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German Pages 272 [274] Year 2022
Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 40 · 2022 Franz Steiner Verlag
herausgegeben von Oliver Auge Unter Mitwirkung von Nina Gallion Mark Häberlein Martin Knoll Reinhold Reith Martin Rheinheimer Dorothee Rippmann Susanne Schötz Sabine Ullmann
Jahrbuch für Regionalgeschichte Begründet von Karl Czok Herausgegeben von Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität, Historisches Seminar, Abteilung für Regionalgeschichte, Olshausenstr. 40, D – 24118 Kiel, E-Mail: [email protected] Unter Mitwirkung von Nina Gallion, Mark Häberlein, Martin Knoll, Reinhold Reith, Martin Rheinheimer, Dorothee Rippmann, Susanne Schötz, Sabine Ullmann Redaktion Stefan Brenner, Karen Bruhn, Felicia Engelhard, Christian Hoffarth, Jan Ocker, Laura Potzuweit E-Mail: [email protected] https://www.steiner-verlag.de/brand/Jahrbuch-fuer-Regionalgeschichte
Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 40 · 2022
Themenschwerpunkt „Grenzen“
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der BurgenStiftung Schleswig-Holstein.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Druckerei Steinmeier GmbH & Co. KG, Deiningen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13341-8 (Print) ISBN 978-3-515-13342-5 (E-Book)
Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Themenschwerpunkt „Grenzen“ Zurück ins Reich? Konflikt, Legitimation und Identität in Grenzregionen Sektion beim digitalen Historikertag des VHD in München am 06. Oktober 2021 . . . . . 17 Enno Bünz Grenzen in der Geschichte Einführende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Laura Potzuweit Zwischen erobertem und ererbtem Besitzanspruch Die Insel Gotland im 14. und 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Caroline Elisabeth Weber Up ewig ungedeelt oder wiedervereinigt? Schleswig-Holstein und Dänemark zwischen Bürgerkrieg und demokratischer Volksabstimmung 1848 bis 1920/2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Paul Srodecki Zur Genese einer Idee mit weitreichenden Folgen Die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze und der Versuch ihrer Legitimierung im frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
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Inhalt
Aufsätze Stefan Brenner Von Strandrecht und Strandraub Die Elbmündung als Schauplatz dithmarsisch-hamburgischer Konflikthorizonte im 13. und 14. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Colin Arnaud Social Topography Reloaded Mapping Renaissance Görlitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Rezensionen 1. Epochenübergreifend Christof Paulus, Rainhardt Riepertinger, Evamaria Brockhoff, Fabian Fiederer, Veronika Schmeer (Hg.): 100 Schätze aus 1000 Jahren. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2019/20, Haus der Bayerischen Geschichte, Regensburg, 27. September 2019–8. März 2020 (Benjamin Müsegades) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Susanne Scharnowski: Heimat. Geschichte eines Missverständnisses (Ute Löding-Schwerdtfeger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Arnd Reitemeier (Hg.): Landesgeschichte und public history (Cord Arendes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Franz Jäger: Gletscher und Glaube. Katastrophenbewältigung in den Ötztaler Alpen einst und heute (Christian Rohr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Ludwig Steindorff: Geschichte Kroatiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Daniela Simon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Sarah Kleinmann, Arnika Peselmann, Ira Spieker (Hg.): Kontaktzonen und Grenzregionen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Steen Bo Frandsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Jochen Ebert, Werner Troßbach (Hg.): Dörfliche Erwerbs- und Nutzungsorientierungen (Mitte 17. bis Anfang 19. Jahrhundert). Bausteine zu einem überregionalen Vergleich (Michael Ehrhardt) . . . . . . . . . 157
Inhalt
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Manfred Beller: Rheinblicke. Historische und literarische Perspektiven (Ortwin Pelc) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Matthias Manke, René Wiese (Hg.): Erinnerung an Mecklenburg. 50 Archivalien aus acht Jahrhunderten (Sebastian Joost) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Alexander Thon (Hg.): 800 Jahre Stadtrecht für Annweiler. Studien zur Vorgeschichte, Wirkung und Folgen der Verleihung des Stadtrechts durch König Friedrich II. am 14. September 1219 (Laura Potzuweit) . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Mittelalter Martina Stercken, Christian Hesse (Hg.): Kommunale Selbstinszenierung. Städtische Konstellationen zwischen Mittelalter und Neuzeit (Susanne Ehrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Mechthild Isenmann: Strategien, Mittel und Wege der inner- und zwischenfamiliären Konfliktlösung oberdeutscher Handelshäuser im 15. und „langen“ 16. Jahrhundert (Gerhard Fouquet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Dieter Neitzert: Göttinger Boten und Gesandte. Reichweite und Intensität städtischer Kommunikation zwischen 1400 und 1450 (Max Grund) . . . . . . . . . . . 171 Michael Bühler: Existenz, Freiheit und Rang. Handlungsmuster des Ortenauer Niederadels am Ende des Mittelalters (Klaus Rupprecht) . . . . . . . . 173 Klaus Alberts: Dithmarscher Freiheit. Das Land und seine Herrschaft von Karl dem Großen bis zu Kaiser Karl V. (Oliver Auge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Martin Zwirello: Die sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen zwischen den oberschwäbischen Reichsstädten Ulm, Biberach und Ravensburg und ihren geistlichen Institutionen im Spätmittelalter (Andreas Schmauder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Benjamin Müsegades, Ingo Runde (Hg.): Universitäten und ihr Umfeld. Südwesten und Reich in Mittelalter und Früher Neuzeit. Beiträge zur Tagung im Universitätsarchiv Heidelberg am 6. und 7. Oktober 2016 (Swantje Piotrowski) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
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Inhalt
Katharina Hülscher: Das Statutenbuch des Stiftes Xanten (Frederieke Maria Schnack) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Klaus Militzer: Verwaltete Herrschaft. Die kurkölnischen Residenzen im Spätmittelalter (Sven Rabeler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Eduard Mühle: Die Slawen im Mittelalter zwischen Idee und Wirklichkeit (Georg Holzer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Clemens Regenbogen: Das burgundische Erbe der Staufer (1180–1227). Zwischen Akzeptanz und Konflikt (Lisa Klocke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Enno Bünz, Dirk Martin Mütze, Sabine Zinsmeyer (Hg.): Neue Forschungen zu sächsischen Klöstern. Ergebnisse und Perspektiven der Arbeit am Sächsischen Klosterbuch (Robert Harlass) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Stephan Flemmig: Zwischen dem Reich und Ostmitteleuropa. Die Beziehungen von Jagiellonen, Wettinern und Deutschem Orden (1386–1526) (Laura Potzuweit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3. Frühe Neuzeit Petra Hornung Gablinger: Gefühlsmedien. Das Nürnberger Ehepaar Paumgartner und seine Familienbriefe um 1600 Ulrike Leuschner (Hg.): Briefe der Liebe. Henriette von der Malsburg und Georg Ernst von und zu Gilsa 1765–1767 (Sandra Wölfel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Wolfgang Wüst (Hg.): Der Dreißigjährige Krieg in Schwaben und seinen historischen Nachbarregionen: 1618–1648–2018. Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung in Augsburg vom 1. bis 3. März 2018 (Fabian Schulze) . . . . . . . . . . . . . . . 205 Anja Amend-Traut, Josef Bongartz, Alexander Denzler, Ellen Franke, Stefan A. Stodolkowitz (Hg.): Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich (Gabriele Annas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Inhalt
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Márta Fata: Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit Kurt Andermann, Nina Gallion (Hg.): Weg und Steg. Aspekte des Verkehrswesens von der Spätantike bis zum Ende des Alten Reichs Antoni Mączak: Eine Kutsche ist wie eine Straßendirne … Reisekultur im Alten Europa (Alexander Denzler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Thomas Bremer, Christine Haug, Helga Meise (Hg.): Verlegerische Geschäftskorrespondenz im 18. Jahrhundert. Das Kommunikationsfeld zwischen Autor, Herausgeber und Verleger in der deutschsprachigen Aufklärung (Frank Baudach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Oliver Baustian: Handel und Gewerbe des Königreichs Westphalen im Zeichen des système continental. Wirtschaft und Zollreformen, staatliche Gewerbeförderung und Regulierung der Außenhandelsbeziehungen 1807–1813 (Margrit Schulte Beerbühl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Frank Henschel: „Das Fluidum der Stadt …“. Urbane Lebenswelten in Kassa/ Košice/Kaschau zwischen Sprachenvielfalt und Magyarisierung 1867–1918 (Sönke Friedreich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Nils Jörn, Dirk Schleinert (Hg.): Vom Löwen zum Adler. Der Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen 1815 (Martin Krieger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Dörthe Schimke: Fürsorge und Strafe. Das Georgenhaus zu Leipzig 1671–1871 (Dirk Brietzke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Gabriele Schneider, Thomas Simon (Hg.): Gesamtstaat und Provinz. Regionale Identitäten in einer „zusammengesetzten Monarchie“ (17. bis 20. Jahrhundert) (Jana Osterkamp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Antje Schloms: Institutionelle Waisenfürsorge im Alten Reich 1648–1806. Statistische Analysen und Fallbeispiele (Michael Roth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Stefan Fuchs: Herrschaftswissen und Raumerfassung im 16. Jahrhundert. Kartengebrauch im Dienste des Nürnberger Stadtstaates (Johannes Staudenmaier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Philip Steiner: Die Landstände in Steiermark, Kärnten und Krain und die Josephinischen Reformen. Bedrohungskommunikation angesichts konkurrierender Ordnungsvorstellungen (1789–1792) (Julian Lahner) . . . . . . . 232
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Inhalt
Sebastian Schröder: Tecklenburg um 1750. „Geographia Tecklenburgensis“ und „Bereisungs-Protocollum“ des preußischen Kriegs- und Domänenrats Ernst Albrecht Friedrich Culemann. Edition und historische Einordnung (Michael Rohrschneider) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Silvia Kepsch: Dynastie und Konfession. Konfessionsverschiedene Ehen in den Grafenhäusern Nassau, Solms und Isenburg-Büdingen 1580–1648 (Oliver Auge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Alexandra Haas: Hexen und Herrschaftspolitik. Die Reichsgrafen von Oettingen und ihr Umgang mit den Hexenprozessen im Vergleich (Klaus Graf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Wolfgang Wüst (Hg.): Historische Kriminalitätsforschung in landesgeschichtlicher Perspektive. Fallstudien aus Bayern und seinen Nachbarländern 1500–1800. Referate der Tagung vom 14. bis 16. Oktober 2015 in Wildbad Kreuth (Laura Potzuweit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 4. 19. und 20. Jahrhundert Herbert Popp, Klaus Bitzer, Haik Thomas Porada (Hg.): Die Fränkische Schweiz. Traditionsreiche touristische Region in einer Karstlandschaft (Helmut Flachenecker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Mareen Heying: Huren in Bewegung. Kämpfe von Sexarbeiterinnen in Deutschland und Italien, 1980 bis 2001 (Mona Rudolph) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Matthias Klein: NS-„Rassenhygiene“ im Raum Trier. Zwangssterilisationen und Patientenmorde im ehemaligen Regierungsbezirk Trier 1933–1945 (Susanna Misgajski) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Sabine Schneider: Belastete Demokraten. Hessische Landtagsabgeordnete der Nachkriegszeit zwischen Nationalsozialismus und Liberalisierung (Marvin Groth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Alina Bothe: Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum. Eine Quellenkritik (Eva Pfanzelter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
Inhalt
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Detlev Kraack (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins und Norddeutschlands für das 21. Jahrhundert. Ortwin Pelc zum 65. Geburtstag (Sven Rabeler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Oliver Auge, Caroline Elisabeth Weber (Hg.): Pflichthochzeit mit Pickelhaube. Die Inkorporation Schleswig-Holsteins in Preußen 1866/67 (Jasper Heinzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Lioba Keller-Drescher: Vom Wissen zur Wissenschaft. Ressourcen und Strategien regionaler Ethnografie (1820–1950) (Christoph Schmitt) . . . . . . . . 259 Natalie Pohl: Atomprotest am Oberrhein. Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970–1985) (Christian Möller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Christopher Landes: Sozialreform in transnationaler Perspektive. Die Bedeutung grenzüberschreitender Austausch- und Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland (1880–1914) (Armin Owzar) . . . . . . . . . . 267 Frank Engehausen, Sylvia Paletschek, Wolfram Pyta (Hg.): Die badischen und württembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus (Nadine Freund) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Editorial Nachdem bisher letztmalig 2018 eine Ausgabe des Jahrbuchs für Regionalgeschichte ( JbRG) einem Schwerpunktthema („Die Nutzung und Wahrnehmung von Straßen und Wegen“) gewidmet war, legen wir mit dem 40. Jahrgang 2022 erneut ein solches Themenheft vor. Diesmal geht es um Grenzen und Grenzregionen in der Geschichte. Dabei handelt es sich um vier Aufsätze, die aus der epochenübergreifenden OnlineSektion des 53. Deutschen Historikertages vom 5. bis 8. Oktober 2021 in München mit dem Titel „Zurück ins Reich? Konflikt, Legitimation und Identität in Grenzregionen“ unter der Leitung von Laura Potzuweit und Caroline Elisabeth Weber hervorgingen. Mit der Veranstaltung war gleichzeitig die AG Landesgeschichte beim Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands im Sektionsprogramm des Historikertages vertreten. Einleitend erläutert Enno Bünz, dass Grenzen seit dem Frühmittelalter Herrschaftsbereiche, Besitzverhältnisse und kirchliche Zuständigkeiten definierten. Wie er weiter darlegt, interessiert unsere Zunft an historischen Grenzen nicht nur die Frage, wann und wo es überhaupt welche Grenzen gab, sondern auch, wie diese Grenzen intendiert, organisiert und verwaltet wurden. Darauffolgend zeigt Laura Potzuweit am Beispiel des Konflikts um Gotland, der zwischen dem Königreich Dänemark und dem Deutschen Orden zum Ende des 14. Jahrhunderts und Beginn des 15. Jahrhunderts ausgefochten wurde, wie Erbrecht und das Recht des Eroberers hierbei aufeinandertrafen, um den Anspruch auf die bzw. den faktischen Besitz der wichtigen Ostseeinsel zu rechtfertigen. Vom Mittelalter weg lenkt danach Caroline Elisabeth Weber den Blick auf das lange 19. Jahrhundert und die dänisch-deutsche Grenzsituation: Ausgehend vom „Grenzjubiläum“ im Jahr 2020 zeigt die Verfasserin, dass man in Dänemark nach der Volksabstimmung von 1920 von einer Wiedervereinigung sprach und spricht, obwohl das historisch gesehen fragwürdig ist. Im Anschluss wendet sich Paul Srodecki der Oder-Neiße-Grenze zwischen Deutschland und Polen nach 1945 und deren polnische Rechtfertigung unter Verweis auf frühmittelalterliche Verhältnisse bereits im frühen 20. Jahrhundert zu, was so für Unkundige gewiss überraschend ist. Außerhalb des Themenschwerpunkts stellt sodann Stefan Brenner die Elbmündung in die Nordsee im 13. und 14. Jahrhundert als Konfliktschauplatz sui generis zwischen Dithmarschen und Hamburg vor. Und zum Schluss des Aufsatzteils liefert Colin Arnaud noch in englischer Sprache auf der Grundlage eines Steuerregisters eine kon-
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Editorial
zise Studie zur sozialtopografischen und sozialökonomischen Situation im spätmittelalterlichen Görlitz. Zu diesem vielfältigen Aufsatzspektrum mit seinem diskursrelevanten Schwerpunkt zu Grenzen und Grenzregionen kommt wieder ein umfänglicher wie bunter Blumenstrauß an Rezensionen. Um 51 Besprechungen handelt es sich insgesamt. Davon entfallen diesmal 13 auf Publikationen zum Mittelalter, 17 auf die Frühe Neuzeit sowie 11 auf das 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Rezensionen sind epochenübergreifenden Veröffentlichungen gewidmet. Wie schon im letzten Jahrgang gilt mein aufrichtiger Dank zuerst dem an der Kieler Abteilung für Regionalgeschichte ansässigen Redaktionsteam, bestehend aus Stefan Brenner, Karen Bruhn, Felicia Engelhard, Christian Hoffarth, Jan Ocker sowie Laura Potzuweit, diesmal noch unterstützt von Ann-Catrien Federhaff, Ricarda Junge, Manuel Ovenhausen, Nora Sander und Kai Wittmacher. Dankbar bin ich zudem, wie stets, der generösen Burgenstiftung Schleswig-Holstein, speziell Klaus Dygutsch. Er weiß, was wir an ihm haben! Und last but not least ist auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Franz Steiner Verlags in Stuttgart für die erfolgreiche Zusammenarbeit erneut Danke zu sagen. Wir freuen uns schon jetzt auf die künftige Kooperation! Oliver Auge, Kiel im Juli 2022
Themenschwerpunkt „Grenzen“
Zurück ins Reich? Konflikt, Legitimation und Identität in Grenzregionen Sektion beim digitalen Historikertag des VHD in München am 06. Oktober 2021 Während der Hadrianswall, das Danewerk und auch die Berliner Mauer als sichtbare Manifestationen von Grenzen in Landschaften hineinragten, ziehen sich Grenzen auch als ideologische Trennungslinien durch die Köpfe der Menschen. Deutungshoheiten um diese Grenzverläufe dominieren den gesellschaftlichen Diskurs nicht erst seit dem Brexit, der Krimkrise oder den Konflikten um die Spratly-Inseln. Innerhalb eines Konfliktfalls zumeist im Rahmen von Grenz- oder Zugehörigkeitsveränderungen wurden dabei mitunter Argumentationen und Deutungen genutzt, die ihre Legitimation aus der Geschichte schöpften, wie im Falle des Ukraine-Kriegs und Chinas, das seine Besitzansprüche auf die Inseln im Südchinesischen Meer auch heute noch mit „historischen Rechten“ begründet. Grenzveränderungen beeinflussen gleichermaßen auch die Identitäten der Menschen in der jeweiligen Region. In der Gleichzeitigkeit aus Trennung und der Verbindung als Zone intensiven Austauschs der Grenzgebiete stellt sich daher die Frage nach Eigenarten von Identifikation innerhalb dieser Regionen mit wechselnder Zugehörigkeit. Anlässlich des im Jahr 2020 vollzogenen Erinnerns an die Grenzverschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg richtete die dreistündige Sektion daher mittels eines regionalen und epochenübergreifenden Ansatzes den Fokus auf umstrittene Grenzregionen seit dem Mittelalter. Die Legitimationsstrategien ihrer Zugehörigkeiten zu bestimmten Herrschaften und Landesteilen und die daraus resultierenden Folgen für die Identitäten der lokalen Bevölkerungen und Minderheiten wurden anhand von vier Fallbeispielen sichtbar gemacht. Davon liegen nun drei regionale Beispiele mitsamt Sektionseinleitung im Folgenden als gedruckte Fassungen vor.
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Zurück ins Reich?
Programm der Sektion Enno Bünz (Leipzig): Einleitung und Hinführung zum Thema Laura Potzuweit (Kiel): Gotland – Mittelalterliche Besitznarrative zwischen Schweden, Dänemark und dem Deutschen Orden Caroline Elisabeth Weber (Sønderborg): Up ewig ungedeelt oder wiedervereinigt? Schleswig-Holstein und Dänemark zwischen Bürgerkrieg und demokratischer Volksabstimmung 1848 bis 1920 Andrea Di Michele (Bozen): Südtirol/Trentino zwischen italienischem Faschismus, Option und nationalsozialistischer Besatzung Paul Srodecki (Kiel/Ostrava): Pommern und Schlesien als „wiedergewonnene Gebiete“ in der nationalpolnischen Propaganda nach 1945 Steen Bo Frandsen (Sønderborg): Kommentar
Grenzen in der Geschichte Einführende Überlegungen* Enno Bünz Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 19–29
Borders in History Introductory Considerations Kurzfassung: Grenzen dienen seit dem Frühmittelalter zur Definition von Herrschaftsbereichen, Besitzverhältnissen (Grundstücke, Gemarkungen) und kirchlichen Zuständigkeiten (Bistümer, Pfarreien). Der Begriff „Grenze“ wurde im Zuge der deutschen Ostsiedlung seit dem 13. Jahrhundert aus dem Westpolnischen als Lehnwort rezipiert. Ab dem 16. Jahrhundert wurden herrschaftliche Grenzen durch Grenzzeichen zunehmend sichtbar gemacht und durch Karten nachvollziehbar dokumentiert. Aus historischer Sicht ist nicht nur von Interesse, wann es wo welche Grenzen gab, sondern auch, wie diese Grenzen intendiert, organisiert und verwaltet wurden (Grenzregime). Schlagworte: Grenzen, Grenzsteine, Grenzregime, Karten Abstract: Since the early Middle Ages borders have been used to define areas of rule, ownership (land, parcels) and ecclesiastical jurisdiction (bishoprics, parishes). The german term “Grenze” was adopted as a loan word from western Polish in the course of german settlement in the east from the 13th century onwards. From the 16th century on, political boundaries were increasingly made visible by means of boundary signs and documented in a comprehensible way by means of maps. From a historical perspective, it is not only interesting to know which borders existed where and when, but also how these borders were intended, organised and administered (border regime). Keywords: border, border stone, border regime, maps
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Für die Durchsicht des Manuskripts und weiterführende Hinweise danke ich Herrn Dr. Henrik Schwanitz (Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden).
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Enno Bünz
In keinem Zeitraum waren Grenzen so wandelbar wie im 20. Jahrhundert. In seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von gestern“ schreibt Stefan Zweig über die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, man konnte große Teile der Welt unbehelligt von Passkontrollen bereisen.1 Der Erste Weltkrieg schuf dann eine neue Welt durch den Verfall des Habsburgerreiches und die Gründung neuer Staaten in Ostmitteleuropa, aber auch durch Verschiebung der Grenzen des Deutschen Reiches zu Polen, Frankreich, Belgien und Dänemark. Im vergangenen Jahr wurde an die Volksabstimmungen in Nordschleswig, Eupen-Malmedy (Ostbelgien) und Oberschlesien 1920 erinnert. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschob man nicht nur neuerlich Grenzen, sondern nun auch Menschen, und mitten durch Europa verlief eine Grenze neuen Typs, die von Winston Churchill treffend als „Eiserner Vorhang“ bezeichnet wurde (der Begriff war allerdings schon älter).2 Als das kommunistische Osteuropa zusammenbrach, schienen Grenzen als Markierungen von Machtblöcken und politischen Einflussbereichen ihre Bedeutung zu verlieren. Die Europäische Union erfasste Ostmittel- und Südosteuropa und der europäische Einigungsprozess schuf seit 1985 einen Schengen-Raum, der schrittweise im Großteil Europas die Binnengrenzen aufhob. Doch mittlerweile sind die Grenzen zurück, wozu vor allem zwei Ereignisse beigetragen haben: die Flüchtlingskrise 2015 und die COVID-19-Pandemie 2020/21. Nicht nur in Europa, sondern weltweit dürfte neben der grenzenlos grassierenden Seuche vor allem die globale Migration der Hauptgrund dafür sein, dass die Funktion von Grenzen als Markierungen staatlicher Hoheitsgebiete wieder bewusst wird. Tatsächlich waren die Grenzen ja nie verschwunden, sie waren nur für den privat Reisenden nicht mehr wahrnehmbar oder jedenfalls ohne praktische Bedeutung. Die Globalisierung hat zeitweilig den Eindruck erweckt und die Hoffnung befördert, die Grenzen würden über kurz oder lang verschwinden. Der Berliner Soziologe Steffen Mau hat jüngst unter dem Titel „Sortiermaschinen“ ein kluges Buch veröffentlicht, das – so der Untertitel – „Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ behandelt.3 Es hilft auch dem Historiker, besser zu verstehen, was eigentlich eine Grenze ist. Herfried Münkler hat in einer Rezension des Buches ironisch darauf hingewiesen, dass die moderne Erfahrung der „Entgrenzung“ vor allem die von Globalisten und ihnen folgenden Wissenschaftlern sei und „mit den Mobilitätsradien von Menschen in großen Teilen der Welt nichts zu tun“ habe; Maus Analyse zeige nämlich, dass die modernen „Grenzregime“ dies verhindern würden, denn sie seien „unterschiedlich ka1 2
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Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 1994, 39. Rainer Blasius: Politisches Schlagwort. Nicht Churchill prägte den Begriff „Eiserner Vorhang“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.02.2015), https://www.faz.net/-gum-7zzfe, letzter Zugriff: 02.07.2022; Christian Koller: Der „Eiserne Vorhang“. Zur Genese einer politischen Zentralmetapher in der Epoche des Kalten Krieges. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), 366–384. Steffen Mau: „Sortiermaschienen“. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, München 2021.
Grenzen in der Geschichte
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libriert“ und unterschieden zwischen wenigen Privilegierten und der Mehrzahl von Menschen, die diesen Grenzen „ohne Einflussmöglichkeiten“ unterworfen seien.4 Wirklich neu ist diese Analyse allerdings nicht, denn auch die grenzenlosen Reisemöglichkeiten am Anfang des 20. Jahrhunderts, von denen Stefan Zweig schreibt, galten nur für privilegierte Kreise, nicht aber für die Masse der Menschen, die aus sozialen oder ökonomischen Gründen Grenzen überschreiten wollten, um auszuwandern, wobei allerdings nicht nur die großen Migrationsbewegungen nach Übersee, sondern auch die in regionalen Bezügen im 19. und 20. Jahrhundert von Bedeutung waren.5 Man kann auf der einen Seite nicht bestreiten, dass Staatsgrenzen in der Vergangenheit Europas, offenkundig aber auch in der Gegenwart, eine Realität darstellen, dass diese Grenzen aber soziologisch betrachtet eine unterschiedliche Qualität haben. Der Historiker wird folglich nicht nur fragen, welche Grenzen es gab, sondern auch, für wen diese Grenzen eine Bedeutung hatten. Bereits 1908 schrieb der Soziologe Georg Simmel: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“6 Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Frage nach der Geschichte von Grenzen ein lohnendes Thema der modernen Geschichtswissenschaft ist, ein Thema übrigens, das nie ganz verschwunden war, mittlerweile aber wieder größere Aufmerksamkeit findet. Für das Mittelalter kann ich auf einen eigenen Beitrag über das vermeintlich „grenzenlose Mittelalter“ verweisen, der 2020 erschienen ist,7 für die Frühe Neuzeit auf einen Tagungsband über Grenzraum und Repräsentation, den 2019 Maike Schmidt und Stephan Laux herausgebracht haben.8 Die Wiener Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Andrea Komlosy hat 2018 einen Gesamtüberblick über Grenzen als „räumliche und soziale Trennlinien“ veröffentlicht, der in historischer Perspektive
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Herfried Münkler (Rez.): Wer hineindarf und wer nicht. Korrektur einer voreiligen Erwartung. Der Soziologe Steffen Mau erinnert daran, dass Globalisierung mit der Justierung von Grenzen einhergeht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15.09.2021), 10. Siehe die Fallstudie von Lutz Vogel: Aufnehmen oder abweisen? Kleinräumige Migration und Einbürgerungspraxis in der sächsischen Oberlausitz 1815–1871 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 47), Leipzig 2014. Georg Simmel: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft (1908). In: Monika Eigmüller, Georg Vobruba (Hg.): Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, 15–23, hier 23. Als Bilanz für das Mittelalter Enno Bünz: Grenzenloses Mittelalter? Beobachtungen und Überlegungen zur Geschichte, Funktion und Gestalt von Grenzen. In: Helga Giersiepen, Andrea Stieldorf (Hg.): Über Grenzen hinweg. Inschriften als Zeugnisse kulturellen Austauschs. Beiträge zur 14. Internationalen Fachtagung für mittelalterliche und frühneuzeitliche Epigraphik, Düsseldorf 2016, Paderborn 2020, 11–52, mit umfassenden Nachweisen. Maike Schmidt: Begrenzung und Entgrenzung als Ordnungspraktiken. Eine Annäherung an historische Grenzräume. In: Dies., Stephan Laux (Hg.): Grenzraum und Repräsentation. Perspektiven auf Raumvorstellungen und Grenzkonzepte in der Vormoderne (Trierer Historische Forschungen 74), Trier 2019, 13–31.
