoziiert wurde, nutzten Damen in den USA bereits in den 1870er Jahren selbstverständlich verschiedene Make-Up-Produkte. Banner, American Beauty (Anm. 52), S. 44. 79 Thelin, Higher Education (Anm. 31), S. 166. Spätestens ab den 1920er Jahren war der CollegeLook im mainstream angekommen und Kleiderhersteller versuchten mit Produktnamen, die „Campus“ oder „Co-Ed“ beinhalteten, Kunden auch jenseits der akademischen Jugend zum Kauf zu motivieren. Vgl. Peril, College Girls (Anm. 3), S. 111 u. 118. 80 Thorstein Veblen, The Leisure Class. An Economic Study of Institutions, New York 1915, S. 363–382. 81 Ebd., S. 68–71.
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Abbildung 11: Lombard Middy Blouses for the College Girl, Henry S. Lombard Company, Boston, Verkausbroschüre, 1922, .
Während nun die Männer gezwungen seien, so Veblen, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, um ihren Familien einen möglichst hohen Lebensstandard zu verschaffen, falle es ihren Frauen (und Töchtern) zu, demonstrativ zu konsumieren: Mode, öffentliche Veranstaltungen, Freizeitaktivitäten und Luxuswaren. Ziel sei es, auf diese Weise den Anschein einer höheren gesellschaftlichen Stellung zu erwecken und vorzugeben, man gehöre zur Leisure Class. In Veblens beißender Kritik erschien auch das Studium an einem College als Teil dieser „conspicuous consumption“. Gerade Töchter sollten also demonstrativ und öffentlichkeitswirksam auf das College gehen, nicht um sich zu bilden, sondern um den Status der Familie zu demonstrieren.82 Selbst wenn Veblen die Situation provokativ überzeichnete, kam seine Unbill nicht von ungefähr. Mit der wachsenden Anzahl der verschiedenen Bildungsinstitutionen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stiegen auch die Zahlen studierender 82
Ebd., S. 363–367. Mit der Ökonomisierung der Hochschulen rechnete Veblen in einem späteren Buch ab: Thorstein Veblen, The Higher Learning in America. A Memorandum on the Conduct of Universities by Business Man [1918], kommentierte Ausgabe, hg. von Richard F. Teichgraeber III, Baltimore 2015.
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Männer und Frauen. Eine Collegeausbildung wurde zum integralen Bestandteil der „culture of aspiration“ und ein immer selbstverständlicher Schritt im professionellen Werdegang der weißen gehobenen Mittelklasse und jener, die dorthin strebten.83 Juristen, Mediziner und Kaufleute, die ihren sozialen Aufstieg dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1870er und 1880er verdankten, sahen in der Collegeausbildung ihrer Kinder einen Weg, ihre soziale Stellung zu festigen, „social grace“ zu erlangen und an die nächste Generation weiterzugeben.84 Trotzdem war die Klientel an den amerikanischen Hochschulen, was die soziale Herkunft betraf, nicht vollkommen homogen. In der literarischen Imagination des studentischen Lebens, sowohl am Männer- als auch am Frauencollege, war Platz für einen etwas differenzierteren Blick auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unter den Studierenden – wenn auch in stereotyper Form. Hier gab es auch Raum, die Kinder aus weniger wohlhabenden Verhältnissen zu beschreiben, die ein Stipendium erhielten oder sich ihre Studiengebühren nebenher verdienten. Ihre akademische Arbeit nahmen sie dafür, wie einst die Studentinnen der ersten Generation, umso ernster und belegten in der Regel Vocational Courses mit einem konkreten Berufsziel, denn sie waren auf eine gute Arbeitsstelle nach dem College angewiesen. Trotzdem bedeutete auch für sie die Hochschulausbildung einen sozialen Aufstieg – oder doch zumindest die Perspektive darauf. „Working one’s way through college“ wurde zu einer Spielart des amerikanischen Traums.85 Die visuellen Repräsentationen hingegen konzentrierten sich fast ausschließlich auf das soziale Leben der wohlhabenderen Studenten der Ober- und Mittelschicht, die sich einem breit angelegten Studium der Freien Künste widmeten, ihre Collegejahre unbeschwert im Schatten ehrwürdiger Ulmen genossen und sich dem athletischen, sozialen und kameradschaftlichen Leben hingaben, weil der akademische Abschluss letztlich nur Statussymbol war.86
FAZIT Das populär konstruierte Ideal des amerikanischen College Girls in der Progressive Era, das noch bis weit ins 20. Jahrhundert nachwirkte, entwickelte sich vor allem als Repräsentation der zweiten und dritten Generation von Studentinnen. Das Frauenstudium war so akzeptiert, dass sich die öffentlichen Darstellungen nicht mehr damit befassten, abschätzig oder hoffnungsfroh den außergewöhnlichen Charakter einer Frau auf dem Campus zu thematisieren. Jetzt ging es darum, zu zeigen, wie das ideale College Girls aussah und wie es sich in die amerikanische Gesellschaft
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Burton J. Bledstein, The Culture of Professionalism. The Middle Class and the Development of Higher Education in America, New York 1976; David O. Levine, The American College and the Culture of Aspiration, 1915–1940, Ithaka/London 1986, S. 115 f. Joby Topper, College Presidents, Public Image, and the Popular Press. A Comparative Study of Francis L. Patton of Princeton and Seth Low of Columbia, 1888–1902, in: Iconic Leaders in Higher Education, hg. von Roger L. Geiger, New Brunswick/London 2011, S. 63–114, hier S. 82. Miller Solomon, Educated Women (Anm. 41), S. 70. Vgl. auch ebd., S. 97, wo Miller Solomon von „glamourized campuses“ spricht, „where girls skated on ponds and rode horses on wooden tracks country club style“.
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einfügte. Verschiedene miteinander verschränkte Parameter bestimmten den Konstruktionsprozess: Schon das Gibson Girl hatte der Mode- und Schönheitsindustrie für das populär konstruierte Bild studentischer Weiblichkeit Gewicht verliehen. Jugendlichkeit und athletische Physiognomie machten Gibsons Kunstfigur zum idealen Ausgangspunkt für das neue College Girl. Die Konjunktur visueller Medien unterstützte diesen Trend. Das rasch darauffolgende Bild des „all-around-girl“, wie Howard Chandler Christie und Harrison Fischer es zeichneten, zelebrierten Natürlichkeit und jugendliches Selbstbewusstsein als einen innovativen und bereichernden Teil moderner Weiblichkeit im Sinne konventioneller Gesellschaftsnormen. Ein Vergleich von Fishers Ladies’ Home Journal Titelseite von 1913 (s. Abb. 9) und Gilberts „Ideal American Beauty no. 5“ (s. Abb. 6b) acht Jahre zuvor verdeutlicht, wie sich das Image des „Sweet Girl Graduate“ veränderte. Die entstehende Ikonographie der Campuskultur zeigt, dass diese populären und kommerzialisierten Bilder auf eine bestimmte Klientel ausgerichtet waren. Marktlogik, Industriegesellschaft und die Moralvorstellungen der amerikanischen Mittelklasse modifizierten so das Image der New Women, mit dem sich einst die auf Emanzipation, Anerkennung und Unabhängigkeit drängenden Pionierinnen des 19. Jahrhunderts identifiziert hatten. Nicht allein „cultural uneasiness“ (Inness) bestimmte dieses ent-akademisierte Image des College Girls, sondern die immer wichtigere Bedeutung der Collegeerfahrung für die soziale Identität der kommerziell definierten weißen Mittelklasse in den USA. Sie dominierte die Campuskultur ab der Jahrhundertwende und bleibt letztlich bis heute einflussreich.
ABSTRACT The article examines how US-American visual media during the so-called Progressive Era (1890–1930) constructed a popular image of the female student. The emphasis lies on early mass publications like society journals and advertisements. By the turn of the century higher education for women was already quite widespread in the United States – especially compared to most European countries – and it generally met with a much higher level of social acceptance than on the other side of the Atlantic. However, the turn-of-the-century college girls had little in common with their “pioneering” predecessors who had fought hard during the 19th century for their right to study. The young women on the cover of Life, Scribner’s or Ladies’ Home Journal, seemed less academic and more sexual (or at least sensual). This transformation was prompted by social discourses and aesthetic customs alike. The article traces the dominant visual tropes to a distinctly white middle class identity in a commercial cultural marketplace. A college education for men and women emerged as a commodity and a much valued marker of social distinction. The popular media of the day knew to cater to this ideal.
GABENTAUSCH Eine Geschlechtergeschichte der Ehrenpromotionen von 1919 bis 1989 am Beispiel der Hamburger Universität Angelika Schaser
Das Promotionsrecht als „tragendes Kontinuitätselement universitärer Selbstverwaltung“1 eignet sich nicht nur hervorragend dafür, Kennzeichen und Konjunkturen universitärer Würdigungen und Anerkennungen zu untersuchen, sondern lädt auch dazu ein, dabei die geschlechtsspezifischen Konnotationen und Praktiken miteinzubeziehen. Seit dem Mittelalter werden in Europa erbrachte wissenschaftliche Leistungen mit dem Doktortitel anerkannt, er gilt jedoch nicht nur als Leistungsausweis, sondern wird auch von Anfang an als besondere Würde gewertet. Gleichsam folgerichtig werden Ehrenpromotionen von den Fakultäten und Fachbereichen zum einen zur Anerkennung wissenschaftlicher Leistungen, zum anderen aber auch als Dank für Unterstützung aller Art sowie für finanzielle Zuwendungen vergeben. Es spricht viel dafür, die Ehrenpromotion als facettenreichen Gabentausch2 aufzufassen, der durch die öffentliche Bekanntmachung und Festveranstaltungen im universitären Gedächtnis und in der aktuellen Praxis tief verankert ist. Zwischen Freiwilligkeit und Verpflichtung changierend, werden Leistungen, Anerkennungen, Auszeichnungen und Unterstützung unterschiedlichster Art ausgetauscht und Tauschvorgänge in Bewegung gehalten, deren Anfänge oft in weit zurückliegenden gemeinsamen Studienzeiten, Promotions-, Mentoren- und Arbeitsverhältnissen, aber auch in (wissenschafts-)politischer Zusammenarbeit zu finden sind. Der Wert der Ehrenpromotion lässt sich also nicht in einem einmaligen Akt bemessen, sondern ist Teil eines fortgesetzten Tauschhandels, der akademische Kreise und soziale Netzwerke samt ihren Geschlechterpolitiken über lange Zeiträume konstituiert. Dabei kann generell gefragt werden, ob der Wert einer solchen Ehrung eher auf den Leistungen der Geehrten oder auf der Wahrnehmung und öffentlichen Bekanntmachung dieser Arbeiten und Verdienste durch den Ehrenden beruht. In Bourdieuschen Kategorien lässt sich die Ehrenpromotion auch als eine „soziale Energie“ 1
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Laetitia Boehm, Akademische Grade, in: Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, hg. von Rainer Christoph Schwinge, Basel 2007, S. 11–54, hier S. 14. Die wichtigste Anregung kommt hier immer noch von Marcel Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, in: L’Année Sociologique N. S. 1 (1923/24), S. 30–186; Vgl. auch Beate Wagner-Hasel, Egoistic Exchange and Altruistic Gift. On the Roots of Marcel Mauss’ Theory of the Gift, in: Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange, hg. von Gadi Algazi, Valentin Groebner und Bernhard Jussen, Göttingen 2003, S. 141–171.
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interpretieren, die als kulturelles und symbolisches wie ökonomisches und soziales Kapital „Bestand und Wirkung nur in dem Feld hat, in dem sie sich produziert und reproduziert“3 – und zwar für die Empfänger wie für die Gebenden. Die Beschäftigung mit Ehrenpromotionen im 20. Jahrhundert zeigt, dass es sich hier um ein Thema mit disparater Quellenlage handelt, zu dem bislang vornehmlich sporadisch und vorzugsweise kasuistisch publiziert wurde; „eine Gesamtdarstellung fehlt immer noch“.4 Da Ehrenpromotionen von Fachbereichen oder Fakultäten verliehen wurden, gelang es selbst den Universitätspräsidien trotz mehrfacher Anläufe in der Regel nicht, sich einen zuverlässigen Überblick über die an den Universitäten vergebenen Ehrenpromotionen zu verschaffen. Gesicherte Zahlen sind deshalb schon schwer für einzelne Universitäten zu ermitteln,5 valide Daten für eine Untersuchung der Ehrenpromotionen auf nationaler oder gar internationaler Basis stehen nicht zur Verfügung. Da die Ehrenpromotion erst Ende des 19. Jahrhunderts genauer definiert und formalisiert wurde, werden sie oft zusammen mit regulären und „goldenen“ Promotionen und anderen Ehrungen wie Ehrensenatorenschaften, Honorarprofessuren, Orden und Medaillen in den Akten geführt. Auch an der Universität Hamburg sind die Unterlagen zu den Ehrenpromotionen unterschiedlich zugeordnet worden und verstreut im Staatsarchiv Hamburg, in dem im Aufbau befindlichen Universitätsarchiv, an der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte und in einzelnen Büros zu finden – oder eben nicht mehr zu finden.6 Als Grundlage für diesen Artikel dienten hier neben den Hamburger Quellen das Verzeichnis von Elisabeth Boedeker, die nach 1933 versuchte, alle Ehrenpromotionen von Frauen in Deutschland zu erfassen, sowie Publikationen zu einzelnen deutschen Universitäten und Fakultäten.7
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Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987, S. 194. Vgl. auch Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Ungleichheiten, hg. von Reinhard Kreckel, Göttingen 1983, S. 183–198. Joachim Bauer, Zur Herausbildung der Ehrenpromotionen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in: Die Ehrendoktoren der Friedrich-Schiller-Universität in den Geisteswissenschaften 1800 bis 2005, hg. von Klaus Dicke, Weimar 2007, S. 9–41, hier S. 10. In Zusammenhang mit Universitätsjubiläen werden jedoch in letzter Zeit vermehrt Listen mit Ehrenpromotionen veröffentlicht. So etwa: Verzeichnis der Ehrenpromotionen, in: Markus Drüding, Akademische Jubelfeiern. Eine geschichtskulturelle Analyse der Universitätsjubiläen in Göttingen, Leipzig, Münster und Rostock (1919–1969), Berlin 2014, S. 301–310; Rolf Gelius, Ehrendoktoren und Ehrensenatoren an der Universität Greifswald 1815–2005, in: Universität und Gesellschaft, Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456–2006, hg. von Dirk Alvermann und Karl Heinz Spieß, Bd. 2: Stadt, Region und Staat, Rostock 2006, S. 291–329; Otfried Wagenbreth u. a., Ehrendoktoren der Bergakademie, in: Die Technische Universität Bergakademie Freiberg und ihre Geschichte dargestellt in Tabellen und Bildern, Freiberg 2 2008, S. 78–83. Diese schwierige und lückenhafte Quellenlage bestätigt für die Universität Freiburg Wolfgang Pape, „Prähistorische“ und andere Ehrenpromotionen, in: Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920–1960, Mitglieder – Strukturen – Vernetzungen, hg. von Eckhard Wirbelauer, München 2006, S. 640–683. 25 Jahre Frauenstudium in Deutschland. Verzeichnis der Doktorarbeiten von Frauen 1908–1933, zusammengestellt von Elisabeth Boedeker, unter Mitarbeit von Ingeborg Colshorn und Elsa Engelhardt, Heft 1, Hannover 1939, Abschnitt VII: Ehrenpromotionen von Frauen an deutschen
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Im Folgenden soll zunächst nach den Rahmenbedingungen für Ehrenpromotionen in der deutschen Hochschulpolitik (1) gefragt werden, bevor ein Überblick über die bislang ermittelten Hamburger Ehrenpromotionen von 1918 bis 1989 gegeben wird (2). Danach werden die Initiatoren, die Geehrten sowie in Hamburg abgelehnte Ehrenpromotionen (3) vorgestellt. Die Ehrenpromotionen von Frauen werden anschließend vom Hamburger Fall ausgehend für das Deutsche Reich untersucht (4), bevor die Definition und die Bedeutung der wissenschaftlichen Leistungen und des Geschlechts im Spiegel der Ehrenpromotionen untersucht und der Wert der Gabe und der erwarteten oder bereits erbrachten Gegengabe eingeschätzt werden (5). Zum Schluss werden Funktion, Bedeutung und Inszenierung der Ehrenpromotion untersucht (6).
1. EHRENPROMOTIONEN IN DER DEUTSCHEN HOCHSCHULPOLITIK Ehrenpromotionen beschäftigten nicht nur die Universitäten. Auch Regierungen und die Öffentlichkeit griffen das Thema immer wieder auf. In der Regel geschah dies anlässlich von Verleihungen, zum Teil wurde jedoch auch immer wieder der prinzipielle Sinn und Zweck von Ehrenpromotionen diskutiert. Breiten Raum nahm das Thema vor allem im Verband der Deutschen Hochschulen, im Austausch in den Fachbereichen und Fakultäten sowie zwischen den Fakultäten und den Präsidien oder Rektoraten ein. Der Vorsitzende des Verbandes der Deutschen Hochschulen versuchte mit einem Schreiben vom 30. April 1923 die Rektoren der angeschlossenen Hochschulen zu veranlassen, unter Hinweis auf die Entschliessung des 3. Hochschultages Nr. 12 (betr. Erhalten der Würde des Deutschen Doktorgrades) eine Statistik einzusenden, aus der [. . .] die Zahl der Ehrenpromotionen pro Fakultät zu entnehmen wären.8 Diese Listen sollten dann in den Mitteilungen des Verbandes veröffentlicht werden, blieben jedoch dauerhaft fragmentarisch. Dahinter stand die Idee, eine befürchtete „Inflation“ von Ehrenpromotionen zu verhindern, um so den Wert dieser Ehrung zu erhalten. Angeregt wurde dieser Beschränkungsversuch wohl durch ein Schreiben des Deutschen Verbandes Technisch-Wissenschaftlicher Vereine vom 13. Februar 1923 an die Rektoren, in dem der Verband wegen des auffallenden Umfangs der Ehrenpromotionen den Technischen Hochschulen Zurückhaltung empfahl. Der Verband hatte den Eindruck, dass [. . .] bei einigen Technischen Hochschulen anscheinend mehr finanzielle als
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Universitäten bis zum Jahre 1933 einschließlich, S. LXXXI–LXXXVI. Boedeker erhielt offensichtlich nicht von allen Universitäten (vollständige) Antworten. So erhielt z. B. Carola Barth, die bei Boedeker nicht gelistet ist, 1927 von der Universität Königsberg eine Ehrenpromotion. Vgl. dazu Hannelore Erhart, Die Theologie im Kontext von Universität und Kirche zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus – ein Beitrag zur theologischen Diskussion, in: Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, hg. von Leonore Siegele-Wenschkewitz und Carsten Nicolaisen, Göttingen 1993, S. 223–250, hier S. 230, Anm. 41. Staatsarchiv Hamburg [HHStA] 364-5-I Uni, A 160.7, pag. 9.
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technisch-wissenschaftliche Gründe bei der Auswahl der zu promovierenden Personen vorgelegen haben.9 Ein ähnlicher Tenor spricht auch aus der Verlautbarung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg, die sich im selben Jahr in Übereinstimmung mit den Wünschen, die [. . .] auf dem Marburger Hochschultage geltend gemacht worden sind [. . .] einstimmig auf den Standpunkt [stellte], daß dem Titel eines Doktors honoris causa nur dann das Ansehen gewahrt bleibt, dessen er sich bisher erfreut, wenn Ehrenpromotionen ausschließlich wegen fachwissenschaftlicher Verdienste und nur in seltenen Fällen erfolgen.10 Damit entzog sich die Fakultät in diesem Fall einer Anfrage aus deutschen Kreisen Venezuelas, ob dem Präsidenten des Venezolanischen Staatenbundes, Juan Vicente Gómez, die Ehrendoktorwürde verliehen werden könnte, der größte Hochachtung vor der deutschen Wissenschaft zeigen würde und während des Ersten Weltkriegs persönlich dafür eingetreten sei, dass Venezuela nicht in die Reihen unserer Feinde eingetreten ist.11 Vorschläge von außen, die es immer gab, wurden in der nationalsozialistischen Zeit weiter an die Universitäten herangetragen, ungeachtet der Tatsache, dass die Ehrenpromotion eigentlich eingeschränkt werden sollte. Die Nationalsozialisten ließen die an den Universitäten bereits vergebenen Ehrenpromotionen überprüfen und forderten die Universitäten auf, vor Vergabe von Ehrenpromotionen diese nun vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung genehmigen zu lassen. Die Zahl dieser Auszeichnungen sollte auf eine Ehrenpromotion pro Jahr und pro Universität kontingentiert werden und diese Beschränkung wurde immer wieder in Erinnerung gerufen, wobei Ehrenpromotionen von Ausländern sowie aus Anlass von Jubiläen diesen einschränkenden Bestimmungen nicht unterlagen.12 Ehrenpromotionen blieben auch unter den Nationalsozialisten ein „aufgrund ihrer innen- und außenpolitischen Instrumentalisierung [. . .] zentraler Bestandteil nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik.“13 Nach Kriegsende sollten die Ehrenpromotionen weiterhin nur zurückhaltend vergeben werden. 1949 hielt die Westdeutsche Rektorenkonferenz fest, daß der Ehrendoktor nur in wenigen Fällen, und zwar ausschließlich in Würdigung wissenschaftlicher Verdienste, d. h. für eigene wissenschaftliche oder diesen gleiche schöpferische Leistungen zu verleihen ist, während sonstige Verdienste um eine
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Ebd., pag. 7 f. HHStA, 364-5-I Uni, A 160.9, pag. 8. Ebd., pag. 16 f.: Schreiben vom 28. Mai 1923, das dem Auszug aus dem Protokoll des Universitätssenats vom 1. Juni 1923 beiliegt. Gómez erhielt dann im Dezember 1933 zum 25-jährigen Regierungsjubiläum von der medizinischen Fakultät der Hamburger Universität eine Ehrenpromotion, s. Die an der Hamburger Universität vergebenen Ehrenpromotionen 1919–1989 im Anhang zu diesem Beitrag, S. 171. 12 HHStA, 364-13, Juristische Fakultät, Abl. 08/2000, Sign. 112, pag. 61. Maschinenschriftlicher Auszug aus dem Amtsblatt. 13 Ingo Bach, „Der Führer gab neuerdings die Weisung, die Verleihung der Ehrenpromotion solle so sparsam wie möglich erfolgen.“ Verleihung und Aberkennung des Titels „Doktor ehrenhalber“ als Spiegel nationalsozialistischer Hochschulpolitik, in: Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Werner Buchholz, Stuttgart 2004, S. 309–337, hier S. 336.