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auch eine Typologie der Grenzen entwickelt.9 Im Jahrgang 2020 der Zeitschrift „Francia“ hat Susanne Rau den deutschen Forschungsstand resümiert.10 Es wäre dabei sicherlich zu kurz gegriffen, nur auf die Staatsgrenzen zu schauen, wobei diese selbstverständlich in jedem historischen Atlas eine zentrale Rolle spielen. Geschichtsatlanten sind eigentlich die naheliegendste und anschaulichste Vergegenwärtigung von Grenzen, von der griechischen Polis und dem Römischen Reich (das seine Außengrenzen streckenweise ja tatsächlich durch einen „Limes“, eine linear präzise festgelegte Grenze schützte) über die Reichsbildungen des Früh- und Hochmittelalters bis hin zur vielgestaltigen Territorienwelt des Spätmittelalters und der intensivierten Staatsbildung seit der Frühen Neuzeit. Man muss wohl einmal selbst eine Geschichtskarte entworfen haben, um zu verstehen, wie unsicher, relativ und fragwürdig die Kartierung von Grenzen vielfach ist, aber jedes Kartenbild verlangt eine Festlegung. In der Darstellung historischer Atlanten sind Grenzen gewissermaßen „Kompromisslinien“, da unausgesprochen hinter jeder Linienziehung die Frage steht, welche Kriterien zugrunde gelegt wurden.11 In Deutschland wie international ist wohl keine Grenze so intensiv erforscht worden wie der römische Limes in seinem Verlauf vom Niederrhein bis zur Donau. 1890 wurde zu seiner Dokumentation auf Betreiben Theodor Mommsens eine ReichsLimes-Kommission gebildet, die den Verlauf des obergermanisch-raetischen Limes in einem vielbändigen Werk dokumentiert hat.12 Aber das ist heute nicht unser Thema. Im Rahmen der politischen Geschichte Deutschlands hat der zunächst in Leipzig, denn in Frankfurt am Main lehrende Mediävist Paul Kirn (1890–1965) eine vielgelesene „Politische Geschichte der deutschen Grenzen“ vorgelegt, die seit 1934 bis in die Nachkriegszeit mehrfach aufgelegt wurde.13 Noch der Klappentext der vierten Auflage von 1958 bewarb die Relevanz des Buches mit den markigen Worten: Weit mehr als irgendein anderes Volk ist das deutsche durch sein Grenzschicksal beeinflußt worden. Der tragische Zwang, als Volk der Mitte immer wieder um den Bestand des
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Andrea Komlosy: Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf, Wien 2018, 91–151. Susanne Rau: Grenzen und Grenzräume in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. In: Francia 47 (2020), 307–321. Mit instruktiven Beispielen Erwin Riedenauer: Die historische Territorienwelt des Alpenraums im Bild moderner Atlanten und zeitgenössischer Kartographie. Ein Überblick mit besonderer Berücksichtigung von Spätmittelalter und Frühneuzeit. In: Tiroler Heimat. Neue Folge 63 (1999), 305–333. Zur Darstellung von Grenzen siehe auch die instruktiven Erläuterungen in: Josef Engel u. a. (Bearb.): Grosser Historischer Weltatlas, Teil 2: Mittelalter, 2. Aufl., München 1979, XIX f. Rainer Braun: Die Geschichte der Reichs-Limes-Kommission und ihre Forschungen. In: Der Römische Limes in Deutschland (Sonderheft Archäologie in Deutschland), Stuttgart 1992, 9–32. Paul Kirn: Politische Geschichte der deutschen Grenzen, Leipzig 1934 (4. verb. Aufl., Mannheim 1958).
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Reiches kämpfen zu müssen,14 hat unsere geschichtliche Entwicklung bestimmt. Seit Jahrhunderten sind Deutschlands Grenzen durch die dauernden Machtverschiebungen im europäischen Raum ständig verändert worden.
Soweit Paul Kirn, ganz im Duktus der Zeit zum Zusammenhang von „Volksgeschichte“ und „Grenzschicksal“. Ganz in der Tradition dieses Buches steht der aus einer Berliner Ringvorlesung hervorgegangene Sammelband von Alexander Demandt über „Deutschlands Grenzen in der Geschichte“.15 Beiträge verschiedener Autoren behandeln Deutschlands Grenzen im Norden, Osten, Westen und Süden. Weitere Beiträge gehen auf die Frage der natürlichen Grenzen ein (man denke nur an die erste Strophe des Liedes der Deutschen, in der Deutschland noch „Von der Maas bis an die Memel / Von der Etsch bis an den Belt“ reicht), und natürlich wird auch die innerdeutsche Grenze besprochen, die zur Zeit der Ringvorlesung 1987/88 noch hochaktuell war, bei Erscheinen des Sammelbandes aber schon zur Disposition stand. Man könnte gegen beide Bücher einwenden, dass sie den Begriff der „Grenze“ eigentlich nur als Chiffre verwenden, weil es ihnen darum geht, den Wandel des politischen Raums darzustellen, der im Laufe der Geschichte Deutschland ausmachte, und das ist ja auch nicht ganz falsch, denn Grenzen bestimmen über die politische Zugehörigkeit von Landschaften, Regionen, Territorien. Letztlich zeigt die Betrachtung historischer Räume und Grenzen nur zwei Seiten einer Medaille. Ich kann an dieser Stelle auf eine Sektion über „Räume und Grenzen. Traditionen und Konzepte der Landesgeschichte“ verweisen, die ich auf dem 45. Deutschen Historikertag in Kiel 2004 gemeinsam mit Werner Freitag veranstaltet habe.16 Als ich vor sechs Jahren die Gelegenheit hatte, auf einer Tagung der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Düsseldorf über die Bedeutung von Grenzen im Mittelalter zu referieren,17 wurde mir erst bewusst, dass die Literatur über Grenzen schon in der deutschen Forschung reichhaltig ist, dass in der Masse der Literatur aber von Grenzen die Rede ist, tatsächlich aber „Räume“ gemeint sind. In diesem „Grenzbereich“ bewegt sich ja auch diese epochenübergreifende Sektion, die nach „Grenzregionen“ fragt und damit schon
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Henrik Schwanitz verdanke ich den Hinweis, dass dieses „Mitte“-Denken und die daraus sich ergebende „Schicksalsrolle“ der Deutschen bereits um 1800 entstand. Siehe dazu Hans-Dietrich Schultz: Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese „Mitteleuropas“ in der deutschen Geographie. In: Europa Regional 5 (1997) 1, 2–14. Alexander Demandt (Hg.): Deutschlands Grenzen in der Geschichte. Unter Mitarbeit von Reimer Hansen u. a., München 1990. Enno Bünz, Werner Freitag (Hg.): Räume und Grenzen. Traditionen und Konzepte der Landesgeschichte. Epochenübergreifende Sektion auf dem 45. Deutschen Historikertag („Kommunikation und Raum“), Kiel, 14.–17. September 2004. Beiträge der Sektion. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 139/140 (2003/04), 145–266. Siehe Bünz: Grenzenloses Mittelalter?, 11–52.
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im Titel auf den Zusammenhang von Grenze und Raum verweist. Beide Begriffe bezeichnen letztlich zwei Seiten einer Medaille, gehören also untrennbar zusammen. Überblickt man die Forschung zum Thema „Grenzen“, ist allerdings ein Befund unübersehbar: der vielfach metaphorische Gebrauch, lässt sich mit dem Grenz-Begriff doch auf alle erdenklichen Formen der Begrenzung, Entgrenzung, Grenzüberschreitung anspielen. Bezeichnend dafür ist ein Kongressdokument, das in der Reihe meines Dresdner Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde erschienen ist: „Grenzen & Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen“. Es sind die Vorträge des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, den wir 2005 in Dresden mitausgerichtet und deshalb publiziert haben.18 895 Druckseiten, und auf keiner einzigen ist von realen Grenzen im Raum, von Grenzmarkierungen, Grenzkontrollen oder was auch immer die Rede, wie sie im Folgenden betrachtet werden sollen. Jürgen Osterhammel hat schon 1995 beklagt, „Grenze“ gehöre zu den „schillerndsten Metaphern-Konzepten der heutigen Kultur- und Sozialwissenschaften“.19 Von Frühneuzeit-Seite ist jüngst bemerkt worden, dieser metaphorische Gebrauch des Grenzbegriffs sei schon im 18. Jahrhundert greifbar.20 Aber ich denke, man kann dafür sogar Martin Luther in Anspruch nehmen. Nach den Aufzeichnungen seiner Tischreden äußerte der Wittenberger Reformator 1532: „Die Wittenberger leben an der Grenze der zivilisierten Welt („in termino civilitatis“), wären sie nur wenig weiter gezogen, wären sie mitten in der Barbarei angekommen („in mediam barbariam“)“.21 Wittenberg an der Grenze von Zivilisation und Barbarei, das erinnert schon fast an den Frontier-Mythos, den Frederick Jackson Turner 1921 für den amerikanischen Wilden Westen beschworen hat.22 Unser Wort „Grenze“ ist jung. Im Althochdeutschen war dafür marca oder march(i)a gebräuchlich, wobei damit sowohl die Grenze selbst als auch das umgrenzte Gebiet bezeichnet werden konnte. Daran erinnert das noch heute gebräuchliche Wort „Gemarkung“. In der lateinischen Rechtssprache gab es verschiedene Begriffe für Grenze wie fines/confines oder terminus, auch limitatio, während das aus dem klassischen Latein 18 19 20 21 22
Thomas Hengartner, Johannes Moser (Hg.): Grenzen & Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen. 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Dresden 2005 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 17), Leipzig 2006. Jürgen Osterhammel: Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas. In: Saeculum 46 (1995), 101–138, hier 108. Reinhard Stauber: Art. „Grenze“. In: Enzyklopädie der Neuzeit 4, Stuttgart u. a. 2006, 1105– 1114, hier 1105. Zur Einordnung Enno Bünz: „am Rande der Zivilisation …“? Residenz und Hof des Kurfürsten von Sachsen in Wittenberg zur Zeit Lucas Cranachs d. Ä. In: Die Reformation und die Künste (Wittenberger Sonntagsvorlesungen 2003), Wittenberg 2003, 9–36. Frederick Jackson Turner: The Frontier in American History, New York 1921; deutsche Übersetzung unter dem Titel: Die Grenze. Ihre Bedeutung in der amerikanischen Geschichte, Bremen 1947. Siehe dazu Helmuth G. Walther: Die „Frontier“ als Paradigma der mittelalterlichen Geschichte. Bemerkungen zu einem wenig beachteten Rezeptionsfeld von Turners Deutungsschema. In: Jörg Nagler (Hg.): Nationale und internationale Perspektiven amerikanischer Geschichte ( Jenaer Beiträge zur Geschichte 5), Frankfurt a. M. 2002, 91–105.
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gebräuchliche Wort limes in diesem Zusammenhang im Mittelalter kaum verwendet wurde. Das deutsche Wort „Grenze“ kommt als Lehnwort aus dem Westslawischen. Vor allem in Polen bezeichnet in hochmittelalterlichen Quellen granica bzw. granicia das „Grenzzeichen“. Im Zuge der deutschen Ostsiedlung des 12./13. Jahrhunderts wurden solche Grenzzeichen zur Markierung der Rodungsflächen in die Bäume eingehauen und so wurde aus dem Grenzzeichen die Grenzlinie.23 Erst seit dem 15. Jahrhundert wurde das Wort „Grenze“ im deutschsprachigen Raum gebräuchlich und setzte sich durch, bis heute.24 Die Sache ist also älter als das eingedeutschte Wort „Grenze“. Der Historiker kennt eine Vielzahl von Grenzen, die linear, aber auch zonal angelegt sein können.25 Zwar ist die Beschreibung der Entwicklung mittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse vom Personenverbandsstaat zum territorialen Flächenstaat (die Formel geprägt von Theodor Mayer26) nicht ganz falsch, aber deshalb lässt sich nicht generell behaupten, es habe eine Entwicklung von zonalen zu linearen Grenzen gegeben, zumal Herrschaft schon im Frühmittelalter immer Herrschaft über Land und Leute war. Tatsächlich reichen lineare Grenzen in das Früh- und Hochmittelalter zurück, wie die Abgrenzung von Grundstücken und Flurparzellen in Dorf und Stadt erkennen lässt. Beschreibungen von Ortsfluren wie die Würzburger Markbeschreibung von 779 gehören zu den ältesten althochdeutschen Sprachdenkmälern.27 Lineare Grenzen sind seit dieser Zeit auch für die Markierung von kirchlichen Organisationseinheiten wie Bistümern und Pfarreien feststellbar.28 Neben Besitzrechten und kirchlichen Zuständigkeiten ist auch die Gerichtspraxis als zentrales Element mittelalterlicher Herrschaft ein Faktor, der die Herausbildung von linearen Grenzen förderte. Grundsätzlich muss man sich die Herausbildung von Grenzen größerer herrschaftlicher oder kirchlicher Räume, seien es nun Territorien oder Bistümer, wohl so vorstellen, dass sich ihre Außengrenzen erst schrittweise aus der Zuordnung kleinerer Einheiten wie Ortsgemarkungen, Amtsbezirken oder Pfarreien ergaben. Deshalb haben lineare Grenzen um 1500 eine wesentlich 23 24 25
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Winfried Schich: Die „Grenze“ im östlichen Mitteleuropa im hohen Mittelalter. In: Siedlungsforschung 9 (1991), 135–146, hier 140. Das Bedeutungsspektrum des Wortes „Grenze“ verdeutlicht der ausführliche Artikel in Arthur Hübner u. a. (Bearb.): Jacob und Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, I. Abt., 6. Tl., Leipzig 1935, 124–148. Stauber: Grenze; Ilse Reiter: Art. „Grenze“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2, 2. Aufl., Berlin 2012, 541–546; Walter Leimgruber: Art. „Grenzen“. In: Historisches Lexikon der Schweiz 5, Basel 2005, 676–678; Peter Fleischmann: Art. „Grenze, Grenzziehung (bis 1800)“, publiziert am 12.02.2013. In: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historischeslexikon-bayerns.de/Lexikon/Grenze, Grenzziehung (bis 1800), letzter Zugriff: 28.09.2021. Theodor Mayer: Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter. In: Hellmut Kämpf (Hg.): Herrschaft und Staat im Mittelalter (Wege der Forschung 2), Darmstadt 1956, 284–331. Enno Bünz: Grenzen in Franken – ein Blick ins Mittelalter. In: Christof Paulus u. a. (Hg.): Typisch Franken. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2022, Augsburg 2022, 52–57. Bünz: Grenzenloses Mittelalter?, 29–39.
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größere Relevanz als um 1000. Als der Wettiner Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht von Sachsen 1485 ihr Territorium teilten, wurde zwischen einem meißnischen, einem thüringischen und einem osterländischen Teil unterschieden, aber niemand hielt es für notwendig (oder auch für möglich), diese Herrschaftsbereiche durch Angabe einer Grenzlinie zu umschreiben. Vielmehr erfolgte die Teilung des Herrschaftsgebietes nach den kleineren Raumeinheiten von Ämtern, Städten und Adelsherrschaften.29 Grenzen werden aber nicht nur von politischen und anderen Zuständigkeiten bestimmt, sondern auch von kulturellen Gegebenheiten wie zum Beispiel Sprachgrenzen30 oder kollektiven Einstellungen, die sich beispielsweise im historischen Landesund modernen Heimatbewusstsein niederschlagen.31 Natürliche Grenzen hat es vor allem in Gestalt von Flüssen schon im Mittelalter gegeben, aber für die Menschen der Vormoderne waren die Gegebenheiten der Naturgeografie weitaus weniger begrenzend und unüberwindlich, als man gemeinhin denkt. Erst unter dem Einfluss des aufgeklärten Staatsdenkens seit dem 18. Jahrhundert wurde das Streben nach „natürlichen Grenzen“ zu einem Leitgedanken moderner Staatsbildung.32 Damit wird deutlich: Aus historischer Sicht ist nicht nur die Feststellung des Verlaufs von Grenzen von Interesse (in diesem Zusammenhang war schon von den Geschichtsatlanten in ihren Darstellungsproblemen die Rede), sondern auch die zeitgenössische Dokumentation ihres Verlaufs durch Grenzsteine oder -markierungen wie beispielsweise Inschriften und/oder Wappen, aber auch durch Karten und Pläne. Damit sind Aspekte angesprochen, die beispielsweise durch die Edition der Inschriften im Rahmen des interakademischen Vorhabens „Die Deutschen Inschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“33 oder die Erschließung und Edition archivalischer Kartenbestände34 berührt wird. Seit dem 16. Jahrhundert wurden die territorialen 29 30
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Karlheinz Blaschke: Die wettinischen Länder von der Leipziger Teilung 1485 bis zum Naumburger Vertrag 1554 (Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen, C III 1), Leipzig u. a. 2010, 15–50, mit Textabdruck der Teilungsurkunden, bearbeitet von Mathias Kälble und Jana Moser. Exemplarisch Otto Stolz: Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol im Lichte der Urkunden, 1: Einleitung und Geschichte der deutsch-italienischen Sprachen-, Völker- und Staatenscheide im Etschtale, München 1927 (Nachdruck Bozen 1975); Enno Bünz: Das Sprachenproblem in der mittelalterlichen Pfarrseelsorge. Beobachtungen in den Lausitzen und anderen Landschaften der Germania Sacra. In: Luise Czajkowski, Sabrina Ulbrich-Bösch, Christina Waldvogel (Hg.): Sprachwandel im Deutschen [Festschrift für Hans Ulrich Schmid zum 65. Geburtstag] (Lingua Historica Germanica. Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 19), Berlin/Boston 2018, 469–479. Matthias Werner (Hg.): Spätmittelalterliches Landesbewußtsein in Deutschland (Vorträge und Forschungen 61), Stuttgart 2005. Henrik Schwanitz: Von der Natur gerahmt. Die Idee der „natürlichen Grenze“ als Identitätsressource um 1800 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 65), Leipzig 2021. https://www.inschriften.net/, letzter Zugriff: 03.10.2021. Von der gemalten Landschaft zum vermessenen Land. Eine Ausstellung des Bayerischen Hauptstaatsarchivs zur Geschichte der handgezeichneten Karte in Bayern. München, 6. Oktober bis 22. Dezember 2006. Ausstellung und Katalog Gerhard Leidel unter Mitarbeit von Monika Ruth Franz (Ausstellungskataloge der staatlichen Archive Bayerns 48), München 2006; Thomas
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Grenzen eben nicht nur markiert, sondern kartiert: „Die vermehrte Festlegung und rechtliche Sicherung von Grenzen in der Frühen Neuzeit sind Kennzeichen einer sich verdichtenden Staatlichkeit“.35 Markierung, Kartierung und Beschreibung der Grenze sind rechtsrelevante Akte. Seit dem 16. Jahrhundert sind deshalb in wachsender Zahl auch Augenscheinkarten überliefert, die Grenzverläufe mit den zugehörigen Grenzoder Marksteinen dokumentieren.36 Das Thema „Grenzen“ birgt also ein erhebliches Erkenntnispotenzial für den Historiker. Dazu kommt die wichtige Einsicht, dass es nicht nur um die Feststellung von Grenzverläufen geht, sondern um die damit verbundenen politischen, administrativen, alltagspraktischen, aber auch ideologischen Fragen, die sich im Begriff des „Grenzregimes“ bündeln lassen. In aktuellen Debatten ist der Begriff omnipräsent, weil neben politisch-administrativen und handelspolitischen Beziehungen auch die Steuerung von Migrationsbewegungen eine Rolle spielt, aber in der Geschichtswissenschaft hat man sich mit diesen Aspekten bislang zu wenig beschäftigt, sieht man einmal von dem bereits erwähnten Buch von Andrea Komlosy ab.37 Anregungen können hierbei auch volkskundlich-kulturanthropologische Studien über den sächsischtschechischen Grenzraum geben, die in den letzten Jahren im Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden entstanden sind.38 Katrin Lehnert hat in ihrer Berliner Dissertation sehr schön gezeigt, wie die Grenze von vielfältigen Faktoren wie Konfession, Schmuggel, Zollkontrolle, Passwesen, Arbeitsmigration und ethnischen Vorstellungen bestimmt sein kann.39 Also nicht nur die Grenze, sondern das Grenzregime in seiner ganzen Komplexität sollte den Historiker interessieren. Dazu können auch die folgenden Sektionsbeiträge
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Horst: Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns. Eine kartographiehistorische Studie zum Augenscheinplan unter besonderer Berücksichtigung der Kultur- und Klimageschichte, 2 Bde. (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 161), München 2008. Fleischmann: Grenze, Grenzziehung. Andreas Rutz: Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 47), Köln/Weimar/Wien 2017. Komlosy: Grenzen, 151–226. Petr Lozoviuk (Hg.): Grenzgebiet als Forschungsfeld. Aspekte der ethnographischen und kulturhistorischen Erforschung des Grenzlandes (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 29), Leipzig 2009; Ders.: Grenzland als Lebenswelt. Grenzkonstruktionen, Grenzwahrnehmungen und Grenzdiskurse in sächsisch-tschechischer Perspektive (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 41), Leipzig 2012; Katrin Lehnert, Lutz Vogel (Hg.): Transnationale Perspektiven. Kleinräumige Mobilität und Grenzwahrnehmung im 19. Jahrhundert (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 20), Dresden 2011; Katrin Lehnert: Die Un-Ordnung der Grenze. Mobiler Alltag zwischen Sachsen und Böhmen und die Produktion von Migration im 19. Jahrhundert (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 56), Leipzig 2017; Sarah Kleinmann, Arnika Peselmann, Ira Spieker (Hg.): Kontaktzonen und Grenzregionen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 38), Leipzig 2019. Lehnert: Un-Ordnung der Grenze.
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etwas beisteuern. Auch wenn sie sich nicht primär mit der Frage historischer Grenzen beschäftigen, spielen diese zweifellos eine Rolle, selbst für die Insellage Gotlands, dessen spätmittelalterliche Geschichte betrachtet wird.40 Für die Herzogtümer Schleswig und Holstein kann man feststellen, dass die weitgehend natürliche Grenze zwischen diesen Räumen vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert eine Rolle spielte (und das Thema des „Grenzkampfs“ für die frühere Kieler Landesgeschichte zeitweilig zu einem fruchtlosen Dauerthema wurde). Am Beispiel von Südtirol/Trentino, also dem historischen Raum der einstigen Grafschaft Tirol, lässt sich hingegen verdeutlichen, welche Wirkmacht im 20. Jahrhundert die Idee natürlicher Grenzen entfalten konnte. Die Macht von Vorstellungswelten und Geschichtsideologie lässt sich in Pommern und Schlesien aufzeigen, deren historische Zusammenhänge mit Polen seit dem Mittelalter nach dem Zweiten Weltkrieg „reaktiviert“ wurden. Die Vertreibung der Deutschen aus diesen Landschaften und die Ansiedlung der polnischen Bevölkerung, die zum Teil aus den verlorenen Gebieten Ostpolens kam, macht den Konstruktionscharakter von Grenzen im 20. Jahrhundert besonders anschaulich, gerade auch mit Blick auf die Trennung Vor- und Hinterpommerns entlang der Oder und Niederschlesiens entlang der Neiße. Unnatürlicher können „natürliche“ Grenzen nicht sein. Abschließend ist festzuhalten: Grenzen in der Geschichte sind ein sehr wandelbares und doch beständiges Phänomen. Sie verschieben sich oder werden verschoben, sie wirken eher trennend oder verbindend, aber sie verschwinden nicht. Mit Blick auf die modernen Entwicklungen hat der Schweizer Historiker Walter Leimgruber treffend bemerkt: „Das Grenzkonzept erweist sich allen Auflösungsversuchen gegenüber als resistent.“41 Grund genug für die Geschichtswissenschaft, sich wieder der Geschichte der Grenzen zuzuwenden.
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In diesem Zusammenhang kann ich nur die Frage aufwerfen, aber nicht beantworten, seit wann es eigentlich See- oder Meeresgrenzen gibt. Papst Alexander VI. teilte mit der Bulle Inter caetera 1493 die Einflusssphären Spaniens und Portugals entlang einer Linie, die vom Nord- zum Südpol quer durch den Atlantik verlief. Siehe Helmuth K. G. Rönnefarth (Bearb.): Konferenzen und Verträge. Vertrags-Ploetz, ein Handbuch geschichtlich bedeutsamer Zusammenkünfte und Vereinbarungen, Teil II, Band 3: Neuere Zeit 1492–1914, 2. erweiterte und veränderte Aufl., Würzburg 1958, 2 f.; Komlosy: Grenzen, 122 f., nennt diese als Beispiel einer Kolonialgrenze. Die Auswertung von Augenscheinkarten könnte hier weiterführen. Die Stadt Hamburg ließ im Streit mit dem Herzogtum Braunschweig-Lüneburg den Verlauf der Unterelbe bis zur Mündung mit allen Markierungen und Seetonnen darstellen. Siehe das kommentierte Faksimile: Die Hamburger Elbkarte aus dem Jahre 1568, gezeichnet von Melchior Lorichs. Mit einer Einleitung über den Zweck der Karte und die Tätigkeit von Melchior Lorichs in Hamburg von Jürgen Bolland (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 8), 3. Aufl., Hamburg 1985. Leimgruber: Grenzen, 678.