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Hochschule [. . .] tunlichst in anderer Weise, z. B. durch die Ernennung zum Ehrenbürger oder Ehrensenator, anzuerkennen wären.14 Damit sollte die Ehrenpromotion zwingend an die wissenschaftlichen Leistungen gebunden, gleichzeitig insbesondere Personen aus der Politik und Unternehmen sowie Mäzenen der Weg zu ehrenvollen Titeln der Universitäten und der Universitätsstädte offen gehalten werden. Denn neben Wissenschaftlern wurde immer gerne auch „Landespolitiker[n] und hohe[n] Beamte[n]“15 Ehrenpromotionen angetragen, um den Gabentausch zwischen Politik, Verwaltung und Universität in Schwung zu halten. Mitte der 1960er Jahre flammte die Diskussion wieder auf, als in Zeitungsannoncen in Die Welt und Die Zeit nach der Vermittlung von Ehrenpromotionen gegen Bezahlung gesucht wurde.16 Erneut wurde angeregt, die Vergabe der Ehrenpromotionen zu zentralisieren, dem Rektor Gelegenheit für Glückwünsche zu geben und ihm die Bekanntmachung der Ehrenpromotionen zu überlassen. 1977 wurde an der Universität Hamburg ein neuer Versuch unternommen, die Vergabe der Ehrenpromotionen einheitlich zu regeln.17 Zwar enthielten fast alle Promotionsordnungen Bestimmungen über die Ehrenpromotion, diese unterschieden sich jedoch bezüglich der an der Entscheidung mitwirkenden Personen und dem erforderlichen Zustimmungsgrad. Bei den Juristen wirkten alle Fachbereichsratsmitglieder und die weder emeritierten noch in den Ruhestand versetzten promotionsberechtigten Mitglieder des Fachbereichs mit.18 In vielen Fachbereichen entschieden die Fachbereichsmitglieder ohne Einschränkung (Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geowissenschaften) oder nur die stimmberechtigten Fachbereichsmitglieder (Wirtschaftswissenschaften und Philosophie, Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaft) oder sogar alle Mitglieder der Fakultät ohne Einschränkung (Theologie, Medizin).19 Auch der erforderliche Zustimmungsgrad schwankte stark: in der Medizinischen Fakultät war Einstimmigkeit erforderlich, bei den Theologen Einstimmigkeit weniger 1 Stimme, bei den übrigen Fachbereichen Mehrheiten von Fünfsechstel, Dreiviertel oder Zweidrittel. Der Akademische Senat schlug daraufhin allen Fachbereichen vor, in neuen Regelungen für die Beschlußfassung über die Verleihung der Würde eines Ehrendoktors eine qualifizierte Mehrheit von mindestens 2/3 der jeweils stimmberechtigten Personen vor[zu]sehen.20 Zu einer einheitlichen Regelung kam es jedoch nicht, wie überhaupt die Kommunikation in dieser Angelegenheit zwischen dem Präsidium und den Fachbereichen
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HHStA, 364-5-I Uni, A 160.7. Jens Blecher, Landesuniversität mit Weltgeltung. Die Alma mater Lipsiensis zwischen Reichsgründung und Fünfhundertjahrfeier, in: Geschichte der Universität Leipzig, Bd. 1: Spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit 1409–1830/31, hg. von Enno Bünz, Manfred Rudersdorf und Detlef Döring, Leipzig 2009, S. 553–838, hier S. 819. HHStA, 364-5-II Uni, 55.60.01. Eingeklebte Zeitungsausschnitte vom 3. Januar 1967. Universitätsarchiv Hamburg [UAHH], Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 1: Vermerk über die Beschlußfassung über Ehrenpromotionen. Überblick über die Regelung in den geltenden und den von den Fachbereichen bereits beschlossenen Ordnungen vom 5. September 1977. Ebd. Ebd. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 1.
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schwierig blieb. Auch als die Bürgerschaft 1997 eine kleine Anfrage betr. Ehrenpromotionen an Hamburgs Hochschulen von 1990–1997 stellte, war keine Meldung möglich, da die Akten an der Universität Hamburg weiter nicht in der Präsidialverwaltung systematisch erfasst und die Ehrenpromotionen von den 19 Fachbereichen in Eigenregie vorgenommen wurden.21
2. ÜBERBLICK: HAMBURGER EHRENPROMOTIONEN 1919–1989 An der Hamburger Universität wurden bis zum Jahresende 1989 205 dokumentierte Ehrenpromotionen vergeben.22 Der Überblick zu den 205 Ehrendoktoren zeigt, dass 52 den Doctor philosophiae und 47 den Doctor rerum naturalium erhielten. Die Juristen vergaben die Ehrenpromotion im Untersuchungszeitraum 33 Mal, die Mediziner und Zahnmediziner 32 Mal. Die 1954 neu gegründete Evangelisch-Theologische Fakultät vergab den Titel Doctor theologiae in dieser Zeit 20 Mal; der Doctor rerum politicarum wurde 21 Mal verliehen. Für die hier im Mittelpunkt stehenden Jahre von der Gründung der Hamburger Universität im Jahr 1919 bis zum Ende des kurzen 20. Jahrhunderts 1989/90 lassen sich Konjunkturen der Vergabe von Ehrenpromotionen erkennen, die nicht nur für Hamburg gelten dürften.23 Eher spärlich zu Anfang, dann immer häufiger wurden die Ehrenpromotionen während der Weimarer Republik an der Hamburger Universität vergeben (von 1919 bis 1932: 44). Rolf Gelius hat diese Zeit für die Universität Greifswald unter die Überschrift „Inflation des deutschen Promotionswesens“24 gestellt. Auf den Rektorenkonferenzen wurde über den Mißbrauch der Ehrenpromotion geklagt und die Fakultäten aufgefordert, im Vorfeld der Vergabe den Rektoren vertraulich Mitteilung zu machen und sich größte Zurückhaltung bei der Ehrenpromotion für nichtwissenschaftliche Leistungen aufzuerlegen.25 In der nationalsozialistischen Zeit ging die Zahl der Ehrenpromotionen in Hamburg deutlich zurück. Von 1933 bis 1943 wurden lediglich zwölf vergeben,26 in den letzten beiden Kriegsjahren wurden keine Ehrenpromotionen mehr verliehen. Damit entsprach die Hamburger Universität wohl ziemlich genau der vom Reichsministerium dekretierten Beschränkung pro Universität und pro Jahr auf eine Ehrenpromotion. 21 22 23
Ebd. Drucksache 15/7085 der Bürgerschaft vom 18. 3. 1997. Stand Februar 2018, s. Anhang zu diesem Beitrag auf S. 169–176. Eine Liste der an der Universität Hamburg vergebenen Ehrenpromotionen hat dankenswerterweise zu Beginn meiner Nachforschungen Eckart Krause, der Gründer und vormalige Leiter der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte an der Universität Hamburg, angelegt. Sie wird von ihm weiterhin aktualisiert und soll 2019 online veröffentlicht werden. 24 Gelius, Ehrendoktoren (Anm. 5), S. 299. 25 So der Bericht auf der Sitzung des Hamburger Universitätssenats am 16. Oktober 1931 über die deutsche und preußische Rektorenkonferenz am 9. und 10. Oktober 1931 in Goslar, s. HHStA, 364-5-I, Universität 1, C 20.4 Band 5. 26 Verzeichnis der Ehrenpromotionen, Aberkennungen und Ehrungen, zusammengestellt von Rainer Hering, in: Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945, Teil 3: Mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät, Medizinische Fakultät, Ausblick, Anhang, hg. von Eckart Krause, Hamburg 1991, S. 1503–1510, hier S. 1509 f.
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Ab 1946 wurden Ehrenpromotionen zunächst wieder zögerlich, seit den 1950er Jahren wieder häufiger und nach der Hochschulreform von 1968 wieder in geringerer Zahl vergeben: Zwischen 1945 und 1949 wurden 6, zwischen 1950 und 1959 37 und zwischen 1960 und 1969 54 Ehrenpromotionen verliehen. Von diesen 54 wurden 47 vor 1968 vergeben. In den 1970er Jahren ging die Zahl auf 24 zurück (1970–1979) und zwischen 1980 und 1989 wurden 28 Ehrenpromotionen verliehen. Als in der Sitzung des Universitätssenats vom 18. Dezember 1969 über die Neukonstituierung der im Gesetz nicht genannten Senatsausschüsse diskutiert wurde,27 wurde der Ausschuß für Ehrungen aufgelöst; er sollte erst bei Bedarf wieder neu konstituiert werden.28 Der Ausschuß für die Entziehung akademischer Grade, der aus dem Rektor und den Dekanen aller Fakultäten bestand, beruhte noch auf dem Gesetz über die Führung akademischer Grade und einer Durchführungsbestimmung aus dem Jahr 1937.29 Angesichts der Umstrukturierung der Universität wollte man hier noch die Änderung dieser Durchführungsverordnung abwarten.30 Entziehungen von Ehrenpromotionen konnten für die Hamburger Universität für den Untersuchungszeitraum nicht nachgewiesen werden, auch wenn von den 13 „Ehrenmitgliedschaften“, die zwischen 1933 und 1945 vergeben wurden, zehn auf Beschluss des Universitätssenats 1946 wieder entzogen wurden.31 Zwei Tendenzen lassen sich bei der Vergabe von Ehrenpromotionen durchgehend erkennen: Erstens argumentierten die Initiatoren von Ehrenpromotionen personenbezogen, hoben die Leistungen der zu Ehrenden hervor und betonten gleichzeitig, dass die Auszeichnung die eigene Universität oder Fakultät ebenso ehren würde wie die Ehrendoktoren und -doktorinnen.32 Bei genauerem Blick werden dann nicht nur Institute, Fakultäten oder gar ganze Universitäten durch Ehrenpromotionen in Zusammenhang mit den Geehrten gestellt, sondern die Initiatoren versuchen ihre eigene Stellung und ihren Arbeitsbereich in der inneruniversitären Konkurrenz aufzuwerten. So setzte etwa Friedemann Schulz von Thun zusammen mit Inghard Langer die Ehrenpromotion von Ruth C. Cohn durch, die er zwar nicht als seine Lehrerin bezeichnet, der er in seinem Lebenslauf jedoch Bedeutung bei der Entwicklung seines Spezialgebietes einräumt.33 27 28 29 30 31
HHStA, 364-5-II Uni, 03.30.3/1. HHStA, 364-5-II Uni, 03.30.3/1. § 1 der Verordnung, HHStA, 364-5-II Uni, 03.30.3/1. HHStA, 364-5-II Uni, 03.30.3/1. Verzeichnis der Ehrenpromotionen, Aberkennungen und Ehrungen, zusammengestellt von Rainer Hering, in: Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945, hg. von Eckart Krause, Teil 3: Mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät, Medizinische Fakultät, Ausblick, Anhang, Hamburg 1991, S. 1503–1510, hier S. 1507. 32 Friedemann Schulz von Thun, Laudatio auf Ruth Cohn. Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch den Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg am 30. November 1979, in: Zeitschrift für Humanistische Psychologie 4 (1980), S. 7–12, hier S. 7: Natürlich wollten wir die Ehre nicht nur Ruth Cohn antun, sondern auch uns selbst. 33 Beginn einer „Lehrzeit bei Ruth Cohn“ in TZI und Gestalttherapie und in der geistigen Welt der Humanistischen Psychologie; Lebenslauf von Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun, (22. 5. 2018). Inghard Langer war einer der beiden Promotionsgutachter der Dissertation von Friedemann Schulz von Thun.
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Zweitens drängten andere Professoren nahezu reflexhaft bei solchen Vorschlägen darauf, Ehrenpromotionen nur ausnahmsweise zu vergeben, um entweder deren Zahl generell zu beschränken oder auch einfach nur die vorgeschlagene Auszeichnung ablehnen zu können. Mit der Forderung nach einer strengen Begrenzung der Ehrenpromotionen suchte man die Würde dieser akademischen Auszeichnung zu erhöhen, eine Argumentationsfigur, die in der Geschichte der Ehrenpromotionen regelmäßig auftaucht. Die Fakultäten handelten in der Regel eigenmächtig und zum Teil ungewohnt rasch: Die zu Ehrenden wurden oft am Tag des Fakultätsbeschlusses in Kenntnis gesetzt, der Rektor erst im Nachhinein über den Vorgang informiert. An der Hamburger Universität wird die ambivalente Haltung gegenüber Ehrenpromotionen bereits bei der ersten Verleihung deutlich. Eigentlich wollte die neu gegründete Universität zunächst Kriterien für die Vergabe von Ehrenpromotionen entwickeln. Die Philosophische Fakultät preschte jedoch voran und beschloss ohne Rücksprache mit dem Universitätssenat 1919 die Vergabe des Dr. h. c. an Bürgermeister Dr. [Werner] von Melle und damit die erste an der Universität Hamburg dokumentierte Ehrenpromotion.34 Der letzte in diesem Beitrag einbezogene Akt fand im Juni 1989 statt. Nach Auflösung der Fakultäten 1969 beschloss hier der Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften am 7. Juni 1989 zum ersten Mal, dem Philosophen Jürgen Habermas und der Hamburgerin Renate Hauschild-Thiessen die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Der Fachbereich erkannte beiden Titel und Würde eines Doktor rerum politicarum zu.35 Habermas wurde einstimmig anlässlich seines 60. Geburtstags für seine wissenschaftlichen Verdienste und für eine Haltung, die sich der Tradition einer entschieden liberalen Aufklärung verpflichtet weiß,36 gewürdigt. Hauschild-Thiessen erhielt die Ehrenpromotion in Anerkennung ihrer Verdienste um die Erforschung und Verbreitung der Kenntnis der Geschichte Hamburgs.37 Trotz dieser „Paketlösung“, über deren Hintergründe man spekulieren kann, teilte ihr der Sprecher noch mit, dass diese Auszeichnung damit zum ersten Mal in der 20jährigen Geschichte des Fachbereichs vergeben worden sei.38 Damit sollte wohl der Wert dieser Ehrung für Hauschild-Thiessens jahrzehntelange Arbeit erhöht werden. Öffentlich inszeniert – und von studentischen Protesten begleitet – wurde jedoch die Ehrenpromotion von Habermas, der sich freute, in der Bundesrepublik damit zum ersten Mal in dieser Weise ausgezeichnet zu werden.39 34 35
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HHStA, 364-5-I Uni, A 160.8.3. Aus dem Schreiben des Sprechers des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften an den Präsidenten der Universität Hamburg vom 9. Juni 1989 geht hervor, dass der Fachbereich zum ersten Mal Frau Dr. phil. Renate Hauschild-Thiessen und Herrn Prof. Dr. phil. Jürgen Habermas ausgezeichnet hat. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 40. Aus dem Schreiben des Sprechers des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften an Jürgen Habermas vom 8. Juni 1989, in: Ebd. Schreiben des Sprechers des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften an Renate Hauschild-Thiessen vom 8. Juni 1989, in: Ebd. Ebd. Aus dem Manuskript der Danksagung von Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung am 14. Dezember 1989, S. 2, in: UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 40.
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3. INITIATOREN VON EHRENPROMOTIONEN, GEEHRTE UND ABLEHNUNGEN Die Initiatoren von Ehrenpromotionen zweifelsfrei zu identifizieren, ist angesichts der Quellenlage und der Tatsache, dass die Vergabe von Ehrenpromotionen oft im Vorfeld in informellen Gesprächen vorbereitet wurde, nicht einfach. Im Wesentlichen lassen sich zwei Gruppen von Initiatoren unterscheiden: Die einen kamen von außen, aus der Stadt, aus dem Deutschen Reich beziehungsweise der Bundesrepublik Deutschland und dem Ausland, die dem Bürgermeister, dem Universitätspräsidenten oder den Fakultäten Personen für eine Ehrenpromotion vorschlugen. Die anderen Initiatoren kamen aus der Universität selbst. Professoren, Fakultäten und Fachbereiche regten Ehrenpromotionen an. Um die Initiativen einzelner Professoren einzuhegen, versuchten viele Fakultäten, bei der Vergabe von Ehrenpromotionen hohe Zustimmungsgrade bei den Entscheidungen vorzuschreiben. In der Regel waren es Männer, die Männer vorschlugen; ein Umstand, der die geschlechtsspezifische Wirkung der eingangs beschriebenen sozialen Energie des Gabentausches unterstreicht. Die wenigen Vorschläge, die von Frauen kamen, zeichnen sich teils durch geringe Kenntnisse universitärer Strukturen und Machtmechanismen aus und dürften schon allein aus diesem Grunde oft gescheitert sein. So fragte etwa eine promovierte Frau aus Zürich 1971 an, ob die Universität nicht dem Arzt und Schriftsteller Peter Bamm (1897–1975) die Ehrenpromotion verleihen könne.40 Die Anfrage wurde an den Fachbereich Geschichtswissenschaft weitergereicht und dort abgelehnt. Fünf Jahre später schlug eine Oberärztin aus Bad Nauheim der Behörde für Wissenschaft und Kunst in Hamburg Christoph Czwiklitzer, deutscher Kunstbuch-Verleger, z. Z. Paris, Verfasser zahlreicher kunstwissenschaftlicher Monographien, Mäzen,41 für eine Ehrenpromotion vor. Auch dieser Vorschlag wurde nicht umgesetzt. Dagegen konnten Vorschläge von Männern, die zunächst von einer Fakultät abgelehnt wurden, durchaus erfolgreich an anderen Fakultäten oder Universitäten platziert werden. Als die Ehrenpromotion des indischen Staatspräsidenten Jawaharlal Nehru 1956 durch den damaligen Rektor angeregt wurde, ließ die Fakultät für Rechtswissenschaften zunächst wissen, daß es unseren Gepflogenheiten nicht entspricht politische Ehrendoktorate zu verleihen.42 Auch die Philosophische sowie die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät lehnten ab. Schließlich konnte die Medizinische Fakultät für die Vergabe einer Ehrenpromotion an Nehru gewonnen werden.43 Daraus ergaben sich jedoch gewisse Schwierigkeiten [. . .]. Inzwischen ist festgestellt worden, daß sehr wahrscheinlich sowohl bei Pandit Nehru wie in indischen Kreisen überhaupt die Verleihung eines Ehrendoktors der Medizin nicht genügend verstanden werden wird, weil der Beruf des Mediziners in Indien nicht das gleiche gesellschaftliche Ansehen genießt, wie in Europa.44 Schließlich einigte 40 41 42 43 44
UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 4. HHStA, 364-5-II Uni, 55.60.1. HHStA, 364-13, Juristische Fakultät, Abl. 08/2000, 82, Sign. 114. Ebd. Auszug der Niederschrift der Fakultätssitzung vom 6. Juli 1956 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, HHStA, 364-13, Juristische Fakultät, Abl. 08/2000, 82, Sign. 114.
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man sich darauf, dass Nehru eine doppelte Ehrenpromotion (Dr. iur. und Dr. med.) zuteilwerden sollte. Die Logik des Gabentausches bestand hier darin, sowohl Nehru als auch der Universität Hamburg zu internationalem Prestige zu verhelfen. Um erfolgreich zu sein, musste dabei die in- wie ausländische Rezeption im Voraus antizipiert werden. Ein zweites Beispiel: 1985 wurde Salomo[n] Birnbaum (1891–1989), der in den 1920er Jahren Jidisch an der Hamburger Universität unterrichtete und dessen Habilitation dort in den 1920er Jahren scheiterte, vom Direktor des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden für eine Ehrenpromotion vorgeschlagen. Als dies im Fachbereich Sprachwissenschaft auf Widerstand stieß, unterrichtete Peter Freimark im Dezember 1985 den Präsidenten Fischer-Appelt, der die Ehrenpromotion Birnbaums unterstützt hatte, dass die Verleihung der Ehrenpromotion an Birnbaum Ende Mai 1986 an der Universität Trier stattfinden solle.45 Solche Erfolge gelangen Frauen – was die Hamburger Aktenlage betrifft – nicht. Von funktionierenden universitären Netzwerken, die dazu nötig waren, waren sie meist ausgeschlossen; ihr Ansehen, ihr Einfluss und ihre Macht waren in der Regel zu gering, um die eingeforderte Gegengabe gewähren zu können. Unter den Geehrten finden sich neun Frauen. Vorauszuschicken ist hier, dass generell sehr viel weniger Ehrenpromotionen an Frauen vergeben wurden, was angesichts der Strukturen in Wissenschaft und Universitäten nicht überrascht: „Frauen sind unter den Ehrendoktoren erheblich unterpräsentiert“46 stellt auch Hartung fest. Sie waren zum einen in der Wissenschaft und an den Universitäten in der Minderheit, hatten weniger Zugang zur Macht und zu einflussreichen Netzwerken, zum anderen wird auch hier der sogenannte Matilda-Effekt deutlich, mit dem die Wissenschaftshistorikerin Margaret Rossiter die „systematische Unterbewertung der Beiträge von Frauen zu Wissenschaft“ bezeichnete.47 In den Augen ihrer männlichen Kollegen hatten Frauen, wie die Abschnitte 4 und 5 zeigen werden, für diesen Gabentausch in der Regel einfach zu wenig zu bieten. Soweit überliefert, fielen die Reaktionen derjenigen, denen die Ehrenpromotion verliehen werden sollte, unterschiedlich aus. Die Aktenlage zeigt, dass Ausländer in der Regel im Vorfeld angefragt wurden, ob sie die Ehrenpromotion einer deutschen Universität überhaupt annehmen würden. Dieses Prozedere wird an einer Stelle deutlich beschrieben: Allerdings musste vorher noch die Frage geklärt werden, ob der [. . .] willens sei, diese Ehrung einer deutschen Universität entgegenzunehmen. Herr Prof. Dr. [. . .] machte mich darauf aufmerksam, daß diese Frage nicht schriftlich erfolgen dürfe und daß auch die Hamburger Universität nicht genannt werden
45
UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 10. Vgl. Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft des 18. bis 20. Jahrhunderts, hg. von der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 1, München 2002, S. 964. 46 Joachim Hartung, Die Ehrenpromotionen in Jena von 1800 bis 2005 statistischer Überblick, in: Die Ehrendoktoren der Friedrich-Schiller-Universität (Anm. 4), S. 33–37, hier S. 35. 47 Margaret W. Rossiter, Der Matthäus Matilda-Effekt in der Wissenschaft, in: Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Theresa Wobbe, Bielefeld 2003, S. 191–210, hier S. 200–202.
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sollte.48 Gerade bei aus Deutschland vertriebenen Wissenschaftlern ist anzunehmen, dass eine solche „Wiedergutmachung“ nicht in allen Fällen gut angekommen sein dürfte. In solchen Fällen sondierte die Universität Hamburg also vorsorglich den jeweiligen Wert ihrer Gabe. Anderen wurde die Verleihung der Ehrenpromotion nach der Entscheidung der Fakultät oder des Fachbereichs mitgeteilt, wobei verschiedene Wendungen deutlich werden lassen, dass diese Ehrung für die Angeschriebenen keineswegs vollkommen überraschend gekommen sein dürfte. In den meisten der dokumentierten Fälle wurde die Auszeichnung mit Freude angenommen. Dies konnte in wenigen Zeilen geschehen, dem Dank konnte aber auch in mehrseitigen Briefen Ausdruck verliehen werden.49 In den Antworten werden nicht nur Dankbarkeit, Freude und Rührung zum Ausdruck gebracht, sondern es wird auch immer wieder deutlich, dass die Ehrungen nicht nur für die Fakultät und Universität identitätsund sinnstiftende Praktiken bildeten. So schrieb ein ehemaliger Notar in seinem handschriftlichen, einseitigen Brief an den Universitätspräsidenten am 26. März 1984, in dem er sich für das Redemanuskript von Fischer-Appelt bedankte: Haben Sie doch mit Ihren Worten gerade die tieferen Sphären berührt und zum Ausdruck gebracht, die mich bei meinem jahrzehntelangen Bestreben angespornt haben, obschon ich mir dessen keineswegs in jedem Augenblick bewusst gewesen bin. Damit haben Sie auch meinem Selbstverständnis zu grösserer Klarheit verholfen.50 Ablehnungen von Seiten der vorgeschlagenen Ehrendoktoren werden wohl zum großen Teil mündlich erfolgt sein. Nur selten finden sich Spuren davon in den Akten, etwa wenn der Syndikus der Hamburger Universität 1968 dem Dekan der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät den Verzicht auf die verliehene Würde eines Doktortitels der Staatswissenschaften mitteilte.51 Wenige lehnten (dokumentiert) die angebotene Ehrung ab, so wie der Komponist Igor Strawinsky, der 1958 mitteilen ließ, eine solche Ehrung aus prinzipiellen Gründen nicht annehmen zu können. So hat er kürzlich auch die Ehrendoktorwürde der Universität OXFORD ausgeschlagen. Verständlicherweise wird er danach eine ähnliche Ehrung der Universität Hamburg ebenfalls nicht annehmen können.52 An dieser Stelle wurde also auch die ausgeschlagene Gabe zur sozialen, ja moralischen Währung. Ablehnungen von Seiten der Fakultäten und Fachbereiche sind ebenfalls nur ungenügend dokumentiert. Zum einen wurden Anträge auf Ehrenpromotionen wohl vielfach im Vorfeld mündlich abgelehnt, bevor sie in der Universität aktenkundig wurden, zum anderen wurden eingereichte Unterlagen vom Rektorat und den Fakultäten nach Ablehnung des Antrags in der Regel zurückgesendet.53 Zum Teil wurden sie bei
48 49 50 51 52 53
Aus einem Schreiben des NDR an die Universität der Freien und Hansestadt Hamburg vom 21. August 1958, HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.3. So Hermann Aubin, HHStA, 364-13, Juristische Fakultät, Abl. 08/2000, 82, Sign. 118. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 1. HHStA, 364-5-II Uni, 55.60.20. Das vom Syndikus angekündigte Begleitschreiben fehlt in der Akte. HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.3. Hervorhebung im Original. Schreiben des Rektors vom 28. April 1947 an Prof. Dr. med. Hans Ritter (HHStA, 364-5-I Uni, A 160.9, pag. 39).