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Zur Person: Enno Bünz ist seit 2001 ordentlicher Professor für Sächsische und Vergleichende Landesgeschichte am Historischen Seminar der Universität Leipzig und gleichzeitig seit 2002 Direktor des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde. Im Februar 2017 wurde er durch Wahl ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (Philologisch-historische Klasse). Prof. Dr. Enno Bünz Universität Leipzig, Sächsische und Vergleichende Landesgeschichte, Historisches Seminar, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig, Deutschland, [email protected]
Zwischen erobertem und ererbtem Besitzanspruch Die Insel Gotland im 14. und 15. Jahrhundert Laura Potzuweit Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 30–42
Between conquered and inherited possession The Island of Gotland in the 14th and 15th Centuries Kurzfassung: Der Beitrag untersucht anhand der überlieferten Korrespondenz des Deutschen Ordens einerseits und Königin Margarethes von Dänemark andererseits deren jeweilige Argumentation in Bezug auf ihre Besitzrechtfertigung die Ostseeinsel Gotland betreffend. Während der Orden in Gestalt des Hochmeisters vermehrt auf die Eroberungsleistung und die sich daran anschließende Verpfändung verwies, begründete Margarethe ihren Anspruch mit Erblichkeit und in Steigerung dessen sogar mit dem göttlichen Recht der Krone Dänemark auf die Insel. In letzter Konsequenz konnte sich keines der Narrative durchsetzen, sodass der Konflikt um Gotland zunächst militärisch und anschließend 1408 durch den Verkauf an Erich von Pommern seine Lösung fand. Schlagworte: Deutscher Orden, Kalmarer Union, Gotland, Besitzanspruch, Rückforderung, Erblichkeit Abstract: Based on the surviving correspondence of the Teutonic Order on the one hand and Queen Margarethe of Denmark on the other, this article examines their respective arguments in relation to their justification of ownership of the Baltic Island of Gotland. While the Order, in the person of the Hochmeister, increasingly referred to the conquest and the subsequent pawning, Margarethe argued with the hereditary nature of the claim and, in enhancement of this, even with the divine right of the Crown of Denmark to the island. In the end, none of the narratives could prevail, so that the conflict over Gotland was resolved first militarily and then in 1408 through the sale to Erich of Pomerania. Keywords: Teutonic Order, Kalmar Union, Gotland, possession, reclaim, hereditary
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„Wisby är den enda staden på Gotland, belägen nästan mitt på landet jämte wästra stranden. Denna Staden tycktes föreställa os sielfwa Rom i modell“,1 verglich der schwedische Arzt und Botaniker Carl von Linné 1741 die gotländische Stadt Visby mit der Ewigen Stadt Rom. Jedoch beließ der Gelehrte es nicht bei der Beschreibung der Architektur, sondern äußerte sich ebenfalls zu den Einwohnern der Insel: „Invånarne woro gladlynta, belefwade och humane; de bröto något af ifrån den nu giängse swenskan och stötte något på norska med accenten.“2 Für Linné wies der gotländische Dialekt eine starke norwegische Färbung auf und in der Tat schlug die Sprachentwicklung auf der Insel eine andere Richtung ein als jene auf dem Festland. Ursächlich war besonders die langjährige Zugehörigkeit zu Dänemark und auch Spuren des Niederdeutschen sind im Wortschatz nachweisbar. Diese Einflüsse setzten sich allerdings erst im 16. Jahrhundert durch und das obwohl die Insel Gotland inmitten der Ostsee zwar zunächst nicht als „klassische Grenzregion“ anmutet, in ihrer heutigen Zugehörigkeit zu Schweden zudem unumstritten ist, jedoch bereits im Mittelalter Zugehörigkeitsstreitigkeiten und -wechsel3 und der prägnanten Anwesenheit der Hanse unterlag.4 Eine besonders detailliert überlieferte Phase der Besitzstreitigkeiten stellt die zehnjährige Zugehörigkeit zum Deutschen Orden dar. Dieser hatte die Ansiedlung der sogenannten Vitalienbrüder,5 die durch ihre Kaperfahrten die Sicherheit des gesamten 1 2 3
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Carl von Linné: Öländska och Gothländska Resa, Stockholm/Uppsala 1745, 163 [Übersetzung der Verfasserin: „Wisby ist die einzige Stadt auf Gotland und liegt fast inmitten der Landschaft an der Westküste. Diese Stadt schien Rom selbst im Modell darzustellen.“]. Ebenda, 164 [Übersetzung der Verfasserin: „Die Einwohner waren fröhlich, höflich und menschlich; sie lösten sich etwas vom inzwischen üblichen Schwedisch und sprachen Norwegisch mit Akzent.“]. Für einen kurzen Überblick siehe dazu u. a. Sebastian Kubon: Die Außenpolitik des Deutschen Ordens unter Hochmeister Konrad von Jungingen (1393–1407), Göttingen 2016, 258 f.; Laura Potzuweit: Im Zentrum von Ostsee und Anspruch. Der Deutsche Orden, die Krone Dänemark und der Besitzkonflikt um die Insel Gotland im 14. und 15. Jahrhundert. In: Ludwig Steindorff, Paul Srodecki (Hg.): Viele Welten des Ostseeraumes [im Druck]. Aufschluss über die weiteren Ereignisse gibt auch die problematische sogenannte Parteischrift des Hochmeisters des Deutschen Ordens, die 1401 verfasst wurde und den Konflikt um die Insel aus Sicht des Ordens zusammenfasst (Karl Koppmann [Hg.]: Hanserecesse, 1. Abteilung: Die Recesse und andere Akten der Hansetage von 1256–1430, IV, Leipzig 1877, Nr. 438). Kubon lehnte es ab, die Parteischrift als Quelle in seine Arbeit zu Konrad von Jungingen aufzunehmen, da sie, wie Meichsner feststellt, an vielen Stellen zum Vorteil des Ordens verfasst wurde (vgl. Kubon: Außenpolitik, 262 f.; Michael Meichsner: Die sogenannte „Parteischrift des Hochmeisters des Deutschen Ordens“ und ihre Aussagekraft für die Verhältnisse auf Gotland im Frühjahr 1398. In: Oliver Auge (Hg.): Hansegeschichte als Regionalgeschichte [Kieler Werkstücke. Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 37), Frankfurt a. M. 2014, 333–348, hier 333 f., 344). Ab dem 17. Jahrhundert sind Einflüsse des Dänischen und des Niederdeutschen auf Gotland sprachlich nachweisbar. Weiterführende Literatur: Herbert Gustavson: Gutamålet. En historisk-deskriptiv översikt. 1–2 (Svenska landsmål och svenskt folkliv 42/50), Stockholm 1942/1948; Bengt Pamp: Svenska dialekter, Stockholm 1978. Bei den Vitalienbrüdern handelt es sich primär um Seeräuber, die unter der Leitung des mecklenburgischen Landadels auf Gotland in den Krieg zwischen Dänemark und Mecklenburg eingreifen sollten. Nach dem Ende des Konflikts lösten sie sich jedoch nicht auf, sondern etablierten sich
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Ostseehandels bedrohten, auf Gotland genutzt und sich die Insel im Rahmen von deren Vertreibung militärisch angeeignet. Die Inbesitznahme Gotlands 1398 ließ sich der Deutsche Orden zeitnah ebenfalls rechtlich absichern: Am 5. April 1398 erfolgte zunächst eine Vorurkunde, in der Johann IV. von Mecklenburg die Insel bereits an den Hochmeister Konrad von Jungingen und den Deutschen Orden verpfändete.6 Diesem Akt folgte dann am 25. Mai 1399 eine offizielle Verpfändungsurkunde, ausgestellt von den Herzögen Albrecht und Johann von Mecklenburg und in der Literatur oftmals auch als Schwaaner Vertrag benannt. Die Verpfändungssumme für Gotland mitsamt Visby wurde darin auf 30.000 Nobel festgesetzt.7 Doch die Ansprüche auf „Rückgabe“ von Seiten der Kalmarer Union ließen trotzdem nicht lange auf sich warten.8 Im Folgenden soll daher dieser Interessenkonflikt zwischen dem Deutschen Orden, vor allem in Person des Hochmeisters, und der Krone Dänemark, in der Regel vertreten durch Margarethe von Dänemark, anhand ihrer primär im Berliner Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz überlieferten Korrespondenz beschrieben und in ihrer Argumentation gegenübergestellt werden.9 Angesichts der zahlreichen wechselnden Zugehörigkeiten in der Vergangenheit und der Bemühungen um Eroberung und Verpfändung stellt sich zu Beginn unweigerlich die Frage, weshalb sich der Deutsche Orden überhaupt nach Vertreibung der Vitalienbrüder weiterhin für die Ostseeinsel interessierte, besonders da die ursprüngliche Ansiedlung des Ritterordens im Norden vordergründig der Heidenbekämpfung gegolten hatte.10 Weder war die Bevölkerung Gotlands heidnisch, noch befand sie sich
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im Ostseeraum (Matthias Puhle: Art. „Vitalienbrüder“. In: Lexikon des Mittelalters 8 [1997], 1762). Erich Weise: Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert. Erster Band (1398–1437), Königsberg 1939, 15 f.; Koppmann: Hanserecesse IV, 414, Nr. 437; Olof S. Rydberg (Hg.): Sverges Traktater med främmande magter 2 (1336–1408), Stockholm 1883, 585, Nr. 424. Weise: Staatsverträge I, 16 f.; Aage Andersen, Russell Friedman, Herluf Nielsen (Hg.): Diplomatarium Danicum, IV. Reihe, 7. 1399–1400, Kopenhagen 2000, 67–72, Nr. 66. Eine Gefangennahme Kalmarer Bürger durch Friedensschiffe der preußischen Städte sorgte bereits zuvor für einen intensiven diplomatischen Austausch zwischen dem Hochmeister und Margarethe (u. a. Schreiben von Margarethe vom 1. August 1396 und Antwort des Hochmeisters vom 19. August 1396 [Aage Andersen (Hg.): Diplomatarium Danicum, IV. Reihe, 6. 1396–1398, Kopenhagen 1998, 106 f., Nr. 125; 120 f., Nr. 136]). Einen grundlegenden Beitrag lieferte hierzu bereits der Aufsatz von Detlef Kattinger: Die Verhandlungen zwischen König Albrecht von Mecklenburg, dem Deutschen Orden, dem Unionskönigtum und den Hansestädten um die Gotland-Frage. Eine Studie zum Kräfteverhältnis im Ostseeraum am Beginn des Unionszeitalters. In: Zenon Hubert Nowak (Hg.): Der Deutsche Orden in der Zeit der Kalmarer Union 1397–1521, Toruń 1999, 47–68. Vgl. dagegen den Text von Zenon Hubert Nowak im gleichen Band, der den Verhandlungen lediglich einen einzigen Satz widmete (Zenon Hubert Nowak: Die politischen Verhältnisse zwischen dem Deutschen Orden und den Staaten der Kalmarer Union. In: Ders. [Hg.]: Deutscher Orden, 33–45, hier 36). Werner Paravicini: Die Preussenreisen des europäischen Adels, 2 Bde. (Beihefte der Francia 17), Sigmaringen 1989/95.
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in geografischer Nachbarschaft zu den Ansiedlungen der Ordensherrschaft in Preußen und Livland. Das Interesse, vermutlich sogar aller beteiligten Konfliktparteien, war daher primär wirtschaftlicher Natur, denn gerade die Ordensgemeinschaft war Ende des 14. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Handelsgrößen im Ostseeraum aufgestiegen. Die Kontrolle über die Insel bzw. vor allem über die Hansestadt Visby bedeutete im Hinblick auf den Handel im Norden somit unter anderem die Kontrolle über Routen und die Nähe zu Märkten zwischen Schweden respektive Stockholm, Livland, Nowgorod und Preußen.11 Aufgrund dieser attraktiven Lage erwartete die Ordensseite daher bereits kurz nach der Übernahme Gotlands, dass daraus ein Konflikt erwachsen könnte. Unter diesem Vorzeichen schloss Hochmeister Konrad von Jungingen lediglich einen Monat nach Verpfändung am 24. Juni 1399 im Namen des Ordens eine friedliche Übereinkunft mit Erich von Pommern, König der Kronen Dänemark, Norwegen und Schweden: […] so habin wir noch rate vnd willen vnsirs rates vnd vnsir gebitiger gemacht eyne fruntschafft mynne eyntracht vnd synen gantzen frede tzu ewygen tzieten myt dem allirdurchluchsten forsten vnd herren Erych konyge der ryche Denemarken. Sweden. Vnd Norwegen. irer lande. vnd stete dorynne vnd sienen nochkomelingen konygen vnd den eren. Alzo das wir vnsir nochkomelinge vnd die vnsern der lande Prewsen vnd Lyflandt. Widder sie vnd die eren in keynerley wyese thun wellen ader sullen widder mit rate noch myt tate vnd ouch keynen kryg ader orloy mit in tzu habin.12
Dieser Friede ist dahingehend auffällig, weil der Orden ihn mit Erich von Pommern einging. Im Sommer 1399 war dieser zwar formell bereits seit zwei Jahren Unionskönig, allerdings hatte er die Mündigkeit noch nicht erreicht. Dementsprechend führte im Grunde genommen Margarethe von Dänemark Verhandlungen und schloss Verträge mit fremden Mächten, wie sich beispielsweise in einem zeitnahen Friedensschluss vom September 1399 mit den Städten Rostock und Wismar zeigt.13 11
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Siehe dazu u. a. Sylvain Gouguenheim: Les Chevaliers teutoniques, Paris 2007, 453. Nachdem Karl Knutsson die Insel 1449 erobert hatte, wurde zudem deutlich, dass sie auch strategisch günstig für Angriffe auf das Deutschordensland lag; vgl. dagegen Kattinger: Verhandlungen, 59, der in der Inbesitznahme den Versuch einer Einflussnahme auf die Politik der nordischen Reiche vermutet, und Eimers willkürliche Idee, wonach der Hochmeister ein eidgenössisches System auf Gotland begründen wollte, um das „Siebte Zeitalter“ beginnen zu lassen (Birgitta Eimer: Gotland unter dem Deutschen Orden und die Komturei Schweden zu Årsta, Innsbruck 1966, 326; vgl. dagegen Friedrich Benninghoven [Rez.]: „Birgitta Eimer, Gotland unter dem Deutschen Orden“. In: Hansische Geschichtsblätter 85 [1967], 235 f.; Hartmut Boockmann [Rez.]: „Birgitta Eimer, Gotland und dem Deutschen Orden“. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 25 [1969], 308). Andersen, Friedman, Nielsen (Hg.): Diplomatarium Danicum IV 7, 83, Nr. 76. Ebenda, 119 f., Nr. 106. In diesem Frieden werden den beiden auch alle Privilegien und Freiheiten in den drei skandinavischen Königreichen bestätigt, die sie auch bisher innehatten („Vnde de van Rostock vnde Wismar scolen bruken alle priuilegien vnde vryheyt de se van oldinghes in den dren riken Dennemarken Sweden vnde Norweghen ghebruket hebben“ [ebenda, 121, Nr. 106]).
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Mit dem Friedensschluss zwischen dem Orden und Erich war die Gotland-Frage jedoch nicht vorzeitig im Keim erstickt. Stattdessen wandte sich nun Margarethe von Dänemark, vermutlich in Gestalt ihres Kanzlers, nur wenige Monate später an Konrad von Jungingen, mit dem Ziel Gotland und Visby zu übernehmen. Dieser hingegen erwiderte ihr in seinem Antwortschreiben vom 25. Oktober 1399, dass man sich beraten habe und zu dem Entschluss gekommen sei, die Bitte an die Pfandgeber Albrecht und Johann von Mecklenburg weiterzugeben.14 In der Tat verfasste der Hochmeister noch am selben Tag ein entsprechendes Schreiben an Herzog Albrecht.15 Diese Entscheidung des Ordens erweckt wiederum nicht den Anschein, wonach dieser im Herbst 1399 ein Interesse daran gehabt hätte, den Forderungen in Bezug auf Gotland und die Stadt Visby nachzukommen. Die Auskunft, das Anliegen weiterleiten zu wollen, entspricht nunmehr eher einem Verzögern oder Hinauszögern und entsprach auf diese Art und Weise dem Vorgehen, das bereits an anderer Stelle, unter anderem in der Auseinandersetzung um die preußischen Friedensschiffe und die Kalmarer Bürger, auf Ordensseite zur Anwendung gekommen war. Zudem bedeutete das Miteinbeziehen der Mecklenburger unweigerlich, die Entscheidungsverantwortung an ebendiese abzugeben, allerdings entwickelte sich in der Folgezeit keine Kommunikation zwischen den Mecklenburgern und der Krone Dänemark, sondern jede Art von Korrespondenz lief über den Hochmeister, der wiederum Margarethes Schreiben an Albrecht weiterleitete und umgekehrt. Dennoch erbat sich der Hochmeister in einem Schreiben von Ende März 1400 an Margarethe Ort und Zeit für eventuelle Unterredungen bezüglich Gotland. Bei dieser Gelegenheit ließ er es sich jedoch nicht nehmen, auch auf die damaligen großen Anstrengungen des Ritterordens zu verweisen, die Insel von den Vitalienbrüdern befreit zu haben – „mit grose muge vnd mit vil arbeyt vnd koste“.16 Man habe sich das Besitzrecht sozusagen „erarbeitet“. Ein Jahr später wurde dieses Argument noch gesteigert, 14 15
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Ebenda, 128 f., Nr. 112. „Eynfeldige befelunge etcetera Allirdurchluchster forste vnd grosmechtiger gnediger herre Euwir grosmechtikeit geruche czu wissen das dy allirdurchluchste forstynne vnd frauwe koninginne von Denemark ire achtbare botschaft an vns gesant hatt sampt mit irer grosmechtikeit briefe des selbin vsschrifft wir euwir durchluchtikeit senden in desem briue vorlossen grosmechtiger gnediger herre noch werbe desselbin bothen vnd inhaldunge briefes dy grosmechtige frauwe koniginne vorgeschriben ansprucht vnd von vns heisschet das land czu Gotland vnd dy stadt Wysbu dy wir von euwir durchluchtikeit in vorsacczunge habin Worumb allirdurchluchster forste vnd grosmechtiger besunder herre euwer grosmechtikeit wir bitten luterlich das ir gnediger herre dasselbe landt czu Gotlandt vnd dy stad Wysbu vns geruchet ken der frauwen konignne czu fryen vnd czu vortreten mit recht nach inhaldunge euwir grosmechtikeit vorsegeltem briefe vns gegebin Vnd ab dyselbe fryunge vnd vortretunge mit rechte von euwir grosmechtikeit bynnen eyme iare nicht geschege des wir doch nicht en hoffen so wisse wuwir durchluchtikeit das wir denne musten doruff denken das wir teten dorynne do wir mogelich ane teten noch wuwir briue luthe vnd bitten euwir grosmechtikeit vns des eyne gnedige antwert widder czu schreiben Gegeben czu Marienburg am sonobunde vor Symonis et Iude apostolorum xcix iare“ (ebenda, 128 f., Nr. 113). Ebenda, 275, Nr. 278.
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indem er betonte, dass man im Grunde genommen gezwungen gewesen sei, einzugreifen und weitere Kaperfahrten zu unterbinden.17 Als man 1404 holländische und seeländische Handelsstädte für die eigene Sache gewinnen wollte, konkretisierte man diesen Handlungszwang weiter, sodass von Ordensseite betont wurde, wonach die Eroberung Gotlands durch den Orden zum Wohl des gemeinen Kaufmanns gewesen sei: „[…] wie das lant Gotlant an vns komen ist von deme der gemeyne kouffman swerlich beschediget wart von den zeherroubern, die dor offe logen das nymant czu herczen gyng noch nemen wolde.“18 Ungeachtet der Unterschiede in Detail und Intensität verteidigte der Orden seine Position auf Gotland, indem die Legitimation des Besitzanspruchs durch die eigene Leistung betont wurde. Keines dieser Schreiben lässt im Übrigen anklingen, dass die Ordensseite beabsichtigte, die Insel in naher Zukunft an jemanden zu übergeben.19 Vielmehr scheint man sich durch etwaige Verhandlungen mit den beteiligten Konfliktparteien – Kalmarer Union und Mecklenburg – erhofft zu haben, die Ansprüche Dänemarks endgültig abzuweisen.20 In einem Begleitschreiben aus dem Sommer 1400 an Albrecht von Mecklenburg beschwert sich Konrad von Jungingen daher nicht nur darüber, dass Margarethe ihm nun viel zu oft bezüglich der Bitte um Übergabe von Gotland geschrieben habe,21 sondern er formuliert im weiteren Verlauf des Briefes erneut die explizite Bitte, dass der Herzog den Orden vertreten und ihn von Margarethes Anspruch befreien möge.22 Diese Forderung zieht sich wie ein roter Faden durch 17
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„Irluchtir forste vnd herre wir vormuten vns wol das euwir herlichkeit nicht eigentlich wissentlich sey in welcher wise vnd wie das lant Gotlant an vns vnd an vnsern orden gekomen ist vnd was not vns do czu getwungen hat das wir vns des selben landes vndirwunden haben“ (20. Oktober 1401) (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [GStA PK], XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, OF 3, fol. 34v). Ebenda, fol. 74v; gleiche Argumentation im Schreiben an Margarethe: „[…] wend wirs innomen vmb frede vnd gemach vnser vnde des gemeynen koufmannes“ (20. Oktober 1401) (ebenda, fol. 34r). Vgl. auch einen Brief des Hochmeisters aus dem Jahr 1403: „[…] anders nicht begeren, denn das uns gehalden werde die vorschreibunge euwers brifes, der mit euwerm und euwir herlichkeit ritthern und knechten yngesegelen ist bevestent“ (Carl Silfverstolpe [Hg.]: Svenskt diplomatarium från och med år 1401, Bd. 1: 1401–1407, Stockholm 1875, 133, Nr. 2992). Zu dem Rückschluss, dass die „Hinhaltepolitik“ des Ordens auch auf einem gewissen Rückhalt durch den Schwaaner Vertrag und die Huldigungen Visbys beruhte, kam bereits Kattinger: Verhandlungen, 54. „[…] das dy hochwirdige frauwe koninginne alzo offte vnd vyl vny yo lenger y me vnd ernstlichir vns schribet vmb das landt czu Gotlandt“ (Andersen, Friedman, Nielsen [Hg.]: Diplomatarium, 317, Nr. 318). In einem undatierten Brief, vermutlich aus dem Jahr 1400, schreibt der Hochmeister an den Bürgermeister von Thorn, dass Margarethe täglich die Übergabe Gotlands beim Orden einfordere („Do bey wirt sein czu thunde / das man der konigynne von Denemarke entwerten moge vff ir ansproche die sie. teglich vff das landt thut vnd sende“ [ebenda, 468, Nr. 524]). Auch wenn Margarethe beharrlich ihren Anspruch formulierte, kann dieses „täglich“ wahrscheinlich als Übertreibung des Hochmeisters angesehen werden. „[…] alzo das euwir grosmechtikeit vns vnd vnsern orden vortreten vnd fryen welle / von der frauwen koninginne ansproche dy sie alzo ofte an vns tut von des selbin landes“ (ebenda, 317, Nr. 318).
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zahlreiche Schreiben des Hochmeisters.23 Gemäß der Verpfändungsurkunde aus dem Mai 1399 waren die Mecklenburger in der Tat dazu verpflichtet, Partei zugunsten des Ordens zu ergreifen, wenn dieser wegen Gotland verklagt oder angegriffen werden sollte.24 Die Aufforderung zur Stellungnahme gegenüber Margarethe fußte folglich auf diesem festgeschriebenen Verteidigungsanspruch, dem Albrecht jedoch bis zum Ende des Konflikts nicht nachkommen sollte.25 Trotz der Beschwerden des Ordens wurden die Verhandlungen um Gotland im Sommer 1400 schließlich konkreter. Am 1. August entsandte Konrad von Jungingen sogar seinen Großschäffer26 Johannes Tiergart27 zu Margarethe, der einen Brief von Albrecht von Mecklenburg überbringen und im Namen des Ordens die Verhandlungen um die Übergabe der Insel führen sollte. Dass Johannes Tiergart mit der Verhandlungsvollmacht ausgestattet und nach Dänemark geschickt wurde, kann als Hinweis verstanden werden, dass der Orden durchaus beabsichtigte, Gotland an Margarethe abzutreten, bzw. sich bemühte, zumindest den Anschein dieser Option zu wahren. Ungefähr zwei Wochen später scheint Tiergart ein weiteres Mal in den Norden gereist zu sein. Im Oktober 1400 erfolgte schließlich der Gegenbesuch von Margarethes Kanzler Jakob auf der Marienburg. In dieser Phase der Auseinandersetzung fanden demnach nicht mehr anonyme Boten, die Schreiben von A nach B transportieren, Verwendung,
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Unter anderem: „[…] vnd ouch das wir euwir durchluchtikeit alleczit vor czweyn iaren bis her gebeten haben vnd geschreb[en]geschreb[en] vmb vortretunge vnd fryhunge des landes vnd der stat czu Gotlandt als ir vns das pflichtig siet“ (28. Juli 1401) (GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, OF 3, fol. 32v). Andersen, Friedman, Nielsen (Hg.): Diplomatarium Danicum IV 7, 468, Nr. 524. Der Hochmeister bittet u. a. die Städte Wismar und Rostock um Unterstützung, damit Albrecht von Mecklenburg seinen Verpflichtungen in Bezug auf den Orden nachkommt (2. November 1401) (GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, OF 3, fol. 36r). Auf die diplomatischen Reisen des Großschäffers der Marienburg wies bereits Sattler Ende des 19. Jahrhunderts hin. Er begründete dies v. a. mit einem gewissen Geschäfts- und Verhandlungssinn, der mit diesem Amt verbunden gewesen sei (Christian F. Sattler: Einleitung. In: Ders. [Hg.]: Handelsrechnungen des Deutschen Ordens [Publication des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreussen], Leipzig 1887, VII–XLVI, hier X). Klaus Neitmann nannte den Großschäffer in der auswärtigen Politik lediglich eine „Randfigur“, deren Reiseaktivität auf wenige Handelsreisen beschränkt gewesen sei. Johannes Tiergart sei hingegen mit seiner regen diplomatischen Aktivität, besonders in Skandinavien, eine Ausnahme unter den Großschäffern des Ordens gewesen (vgl. Klaus Neitmann: Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen 1230–1449. Studien zur Diplomatie eines spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaates [Neue Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte 6], Köln/Wien 1986, 19 f.; Erich Maschke: Die Schäffer und Lieger des Deutschen Ordens in Preußen. In: Hamburger Mittel- und Ostdeutsche Forschungen 2 [1960], 97–145, hier 82). Tiergart begegnet in den Quellen u. a. als „Iohan Dyergharde“ oder „Iohan Dirgarde“. Wohl um 1380 geboren, stammte Tiergart aus einer Danziger Ratsherrenfamilie. Er studierte sowohl in Prag, Bologna als auch Leipzig (Hartmut Boockmann: Art. „Tiergart, Johannes“. In: Lexikon des Mittelalters 8 [1997], 767). Im Zeitraum von November 1394 bis Juli 1404 war Tiergart dann Teil von mindestens acht Gesandtschaften, die zu Verhandlungszwecken nach Dänemark gereist waren (Neitmann: Staatsverträge, 621–623).
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sondern enge Vertraute des Hochmeisters und der Königin, was als ein Argument für die Intensivierung der Verhandlungen angesehen werden kann.28 Dafür spricht ebenfalls die Information aus dem Brief des Hochmeisters, in dem dieser Margarethe zunächst für den Besuch ihres Kanzlers dankt, ihr bestätigt, dass Jakob ihre Botschaft vorgebracht habe und man ihm wiederum eine Botschaft des Ordens mitgegeben habe, damit er sie Margarethe sagen möge.29 Die Mündlichkeit des Austausches, wie von der Forschung oftmals betont, kann als weiteres Indiz für eine gewisse Wichtigkeit angesehen werden, da man auf diese Weise aller Wahrscheinlichkeit nach vermeiden wollte, dass der Inhalt in die falschen Hände geriet, weswegen man sie ausschließlich mündlich weitergab.30 Im gleichen Zeitraum verfasste Konrad von Jungingen jedoch auch erneut Briefe an Albrecht und Johann von Mecklenburg. Darin wiederholte er die Bitte, dass die Mecklenburger endlich gegenüber Margarethe Stellung beziehen mögen, da diese sich ein weiteres Mal wegen ihrer Gotland-Forderung an ihn und den Orden gewandt habe.31 Im gleichen Atemzug berichtet er dezidiert, womit diese Ansprüche der Krone Dänemark begründet wurden: Während im Februar 1400 lediglich ein undefiniertes „recht“ auf die Insel angeführt wurde,32 hieß es im Oktober 1400, dass laut Margarethe Gotland und Visby erblich bedingt zu ihrem Reich gehören würden.33 In der Tat war die Insel erst 1361 durch die Eroberungsleistung von Margarethes Vater, König Waldemar IV. Atterdag, in dänischen Besitz übergegangen. Die Legitimation über die vermeintliche Erblichkeit erfuhr am 30. August 1402 noch eine weitere Steigerung. Demnach habe
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Diese Intensivierung deutet auf diplomatischer Ebene auf eine gewisse Bedeutsamkeit und Aktualität der Gotland-Frage hin (Fritz Ernst: Über Gesandtschaftswesen und Diplomatie an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Archiv für Kulturgeschichte 33/34 [1951], 64–95, hier 81– 89). Inwieweit mindestens ein Zeldenpferd und Säbel als Geschenke Margarethes an den Hochmeister ebenfalls Teil ihrer Bemühungen um Gotland waren, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden (Andersen, Friedman, Nielsen [Hg.]: Diplomatarium Danicum IV 7, 396, Nr. 402). „Euwirn hochwirdigen gnaden czu wissen thun wy das her Iacob euwir grosmechtikeit kenczeler dy botschafft in vnser und vnser gebitiger kegenwertikeit eygintlich vorgebrocht […] canczeler vmme dy antwert dy her euwir grosmechtikeit widdir sagen wirt […]“ (ebenda, 397, Nr. 403). Martin Kintzinger: Europäische Diplomatie avant la lettre? Außenpolitik und internationale Beziehungen im Mittelalter. In: Christian Hesse, Klaus Oschema (Hg.): Aufbruch im Mittelalter. Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges, Ostfildern 2010, 245–268, hier 248, 259. Andersen, Friedman, Nielsen (Hg.): Diplomatarium Danicum IV 7, 399–401, Nr. 407 f. „Vnd vortret vns ernstlich in wenn sy vns dorumb ernstlich schribt vnd vordert das vorgenante land vnd stad von vns schribinde vnd entbytende das das landt mit rechte ir czugehort vnd irem ryche. Ouch so schribt gendiger herre vns euwirn wysen rat wy wir vns dorinne halden sollen“ (11. Februar 1400) (ebenda, 237 f., Nr. 248). „Vnser gnedige frauwe dy konigynne von Denemarkt icczunt czu desir cziet ire botschaft by vns hat gehat ernstlich von vns manende das landt Gotlandt vnd dy stad Wysbu sprechende wy das is erplich czu der cronen czu Denemarkt gehoren“ (Ende Oktober 1400) (ebenda, 400, Nr. 407).
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Margarethe behauptet, „das sie gots recht hette czum lande Gotlant alleine es ir were mit vnrechte abgedrungen“.34 Trotz der stetigen Erwähnung von potenziellen Verhandlungen und vorgeblichen Bemühungen um ebenjene gibt es keinen Hinweis darauf, dass der Deutsche Orden beabsichtigte, seinen Anspruch auf die Insel aufzugeben und somit der dänischen Argumentation der Erblichkeit und ihres vermeintlichen „göttlichen Besitzrechts“ zu folgen. Stattdessen verzögerten sich die Gespräche durch beispielsweise das Fehlen von Ordensangehörigen bei den Zusammenkünften wie Ende 1401 bei einem anberaumten Treffen in Kalmar. Der Orden erklärte die eigene Abwesenheit bei dieser Gelegenheit mit dem Umstand, dass die Zeit zwischen Ankunft des Briefes und dem angesetzten Treffen zu kurz gewesen sei bzw. die Jahreszeit sowie das Wetter nicht gepasst hätten.35 Nach mehreren solcher Verzögerungen und dem Verstreichen einiger Fristen, die Margarethe dem Orden gesetzt hatte, drohte die Krone Dänemark letztlich offen mit Krieg.36 Obwohl der Hochmeister an die Städte Wismar und Rostock appellierte, endlich Albrecht zur Hilfe zu animieren, um eine kriegerische Auseinandersetzung im Hinblick auf die Insel und die vermeintlichen Folgen eines solchen Kampfes zu verhindern,37 muss dem Orden spätestens im Jahr 1403 bewusst geworden sein, dass der Kampf um Gotland unvermeidlich sein würde, denn Margarethe stellte ihr finales Ultimatum bis zum Martinstag und den Angriff ihrer Truppen und der ihrer Verbündeten in Aussicht.38 Im September 1403 erging dementsprechend sogar eine Vorwarnung des Hochmeisters an den Vogt auf Gotland, wonach dieser sowohl die Bürger als auch die Bauern der Insel zur Vorsicht mahnen sollte.39 Der Orden zeigte sich demnach
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GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, OF 3, fol. 45v. „Allerdurchluchte frowe die czeit czwuschen der bottschaft an vns geschen vnd allerheiligen tage nehest komende vns alczukurcz dunket vns is dorczu das wir vnserer gebitiger einen ader czwene mit nicht auch vmb vnczeitikeit der czeit vnd des weters mogen obirsenden ken Calmar euwir stat noch euwir grosmechtigen begerungen sundir wir bitten mit allem flisse das euwir hochwirdige gnade lasse die botschaft geduldeclich besteen bis czu offentagen als czu Philippi vnd Iacobi nestkemmende so wellen wir gerne vnsere erbaren bothen czu euwir allirdurchluchtikeit obirsenden“ (20. Oktober 1401) (ebenda, fol. 34r); Gleiches klingt auch ebenda, fol. 32v, an. Der Hochmeister hatte diese Option jedoch oftmals im Blick gehabt und dementsprechend u. a. an Albrecht von Mecklenburg kommuniziert: „[…] vnd des selben sie vns ouch ire briffe gesant haben vns hertlich dorinne manende vnd wo wir im des landes nicht abetreten so sprechen sie alsampt sie wellen alle ire frunde czu irre hulfe czien als lange bis in Gotlant wedir wirt das euwir grosmechtikeit wol dirkennen mag. […] Dorumme so mogt ir mit ernste vorder do czu denken vnd dirkennet was truwe vnser orde by euch getan hat vnd was wir iczunt vmb euwirn willen lyden mussen vnd vortreet vns noch von des landes wegen off das wir vngemanet bliben wend vns nicht steet mit den dryn richen. vnd mit andern herren die sich do czu czien eynen krig anczuslaen“ (2. November 1401) (ebenda, fol. 35v). Ebenda, fol. 70v. Der Hochmeister leitete diese Information am 27. September 1403 u. a. an Herzog Albrecht und die Städte Wismar und Rostock weiter (ebenda, fol. 66v, 70v, 70r). „Dorvmbe lieber her foyth bitten wir euch mit sunderlichem flisse begerende das ir mit aller sorgueldikeit czu der stat vnd czu dem lande sehet vnd beyde die burger vnd ouch die bunden vorma-
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durchaus verantwortlich für die Einwohner der Insel, was zusätzlich dadurch belegt wird, dass man sich nach der Übereinkunft mit Unionskönig Erich an die Stadt Visby wandte und sie bat, Abgesandte zu den weiteren Verhandlungen zu schicken, damit ihre Freiheiten bestätigt und „das euch vorgeben sey alle vngnade“.40 Mit Ende des Jahres 1403 bzw. Beginn des neuen Jahres 1404 griff ein dänisch-schwedisches Heer schließlich den Orden auf Gotland an.41 Erst nach einer langen Phase intensiven brieflichen Austauschs und Verhandlungen mitsamt der Vermittlung vor allem der preußischen Städte, die jedoch ohne zufriedenstellendes Ergebnis blieb, wurde der bewaffnete Konflikt als Mittel herangezogen. Die Kämpfe dauerten allerdings nicht lange an. Am 16. Mai 1404 einigten sich zunächst die dänischen Ritter Algut Mangnusson, Mangnus Stuer, Otto von Peccatel, Knut Akesson und fünf Knappen mit den Vertretern des Ordens in Slite auf einen dreiwöchigen Waffenstillstand, damit man an Margarethe schreiben könne, um das weitere Vorgehen mit ihr abzustimmen.42 Durch zeitnahe Vermittlung des Bürgermeisters von Lübeck, Jordan von Pleskau, des Bürgermeisters von Stralsund, Wulf Wuflam, und des Ratsmanns Ludwig Neukirch aus Greifswald (als „sendeboten“ bezeichnet) erfolgte am 1. Juli 1404 in Visby die Einigung über einen einjährigen Waffenstillstand zwischen der Kalmarer Union43 und dem Deutschen Orden.44 Die Beteiligung von Außenstehenden im Vorfeld und in dieser Situation überrascht nicht, denn Grenz- bzw. Zugehörigkeitskonflikte beschäftigten nicht nur die unmittelbaren Konfliktparteien, sondern gleichsam die Nachbarn oder in
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net vnd bittet das sie sich ernstlich vorsehen vnd also ire ding schicken ap sie eyngerley ynvelle haben wurden das sie gewarnet sein vnd unbeschediget bliben vnd thut euwern flys also do bie als wir vns genczlich vff euch vorlassen Was wir in ouch huflich vnd retlich mogen sein das wellen wir gerne thun noch deme als wir von in vndirwiset werden“ (um den 27. September 1403) (ebenda, fol. 71r). GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, OF 3, fol. 154v; Vorsorglich war bereits in der Übereinkunft vom 15. Juni 1407 der folgende Paragraf eingefügt worden: „Vnde offte de vorbenomede here koning edder iemant in synen dren riken ienegherleie wedderwillen edder vmmoet hadde to den ynwonren des landes Gotland vnde der stad Wisby wente to desseme daghe dat schal gentzlik affgelecht vnde vorgheuen syn ane alle arch.“ (GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, Schieblade 79, Nr. 6.). Der Hochmeister berichtet über den Angriff des Königsreichs Dänemark auf die Insel an die Hansestädte wie folgt: „wol habt vornomen so thu wir euwir allir fruntschaft nv czu wissen das der selben frowen koningynnen von Denenmarkt macht vnd manschaft das lant Gotlant mit gewalt obiruallen vnd vmmelegen haben vnd den luten beide off dem lande vnd yn der stat die vns gesworn vnd geholdet haben sulch iamer gwalt vnd wedirdris czu czihn das wir euch mit leide schreiben vnd das mit eren nicht gelassen mogen wir mussen sie entsetczen vnd retten“ (31. Januar 1404) (GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, OF 3, fol. 74r). Siehe auch ein sehr ähnliches Schreiben an die „alderluten des gemeyne kouffmannes czu Brugge“ vom gleichen Tag (ebenda, fol. 156). Weise: Staatsverträge I, 28 f. Im Text sind explizit alle drei Reiche angesprochen. Weise: Staatsverträge I, 29–31.
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diesem Fall die Ostseeanrainer. Gerade in einem engen, ambitionierten, geografischen Raum, wie der Ostsee, waren Kontakt und indirekte Betroffenheit unvermeidbar.45 Obwohl die einjährige Waffenruhe mit der Bedingung verbunden war, innerhalb der Frist eine Tagfahrt zu Skanör oder Kalmar stattfinden zu lassen, um eine Einigung hinsichtlich Gotlands und Visbys zu erzielen,46 trat Albrecht von Mecklenburg erst eineinhalb Jahre später, am 25. November 1405, von seinen Ansprüchen auf die Insel zurück. Er übergab diese an Erich von Pommern und entließ gleichzeitig den Hochmeister mitsamt dem Deutschen Orden von allen Forderungen Gotland betreffend.47 Zwar forderte Albrecht den Hochmeister auf, die Insel an die Union zu übergeben, jedoch verzögerte sich dies, bedingt auch durch das langsame Agieren des Ordens. 1406 erhöhte daher Unionskönig Erich den Druck, doch wählte er, im Gegensatz zu Margarethe, den indirekten Weg, indem er der Union, bestehend aus dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen, ein gemeinsames Bündnis anbot und sich deren Hilfe gegen den Deutschen Orden erbat. Die Reaktionen auf dieses Angebot vielen verhalten aus, allerdings scheint allein die Bereitschaft Erichs, sich mit dem unmittelbaren Konfliktgegner des Hochmeisters einzulassen, diesen zum rascheren Handeln gedrängt zu haben. Eine abschließende Einigung zwischen der Krone Dänemark und dem Deutschen Orden erfolgte wiederum zwei Jahre später. Gegen eine Geldzahlung von 9.000 englischen Nobeln trat man die Ansprüche auf Gotland und Visby ab.48 Das letztliche Einlenken des Ritterordens kann vermutlich als Notwendigkeit angesehen werden, da sich zeitgleich die Beziehungen zur Union Polen-Litauen weiter verschlechterten. Durch die Beendigung des Gotland-Konflikts wurde zumindest eine Auseinandersetzung in der unmittelbaren Nähe zum Orden entschärft. Der Wechsel an der Spitze des Deutschen Ordens, denn 1407 war Ulrich von Jungingen seinem Bru-
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Siehe dazu u. a. in Auswahl: William Christensen: Unionskongerne og hansestæderne 1439– 1466, Diss. Kopenhagen 1985; Roman Czaja: Preußische Hansestädte und der Deutsche Orden. Ein Beitrag zu den Beziehungen zwischen Stadt- und Landesherrschaft im späten Mittelalter. In: Hansische Geschichtsblätter 118 (2000), 57–76; Günter Ketterer: Die Hanse und der Deutsche Orden unter den Hochmeistern Heinrich von Plauen und Michael Küchmeister (1410–1420). In: Hansische Geschichtsblätter 90 (1972), 15–39; Zenon H. Nowak: Rechtliche und politische Beziehungen zwischen dem Deutschen Orden und der Hanse. In: Ders., Janusz Tandecki (Hg.): Die preußischen Hansestädte und ihre Stellung im Nord- und Ostseeraum, Thorn 1998, 15–24; Henryk Samsonowicz: Der Deutsche Orden und die Hanse. In: Josef Fleckenstein, Manfred Hellmann (Hg.): Die geistlichen Ritterorden Europas (Vorträge und Forschungen. Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte 26), Sigmaringen 1980, 317–328. „Binnen deßem vorgeschreben frede sal man einen bequemelichen tag czu Schonore ader czu Calmarn vorromen, czu vorsuchinde, ap unser homeister und der orden mit dem vorgeschreben herren koninge und der frawen koniginnen umb das land Gotland und die stad Wysbu in guten und fruntschaft entrichtet konnen werden“ (Weise: Staatsverträge I, 30). Vgl. ebenda, 54; Silfverstolpe (Hg.): Svenskt Diplomatarium I, 507, Nr. 668; Rydberg (Hg.): Sverges Traktater II, 615, Nr. 436. Weise: Staatsverträge I, 54 f.
Zwischen erobertem und ererbtem Besitzanspruch
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der Konrad nachgefolgt, spielte aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls eine wichtige Rolle in der abschließenden Klärung der Frage um die Zugehörigkeit Gotlands.49 In Gesamtschau des Konflikts sei abschließend nochmals auf die unterschiedlichen Besitznarrative verwiesen: Rückgabe, Erblichkeit und das göttliche Anrecht auf Seiten der Krone Dänemarks, die Eroberungsleistung auf Seiten des Deutschen Ordens, demnach zwei unterschiedliche, nicht zwingend gegensätzliche Narrative, mit denen der eigene Anspruch auf Gotland gegenüber dem jeweiligen Konfliktgegner legitimiert wurde. In seiner Dimension stellte der Gotland-Konflikt jedoch nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen zwei bzw. drei Parteien dar, sondern bildete durch seine Situierung inmitten der Ostsee einen Konflikt, der zahlreiche Anrainer indirekt oder sogar direkt in der Rolle des Vermittlers betraf. Um den langwierigen Konflikt und die damit verbundenen Argumentationen demnach vollumfänglich abbilden zu können, bedürfte es im Grunde genommen der Ergänzung um weitere Sichtweisen. Gleiches gilt für die Bevölkerung auf Gotland und besonders in Visby, die in weiterführenden Untersuchungen eingänglicher betrachtet werden müsste. Die erwähnte Fürsorgeabsicht des Ordens diesen gegenüber scheint auf den ersten Blick in die Quellen auch nicht ohne eigene Konflikte gewesen zu sein, denn sie scheiterte offenkundig bisweilen an der Kostenfrage. Der Orden wollte unter anderem für die Versorgung von 85 bewaffneten und vor Ort auf Gotland stationierten Männern nicht selbst aufkommen, sondern überließ die Bezahlung von Kost und Logis den Einwohnern Visbys.50 Dementsprechend wandte man sich an den Orden und erbat, diese Söldner abzuziehen, um Geld einzusparen. Die Reaktion auf Seiten der Marienburg kann mitunter als patzig bezeichnet werden und äußerte sich besonders in einem Schreiben an die Einwohner Visbys, wonach man erklärte, dass man die Männer abziehen könne, man in diesem Fall aber im Voraus bereits alle Schuld von sich weisen wolle, falls Visby angegriffen werde und der Orden nicht schnell genug vor Ort sein könne, um Hilfe zu leisten.51 Und trotz dieses Vorfalls wandte sich Visby nach Abschluss der Verhandlungen und Übergabe an die Krone Dänemark an den Orden, um augenscheinlich in deren Besitz zu bleiben.52
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Vgl. u. a. Mikael K. Hansen: Die Kalmarer Union und der Deutsche Orden 1410–1423. Die Estlandfrage. In: Forschungen zur Baltischen Geschichte 4 (2009), 11–39, hier 12; Friedrich Benninghoven: Die Gotlandfeldzüge des Deutschen Ordens 1398–1408. In: Zeitschrift für Ostforschung 13 (1964), 421–477; Neitmann: Staatsverträge, 158–162. Aufforderung des Deutschen Ordens an Gotland vom 23. September 1401 (http://diplomatarium. dk/dokument/14010923001, letzter Zugriff: 01.10.2021). Silfverstolpe (Hg.): Svenskt Diplomatarium I, 233, Nr. 311. „[…] bittende flislich das wir euch nicht obirgeben welden wendt ir gerne getrulich by vns bliben wold“ (GStA PK, XX. HA Historisches Staatsarchiv Königsberg, OF 3, fol. 120r) und „Off desse cziet synt bey vns gewest mit eyme credencien brieffe euwer sendeboten die wir gutlich vorhort habin vnd noch deme als sie von euwer wegen an vns haben gebrocht wie ir gerne by vns blieben wellet etcetera das danken wir euch fliesseclich als vnsern lieben getruwen vnd so vil an vns ist
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Der Konflikt um Gotland blieb letztendlich auch nicht die einzige Auseinandersetzung um Zugehörigkeiten zwischen Orden und Union. Nach der Schlacht von Tannenberg nutzten Margarethe und Erich die Schwäche des Deutschen Ordens und forderten das ehemalige dänische Herzogtum Estland zurück.53 Anders als Gotland hatte man dieses Gebiet allerdings bereits 1346, folglich unter Margarethes Vater Waldemar IV. Atterdag, gegen eine Zahlung an den Orden veräußert.54 Durch die Ordensniederlage bot sich jedoch eine andere, durchaus günstigere Ausgangslage für Verhandlungen als im Fall Gotlands. Zur Person: Laura Potzuweit ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und Früher Neuzeit an der CAU zu Kiel. Sie promoviert aktuell zum Thema „Zwischen dynastischer Räson und persönlicher Motivation. Fürstliche Witwer und ihre Handlungsspielräume im spätmittelalterlichen Reich (1250–1550)“. Laura Potzuweit M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Abteilung für Regionalgeschichte, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
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hetten wirs mit fugen vnd mit eren mocht getun wir hetten euch mit nichte obirgeben“ (ebenda, fol. 154v). Erstmals 1414, was Hochmeister Michael Küchmeister ablehnte, und dann wiederum im Jahr 1415 (vgl. Vilho Niitemaa: Der Kaiser und die nordische Union bis zu den Burgunderkriegen [Annales Academiae Scientiarum Fennicae ser. B CXVI], Helsinki 1960, 125 f.; Kristian Erslev: Erik af Pommern, hans kamp for Sonderjylland og Kalmarunionens opløsning, Kopenhagen 1901, 77–80). Der Verkauf erfolgte am 29. August 1346 für 19.000 Mark Silber (Carl A. Christensen: Diplomatarium Danicum, III. Reihe, 2. 1344–1347, Kopenhagen 1959, Nr. 273). Die Kalmarer Union hielt den Verkauf für ungültig, da ein Gebiet lediglich auf Lebenszeit verliehen, nicht aber verkauft werden könnte. Gemäß Riis verfolgten Erich und Margarethe mit Estland sowohl eine Verbesserung der finanziellen Situation Dänemarks als auch eine symbolische Wiederherstellung der Integrität des Reiches, wie auch Margarethes Ausgreifen nach Schleswig beweise (Thomas Riis: Der polnisch-dänische Vertrag 1419 und die Vormachtstellung im Ostseegebiet. In: Ders. [Hg.]: Studien zur Geschichte des Ostseeraumes I, Odense 1995, 67–78, hier 71).
Up ewig ungedeelt oder wiedervereinigt? Schleswig-Holstein und Dänemark zwischen Bürgerkrieg und demokratischer Volksabstimmung 1848 bis 1920/2020 Caroline Elisabeth Weber Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 43–58
Up ewig ungedeelt or reunited? Schleswig-Holstein and Denmark between Civil War and Democratic Referendum 1848 to 1920/2020 Kurzfassung: Nachdem der Bürgerkrieg 1848 noch keine Veränderung der Herrschaftsverhältnisse nach sich zog und 1864 der König von Dänemark seine Ansprüche an Schleswig und Holstein zwar abtrat, die Grenzfrage aber nicht eindeutig geklärt wurde, entschieden zwei Volksabstimmungen 1920 über den deutsch-dänischen Grenzverlauf. Anlässlich des Jubiläums 2020 betrachtet die Autorin die auf deutscher wie dänischer Seite noch heute zu findenden regionalen, nationalen und protonationalen Zugehörigkeitsnarrative, wonach zum Beispiel in Dänemark 1920 als ein Zurückkommen der Bevölkerung bzw. eine Wieder-Vereinigung mit Nordschleswig verstanden wurde, obgleich das Herzogtum zuvor nie Teil des dänischen Königreiches war. Schlagworte: Grenze, Dänemark, Schleswig, Narrative, Volksabstimmungen, Minderheiten Abstract: After the civil war of 1848 did not result in any change in the ruling relationships and in 1864 the King of Denmark ceded his claims to Schleswig and Holstein; however, the border issue was not clearly resolved, two referendums in 1920 decided on the course of the German-Danish border. On the occasion of the 2020 anniversary, the author considers the regional, national and protonational narratives of belonging that can still be found today on both the german and danish sides, according to which, for example, in Denmark 1920 was understood as a return of the population or a reunification with Northern Schleswig, although the duchy had never been part of the Danish kingdom before. Keywords: border, Denmark, Schleswig, narratives, referendum, minorities
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1. 100+1 Jahr Deutsch-Dänische Grenze. Zur Einstimmung Am 13. Juni 2021, 100 und 1 Jahr nachdem die auch heute bestehende Grenze zwischen dem Königreich Dänemark und dem Deutschen Reich gezogen worden war, besuchten der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (*1956) und die dänische Königin Margarethe II. (*1940) gemeinsam das dänische Nordschleswig und statteten insbesondere der dort heimischen deutschen Minderheit einen Besuch ab.1 Anlass der Reise waren die aufgrund der Covid-19-Pandemie verschobenen Festlichkeiten zum 100. Grenzjubiläum. Dem Jahr 2020 waren beiderseits der Grenze mehrjährige Planungen vorangegangen und zumindest versucht worden, die Feiern zu einer gemeinsamen deutsch-dänischen Angelegenheit zu machen. Auffällig war dabei, dass die dänischen Planungen unter dem Schlagwort „Genforeningen“, also „Die Wiedervereinigung“, standen, wohingegen die deutsch-schleswig-holsteinischen Akteure das Motto „Gemeinsam über Grenzen. 100 Jahre Volksabstimmungen“ wählten. Zudem sollte 2020 den Geburtstag der beiden nationalen Minderheiten nördlich und südlich der Grenze feiern und es wurde erstmals ein bilaterales „Kulturelles DeutschDänisches Freundschaftsjahr“ zwischen Kopenhagen und Berlin ausgerufen. Was schon in dieser Aufzählung umständlich und wenig koordiniert klingt, zeigte sich dann auch in der Praxis, denn obwohl regional und national die Kalender synchronisiert, deutsch-dänische Komitees gegründet und Webseiten mehrsprachig angeboten wurden, feierte Dänemark „Die Wiedervereinigung“ als nationales Großevent mit einem glamourösen Auftakt in Kopenhagen und versuchten die Akteure südlich der Grenze eifrig, das „Gemeinsam über Grenzen“ zu betonen.2 Auch wenn es im Vorfeld nicht gelungen war, ein gemeinsames Veranstaltungsmotto zu finden, sind das grenzüberschreitende Engagement und die vielen gemeinsam geförderten Projekte beeindruckend, zumal sie in toto zu einer Reaktivierung des 1
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Siehe exemplarisch die Berichterstattung des NDR (Norddeutscher Rundfunk) vom 14. Juni 2021 (https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Ein-grosser-Tag-fuer-die-DeutscheMinderheit-in-Daenemark,steinmeier994.html, letzter Zugriff: 19.12.2021), des SHZ (SchleswigHolsteinischer Zeitungsverlag) vom 13. Juni 2021 (https://www.shz.de/regionales/grenzlanddaenemark/Steinmeier-und-Koenigen-Margrethe-in-Nordschleswig-Wo-Nationalitaeten-sich-er gaenzen-statt-zu-trennen-id32559687.html, letzter Zugriff: 19.12.2021), des DW online (Deutsche Welle) vom 13. Juni 2021 (https://www.dw.com/de/deutschland-und-d%C3%A4nemark-feierngrenzziehung/a-57874850, letzter Zugriff: 19.12.2021) sowie die Ankündigung des Dänischen Königshauses (https://www.kongehuset.dk/nyheder/genforeningsfejring-den-13-juni, letzter Zugriff: 19.12.2021). Von dänischer Seite erschien im Vorfeld des Jubiläums ein Programmband, der zumindest die Highlights der Veranstaltungen, jeweils mit kurzen Informationstexten versehen, zu sortieren versuchte. Im Nachgang erschien ein zweiter Band, in dem es auf wundersame Weise gelungen ist, die Grenzschließungen fast gänzlich auszublenden und das Jubiläum durchweg als Erfolg darzustellen: Programmbogen Genforeningen 2020. Udgivet af Sekretariat for Genforeningen 2020 ( Januar 2020), Auflage: 5.250 Stück, und Jubilæumsbogen 2020. Udgivet af Sekretariat for Genforeningen 2020 ( Juni 2021), Auflage: 2.000 Stück.
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wechselseitigen Kontakts beitragen sollten. Allein die Veranstaltungsdichte im Januar 2020, als noch alle Termine durchgeführt wurden, zeigt die Idee von 2020: Menschen beiderseits der Grenze und aus allen Bereichen von Kultur, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft sollten sich immer wieder auf unterschiedlichen Events begegnen und ins Gespräch kommen. Mit der Pandemie und den über Nacht geschlossenen Grenzübergängen kam jegliche Festlichkeit zum Erliegen, und auch wenn der Sommer 2020 eine kurzzeitige Erholungsphase bot, blieben die Grenzen bis weit ins Jahr 2021 für viele Reisende gen Norden, wie überhaupt im gesamten Schengenraum und natürlich auch darüber hinaus, geschlossen und hinterließen die Bilder von Polizisten an verbarrikadierten Grenzübergängen in Schleswig mehr als einen üblen Beigeschmack bei allem Reden über deutsch-dänische Freundschaft und 100 Jahre Gemeinsamkeit. Der gewohnte Alltag mit einem unkomplizierten Pendeln zwischen zwei Staaten und deren Infrastrukturen (etwa Arbeitsplatz, Schul-, Kita- und Arztbesuch sowie natürlich Einkauf und Grenzhandel) war plötzlich nicht mehr möglich, zudem trennte die Grenze in vielen Fällen Familienangehörige, die sich nun erst mit großem bürokratischem Aufwand besuchen konnten.3 Dass Dänemark unmittelbar vor dem feierlichen Grenzjubiläum 2019 einen Zaun zum Schutz vor Wildschweinen entlang der Landgrenze aufgestellt hatte – hier wurde Pandemiebekämpfung bisher erfolgreich durch Grenzbarrieren in Kombination mit der Ausrottung freilebender Wildschweine durchgeführt und die Afrikanische Schweinepest hat es im Königreich schwer – spielt Kritikern des Narratives von „gemeinsam über offene Grenzen“ extrem zu.4 Der Schleswig-Holsteinische Landtagsabgeordnete des Südschleswigschen Wählerverbundes (SSW), Flemming Meyer (*1951), fasste die Bedeutung des Wildschweinzaunes für die Region mit den Worten zusammen: „Wenn man weiß, wie schwer es ist mentale Grenzen einzureißen, so tut es weh zu sehen, dass wieder eine physische und sichtbare Barriere errichtet wurde.“5 In meinem Beitrag möchte ich vor diesem Hintergrund, der gewissermaßen auch den Anstoß zu unserer Sektion beim 31. Deutschen Historikertag mit dem Oberthema „Deutungskämpfe“ gegeben hat – wohlgemerkt vor Corona und dem damit einhergehenden Boom um Grenzen –, die lange Tradition von Wiedervereinigungsnarrati3
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Martin Klatt: The Danish-German Border in Times of Covid 19. In: Borders in Globalization Review 2/1 (2020), 70–73; Ruairidh Tarvet, Martin Klatt: The impact of the Corona crisis on borderland living in the Danish-German border region with a special focus on the two national minorities. In: National Identities (2021), https://doi.org/10.1080/14608944.2021.1938522, letzter Zugriff: 19.12.2021. https://naturstyrelsen.dk/naturbeskyttelse/naturprojekter/vildsvinehegn/, letzter Zugriff: 19.12.2021. Flemming Meyer: „Når man ved, hvor svært det er at nedbryde de mentale grænser, så gør det ondt at se, at der igen bliver bygget en ny fysisk og synlig barrier“. Zitiert nach Merlin Christophersen: Vildsvinehegnet vækker stærke følelser i Tyskland. In: Magasinet Grænsen 5 (2019), https://graenseforeningen.dk/magasinet-graensen-nr-5-oktober-2019/vildsvinehegnet-vaekkerstaerke-foelelser-i-tyskland, letzter Zugriff: 19.12.2021 [deutsche Übersetzung der Verfasserin].