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späteren Recherchen gelistet.54 Die abgelehnten Anträge reichen von höflichen und zurückhaltend formulierten Vorschlägen bis zu Eingaben, die deutlich werden lassen, dass die Initiatoren selbstverständlich damit rechneten, dass ihrem Vorschlag von der Universität Folge geleistet würde. So fragte etwa am 25. Januar 1947 ein Professor aus Hamburg beim Rektor der Universität wegen einer Ehrenpromotion an: Es ist dieser der in Hamburger Wirtschaftskreisen bekannte und geachtete Hamburger Kaufmann und Direktor Herr [. . .] der seit langen Jahren sein Erfinder-Genie in den Dienst unseres Landes und erfolgreich unter Beweis gestellt hat.55 Die Ehrenpromotion für diesen Kaufmann wurde jedoch ebenso abgelehnt wie die für einen potentiellen Mäzen, für den ein Freund bei der Hamburger Universität anfragte und behauptete, der Grossindustrielle [. . .] hat mir als Treuhänder und Bevollmächtigter eine Summe von ca. 10.000.000 Mk zur Verfügung gestellt mit der Massgabe, diese nach meinem Dafürhalten einer deutschen Universität zu wissenschaftlichen Zwecken zu stiften.56 Noch enger wurde dieser finanzielle Zusammenhang von einem interessierten Nichtakademiker gesehen, der den symbolischen Gabentausch als primär ökonomischen Handel missverstand: Besonderes Interesse für den Ttl. eines Dr. h. c. veranlasst mich genaue Informationen zur Erlangung desselben einzuholen. Insbesondere möchte ich wissen ob es auch mir, einem Nichtakademiker, möglich ist den Grad eines Dr. h. c. zu erwerben. Ich bitte höflichst um Angabe welche Kosten damit verbunden sind und welche Bedingungen resp. Aufgaben oder Arbeiten von mir erfüllt werden müssen.57
Nach 1945 wurden Ehrenpromotionen als eine Art „Wiedergutmachung“ für in der NS-Zeit erlittenes Unrecht auch von universitätsfernen Personen eingefordert. So fragte ein Schriftleiter in einem dreiseitigen Schreiben vom 20. Januar 1947 beim Rektor der Hamburger Universität um eine Ehrenpromotion an, da er als politisch Verfolgter nicht studieren konnte.58 Am 11. März 1947 bekam er vom Syndikus die Ablehnung mit dem Hinweis mitgeteilt, eine Ehrenpromotion könne gemäß der Promotionsordnung der Universität [. . .] nur in Anerkennung hervorragender wissenschaftlicher Leistungen [. . .] erteilt werden.59 Noch 1970 erreichte Fischer-Appelt eine Anfrage eines 1923 geborenen, nicht promovierten Hamburger Schriftstellers und Wissenschaftlers mit 39 Anlagen, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat verletzt wurde und sein Studium nicht abschließen konnte.60 Auch dieser Antrag wurde abgelehnt. 54
55 56 57 58 59 60
So listete der Fachbereich Ev. Theologie für den Präsidenten am 26. Juni 2003 die vergebenen Ehrenpromotionen auf und teilte auch die Namen von drei Personen mit, deren Ehrenpromotionen nicht genehmigt worden waren (UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 1). Für die Juristische Fakultät sind Ablehnungen und Zurückziehungen dokumentiert in HHStA, 364-13, Juristische Fakultät, Abl. 08/2000, Sign. 111 sowie in den neuesten Funden von Dr. Sarah Bachmann, die an einer Darstellung der Juristischen Fakultät der Hamburger Universität arbeitet. HHStA, 364-5-I Uni, A 160.9, pag. 34. Ebd., pag. 4–7. Ebd., pag. 27. Ebd., pag. 31–33. Ebd., pag. 37. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 96.
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4. EHRENPROMOTIONEN VON FRAUEN IN HAMBURG UND IM DEUTSCHEN REICH 1923 wurde an der Hamburger Universität zum ersten Mal eine Frau, die Romanistin Caroline Wilhelma Michaelis de Vasconcelo (1851–1925), geehrt, jedoch nicht mit einer Ehrenpromotion, sondern mit einer nirgendwo näher definierten „Ehrenmitgliedschaft“.61 Der in Berlin geborenen Professorin, die seit 1912 an der Universität von Coimbra in Portugal lehrte, wurde diese Ehre aufgrund ihrer hervorragende[n] Forschungen über romanische Literatur [und die] Pflege geistiger Beziehungen zu Deutschland62 angetragen. 1946 erhielten Margarethe Gütschow63 (1871–1951, Archäologin), 1966 Ida Noddack64 (1896–1978, Chemikerin), 1967 L[o]uise Rassfeld-Sternberg65 (Lebensdaten unbekannt, Med.-techn. Assistentin), 1979 Ruth C. Cohn66 (1912–2010, Psychotherapeutin), 1985 Christa Wolf67 (1929–2011, Schriftstellerin), 1987 Ida Ehre68 (1900–1989, Schauspielerin, Regisseurin und Theaterleiterin), 1988 Monika Meyer-Holzapfel69 (1907–1995, Schweizer Zoodirektorin) und im Jahr 1989 die beiden Hamburgerinnen Ursula Randt70 (1929–2007) und Renate Hauschild-Thiessen71 (geb. 1929) die Ehrenpromotion. An diesen neun Ehrenpromotionen ist nicht nur auffallend, dass die erste Ehrenpromotion an eine Frau erst nach dem Zweiten Weltkrieg (1946) vergeben wurde, sondern auch, dass die zweite und dritte erst zwanzig Jahre später (1966 und 1967) erfolgte, und die vierte dann wiederum zwölf Jahre (1979) auf sich warten ließ, bevor die fünf letzten im Untersuchungszeitraum ab 1985 vergeben wurden.72 Ruth C. Cohn und Ida Ehre waren Jüdinnen, die 1933 emigrieren beziehungsweise ihren Beruf aufgeben mussten. Ruth C. Cohn wurde für ihr von humanistischen Werten geleitetes Werk, für die Wegbereitung eines lebendigen Lernens und der 61
62 63
64 65 66 67 68 69 70 71 72
Die Akte scheint nicht mehr zu existieren. Die Ehrenmitgliedschaft wird lediglich in einer Liste der Fakultät genannt (HHStA, 364-5-I Uni, 160.7). Vgl. Winfried Busse, Eine Berliner Romanistin in Portugal. Carolina Michaëlis de Vasconcelos (1851–1925), (18. 1. 2017). HHStA, 364-5-I Uni, 160.7. HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.3. Vgl. Raffaella Bucolo, Biographical Notes on Margarete Gütschow (1871–1951) and the Role of Early Twentieth-Century Women Archaeologists, in: Bulletin of the History of Archaeology 27.1 (2017), S. 1, (17. 09. 2017); Lothar Wickert, Beiträge zur Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts 1879 bis 1929, Mainz 1979, S. 15–17. HHStA, 364-5-II Uni, 55.60.60. HHStA, 364-5-II Uni, 55.60.40. HHStA, 364-5-II Uni, 55.60.50. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 73. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 97. Akte nicht auffindbar. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 69. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 40. Auch an der Universität Jena wurde in den Jahren 1946 bis 1989 lediglich 6 Frauen in großen Abständen die Ehrenpromotion verliehen: 1946 an die Schriftstellerin Ricarda Huch, 1955 an die Medizinerin Cecile Vogt, 1959 an die Schriftstellerin Anna Seghers, 1972 an die Mathematikerin Erna Weber, 1983 an die Medizinerin Rosemarie Albrecht und 1989 an die Schriftstellerin Inge von Wangenheim. Vgl. Hartung, Ehrenpromotionen in Jena (Anm. 46), S. 35.
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Versöhnung von Sacherfordernis und Mitmenschlichkeit73 geehrt, Ida Ehre für die hervorragenden Leistungen [. . .] als Schauspielerin, Regisseurin und Theaterleiterin.74 Wegen ihres jüdischen Vaters musste Ursula Randt 1944 die Schule verlassen. Sie erhielt die Ehrenpromotion aufgrund ihre[r] hervorragenden Leistungen und Verdienste um die Aufarbeitung der Geschichte des jüdischen Schul- und Bildungswesens in Hamburg.75 Auch in der Laudatio für Renate Hauschild-Thiessen wurden ihre Arbeiten zur Geschichte des jüdischen Lebens in unserer Stadt, wie generell ihre quellenorientierten Arbeiten sowie ihre Mitwirkung an verantwortlicher Stelle im Verein für Hamburgische Geschichte hervorgehoben.76 Ida Noddack bekam die Ehrenpromotion nicht für sich alleine, sondern stellvertretend auch für ihren 1960 verstorbenen Ehemann Walter Noddack überreicht. 1925 hatte das Ehepaar das Rhenium entdeckt.77 L[o]uise Rassfeld-Sternberg hatte viele Jahre mit Prof. Zeisler zusammengearbeitet und war unter anderem Mitautorin des von Zeisler und Prof. Krauspe verfaßten Buches „Das Gasödem des Menschen“.78 Christa Wolf wurde dafür geehrt, dass sie durch den unabhängigen Ernst ihrer Fragestellungen und die Nachdenklichkeit ihrer Antworten eine Brücke der Verständigung über Grenzen von Ländern und Literaturen geschlagen hat.79 Vier der neun Frauen sind geehrt worden, weil sie wegen ihrer jüdischen Herkunft in der NS-Zeit verfolgt und ausgegrenzt wurden und/oder die deutschjüdische Geschichte Hamburgs erforscht hatten. Diese Beispiele zeigen, wie komplex der Gabentausch sein konnte, denn in den genannten Fällen erhoffte man sich einen Teil der Gegengabe nicht individuell von den Geehrten, sondern von der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft insgesamt: die Anerkennung als Universität, die sich ihrer NS-Geschichte stellte. Im Vergleich zu den Ehrenpromotionen von Männern an der Hamburger Universität ist weiter auffallend, dass keine dieser Frauen eine Professur bekleidete und nur zwei von ihnen promoviert waren.80 Dass Frauen Ehrenpromotionen erhielten, die weder eine Professur noch eine Promotion vorzuweisen hatten, hatte bis in die 1930er Jahre Tradition. 1939 erfasste Boedeker 42 Frauen, von denen 30 nach dem Ersten Weltkrieg ausge-
73 74 75 76
77
78
79 80
UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 17. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 97. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 69. Brief Gerhard Ahrens (Sprecher des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften) vom 8. Juni 1989 an Hauschild-Thiessen, in: UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 40. Text der Urkunde in HHStA, 364-5-II Uni, 55.60.60. Vgl. auch Hans-Georg Tilgner, Forschen – Suche und Sucht. Kein Nobelpreis für das deutsche Forscherehepaar, das Rhenium entdeckt hat. Biografie und Wirken von Ida Noddack-Tacke (1896–1978) und Walter Noddack (1893–1960), Hamburg u. a. 1999. Die Welt vom 3. August 1967, Zeitungsausschnitt in: HHStA, 364-5-II Uni, 55.60.40. Diesem Bericht nach war sie bereits 1949 mit der „[Hermann-]Kümmell-Ehrengedenk-Münze“ ausgezeichnet worden. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 73. Promoviert waren nach den vorliegenden Unterlagen Noddack (Dr. ing.) und MeyerHolzapfel (Dr. phil., seit 1954 Honorarprofessorin an der Universität Bern).
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zeichnet wurden.81 Deutschlandweit erhielt nach drei Vorläuferinnen82 aus dem 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts Caroline Wilhelmina Michaëlis de Vasconcelos 1893 von der Universität in Freiburg als erste Frau im Kaiserreich eine Ehrenpromotion.83 Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden laut Boedeker weitere sechs Frauen mit einer Ehrenpromotion ausgezeichnet: Hersilia Lovatelli, Archäologin (Dr. phil. h. c. von der Universität Halle 1894), Charlotte Blennerhasset, Schriftstellerin und Historikerin (Dr. phil. h. c. von der Universität München 1898), Agnes Lewis, Theologin und Orientalistin (Dr. phil. h. c. von der Universität Halle 1899), Margaretha Dunlop Gibson, wie ihre Zwillingsschwester Agnes Lewis Theologin und Orientalistin (Dr. theol. h. c. von der Universität Heidelberg 1903), Cosima Wagner, „in Würdigung ihres mehr als 25jährigen Bemühens, das künstlerische Erbe Richard Wagners, ihres Gatten, zu bewahren“84 (Dr. phil. h. c. von der Universität Berlin 1910) und Isolde Kurz, Schriftstellerin und Übersetzerin, „in Anerkennung der Biographie ihres Vaters, dessen Leben sie ‚in Pietät und Formvollkommenheit geschildert hat‘ [. . .] und ihrer eigenen Schriften, in denen sie ‚sich durch Fülle der Gelehrsamkeit, Gesundheit des Urteils, Anmut und Schlichtheit der Form auszeichnet‘“ (Dr. phil. h. c. von der Universität Tübingen 1913).85 Dazu kommt mindestens eine weitere, die Boedeker nicht gemeldet wurde: Therese Prinzessin von Bayern, Ethnologin, Zoologin und Botanikerin, die nach ihrem Tod 1925 ihre umfangreiche Sammlung dem Völkerkundemuseum von München hinterlassen sollte, hatte 1897 von der Universität München die Ehrendoktorwürde erhalten.86 Diese Frauen waren alle Autodidaktinnen oder Schriftstellerinnen ohne formale Bildungsabschlüsse. Zwei von ihnen wurden ausschließlich oder auch wegen ihrer Bemühungen um den Erhalt des Werkes ihres Gatten beziehungsweise ihres Vaters geehrt – wie bei Ida Noddack eine Konstellation, die sich für die Ehrenpromotion von Männern in keinem Fall belegen lässt. In der Weimarer Republik erhielten mindestens 15 verdiente Vertreterinnen der Frauenbewegung, die aufgrund ihres Geschlechts in Deutschland bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Studium ausgeschlossen blieben, gleichsam als Entschädigung für diesen Ausschluss, Ehrenpromotionen für ihre wissenschaftlichen Arbeiten und ihr Lebenswerk von diversen Universitäten: 1919 Else Lüders, 1920 Hedwig Heyl, 1921 Gertrud Dyhrenfurth, 1922 Helene Simon und Marianne Weber, 1923 Helene Lange und Berta Gräfin von der Schulenberg, 1924 Margarete Behm, 1926 81 82
83 84 85 86
Vgl. 25 Jahre Frauenstudium (Anm. 7), S. LXXXI–LXXXVI. 1733 erhielt Mariane Christiane von Ziegler von der Universität Wittenberg die Ehrenpromotion, 1750 wurde Anna Christina von Ehrenfried von Balthasar von der Universität Greifswald geehrt; und 1815 wurde Regine Josepha Siebold von der Universität Gießen mit dem Dr. med. h. c. „in Anerkennung ihrer wissenschaftlichen und praktischen Betätigung auf dem Gebiet der Geburtshilfe“ ausgezeichnet. Vgl. 25 Jahre Frauenstudium (Anm. 7), S. LXXXV u. LXXXII. Vgl. Heinz Kröll, Michaëlis de Vasconcelos, Carolina, in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 437 f. Kröll schreibt ihr fälschlicherweise eine Hamburger Ehrenpromotion 1916 zu. 25 Jahre Frauenstudium (Anm. 7), S. LXXXI. Ebd., S. LXXXV. Hadumod Bußmann (Hg.), Stieftöchter der Alma Mater? 90 Jahre Frauenstudium in Bayern – am Beispiel der Universität München, München 1993, S. 106 f. „Zeitgenossen haben ihr Werk mit dem von Alexander von Humboldt verglichen“. Vgl. Ebd., S. 107.
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Magdalene von Tiling und Agnes Gräfin von der Groeben-Ponarien, 1929 Friederike Claussen,1930 Camilla Jellinek, Paula Müller-Otfried und Helene Weber und 1932 Alice Salomon. Lüders wurde „als Vorkämpferin auf dem Gebiet der Frauenbewegung und der sozialen Arbeit“,87 Heyl „in Anerkennung ihrer vielseitigen Verdienste um die öffentliche Gesundheitspflege“88 und Dyhrenfurth wegen ihrer Verdienste um die Heimarbeit und die landwirtschaftliche Frauenarbeit gewürdigt.89 Helene Simon wurde für ihr wissenschaftliches soziologisches Oeuvre und „in Anerkennung [. . .] ihres [. . .] organisatorischen Wirkens für den Arbeiterinnenschutz, die Kinderspeisung und die Kriegshinterbliebenenfürsorge“ geehrt.90 Marianne Weber erhielt 1922 ehrenhalber den Doctor juris von der Universität in Heidelberg nicht nur für ihre eigenen Untersuchungen und ihr gesellschaftliches Engagement, sondern auch für ihre „wissenschaftliche Unterstützung des Werkes ihres Gatten, des Soziologen Max Weber [und] der Herausgabe seines Nachlasses“.91 Helene Lange wurde von der Universität Tübingen „in Ehrung ihrer bleibenden Verdienste als Vorkämpferin für die Eingliederung der deutschen Frau in die Volkswirtschaft“92 der Doctor rerum politicarum ehrenhalber verliehen. Auch die anderen Frauen in dieser Gruppe erhielten die Ehrenpromotionen aufgrund ihrer Leitungspositionen in Frauenorganisationen und ihrer Publikationen, als „Vorkämpferin auf dem Gebiet der Frauenbewegung und der sozialen Arbeit“93 (Helene Weber) und als „Frauenrechtlerin, Politikerin und Pionierin der Sozialen Arbeit“94 (Müller-Otfried). Zwei Schwedinnen, Elsa Brandstroem und Anna Linder, wurden für ihren karitativen Einsatz zugunsten Deutscher während des Ersten Weltkriegs ausgezeichnet. Brandstroem, die 1929 Robert Ulich, damals Ministerialrat im Sächsischen Ministerium für Volksbildung, heiraten sollte, erhielt gleich zwei Ehrenpromotionen von deutschen Universitäten: 1924 einen Doctor theologiae von der Universität in Königsberg in Preußen „in Anerkennung ihrer Verdienste um die Linderung des Loses der deutschen Kriegsgefangenen in Sibirien“95 und 1927 einen Doctor juris von der Universität Tübingen.96 Auch Anna Linder hatte 1927 von der Universität Bonn einen Doctor theologiae „in Anerkennung ihrer Fürsorge für die deutschen Kriegsgefangenen und ihrer Tätigkeit in der Inneren Mission während der Besatzungszeit im Ruhrgebiet“ ehrenhalber verliehen bekommen.97 Weitere 13 Frauen erhielten
87 88 89 90 91 92 93 94 95 96
25 Jahre Frauenstudium (Anm. 7), S. LXXXIV. Ebd., S. LXXXI. Ebd., S. LXXXIV. Ebd., S. LXXXIII. Ebd., S. LXXXIII. Ebd., S. LXXXV. Ebd., S. LXXXIV. Ebd., S. LXXXII. Ebd., S. LXXXIV. „Dem Gebot des Herzens folgend, trat sie mutig ein für die Bedrängten, half den Schwachen, verteidigte das Recht der Menschlichkeit gegenüber der Gewalt, schlug Brücken von Volk zu Volk, von Mensch zu Mensch, stärker als das Recht sie zu schaffen vermag,“ hieß es in der Urkunde. (Ebd., S. LXXXV). 97 Ebd., S. LXXXI.
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nach der Recherche von Boedeker hauptsächlich wegen ihrer wissenschaftlichen oder schriftstellerischen Leistungen von deutschen Universitäten eine Ehrenpromotion: 1921 Rose Burger und Elisabeth Förster-Nietzsche, 1924 Else Wentscher, Agnes Miegel, Alma von Hartmann und Mathilde Mann, 1926 Beatrice Webb und Hedwig Jahnow, 1927 Luise Klebs, 1928 Selma Lagerlöff, 1929 Marianne Plehn, 1931 Marie Louise Gothein98 und Helene Richter. Sowohl Mathilde Mann als auch Selma Lagerlöff wurden ausdrücklich auch für die „enge Verknüpfung des deutschen Geisteslebens mit dem nordischen“99 und für ihre Mitwirkung „zwischen den beiden Brudervölkern die Brücke des Verständnisses und der Liebe zu schlagen“100 geehrt. Auch in dieser Gruppe wurden zwei in erster Linie wegen ihrer NachlassHerausgeberschaften und -Veröffentlichungen geehrt: Elisabeth Förster-Nietzsche erhielt von der Universität Jena 1921 zu ihrem 75. Geburtstag „in Anerkennung ihrer biographischen Arbeiten, ihrer Initiative bei der Errichtung des von ihr geleiteten Nietzsche-Archivs und ihrer Herausgebertätigkeit“101 eine Ehrenpromotion. Die Schriftstellerin Alma von Hartmann wurde drei Jahre später mit einem Ehrendoktor „in Anerkennung ihrer Bemühungen in Wort und Schrift, die Kenntnis der Philosophie Eduard von Hartmanns [ihres 1906 verstorbenen Ehemannes] im Bewußtsein der Zeitgenossen lebendig zu erhalten“102 ausgezeichnet. Hier wurden zwei Frauen mit ihren Arbeiten für ihren Bruder beziehungsweise ihren Ehemann stellvertretend für die beiden unversöhnlichen Positionen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen Friedrich Nietzsche und Eduard von Hartmann geehrt.
5. DEFINITION UND BEDEUTUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN LEISTUNGEN IM SPIEGEL DER EHRENPROMOTIONEN IN GESCHLECHTERGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE Im Gegensatz zu den weiblichen Ehrendoktoren waren etwa zwei Drittel der männlichen Geehrten promoviert, etwa 50 % hatten (ordentliche) Professuren inne. Sie wurden aufgrund ihrer wissenschaftlichen Leistungen, ihrer Tätigkeit in hohen Ämtern oder in Anerkennung für ihre Verdienste um die Stadt, die Universität, für das Fach oder die Fakultät geehrt. Wenn auch häufig wenig mehr als der Urkundentext vorliegt, fallen die Beschreibungen der Leistungen doch sehr unterschiedlich aus. Zum Teil wurde die Ehrenpromotion in standardisierter Form in Anerkennung seiner hervorragenden wissenschaftlichen Verdienste um die Forschung auf dem Gebiet der [. . .] Wissenschaften begründet.103 Häufig wurde dabei nicht nur auf die Verdienste in der Wissenschaft, 98
99 100 101 102 103
Sie wurde ausdrücklich auch „in Anerkennung [. . .] auf dem Gebiet der Lebensbeschreibung ihres Mannes, des Geschichtsforschers und Volkswirtschaftlers Eberhard Gothein“ geehrt (Ebd., S. LXXXIII). Ebd., S. LXXXV. Aus dem Urkundentext für Mann. Ebd., S. LXXXII. Aus dem Urkundentext für Lagerlöff. Ebd., S. LXXXIII. Ebd., S. LXXXIV. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 84.