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ven und Deutungskämpfen in der deutsch-dänischen Grenzregion skizzieren und die jeweiligen Legitimationsansätze sichtbar machen. Mein Text beginnt mit einem historischen Teil, in dem es um die Grenzverschiebungen und den damit verbundenen Narrativen zwischen 1848 und 1920 geht. Daran schließt ein Part an, der der Meistererzählung von 100 Jahren demokratisch bestimmter Grenze ein paar zumeist ausgelassene Geschichten hinzufügt, um somit auf die Schwierigkeiten geschlossener Erzählungen aufmerksam zu machen. Auf diese Weise sollen Potenziale von historisch fundierter, aufmerksamer Beobachtung und Kommentierung gegenwärtiger Geschichtsvermittlung aufgezeigt und auf die Notwendigkeit mitunter neuer Narrative von Grenzregionen aufmerksam gemacht werden. 2. Up ewig ungedeelt. Schleswig-Holstein und Dänemark 1848–1920 Der Bürgerkrieg von 1848,6 als Schleswig-Holsteinische Erhebung oder Aufruhr bekannt, sollte für Teile der gesamtstaatlichen Bevölkerung staatliche Souveränität und eine Loslösung von der dänischen Krone erzwingen. Immer wieder waren im Verlauf des 19. Jahrhunderts Ideen von einem gemeinsamen und ungeteilten Schleswig-Holstein aufgetaucht, die aber nur einen Teil der zeitgenössischen Ideenwelt ausmachten und neben weiteren Zugehörigkeitsgefühlen existierten. Vor einem nationalen Narrativ definierten sich viele Menschen in den Herzogtümern zunächst als Schleswiger oder Holsteiner, ein Verständnis als Untertan des dänischen Königs konnte ohne Weiteres mit einem hochdeutsch-, plattdeutsch-, friesisch- oder dänischsprachigen Alltag einhergehen.7 Unterstützt durch die Nationalisierungstendenzen in den deutschen Ländern erstarkte in den Herzogtümern, besonders innerhalb der liberalen Bürgerund Professorenschaft in Kiel, die politische Forderung nach Unabhängigkeit und eine wie auch immer geartete schleswig-holsteinische Identität wurde über gesamtstaatliche Identitäten gestellt.8
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Inge Adriansen, Jens Ole Christensen: Der Erste Schleswigsche Krieg 1848–1851: Vorgeschichte, Verlauf und Folgen, Sonderburg 2015. Der Band erschien auf Dänisch, Deutsch und Englisch; Martin Rackwitz: Märzrevolution in Kiel 1848: Erhebung gegen Dänemark und Aufbruch zur Demokratie (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 68), Heide 2011; zu den verschiedenen Deutungen Claus Møller Jørgensen: Art. „Året 1848 og overgangen fra enevælde til indskrænket monarki“. In: Danmarkshistorien online, zuletzt redigiert am 11. Mai 2021, https://danmarkshistorien.dk/vis/materiale/1848/, letzter Zugriff: 19.12.2021. Steen Bo Frandsen: Holsten i helstaten. Hertugdømmet inden for og uden for det danske monarki i første halvdel af 1800-tallet, Kopenhagen 2008; Lars N. Henningsen: Unter Dänemark. In: Ders. (Hg.): Zwischen Grenzkonflikt und Grenzfrieden. Die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein in Geschichte und Gegenwart (Studieafdeling ved Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig 65), Flensburg 2011, 11–48, hier 20–32. Lena Cordes, Jelena Steigerwald: Die politische Rolle der Kieler Professoren zwischen der schleswig-holsteinischen Erhebung und der Reichsgründung. In: Oliver Auge, Swantje
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Als bekanntestes Symbol wurde die „Doppeleiche“ meist gemeinsam mit der Parole „up ewig ungedeelt“ vermarktet. Dieses politische Schlagwort gilt als Wiederentdeckung des Ripener Privilegs, das der dänische König Christian I. 1460 in Ribe/ Ripen mit der Schleswig-Holsteinischen Ritterschaft ausgehandelt hatte. Der König wurde zum Herzog von Schleswig und Grafen von Holstein gewählt, der regionale Adel wurde in seinen Privilegien bestätigt und die Selbstständigkeit der Herzogtümer gegenüber dem Königreich betont. Die Juristen und Historiker der Kieler Universität sahen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der heruntergebrochenen Formel „up ewig ungedeelt“ eine Legitimation für einen souveränen Staat Schleswig-Holstein, besonders gegenüber dänischen Bestrebungen, Schleswig per Verfassung in das Königreich einzugliedern. Die Parole war in keinem vorherigen Jahrhundert aufgetaucht, ist aber seit dieser Zeit Teil des kulturellen Gedächtnisses in Schleswig-Holstein.9 Bis die Eiche vom Bild zum realen Baum wurde, dauerte es in den meisten Fällen bis zum 50. Jahrestag der „Erhebung“ und so wurden im Jahr 1898 viele hundert Doppeleichen in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein gepflanzt. Zu diesem Zeitpunkt war „up ewig ungedeelt“ längst Teil der regional-deutschen Identität geworden, schließlich war es den Herzogtümern vergönnt gewesen, trotz preußischer Herrschaft eine gemeinsame Provinz zu sein.10 Die Niederlage von 1848 wurde in einen Sieg durch Preußen 1864 umgedeutet. Dass die Doppeleichen hauptsächlich in preußischer Zeit gepflanzt wurden, liegt auch daran, dass sie unmittelbar nach dem Bürgerkrieg als Symbol des Aufruhrs nicht geduldet und viele der erst 1848 gepflanzten Bäume unmittelbar nach Kriegsende gefällt wurden. Auch das Singen des noch heute populären Schleswig-Holstein Liedes von 1844, in dem die Eiche ebenfalls Platz fand, wurde ab 1850 untersagt. Heute stehen im gesamten Bundesland noch etwa 100 Doppeleichen, wobei die Bäume mehr lokalen Charme als Nationalstolz ausdrücken.11
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Piotrowski (Hg.): Gelehrte Köpfe an der Förde: Kieler Professorinnen und Professoren in Wissenschaft und Gesellschaft seit der Universitätsgründung 1665, Kiel 2014, 139–180. Siehe dazu die Beiträge in Oliver Auge, Burkard Büsing (Hg.): Der Vertrag von Ripen 1460 und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa: Ergebnisse einer internationalen Tagung der Abteilung für Regionalgeschichte der CAU zu Kiel vom 5. bis 7. März 2010, Ostfildern 2021, und hier besonders Lena Cordes: Vom Zeugnis schleswig-holsteinischer Einheit zum Symbol für Frieden, Recht und Freiheit: Der Vertrag von Ripen als Erinnerungsort des Bundeslandes Schleswig-Holstein (bis 1960), 221–242. Siehe dazu überblickartig Martin Göllnitz: Pflichthochzeit mit Pickelhaube? Versuch einer Synopse. In: Oliver Auge, Caroline Elisabeth Weber (Hg.): Pflichthochzeit mit Pickelhaube. Die Inkorporation Schleswig-Holsteins in Preußen 1866/67, Berlin 2020, 251–272, sowie insgesamt den genannten Sammelband. Henning Unverhau: Schleswig-Holsteinische Symbolik: Fahne, Wappen, Hymne und Schlagwort. In: Jens Ahlers (Hg.): Auf Bruch & BürgerKrieg: Schleswig-Holstein 1848–1851. Ausstellungskatalog, Kiel 2021, 92–115; Inge Adriansen: Denkmal und Dynamit, Denkmälerstreit im deutsch-dänischen Grenzland, Neumünster 2011, 15 f. Siehe auch das Schlagwort „Doppeleiche“. In: Schleswig-Holstein A bis Z, https://geschichte-s-h.de/sh-von-a-bis-z/d/doppeleiche/, letzter Zugriff: 16.12.2021. Zur Bedeutung von Eiche und Buche als nationale Symbole Dänemarks und
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Abb. 1 Im Juni 2021 pflanzten die dänische Königin Margrethe II. und der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gemeinsam zwei Bäume vor dem neuen Museum der Deutschen Minderheit in Sønderborg/Sonderburg. Die Eiche und die Buche sind die jeweiligen Nationalbäume Deutschlands bzw. Dänemarks und wurden angesichts des Grenzjubiläums und des Freundschaftsjahres gepflanzt. Bild: Deutsches Museum Nordschleswig
Was von vielen Gemeinden als hübsche und vor allem preisgünstige Möglichkeit angesehen wurde, eine regionale Identität auszudrücken, wurde über private Initiativen und aus Berlin koordiniert in der gesamten Provinz in Stein gemeißelt: Nach dem Krieg 1864 und der Eingliederung Schleswigs und Holsteins in Preußen wurde besonders Nordschleswig über imposante Denkmäler besetzt und so die Zugehörigkeit zu Deutschland proklamiert.12 Bis heute als Versammlungsort der deutschen Minderheit von großer kultureller Bedeutung, ist der Knivsberg eine natürliche Erhöhung in der Nähe von Aabenraa/Apenrade. Hier wurde in den 1890er Jahren eine überlebensgroße Bismarck-Statue aufgestellt, die in der ansonsten flachen Landschaft von weit her zu sehen war. Einmal im Jahr wurde das Knivsbergfest als nationaldeutsche Veranstaltung
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dem Bedeutungswandel der Bäume siehe Inge Adriansen: Nationale symboler i Det Danske Rige 1830–2000, Bd. 2, Kopenhagen 2003, 381–388. Silke Göttsch-Elten: Wie Preußen gemacht werden – preußische Identitätspolitiken in der deutsch-dänischen Grenzregion nach 1864/Hvordan man skaber preussere – preussiske identitetspolitikker i den dansk-tyske grænseregion efter 1864. In: Rainer Hering, Hans Schultz Hansen (Hg.): 1864 – Menschen zwischen den Mächten/1864 – Mennesker mellem magterne, Hamburg 2015, 443–474.
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mit Sport und Kultur gefeiert.13 Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Statue ins südliche Schleswig versetzt, um sie vor Vandalismus zu schützen – zu sicher war eine Abtretung Nordschleswigs an Dänemark. In den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges sprengten Unbekannte den verbliebenen Turm auf dem Knivsberg, eine Strafverfolgung blieb aus.14
Abb. 2 Dänische Postkarte mit Sehnsuchtsort Schleswig und Königsau-Motiv, ca. 1900 Bild: Arkivet ved Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig/Flensburg
Parallel zu der bewussten Nationalisierung Schleswigs durch Preußen verschärfte sich in der dort lebenden dänischen Minderheit15 und im dänischen Königreich das na13
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Siehe zum Knivsberg grundlegend Jürgen Ostwald (Hg.): Der Knivsberg: 100 Jahre deutsche Versammlungsstätte in Nordschleswig, Heide 1994; zudem auch neue Ansätze von Caroline Elisabeth Weber; bisher unveröffentlicht: Volker Heesch: Kritische Blicke auf deutschdänische Erinnerungskultur. In: Der Nordschleswiger (10.10.2021), https://www.nordschleswi ger.dk/de/nordschleswig-apenrade-leben-nordschleswig-daenemark-kultur/kritische-blickedeutsch-daenische, letzter Zugriff: 16.12.2021. Adriansen: Denkmal, 67–90, 104–11, wobei Adriansen auch insgesamt in ihrer Publikation deutlich macht, dass die Bismarck-Statue vom Knivsberg kein Einzelfall war. Siehe zudem die jüngste Berichterstattung zur Sprengung des Turms: Hans Christian Davidsen: Hemmeligheden skulle følge dem i graven. In: Flensborg Avis online (17.07.2021), https://www.fla.de/kultur/ kunst/31539/hemmeligheden-skulle-flge-dem-i-graven, letzter Zugriff: 16.12.2021. René Rasmussen: Unter Preussen 1864–1945. In: Lars N. Henningsen (Hg.): Zwischen Grenzkonflikt und Grenzfrieden. Die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein in Geschichte
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tionalromantische Narrativ des verlorenen Schleswigs. Über Flugblätter und Postkarten, aber auch durch die Bepflanzung des eigenen Vorgartens mit roten und weißen Blumen oder entsprechende Kleidung wurde die dänische Gesinnung ausgedrückt. In den Postkarten sieht man die Königsau, den Grenzfluss zwischen Schleswig und dem Königreich. Die Region wurde zum Sehnsuchtsort, der auch in Liedern und Gedichten seinen Platz fand. So erzählt ein Gedicht aus dem Jahr 1889 mit dem Titel Vort Land („Unser Land“) die dänische Geschichte seit mythologischen Zeiten und lässt fast die gesamte Handlung in Schleswig spielen. Einleitend heißt es: „Siehst du dort den Farbstrich, dort knapp südlich der Königsau? Vergiss ihn nicht, behalte ihn im Blick. Dort liegt Dänemarks Grenze – Nein! Nicht für dänische Männer und Frauen. Nicht für unsere teuren Erinnerungen […].“ Das Gedicht wurde 1906 vertont und in den nationalen Liederkanon aufgenommen. Die Sehnsucht nach Schleswig wurde also regelmäßig bei Zusammenkünften zelebriert.16 Genährt wurde die „Meistererzählung“ des verlorenen Landes auch durch eine angedeutete Volksabstimmung im Prager Friedensvertrag von 1866. Auch wenn Österreich und Preußen schon 1878 von der Durchführung einer solchen Abstimmung Abstand nahmen, gaben die dänisch gesinnten Nordschleswiger die Hoffnung auf eine „Rückkehr“ zum Königreich an die nachfolgenden Generationen weiter.17 3. Wiedervereinigt und geteilt. Schleswig/Holstein im Jahr 1920 Nachdem die Abstimmung von 1866 nicht zustande gekommen war und sich die Menschen in Schleswig-Holstein auf unterschiedliche Weise mit der politischen Zugehörigkeit zu Preußen arrangiert hatten, wurde mit dem Versailler Vertrag als Schlussstrich des Ersten Weltkrieges wieder eine Volksabstimmung im Norden angekündigt. In Artikel 109 des zwölften Abschnitts (Schleswig) heißt es: „Die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark wird in Übereinstimmung mit dem Wunsche der Bevölkerung festgesetzt.“ Fünfmal findet sich in den Artikeln 112 bis 114 die Formulierung von den „an Dänemark zurückfallenden Gebieten“ bzw. „Rückfall“ und es wird dabei
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und Gegenwart (Studieafdeling ved Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig 65), Flensburg 2011, 49–142, hier bis 78. Mehr zum Gedicht von Christian Richardt unter https://graenseforeningen.dk/om-graenselan det/leksikon/vort-land-et-geografisk-digt-af-chr-richardt, letzter Zugriff: 16.12.2021. Die zitierte Strophe lautet im Original: „Seer du saa den Farvestreg / hist lidt Syd for Kongeaaen? / Glem den ikke, stirr kun paa’en, / dér er Danmarks Grænse – Nej,/ej for danske Mænd og Kvinder! Ej for vore dyre Minder […].“ Dazu ausführlich Caroline Elisabeth Weber: „Die Meerumschlungenen haben überhaupt nicht gejubelt.“ Die zeitgenössischen Wahrnehmungen des Wiener Friedens von 1864 in Schleswig und Holstein. In: Oliver Auge, Ulrich Lappenküper, Ulf Morgenstern (Hg): Der Wiener Frieden 1864: Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis (Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe 22), Paderborn 2016, 25–61.
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explizit auf den Wiener Friedensvertrag vom Oktober 1864 Bezug genommen. Vor diesem Hintergrund ist es daher nicht nur nachvollziehbar, sondern auch folgerichtig, wenn im dänischen Sprachgebrauch von „Wiedervereinigung“ zumindest eines Teiles Schleswigs mit Dänemark die Rede ist. Allerdings, und das betonte bereits der dänische Ministerpräsident und Historiker Niels Neergaard (1854–1936) in seiner Rede auf den Düppeler Schanzen am 11. Juli 1920 – unmittelbar nach erfolgter Grenzziehung: „Vi taler om genforening. Sagen er, at aldrig i vor tusindårige historie har Sønderjylland været et med Danmark. Først nu sker det efter sønderjydernes egen lykkelige vilje.“18 Dies ignorierend, war nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages in Schleswig ein Abstimmungsgebiet eingerichtet worden und die pro-dänische und pro-deutsche Propaganda warben ab Januar 1920 um Stimmen. Besonders mit Plakaten wurden die Menschen zur Stimmenabgabe aufgefordert. Die Motive sind einfach und sehr farbenfroh gehalten. Auffällig ist die unterschiedliche Nutzung von Flaggen in den jeweiligen Plakaten. Kaum ein pro-dänisches Plakat kommt ohne den rot-weißen Dannebrog aus, der oft das einzige Motiv auf dem Plakat ist. Demgegenüber fehlen die deutschen Nationalfarben der jungen Weimarer Republik vollkommen auf den pro-deutschen Plakaten. Stattdessen wird mit regional schleswig-holsteinisch blau-weiß-roten oder den preußischen Farben geworben. Über das schleswig-holsteinische Narrativ wird an die Unteilbarkeit der Herzogtümer bzw. der Provinz erinnert und vor einer Teilung gewarnt. Beide Seiten blicken dabei in ihren Motiven in die Zukunft, sprechen über das Kindermotiv ausdrücklich auch Frauen als Wählerinnen an und lassen durch Verweise auf Wirtschaft und Politik mögliche Szenarien der nationalen Zugehörigkeit anklingen.19 Anders als in den anderen europäischen Abstimmungszonen fehlt im hiesigen Fall die Darstellung von Tod und Gewalt, was es wohl auch rückblickend leichter gemacht hat, von einer durchweg friedlichen und demokratischen Abstimmung zu sprechen und diese im Jubiläumsjahr als solche zu vermarkten. Schleswig wird dabei stets als Einheit betrachtet, denn beide Seiten streben zunächst den Erhalt der historischen Region an. Da aber letztlich nur in Nord- und Mittelschleswig abgestimmt wurde und eine Teilung sicher war, betteten beide Seiten ihre Vorstellung von Schleswig in einen übergeordneten Großraum ein. Aus deutscher Perspektive
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Statsminister Niels Neergaards genforeningstale på Dybbøl, 11. Juli 1920. Zitiert nach https:// danmarkshistorien.dk/leksikon-og-kilder/vis/materiale/statsminister-niels-neergaards-v-gen foreningstale-paa-dybboel-1920/, letzter Zugriff: 19.12.2021 [Übersetzung der Verfasserin: „Wir sprechen von Wiedervereinigung. Die Sache ist aber, dass Schleswig (Sønderjylland) niemals in unserer tausendjährigen Geschichte Teil von Dänemark war. Erst jetzt geschieht dies nach dem eigenen glücklichen Willen der Schleswiger/Sønderjyden.“]. Grundlegend Nina Jebsen: Als die Menschen gefragt wurden. Eine Propagandaanalyse zu Volksabstimmungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg (Internationale Hochschulschriften 47), Münster 2015. Einen Überblick zu den Plakaten geben Nils Arne Sørensen, Elsebeth Aasted Schanz: Grænsen er nået. Afstemingsplakater fra grænselandet 1920, Kopenhagen 2020.
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sollte dabei ein Raum erhalten, also ungeteilt bleiben. Aus dänischer Perspektive sollte ein gefühlt geteilter Raum durch die Grenzverschiebung zusammenwachsen. Ironischerweise führte die Grenzverschiebung zu einer Teilung Schleswigs, das von 1864 bis 1920 als Ganzes zu Preußen gekommen war und dessen Einheit nun seit dem Ripener Privileg von 1460 erstmals zerstört wurde. Auch wenn die dänische Minderheit durch die Grenze von 1920 kleiner wurde, blieb ein Gefühl der Zerrissenheit bei vielen Menschen bestehen, die „Rückkehr“ nach Dänemark hatten nicht alle geschafft. Die Schleswiger Abstimmungen vom 10. Februar und 14. März 1920 wurden von den Zeitgenossen auf beiden Seiten der Grenze kontrovers aufgefasst und vor allem die Modalitäten kritisiert. Dabei waren diese aus heutiger Perspektive überaus modern, denn laut Artikel 109 des Versailler Friedensvertrags war „jede Person, ohne Unterschied des Geschlechts“ stimmberechtigt, sofern sie mindestens 20 Jahre alt und in der Region geboren worden war oder dort mindestens seit dem Jahr 1900 gelebt hatte. Bekannterweise stimmte eine Mehrheit in Nordschleswig pro-dänisch, in Mittelschleswig waren die Verhältnisse genau umgekehrt. Beiderseits der Grenze gab es jetzt nationale Minderheiten. Die Grenzziehung wurde im Sommer 1920 von dänischer Seite als mediales Großereignis inszeniert: König Christian X. ritt, umringt von einem Fähnchen schwenkenden, jubelnden Publikum, auf einem Schimmel über die alte Königsaugrenze und nahm die Region damit symbolisch ein. Binnen weniger Monate wurden überall im Land sogenannte Wiedervereinigungssteine aufgestellt, die im Jahr 2018, schon mit Blick auf das Grenzjubiläum, allesamt unter Denkmalschutz gestellt wurden. Der nationaldänische Grenzverein Grænseforeningen erstellte zu diesem Anlass eine interaktive Webseite, die alle Steine in ganz Dänemark auflistet. Das Gesamtensemble der Steine bezeichnet der Verein als „Dänemarks originellsten Beitrag zur europäischen Monumentkultur“20 und wiederholt damit die Meistererzählung der Wiedervereinigung. 4. „Gemeinsam über Grenzen“? Narrative und Deutungskämpfe kompakt Mein Beitrag steht in der historischen Klammer 1848 bis 1920 – ich möchte aber noch ein wenig weitergehen, um vor allem aufzuzeigen, was das eingangs beschriebene Jubiläumsnarrativ bzw. die Narrative von 2020/21 alles ausklammern. Zoomt man sich in die 30 Jahre nach der Grenzziehung hinein, betrachtet also das erste Drittel von „100 Jahre gemeinsam über Grenzen“, so ergibt sich ein gänzlich unfriedliches Bild von der heute so modellhaft beschriebenen Region. Im Jahr 1924 richtete die Universität in Kiel einen neuen Lehrstuhl für SchleswigHolsteinische Landesgeschichte, Reformationsgeschichte und nordische Geschichte 20
https://graenseforeningen.dk/om-graenselandet/genforeningssten, letzter Zugriff: 16.12.2020.
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ein und besetzte sie mit dem Kirchenhistoriker – und geborenen Nordschleswiger – Otto Scheel.21 Die Universität etablierte sich in den Folgejahren als Sprachrohr des deutsch-gesinnten Grenzrevisionismus südlich der Grenze und hielt, besonders über ihre Studenten, die Verbindung zur deutschen Minderheit. Auch die Stadt Kiel hielt den Kontakt zur deutschen Minderheit in Nordschleswig aufrecht und etablierte ab 1925 eine Städtepatenschaft mit Sønderborg/Sonderburg. Auf diese Weise wurde aus sicherem Abstand zur Grenze „Deutschtumspolitik im Ausland“ gepflegt und „auch von verschiedenen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Initiativen gefördert“.22 Vielbeachtet trat zudem Karl Alnor, ab 1933 Professor für Deutsche Geschichte und Grenzlandkunde der Kieler Pädagogischen Akademie, für den kulturellen Grenzkampf ein.23 Grenzrevisionismus war in Zeiten der Weimarer Republik in Mode und regelmäßig wurde in der regionalen Presse Stimmung gemacht, wie ein Artikel der „Kieler Zeitung“ vom 13. Januar 1932 veranschaulicht: Nordschleswig war, ist und wird deutsch bleiben. Niemals haben wir nach der Ziehung der Gewaltgrenze auch nur daran gedacht, diese sogenannte Grenze anzuerkennen. Dänemark hat damals nichts anderes getan als den Leichenfledderer zu spielen, als Deutschlands Kräfte nach einem vierjährigen heldenhaften Kampf an allen Grenzen und schrecklichem Bürgerkrieg geknebelt und gefesselt, und die Feinde wie gierige Hunde um uns versammelt waren.24
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Oliver Auge, Martin Göllnitz: Zwischen Grenzkampf, Völkerverständigung und der Suche nach demokratischer Identität: Die Landesgeschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zwischen 1945 und 1965. In: Christoph Cornelissen (Hg.): Wissenschaft im Aufbruch. Beiträge zur Wiederbegründung der Kieler Universität nach 1945 (Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 88), Essen 2015, 101–129. Corine Defrance, Tanja Herrmann: Städtepartnerschaften als Spiegel der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Eine Einleitung. In: Dies., Pia Nordblom (Hg.): Städtepartnerschaften in Europa im 20. Jahrhundert, Göttingen 2020, 11–45, hier 17 f. Dazu auch Caroline E. Weber: 1920/2020: Elf Kieler Blickwinkel auf die Schleswiger Grenzabstimmungen. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 97 (2019), 11–27; Martin Göllnitz: Grenzkampf als Studienziel. Die volkspolitische Erziehungsarbeit der Deutsch-Nordischen Burse im kulturellen „Grenzlandringen“ (1928–1939). In: Hans Werner Retterath (Hg.): „Deutsche Bursen“ seit 1920. Studentische Wohnheime als Bildungseinrichtungen der „auslanddeutschen Volkstumsarbeit“ (Schriftenreihe des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa 22), Münster 2020, 179–193; Manfred Jessen-Klingenberg: Karl Alnor (1891–1940). Ein Kieler Geschichtsdidaktiker im Dritten Reich. In: Karl Heinrich Pohl (Hg.): Die Pädagogische Hochschule Kiel im Dritten Reich (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 36), Bielefeld 2001, 98–121. Kieler Zeitung (13.01.1932). Der Artikel erschien einen Tag später in dänischer Übersetzung in der „Flensborg Avis“ in unmittelbarer Grenznähe.
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Abb. 3 Plakat der Schleswigschen Partei zur Folketingswahl 1939 Bild: Deutsches Museum Nordschleswig
Der Wunsch einer „Wiedervereinigung“ mit Deutschland wurde dabei auch von der Minderheit nördlich der Grenze auf die politische Tagesordnung gesetzt. Die Schleswigsche Partei, hinter der aber bereits die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) Nordschleswig stand, warb mit der Parole „Zurück ins Reich“ für Stimmen bei der Folketingswahl 1939 und nahm ausdrücklich Bezug zu anderen Grenzverschiebungen und Besatzungen.25 Unterstützung aus Berlin erhielten diese Gedanken dabei zu keinem Zeitpunkt in nennenswertem Umfang. Auch wenn Dänemark am 9. April 1940 von den Nationalsozialisten besetzt wurde, stand eine Grenzverschiebung nach Norden offiziell nie zur Diskussion.26 Die deutsche Minderheit er-
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Es lohnt sich ein Besuch im Deutschen Museum Nordschleswig, das die Geschichte der Minderheit sowie ihre heutige Verknüpfung mit der Region in einer modernen Ausstellung thematisiert und auch die Besatzungszeit bzw. den Zweiten Weltkrieg nicht auslässt. Zudem entsteht derzeit an der Süddänischen Universität Odense eine Doktorarbeit zur Erinnerungskultur der Minderheit mit dem Zweiten Weltkrieg. Dazu bereits Jon Thulstrup: Zum Wandel der Erinnerungskultur bei der deutschen Minderheit. In: Grenzfriedenshefte (2014), 145–156; siehe zudem die Presseberichterstattung: Gwyn Nissen: Geschichte: Minderheit tauchte ins Dunkel ein. In: Der Nordschleswiger (09.10.2021), https://www.nordschleswiger.dk/de/apenrade-tingleff-nordschleswigtondern-hadersleben-sonderburg/geschichte-minderheit-tauchte-ins, letzter Zugriff: 19.12.2021. Siehe zur Bedeutung der Grenzziehung für die deutsch-skandinavischen Beziehungen Caroline Elisabeth Weber: „Allen Ländern Skandinaviens und des Ostseeraums besonders verbunden“:
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kannte nur wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Grenze von 1920 an und sprach dem dänischen Staat ihre Loyalität aus. Töne nach einer „Rückkehr“ zu Deutschland und damit einhergehenden Forderungen, wie sie zwischen 1920 und 1945 üblich waren, hörte man jedoch nicht mehr. Dass der politisch und kulturell geführte Grenzrevisionismus nicht nur einer Seite zugeschrieben werden kann, soll mein letztes Beispiel verdeutlichen. Noch unter britischer Militärregierung gründete sich nach dem Zweiten Weltkrieg die politische Organisation der dänischen Minderheit in Deutschland, der sich auch die friesische Minderheit anschloss; diese trug ab 1948 den Namen „Südschleswiger Wählerverband“.27 Eine der frühen politischen Forderungen der vor allem in den ersten Nachkriegsjahren stark aufgeblähten Minderheit war die Wiedervereinigung mit
Abb. 4 Nicht zum Druck genehmigter Entwurf eines Wahlplakates des SSW, ca. 1947/48. Auch eine entschärfte Version für die Kommunalwahl im Oktober 1948, die anstatt der Landkarte nur einen Kompass mit Richtung Norden zeigte, wurde durch die Briten nicht zugelassen. Bild: Arkivet ved Dansk Centralbibliotek für Sydslesvig/Flensburg
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Internationale Schwerpunktsetzung und Profilbildung der Universität Kiel (1945–2000), Kiel/ Hamburg 2021, 50–56. Siehe ausführlich Martin Klatt: Wiedervereinigung oder Minderheit 1945–1955. In: Lars N. Henningsen (Hg.): Zwischen Grenzkonflikt und Grenzfrieden. Die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein in Geschichte und Gegenwart (Studieafdeling ved Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig 65), Flensburg 2011, 143–206, zum SSW besonders 171–173, 189.
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Dänemark, was einer Grenzverschiebung nach Süden entsprach. Unterstützung erhielt der SSW durch dänische Stimmen, die im Zuge der Neuordnung Europas die Verlegung der Grenze bis an die Eider forderten. In Kiel traten Vertreter der CDU (Christlich Demokratische Union Deutschlands) und der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) der Minderheit und insbesondere dem sogenannten Neudänentum vehement entgegen. Der Kieler Oberbürgermeister Andreas Gayk (1893–1954) distanzierte sich im Juli 1948 öffentlich von allen, „die aus dem elenden, hungernden Deutschland flüchten, Ratten, die ein vermeintlich sinkendes Schiff verlassen wollten“.28 Diese aus Deutschland fliehenden „schlechteren Elemente eines Volkes“ waren in seinen Augen „Verräter“. Ein Jahr später signalisierte er der dänischen Regierung den Wunsch nach Zusammenarbeit, „seit sie ihre Hand von dem falschen Dänentum in Südschleswig abgezogen hat“.29 Die so unbeliebten „Neudänen“ wolle man „als verirrte und verführte Deutsche mit offenen Armen“ wieder aufnehmen. Auch wenn die „Wiedervereinigung mit Dänemark“ nie zum offiziellen Parteiprogramm des SSW – wohl aber der kulturellen Organisation der Minderheit – gehörte und seit Mitte der 1950er Jahre auch nicht mehr öffentlich Konsens war, wäre in dieser Zeit wohl niemand auf die Idee gekommen, die Abstimmungen und Grenzziehung von 1920 als Erfolgsmodell zu feiern.
Abb. 5 Vandalismus in Schleswig Bild: Arkivet ved Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig/Flensburg
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„Die Südschleswig-Frage im Wandel der Zeit“. In: Schleswig-Holsteinische Zeitung (18.07.1948). „Abschied von der Schleswig-Frage“. In: Schleswig-Holsteinische Zeitung (23.08.1949) (dort finden sich auch die Folgezitate).
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Neben dem Grenzrevisionismus der dänischen Minderheit wurde der Grenzkampf auch von deutscher Seite aggressiv geführt: Mehrfach wurden dänische Institutionen und Wohnhäuser Opfer von Vandalismus und ein Foto vom September 1952 verdeutlicht, welche Parolen an der Tagesordnung waren. „Up ewig ungedeelt“ sollte jetzt ungewollte Meinungen ausweisen, zugleich verweist das Schlagwort auf die Einheit Schleswig-Holsteins in der Zeit vor 1920 und muss als Kritik der „Südschleswigschen Heimatbewegung“, die nun für eine administrative Trennung Südschleswigs von Holstein anstelle eines Anschlusses an Dänemark eintrat, verstanden werden. Durch die Farbschmierereien werden bewusst dänisch-gesinnte Schleswiger angegriffen und vor allem ob ihres Minderheitenstatus „angezeigt“ und kenntlich gemacht. Die Gebäude werden sichtbar markiert, die Botschaft ist klar: Dies gehört nicht zu uns und ist ungewünscht. Herman Clausen (1885–1962), Angehöriger der dänischen Minderheit und Mitglied des Bundestages (1949–1953), fühlte sich an die Verfolgung während des Nationalsozialismus erinnert und die „Südschleswigsche Heimatzeitung“ verglich die Farbschmierereien mit der Kenntlichmachung jüdischer Einrichtungen während der Reichspogromnacht 1938.30 Auf bilateraler Ebene sichern die Kieler Erklärung zum Schutz der Minderheiten von 1949 und besonders zwei gleichlautende Erklärungen aus Bonn und Kopenhagen von 1955 den nationalen Minderheiten beiderseits der Grenze die gleichen Rechte wie der Mehrheitsbevölkerung und den Schutz ihrer Kultur zu. Minderheit ist seit diesem Zeitpunkt, wer will, und eine Grenzverschiebung wird nicht mehr diskutiert.31 Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich für die Veränderungen der gegenseitigen Wahrnehmung der Minderheiten in der Grenzregion die Formel „Vom Gegeneinander zum Miteinander“ in unterschiedlichen Abwandlungen etabliert.32 Dennoch gibt es bis heute kein gemeinsames Narrativ und unterschiedliche Deutungskämpfe und Meistererzählungen konkurrieren um Gehör. Wir erzählen die Geschichte der Grenzregion mit unterschiedlichem Vokabular, sei es „Erhebung“ und „Bürgerkrieg“ oder sei es die Bewertung der Abstimmung als Ausdruck von Demokratie oder Instrument des „Schandfriedens von Versailles“. „Genforeningen“, also „Die Wiedervereinigung“, wird zwar umgangssprachlich inzwischen auch von Mitgliedern der Deutschen Minderheit in Nordschleswig genutzt, dies liegt aber mehr an einem fehlenden dänischen Alternativausdruck als an einer Akzeptanz der 30 31 32
Siehe dazu erneut Klatt: Wiedervereinigung, 191 f. Ders.: Von der Abgrenzung zur Grenzüberwindung: Die Minderheiten und die Bonn-Kopenhagener Erklärungen als Wendepunkt der deutsch-dänischen Beziehungen? In: Grenzfriedenshefte (2015), 55–64. Vgl. exemplarisch die Titel bei Ders.: Fra modspil til Medspil? Grænseoverskridende samarbejde i Sønderjylland/Schleswig 1945–2005, Aabenraa 2006; Henrik Becker-Christensen: „Fra mod hinanden til med hinanden“. Den dansk-tyske mindretalsmodel, udg. af Dansk Generalkonsulat, [Flensburg 2015]; Dansk-tysk venskabserklæring, Artikel vom 16. März 2021, https://kopen hagen.diplo.de/dk-da/aktuelles/-/2448110, letzter Zugriff: 18.12.2021.
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damit implizierten Bedeutung. Auch seitens der dänischen Minderheit kann nicht von „Der Wiedervereinigung“ gesprochen werden, da die Minderheit südlich der Grenze von dieser ausgeschlossen war.33 Die Grenzregion benötigt – wie so viele Grenzregionen – heute dringender denn je gemeinsame Projekte und Geschichten. Nur so können die jeweiligen Minderheiten aus den Blasen ihrer Vergangenheitsdeutung austreten und unterschiedliche Lesarten und Legitimationen transparent und nachvollziehbar nebeneinander genannt und diskutiert werden. Bis heute kommt die historische Einheit der Region zu kurz, da sich durch mehrfache Grenzverschiebungen und diverse Vorschläge während der Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts Vorstellungen auf vermeintliche Gebietsansprüche gegenüber dem regionalen Narrativ durchgesetzt haben. Sichtbar wurde dies nicht zuletzt in den Jubiläumsveranstaltungen des Jahres 2020 bzw. 2021, in denen es nicht gelang, ein gemeinsames Motto zu finden und in denen, bei allen Signalen der Gemeinsamkeit, die einen die Bilder von vor 100 Jahren detailgetreu nachstellten und die anderen ihrem Wunsch eines ungeteilten Nordens hinterherrannten. Auch wenn das Grenzjubiläum von 2020/21 mit einem großen öffentlichen Interesse einherging, hatte die Ausgestaltung der Feierlichkeiten keine über Symbolismus hinausgehende völkerverbindende Wirkmächtigkeit, sondern wurde versucht – wie es immer wieder passiert –, die nördlich und südlich der Grenze gewählten Narrative so umzudeuten, dass sie dem aktuellen Bedarf entsprechen.34 Zur Person: Caroline Elisabeth Weber ist Postdoc am Centre for Border Region Studies der Syddansk Universitet Sønderborg. 2020 wurde sie mit einer Arbeit zur internationalen Ausrichtung und Profilbildung der Universität Kiel, besonders im Hinblick auf Skandinavien, in der Nachkriegszeit bis 2000 promoviert. Dr. Caroline Elisabeth Weber Syddansk Universitet Sønderborg, Centre for Border Region Studies, Alsion 2, 6400 Sønderborg, Dänemark, [email protected]
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Vgl. dazu das ausführliche und wirklich lesenswerte Interview mit Hinrich Jürgensen, Vorsitzender des Bundes Deutscher Nordschleswiger, und Jens A. Christiansen, Generalsekretär Sydslesvig Forening: Anna-Lise Bjerager: Mindretallene i Grænselandet: „Det er ikke os, der har flyttet os. Det har grænsen“. In: Magasinet Grænsen 4 (2019), https://graenseforeningen.dk/magasinetgraensen-nr-4-august-2019/mindretallene-i-graenselandet-det-er-ikke-os-der-har-flyttet-os, letzter Zugriff: 18.12.2021. Vgl. dazu Adriansen: Nationale symboler, 275, die am Beispiel des Museums auf den Düppeler Schanzen bemerkte: „En fortolkning at denne art illustrerer, hvorledes der til alle tider gøres forsøg på at omfunktionere symboler, så de passer til det aktuelle behov“ [Übersetzung der Verfasserin: „Eine Deutung dieser Art zeigt, wie zu allen Zeiten versucht wurde, Symbole so umzufunktionieren, dass sie zum aktuellen Bedarf passen“].
Zur Genese einer Idee mit weitreichenden Folgen Die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze und der Versuch ihrer Legitimierung im frühen 20. Jahrhundert Paul Srodecki Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 59–78
On the Genesis of an Idea with Far-Reaching Consequences The Oder-Neisse Line as Poland’s Western Frontier and the Attempt of Its Legitimisation in the Early Twentieth Century Kurzfassung: Die Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze wird allem voran mit den Beschlüssen der gegen das nationalsozialistische Deutschland verbündeten Briten, Amerikaner und Sowjets auf den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam in Verbindung gebracht. In Deutschland steht sie – neben der deutschen Teilung – für die Quittung, die man als Initiator und Besiegter für den Zweiten Weltkrieg erhalten hat. In Polen gilt die repetitiv postulierte Rekurrierung auf die Rückkehr zu Polens territorialen Anfängen im Frühmittelalter als ein weit verbreiteter und mit der unmittelbaren Nachkriegszeit verbundener Anker des nationalen Kollektivgedächtnisses. Dass die Idee einer Westverschiebung der polnischen Grenze aber ältere Wurzeln hat, ist kaum bekannt. Im Beitrag werden die Genese und die Legitimierung der Oder-NeißeLinie als Teil einer von unterschiedlichen politischen und akademischen Kreisen vorgetragenen Idee skizziert. Schlagworte: Oder-Neiße-Linie, Deutsch-polnische Grenze, Polonisierung, Westverschiebung, Rückkehr, Nachkriegsordnung Abstract: The Oder-Neisse line as the German-Polish border is primarily associated with the resolutions of the British, Americans and Soviets, allied against National Socialist Germany, at the conferences in Tehran, Yalta and Potsdam. In Germany, it represents – alongside the division of Germany – the bill that the Germans were forced to pay as the initiators and defeated of the Second World War. In Poland, the repetitively postulated reference to the return to Poland’s terri-
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torial beginnings in the early Middle Ages has been a widespread anchor of the national collective memory associated with the immediate post-war period and continues to be so up to the present day. However, the idea of moving the Polish border to the west has older roots. The article outlines the genesis and legitimacy of the Oder-Neisse Line as part of an idea put forward by different political and academic circles in late nineteenth and early twentieth-century Poland. Keywords: Oder-Neisse Line, German-Polish border, polonisation, westward shift, return, PostWar Order
Die Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze wird allem voran mit den Beschlüssen der gegen das nationalsozialistische Deutschland verbündeten Briten, Amerikaner und nicht zuletzt Sowjets auf den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam in Verbindung gebracht. In Deutschland steht sie – neben der deutschen Teilung – für die Quittung, die man als Initiator und Besiegter für den schrecklichsten und verheerendsten Krieg aller Zeiten mit Millionen von Toten und einem größtenteils in Schutt und Asche gelegten europäischen Kontinent erhalten hat. Sie steht darüber hinaus auf deutscher wie auch auf polnischer Seite für die Vertreibung und Umsiedlung von Millionen Menschen, für den Verlust der Heimat und zugleich aber auch für einen politischen und territorialen Reset.1 In Polen gilt zudem seit der Zeit der Volksrepublik (1944–1989) die repetitiv postulierte Rekurrierung auf die Rückkehr zu Polens territorialen Anfängen und seinen Grenzen nach dem territorialen Vorbild des mittelalterlichen Piastenreichs als ein weitverbreiteter und mit der unmittelbaren Nachkriegszeit verbundener Anker des nationalen Kollektivgedächtnisses. Dass die Idee einer Westverschiebung der polnischen Grenze aber ältere Wurzeln hat, ist kaum bekannt. Im Folgenden werde ich kurz die Genese und die Legitimierung der Oder-Neiße-Linie als Teil einer von unterschiedlichen politischen und akademischen Kreisen vorgetragenen Idee skizzieren. 1. Auf der Suche nach nationaler Größe Die Idee der Verlegung der polnischen Grenze weit nach Westen als Grundpfeiler eines restituierten polnischen Staates findet sich zuweilen bereits in den Überlegun-
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Einen guten Überblick zum Thema liefern Susanne Greiter: Flucht und Vertreibung im Familiengedächtnis. Geschichte und Narrativ, München 2014; Małgorzata Marcinkowska-Urban: Wysiedlenia Niemców i Polaków w roku 1945 we wspomnieniach świadków wydarzeń, Warszawa 2011; Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011; Jan M. Piskorski: Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, München 2010.
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gen polnischer Unabhängigkeitsaktivisten des 19. Jahrhunderts.2 Die wohl bekannteste und zugleich auch radikalste Skizzierung jener Zeit stammte hierbei wohl aus dem Kreise der Pariser Grande Emigration, als in einem 1836 publizierten Manifest der Polnischen Demokratischen Gesellschaft (Towarzystwo Demokratyczne Polskie) ganz offen die imperialistischen Vorstellungen von einem in seiner territorialen Ausdehnung weit über die ethnischen Grenzen hinausreichenden Polen „von der Oder und den Karpaten bis über den Dnjepr und die Düna hinaus, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer“ propagiert wurden.3 Bei der territorialen Gestaltung eines unabhängigen Polens standen sich in der Folge weitestgehend zwei Lager gegenüber: Das eine hing der sogenannten Jagiellonenidee an, also der Wiedererrichtung der weit nach Osteuropa reichenden frühneuzeitlichen Rzeczpospolita in den Grenzen vor der ersten Teilung des polnisch-litauischen Verbundstaates vor 1772 (mit dem Russländischen Imperium als dem Hauptgegner); demgegenüber wollten die „Piasten“ die Grenzen eines polnischen Staates in vager Anlehnung an das mittelalterliche Piastenreich verwirklicht sehen (mit Preußen bzw. dem Deutschen Kaiserreich als dem Hauptwidersacher).4 Aus den letzteren Überlegungen rund um das „piastische Erbe“ kristallisierte sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Vorstellungswelt des sogenannten polnischen Westgedankens (polska myśl zachodnia) heraus.5 Die ideologischen Initiatoren 2 3
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Siehe hierzu die einschlägige Quellenauswahl in der von Wojciech Wrzeziński herausgegebenen Edition: W stronę Odry i Bałtyku. Wybór źródeł (1795–1950), 4 Bde., Wrocław/Warszawa 1990/91, hier Bd. 1: O ziemię Piastów i polski lud (1795–1918). Lucjan Józef Zaczyński u. a.: Manifest Towarzystwa Demokratycznego Polskiego, [Paris] 1836, 6; Wrzeziński (Hg.): W stronę Odry i Bałtyku 1, Nr. 8. Zur polnischen Grande Emigration und ihren territorialen Vorstellungen zu einem restituierten Polen vgl. Krzysztof Marchlewicz: Wielka Emigracja na Wyspach Brytyjskich (1831–1863), Poznań 2008; Sławomir Kalembka: Wielka Emigracja 1831–1863, Toruń 2003; Ders. (Hg.): Wielka Emigracja i sprawa polska a Europa (1832–1864), Toruń 1980; Andrzej Nowak: Między carem a rewolucją. Studium politycznej wyobraźni i postaw Wielkiej Emigracji wobec Rosji 1831–1849, Warszawa 1994; Hans Henning Hahn: Außenpolitik in der Emigration. Die Exildiplomatie Adam Jerzy Czartoryskis 1830–1840, München u. a. 1978. Zu beiden Konzepten und ihren ideologischen Grundlagen siehe überblickhaft Alexandra Schweiger: Polens Zukunft liegt im Osten. Polnische Ostkonzepte der späten Teilungszeit (1890–1918), Marburg 2014; Andrzej Nowak: Jak rozbić rosyjskie imperium? Idee polskiej polityki wschodniej 1733–1921, Warszawa 1995. Beide Ideen erleben jetzt schon seit einigen Jahren eine gewisse Renaissance als Orientierungsanker der jeweiligen politischen Lager in Polen. Siehe hierzu Jacek Kubera: Polska „piastowska“ vs „jagiellońska“. Odmienność wizji relacji z Niemcami jako determinanta poglądów na polską politykę zagraniczną. In: Acta Politica Polonica 38 (2016) 4, 65–80; Wojciech Łysek: Między „Polską jagiellońską“ a „Polską piastowską“. Recepcja i aktualność koncepcji ULB w polityce wschodniej koalicji PO-PSL. In: Przegląd Geopolityczny 8 (2014), 105–122; Maciej Mróz: Między Polską Piastowską a Jagiellońską. Kontrowersje wokół kierunków realizacji polskiej polityki zagranicznej po akcesji do Unii Europejskiej. In: Dyplomacja i Bezpieczeństwo 1 (2013) 1, 15–30; Tomasz Wicha: Koncepcja polityki Prawa i Sprawiedliwość wobec Europy Środkowej i Wschodniej. In: Ekonomia i Nauki Humanistyczne 19 (2012) 2, 65–79. Hierzu Roland Gehrke: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des Nationalismus, Marburg 2001; Ders.: Das „piastische“
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dieser Bewegung waren allem voran Jan Ludwik Popławski (1854–1908), Zygmunt Balicki (1858–1916), Bernard Chrzanowski (1861–1944), Marian Seyda (1879–1967) und nicht zuletzt Roman Dmowski (1864–1939).6 Sie waren es auch, die dezidiert eine historische Argumentationsebene neben politisch-wirtschaftlichen Überlegungen ins Spiel brachten: Ein restituiertes Polen sollte neben den Kernprovinzen in Groß- und Kleinpolen sowie Masowien in seiner westlichen und nördlichen Ausdehnung auch die im frühen und hohen Mittelalter von der Piastendynastie direkt beherrschten und unterworfenen (Schlesien, Pommerellen) oder in ein Abhängigkeitsverhältnis (Pommern) gebrachten Territorien umfassen. Für Popłowski hing die Realisierung eines unabhängigen Polens zugleich mit der Eliminierung Preußens zusammen: Beide Länder konnten nicht zeitgleich existieren und würden stets nach der Annexion des anderen streben. Popłowski machte insbesondere die Sicherung des Gebietes zwischen den Mündungen der Weichsel und Memel (sprich: Ostpreußen) in seinen Abhandlungen zum wichtigsten Orientierungsanker einer zukünftigen polnischen Außenpolitik.7 Die westslawische ländliche Bevölkerung Oberschlesiens, Pommerellens, des Ermlands und Masurens sollte zum Polentum geführt werden, wohnten doch gerade in diesen Regionen „Hunderttausende von unbewussten oder germanisierten Polen“.8 Interessanterweise beschränkte sich diese Vorstellung von der polnischen West- bzw. Nordgrenze im frühen 20. Jahrhundert nicht einzig und allein auf das rechtsnationale Lager. In modifizierter Form haben sozialistische Unabhängigkeitsaktivisten wie etwa der galizische Publizist Bolesław Wysłouch, einer der Mitorganisatoren des Ruch Ludowy („Volksbewegung“) als Teil der Landreformbewegung im Kampf um die Rechte und Gleichstellung der bäuerlichen Bevölkerung, ähnliche Überlegungen propagiert.9 Während Popłowski nicht nur antideutsche (oder besser: antipreußische), sondern auch antirussische Ideen verbreitete, wandte sich das nationale Lager rund um Roman Dmowski, neben Popłowski ein weiterer Mitbegründer der nationalkonservativen Bewegung Narodowa Demokracja, immer mehr dem zaristischen Russland zu. Zwar sah
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Schlesien und seine ideologische Wiederbelebung im polnischen Westgedanken. In: Dietmar Willoweit, Hans Lemberg (Hg.): Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation, München 2006, 329–343. Vgl. Antoni Czubiński: Polska myśl zachodnia XIX i XX wieku. In: Przegląd Zachodni 41 (1985) 1, 1–23. Jan Ludwik Popławski: Środki obrony. In: Głos 2 (1887) 41, 633–634. Vgl. Michał Kowalczyk: Fascynacja ludem Jana Ludwika Popławskiego. In: Saeculum Christianum. Pismy historyczne 23 (2016), 239–249; Teresa Kulak: Jan Ludwik Popławski – Twórca polskiej myśli zachodnie przełomu XIX i XX wieku: U źródeł „idei piastowskiej“ narodowej demokracji. In: Sobótka 1 (1985), 41–54. J. L. Jastrzębiec [Jan Ludwik Popławski]: Rzut oka na sprawy polskie w ubiegłem dziesięcioleciu. In: Przegląd Wszechpolski 11 (1905) 7, 433–453, hier 446 f.. Bolesław Wysłouch: Szkice programowe. In: Przegląd Społeczny. Pismo naukowe i literackie 1 (1886), 2, 4–6, 97–104, 251–258, 327–332, 395–403. Vgl. Andrzej Kudłaszyk: Myśl społecznopolityczna Bolesława Wysłoucha 1855–1937, Warszawa/Wrocław 1978, 96–106; Grzegorz Strauchold: Ku zachodowi. In: POLITYKA – Pomocnik historyczny 1 (2015) 2, 24–29.
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auch Dmowski in Deutschland den nationalen Hauptwidersacher des polnischen Volkes auf dessen Weg zur Unabhängigkeit. Als glühender Verfechter des Neoslawismus schrieb er in seiner 1908 erschienenen Schrift Niemcy, Rosya i kwestya polska („Deutschland, Russland und die polnische Frage“) einem zukünftigen unabhängigen polnischen Staat (in starker Anlehnung an Russland als dem in seinen Augen führenden slawischen Staat) die Rolle des wichtigsten Bollwerks gegen Deutschlands „Drang nach Osten“ zu.10 Insbesondere Posen wurde von den polnischen Pan- und Neoslawisten zu einem „feste[n] Bollwerk polnischen Denkens“ gegen den preußischen Staat stilisiert.11 Allerdings stand Dmowski dem von vielen Unabhängigkeitsaktivsten des 19. Jahrhunderts vorgebrachten Plan einer Wiederherstellung des polnischen Staates in den Grenzen der frühneuzeitlichen Rzeczpospolita der Vorteilungszeit (also vor 1772) mehr oder weniger kritisch gegenüber. Seiner Meinung nach hatten die Multiethnizität und Multikonfessionalität des polnisch-litauischen Verbundstaates wesentlich zu dessen Scheitern beigetragen. Ein restituierter polnischer Staat sollte weitestgehend Gebiete umfassen, die mehrheitlich von der polnischen Bevölkerung bewohnt seien. Ausgenommen sollten hiervon Oberschlesien, das südliche Ostpreußen und Pommerellen sein: Territorien also, die zwar – je nach Landkreis – mal mehrheitlich polnisch, mal mehrheitlich deutsch waren, die Dmowski aber ob ihrer wirtschaftlichen und geostrategischen Bedeutung als überlebenswichtig für einen unabhängigen polnischen Staat erachtete. Von dem politischen Axiom eines ethnisch weitestgehend homogenen Polens wich Dmowski eigentlich nur einmal dezidiert ab, als er während der Pariser Friedenskonferenz 1919/20 einen Grenzverlauf vorschlug, der weit in belarussische und ukrainische Gebiete ausgreifen sollte (unter anderem mit Polazk/Polozk [polnisch Połock], Baryssau [polnisch Borysów], Minsk, Kamjanez-Podilskyj [polnisch Kamieniec Podolski] etc.) und damit den Grenzen der Rzeczpospolita vor der Teilungszeit recht nahekam. Auch wenn der Autor dieser sogenannten Dmowski-Linie angesichts der polnisch-sowjetischen Friedensverhandlungen von seiner Idee – insbesondere in
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Roman Dmowski: Niemcy, Rosya i kwestya polska, Lwów 1908. Vgl. Paul Srodecki: Antemurale Christianitatis. Zur Genese der Bollwerksrhetorik im östlichen Mitteleuropa an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, Husum 2015, 341 f.; Władysław Bułhak: Dmowski – Rosja a kwestia polska. U źródeł orientacji rosyjskiej obozu narodowego 1886–1908, Warszawa 2000. Die Vorstellung eines „slawischen Bollwerks“ gegen ein als feindlich eingestuftes deutschsprachiges „Germanentum“ findet sich zur etwa selben Zeit auch in anderen slawisch-germanischen Grenzregionen, so etwa bei den Slowenen. Siehe hierzu Helmut Rumpler: Ein Volk zwischen allen Fronten. Die Wiener Regierung und die nationalpolitischen Hoffnungen der Slowenen vor 1914. In: Maria Wakounig, Wolfgang Mueller, Michael Portmann (Hg.): Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Mitteleuropa. Festschrift für Arnold Suppan zum 65. Geburtstag, Münster 2010, 279–296, hier 285. Witold Molik: Wurde Großpolen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts borussifiziert? In: Edmund Dmitrów, Tobias Weger (Hg.): Deutschlands östliche Nachbarschaften. Eine Sammlung von historischen Essays für Hans Henning Hahn (Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen 4), Frankfurt a. M. 2009, 391–410, hier 396, 407.
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Bezug auf die Ostgrenze – recht schnell Abstand nahm, so wurde bereits hier zum ersten Mal explizit und auf einer offiziellen internationalen Verhandlungsbühne ein Grenzverlauf ins Spiel gebracht, der durchaus große Ähnlichkeit mit der späteren polnisch-sowjetischen (und heutigen polnisch-russischen) Grenze auf dem Gebiet des ehemaligen Ostpreußens hatte.12
Abb. 1 Auf der Pariser Konferenz 1919 von der polnischen Delegation vorgebrachte territoriale Forderungen (die sogenannte Dmowski-Linie) URL: https://w.wiki/4ndf (04.02.2022), Lizenz: CC0 1.0 Universal (CC0 1.0)
Dmowskis Forderungen nach der Inklusion aller von Polen (ob bewussten oder solchen, die zum Polentum noch erzogen werden mussten) bewohnten Gebiete des Kö-
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Vgl. hierzu Wojciech Wrzeźiński: Odrodzenie państwa polskiego w 1918 roku a problem Prus Wschodnich. In: Komunikaty Mazursko-Warmińskie 3 (1969), 347–384.
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nigreichs Preußen fußten auf ethnografischen Studien, die Gelehrte wie allen voran Alfons Parczewski (1849–1933) im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erhoben hatten. Auch Parczewski forderte bereits in einer 1896 veröffentlichten Abhandlung zur kaschubischen Bevölkerung Pommerellens die unbedingte Einbindung letzterer in die Grenzen eines zukünftigen unabhängigen Polens: „Das kaschubische Volk sollte die Möglichkeit der freien Entfaltung des nationalen Lebens besitzen. Das ist aber nur möglich, wenn es sich innerhalb der Grenzen eines polnischen Staates wiederfindet.“13 Anders als die Nationaldemokraten, die sich – wie oben dargestellt – zumeist auf das piastische Erbe beriefen, stellte für Parczewski noch im späten 19. Jahrhundert die Sprache den wichtigsten ethnografischen Gesichtspunkt (noch vor allen historischen, politischen, religiösen oder kulturellen Gegebenheiten) bei der Beurteilung der nationalen Zugehörigkeit dar.14 Mit der Zeit radikalisierte sich der Ethnograph aber hinsichtlich einer zukünftigen polnischen Westgrenze: Als Spezialist für die westslawischen Sprachräume auf dem Gebiet des Deutschen Kaiserreichs nahm Parczewski im Dezember 1918 an einem Kongress teil, der sich der Gestaltung der polnischen Grenze und ihrer politischen, historischen wie ethnografischen Legitimierung widmen sollte. Die auf dem Kongress versammelten Gelehrten (überwiegend Historiker) lieferten in der Folge den Friedenskonferenzen zahlreiche Dokumente und Karten. Auf seinen langjährigen ethnografischen Erhebungen aufbauend,15 plädierte Parczewski sodann für eine wesentliche Westverschiebung der polnischen Grenze aus der Vorteilungszeit Richtung Oder (die jedoch noch nicht in ihrem ganzen Verlauf den Grenzfluss bilden sollte). In dem Memorandum „In Bezug auf Polens Westgrenze“ fasste er seine Vorstellungen zusammen: In den polnischen Staat sollten große Teile der Neumark wie auch des rechtsodrigen Schlesiens samt Oppeln und Breslau inkludiert werden. Im Norden sollte Pommerellen mit Stolp, Lauenburg und Bütow Polen angehören.16 Eng verwoben mit den politischen, historischen und ethnografischen Überlegungen zur polnischen West- und Nordgrenze jener Zeit war auch das akademische Fach der Kartografie, aus dem zahlreiche namhafte Gelehrte die – neben all den Pamphleten, Memoranden und Anträgen – wohl wichtigsten Dokumente als legitimierende Argumentationsgrundlagen während der Pariser Friedenskonferenz lieferten. Der 13 14 15 16
Alfons Parczewski: Szczątki kaszubskie w prowincji pomorskiej. Szkic historyczno-etnograficzny, Poznań 1896, 192. Vgl. Anna Wolff-Powęska: Alfons Parczewski (1849–1933) – W obronie polskości ziem zachodnich i północnych. In: Przegląd Zachodni 41 (1985) 1, 24–39. Wolff-Powęska: Alfons Parczewski, 36 f. Siehe hierzu Alfons Parczewskis zur Jahrhundertwende erschienene Studie O zbadaniu granic i liczby polskiej na kresach obszaru etnograficznego polskiego, Poznań 1900. Ders.: W sprawie zachodnich granic Polski. In: Przegląd Dyplomatyczny (1919) 8, 335–359. Vgl. Wolff-Powęska: Alfons Parczewski, 37 f. Vgl. Miloš Řezník: Das Königliche Preußen in den deutsch-polnischen Auseinandersetzungen um den „Historischen Charakter“ Pommerellen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Dietmar Willoweit, Hans Lemberg (Hg.): Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation, München 2006, 311–328.
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wohl bedeutendste und einflussreichste unter den polnischen Kartografen jener Zeit war zweifelsohne Eugeniusz Romer, der wie kein anderer den Begriff der „polnischen Kerngebiete“ (polskie ziemie rdzenne) prägte. Letztere definierte Romer neben historischen oder ethnografischen Überlegungen auch mit Verweis auf die natürlichen topo- und geografischen Gegebenheiten Mitteleuropas im Generellen und Polens im Speziellen. So seien Polens natürliche Grenzen im Norden und Süden seit alters her die Ostsee und die Gebirgszüge der Karpaten gewesen. Im Herzen dieses natürlichen Raumes liege (von ihrer Quelle in den Schlesischen Beskiden bis hin zu ihrem weitläufigen Mündungsdelta an der Ostsee) die Weichsel. In dem 1916 erschienenen und von Romer herausgegebenen monumentalen Werk „Geographisch-statistischer Atlas Polens“ zeichnete der Kartograf auch die Westgrenze eines zukünftigen polnischen Staates, die seiner Meinung nach auf den Flüssen Oder und Neiße liegen sollte. Diese Feststellung begründete er insbesondere mit dem Verweis auf physiografische Fakten aus dem Bereich der Hydrologie oder der Klimatologie. Für Romer bildete die OderNeiße-Linie nämlich nicht nur die natürliche Grenze zwischen Polen und Deutschland; hier verlief ihm zufolge auch die markanteste Trennlinie zwischen Ost- und Westeuropa. Im selben Atlas findet sich auch eine Karte von Władysław Semkowicz zu den historischen Grenzen Polens, die auf das piastische Erbe rekurrierend Romers Forderungen zugleich historisch untermauern sollte.17 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges eröffnete den polnischen Unabhängigkeitsaktivisten neue Möglichkeiten.18 Hatten allem voran die Teilungsmächte noch vor 1914 die polnische Frage mit größter Achtsamkeit behandelt und mit der Bewahrung des Status Quo und der entschiedenen Bekämpfung jeglicher Unabhängigkeitsbestrebungen verbunden,19 so bildeten schon kurz nach Kriegsausbruch die Polen selbst ein jetzt eifrig umworbenes Ziel der jeweiligen Kriegsparteien; „über Nacht“ seien sie „lieb Kind bei allen kriegführenden Nationen geworden“, wie die „Neue Zürcher Zeitung“ bereits am 8. August 1914 kommentierte.20 Sowohl die Mittelmächte als auch die Triple Entente versuchten in der Folge, die polnische Frage für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Am weitesten waren in den ersten Kriegsjahren wohl die Polenpläne erste17 18
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Eugeniusz Romer (Hg.): Geograficzno-statystyczny Atlas Polski, Warszawa/Kraków 1916. Vgl. Bernard Piotrowski: Eugeniusza Romera koncepcja Polski rdzennej. In: Przegląd Zachodni 41 (1985) 1, 40–69. Paul Srodecki: Bollwerk gegen Ost und West. Das Bild eines restituierten polnischen Staates in den Überlegungen polnischer Publizisten vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges. In: Oliver Auge, Knut-Hinrik Kollex (Hg.): Die große Furcht. Revolution in Kiel. Revolutionsangst in der Geschichte, Kiel 2021, 179–208. Vgl. A. Mitter: Das „Phantom“ Polen – die „polnische Frage“ in den Beziehungen zwischen den Teilungsmächten vom Ende der 1880er Jahre bis 1914. In: M. G. Müller, K. Struve (Hg.): Fragmentierte Republik. Das politische Erbe der Teilungszeit in Polen 1918–1939, Göttingen 2017, 223–254. Zitiert nach A. E. Senn: The Entente and the Polish Question 1914–1916. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 25 (1977) 1, 21–33, hier 21.