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sondern explizit auf Verdienste um die deutsche Wissenschaft und um Deutsche verwiesen. Dies ist besonders oft von 1919 bis 1943 der Fall. Wegen seiner hervorragenden Verdienste um das Deutsche Hospital in London und damit die medizinische Wissenschaft und um das Auslandsdeutschtum in England, sowie in Würdigung seiner vielfachen und tatkräftigen Hilfe, durch die er in hervorragender Weise deutsche Not zu lindern half,104 wurde etwa Bruno von Schröder 1937 zu seinem 70. Geburtstag mit der Hamburger Ehrenpromotion ausgezeichnet.105 Reichsminister Rust genehmigte die Würdigung, nachdem die arische Abstammung des zu Ehrenden überprüft worden war. Aber auch nach 1945 wurden solche Begründungen formuliert. 1955 erhielt etwa ein Japanologe die Ehrenpromotion, der durch zahlreiche Publikationen über japanische Sprache und Kultur die Entwicklung der deutschen Japanologie entscheidend gefördert, jahrzehntelang als Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens“ die Veröffentlichung wertvoller japanologischer Studien ermöglicht und damit der deutschen Wissenschaft hervorragende Dienste geleistet hatte.106 Zum Teil wurden auch politische Leistungen hervorgehoben: So bekam 1976 der Präsident der Synode der Evang.-Luth. Kirche im Hamburgischen Staate und Präsident der Verfassungsgebenden Synode der Nordelbischen Kirche, im Blick auf seine Verdienste um den Zusammenschluß der nordelbischen Kirchen, um die Erarbeitung und Verabschiedung der Verfassung der Nordelbischen Kirche und insbesondere im Blick auf die theologischen Impulse, die in das Verfassungswerk eingegangen sind, die Würde eines Doktors der Theologie ehrenhalber verliehen.107 Es wurde aber auch immer wieder auf die Hamburger Herkunft, runde Geburtstage, internationale Anerkennung und weitere Auszeichnungen verwiesen, wie etwa 1988 bei einem Chemiker: Herr Prof. Dr. [. . .] ist geborener Hamburger und am 5. Oktober 1985 60 Jahre alt geworden.108 Als anorganischer Chemiker wäre er international sehr anerkannt und Inhaber zahlreicher Auszeichnungen, hieß es weiter. Hatte jemand wenig publiziert oder war nicht promoviert, gestaltete sich die Angelegenheit in der Regel schwieriger, konnte jedoch ebenfalls erfolgreich sein.109 In solchen Fällen lautete eine der möglichen Begründungen: Seine Beobachtungen und Erfahrungen fanden in der Fachwelt des In- und Auslandes ihre Würdigung.110 Deutlich wird in vielen Fällen, dass „Zuarbeiten“ nicht als eigenständige Leistungen galten und sie daher als Begründung für Ehrenpromotionen problematisch waren. Gerade deshalb konnten Frauen aufgrund der gesellschaftlichen und inneruniversitären Ordnung nicht im Fokus für die Vergabe von Ehrenpromotionen stehen.
104 HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.2. Aus der Abschrift der Urkunde, die auf den 18. Februar 1937 datiert ist. 105 Renate Hauschild-Thiessen, Schröder (seit 1904 preußischer Freiherr), Rudolph Bruno, in: Hamburgische Biografie. Personenlexikon, hg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke, Bd. 2, Hamburg 2003, S. 378 f. 106 HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.3. 107 UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 57. 108 UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 11. 109 Ca. 75 der Ehrendoktoren waren wohl nicht promoviert. 110 HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.4.
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Leichter konnte da 1920 ein Verwaltungsdirektor des Allgemeinen Krankenhauses Eppendorf ausgezeichnet werden, für dessen Ehrenpromotion ausschlaggebend war: Unter seiner Mitwirkung entstanden in den Jahren 1908 bis 1910 umfassende Neuund Erweiterungsbauten im Bereiche des Eppendorfer Krankenhauses. Auch nahm er an der Organisation und Errichtung des neuen Krankenhauses in Barmbek regen Anteil.111 Für Frauen wie für Männer lassen sich zum großen Teil nur stereotype Begründungen für die Ehrenpromotionen finden. Weitere Argumente für die Ehrungen finden sich zum Teil in der Korrespondenz und in den eingeholten Gutachten. So etwa für den Hamburger Notar Hans W. Hertz, der seit 1925 Mitglied des Vereins für Hamburgische Geschichte war und dem 1984 zu seinem 80. Geburtstag die Ehrenpromotion vom Fachbereich Kulturgeschichte und Kulturkunde verliehen wurde.112 Eine zu diesem Zweck eingerichtete Kommission des Fachbereichs begründete auf fünf Seiten detailliert, dass Hertz neben seiner beruflichen Tätigkeit eine Aktivität für die Erhaltung und Wiederherstellung von Kunst- und Kulturdenkmälern entfaltet [hat] die weit das Engagement übersteigt, das von einem kulturbewußten Bürger einer Hansestadt zu erwarten ist. [. . .] Mit Herrn Notar Hans W. Hertz hat sich das Verantwortungsgefühl eines hanseatischen Bürgers für die kulturellen Belange seiner Stadt so ausgeprägt und erfolgreich ausgewirkt, daß die Ergebnisse den Rang wissenschaftlicher Grundlagenarbeit beanspruchen dürfen.113 Im Einzelnen wurden hier nicht nur die Bemühungen von Hertz um die Rettung jüdischer Kulturdenkmäler während der NS-Zeit beschrieben, sondern auch sein Anteil an der Gründung des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, sein Engagement für den Denkmalschutz und seine wissenschaftlichen Publikationen. Die anerkannten Leistungen wurden ex- oder implizit männlich konnotiert. So hieß es etwa 1965, dass Heinrich Landahl in den Jahren der Tyrannis für seine Überzeugung männlich eintrat.114 Durch die enge Verbindung von wissenschaftlichen Leistungen mit Männlichkeit resultierte ein prinzipielles Dilemma für Wissenschaftlerinnen, die mit hervorragenden Leistungen in den Augen der Gesellschaft ihre Weiblichkeit zu verlieren drohten. Wissenschaftlerinnen, sofern sie verheiratet waren und Kinder hatten, zeigten in der Regel deutlich, dass sie ihre Familienpflichten ebenso erfüllten wie ihre wissenschaftlichen Aufgaben. Als 1893 Caroline Wilhelma Michaelis de Vasconcelo als erste Frau in Deutschland von der Universität Freiburg eine Ehrenpromotion erhielt, war dies für Helene Lange ein Anlass, einen biographischen Artikel über Michaelis de Vasconcelo zu verfassen, der mit den Worten endete: Wir deutschen Frauen aber dürfen mit Stolz sagen: Diese Frau, gleich hochstehend als Mensch, Gattin, Mutter und Gelehrte: sie ist unser!115 Deutlich wurde die Bedeutung von Geschlecht auch bei der Ehrenpromotion der Schriftstellerin Charlotte Lady
111 112 113 114 115
Hamburger Fremdenblatt vom 10. Januar 1920, Morgenausgabe. HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.2. UAHH, Best. 105a Präsidentinnen und Präsidenten, Nr. 1. Ebd. HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.5. Helene Lange, Eine deutsche Frau und Gelehrte, in: Die Frau 1 (1893/94), S. 718–722, hier S. 722.
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Blennerhasset 1898 in München, die den Doctor philosophiae wegen der „männliche[n] Sicherheit ihres Urteils“ und des „wohltuende[n] Fehlen[s] einer – bei den Arbeiten einer Frau vielleicht erwarteten – Betonung des zu Privat-Menschlichen“ verliehen bekam.116 Die Sorge um die Vereinbarkeit von Ehe- und Mutterpflichten mit der wissenschaftlichen Tätigkeit nahm bei vielen dieser Frauen breiten Raum ein. Else Wentscher etwa, die 1924 die Ehrendoktorwürde der Universität Köln erhielt und deren erster philosophischer Aufsatz Ende des 19. Jahrhunderts erschienen war, erinnerte sich im Rückblick, dass Benno Erdmann nach der Lektüre dieses Textes zu ihr gesagt habe, sie sei jetzt reif, den Doktor phil. zu machen, aber sie sei hoffentlich so klug, ihn nicht zu machen, denn er habe für [. . . sie] als Frau ja keinen Zweck.117 Für die Vereinbarkeit von Mutterschaft und geistiger Arbeit mussten Frauen laut Wentscher nicht nur über „eiserne Nerven“ verfügen, intellektuelle Fähigkeiten und „ein brennendes Interesse“ an der Wissenschaft vorweisen, sondern auch „von leidenschaftlicher Liebe zu ihren Kindern erfüllt sein.“118
6. FUNKTION, BEDEUTUNG UND INSZENIERUNG DER EHRENPROMOTION Die Vergabe der Ehrenpromotion wurde in der Regel öffentlich mit den hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen oder dem überragenden Einsatz für die (deutsche) Wissenschaft, die Hamburger Universität oder die jeweilige Disziplin der zu würdigenden Person und ihrer Reputation begründet. Die Initiatoren verfolgten mit der Vergabe von Ehrenpromotionen durchaus verschiedene Ziele. Den gemeinsamen Nenner aller Ehrenpromotionen stellt das Bemühen dar, damit die Verbindung zwischen den Geehrten und der Universität oder Fakultät (wieder-)herzustellen und öffentlich zu bekräftigen.119 Netzwerke wurden damit am Leben gehalten, die Vergabe eines Ehrendoktortitels versprach Aussicht auf Fortsetzung oder (Wieder-)Belebung des Tauschhandels in akademischen, politischen und anderweitigen gesellschaftlichen Kreisen. Die öffentliche Inszenierung der Ehrenpromotionen gab dabei Gelegenheit, die Bedeutung der eigenen Universität, des eigenen Fachs oder Arbeitsbereiches sowie der eigenen Leistungen zu unterstreichen und sich inner- und außerhalb der Universität und der Wissenschaft zu positionieren. Die Ehrenpromotionen dienten der Aufwertung der eigenen Reputation und traditionell auch der Inszenierung von Universitätsfeiern wie Jubiläen und Rektorenwechseln. 116 Bußmann, Stieftöchter (Anm. 86), S. 108 f. 117 Else Wentscher, Mutterschaft und geistige Arbeit, Langensalza 1926, S. 14. Zu der Ehrenpromotion von Wentscher s. Irene Franken (Hg.), „Ja, das Studium der Weiber ist schwer!“ Studentinnen und Dozentinnen an der Kölner Universität bis 1933, Katalog zur Ausstellung in der Universitätsund Stadtbibliothek Köln, 28. April–10. Juni 1995, Köln 1995, S. 120–123. 118 Wentscher, Mutterschaft (Anm. 117), S. 28. 119 So auch Pieter Dhondt, Pomp and Circumstance at the University. The Origin of the Honorary Degree, in: European Review of History/Revue européenne d’histoire 20.2 (2013), S. 117–136, hier S. 130.
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So wurde etwa die Jahrhundertfeier der Berliner Universität 1910 mit drei Festtagen feierlich begangen und aus diesem Anlass mehr als 80 Personen die Ehrenpromotion verliehen. Als erster erhielt der Kaiser von der Juristischen Fakultät diese Würde verliehen, danach folgten Ehrenpromotionen für weitere in- und ausländische Regenten, Beamte, Politiker, Wissenschaftler, Theologen und Militärs, wobei die Fakultäten auch Kollegen aus der eigenen Universität mit dieser Ehre bedachten.120 Aus den Reden der Dekane, die dabei gehalten wurden, wird deutlich, dass hier geehrt wurde, wer der Fakultät oder der Universität hilfreich war oder von wem man sich auch zukünftig Unterstützung erhoffte. Auch in Hamburg regte 1921 der Rektor an, die Feier des 1. Rektoratswechsel anknüpfend an alte Traditionen zur Vornahme von Ehrenpromotionen zu benutzen und dabei vor allem Hamburger Kreise zu berücksichtigen.121 40 Jahre später wurde auf der Sitzung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät vom 18. Juli 1960 beschlossen: Aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Deutschen Juristentages sollen angesehene Personen des Juristenstandes Hamburgs, und zwar des Richterstandes, des Standes der Verwaltungsjuristen, des Anwaltstandes und des Standes der Wirtschaftsjuristen, durch eine Ehrenpromotion geehrt werden.122 Neben den Feiern, Jubiläen und Festveranstaltungen der Universität sowie Kongressen und Ereignissen, die für einzelne Fächer von besonderer Bedeutung waren, lassen sich auch Anlässe für die Vergabe der Ehrenpromotionen feststellen, die in erster Linie mit den Biographien der Laureaten zusammenhingen: Runde Geburtstage und Pensionierungen der zu Ehrenden wurden immer wieder angeführt, wenn Ehrenpromotionen beantragt wurden. Mit der Ehrung konnte man sich für die Förderung und Unterstützung bei Unternehmern, Wissenschaftlern, Politikern, Sammlern, „Laienforschern“, inner- und außeruniversitären Mitarbeitern bedanken und gleichzeitig die Verbindungen zu ihnen festigen. Von der Auszeichnung von Ausländern versprach man sich die Wiederaufnahme oder Intensivierung wissenschaftlicher Kontakte. Nach 1919 und nach 1945 bot der Wunsch nach Wiederherstellung internationaler Kontakte oftmals sogar den Hauptanlass für die Vergabe von Ehrenpromotionen. So wurden (zum Teil deutschstämmige) Ausländer und Personen geehrt, die deutschen Universitäten durch ihre Studienaufenthalte und Forschungskontakte verbunden waren und sich zum Teil auch während der Kriegszeiten Deutschen im Allgemeinen oder deutschen Wissenschaftlern im Besonderen gegenüber offen gezeigt hatten. Seit dem Ende der 1960er Jahre wurden auch Wissenschaftlern, die nach 1933 emigrieren mussten, Ehrenpromotionen als eine Art „Wiedergutmachung“ angeboten.123 120 Jahrhundertfeier der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 10.-12. Oktober 1910. Bericht im Auftrag des Akademischen Senats erstattet von dem Prorektor Erich Schmidt, Berlin 1911, S. 121–158. 121 Auszug aus dem Protokoll des Universitätssenats vom 13. Mai 1921, HHStA, 364-5-I Uni, A 160.7, pag. 4. 122 Auszug aus der Niederschrift der Fakultätssitzung am 18. Juli 1960, HHStA, 364-13, Juristische Fakultät, Abl. 08/2000, 82, Sign. 113. 123 So z. B. die Ehrenpromotion von Fritz T. Epstein 1968 (Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte, Uni HH, Phil. Fak., 35140/48).
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Die Übergabe der Urkunde sollte üblicherweise im Rahmen einer Festveranstaltung innerhalb der Hamburger Universität oder auf einem Kongress stattfinden, um die wissenschaftliche Reputation der Universität und des Laureaten zu unterstreichen. Häufig wurden die Auszeichnungen jedoch auch – weniger öffentlichkeitswirksam für Hamburg – an den Universitäten, an denen die zu Ehrenden zuletzt gewirkt hatten oder auch an ihren Wohnorten übergeben, zumeist von Professoren der Universität Hamburg oder Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes. So wurde etwa Ida Noddack 1966 im Rektoratszimmer der Philosophisch-Theologischen Hochschule Bamberg anlässlich ihres 70. Geburtstags die Hamburger Urkunde überreicht.124 Der zu Ehrende konnte zu diesem Zweck auch zuhause besucht werden. In manchen Fällen wurden die Diplome per Post versendet. Um die Verleihungen sichtbar zu machen und sowohl die Ehrendoktoren als auch die Universitäten und Fakultäten in das öffentliche Interesse zu rücken, wurden die Auszeichnungen jedoch bevorzugt im feierlichen Rahmen vergeben. Bei den Veranstaltungen anlässlich der Ehrenpromotionen lässt sich eine breite Skala von üppigem Aufwand etwa bei den Ehrenpromotionen von Jawaharlal Nehru und James B. Conant im Jahr 1956 bis zur bescheidenen Feier für Carl Prausnitz, den „Nestor der Allergieforschung“, im Ausländer-Studentenwohnheim am 20. Mai 1960 erkennen, bei der neben der Bedienung, Sekt, Portwein, Sherry und Säften auch zwei kalte Platten, 10 Zigarren, 8 Schachteln Zigaretten und Streichhölzer in Rechnung gestellt wurden.125 In Kriegszeiten, 1943, bat auch schon einmal der Geehrte den Rektor und die Professoren zu einem einfachen Mahl.126 War schon das Festprogramm für Nehru äußerst umfangreich, so scheint die Ehrenpromotion von James B. Conant die bislang aufwendigste in der Geschichte der Universität Hamburg gewesen zu sein. Conant, seit 1931 Professor für Chemie in den USA, war damals Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Bonn. Die Pressestelle der Universität Hamburg veröffentlichte am 30. Oktober 1956 folgenden Text: Die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät beschloss am 27. Oktober 1956, Herrn Dr. James B. Conant [. . .] für seine vielseitigen Verdienste um die Wissenschaft und um ihre Anerkennung im Leben der Völker die Würde eines Doktors der Naturwissenschaften ehrenhalber zu verleihen.127 Die Verleihung fand am 20. November 1956, einem Dienstag, anlässlich des Rektorwechsels in der festlich geschmückten Musikhalle statt. Die Vorlesungen fielen in diesem Zeitraum aus, zum Festakt wurde eine kostspielige Broschüre mit dem Programm aufgelegt. Der Tag begann für 85 geladene Gäste mit einem Frühstück im Hotel „Vier Jahreszeiten“, für das die Sitzordnung schriftlich festgehalten wurde.128 Bereits im Vorfeld hatte der Syndikus genaue Verhaltensregeln für die Musiker, das Personal und die Presse aufgestellt und festgelegt, dass die Professoren der Universität Hamburg in Amtstracht, das heißt im Talar, zu erscheinen hätten. Der Syndikus legte auch die Reihenfolge für 124 125 126 127
Tilgner, Forschen – Suche und Sucht (Anm. 77), S. 307. HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.2. Die Rechnung betrug 131,45 DM. HHStA, 364-5-I Uni, A 160.8.1. Verlautbarung der Pressestelle der Universität Hamburg am 30. Oktober 1956, HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.4. 128 HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.4.
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die Gäste beim Einzug und Auszug in die und aus der Musikhalle genauestens fest. Der scheidende Rektor, Prof. Dr. Albert Kolb, eröffnete die Veranstaltung, anschließend sprach der neue Rektor, Prof. Dr. Karl Schiller. Nach deren Reden überreichte der Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät Conant die Urkunde. Der Geehrte hielt darauf einen Festvortrag, auf den das Grußwort des Vorsitzenden des AStA folgte. Musikalisch begleitet wurde der Festakt vom Sinfonieorchester des Norddeutschen Rundfunks. An Conant lässt sich die Inflation von Ehrenpromotionen aufzeigen, die bis zum heutigen Tage gerne großzügig an einflussreiche Politiker vergeben werden: Er erhielt damals in Hamburg seinen 44. Doktorhut.129 Gerade an Ehrenpromotionen von Politikern und Diplomaten wird deutlich, dass es sich dabei keineswegs nur um inneruniversitäre Entscheidungsprozesse handelt. Nicht nur im Nationalsozialismus griffen Politiker in diesen Gabentausch aktiv ein.130 Diese feierlichen Inszenierungen kamen nicht immer bei den Studierenden, aber zumeist bei den Professoren und den Geehrten sehr gut an. Von dem Diplomaten und Historiker William L. Langer, der einer deutschen Familie entstammte, die zu der im 18. Jahrhundert nach Amerika ausgewanderten Herrnhuter Brüdergemeine gehört,131 ist überliefert, dass ihm der Festakt an der Universität Hamburg 1955 so zusagte, dass er 1956 bei der Jahrestagung der Harvard Universität gerne im Hamburger Talar erscheinen wollte. Die Fakultät kam dem Wunsch nach: Man ließ in Hamburg für 225 DM von der Firma M. E. Eggert eine Robe anfertigen und Langer per Luftpost ein Paket mit einer Robe aus reinwollenem Kammgarn mit Samt und Goldlitze besetzt,132 zwei Baretts, einer Halskrause und der Rechnung zuschicken.
FAZIT: EHRENPROMOTIONEN ALS SPIEGEL GESELLSCHAFTLICHER ORDNUNGEN Ehrenpromotionen spiegeln die Geschlechterordnung der Gesellschaft und scheinen zu den Inszenierungen zu zählen, die ebenso auf Initiativen einzelner Personen wie auf strategischen Entscheidungen von Fakultäten, Fachbereichen, Universitäten und Regierungen beruhen können. Angesichts der disparaten Quellenlage, die nur wenig über die abgelehnten Anträge auf Ehrenpromotionen erkennen lässt, zeigt sich jedoch, dass zum einen gerne verdiente Personen aus der Universität oder dem Umfeld der Universität, der städtischen Verwaltung, aus den kulturellen Institutionen und den wissenschaftlichen Organisationen vorgeschlagen wurden. Die Ehrenpromotion diente in diesen Fällen als eine Art Abschiedsgeschenk zum Ende der Karriere oder zu einem runden Geburtstag. Die Gegengabe hatte die Universität, ein Fachbereich 129 So Die Zeit vom 22. 11. 1956, in: HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.4. 130 Vgl. zur diplomatischen Funktion der Ehrenpromotion: Charlotte Lerg, Die Ehrendoktorwürde im Dienste der Diplomatie. Politische Dimensionen einer akademischen Praxis im transatlantischen Verhältnis, in: Akademische Wissenskulturen. Praktiken des Lehrens und Forschens vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. von Martin Kintzinger und Sita Steckel, Basel 2015, S. 301–322. 131 Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte, Uni HH, Phil. Fak. 35140/40 und HHStA, 364-5-I Uni, 160.8.3. Schreiben der Pressestelle der Universität Hamburg vom 22. März 1955. 132 HHStA, 364-5-I Uni, A 160.8.3.
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oder einzelne Kollegen durch unterschiedliche Unterstützung bereits vorher erhalten oder man erhoffte sich von der Auszeichnung bekannter Persönlichkeiten, dass von deren Ausstrahlung die Universität oder der Fachbereich auch weiterhin profitieren würde. Zum anderen wurden damit Personen geehrt, die in weniger gut bezahlten Positionen erfolgreich wissenschaftlich (zu)gearbeitet hatten. Hier kann die Ehrenpromotion als symbolischer Ersatz für fehlende Stellen oder angemessene Bezahlung interpretiert werden, ein Schicksal, das nicht nur Frauen traf. Generell wurden im wissenschaftlichen Bereich Personen bevorzugt für die Ehrenpromotion vorgeschlagen, mit denen bereits gute wissenschaftliche Beziehungen bestanden oder mit denen verloren gegangene wissenschaftliche Kontakte nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg wiederhergestellt werden sollten. Erst mit Ende der 1960er Jahren setzten die Versuche der „Wiedergutmachung“ mittels der Ehrenpromotion ein, indem während der NS-Zeit vertriebene Wissenschaftler für die Ehrenpromotion vorgeschlagen wurden. Die Vergabe von Ehrenpromotionen von 1919 bis 1989 zeigt, dass sich in den Entscheidungen über Ehrenpromotionen die politischen Entwicklungen widerspiegeln und sich Fakultäten trotz des Pochens auf das Recht der autonomen Entscheidung auch immer wieder für politische Ziele der Regierungen offen zeigten, indem sie Vorschläge von außen zur Vergabe der Ehrenpromotion annahmen und umsetzten. Die Geschichte der Ehrenpromotion ist aus dieser Sicht eine Geschichte gescheiterter Regulierungen und misslungener Zentralisierung. Der universitäre Raum, in dem dieser Gabentausch stattfand, war männlich geprägt. Frauen kamen darin nur als Zaungäste vor, sie für Ehrenpromotionen vorzuschlagen, kam nur Wenigen in den Sinn. Erleichtert wurde ihre Ehrung, wenn damit gleichzeitig auch ein bedeutender Mann ausgezeichnet werden konnte oder ihre Leistungen als „männlich“ galten. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Vergabe von Ehrenpromotionen an Frauen die Ausnahme. Für die Zeit der Weimarer Republik zeigt sich, dass hier zum einen Frauen weiterhin für ihr Bemühen um das Werk von Brüdern, Ehemännern und Vätern, aber zunehmend auch für eigene Leistungen gewürdigt wurden. Die Argumente für diese Ehrenpromotionen eröffneten ein neues, weiblich konnotiertes Begründungsarsenal: Neben wissenschaftlichen und schriftstellerischen Leistungen wurde der Einsatz für die Frauenbewegung, die Frauenarbeit, verschiedene Frauenorganisationen und karitative Tätigkeiten belohnt. Dies zeigt an, dass Frauen angesichts des langsamen gesellschaftlichen Wandels zwar weiterhin in diesem Gabentausch am Rande standen, ihre Tätigkeiten in Gesellschaft und Universität jedoch mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung erfuhren.
ABSTRACT The article offers an overview of honorary doctorates at the University of Hamburg (1) and examines the general conditions of these awardings in German university policy (2). It presents the initiators, the awarded and the rejected honorary doctorates at the University of Hamburg (3) as well as the honorary doctorates dedicated to women in Hamburg and Germany (4). Next, the article examines the definition and the role
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of academic achievements and gender concerning honorary doctorates, and evaluates both the value of the distinction as a “gift” and the service received (or expected to be received) in return (5). The final section analyses the function, meaning, and orchestration of honorary doctorates (6). The academic area in which these gift exchanges took place, was formed and dominated by males. Women had a role only as bystanders. Honorary doctorates for women remained a rare exception before World War I. During the Weimar Republic women continued to be honoured for supporting the work of their husbands, fathers, and brothers, but increasingly also for their own academic and social achievements. This opened up a new arsenal of reasons for awarding honorary doctorates: besides academic and literary achievements, also activities in different branches of the women’s movement, for the development of women’s work in general, and for charitable services were acknowledged. Tabelle 1: Die an der Hamburger Universität vergebenen Ehrenpromotionen 1919–1989
Nr.
Titel
Datum†
Melle, Werner von
Dr. phil.
1919/12
1920–1929 Naumann, Johannes Dahl, Frantz Rubió y Lluch, Antonio Westermann, Diedrich Pidal, Ramón Menéndez Heger, Franz Tönnies, Ferdinand Schnee, Heinrich Warburg, Max M. Stuhlmann, Franz Sirelius, Uuno Tavi Hensen, Victor Christian Andreas Driesch, Hans
Dr. med. Dr. iur. Dr. phil. Dr. phil. Dr. phil. Dr. phil. Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. rer. pol. Dr. rer. pol. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. med.
1920/01 1921/02 1921/09 1921/09 1921/09 1921/09 1921/11 1921/11 1921/11 1921/11 1921/11 1922/07 1922/10
Name* 1919
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 * †
Die neun an Frauen vergebenen Ehrenpromotionen sind kursiv hervorgehoben. Ermitteltes Datum für Beschluss, Urkunde oder Feier (Jahr/Monat).
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Nr. 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
Name Schlubach, Roderich Strandes, Justus Sprigade, Paul Birt, Eduard Wrede, Rabbe Axel Freiherr v. Bartholomae, Christian Ungnad, Arthur Koren-Wiberg, Christian Lehmann-Nitsche, Robert Boyens [Boÿens], Emil Krämer, Augustin Wirtinger, Wilhelm Petersen, Carl Sanne, John Louis Adolphe Giemsa, Gustaf Köppen, Wladimir Ibscher, Hugo Grisebach, Erich Fehling, Emil Ferdinand Baumgarten, Otto Kiesselbach, Wilhelm Dassel, Hermann v. Melle, Werner von Goto, Shinpei Graf Heye, George Gustav 1930–39 Lübbert, Hans Kümmell, Hermann Jahn, Alfredo
Titel Dr. med. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. med. Dr. iur. Dr. iur. Dr. iur. Dr. phil. Dr. phil. Dr. iur. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. med. Dr. med. Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. phil. Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. rer. pol. Dr. rer. pol. Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. iur. Dr. phil.
Datum 1922/10 1922/11 1924/01 1924/02 1924/05 1924/11 1924/11 1924/11 1924/11 1924/11 1924/12 1925/08 1925/10 1925/10 1925/10 1926/07 1926/09 1926/11 1927/07 1928/01 1928/05 1928/11 1928/11 1928/12 1929/01
Dr. med. Dr. med. dent. Dr. rer. nat.
1930/08 1932 1932/01
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Gabentausch
Nr. 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 *
Name Krüger, Franz Schütte, Heinrich Veblen, Oswald Gómez, Juan Vincente Roehl, Karl Schröder, Bruno Rudolph, Freiherr von Forssell, Gösta* Seip, Didrich Arup Zangger, Heinrich Brunetti, Antonio Ekman, Vagn Walfrid 1940–1949 Providência e Costa, João da Sipma, Pieter Helfferich, Emil Gütschow, Margarethe Heimann, Eduard Rabe, Paul Nohl, Herman Makarov, Alexander Kisch, Wilhelm 1950–1959 Beyer, Max Kröber, Otto Rocha Lima (Rochalima), Henrique Alonso, Dámaso Bauer, Walter Seifert, Richard Spitta, Theodor
Carl Gustaf „Gösta“ Abrahamsson Forssell.
Titel Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. rer. nat. Dr. med. Dr. phil. Dr. med. Dr. med. Dr. phil. Dr. iur. Dr. iur. Dr. rer. nat.
Datum 1932/01 1932/06 1933/01 1933/12 1935/01 1937/02 1938/05 1938/05 1939/05 1939/05 1939/10
Dr. phil. Dr. phil. Dr. rer. pol. Dr. phil. Dr. rer. pol. Dr. med. Dr. iur. Dr. iur. Dr. rer. pol.
1940/06 1941/08 1943/01 1946/09 1948/07 1949 1949/10 1949/12 1949/12
Dr. rer. nat. Dr. rer. nat. Dr. med. Dr. phil. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. iur.
1951/06 1952/05 1952/12 1952/05 1952/08 1953/01 1953/01
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Nr. 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98
Name Schenck, Carl Alwin Meiner, Felix Oehlecker, Franz Langer, William L. Wagner, Wilhelm Meissner [Meißner], Kurt Kleinschmidt, Hans Bürger, Max Baade, Walter Reinhard, Johannes Aubin, Hermann Schäfer, Albert Reincke, Heinrich Zimmermann, Waldemar Holthusen, Hermann Nehru, Jawaharlal Nehru, Jawaharlal Lütgens, Rudolf Conant, James B. Laun, Rudolf Pruneda, Alfonso Neill, Stephen Charles Passarge, Siegfried Wischmann, Adolf Zeissler, Johannes Gensichen, Werner Uhsadel, Walter Pauli, Wolfgang Warnecke, Georg
Titel Dr. rer. nat. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. phil. Dr. med. Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. theol. Dr. iur. Dr. iur. Dr. phil Dr. rer. pol. Dr. rer. nat. Dr. iur. Dr. med. Dr. rer. pol. Dr. rer. nat. Dr. phil. Dr. med. Dr. theol. Dr. rer. nat. Dr. theol. Dr. rer. nat. Dr. theol. Dr. theol. Dr. rer. nat. Dr. rer. nat.
Datum 1953/02 1953/02 1954 1955/01 1955/02 1955/02 1955/06 1955/07 1955/07 1955/09 1955/12 1956/01 1956/06 1956/06 1956/07 1956/07 1956/07 1956/07 1956/11 1956/11 vor 1957 1957/02 1957/02 1958/02 1958/05 1958/07 1958/07 1958/11 1959
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Nr. 99
Name Villinger, Werner
Titel Dr. iur.
Datum 1959/07
100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126
1960–1969 Havelock, Thomas Henry Newbigin, James Edward L. Prausnitz, Carl Mandt, Werner Günther, Gerhard Güssefeld, Wilhelm Harder, Hans Sommerfeld, Heinz Sauer, Emil von Hoepffner, Walter L. Brauer, Max Birckenbach, Lothar Rynning, Lorents Holtermann Stucken, Richard Hilker, Franz Mager, Reimer Mooser, Hermann Black, Eugene Robert Brock, Russell Heitz, Emil Reichenbach, Erwin Remane, Adolf Nordhoff, Heinrich Olivecrona, Karl Pohl, Robert W. Bötticher, Eduard Meier, Helmut
Dr. rer. nat. Dr. theol. Dr. med. Dr. rer. nat Dr. theol. Dr. iur. Dr. iur. Dr. iur. Dr. iur. Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. rer. nat. Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. phil. Dr. theol. Dr. med. Dr. rer. pol. Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. med. dent. Dr. rer. nat. Dr. rer. nat. Dr. iur. Dr. rer. nat. Dr. rer. pol. Dr. phil.
1960/03 1960/05 1960/06 1960/06 1960/07 1960/07 1960/07 1960/07 1960/07 1960/08 1960/11 vor 1961 1961/01 1961/01 1961/04 1961/04 1961/05 1961/07 1962 1962 1962/08 1963 1964/05 1964/05 1964/07 1964/12 1964/12
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Nr. 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154
Name Strauss, Leo Birkeli, Fridtjov Kraemer, Hendrik Landahl, Heinrich Reinwein, Helmut Batiffol, Henri Münchmeyer, Alwin Wagner, Eduard Donati, Antigono Inhoffen, Hans Herloff Noddack, Ida Brun, Viggo Kreuz, Lothar Landauer, Carl Higounet, Charles Livingston, M. Stanley Hallstein, Walter Rassfeld-Sternberg, Luise Necheles, Heinrich Valentin, Fritz Langmaack, Gerhard Bürger-Prinz, Hans Epstein, Fritz T. Brockmann, Hans Pariset, François-Georges Rooth, Erik Klüver, Heinrich 1970–1979 Brinkmann, Roland
Titel Dr. rer. pol. Dr. theol. Dr. theol. Dr. theol. Dr. med. Dr. iur. Dr. iur. Dr. rer. nat. Dr. iur. Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. rer. nat. Dr. med. Dr. rer. pol. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. iur. Dr. med. Dr. med. Dr. iur. Dr. theol. Dr. iur. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. phil. Dr. phil. Dr. phil.
Datum 1965/01 1965/02 1965/02 1965/02 1965/02 1965/05 1965/05 1965/11 1966 1966/02 1966/02 1966/05 1966/06 1966/07 1967/01 1967/01 1967/05 1967/05 1967/07 1967/10 1968/02 1968/04 1968/08 1968/10 1968/12 1969/05 1969/07
Dr. rer. nat.
1971/01
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Gabentausch
Nr. 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182
Name Kornmann, Peter Pelikan, Jaroslav Potter, Philip Alford Chern, Shiing-schen Kinzl, Hans Kauffmann, Fritz Herzberg, Gerhard Buchholz, Hans-Wilhelm Rogers, Carl R. Voigt, Wolfgang Lenz, Siegfried Mestern, Hans Adrian Murphy, Gardner Fischer-Menshausen, Herbert Bramstedt, Fritz Becker, Günther Kindt, Werner Otto, Werner Lohse, Gustav Adolf Schwab, Georg-Maria Meyer, Hans Philipp Zuse, Konrad Cohn, Ruth C. 1980–1989 Dahlquist, Germund G. Barrett, Charles Kingsley Koch, Helmut Treue, Wolfgang Walz, Hans Hermann
Titel Dr. rer. nat. Dr. theol. Dr. theol. Dr. rer. nat. Dr. rer. nat. Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. med. Dr. phil. Dr. phil. Dr. phil. Dr. theol. Dr. phil. Dr. iur. Dr. med. dent. Dr. rer. nat. Dr. phil. Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. rer. nat. Dr. theol. Dr. rer. nat. Dr. phil.
Datum 1971/06 1971/06 1971/06 1971/07 1971/12 1972/03 1974/07 1975 1975/02 1975/02 1976/03 1976/06 1976/07 1976/08 1976/11 1977 1977/07 1977/07 1977/12 1979/02 1979/07 1979/10 1979/11
Dr. rer. nat. Dr. theol. Dr. rer. pol. Dr. phil. Dr. theol.
1980/12 1981/01 1981/01 1981/02 1981/06
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Angelika Schaser
Nr. 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205
Name Becker, Ulrich Berendsohn, Walter A. Salis, Jean Rudolf v. Hertz, Hans Wilhelm Madl, Antal Panofsky, Wolfgang K. H. Druckrey, Hermann Sattler, Dietrich E. Wolf, Christa Rabi, Isidor Isaak Heintel, Erich Stern, Hans Heinrich Bigelow, Wilfred Gordon Meyer-Holzapfel, Monika Ligeti, György Gottlieb, (Otto) Richard Ehre, Ida Bock, Hans Brocher, Tobias Randt, Ursula Löwenthal, Leo Hauschild-Thiessen, Renate Habermas, Jürgen
Stand: Februar 2018
Titel Dr. iur. Dr. phil. Dr. phil. Dr. phil. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. med. Dr. phil. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. theol. Dr. phil. Dr. med. Dr. rer. nat. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. phil. Dr. rer. nat. Dr. theol. Dr. phil. Dr. phil. Dr. rer. pol. Dr. rer. pol.
Datum 1982/04 1982/10 1983/06 1984/01 1984/06 1984/09 1984/10 1985/04 1985/04 1985/06 1986/01 1986/01 1986/10 1988/02 1988/06 1988/07 1988/12 1988/12 1989/04 1989/04 1989/10 1989/11 1989/12
POSITIONEN BEZIEHEN Die Entwicklung der kritischen Weißseinsforschung in den (deutschsprachigen) Gender Studies seit den 1960er Jahren* Christine Ivanov
Die Frage des deutschen Post-Kolonialismus, die Aufarbeitung seiner Geschichte und Gegenwart sind aktuell Teil verschiedener Agenden: Das Deutsche Historische Museum näherte sich 2016 in einer Ausstellung explizit der deutschen kolonialen Vergangenheit, die UN rief für den Zeitraum von 2015 bis 2024 die „Internationale Dekade für Menschen mit afrikanischer Abstammung“ aus, in deren Kontext eine Delegation Deutschland mahnt, ein neues „Nationalnarrativ“ zu finden,1 das die historische Anwesenheit Schwarzer2 Menschen anerkennt, die koloniale Vergangenheit besser aufarbeitet und bestehenden (institutionellen) Diskriminierungen entgegentritt. Auch die Gender Studies beschäftigen sich in Arbeitsgruppen, auf Tagungen und in Publikationen mit dem Thema der Dekolonialisierung der eigenen Wissensbestände und Theorieproduktionen. Eine Aufgabe und „kritischer Anspruch“ von Gender Studies und Geschlechtergeschichte ist es, „die eigenen Theorien und Methoden immer wieder offenzulegen und in Frage zu stellen“ und die eigenen „blinde[n] Flecke[n]“3 zu beleuchten. Als einen solchen „blinden“ oder, im Kontext des vorliegenden Beitrags, „weißen Fleck“ im Sinne einer „Weißwaschung von Theorie“,4 als entpositionalisierte und universalisierte dominante Position beschreibt Wollrad die deutschsprachigen Gender Studies, wenn diese es versäumen,
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3 4
Ich danke Levke Harders und den anderen Autor_innen des Heftes für ihre Kommentare und Unterstützung. Vgl. David Joram, Deutschland muss dagegenhalten, in: TAZ, 27. 02. 2017, S. 4. Mit der Großschreibung von Schwarz auch in der adjektivischen Form soll der Konstruktionscharakter von Schwarzsein schriftsprachlich deutlich gemacht werden. Gleichzeitig wird auf Schwarz als eine politische Selbstbezeichnung im Sinne historisch geteilter Erfahrungen und sozialer Realität in einer weiß dominierten Gesellschaft Bezug genommen. Schwarz verweist auf die politischen emanzipatorischen Widerstandskämpfe Schwarzer Menschen und die Idee der Selbstermächtigung. Schwarz stellt also eine Wieder-Aneignung dar, die nicht auf eine vermeintliche Farbe der Haut verweist, sondern sich von rassistischen Fremdbezeichnungen abgrenzt und Ausdruck einer sozialen Positionierung ist. Vgl. Abideli Nduka-Agwu und Wendy Sutherland, Schwarze, Schwarze Deutsche, in: Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen, hg. von Adibeli Nduka-Agwu und Lann Hornscheidt, Frankfurt a. M. 2010, S. 85–90. Veronika Helfert et al., Frauen- und Geschlechtergeschichte un/diszipliniert. Aktuelle Beiträge aus der jungen Forschung, Innsbruck 2016, S. 11. Fatima El-Tayeb, Undeutsch: die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft, Bielefeld 2016, S. 19.
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Christine Ivanov
die eigenen Hegemonien im Kontext der (rassistischen) Gesellschaftsverhältnisse zu analysieren und sich beharrlich weigern würden, Schwarze und postkoloniale feministische Theoriebildung als Herausforderung für eigene (epistemologische) Annahmen anzuerkennen.5 In diesem Beitrag setze ich mich aus weißer6 Perspektive mit inhaltlichen und personellen Aspekten von Weißsein in den Gender Studies in Deutschland auseinander. Wie, wann und warum ist kritische Weißseinsforschung entstanden? Welche Bedeutung kommt diesen Perspektiven in den Gender Studies zu? Auf der Grundlage von deutschsprachigen Einführungen in die Gender Studies analysiere ich (fehlende) Diskurse um Weißsein, Privilegien und Rassismus im Kontext der neueren Wissenschaftsgeschichte. So wird ein kritischer Blick auf die Formierung und das „Selbstbild“ der Geschlechterforschung geworfen, Interventionen Schwarzer Theoretiker_innen nachgezeichnet und mit Hilfe feministischer Wissenschaftskritik Wissenschaftsgeschichte erweitert. Für die Etablierung eines neuen Faches nennt die Disziplingeschichte neben epistemologischen Faktoren als zentrale Aspekte die institutionelle Etablierung (in Forschung und Ausbildung) sowie Kommunikationssysteme (Fachverbände, Zeitschriften, Konferenzen).7 In diesem Sinne können Gender Studies in Deutschland als Disziplin verstanden werden, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als interdisziplinäres Wissens- und Forschungsfeld, aber auch Ausbildungsfach entstanden ist. Diese Formierung beruht unter anderem auf „glaubwürdige[n] Quellen“, die Kuhn als „wissenschaftliche Lehrbücher und die auf ihnen aufgebauten gemeinverständliche Darstellungen und philosophische Arbeiten“8 definiert. Ich werte im Folgenden Lehrbücher und allgemeinverständliche Darstellungen der Gender Studies aus, worunter ich Handbücher, Lexika und Einführungen fasse.9 Für meine Analyse habe ich ein heterogenes Korpus mit 22 deutschsprachigen Veröffentlichungen zusammengestellt, die überwiegend seit Anfang der 2000er Jahre 5
6
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Eske Wollrad, Weißsein und bundesdeutsche Gender Studies, in: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, hg. von Maureen Maisha Eggers et al., Münster 2 2009, S. 416–426, S. 416. Auch „weiß“ beschreibt eine soziale Konstruktion bezogen auf die dominante Kategorie und Positionierung im Kontext von Rassismus. In der adjektivischen Form schreibe ich „weiß“ klein und kursiv, womit dieser Konstruktionscharakter schriftbildlich sichtbar gemacht wird und gleichzeitig „weiß“ vom Widerstandspotenzial von „Schwarz“ abgegrenzt werden soll. Vgl. Maureen Maisha Eggers et al., Konzeptionelle Überlegungen, in: Mythen (Anm. 5), S. 11–13, hier S. 12–13. Ich verwende an den entsprechenden Stellen jeweils die Schreibweise aus den Quellen. Rudolf Stichweh, Wissenschaftliche Disziplinen. Bedingungen ihrer Stabilität im 19. und 20. Jahrhundert, in: Sozialer Raum und akademische Kulturen. Studien zur europäischen Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Jürgen Schriewer et al., Frankfurt a. M. 1993, S. 235–250; Levke Harders, American Studies. Disziplingeschichte und Geschlecht, Stuttgart 2013. Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M., 1967, S. 181. Der Zusammenstellung liegen im Gemeinsamen Verbundkatalog verzeichnete Monografien und Sammelbände zugrunde, die mit den Schlagwörtern „Gender Studies“, „Geschlechterforschung“, „Lehrbuch“, „Einführung“ verknüpft wurden. Die Auswahl wurde dann auf fachübergreifende Werke sowie solche aus den Sozialwissenschaften reduziert. Es gibt weitere disziplinspezifische Einführungen z. B. in die Sportwissenschaften oder Theologie.
Positionen beziehen
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erschienen sind und teilweise bereits mehrere Überarbeitungen und Erweiterungen in neuen Auflagen erfahren haben.10 Die Auswahl der Publikationen richtete sich danach, ob sie im (Unter-)Titel explizit eine entsprechende Intention oder Adressat_innenorientierung zeigen. Dieses Textgenre verfolgt aus jeweils spezifischer Perspektive das Ziel, in zentrale Entwicklungen, Debatten, Konzepte und Theorien der Gender Studies einzuführen und zu weiterer Auseinandersetzung anzuregen. Dabei werden auch Bezüge zu anderen Perspektiven, wie etwa postkolonialer Kritik, hergestellt.11 Sie richten sich an Studierende, aber auch an Lehrende, Forschende und sonstige Interessierte. Alle beinhalten eine Einleitung und/oder ein Vorwort, in dem die spezifische Herangehensweise sowie die Auswahl der Themen begründet werden. In den Hauptteilen werden in Lehr- beziehungsweise Handbuchtexten oder kommentierten Originalquellen der vergangenen fünf Jahrzehnte jeweils als zentral gesetzte Konzepte, Theorien und Methodologien der Frauen- und Geschlechterforschung eingeführt, mit dem Ziel, Studierenden repräsentative Texte näherzubringen.12 Einige 10
Martina Althoff, Mechthild Bereswill und Birgit Riegraf (Hg.), Feministische Methodologien und Methoden: Traditionen, Konzepte, Erörterungen. Lehrbuch zur sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung, Opladen 2001; Brigitte Aulenbacher, Michael Meuser und Birgit Riegraf, Soziologische Geschlechterforschung. Eine Einführung, Wiesbaden 2010; Ruth Becker und Beate Kortendiek, Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung: Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 3 2010; Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp, Feministische Theorien zur Einführung, Hamburg 5 2011; Franziska Bergmann, Franziska Schößler und Bettina Schreck (Hg.), Gender studies (Basis-Scripte: Reader Kulturwissenschaften), Bielefeld 2012; Vera Bollmann und Corinna Onnen-Isemann, Studienbuch Gender & Diversity. Eine Einführung in Fragestellungen, Theorien und Methoden, Frankfurt 2012; Christina von Braun und Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln 3 2013; Christina von Braun und Inge Stephan (Hg.), Gender-Studien. Eine Einführung, Stuttgart 2 2006; Andrea D. Bührmann, Angelika Diezinger und Sigrid Metz-Göckel (Hg.), Arbeit – Sozialisation – Sexualität. Zentrale Felder der Frauen- und Geschlechterforschung. Lehrbuch zur sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 3 2014; Hadumod Bussmann und Renate Hof (Hg.), Genus: Geschlechterforschung/gender studies in den Kulturund Sozialwissenschaften. Ein Handbuch, Stuttgart 2 2005; Nina Degele, Gender/Queer Studies. Eine Einführung. Stuttgart 2012; Hannelore Faulstich-Wieland (Hg.), Einführung in Genderstudien (Einführungstexte Erziehungswissenschaft), Opladen 2 2006; Cilja M. Harders, Heike Kahlert und Delia Schindler (Hg.), Forschungsfeld Politik. Geschlechtskategoriale Einführung in die Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005; Sabine Hark (Hg.), Dis/Kontinuitäten. Feministische Theorie. Lehrbuch zur sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden 2 2007; Renate Kroll (Hg.), Metzler Lexikon Gender Studies, Geschlechterforschung. Ansätze, Personen, Grundbegriffe, Stuttgart 2002; Karl Lenz und Marina Adler (Hg.), Geschlechterbeziehungen. Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung, Weinheim 2011; Dies., Geschlechterverhältnisse. Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung, Weinheim 2010; Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.), Gender, Sex und Gender Studies. Eine Einführung, Freiburg im Breisgau 2004; Barbara Rendtorff, Geschlechterforschung: Theorien, Thesen, Themen zur Einführung, Stuttgart 2011; Franziska Schößler, Einführung in die Gender Studies (Studienbuch Literaturwissenschaft), Berlin 2008; Ulrike Vogel, Meilensteine der Frauen- und Geschlechterforschung. Originaltexte mit Erläuterungen zur Entwicklung in der Bundesrepublik, Wiesbaden 2007; Sabine Wesely (Hg.), Gender Studies in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Einführung und neuere Erkenntnisse aus Forschung und Praxis, Bielefeld 2000. 11 Vgl. Kroll, Lexikon (Anm. 10); Gabriele Dietze, Postcolonial Theory, in: Gender@Wissen (Anm. 10), S. 471–502; Degele, Gender/Queer Studies (Anm. 10); OnnenIsemann/Bollmann, Studienbuch (Anm. 10). 12 Bergmann et al., Gender Studies (Anm. 10), S. 12.