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rer vorangeschritten: Ein restituierter, allerdings vor allem außenpolitisch weitgehend von Deutschland und Österreich-Ungarn abhängiger polnischer Staat sollte den Platz eines wichtigen Pufferstaats gegen Russland einnehmen; die wehrfähigen Polen aus den besetzten Gebieten im Osten sollten zu ihren bereits im Deutschen Heer bzw. in den kaiserlich und königlichen Streitkräften der sogenannten Gemeinsamen Armee kämpfenden Landsleuten dazustoßen und in einer neu zu schaffenden polnischen Armee die Mittelmächte in ihrem Kampf gegen die Entente unterstützen. Hierzu wurde unter anderem im November 1916 das kurzlebige Regentschaftskönigreich Polen gegründet – ein vom Deutschen Reich und Österreich-Ungarn abhängiger Vasallenstaat ohne noch genau definierte Grenzen, die freilich erst nach Kriegsende festgelegt werden sollten. Die Staaten der Triple Entente, allem voran Russland, hielten hier selbstverständlich entschieden dagegen und versuchten ihrerseits, Einfluss auf die polnische Frage und die Polen zu nehmen. Relativ früh, da bereits zu Kriegsausbruch, stellte Petrograd die Vereinigung aller polnischen Gebiete (nach der Eroberung der deutschen und österreichisch-ungarischen Provinzen) unter dem Romanow-Zepter in Aussicht.21 Ein geeintes Polen sei nur unter russischer Führung und dem „Zepter des russischen Kaisers“ möglich, so der am 14. August 1914 an die Polen gerichtete Aufruf des Großfürsten Nikolai Nikolajetwitsch Romanow, des Oberbefehlshabers der russischen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg. Publizistische Unterstützung fanden die russischen Polenpläne auch durch zahlreiche aus der russischen Hauptstadt heraus agierende russophile Polen.22 Noch im September 1914 – quasi als direkte Antwort zum sogenannten Septemberprogramm des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg – wurden von Russland auch die ersten territorialen Umrisse eines restituierten Polens nach dem Sieg über Deutschland und Österreich-Ungarn vorgestellt: Der russische Außenminister Sergei Sasonow skizzierte in seinem „13-Punkte-Programm“ große Gebietsabtretungen der Mittelmächte; einem nach außen autonomen, in Wirklichkeit aber in Realunion mit Russland verbundenen Polen sollten hierbei alle rechtsodrigen Gebiete angegliedert werden (mit der Insel Wollin auf polnischer Seite; Stettin, Glogau, Ratibor und Brieg sollten hingegen bei Deutschland verbleiben; über Breslau und Oppeln sollte noch entschieden werden). Zur gleichen Zeit kam – höchstwahrscheinlich aus dem politischen Kreis rund um den oben genannten Nikolai Nikolajetwitsch Romanow – ein noch um einiges tollkühnerer Plan, der Polens zukünftige Westgrenze an die Flüsse Oder und Neiße verlegte (mit Stettin, Frankfurt an der Oder und Breslau für Polen). Interessenterweise finden sich in diesem zweiten, etwas vager und weniger offiziell formulierten Plan bereits die ersten Ansätze für eine generelle Westverschiebung Polens, sollten doch die polnischen Gebietsgewinne bis zur Oder-Neiße-Linie
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Siehe hierzu W. Toporowicz: Sprawa polska w polityce rosyjskiej 1914–1917, Warszawa 1973. I. Spustek: Polacy w Piotrogrodzie, 1914–1917, Warszawa 1966.
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mit gleichzeitigen Gebietsverlusten im Osten zugunsten des russischen Kaiserreichs einhergehen. Auch im Russland der Revolutionszeit wurden ähnliche Überlegungen bezüglich der polnischen Grenze propagiert, so etwa in einem im Juni 1917 von dem polnischen Nationaldemokraten Bolesław Jakimiak (1865–1942) unter dem Pseudonym Mściwoj Łahoda in Moskau verfassten und ein Jahr später, im November 1918 veröffentlichten Postulat Zachodnia granica Polski („Polens Westgrenze“) zur zukünftigen polnischdeutschen Oder-Neiße-Grenze.23 Jakimiak folgte in seinen Ausführungen einer hauptsächlich historischen Argumentationslinie, die sich auf ein territoriales Erbe der Piastenzeit berief. Ethnografische Auswertungen und Erhebungen der Vorkriegszeit, die zumeist die gegebenen Sprachräume und ihre Grenzen berücksichtigten, lehnte er grundlegend ab. Damit würde nämlich „dem polnischen Volke erneut Leid zugefügt, da in solch einem Falle alle Gebiete im Westen, wo die Deutschen unter strengsten und rücksichtslosesten Vergewaltigungen es geschafft haben, […] der polnischen Urbevölkerung die deutsche Sprache aufzuzwingen, bei Preußen verbleiben würden“.24 Im Osten Europas hingegen konnte dem russophilen Jakimiak zufolge das Polnische nie wirklich Fuß fassen und blieb stets ein fremdes Element.25 Auch Plebiszite lehnte er offen ab, sei doch der vermeintlich polnischen Urbevölkerung Schlesiens, Pommerns oder Ostpreußens ihre Zugehörigkeit zum polnischen Volke durch die preußischen Germanisierungsmaßnahmen vergangener Jahrhunderte nicht bewusst. Würden die Autochthonen also alleine über ihr Schicksal abstimmen, müssten sie sich gezwungenermaßen gegen das Polentum entscheiden. Für Jakimiak konnte die Lösung der historisch richtigen Grenzziehung eines restituierten polnischen Staates nur in die Hände von „Staatsmännern, Politikern, Strategen und ähnlichen Spezialisten“ gelegt werden, die „mit Fachwissen im Bereich [solcher Disziplinen wie] Geschichte, Geografie, Ethnografie etc. ausgestattet“ für Polen das beste Urteil fällen würden. Die Antwort auf die Frage, wie denn dieses Urteil letzten Endes in einer Friedenskonferenz ausfallen sollte, lieferte Jakimiak gleich selbst: So sollten die polnischen Grenzen den in seinen Augen wahren ethnografischen („und nicht so sehr den sprachlichen“) Verhältnissen folgen, nämlich entlang der Flüsse Oder und Neiße im Westen sowie der Gebirgszüge der Sudeten und Karpaten im Süden:
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Mściwoj Łahoda [Bolesław Jakimiak]: Zachodnia granica Polski, Moskwa 1918; Wrzeziński (Hg.): W stronę Odry i Bałtyku 1, Nr. 71; ebenda 2, Nr. 1. Łahoda [Jakimiak]: Zachodnia granica, 76 f.: „Jeden z projektów mówi, że do Polski należeć powinny terytorją etnograficzne polskie z większością polską, przyczem za podstawę określenia etnograficznej przynależności uważa się język ludności. Biorąc taką zasadę, wyrządza się nową krzywdę Narodowi Polskiemu, gdyż w takim razie wszystkie ziemie na zachodzie, gdzie Niemcy pod naciskiem najsroższych i najbezwzględniejszych gwałtów zdążyli narzucić więcej niż 50 proc. ludności rdzennej, polskiej, język niemiecki, pozostaną przy Prusach.“ Ebenda, 77.
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Ganz Pommern östlich der Oder, ganz Schlesien, sowohl das preußische als auch das Teschener, sollten als unsere piastischen, senioralen [gemeint ist das Polen der Senioratszeit (12.–13. Jahrhundert)] Gebiete gänzlich Polen einverleibt werden. Ebenso müssen die Zips wie auch das Arwagebiet annektiert werden. Der nordöstliche Teil Ostpreußens mit seiner litauischen Bevölkerung sollte den Litauern abgetreten werden.26
Darüber hinaus sollten die beiden Lausitzen zu einem „unabhängigen und vereinigten sorbisch-lausitzischen Fürstentum“ erhoben werden, in dem – in enger Anlehnung an den im Osten nun angrenzenden polnischen Staat – „das sorbisch-lausitzische Volk sich selbst regieren würde und nicht einem weiteren deutschen Joch und der Entvölkung ausgesetzt wäre“.27 Jakimiaks Forderungen wurzelten zudem auch in geostrategisch-militärischen Überlegungen: Durch die Verlegung der polnischen Grenzen an die Oder oder gar darüber hinaus sollte den polnischen Kernprovinzen eine wichtige Pufferzone geschaffen werden und zugleich Deutschland entscheidend geschwächt werden. Darüber hinaus würde die Oder-Neiße-Linie nicht nur eine natürliche Barriere zum westlichen Nachbarn bieten, sie stellte zugleich den möglichst kürzesten Grenzverlauf mit Deutschland dar – ein wichtiges Faktum im Falle eines drohenden militärischen Konflikts. Jakimiaks Überlegungen zu Polens territorialer Ausdehnung im Westen, Norden und Süden waren hierbei mit Sicherheit noch die extremsten, können aber durchaus als ideologische Wegbereiter für die späteren in Jalta und Potsdam festgelegten Grenzverläufe der Volksrepublik Polen gelten. Seine nationaldemokratischen Zeitgenossen um 1920 waren da noch ein wenig zurückhaltender und folgten zumeist den – verglichen mit Jakimiaks Forderungen nach der Oder-Neiße-Grenze – von Dmowski vorgebrachten Gebietsansprüchen in Oberschlesien, Pommerellen und dem südlichen Ostpreußen. Einer von ihnen war Stanisław Grabski (1871–1949), der in seiner 1922 veröffentlichten Schrift „Anmerkungen zum gegenwärtigen historischen Augenblick Polens“ (Uwagi o bieżącej historycznej chwili Polski) den Fokus auf Polens Nordgrenze legte. Das Polen der Piasten und Jagiellonen habe fortwährend mit den Deutschen um die südliche Ostseeküste gekämpft. Polen müsse dieses Erbe wieder aufgreifen und seinem Staatsterritorium Pommerellen, das Ermland und die Masuren einverleiben, um so einem unabhängigen polnischen Staat den Zugang zum Meer zu gewähren, was wiederum dessen Unabhängigkeit langfristig garantieren würde. Die Abkehr von der jagiellonischen Ost- hin zu einer piastischen Westpolitik sei somit überlebenswichtig für Polen: Ohne den Zugang zum Dnjepr kann Polen existieren; es kann aber nicht ohne einen permanenten Zugang zum Meer existieren. Es ist zudem nicht ohne Bedeutung, dass in den
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Ebenda, 79. Ebenda.
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außerhalb unserer Ostgrenze gelegenen Gebieten […] der Anteil der polnischen Bevölkerung keine 20 Prozent erreicht, im preußischen Masuren, welches die Hälfte Ostpreußens bildet, das ethnographische polnische Element die absolute Mehrheit besitzt.28
2. Der Westgedanke in der Zwischenkriegszeit Auch nach der Restitution des polnischen Staates 1918 und seiner territorialen Konsolidierung in den Folgejahren bildete die Frage, von welchem der beiden mächtigen Nachbarn – Deutschland oder der Sowjetunion als der Nachfolgerin des Russländischen Imperiums – die größte Gefahr ausginge, die programmatische Dichotomie der polnischen Außenpolitik: Während das politische Lager rund um Józef Piłsudski, die sogenannte Sanacja, das föderative Konzept des Intermariums, also einer Allianz der verschiedenen Staaten und Völker zwischen der Ostsee, dem Schwarzen und dem Adriatischen Meer unter polnischer Führung als Bollwerk gegen das bolschewistische Russland verfolgte,29 befürchtete die Endecja rund um Roman Dmowski ein Wiedererstarken Deutschlands – und sah in der bewussten politischen, wirtschaftlichen wie territorialen Schwächung des westlichen Nachbarn das Hauptziel einer jeden polnischen Außenpolitik.30 Auch wenn eine Verschiebung der polnischen Westgrenze Richtung Oder-Neiße-Linie in der Zwischenkriegszeit als ein in seiner politischen Umsetzung wenig realistisches Unterfangen erachtet wurde und unter Piłsudski die außenpolitische Aufmerksamkeit fast ausschließlich der sowjetischen Bedrohung und der Sicherung der polnischen Ostgrenze galt, wurde der Westgedanke allem voran in rechtsnationalen Kreisen gepflegt. Der 1921 von solch namhaften politischen Aktivisten wie Teodor Tyc (1896–1927) gegründete „Verein zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete“ (Związek Obrony Kresów Zachodnich, ab 1933 Polski Związek Zachodni [Polnischer Westverein]) widmete sich nicht nur der programmatischen Verteidigung der polnischen Westgrenze, wie sie nach der Konsolidierung der Zweiten Polnischen Republik Bestand hatte.31 28
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Stanisław Grabski: Uwagi o biężacej chwili Polski, Warszawa 1922, 142–145: „Bez dostępu do Dniepru Polska może istnieć, ale nie może istnieć bez trwałego dostępu do morza. Jest wzgląd rozstrzygający. Nie bez znaczenia wszakże jest również, że gdy na ziemiach leżących poza naszą wschodnią granicą […] procent ludności polskiej nie dosięga dwudziestu od sta, to na Mazurach Pruskich, stanowiących połowę Prus Wschodnich, żywioł etnograficznie Polski posiada absolutną większość.“ Vgl. Czubiński: Polska myśl zachodnia, 17 f. Siehe hierzu Andrzej Nowak: Polska i „trzy“ Rosje. Studium polityki wschodniej Józefa Piłsudskiego (do kwietnia 1920 roku), Kraków 2001. Zu dem auf die nationale Aushöhlung und Unterwanderung der Sowjetunion abzielenden ideologischen Konstrukt des Prometheismus siehe Jan Jacek Bruski: Between Prometheims and Realpolitik. Poland and Soviet Ukraine, 1921–1926, Kraków 2016. Jan Wąsicki: Życie w służbie polskich kresów zachodnich – Teodor Tyc (1896–1927). In: Przegląd Zachodni 41 (1985) 1, 70–97.
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Abb. 2 „Pommernmonat des Vereins zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete – lasst uns Pommern vor dem Ansturm der Deutschordensritter verteidigen.“ 16.11.–16.12.1930 URL: https://t1p.de/y8nzf (04.02.2022), Lizenz: CC0 1.0 Universal (CC0 1.0).
Der Verein wie auch sein publizistisches Sprachrohr, die von 1927 bis 1933 herausgegebene Zeitschrift Strażnica Zachodnia („Westliche Wacht“), thematisierten auch immer wieder die polnischen bzw. westslawischen Minderheiten im Deutschen Reich. Die Idee von weiteren polnischen Gebietserweiterungen im Westen und Norden zuungunsten Deutschlands wurde hierbei aufrechterhalten.32 Noch kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges veröffentlichte der Polnische Westverein ein Buch, auf dessen Cover eine Westverschiebung der polnischen Grenze Richtung Oder suggeriert worden war.
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Siehe hierzu Marian Mroczko: Związek obrony kresów zachodnich 1921–1934, Gdańsk 1977.
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Abb. 3 Umschlagbild des von Henryk Werniński innerhalb der Serie Polska Zwrócona na Zachód („Polen dem Westen zugewendet“) veröffentlichten Buches Adolf Hitler o Polsce i Polakach („Adolf Hitler über Polen und die Polen“), Poznań 1939. Lizenz: Privatbesitz des Autors
Weitere ähnliche Vereine und wissenschaftliche Institute wie etwa das an der Posener Universität angesiedelte Westslawische Institut (Instytut Zachodnio-Słowiański, 1921), das Baltische Insitut (Instytut Bałtycki) in Thorn (1925) oder das Schlesische Institut (Instytut Śląski) in Kattowitz (1934) erhielten den Westgedanken ebenfalls am Leben.33 Während des Zweiten Weltkriegs erlebte das Thema der Oder-Neiße-Linie als neue polnisch-deutsche Grenze eine regelrechte Renaissance.34 Der nationaldemokratische Untergrund Ojczyzna („Das Vaterland“) erklärte nun die Umsetzung der piastischen Idee zum Hauptziel der territorialen Nachkriegsordnung Mitteleuropas. Neben Jan 33 34
Czubiński: Polska myśl zachodnia, 19 f. Siehe hierzu Piotr Eberhardt: The Oder-Neisse Line as Poland’s Western Border: As Postulated and Made a Reality. In: Geographica Polonica 88 (2015) 1, 77–105.
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Zdzitowiecki (1898–1975), Andrzej Grodek (1901–1959), Jan Jacek Nikisch (1910–1996), Edward Serwański (1912–2000) oder Edmund Męclewski (1913–1992) tat sich hierbei allen voran Zygmunt Wojciechowski (1900–1955) als einer der einflussreichsten Vordenker hervor.35 Aus dem Kreise letzterer ist bereits 1944 auch das spätere Westinstitut angedacht worden, von dem weiter unten noch einmal die Rede sein wird. Die entscheidenden Impulse kamen aber selbstverständlich von außen, waren doch die Nachkriegsordnung und territoriale Umgestaltung Europas nur vom Wohlwollen und dem Unwillen der Alliierten abhängig. So war es Winston Churchill, der 1943 auf der Konferenz in Teheran die Westverschiebung der polnischen Grenze an die Oder vorschlug, allerdings noch ohne die Neiße. Die Oder-Neiße-Linie wurde sodann in Jalta und Potsdam im Februar bzw. Juli/August 1945 beschlossen. Stalins Forderung nach der Curzonlinie als der neuen polnisch-sowjetischen Grenze und den hiermit einhergehenden polnischen Gebietsverlusten im Osten sollten territoriale Zugewinne zugunsten Polens und zuungunsten Deutschlands im Westen folgen. 3. Kommunistische Rückgriffe auf nationaldemokratische Ideen Die in Jalta und Potsdam beschlossenen politischen Realitäten der territorialen Nachkriegsordnung stellten die neuen Machthaber in Polen vor eine schwierige Aufgabe: Einerseits mussten die Gebietsverluste im Osten erklärt, andererseits die räumliche Westverschiebung des polnischen Staates an die Oder-Neiße-Linie legitimiert werden. Hier griffen die Kommunisten größtenteils auf ihre nationaldemokratischen Vordenker zurück. Auch bei der offiziellen Bezeichnung der annektierten ehemaligen ostdeutschen Gebiete knüpften die Nationalkommunisten an das nationaldemokratische Erbe des frühen 20. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit an: Die anfangs noch als „westliche und nördliche Gebiete“ (Ziemie Zachodnie i Północne, ZZiP) oder als „postulierte“ (ziemie postulowane), „neue“ (ziemie nowe) oder „zurückkehrende Gebiete“ (ziemie wracające) bezeichneten Territorien wurden alsbald im offiziellen Schrifttum propagandistisch als „piastische“ oder vor allem als „wiedergewonnene Gebiete“ betitelt. Als hilfreich erwies sich das noch vor Kriegsende, da am 27. Februar 1945, im von deutschen Truppen befreiten Posen gegründete Westinstitut (Instytut Zachodni), zu dessen erstem Direktor sein Gründer, der Historiker und Deutschlandspezialist Zygmunt Wojciechowski, erhoben wurde. Geradezu programmatisch und stellvertretend für die Selbstauffassung des Instituts war die erste von diesem veröffentlichte Abhandlung: In der propagandistischen Schrift „Oder-Neiße: Polens beste Grenze“ (Odra-Nisa: Najlepsza granica Polski) sollte Polens neue Westgrenze aus historischer,
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Marian Mroczko: Zygmunt Wojciechowski jako historyk polskich ziem zachodnich oraz stosunków polsko-niemieckich. In: Przegląd Zachodni 41 (1985) 1, 98–114.
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geostrategischer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Perspektive unter dem Deckmantel einer akademischen Wissenschaftssprache als die einzig gerechte deutschpolnische Grenze legitimiert werden.36 Weitere Schriften und Artikel mit ähnlichem Charakter folgten. Für die administrative und politische Eingliederung der neugewonnenen Gebiete wurde am 13. November 1945 mit dem Dekret 29 das „Ministerium für die Wiedergewonnen Gebiete“ (Ministerstwo Ziem Odzyskanych, kurz MOZ) errichtet. Erster Minister von 1945 bis 1949 war der kommunistische Funktionär und spätere Parteichef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR), Władysław Gomułka. Dem MOZ wurde unter anderem das Staatliche Repatriierungsamt untergeordnet, das die Repolonisierung der „wiedergewonnenen Gebiete“ aktiv vorantreiben sollte.37 So fand in Berufung auf das historische Erbe nach 1945 eine vom Staat vorangetriebene „Domestizierung des [fremden] Raumes“38 statt. Die Umsiedlung der größtenteils aus den ehemaligen ostpolnischen Gebieten vertriebenen Bevölkerung in die neuen West- und Nordgebiete hatten die Genese einer neuen lokalen Identität zur Folge.39 Eine langsame Akzeptierung und Auseinandersetzung mit dem deutschen historischen und kulturellen Erbe in den nach 1945 annektierten polnischen Westgebieten fand erst nach den politischen Umbrüchen 1989 statt.40 Es ist nicht die Aufgabe dieses Artikels, die mannigfaltigen propagandistischen Bemühungen der Volksrepublik Polen in der Zeit nach 1945 zur Legitimierung der annektierten West- und Nordterritorien zu thematisieren. Ich möchte aber abschließend auf eine interessante Vergleichsebene zu sprechen kommen, nämlich die Propagandaplakate rund um die angegliederten bzw. (im Falle der Jahre 1919 und 1920) von den Plebisziten umfassten Territorien in den Jahren unmittelbar nach dem Ende der beiden Weltkriege. Bemerkenswerterweise spielte das von den Nationaldemokraten so gerne vorgebrachte „piastische Erbe“ in den Propagandaplakaten der Jahre 1919 und 1920 gar keine oder nur eine marginale Rolle. Vielmehr wurde versucht, insbesondere an die 36 37
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Maria Kiełczewska, Andrzej Grodek: Odra – Nisa: Najlepsza granica Polski, Poznań 1946. Hierzu überblickshaft mit Verweisen auf weitere Forschung Bogdan Snoch (Hg.): Władze komunistyczne wobec ziem odzyskanych po II wojnie światowej: materiały z konferencji, Słupsk 1997; Kazimierz Kozłowski (Hg.): Osadnictwo polskie na Pomorzu Zachodnim 1945–1950. Mity i rzeczywistość. Materiały z sesji naukowej, 2 Bde., Szczecin 2002/03. Ewa Kopczyńska: Udomawianie przestrzeni. Dynamika tożsamości na Ziemiach Zachodnich. In: Andrzej Bukowski, Marcin Lubaś, Jacek Nowak (Hg.): Społeczne tworzenie miejsc, Globalizacja – Etniczność – Władza, Kraków 2010, 187–201. Andrzej Sakson: Przemiany tożsamości lokalnej i regionalnej mieszkańców Ziem Zachodnich i Północnych. In: Ders., A. Michalak (Hg.): Polskie Ziemie Zachodnie. Studia Socjologiczne, Poznań 2011, 79–100; A. Toczewski (Hg.): Ziemia lubuska. Studia nad tożsamością regionu, Zielona Góra 2004. Emilia Kledzik, Maciej Michalski, Małgorzata Praczyk (Hg.): „Ziemie Odzyskane“. W poszukiwaniu nowych narracji, Poznań 2008; Andrzej Brencz: Oswajanie niemieckiego dziedzictwa kulturowego. Z badań etnologicznych na Środkowym Nadodrzu. In: Z. Mazur (Hg.): Wokół niemieckiego dziedzictwa kulturowego na Ziemiach Zachodnich i Północnych, Poznań 1997, 191–216.
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wirtschaftlichen Interessen der umworbenen Bevölkerung zu appellieren; sprachliche Faktoren wurden – wenn auch im geringeren Maße – ebenfalls bemüht. Ganz anders sah es hier in den Jahren nach 1945 aus: Die volksrepublikanischen Offiziellen beriefen sich nun in erster Linie auf die Rückkehr der einst piastischen und vom aggressiven Deutschtum mit seinem „Drang nach Osten“ entrissenen Gebiete zum Mutterland Polen. Diese Argumentation sollte nicht nur die Westverschiebung der polnischen Grenzen legitimieren. Auf den Propagandaplakaten wie auch in einschlägigen Publikationen sollte somit auch insgeheim der aus den nun ehemaligen und an die Sowjetunion abgetretenen ostpolnischen Gebieten deportierten polnischen Bevölkerung ihre Umsiedlung erklärt werden. Hierbei wurden die „wiedergewonnenen Gebiete“ auch als ein wirtschaftlicher Zugewinn des polnischen Staates gefeiert; Verweise auf die räumlichen und infrastrukturellen Vorzüge der neuen Gebiete finden sich ebenso. Die historische Legitimierung mit dem Verweis auf die einstigen Grenzen des Piastenreichs ist jedoch omnipräsent.
Abb. 4 Links: „Das Erbe der Piasten“. Umschlagbild des 1944 von Leszek Prorok unter dem Pseudonym Modrzew veröffentlichten Buches Dziedzictwo Piastów. Mitte: „Flieg im Höhenschwung, unser Adler. Nach Posen und Danzig! Nach Schlesien und Pommerellen!“ Propagandaplakat 1944. Rechts: „An die Oder, zum Land der Väter und zum Wohlstand.“ Propagandaplakat 1945. Lizenzen: Alle Bilder im Privatbesitz des Autors
Diese auffälligen und nur exemplarisch als pars pro toto an dieser Stelle herangezogenen Unterschiede zwischen den Propagandaplakaten der Jahre nach 1918 und 1945 mögen auch den politischen Realitäten geschuldet gewesen sein: In den zahlreichen Plebisziten nach der Restitution des polnischen Staates 1918 musste die Bevölkerung umworben werden. Die ethnischen Verhältnisse waren von befragtem Landkreis zu Landkreis unterschiedlich mit einmal mehr deutscher, einmal mehr polnischer oder autochthoner Bevölkerung. So finden sich auch zahlreiche Plakate mit Aufschriften
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in polnischer und deutscher Sprache. Die Lage nach den Beschlüssen von Jalta und Potsdam war indessen eine diametral andere: Die Grenzen waren längst beschlossene Tatsachen, das Volk musste nicht erst umworben werden. Es musste von der historischen, politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeit der territorialen Verschiebungen überzeugt werden. Zudem bildete fortan der Topos von den „wiedergewonnenen Gebieten“ einen der Eckpfeiler innerhalb der Gründungsmythen der Volksrepublik Polen. In diesem Geiste, aufbauend auf der postulierten Richtigkeit der polnischen post-1945-Grenzen, wurden ganze Generationen erzogen. An die „Rückkehr“ der im späten Mittelalter „verloren gegangenen“ und 1945 „wiedergewonnenen“ Gebiete wurde propagandistisch immerfort in großangelegten Jubiläumsveranstaltungen erinnert.
Abb. 5 „Wir waren, sind und werden sein.“ Volksrepublikanische Briefmarkenserie zum 40-jährigen Jubiläum der „Wiedergewonnenen Gebiete“. Von links: der Piastenfürst Boleslaus Schiefmund von Polen (1086–1138); Władysław Gomułka (1905–1982); Piotr Zaremba (1910–1993), von 1945 bis 1950 erster volksrepublikanischer Präsident der Stadt Stettin Lizenzen: Alle Briefmarken aus der privaten Sammlung des Autors
Wie im Falle der Berufung auf das piastische Erbe bedienten sich die Kommunisten bei der terminologischen Legitimierung der Annexionen Schlesiens, der Neumark, Pommerns und des südlichen Ostpreußens im rechtsnationalen Lager der Zwischenkriegszeit. Tatsächlich wurde der später von der volksrepublikanischen Propaganda gerne bemühte Terminus „wiedergewonnene Gebiete“ offiziell erstmals in den späten 1930er Jahren gebraucht, als im Zuge der Münchener Konferenz der polnische Präsident Ignacy Mościcki in einem Dekret vom 11. Oktober 1938 feierlich die „Vereinigung der wiedergewonnenen Gebiete des Teschener Schlesiens mit der polnischen Rzeczpospolita“ verlauten ließ.41 Die Annexion des mehrheitlich von Polen bewohnten und im 41
Dekret Prezydenta Rzeczypospolitej z dnia 11 października 1938 r. o zjednoczeniu Odzyskanych Ziem Śląska Cieszyńskiego z Rzecząpospolitą Polską. In: ISAP – Internetowy System Aktów Prawnych, http://isap.sejm.gov.pl/isap.nsf/DocDetails.xsp?id=WDU19380780533, letzter Zugriff: 03.02.2022.