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Einführungen reflektieren disziplinspezifische geschlechtertheoretische Ansätze und geben einen Überblick über die jeweiligen Entwicklungen und Fragestellungen. Bis auf drei wurden alle Texte ausschließlich von Wissenschaftlerinnen herausgegeben, wobei einige Personen auch an mehreren Publikationen beteiligt sind, die sich inhaltlich jedoch nicht konkret aufeinander beziehen. Die Publikationen variieren vom Umfang und hinsichtlich der Vielzahl an Themen. Das Handbuch beispielsweise versammelt auf knapp 1 000 Seiten über 100 verschiedenen Themenfelder. Bei anderen ist der Fokus enger und das Themenspektrum eingegrenzter. Dieses Textkorpus, besonders die Vorworte und Einleitungen und, wenn vorhanden, das Glossar, wird danach befragt, ob und wie Weißsein (als Thema der Gender Studies) thematisiert wird. Zunächst stelle ich die Entstehung der Gender Studies in Deutschland dar und nutze dazu die Selbsterzählungen der Einführungen. Die angeführten Entwicklungen, Inhalte und Ziele stammen aus der analysierten Einführungsliteratur. Damit zeichne ich diskursanalytisch die Formierung des Fachs aus disziplininterner Perspektive nach und mache auch deutlich, was sagbar ist und was ausgeblendet bleibt. Anschließend gehe ich auf die Kritik an der Geschlechterforschung sowie auf Themen, Interventionen und Wissensbildungen aus dem Kontext der Schwarzen Frauenbewegung in Deutschland ein, die ich aufgrund thematischer, methodologischer und personeller Überschneidungen als zentrale Grundlage kritischer Weißseinsforschung verstehe. Anhand dieses historischen Kontextes sollen „politische Genealogien“13 sichtbar gemacht werden. Aufbauend auf vorliegenden Forschungs- sowie theoretischen Arbeiten schlage ich drittens eine Systematisierung von verschiedenen Ansätzen kritischer Weißseinsforschung vor, die als Reflexionsfolie oder „Sehepunkt“14 dienen können und die Geschichte kritischer Weißseinsforschung im deutschsprachigen Bereich, insbesondere in den Gender Studies, nachvollziehbar machen. Diese Folie wende ich gleichzeitig schlaglichtartig auf die Einführungen an. Ich verstehe den vorliegenden Beitrag als ideengebende Reflexion. Er beansprucht nicht den Stellenwert einer systematischen Studie. So viel sei bereits verraten: Weißsein wird in keiner Einleitung explizit thematisiert. In der Analyse greife ich daher jeweils exemplarisch einzelne Aspekte ausgesuchter Texte heraus, an denen die Perspektiven einer Weißseins-kritischen Lesart sichtbar gemacht werden können.
WOHER UND WOHIN – ZUR FORMIERUNG DER GENDER STUDIES IN DEUTSCHLAND Gender Studies haben sich in den vergangenen 40 Jahren in der BRD15 rasant entwickelt und stellen heute ein theoretisch wie empirisch kaum überschaubares,
13 14 15
Gabriele Dietze, Claudia Brunner und Edith Wenzel (Hg.), Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-) Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2007, S. 21. Kirsten Heinsohn, Feminismus – ein nicht natürlicher Sehepunkt, in: Feministische Studien 31 (2013), S. 78–81. Die Ausblendung der Entwicklungen in der DDR wird teilweise thematisiert und kritisch betrachtet (vgl. Hark, Dis/Kontinuitäten (Anm. 10)).
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heterogenes, ausdifferenziertes interdisziplinäres Feld mit einer komplexen Theoriegeschichte und -entwicklung dar.16 Die (institutionellen) Anfänge der Gender Studies werden in den untersuchten Texten in der (feministischen) Frauenforschung im Kontext der Zweiten Frauenbewegung seit Ende der 1960er Jahre verortet. Auseinandersetzungen und Aushandlungen im Verhältnis zum Feminismus und zur Frauenbewegung, aus der Impulse aufgenommen wurden und zu der es personelle und ideelle Überschneidungen gab, sind auch weiterhin Thema.17 Zu Beginn der Institutionalisierung stand die gesellschaftliche Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen in Vergangenheit und Gegenwart im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Aktivitäten; Geschlecht sollte als Analysekategorie, die gesellschaftliche Verhältnisse strukturiert, theoretisiert und produktiv gemacht werden. Gleichzeitig bezog sich die Geschlechterforschung auf wissenschaftsinhärente Fragen, neben Karriereverläufen und Barrieren für Frauen an Universitäten wurde explizit nach der Funktion und Bedeutung der Wissenschaften bei der Ausgrenzung von Frauen18 gefragt und damit der Androzentrismus von wissenschaftlichem Wissen thematisiert. Seit den 1980ern werden zunehmend Geschlechterverhältnisse und -hierarchien betrachtet.19 Außerdem nahm die Diskussion um (eigene) Methoden und Methodologien zu, wobei insbesondere die Position der Forschenden im Feld thematisiert wurde.20 In drei Einleitungen werden auch die seit Anfang der 1980er Jahre zunehmenden Debatten über das Verhältnis von Frauen untereinander und Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen oder Jüdischen Frauen angesprochen,21 die Diskussionen um Konzepte eröffneten, die die verschiedenen Lebenslagen von Frauen zu erfassen vermögen. Perspektiven, die die Konstruktion von Geschlecht in den Blick nahmen, sowie diskurstheoretische und dekonstruktivistische Ansätze nahmen in den 1990er Jahren an Bedeutung zu. Von Beginn an stehen verschiedene Konzeptionen von Geschlecht als Struktur-, Prozess-, Status-, Ordnungskategorie, soziale Konstruktion, soziokulturelles Konstrukt und Ressource22 nebeneinander und miteinander in Verbindung. Studiengänge für Frauen- und Geschlechterforschung oder Gender Studies gibt es in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre, Lehrangebote gab es bereits wesentlich früher. Mit der Bologna-Reform wurden zunehmend Module zu Gender in Studiengänge integriert und neue spezialisierte BA- und MA-Studiengänge geschaffen. In
16 17 18 19
20
21 22
Kroll, Lexikon (Anm. 10); Rendtorff/ Mahs/Wecker, Geschlechterforschung (Anm. 10). Vgl. Bergmann, Gender Studies (Anm. 10); Wesely, Gender Studies (Anm. 10). Christina von Braun und Inge Stephan, Einführung, in: Gender@Wissen (Anm. 10), S. 11–54, hier S. 39. Giesela Bock konstatiert, dass die Frauengeschichte von Beginn an Geschlechter- und Männergeschichte gewesen sei (dies., Geschlechtergeschichten der Neuzeit: Ideen, Politik, Praxis, Göttingen 2014, S. 10–11). Für die Entwicklung der Geschlechterforschung in den Geschichtswissenschaften siehe Angelika Schaser und Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauenund Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten (1970-1990), in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 16 (2013) [2015], S. 79–110. Vgl. Althoff et al., Feministische Methodologien (Anm. 10); Bußmann/Hof, Genus (Anm. 10); Hark, Dis/Kontinuitäten (Anm. 10). Aulenbacher/Meuser/Riegraf, Soziologische Geschlechterforschung (Anm. 10).
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diesem Zusammenhang kann auch die seit Anfang der 2000er Jahre zunehmende Zahl an Einführungsliteratur und Lehrbüchern gesehen werden. Einführungen tragen zu einer Kanonisierung des Wissens in einem Fach bei und definieren, was als „Meilenstein“ betrachtet wird. Sie klären, „welche epistemologischen Grundlagen, welche Theorien und Methoden“23 vermittelt werden sollen. Dieser Prozess der Kanonisierung ist in den Gender Studies ein kontroverses Thema, da feministische Theorie sich insbesondere über Kanon-Kritik an patriarchal organisierter Wissenschaft konstituiert hat. Sie erhebt den Anspruch, den eigenen Gegenstand, die eigenen Theorien und die eigene Position im Erkenntnisprozess fortlaufend zu reflektieren.24 Gender Studies werden als eigenständiges Gebiet,25 als Disziplin26 oder als Querschnittswissenschaft27 beschrieben und Geschlecht kann als etablierte und gleichzeitig umkämpfte Kategorie in den Geistes- und Sozialwissenschaften betrachtet werden. In eigenen Zeitschriften, Schriftenreihen und seit 2010 in der Fachgesellschaft Geschlechterstudien/Gender e. V. werden Theoriedebatten geführt und Konzepte weiterentwickelt. Gemeinsam betont wird in den untersuchten Texten die Bedeutung der Interoder, seltener, der Transdisziplinarität – Geschlecht wird als querliegend zu allen Disziplinen28 oder als Fundament jeglichen Wissens29 beschrieben, was fachübergreifende Arbeit an Themen und gemeinsame Fragestellungen und Analysen bedinge. Diese Entwicklung profitiert von der allgemeinen Tendenz zu Interdisziplinarität. Seit Ende der 1990er Jahren wird außerdem Intersektionalität als zentrale Theorie, Methode oder Heuristik der Gender Studies gehandelt – einigen gilt es sogar als neues Paradigma.30 Ansätze, die die Kategorie Geschlecht isoliert von anderen Differenzkategorien und (transnationalen) Verhältnissen analysieren, geraten zunehmend in Kritik; es gehöre zum guten Ton31 , Ungleichheitsverhältnisse nicht mehr nur auf eine Kategorie zu beziehen. Die zunehmende Relevanz dieses Ansatzes zeigt sich in den analysierten Quellen: Beschäftigten sich die ersten Einführungen, wenn überhaupt, nur am Rande mit Intersektionalität, gibt es in den aktuelleren mindestens einen Beitrag dazu, oder es wird in eigenen Kapiteln darauf eingegangen: Geschlecht als isoliertes[!] Analyse-Kategorie32 hat ihre Bedeutung verloren.33 Durch die Verbindung mit anderen Kategorien wie Klasse oder Ethnie34 habe sie 23 24 25 26 27 28 29 30
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Wollrad, Weißsein (Anm. 5), S. 419. Aulenbacher/Meuser/Riegraf, Soziologische Geschlechterforschung (Anm. 10), S. 10–11. Rendtorff/Mahs/Wecker, Geschlechterforschung (Anm. 10), S. 7. Bührmann/Diezinger/Metz-Göckel, Arbeit (Anm. 10), S. 7. Von Braun/Stephan, Einführung (Anm. 18), S. 37. Wesely, Gender Studies (Anm. 10), S. 9. Bergmann, Gender Studies (Anm. 10), S. 9. Gudrun Axeli-Knapp, Intersectionality – ein neues Paradigma der Geschlechterforschung? in: Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung, hg. von Rita Casale und Barbara Rendtorff, Bielefeld 2008, S. 33–54. Degele, Gender/Queer (Anm. 10), S. 141–147. Bührmann/Diezinger/Metz-Göckel, Arbeit (Anm. 10), S. 10. Dies. stellen die These auf, dass „sich die Gender Studies ausgehend von einer immer relevanter erscheinenden intersektionalen Forschungsperspektive zu Diversity Studies ausweiten könnten“ (ebd., S. 8). Ebd.
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aber noch an Bedeutung hinzugewonnen. Häufig überwiegt jedoch ein additives Verständnis verschiedener Kategorien, die zu Geschlecht hinzukommen. Damit wird ausgeblendet, dass Geschlecht immer schon durch andere Kategorien wie „Rasse“, Klasse oder Alter konstituiert ist. Geschlecht wird als Metakategorie konzipiert. In dieser Vorstellung von Geschlecht ist die Normativität von Weißsein enthalten. Die Priorisierung von Geschlecht gegenüber anderen Kategorien und die Ausblendung von Weißsein als rassifizierte Kategorie ermöglichen die Ent-Thematisierung der eigenen weißen feministischen Machtposition im Kontext von Rassismus und Klassismus.35 Walgenbach beobachtet, „dass sich der analytische Blick auf Privilegien noch nicht vollständig durchgesetzt hat“;36 und bezüglich der Reflexion des (eigenen) Weißseins schreibt Dietze, dass sich nur eine Minderheit von Wissenschaftler_innen damit auseinandersetze37 – auch in sich als selbstreflexiv und -kritisch verstehenden Fächern wie den Gender Studies.
ZITAT AUS SCHWARZER FEDER – SCHWARZE KRITIK Schwarze feministische Autor_innen wiesen seit den 1970er Jahren auf den Rassismus, den Universalismusanspruch und Paternalismus innerhalb der (weißen) Frauenbewegungen und -forschung sowie feministischen Theoriebildung hin.38 Kritik wurde unter anderem an zentralen Konzepten feministischer Theoriebildung wie Patriarchat, (Re-Produktions-)Arbeit oder Sexualität geäußert sowie am fehlenden Rückbezug der Kritik weißer feministischer Epistemologien auf die eigenen Ansätze im Hinblick auf die Ausblendung und Nutzung eigener weißer privilegierter Positionierungen und entsprechend der Re-Produktion rassistischer Wissensformationen. Erfahrungen Schwarzer Frauen seien nicht wahrgenommen und zugleich als unwichtig und marginal erklärt worden. Angemahnt wurde, dass Ungleichheiten zwischen Frauen übergangen, ignoriert und abgewehrt würden. Die Reaktionen weißer Wissenschaftler_innen auf die geäußerte Kritik, Schwarze Erfahrungen ausgeblendet zu haben, waren und sind unterschiedlich, sie reichen von Unsicherheit
35 36
Wollrad, Weißsein (Anm. 5), S. 417. Katharina Walgenbach, Gender als interdependente Kategorie, in: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, hg. von Dietze et al., Opladen/Farmington Hills 2007, S. 23–42, S. 40. 37 Gabriele Dietze, Weiße Frauen in Bewegung. Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken, Bielefeld 2014, S. 26. 38 Combahee River Collective, A Black Feminist Statement, in: All the women are White, all the Blacks are men, but some of us are brave. Black women’s studies, hg. von Gloria T. Hull, Patricia Bell-Scott und Barbara Smith, Old Westbury 1977, S. 13–22; Hazel Carby, White Woman Listen! Black Feminism and the Boundaries of Sisterhood, in: The empire strikes back. Race and racism in 70s Britain, hg. von Center for Contemporary Cultural Studies, London 1984, S. 212–235; Bell Hooks, Talking back. Thinking feminist, thinking black. Boston 1989; Patricia Hill Collins, Black feminist thought. Knowledge, consciousness, and the politics of empowerment, New York 1991; Toni Morrisson, Playing in the dark. Whiteness and the literary imagination, Cambridge 1992; Katharina Oguntoye, May Ayim und Dagmar Schultz (Hg.), Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1986.
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und Schuld-Gefühlen bis zu Abwehr und Aggression, wenn Weiße die Diskurshoheit zu verlieren drohen.39 Lenz spricht in diesem Zusammenhang von einem „weit verbreiteten Mythos“, dass die Frauenbewegung Unterschiede aufgrund von „Rasse“ oder Migration nicht wahrgenommen habe. Sie beschreibt, dass es ein umfassendes Verständnis für „Herrschaft und Unterdrückung“ gegeben habe und in die Analysen von Geschlechterungleichheiten im Kontext anderer Ungleichheitskategorien Migrantinnen, Schwarze Frauen und Schwarze aus den USA einbezogen habe. Sie weist zurück, dass sich die Frauenbewegung erst durch die Kritik Schwarzer Frauen langsam mit Rassismus innerhalb der eigenen Kontexte auseinandersetzte. Ansätze, die aufzeigen, dass Schwarze Frauen, die sie „die Betroffenen“ nennt, sich organisierten und die „führenden Richtungen des Feminismus“ hinsichtlich rassistischen Strukturen kritisierten, bezeichnet sie als „identitären Differenzfeminismus“.40 Angeregt und aufgefordert von dieser Kritik begannen weiß positionierte feministische Theoretiker_innen aber auch, sich „kritisch mit dem eigenen Weißsein wie auch mit den Verwobenheiten von Sexismus, Rassismus und anderen Gewaltformen zu befassen“41 , und setzten sich mit ihrem hegemonialen Standpunkt auseinander.42 Schließlich fanden diese Überlegungen Eingang in feministische Ansätze, die sich damit auseinandersetzen, dass Positionen, die ausschließlich das Patriarchat fokussieren, Gefahr laufen, eurozentrische, rassistische, imperialistische, heterosexistische und weitere ausbeuterische Überzeugungen zu befördern.43 Ich verstehe die Interventionen und kritischen wissenschaftlichen Arbeiten Schwarzer und of-Color-Aktivist_innen und Theoretiker_innen als zentral für die Entwicklung kritischer Weißseinsforschung in Deutschland seit den 1980er Jahren:44 „Kritische Weißseinsforschung ist in Deutschland [. . .] nicht ohne Schwarze Forschungsperspektiven zu denken“.45 Eggers spricht in diesem Zusammenhang von einem Schwarzen Wissensarchiv, das kritisches Wissen als Mittel des Widerstandes versteht.46
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Vgl. Fatima El-Tayeb, Undeutsch (Anm. 4), S. 14. Ilse Lenz, Die Neue Frauenbewegung in Deutschland: Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, hg. von dies., Wiesbaden 2008, S. 707–708. Eske Wollrad, Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion, Königstein 2005, S. 33–34. Z.B. Ika Hügel et al. (Hg.), Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, Berlin 1993. Sandra Harding, Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu, Frankfurt a. M. 1994, S. 23. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gab es vielfältigen transnationalen Schwarzen Aktivismus: Antikoloniale Vereinigungen unterstützten die Pan-Afrikanische-Bewegung, der Afrikanische Hilfsverein half bei Diskriminierung durch Behörden, weitere Vereine vertraten kommunistische Interessen und die internationale Liga gegen Imperialismus und koloniale Unterdrückung vermittelte Schwarze Redner_innen zum Thema Rassismus (vgl. Tahir Della und Abideli Nduka-Agwu, Afrodeutsch/Afrodeutsch_e, in: Rassismus (Anm. 2), S. 53–55, S. 53). Peggy Piesche, Das Ding mit dem Subjekt, oder: Wem gehört die kritische Weißseinsforschung? in: Mythen (Anm. 5), S. 14–17, S. 17. Maureen Maisha Eggers, Ein Schwarzes Wissensarchiv, in: Mythen (Anm. 5), S. 18–21.
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Als Meilenstein für die Schwarze deutsche Frauenbewegung gilt häufig die Anthologie „Farbe bekennen“.47 Die darin enthaltenen Texte bildeten eine wichtige Grundlage für die weitere Erforschung der Geschichte und Gegenwart Schwarzer Menschen in Deutschland. Schwarze Frauen und Lesben setzten sich aus ihrer Perspektive mit Schwarzer deutscher Geschichte anhand auto-biografischer Zeugnisse Schwarzer Frauen unterschiedlicher Generationen auseinander. Diese zeichneten ihre Geschichte und Erfahrungen in Deutschland nach und setzten der „einseitig weißen Geschichtsschreibung in Deutschland ein eigenständiges, selbstbestimmtes Bild entgegen“48 und wurden so „buchstäblich sichtbar“.49 Sie kamen als Subjekte zu Wort, statt dass objektifizierend über sie gesprochen wurde.50 Mit „Farbe bekennen“ brachten neue Diskursteilnehmerinnen auf verschiedenen diskursiven Ebenen neue Perspektiven, neue Themen und neue Terminologien ein.51 Die Entwicklung von Selbstbezeichnungen war von zentraler Bedeutung für die politische Selbstorganisation Schwarzer Frauen in Deutschland: Sie förderten „[d]ie Suche nach einer gemeinsamen Sprache für die geteilten Erfahrungen“52 und verhalfen so zur Abgrenzung gegenüber negativ konnotierten, hierarchisierenden, kolonial-rassistischen Fremdbezeichnungen. So konnte eine Grundlage für ein neues kollektives Selbstverständnis Schwarzer Subjekte in Deutschland geschaffen und die historische, politische und gesellschaftliche Anerkennung der Existenz Schwarzer Menschen in Deutschland gefordert werden.53 Gerund sieht in der Entwicklung Schwarzer Selbstbezeichnungen daher „a crucial intervention towards a critical whiteness“.54
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Oguntoye/Ayim/Schultz, Farbe bekennen (Anm. 38). Die historisch-soziologische Grundlage für das Buch bildete die Diplomarbeit von May Ayim zur Geschichte und Gegenwart Schwarzer Deutscher aus dem Jahr 1984. Bereits zuvor waren Bücher erschienen, die sich aus Schwarzer Perspektive mit Schwarzen Realitäten in Deutschland beschäftigten: Karin Thimm und DuRell Echols, Schwarze in Deutschland: Protokolle, München 1973; Gisela Fremgen, . . .wenn du dazu noch schwarz bist! Berichte schwarzer Frauen in der Bundesrepublik, Bremen 1984. Della/Nduka-Agwu, Afrodeutsch, in: Rassismus (Anm. 44), S. 54. Peggy Piesche (Hg.), Euer Schweigen schützt Euch nicht. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland, Berlin 2012, S. 11. Katharina Oguntoye, Die Schwarze deutsche Bewegung und die Frauenbewegung in Deutschland (1989), in: Neue Frauenbewegung (Anm. 40), S. 729–734. Katharina Gerund, Transatlantic cultural exchange. African American women’s art and activism in West Germany, Bielefeld 2013, S. 184. Piesche, Schweigen (Anm. 49), S. 23. Maureen Maisha Eggers und Ekpenyong Ani, Afroeutsch/Afrodeutsche_r, in: Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutscher Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, hg. von Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard, Münster 2011, S. 577–579. Gerund, Transatlantic (Anm. 51), S. 182.
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„WEISSE FLECKEN“ IN DER WISSENSCHAFT Die Wahrnehmung und Formierung von Critical Whiteness Studies (CWS) oder kritischer Weißseinsforschung55 als Forschungsperspektive in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften ist in den USA seit den 1980er Jahren und in Deutschland seit Ende der 1990er Jahre zu verzeichnen.56 Viele Auseinandersetzungen mit Weißsein fanden im Kontext feministischer Geschlechterforschung statt. Auf diese Arbeiten, die einen Einblick in die Entwicklung und die andauernden Diskussionen im Kontext kritischer Weißseinsforschung vermitteln, nehme ich überwiegend Bezug. Auseinandersetzungen mit Weißsein gab es bereits lange: Schwarze Theoretiker_innen problematisierten die Konstruktion von Whiteness und den Zusammenhang mit Kolonialismus und der Versklavung Schwarzer Menschen. Schwarze beobachteten Weiße und tauschten ihr gewonnenes Wissen untereinander in Erzählungen oder Liedern und ab dem 18. Jahrhundert in verschriftlichten Slave Narratives aus.57 Dieses Wissen ermöglichte es Schwarzen, in einer weiß dominierten Gesellschaft zu überleben. Kritische Auseinandersetzungen mit Whiteness gründen in den USA universitär auf Black Studies, Cultural Studies sowie Critical Race Theory und sind eng mit der Schwarzen Bürger_innenrechts- und Befreiungsbewegung verknüpft. Du Bois, der Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin studierte, untersuchte die Herstellungsmechanismen von Whiteness in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts und lieferte wichtige Erkenntnisse, auf die Critical Whiteness Studies später aufbauten.58 In Deutschland erschien 1983 die erste wissenschaftliche Arbeit zum Thema Weißsein, die sich unter anderem kritisch mit dem universitären Wissenschaftsdiskurs auseinandersetzte. In ihrer Dissertation zu Initiationsriten weißer deutscher evangelischer Jugendlicher beschrieb Diana Bonnelamé die Nicht-Problematisierung eigenen Weißseins und die Rassifizierung der „Anderen“.59 Kritische Weißseinsforschung nimmt eine Veränderung der Blickrichtung vor, indem sie die weißen Subjekte des Rassismus betrachtet: „My project is an effort to avert the critical gaze from the racial object to the racial subject; from the described and imagined to the describers and imaginers; from the serving to the served.“60 Dieser Perspektivwechsel stellt 55
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Kritisch zur Verwendung des Begriffs „Weißsein“ s. Martina Tißberger, Critical Whiteness. Zur Psychologie hegemonialer Selbstreflexion an der Intersektion von Rassismus und Gender, Wiesbaden 2017. Martina Tißberger et al. (Hg.), Weiß, Weißsein, whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus = critical studies on gender and racism, Frankfurt a. M./New York 2 2009. CWS finden sich auch in anderen (geografischen) Kontexten. Die Entwicklung in den USA wird jedoch als zentraler Referenzpunkt der Rezeption in Deutschland angeführt. Eggers, Wissensarchiv, in: Mythen (Anm. 46). William Edward Burghardt Du Bois nahm bereits in seiner Ergänzung zu „The Souls of Black Folk“ (1903), „The Souls of White Folk“ (1920) eine Dekonstruktion von Weißsein vor. Weitere wichtige Quellen für CWS sind z. B. Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Lyon 1952; im Kontext feministischer Theorie Sojourner Truth, Ain’t I a woman?, o. O. 1851; s. a. Anm. 38. Piesche, Subjekt, in: Mythen (Anm. 45), S. 14–17. Bereits 1982 erschien von Martha Mamozai, Schwarze Frau, weiße Herrin. Frauenleben in den deutschen Kolonien, Hamburg 1982. Toni Morrisson, Playing in the dark: whiteness and the literary imagination, Cambridge 1992, S. 90.
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auch eine politische Intervention dar, indem Rassifizierungsprozesse als Fakt sozialer Wirklichkeit anerkannt und benannt werden, die nicht nur diejenigen betreffen, die zu Objekten von (Rassismus-)Forschung gemacht werden, sondern auch diejenigen, die von ihnen profitieren. Diejenigen, die unbenannt sind, werden benannt und aus der vermeintlichen Unsichtbarkeit herausgeholt und selbst zu Objekten der Forschung.61 Eggers formuliert dementsprechend als Aufgabe kritischer Weißseinsforschung, „Weißsein in seiner historischen Dynamik und Komplexität als Analysekategorie in Deutschland“ zu erfassen62 und ausgehend von der strategischen Bezugnahme auf die konstruierte Dichotomie von Schwarz und weiß komplexe Machtverhältnisse zu beschreiben:63 „[Weißsein] symbolisiert ein Machtsystem, beschreibt Linien von Ausgrenzung und ist auch mit anderen sozialen und politischen Konstruktionen wie Klasse, Geschlecht, Nation, Religion et cetera verknüpft.“64 Damit sind einige wesentliche Komponenten und Vorschläge der Klassifizierung von Weißsein65 angesprochen: die strukturelle Unsichtbarkeit von Weißsein in Deutschland, seine unmarkierte Normativität sowie Privilegien, wie Zugangsrechte, Repräsentation und Deutungsmacht, die mit Weißsein verbunden sind.66 Kritische Weißseinsforschung untersucht die Konstruktion von Weißsein als Norm und Mythos und zielt darauf ab, diese sichtbar zu machen und zu markieren, um sie zu entnaturalisieren und entnormalisieren.67 Ihre Entstehung und Auswirkungen auf diejenigen, die von ihr profitieren, werden aufgezeigt und die Re-Produktion rassistischer Strukturen und Praktiken im Alltagshandeln analysiert. Diese Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Mikrostrukturen des sozialen Handelns sind in begrifflich-konzeptioneller, wie auch forschungspraktischer Hinsicht Thema. 61
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Ingrid Jungwirth, Zur Auseinandersetzung mit Konstruktionen von „Weiß-Sein“ – ein Perspektivenwechsel, in: GeschlechterVerhältnisse. Analysen aus Wissenschaft, Politik und Praxis, hg. von Hella Hertzfeldt, Katrin Schäfgen und Silke Veth, Berlin 2004, S. 77–91, S. 78. Eggers, Wissensarchiv, in: Mythen (Anm. 46), S. 20. Piesche, Subjekt, in: Mythen (Anm. 45). Ursula Wachendorfer, Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität, in: AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland, hg. von Susan Arndt, Heiko Thierl und Ralf Walther, Münster 2001, S. 87–101, S. 87. Vgl. die Definition von Ruth Frankenberg für die USA, die für kontextspezifische Ausführungen im deutschsprachigen Bereich aufgegriffen wird. (Dies., Weiße Frauen, Feminismus und die Herausforderung des Antirassismus, in: Rassismen & Feminismen. Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen, hg. von Gabriele Habinger und Brigitte Fuchs, Wien 1996, S. 51–66, S. 56). Vgl. Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr, Das Privileg der Unsichtbarkeit. Rassismus unter dem Blickwinkel von Weißsein und Dominanzkultur, Wien 2008; Anette Dietrich, Weiße Weiblichkeiten. Konstruktionen von „Rasse“ und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007. Die Konzeption von Weißsein als Ort von Privilegien wird im deutschsprachigen Bereich vor allem mit den Ausführungen von Peggy McIntosh in Verbindung gebracht. (Dies., White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack, o. O. 1989). Dieser Ansatz wurde u. a. von Susanne Baer und Daniela Hr´zan aufgegriffen, die einen „Privilegientest“ zum Einsatz in pädagogischen Settings entwickelten. Für eine Kritik an der „Rezeption“ von Weißsein als Analysekategorie in Deutschland s. Ina Kerner, Critical Whiteness Studies: Potentiale und Grenzen eines wissenspolitischen Projekts, in: Feministische Studien 31 (2013), Nr. 2, S. 278–293. Ina Kerner, Jenseits organischer Schwesternschaft. Zu Feminismus, postkolonialen Theorien und Critical Whiteness Studies, in: Okzidentalismus (Anm. 13), S. 251–270, S. 262.
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Die Entstehung von Weißsein als Strukturkategorie vollzog sich in Europa nach Arndt historisch vor allem in der Abwehr, der Eroberung und der Unterwerfung des „Außen“; moderne Selbstverständnisse von Europa sind als Produkt des 19. und 20. Jahrhunderts zu begreifen.68 Die europäische Aufklärung, der Kolonialismus sowie moderne „Rassetheorien“ bilden dazu die Grundlagen. Das weiße Europa verstand sich als einziges handelndes Subjekt der Geschichte, das die „Anderen“ „zivilisieren“, normalisieren „musste“. Weißsein ist diskursiv und strukturell in Christentum und Aufklärung eingeschrieben und bis heute konstitutiv.69 In Deutschland sind zudem im biologischen Abstammungsbegriff und -konzept des „ius sanguinis“ die Nähe von Weißsein und Deutschsein und der Mythos einer „rein“ weißen Kultur- und Leistungsgeschichte festgeschrieben. Durch eine fast ausschließlich weiße Repräsentation in Politik, Medien und Wissenschaft, durch eine deutsche Geschichtsschreibung als weiße Geschichte sowie die immer noch ungenügend aufgearbeitete Kolonialgeschichte Deutschlands, wird die Illusion einer rein weißen Herkunft, einer weißen Nation und eines weißen Europas, sprich einer weißen Gesellschaft, re-produziert.70 Zentral ist hierbei der Mythos weißer Überlegenheit.71 Dieser wurde und wird durch bestimmte Theorien und Bilder durchgesetzt, zum Beispiel dem von „Afrika als Kontinent ohne Geschichte“, der „zivilisiert“ werden müsse. Die „Anderen“, die von Weißen „entdeckt“ wurden, wurden nicht als Individuen wahrgenommen, sondern gleichsam mythologisiert und in eine Differenz zu Weißen festgeschrieben.72 Aufgebrochen wurde dieses zuerst von Interventionen nicht-weißer Wissenschaftler_innen, die unter anderem Schwarze Präsenz in Europa historisierten, „Rassekonzepte“ kritisch beleuchteten und den Versuch unternahmen, Weißsein, weiße Orte, geografische wie diskursive, zu entmythologisieren.73 Weißsein wird in diesem Zusammenhang auch als unsichtbare, unbenannte oder unmarkierte Norm beschrieben.74 Wollrad formuliert bezüglich Weißsein, dass dieses vorausgesetzt wird, wenn es unbenannt bleibt, denn „jeder Mensch ist Weiß, es sei denn, er wird explizit und nachdrücklich als nicht-Weiß ausgewiesen“.75 Ein Blick 68 69 70 71 72 73 74
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Susan Arndt, Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands, in: Mythen (Anm. 5), S. 24–29. Arnold Farr, Wie Weißsein sichtbar wird. Aufklärungsrassismus und die Struktur eines rassifizierten Bewusstseins, in: Mythen (Anm. 5), S. 40–55. Katharina Röggla, Critical Whiteness Studies. Intro, Wien 2012, S. 59–60; Piesche, Subjekt (Anm. 45). Eske Wollrad, Der Weißheit letzter Schluss. Zur Dekonstruktion von „Weißsein“, in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 8 (2003), S. 77–82. Amesberger/Halbmayr, Unsichtbarkeit (Anm. 66), S. 127. Ebd.; Hügel et al., Verbindungen (Anm. 42). Amesberger/Halbmayr, Unsichtbarkeit (Anm. 66); Susan Arndt, Mythen des weißen Subjekts: Verleugnung und Hierarchisierung von Rassismus, in: Mythen (Anm. 5), S. 340–362; Dietrich, Weiße Weiblichkeiten (Anm. 66); Peggy Piesche, Der „Fortschritt“ der Aufklärung – Kants „Race“ und die Zentrierung des weißen Subjekts, in: Mythen (Anm. 5), S. 30–39; Tißberger et al., Weiß (Anm. 56). Kritisch dazu Isabell Lorey, Weißsein und die Auffaltung des Immunen. Zur notwendigen Unterscheidung zwischen Norm und Normalisierung, in: Epistemologie und Differenz. Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften, hg. von Bettina Bock von Wülfingen und Ute Frietsch, Bielefeld 2010, S. 99–111. Wollrad, Weißsein (Anm. 41), S. 31.
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in die historischen Mechanismen der Entstehung der Normativität von Weißsein und damit in die „eigenen Traditionen und Tradierungen“76 ermöglicht eine reflektierte Analyse (der Konstruktion) von Weißsein und seine Sichtbarmachung. Piesche setzt sich mit der Rolle Hegels und Kants bei der Zentrierung des weißen Subjekts auseinander und beleuchtet, dass in den Anfängen der Diskurse um „Rasse“ Weißsein im Zentrum stand, es den hegemonialen Diskurs bildete,77 sich selbst markierte und ausdifferenzierte, „um schließlich in einer normativen Setzung seine nunmehr bekannte transparente Gestalt anzunehmen“78 , in deren Kontext ein prototypisches, exklusives Herrschaftssubjekt ausdifferenziert wurde: als weiß, männlich und heterosexuell.79 Macht konnte so konzentriert und stabilisiert werden. Das weiße (männliche) Subjekt ist dasjenige, das spricht und Zuschreibungen vornimmt, Weiblichkeit wird in Analogie zu nicht-weiß gesetzt. Diese Sicht bildet den roten Faden in Diskursen und Ideen der Aufklärung und ist in zentrale wissenschaftliche Theorien, Paradigmen und Methoden wie Objektivität und Rationalität epistemisch eingeschrieben, was eine Verortung und Reflexion von Weißsein im europäischen und speziell deutschsprachigen Kontext, auch in epistemologischer Hinsicht, mehr als angebracht erscheinen lässt. Auch im deutschen Kolonialismus war Weißsein (zunächst) nicht unsichtbar, sondern wurde in selbstaffirmativer Weise diskutiert und diente der Etablierung von Dominanz. Der Kolonialismus diente auch dazu, eine weiße Identität zu konstruieren, die in den Kolonien erhalten bleiben musste und dabei gleichzeitig konstruiert wurde. Weißsein wird so zu einem „Ort, der selbst unsichtbar, unbenannt und unmarkiert ist, und dennoch Normen setzt“.80 Im deutschsprachigen Bereich zeigen Beispiele aus biografischen Interviews, dass Weißsein von weißen Befragten in den seltensten Fällen als Selbstbeschreibung angeführt wird. Genannt werden nationale Zugehörigkeiten, Alter, Geschlecht oder Beruf. Weißsein bleibt unsichtbar und unbenannt, gilt als quasi selbstverständlich und unbedeutsam für das eigene Leben und bleibt entsprechend unproblematisiert. Wachendorfer beschreibt Weißsein in diesem Zusammenhang folgendermaßen: Weiß-Sein entleert sich seines Inhalts, seiner historischen Bedeutungs- und Wirkungsgeschichte, unterliegt einer „soziohistorischen Amnesie“, bei der die Ungerechtigkeit zwischen Weißen und Schwarzen zum Schweigen gebracht wird, und verwandelt sich unter der Hand unbemerkt zu einem unbestimmten, neutralen Referenzort. An und von diesem Ort aus spricht, fühlt und denkt nicht mehr eine weiße Person, sondern der Mensch schlechthin.81
Weiße Erfahrungen werden nicht als spezifisch oder rassifiziert wahrgenommen, beeinflusst durch weitere soziale Kategorien, sondern als „allgemein“. Der eigene
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Piesche, Aufklärung (Anm. 74), S. 30. Amesberger/Halbmayr, Unsichtbarkeit (Anm. 66), S. 160. Piesche, Aufklärung (Anm. 74), S. 30. Analog dazu und bis in die Gegenwart wirksam ist die Konstruktion des WASP = White Anglosaxon Protestant in den USA. 80 Ruth Frankenberg, White women, race matters. The social construction of whiteness, London 1993. Zit. nach Wachendorfer, Weiß-Sein (Anm. 64), S. 87. 81 Wachendorfer, Weiß-Sein (Anm. 64), S. 89.
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Standpunkt wird universalisiert, eine Möglichkeit, die nur von einer hegemonialen Position aus besteht. Dies zeigt sich auch in der Ausblendung nicht-weißer Geschichte und Existenz in allen gesellschaftlichen Bereichen82 oder der Erfahrung, dass in Universitätsseminaren ausschließlich Texte weißer Wissenschaftler_innen behandelt werden – selbst in Seminaren zum Thema Rassismus. Die Normativität von Weißsein wird auf diese Weise re-produziert. Beiträge Schwarzer Theoretiker_innen und Autor_innen werden ignoriert, als „zu subjektiv“ abgewertet oder an- beziehungsweise enteignet. Dies bleibt im Kontext weißer Dominanz nicht nur ohne Konsequenzen, sondern stellt eine normalisierte Praxis dar. Die Leugnung der (eigenen) Machtposition führt zu ihrer Aufrechterhaltung.83 Als Konsequenz der bereits beschriebenen Konzeptionen kann Weißsein als „System der Privilegierung“84 , als „Ort struktureller Vorteile und Privilegien“85 und (herrschende) soziale Position verstanden werden. Weißsein in Deutschland bedeutet, zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören und keine rassistische Diskriminierung zu erleben. Dies stellt in vielen Bereichen einen Vorteil und ein Privileg86 dar, das auf der systematischen Bevorzugung eines Kollektivs basiert.87 Weiße Privilegien zeigen und realisieren sich auf unterschiedlichen, miteinander verbundenen Ebenen: Einige beziehen sich auf strukturelle Elemente und Institutionen, andere auf Repräsentationen und symbolische Dimensionen, wiederum andere zeigen sich in Interaktionen. Sie sind über Zeit und Raum hinweg wirksam (gewesen), haben eine materielle wie auch eine immaterielle Dimension mit entsprechenden Konsequenzen und sind mit Dominanz verbunden: Weiße werden in der Öffentlichkeit und den Medien als Individuen wahrgenommen und als solche repräsentiert. Ihr Verhalten, ihre Leistungen oder Fähigkeiten werden als individuell und nicht als kollektiv, für eine ganze „Gruppe“ geltend, aufgefasst und gewertet. Ihre Geschichte, ihre politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungen sind in Lehrplänen, Büchern und Filmen dargestellt. Weiße besitzen Definitionsmacht, sie entscheiden darüber, welche Begriffe für wen verwendet werden, ohne selbst markiert oder bezeichnet zu sein.88 Um die Selbstverständlichkeit weißer Privilegien zu verstehen, greift Jungwirth auf Bourdieus Konzept des Habitus zurück: Weiße Privilegien gehen in den Habitus 82
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Kritisch dazu: Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche: der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890 – 1933, Frankfurt a. M. 2001; Katharina Oguntoye, Eine afro-deutsche Geschichte. Zur Lebenssituation von Afrikanern und Afro-Deutschen in Deutschland von 1884 bis 1950, Berlin 1997; Claudia Unterweger, Talking Back: Strategien Schwarzer österreichischer Geschichtsschreibung, Wien 2016. Im Black European Studies Program (BEST) an der Universität Mainz ging es unter anderem um die Historisierung von Schwarzer Diaspora in Europa und damit um eine Intervention in hegemoniale Geschichtsschreibung, (12.04.2017). Jungwirth, „Weiß-Sein“ in: GeschlechterVerhältnisse (Anm. 61), S. 86. Amesberger/Halbmayr, Unsichtbarkeit (Anm. 66), S. 81. Ebd., S. 130–132. Zur Kritik an der Verwendung des Begriffs Privileg in diesem Kontext s. u. a. Lorey, Norm und Normalisierung (Anm. 74). Dietrich, Weiße Weiblichkeiten (Anm. 66), S. 40–43. Ebd.
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ein, das heißt in die Wahrnehmung, das Denken und Handeln. Ihre Träger_innen sind in Übereinstimmung mit den herrschenden Normen und erleben ihre Erfahrung nicht als partikular, sondern als neutral, normal und allgemein. Ihre privilegierte Stellung ist Weißen nicht bewusst, da diese „über den Habitus in den Körper und ins Unbewusste eingeschrieben ist“.89 Gleichzeitig verfügen sie in der herrschenden sozialen Position über symbolische Macht und können die eigene Sicht auf die soziale Welt und Klassifizierungen als allgemeine naturalisierte Norm setzen. Aus der Perspektive der rassifizierten Machtdifferenz90 erscheint Weißsein als Position, die sich durch ihre Komplementarität beschreibt. Komplementarität meint hier eine Praxis, bei der rassistisch markierte „Andere“ in Beziehung zu weißen Personen oder weißen Kollektiven gesetzt werden. Dies findet vorwiegend auf symbolischen Ebenen statt und weist somit einen „epistemischen Aspekt“91 auf. So kann gezeigt werden, wie Weißsein „durch die komplementäre hierarchische Positionierung von Konstruktionen rassistisch markierter „Anderer“ als unmarkiertes, normatives Zentrum hervorgebracht wird“92 ; und es wird nachvollziehbar, wie weiße (Wissenschaftler_innen) Wissen93 über rassistisch markierte „Andere“ produzieren, indem sie sie zunächst objektifizieren und sich in ihrem Sprechen über diese als „Wissende“ positionieren.94 Durch Zustimmung und Beteiligung an dieser Wissensproduktion re-produzieren Weiße dieses komplementäre und hierarchische Verhältnis. Die systematische Privilegierung von Weißsein zeigt sich auch im wissenschaftlichen System. Universitäten sind in Deutschland weiße Räume95 mit überwiegend weißen Studierenden, weißen Dozierenden und weißen Professor_innen. Sie ermöglichen weißen Studierenden und Lehrenden Identifikation und Zugehörigkeit. Dies gilt auch für die Geschlechterforschung. Während Schwarze Wissenschaftler_innen häufig als eine Art Token oder Expert_in für bestimmte Themen angerufen werden, um dabei gleichzeitig als betroffen zu gelten, steht die „Mehrheitskultur beziehungsweise Weiß-Sein unerkannt für Objektivität, Neutralität und Kompetenz“.96 Diese Situation spiegelt sich im wissenschaftlichen Kontext wider, wenn Schwarzen und of-Color-Wissenschaftler_innen 89 90
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Jungwirth, „Weiß-Sein“ (Anm. 61), S. 85. Maureen Maisha Eggers, Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland, in: Mythen (Anm. 5), S. 56–72. In Anlehnung an Terkessidis unterscheidet sie vier konstitutive Ebenen rassifizierter Machtdifferenz: 1. rassifizierte Markierungspraxis, 2. rassifizierte Naturalisierungspraxis/Differenzierungspraxis, 3. rassifizierte hierarchische und komplementäre Positionierungspraxis, 4. rassifizierte Ausgrenzungspraxis. Ebd., S. 61. Ebd., S. 56. Rassistisches Wissen definiert Eggers als „gesellschaftlich geteilte Wissensbestände, in denen eine bestimmte institutionelle Ordnung erkennbar wird“ (ebd., S. 64). Ebd., S. 62. Kuria verdeutlicht dies an verschiedenen Beispielen: Büsten, die in der Humboldt-Universität zu Berlin aufgestellt sind, zeigen ausschließlich weiße Männer. Auch die Benennung der Universität nach einem „koloniale[n] Wissenschaftler“ (S. 21) sowie die Architektur in einem symbolischen H weist koloniale Kontinuitäten auf. (Ngubia Emily Kuria, eingeschrieben. Zeichen setzen gegen Rassismus an deutschen Hochschulen, Berlin 2015). Wachendorfer, Weiß-Sein (Anm. 64), S. 94.
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vorgeworfen wird, dass ihre Themenwahl zu „persönlich“ und „subjektiv“ sei. Damit wird das wissenschaftliche Ideal der Objektivität aufgerufen und zugleich die Partikularität und Situiertheit jedes Wissens ignoriert beziehungsweise ins „Außen“ geschoben und die eigene (weiße) Positionierung als „nicht-betroffen“, als neutral hergestellt. Als Konsequenz dessen können die „neutralen“ Forscher_innen die „Betroffenen“ zu Objekten der Forschung machen.97 Schwarze Wissenschaftler_innen setzen sich zudem mit Weißsein als Gewalt und Terror auseinander.98 Diese Betrachtungsweise geht auf Hooks zurück, die die Repräsentation von Weißsein aus Schwarzer Perspektive ausgearbeitet hat. In der kollektiven Erinnerung Schwarzer Communities ist Weißsein mit Terror und Gewalt assoziiert und zeigt sich beispielsweise in Angst und Wut oder der Isolation in weißen akademischen Settings.99 In Deutschland untersucht insbesondere Kilomba die Verknüpfung von Weißsein und Terror und daraus resultierende kollektive Traumata. Sie interessiert sich für die psychologischen Folgen weißer Dominanz. Kilomba analysiert und konzeptualisiert in ihrem Buch „Plantation Memories“ das Erleben von Alltagsrassismus in Deutschland als Trauma.100 Weißsein sieht sie für Schwarze vor allem durch ein kollektives Trauma geprägt, durch die Gewalterfahrungen während der Versklavung und des Kolonialismus. In den alltäglichen Situationen wird diese traumatische Vergangenheit, dieses „koloniale Trauma“, reinszeniert.101 Weiße Subjekte repräsentieren in diesem Szenario diejenigen, die traumatisieren, die auf rassifizierte „Andere“ herabsehen, über sie sprechen, sie angreifen, verletzen und in weiße exotisierte Fantasien einschreiben. Alltagsrassismus stellt dieser Argumentation zufolge einen Akt der Kolonisierung dar, in dem weiße Subjekte die Kolonisatoren sind. In dem 2015 erschienenen Buch „eingeschrieben. Zeichen setzen gegen Rassismus an deutschen Hochschulen“ sind Erfahrungen von Rassismus Schwarzer und of-Color-Studierender in deutschen Hochschulen gesammelt.102 An diesen zeigt sich die Vielschichtigkeit und Gewaltförmigkeit der Dominanz von Weißsein: Studierende berichten beispielsweise, wie sie in Seminaren selbst zum Untersuchungsgegenstand wurden, unreflektiert kolonial-rassistische Begriffe von Dozierenden verwendet wurden oder wie ihre Berechtigung angezweifelt wurde, als Hochschulangehörige die Bibliothek zu nutzen, Leistungen abgewertet oder Studierende mit rassistischen, retraumatisierenden Lehrinhalten konfrontiert wurden.
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Alyosxa Tudor, From [al’manja] with love. Trans_feministische Positionierungen zu Rassismus und Migratismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 184. 98 U. a. Grada Kilomba, Plantation memories. Episodes of everyday racism, Münster 3 2013; Kuria, eingeschrieben (Anm. 95); Beiträge in Eggers et al. (Anm. 5). 99 Bell Hooks, Weißsein in der schwarzen Vorstellungswelt, in: Black Looks. Popkultur – Medien – Rassismus, hg. von ders., Berlin 1994, S. 204–220. 100 Kilomba, Plantation memories (Anm. 98). 101 Ebd., S. 160. 102 Vgl. Anm. 95.
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WEISSSEIN – EINE POSITION IN DEN GENDER STUDIES? Die vorgeschlagenen Klassifikationen von Weißsein im deutschsprachigen Bereich nehme ich für meine schlaglichtartige Quellenanalyse auf, die es anhand ausgewählter Beispiele erlaubt, (die Auslassungen von) Weißsein in den ausgewählten Lehrbüchern und Einführungen der Gender Studies zu verorten. Intersektionalen Ansätzen der Gender Studies ist die Reflexion der Kategorien „Rasse“ oder „ethnischer“103 Zugehörigkeit und der Kategorie Geschlecht prinzipiell inhärent. An dieser Stelle hat die Geschichtswissenschaft durch die Erforschung der deutschen Kolonialgeschichte wichtige empirische Beiträge zum Verhältnis von „Rasse“ und Geschlecht geleistet.104 Insbesondere die Rolle weißer Frauen wurde als stabilisierend für rassifizierte Machtverhältnisse beschrieben.105 Im Konzept der weiblichen Mittäterschaft, das als zentrales der Frauenforschung beschrieben wird, wird diese Sichtweise aufgegriffen.106 In der wissenschaftlichen Praxis liegt der Fokus jedoch vielfach auf der Beobachtung, der Erforschung und Klassifizierung der „Anderen“. Eine Positionierung weißer Forschungsobjekte innerhalb rassistischer Strukturen findet selten statt. „Rasse“ wird ausschließlich im Hinblick auf nicht-Weiße als Kategorie betrachtet. Wenn die Situation Schwarzer und anderer marginalisierter Frauen aufgegriffen wird, geschieht dies ohne eine Beschreibung der Beteiligung weißer Frauen daran.107 Hierarchien zwischen Frauen können als Vielfalt euphemisiert werden, eine Selbstpositionierung bleibt aus und damit bleiben eigene Verstrickungen in Machtverhältnisse unbenannt. Es erscheint selbstverständlich, dass weiße Wissenschaftler_innen über und für Schwarze schreiben können. Dies zeigt sich auch in den untersuchten Einführungen. Die Zusammensetzung der Autor_innenschaft wird hinsichtlich der Herkunftsdisziplinen oder Forschungstraditionen beschrieben, teilweise wird der nationalstaatliche Zusammenhang benannt. 103 Die Kategorie „Ethnie“ ersetzt häufig den Begriff „Rasse“, bezieht sich aber letztendlich auf die gleichen Kriterien und dient in der Verwendung als Zuschreibung auf Dritte als eine Art Sprachversteck (vgl. Rudolf Leiprecht, „Kultur“ als Sprachversteck für „Rasse“, in: Schwarzweissheiten. Vom Umgang mit fremden Menschen, hg. von Mamoun Fansa, Oldenburg 2001, S. 170–177). 104 Vgl. u. a. Sebastian Conrad und Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2013; Dietrich, Weiße Weiblichkeiten (Anm. 66); El-Tayeb, Schwarze Deutsche (Anm. 82); Frances Gouda, Das „unterlegene“ Geschlecht der „überlegenen“ Rasse. Kolonialgeschichte und Geschlechterverhältnisse, in: Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, hg. von Hanna Schissler, Frankfurt a. M. 1993; Birthe Kundrus, Phantasiereiche: zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2003; Mamozai, Schwarze Frau (Anm. 59); Oguntoye, Eine afro-deutsche Geschichte (Anm. 82); Jürgen Osterhammel, Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen, München 2012; Katharina Walgenbach, „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt a. M./New York 2005. 105 Vgl. Anm. 104 106 Christina Thürmer-Rohr, Mittäterschaft von Frauen. Die Komplizenschaft mit der Unterdrückung, in: Handbuch (Anm. 10), S. 88–93. 107 Z.B. Bührmann et al., Arbeit (Anm. 10).
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An keiner Stelle wird diese Selbst-Beschreibung auf rassifizierte Kategorien ausgedehnt. Schwarze Wissenschaftler_innen sind als Herausgeber_innen nicht vertreten und auch als Autor_innen nur sehr vereinzelt, wobei dann überwiegend auf Theoriebildungen und Texte afro-amerikanischer Wissenschaftler_innen Bezug genommen wird.108 Diese werden meist als „spezielle“ Themen ausgewiesen, wie beispielsweise Dietzes Beitrag zu Postkolonialität in [email protected] In allen in dieser Einführung als grundlegend bezeichneten Themenfeldern, wie „Körper“ oder „Macht“ werden sie ausgeblendet. In den „Meilensteinen“,110 in denen kommentierte Originaltexte von als zentral angesehenen Wissenschaftler_innen abgedruckt sind, finden sich keine Schwarzen Theoretiker_innen. So wird die Geschlechterforschung im deutschsprachigen Bereich als weiße Wissenschaft mit weißen Akteur_innen für ein entsprechendes Publikum re-produziert. Diese „monokulturelle“ Zusammensetzung wird an keiner Stelle thematisiert. Die hegemoniale Imagination der Verbindung von Deutsch-Sein und Weißsein bleibt unbenannt, sie muss scheinbar nicht benannt oder problematisiert werden, da sie bekannt und anerkannt ist; und so bleiben „[d]ie eigenen kulturellen, ökonomischen und politischen (Macht-)Positionen [. . .] unreflektiert, unspezifiziert und ahistorisch“.111 Dies zeigt sich auch dann, wenn in der Rezeption von intersektionalen und rassismuskritischen Ansätzen deren Ursprünge verschleiert und die aus marginalisierten Positionen gemachten Erkenntnisse durch eine weiße hegemoniale Position umformuliert werden. Die Interventionen von Schwarzen und anderen marginalisierten Frauen wurden nicht konsequent in feministischer Theorie und Praxis reflektiert und ihre Lebenslagen werden nicht systematisch in den Gender Studies berücksichtigt.112 Die Anthologie Gender@Wissen stellt eine einflussreiche und auflagenstarke Einführung in zentrale Theoriedebatten der Gender Studies im deutschsprachigen Raum dar. In der ausführlichen Einleitung wird das Verhältnis von symbolischer Ordnung und abendländischer Wissensordnung thematisiert und Geschlecht als Wissenskategorie kontextualisiert. Dabei wird die rassifizierte Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit ausgeblendet. Und erst in der dritten überarbeiteten Neuauflage 2013 von Gender@Wissen wurde „Rassismus“ als Erweiterung des Themenspektrums aufgenommen,113 was eine wichtige Vertiefung des bisherigen Themenspektrums darstelle.114 Dies verweist auf das Privileg, als Weiße die Wahl zu haben, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Das „Lexikon“ mit über 500 Beiträgen weist in der Einleitung darauf hin, dass geografische Besonderheiten von afrikanischem, Chicana oder Latina Feminismus115 existieren. Es finden sich schließlich Beiträge, die neben dieser diskursiven 108 109 110 111 112
Z.B. Bergmann et al. (Anm. 10), S. 229–246. Dietze, Postcolonial Theory (Anm. 11). Vogel, Meilensteine (Anm. 10). Dietrich, Weiße Weiblichkeiten (Anm. 66), S. 20. Heike Mauer, Intersektionalität operationalisieren! Theoretische und methodische Überlegungen für die Analyse des Prostitutionsdiskurses in Luxemburg um 1900, in: Frauen- und Geschlechtergeschichte (Anm. 3), S. 119–142, S. 122. 113 Claudia Bruns, Rassismus, in: Gender@Wissen (Anm. 10), S. 213–246. 114 Von Braun/Stephan, Gender@Wissen (Anm. 10), S. 7. 115 Kroll, Lexikon (Anm. 10), S. V.
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Verortung Schwarzer Theoriebildung in ein geografisches Außen, Biografien und Wirken afro-amerikanischer Theoretikerinnen auch im Verhältnis zur weißen (USamerikanischen) Frauenbewegung diskutieren. In „Gender-Studien“ unternehmen die Herausgeberinnen den Versuch, den Begriff Gender auch im Zusammenhang mit der afro-amerikanischen Rassenthematik, die Einsichten in die Kodierung von Körpern ermöglicht, herzuleiten und zu fassen. In Deutschland sei dies rückblickend über den Bezug zum Antisemitismus möglich. Bei der diskursiven Anerkennung des Zusammendenkens von Gender mit anderen Kategorien, hier „race“, bleibt dieses jedoch in der Vergangenheit oder im Außen.116 Eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung hegemonialer rassifizierter Kategorien für die Gender Studies im Deutschland der Gegenwart bleibt aus. Texte zu Butlers analytischen Überlegungen finden sich in allen Einführungen, solche hingegen, die zeitgleich die Kritik am gesellschaftlichen Rassismus und dessen Implikationen für weiße feministische Positionen aufnehmen, werden zeitversetzt und fast ausschließlich in Zusammenhang mit Intersektionalität diskutiert. Die entsprechenden Beiträge sind in den Einführungen fast alle von weißen Autor_innen verfasst und Weißsein oder die eigene rassifizierte Position bleibt dabei meist unberücksichtigt.117 Intersektionalität bedeutet dann noch oft, „die Anderen (Frauen)“ zu untersuchen. Theoriebildungen werden hier zwar aufgenommen, werden jedoch als eine Art „Sonderthema“ oder Bindestrich-Forschung gekennzeichnet beziehungsweise behandelt. Materialistische Epistemologien wie feministische Standpunkttheorien scheinen abgelöst von poststrukturalistischen Ansätzen. Eine Bezugnahme von Marginalisierten auf solche Epistemologien führt zu Verunsicherung und teilweiser Abwehr als „identitätspolitisch“. Kritische Weißseinsforschung böte dagegen Möglichkeiten der Verbindung von erkenntnis- und gesellschaftstheoretischen Positionen, von materiellen und diskursiven Dimensionen von Rassismus und Weißsein. Im „Handbuch“ fällt auf, dass neben den einschlägigen Beiträgen zu „Rassismustheorien“ und „postkolonialer“ Kritik, in den Texten zu Technikforschung und Biologie am deutlichsten auf den Einfluss rassismuskritischer Ansätze und konkret auf die Bedeutung von Weißsein eingegangen wird. Im Glossar wird unter dem Begriff Whiteness ausschließlich auf den Beitrag von Palm zu „Biologie“ verwiesen. Sie beschreibt, dass die Kritik von Women of Color in den 1970er und 80er Jahren an der eurozentrischen und weißen Perspektive der Genderforschung auch in feministischen Debatten um Biologie aufgegriffen wurde und führt dies anhand einiger Beispiele 116 Von Braun/Stephan, Gender-Studien (Anm. 10), S. 10–11. 117 Kritiker_innen wenden ein, dass es im Kontext der kritischen Weißseinsforschung „zum guten Ton“ gehöre, Schwarze Positionen einfließen zu lassen, dies jedoch nichts an der herrschenden weißen Hegemonie ändere, sondern ausschließlich auf eine Art „analytisch korrektes Weißsein“ (Piesche, Subjekt (Anm. 45) abziele und eine konkrete Auseinandersetzung mit praxis- und handlungsbezogener Schwarzer Kritik und dem eigenen Weißsein vermeide. Das heißt es gibt Anlass, weiße Rassismuskritik zu hinterfragen, wenn diese versucht, als Repräsentation Schwarzer Wissensproduktionen zu fungieren, so die Hegemonie weißer Sprecher_innenpositionen re-produziert und auf diese Weise weiße Wissenschaftler_innen ihre Karrieren auf dem Rücken Schwarzer Wissensbildung aufbauen. Ein Beispiel hierfür ist die Diskussion über die Black Studies Group an der Universität Bremen 2015, (10.04.2017).
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aus.118 Dies zeigt die Interventionsmöglichkeiten kritischer Weißseinsforschung für alternative Wissensproduktionen auf.
FAZIT Die vorgelegte Analyse verweist auf die Formierung der Gender Studies als weiße Disziplin. Die Nicht-Einbeziehung von Perspektiven kritischer Weißseinsforschung in den Gender Studies stellt einen Anlass zur (hegemonialen) Selbst-Reflexion dar. Die Konzeptualisierungen, Bedeutungs- und Wirkungsweisen von Weißsein im deutschsprachigen Raum zeigen, dass es alle gesellschaftlichen Bereiche, insbesondere die Universität als zentralen Ort der Herstellung von Wissen, durchzieht und dass weiße Positionen nicht neutral oder objektiv, sondern subjektiv und limitiert sind. Bestehendes Wissen kann auf Ausblendungen und Verzerrungen hin befragt werden. Es wurde deutlich, dass dies in den Gender Studies bisher nur marginal geschieht. Weißsein wird in keiner der betrachteten Einführung explizit thematisiert – weder als Analysekategorie noch als Positionierung der Autor_innen. Es bleibt als unsichtbare Norm und Struktur in die Gender Studies eingeschrieben. Weißsein stellt wie Geschlecht eine zentrale Kategorie sozialer wie auch epistemischer Ungleichheit dar und feministische Theorie und Forschung könnten dazu beitragen, diese zu benennen und zu transformieren. Kritische Weißseinsforschung kann hier eine konstruktive Erweiterung darstellen. Es bedarf dazu einer stärkeren Einbindung postkolonialer, feministischer Theorien als Rahmung für die Auseinandersetzung mit Weißsein, die sonst Gefahr läuft, ebenfalls zur Metakategorie erhoben zu werden. Weißsein kann nur in seiner Verbindung mit anderen Aspekten analysiert werden. Dabei muss der spezifische Kontext, wann, wo und warum Weißsein wie relevant wird und welche Konsequenzen damit für wen verbunden sind, betrachtet werden. Die Erforschung von Weißsein braucht eine Verbindung von erkenntniskritischer und gesellschaftskritischer Ebene. In der Auseinandersetzung mit verschiedenen, von mir als Konzeptualisierungen von Weißsein bezeichneten Ansätzen aus dem Bereich der kritischen Weißseinsforschung wurde deutlich, dass Weißsein auf verschiedenen Ebenen Bedeutung hat, Wirkung entfaltet und dementsprechend komplex im Kontext von Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte reflektiert werden muss. Weißsein kann als eine rassifizierte Kategorie betrachtet werden, eine soziale Konstruktion im Sinne einer Positionierungspraxis, die die privilegierte Position im sozialen rassifizierten Raum darstellt. Als System von Privilegierung zeigt sich Weißsein in politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Strukturen. Insbesondere die Arbeiten Schwarzer Wissenschaftler_innen weisen darauf hin, dass Weißsein in eine Geschichte von Gewalt und Terror eingebunden ist. Dies äußert sich gegenwärtig in Arbeiten und Theorien über „Andere“ sowie in Ausschlüssen, der Abwertung und Verdrängung von Wissen, welches nicht weißen Normen entspricht. Weißsein und damit verbundene Mythen, 118 Kerstin Palm, Biologie: Geschlechterforschung zwischen Reflexion und Intervention, in: Handbuch (Anm. 10), S. 851–858.
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beispielsweise von weißer Rationalität versus „dem emotionalen Anderen“, sind in wissenschaftliche Normen, Paradigmen und Methoden, wie Objektivität oder Neutralität eingeschrieben. Weißsein als Norm, in einer Struktur, die Weißsein privilegiert und in hegemoniale Position setzt, resultiert darin, dass die weiße Erfahrung nicht als verkörperte, partikulare wahrgenommen wird, sondern als universelle. Um das implizite Weißsein der Gender Studies zu dekonstruieren, bedarf es der Anerkennung und Analyse von weiß als privilegierter sozialer Positionierung und Analysekategorie sowie Interventionen marginalisierter Positionen. Diese fortwährende Reflexion muss emotionale Reaktionen mit einbeziehen, um konstruktiv gegen Diskriminierungen und Entnennungen wirken zu können. Sie bezieht sich im Sinne einer verantwortungsvollen Wissensproduktion auf Themenwahl, zugrundeliegende Vorannahmen, Bezugnahme auf Wissen anderer oder implizite und explizite Adressierung. Der Bezug zu den vielfältigen und differenzierten Vorarbeiten Schwarzer Theoretiker_innen fehlt an vielen Stellen. Die deutschsprachige Geschlechterforschung ist oft noch überwiegend weiß. Das spiegelt sich in den Einführungstexten, die hier im Zentrum der Analyse standen. Eine größere Heterogenität in Teams und wissenschaftlichen Communities würde das Spektrum an Themen, Fragen, Perspektiven und Methoden erweitern – was sich in der Literatur, die Studierende an die Gender Studies heranführen soll, spiegeln müsste. Darum sind auch in Personal- und Themenpolitik Hegemonialisierungen zu bedenken und Forderungen marginalisierter Theoretiker_innen nach Repräsentation sowohl thematisch als auch personell zu unterstützen. Die Geschlechterforschung beschäftigt sich seit Langem mit Ausschlussmechanismen und kann dazu beitragen, diese hinsichtlich weißer Dominanz zu verstehen und zu verändern. Dazu braucht es Wissen über Weißsein, welches seine Dominanz herausfordert und weiße Privilegierungen angreifbar macht. Kritische Weißseinsforschung weist an dieser Stelle auf verschiedene „Aufgaben“ für die Geschlechterforschung hin: Es bedarf intersektionaler Untersuchungen zur Relevanz und Brisanz von Weißsein als rassifizierter Kategorie sozialer Ungleichheit im deutschsprachigen Bereich sowie Arbeiten zu Rassismus in feministischen Kontexten. Denn auch wenn Intersektionalität ein Paradigma der Geschlechterforschung darstellt und darin die Analyse von „Rasse“ oder „Ethnie“ inhärent ist, endet dies häufig, wenn es um die Betrachtung und Analyse des „Eigenen“, von Weißsein geht. Der wissenschaftskritische Impetus der Auseinandersetzung mit Weißsein eröffnet alternative Denk-Möglichkeiten und Wissensproduktionen, die es im Bereich der Gender Studies bereits gibt und die um die Analyse von Privilegierungen, insbesondere Weißsein, erweitert werden können.
ABSTRACT In this contribution, I will investigate the absence of any discussion on the topic of whiteness in gender studies in German speaking countries since its establishment as a core element of the university curriculum and as a research discipline in the 1970s. The methods used will be drawn from discourse analysis. A sample of
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introductory textbooks on gender studies will be evaluated to establish how far perspectives of critical whiteness studies can be perceived. My analysis refers to theory building and the criticism of black (feminist) scientists and, while doing so, uses a multidimensional conceptualization of whiteness that allows for its analysis as a structural category, myth, (invisible) norm, privilege, and hegemonic position. Thus, the sources can be analysed with respect to their actors and (their) preferred topics as well as the symbolic order of the discipline (itself) and the relevance of whiteness.
ANHANG AUTORENVERZEICHNIS
Mag. Dr. ELISABETH GRABENWEGER Universität Wien Institut für Germanistik Universitätsring 1 1010 Wien Austria [email protected] CHRISTINE IVANOV, M. A. Leibniz Universität Hannover Deutsches Seminar Königsworther Platz 1 30167 Hannover [email protected] PD Dr. CHARLOTTE A. LERG Ludwig-Maximilians-Universität München Amerika-Institut, Abt. Amerikanische Kulturgeschichte Schellingstr. 3VG 80799 München [email protected]
Prof. Dr. ANGELIKA SCHASER Universität Hamburg Fachbereich Geschichte Überseering 35 #5 27797 Hamburg [email protected] Dr. FALKO SCHNICKE German Historical Institute Research Fellow in Modern History 17 Bloomsbury Square London WC1A 2NJ United Kingdom [email protected] Prof. Dr. ULMAN WEISS Universität Erfurt Historisches Seminar Nordhäuser Straße 63 99089 Erfurt [email protected]
Jan-Hendryk de Boer / Marian Füssel / Maximilian Schuh (Hg.)
Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch
die herausgeber Jan-Hendryk de Boer ist Postdoc am DFG-Graduiertenkolleg „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ an der Universität Duisburg-Essen. Marian Füssel ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Maximilian Schuh ist akademischer Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg.
Das Schreiben über Universitätsgeschichte geht immer einher mit intensiver Quellenarbeit. Was wie eine Binsenweisheit anmutet, erweist sich in der Praxis nicht selten als Herausforderung: Die für die jeweilige Fragestellung relevanten Quellen müssen ausfindig gemacht, die Methoden zur Auswertung ausgewählt werden. Hier schaffen die Autorinnen und Autoren mit ihren Beiträgen Orientierung, indem sie die einschlägigen Quellensorten vorstellen. Dazu zählen Textquellen wie Matrikeln, Statuten, Privilegien, Akten, Consilia, Disputationen, Kommentare, Predigten und Reden, aber auch Bilder und dingliche Quellen wie Alltagsgegenstände, Gebäude und Grabmäler. Beiträge zur universitären Verwaltung, zur Universität als Ort des Lehrens und Lernens sowie zu den verschiedenen Weisen der Repräsentation der Institution und ihrer Mitglieder runden den Band ab und eröffnen eine weitere Perspektive auf die Geschichte der Universitäten im Europa der Vormoderne. mit beiträgen von Jan-Hendryk de Boer, Bruno Boute, Marcel Bubert, Tobias Daniels, Marian Füssel, Martin Kintzinger, Antonia Landois, Frank Rexroth, Stefanie Rüther, Albert Schirrmeister, Maximilian Schuh, Jana Madlen Schütte, Hannah Skoda, Sita Steckel, Martin Wagendorfer, Wolfgang Eric Wagner, Thomas Woelki, Susana Zapke
2018 589 Seiten mit 18 s/w-Fotos € 78,– 978-3-515-11309-0 gebunden 978-3-515-11313-7 e-book
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Der Band bietet mit einem Artikel zur Schließung der seit dem späten Mittelalter eingerichteten Universität Erfurt 1806 eine rezeptionsgeschichtliche Studie zum Nachleben vormoderner Institutionen. In dem darauf folgenden Themenschwerpunkt zur Geschlechtergeschichte in der Moderne (19. und 20. Jahrhundert) wird ein derzeit viel diskutierter Gegenstand in sieben exemplarischen Untersuchungen vorgestellt. Über die Universitätsgeschichte hinaus bieten
die Beiträge aufschlussreiche Details zur Bedeutung und Funktion der Kategorie Geschlecht und zeigen vielversprechende Perspektiven für die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte auf. Die hier vorgestellten Forschungsergebnisse ermöglichen auch neue Einsichten zur Vorgeschichte und historischen Bedingtheit von Universitäten und Wissenschaften und leisten damit einen Beitrag zur heutigen Diskussion über deren Strukturen und Entwicklungspotentiale.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-12237-5
9
7835 1 5 1 223 75