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westlichen Teil des Teschener Schlesiens gelegenen Olsagebiets wurde auch propagandistisch legitimiert. Hierbei wurde anders als noch bei den Plebisziten in den frühen 1920er Jahren auf die historische Richtigkeit des territorialen Anschlusses verwiesen. 4. Fazit Das ideologische Konstrukt und die Realisierung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze wie auch die hiermit einhergehende, im polnischen Kollektivbewusstsein fest verankerte Wendung von den sogenannten wiedergewonnenen Gebieten wird bis in die heutige Zeit zumeist mit der Volksrepublik Polen verbunden. Zumindest im Hinblick auf die territoriale Umsetzung entspricht das auch der Wahrheit. Die ideologischen Grundlagen wurden hier aber, wie in dieser kurzen Abhandlung gezeigt, bereits im späten 19., allem voran dann aber im frühen 20. Jahrhundert gelegt. Dabei wurde die Oder-Neiße-Linie von den polnischen Unabhängigkeitsaktivisten aus dem nationaldemokratischen Lager auf unterschiedliche Art und Weise legitimiert: Neben geostrategisch-politischen Überlegungen nach der möglichst kürzesten Grenze zum omnipotenten deutschen Nachbarn wurden hierbei ethnografische, wirtschaftliche oder gar physiografische Argumente vorgebracht. Am populärsten und in seiner Wirkung als am prägendsten erwies sich dabei das nationalhistorische Postulat eines im Mittelalter gesuchten „piastischen Erbes“. Diese Argumentationsweise – wenn sie denn natürlich auch polnische Eigenheiten aufweisen mag – war in einem europaweiten Vergleich gerade in der für solche Untersuchungsgegenstände höchst spannenden Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kein Novum oder gar ein polnischer „Sonderweg“. Wie die anderen Artikel dieses Bandes eindrücklich zeigen, gehörte das Rekurrieren auf historische Gebietsansprüche fast schon zum narrativen Einmaleins aggressiver, auf Expansion ausgerichteter Außenpolitik der modernen Nationalstaaten. Die Beispiele der französischen Réunionspolitik mit einer Berufung auf den Rhein als der historisch einzig richtigen französischen Ostgrenze oder der dänischen Ansprüche auf Schleswig-Holstein als seit dem Mittelalter mit der dänischen Krone verbundenen Länder zeigen durchaus Parallelen zu den Forderungen der polnischen Nationaldemokraten nach Annexionen zuungunsten des Deutschen Reichs bzw. – in seiner extremsten Form – nach der Oder-Neiße-Linie als der „legitimsten“, da vermeintlich „ursprünglichsten“ aller polnischen Grenzen. Die letztliche Umsetzung des nationaldemokratischen Westgedankens durch die Kommunisten nach 1945 zeigt zudem interessante ideologische Verflechtungen zwischen zwei vermeintlich sich diametral gegenüberstehenden politischen Lagern.42
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Hierzu Grzegorz Strauchold: Myśl zachodnia i jej realizacja w Polsce Ludowej w latach 1945–1957, Toruń 2003.
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Zur Person: Paul Srodecki ist Osteuropa-Historiker mit Forschungsschwerpunkten im Bereich der Geschichte Polens vom 10. bis ins 20. Jahrhundert, den Identitäts-, Alteritäts- und Alientitätskonstruktionen im östlichen Europa und dem europäischen Wissenstransfer im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Dr. Paul Srodecki [email protected]
Aufsätze
Von Strandrecht und Strandraub Die Elbmündung als Schauplatz dithmarsisch-hamburgischer Konflikthorizonte im 13. und 14. Jahrhundert Stefan Brenner Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 81–119
Of Wrecking Rights and Beach Robbery The Elbe estuary as an area of conflict between Dithmarschen and Hamburg in the 13th and 14th Centuries Kurzfassung: Der Niederelberaum präsentiert sich im Spätmittelalter als eine Konfliktregion sui generis: Entgegen allen kaiserlichen und päpstlichen Disqualifikationen der Ausübung des Strandrechts (ius litoris/naufragii) zur Straftat hielten die meisten Flussanrainer zum Leidwesen der umliegenden Hansestädte recht hartnäckig an dieser überkommenen Rechtspraxis fest. Überfälle auf gestrandete oder gescheiterte Kaufleute und Güterwegnahmen waren damit ein geradezu alltägliches Phänomen. Die Folge waren zahlreiche, mitunter gewaltsam ausgetragene Auseinandersetzungen vor allem zwischen den im Elbemündungsgebiet gelegenen, quasiautonomen Kirchspielkonföderationen Dithmarschen, Hadeln und Wursten auf der einen und der aufstrebenden Hansestadt Hamburg auf der anderen Seite. Wie sich dieser Konflikthorizont insbesondere mit Blick auf Dithmarschen und Hamburg ausgestaltete und wie er letztlich das spätmittelalterliche Dithmarschen innen- wie außenpolitisch prägend beeinflusste, ist Gegenstand der nachstehenden Untersuchung. Schlagworte: Konfliktgeschichte, Niederelberegion, Dithmarschen, Hamburg, Hanse, Strandrecht/Strandraub Abstract: The Lower Elbe region presents itself as a sui generis conflict region in the late Middle Ages. Despite imperial and papal disqualifications of exercising the right of shipwreck (ius litoris/ naufragii) as a criminal offence, many stakeholders in the use of the Lower Elbe clung to this custom, much to the chagrin of the surrounding Hanseatic towns. Raids on stranded or failed merchants and the taking of goods were thus an almost everyday phenomenon. The result was numerous, sometimes violent disputes, especially between the quasi-autonomous parish confed-
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erations of Dithmarschen, Hadeln and Wursten at the mouth of the Elbe on the one hand and the aspiring Hanseatic city of Hamburg on the other. How this horizon of conflict developed, especially with regard to Dithmarschen and Hamburg, and how it ultimately had a formative influence on late medieval Dithmarschen, is the subject of the following article. Keywords: conflict history, Lower Elbe region, Dithmarschen, Hamburg, Hanseatic League, wrecking/beachcombing
Seit jeher beanspruchten die mittelalterlichen Küsten- und Uferbewohner an Europas Meeren, Seen und Flüssen das Recht für sich, jegliches fremdes Strandgut auf Basis überkommener, gewohnheitsmäßig praktizierter Rechtsnormen an sich nehmen zu dürfen. Dieses Recht an dem Strand und den dortigen Funden – kurzum das Strandrecht –1 bringt eine der frühesten Rechtsvorstellungen des Menschen zum Ausdruck, das wie kaum ein anderes Motiv die mittelalterliche Wirtschafts- und Verkehrs- sowie nicht zuletzt die Rechtsgeschichte der Küstenregionen Europas durchzieht. Dieses Aneignungsrecht bezog sich dabei nicht nur auf angetriebene Objekte natürlichen Ursprungs wie Fische oder Treibholz; im Verlauf des Mittelalters wurde es regelmäßig auch auf angetriebenes und damit als herrenlos interpretiertes Frachtgut bis hin zu gescheiterten Schiffen inklusive deren Besatzung angewendet, die auf diese Weise gleichermaßen in das Eigentum des Finders oder der jeweiligen Obrigkeit übergehen konnten. Angesichts der Tragweite dieser Rechtsvorstellung muss die (Aus-)Nutzung des Strandrechts geradezu als ein zentraler Unsicherheitsfaktor mittelalterlichen, wassergebundenen Warenverkehrs sowie schließlich vormoderner Mobilität insgesamt begriffen werden.
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Das aktuelle Standardwerk zum Strandrecht in Nordeuropa wurde 1955 von Vilho Niitemaa vorgelegt. Seitdem wurde sich mit diesem Sujet aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive kaum auseinandergesetzt, sodass der von ihm präsentierte Forschungsstand im Wesentlichen immer noch aktuell ist. Vilho Niitemaa: Das Strandrecht in Nordeuropa im Mittelalter (Suomalaisen Tiedeakatemian toimituksia. Sarja B, 94), Helsinki 1955. Siehe auch die ausgewogen positive Buchbesprechung von Charles C. Bayley. In: Speculum 32 (1957), 1, 195–197. Der große Wert und Nutzen der Arbeit Niitemaas liegt darin begründet, dass sie anders als die wenigen regionalen Einzelstudien zum Strandrecht aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert, wie sie etwa von Carl Rußwurm oder Friedrich Techen betrieben wurden, eine raum- und epochenübergreifende Perspektive einnimmt und dadurch schließlich eine systematische Zusammenschau der Entwicklung des mittelalterlichen Strandrechts in Nordeuropa liefern kann. Carl Russwurm: Über das Strandrecht in den Ostseeprovinzen. In: Mittheilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Ehst- und Kurlands 10 (1861) 1, 3–24; Friedrich Techen: Das Strandrecht an der Mecklenburgischen Küste. Mit einem Anhang über Seezeichen und Lotsen daselbst. In: Hansische Geschichtsblätter 33 (1906), 271–308; Rudolf Hey: Das Strandrecht im Lande Wursten. In: Jahrbuch der Männer vom Morgenstern 26 (1932/34), 71–96; Helmut Rothhardt: Der Kampf Lübecks gegen die Ausübung des Strandrechts im Ostseeraum, Würzburg 1938.
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Der vorliegende Aufsatz möchte sich diesem über Regionen- und Epochengrenzen hinweg greifbaren Phänomen nun aus einer regionalgeschichtlichen Perspektive annähern und mit dem Niederelberaum eine Konfliktregion sui generis in den Blick nehmen, die im Spätmittelalter vor mitunter gewaltsam ausgetragenen Auseinandersetzungen im Umfeld von Strandrecht und Strandraub geprägt war. Im Fokus soll dabei auf der einen Seite die Stadt Hamburg stehen, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts von einem außerordentlichen wirtschaftlichen Aufschwung ergriffen wurde und folglich ein vitales Interesse an einer Befriedung der für die Stadt essenziellen Handelsschifffahrt auf der Elbe hatte. Auf der anderen Seite richtet sich der Blick schwerpunktmäßig auf die sich in etwa zeitgleich herausbildende quasiautonome Kirchspielkonföderation Dithmarschen und konkreter auf die zur Elbe hin gelegenen Parochien Brunsbüttel und Marne. Diese hielten bis zum Ende des 14. Jahrhunderts und darüber hinaus, ungeachtet einer Kriminalisierung der Ausübung des Strandrechts durch Kaiser und Päpste, an diesem Gewohnheitsrecht fest und traten zum Leidwesen Hamburgs aber auch anderer regionaler Hansestädte regelmäßig als Störfaktor des Warenverkehrs entlang des Flusses in Erscheinung (Abb. 1). Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, diesen bisher nicht grundlegend erforschten, gleichwohl für die Geschichte des spätmittelalterlichen Niederelberaums besonders relevanten Aspekt der dithmarsisch-hamburgischen Beziehungsgeschichte vor dem Hintergrund der damals in der gesamten Region geradezu virulenten und damit raumprägenden Strandrechtproblematik auszuleuchten.2 Dabei sollen die Ausgestal2
Die spätmittelalterlichen dithmarsisch-hamburgischen Konflikthorizonte im Umfeld von Strandrecht und Strandraub sind aus hamburgischer Perspektive nur sehr randständig berücksichtigt worden, während sie wiederum die dithmarsische Geschichtsschreibung als Themengebiet zwar latent durchziehen, jedoch auch von dieser Seite bisher keine systematische Erforschung erfahren haben. Hinsichtlich der hamburgischen Perspektive siehe etwa: Klaus Richter: Hamburgs Frühzeit bis 1300. In: Werner Jochmann, Hans-Dieter Loose (Hg.): Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Bd. I: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, Hamburg 1982, 17–100, hier 87; Peter Gabrielsson: Die Zeit der Hanse, 1300–1517. In: Werner Jochmann, Hans-Dieter Loose (Hg.): Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Bd. I: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, Hamburg 1982, 101–190, hier 147; Horst Tschentscher: Die Entstehung der hamburgischen Elbhoheit (1189–1482). Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Territorialgewässer. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 43 (1956), 1–48, hier insbesondere 4–9. Zur Erforschung dieses Themenhorizonts aus dithmarsischer Perspektive: Robert Chalybäus: Geschichte Dithmarschens bis zur Eroberung des Landes im Jahre 1559, Kiel u. a. 1888, 103–106, 109 f., 119 f.; Werner Carstens: Bündnispolitik und Verfassungsentwicklung in Dithmarschen bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 66 (1938), 1–37, hier 12 f.; Heinz Stoob: Die Dithmarsischen Geschlechterverbände. Grundfragen der Siedlungs- und Rechtsgeschichte in den Nordseemarschen, Heide 1951, 121–129; Ders.: Dithmarschen und die Hanse. In: Hansische Geschichtsblätter 73 (1955), 117–145, hier 119–122; Ders.: Geschichte Dithmarschens im Regentenzeitalter, Heide 1959, 24 f. Am ausführlichsten, wenn auch nur bis 1316, hat sich Ulrich Hübbe mit diesen Sachverhalten beschäftigt: Ulrich Hübbe: Verhältnisse der Dithmarscher mit den Hamburgern, vom Jahre Christi 1265 bis 1316. Aus Urkunden. In: Friedrich Dahlmann (Hg.): Johann Adolfi’s, genannt Neocorus, Chronik des Landes Dithmarschen, Bd. 2, Kiel 1827, 648–670.
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Abb. 1 Dithmarschen am Übergang von Hoch- zu Spätmittelalter im Ausschnitt. Die Karte ist abgedruckt mit freundlicher Erlaubnis von Dr. habil. Dirk Meier.
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tungsformen sowie die politischen bzw. die wirtschaftlichen Konsequenzen der dithmarsischen Strandrechtsausübung genauso berücksichtigt werden wie die Bekämpfung und Zurückdrängung derselben durch Hamburg. Um verstehen zu können, warum das Strandrecht an der Niederelbe und konkret an den Küsten und Ufern Dithmarschens vergleichsweise lange gelebte Rechtspraxis war, gilt es zunächst die Entwicklungslinien des mittelalterlichen Strandrechts in Nordeuropa nachzuziehen und den Niederelberaum sowie schließlich das an den Ufern und Küsten Dithmarschens gewohnheitsmäßig praktizierte Strandrecht darin zu verorten. Daran anschließend werden die dithmarsisch-hamburgischen Konflikthorizonte rund um Strandrecht und Strandraub bis etwa ins Jahr 1400 umfassend abgehandelt, die abseits einer nicht enden wollenden Kette an Verträgen und Schadloshaltungen sogar in regelrechten Kleinkriegen eskalierten. An der Schwelle zum 14. Jahrhundert griff im Hamburger Stadtrat und in der Bürgerschaft dann sukzessive die Erkenntnis Raum, dass eine effektive und langfristige Überwindung des Strandrechts nur auf Basis von Absprachen und Verträgen mit den übrigen Anrainern nicht gelingen konnte. In der Konsequenz betrieb die Elbstadt fortan eine stützpunktbasierte Bekämpfung des Strandrechts sowie anderer Formen der Warenwegnahmen und legte damit das Fundament für die Herausbildung eines insbesondere im 15. Jahrhundert Gestalt annehmenden hamburgischen Elbhoheitsanspruchs – auf diesen Sinnzusammenhang wird im letzten Abschnitt eingegangen. Angesichts dieses thematischen Zuschnitts versteht sich die Studie nicht nur als Abhandlung zur Wirtschafts- und Konfliktgeschichte des mittelalterlichen Niederelberaums und seiner Akteure; sie liefert auch einen Beitrag zu einer regionalen Hansegeschichte.3 1. Genese und Entwicklung des Strandrechts im mittelalterlichen Nordeuropa In weiten Teilen Europas sahen sich die Anwohner von Ufern und Stränden gewohnheitsmäßig in dem Recht, jegliches fremdes Treibgut, das an ihre Strände angeschwemmt wurde, oder sonstige aus dem Wasser geborgene Objekte eigenverantwortlich in Besitz nehmen zu dürfen.4 Alles, was das Meer anspülte, betrachtete der Finder oder die jeweilige Obrigkeit als aneignungsfähig und damit als sein und ihr rechtmäßiges sowie uneingeschränktes Eigentum – ob es sich dabei um natürliches oder Material menschlichen Ursprungs handelte, spielte grundsätzlich keine Rolle. Dieses Recht 3 4
Siehe zu der programmatischen Verknüpfung von Hanse- und Regionalgeschichte zuletzt: Oliver Auge: Die Hanse in der Region und Regionalgeschichte. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 37 (2019), 37–56. Niitemaa: Strandrecht, 14–18. Unter das Strandrecht fiel im Mittelalter in der Regel lediglich der Umgang mit Objekten menschlichen Ursprungs, also etwa über Bord gegangenen und angetriebenen Gütern. Die Rechtsverhältnisse von natürlichen Materialien regelte das Fischereirecht. Dazu: Ebenda, 16.
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an dem Strand und an den dortigen Funden wurde auf Fische und Treibholz genauso angewandt wie auf durch Unwetter oder Schiffbruch verlorenes und angetriebenes Frachtgut oder Wracks. Diese Rechtsnorm lässt sich in Nordeuropa vermutlich auf vorchristliche Rechtstraditionen zurückführen: Erste schriftliche Fixierungen und Erwähnungen aus Früh- und Hochmittelalter5 weisen eindeutig darauf hin, dass derartige Anschauungen bereits in den germanischen, slawischen und baltischen Siedlungsund Einflussräumen als akzeptiertes Gewohnheitsrecht verstanden und praktiziert wurden.6 Als Grundlage hierfür diente vermutlich die Überzeugung, dass auswärtige Personen, die ohne einen Schutzherrn fremdes Hoheitsgebiet betraten, grundsätzlich als rechtlos und von diesen mitgeführte Güter folglich als herrenlos betrachtet werden konnten.7 Unabhängig von dem Ursprung dieser Rechtsauffassung dürfte die Aneignung von angeschwemmten Objekten für die Ufer- und Küstenbewohner, häufig Kleinbauern oder Fischer, seit jeher eine nicht zu unterschätzende Einnahmequelle und damit einen wichtigen Bestandteil ihrer Versorgungssituation dargestellt haben.8 5
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Einer angelsächsischen Quelle aus dem Jahr 666 ist mit Blick auf die Küste von Sussex zu entnehmen, dass fremde gestrandete Schiffe inklusive deren Ladung und Besatzung von den Anwohnern rechtmäßig an sich genommen werden durften. Fritz Liebermann: Gesetze der Angelsachsen, Bd. 2,2: Rechts- und Sachglossar, Halle a. d. Saale 1912 [Nachdruck Aalen 1960], 639, Art. „Schiffbruch“, 1. Ähnliche Regelungen im Umgang mit Strandgut und Wracks sind für das 10., 11. und 12. Jahrhundert etwa aus England, Norwegen und Dänemark überliefert. Im 13. Jahrhundert steigt die Zahl diesbezüglicher Rechtssetzungen dann in ganz Nordeuropa deutlich an. Dazu siehe mit zahlreichen Nachweisen: Niitemaa: Strandrecht, 16–18, 30–34, 37–51, passim. So verweist etwa Borwin I. von Mecklenburg in einem Schreiben von den unmenschlichen und heidnischen Bräuchen seiner Vorfahren, abhominabiles atque detestabiles a predecessoribus meis a paganismo detentas consuetudines, Kaufleute an den Stränden zu überfallen und zu berauben. Verein für Meklenburgische Geschichte und Althertumskunde (Hg.): Mecklenburgisches Urkundenbuch (MUB), 25 Bde., Schwerin 1863–1977, hier I, Nr. 268. Dazu auch: Techen: Strandrecht, 279. In nahezu gleichem Wortlaut urteilt Bischof Heinrich von Kurland über die Bräuche und Sitten an der livländischen Küste. Friedrich Georg von Bunge u. a. (Hg.): Liv,- est- und kurländisches Urkundenbuch nebst Regesten (LivUB), 16 Bde., Reval 1853–1914, hier Bd. I, Nr. 271. Zum Strandrecht im mittelalterlichen Baltikum siehe: Russwurm: Strandrecht, 3–24. Interessanterweise berichtet Adam von Bremen in Widerspruch zu diesen Einträgen von der humanen Behandlung von Schiffbrüchigen und deren Gut an den Küsten Preußens. Wie diese Nachricht zu bewerten ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. Adam von Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, ed. von Bernhard Schmeidler. In: MGH SS Rer. Germ. II, Hannover u. a. 1917, Buch IV, Kap. XVIII. Zu diesem sogenannten Fremdenrecht siehe: Heinrich Brunner: Strandrecht und Strandungsordnung. In: Franz von Holtzendorff (Hg.): Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer und alphabetischer Bearbeitung, Bd. 2: Rechtslexikon, Leipzig 1876, 663–665, hier 663; Karl Härter: Fremde, Fremdenrecht. In: Albrecht Cordes (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 2, Berlin 2008, 1791–1798. So etwa mit Blick auf die Neuzeit: Nils Hansen: Strandrecht und Strandraub. Bemerkungen zu einem „Gewohnheitsrecht“ an den schleswig-holsteinischen Küsten (13.–19. Jahrhundert). In: Kieler Blätter zur Volkskunde 33 (2001), 51–78, hier 67, 70 f. An dieser Stelle sei auch auf eine Zollrechnung des Grafen Alfons von Poitiers verwiesen, aus der hervorgeht, dass seine Einkünfte aus der Ausübung des Strandrechts an der mittelalterlichen Atlantik- bzw. Mittelmeerküste in etwa den Einnahmen aus den Hafenzöllen entsprachen. A. Bardonnet (Hg.): Comptes et enquètes d’Alphonse, comte de Poitou (1253–1269) (Arch. Hist. du Poitou 8), Poitiers 1879, 20. Siehe hin-
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Als Pendant zu diesem an Stränden beanspruchten Aneignungsrecht existierte die diesen Vorstellungen auf Verkehrswegen entsprechende sogenannte Grundruhr, das Recht auf die Aneignung auf fremde verunfallte und dadurch nach damaliger Sichtweise triftig gewordene Waren auf Binnengewässern inklusive deren Ufern oder auf Straßen.9 Bei bloßen Sachgütern machten diese augenscheinlich derselben genuinen Wurzel entwachsenen Rechtsnormen allerdings auch keinen Halt: So sei exemplarisch auf die Annales Stadenses verwiesen, aus denen hervorgeht, dass sogar fremde gescheiterte Schiffe, deren Ladung und selbst deren Mannschaft einer derartigen Praxis anheimfallen konnten; der Bremer Erzbischof betrachtete noch im Jahr 1112 die Besatzung in seinem Territorium gestrandeter Fahrzeuge als sein Eigentum.10 Dass ein solches Vorgehen zu dieser Zeit keinen Einzelfall darstellte, geht aus zahlreichen weiteren Überlieferungen hervor.11 Der Verlust der persönlichen Freiheit als Folge von Schiffbruch und Strandung wurde jedoch damals schon als obsolet und mit christlichen Moralvorstellungen unvereinbar betrachtet und konnte schließlich nicht mehr durchgesetzt werden – der Bezugsrahmen von Strandrecht und Grundruhr beschränkte sich im weiteren Verlauf des Mittelalters schwerpunktmäßig auf Gegenstände,12 auch wenn noch im 14. Jahrhundert vereinzelte Lösegeldforderungen für Schiffbrüchige nachgewiesen sind.13 Zum Leidwesen von Händlern und Reisenden war vormoderne Mobilität, unabhängig davon, ob der See-, Fluss-, oder Landweg gewählt wurde, also immer von gewissen Risiken für Leib und Gut begleitet.14 Sobald ein Fahrzeug fremden Grund berührte, etwa weil es auf eine Sandbank auflief, Schiffbruch erlitt oder schlichtweg wetter- oder gezeitenbedingt anlanden musste, konnten die Uferbewohner auf der Basis von Strand- oder Grundruhrrecht gegenüber der betroffenen Besatzung einen in
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sichtlich der Bedeutung von Strandgut auch die ausführlichen diesbezüglichen Bestimmungen im Jütischen Recht. Das jütische Recht. Aus dem Altdänischen übers. und erl. von Klaus von See, Weimar 1960, 149–151. Das Grundruhrrecht wurde in wissenschaftlichen Abhandlungen in der Regel als Teilbereich des Strandrechts aufgefasst. Siehe dazu: Heinz Lieberich: Grundruhr. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Stuttgart 1989, 1753 f.; Albrecht Cordes: Grundruhr. In: Ders. (Hg.): HRG, Bd. 2, Berlin 2008, 603–605. Annales Stadenses, ed. von Johann Martin Lappenberg. In: MGH SS 16, Hannover 1859, 271–379, hier 320 f. Niitemaa: Strandrecht, 16 f.; Cordes: Grundruhr, 605. Hinsichtlich der sukzessiven deutlichen Abschwächung des auf Personen angewendeten Strandrechts: Niitemaa: Strandrecht, 16, 49–51; Albrecht Cordes: Strandrecht. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, 212 f. Ferner: Liebermann: Gesetze, Bd. 2,2, Art. „Schiffbruch“, 4b, c. Darauf verweist etwa ein 1387 vom Erzbischof von Bremen verfasstes Schreiben: Jacob Schuback: Vom Strandrechte, Bd. 2: Verbesserungen und Zusätze nebst Beylagen und Kupfer zum ersten Theil, Hamburg 1781, Nr. 22. Zur mittelalterlichen Verkehrsunsicherheit auf Straßen siehe grundsätzlich: Timothy Reuter: Die Unsicherheit auf den Straßen im europäischen Früh- und Hochmittelalter. Täter, Opfer und ihre mittelalterlichen und modernen Betrachter. In: Johannes Fried (Hg.): Träger und Instrumentarien des Friedens im Hohen und Späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 43), Sigmaringen 1996, 169–201.
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ihren Augen legitimen Rechtsanspruch formulieren und diesen meist physisch durchzusetzen versuchen.15 Mit Blick auf die besonders exponierte Küstenschifffahrt und den Verkehr auf Binnengewässern konnte der Inanspruchnahme besagter Rechtssätze durch gezieltes Strandenlassen von Schiffen von außen bewusst nachgeholfen werden, zum Beispiel indem Fahrrinnenkennzeichnungen versetzt oder Fahrzeuge vorsätzlich an Ufer abgedrängt oder gelockt wurden. Der Ausübung des Strand- bzw. Grundruhrrechts konnte folglich immer auch die Dimension des Strandraubs bis hin zur organisierten Warenwegnahme zur See bzw. zu Land zur Seite stehen. Die zahlreichen Hinweise auf in diesem Zusammenhang entstandene Gewaltanwendungen und sogar Tötungen der Besatzung – auf diese Weise konnten spätere Besitzansprüche und Entschädigungsverfahren kurzerhand umgangen werden – sprechen hier eine eindeutige Sprache.16 Eine trennscharfe Differenzierung zwischen diesen Sachverhalten ist angesichts der oftmals kargen Einzelfallüberlieferung indes kaum möglich; sie müssen deshalb stets zusammengedacht werden. 2. Bekämpfungsstrategien und Verrechtlichungsprozesse Die Geschichte des Strand- bzw. Grundruhrrechts lässt sich als eine Geschichte ihrer sukzessiven juristischen Bekämpfung und Zurückweisung interpretieren, die europaweit jedoch keinesfalls homogen verlief, sondern vielmehr von regionalen, bisweilen
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Siehe dazu eindrücklich die bereits erwähnte von Schuback edierte Urkunde des Bremer Erzbischofs aus dem Jahr 1387. Schuback: Strandrecht, Nr. 22, 119 f.: Es ist uns nämlich von durch völlig glaubwürdigen Bericht von Unterschiedlichen, insbesondere durch die dringenden und häufigen Klagen Unserer Vielgeliebten, der Bürger von Hamburg, in Unserm Stift, und anderer Kaufleute, zu Ohren gekommen, daß die Vögte und Unsere andere Beamte, wie auch einige andere Leute aus Unserm Stift, hauptsächlich die Bewohner an beyden Seiten des Elbflusses, vorgedachte Hamburgische Bürger und andere auf diesem Fluß schiffende Kaufleute, welche blos bey wütendem Stürmen wegen Heftigkeit des Windes in die Häfen Unseres und der Unsrigen Gebietes fliehen, oder ans Land oder an das Ufer der Elbe mit ihren Schiffen geworfen werden, oder aufs Trockene und auf den Sandbänken dieses Flusses wegen der Ebbe und Fluth zu sitzen kommen, oder auch durch Gottes Zulassung unglücklicherweise Schiffbruch leiden, und mit den Wellen kämpfen, aus einer bösen Gewohnheit, oder vielmehr aus einem verabscheuungswürdigen Misbrauch und Verdorbenheit, grausamerweise bewaffnet anfallen, die Schiffe, und die darin vorgefundene, Sachen und Güter mit Gewalt wegnehmen, und unrechtmäßig an die Seite schaffen, und solche sich ungebührlich zueignen, ja was noch grausamer und unmenschlicher ist, selbst die Kaufleute und andere im Schiff befindliche Menschen gefangen nehmen, und als Leibeigene in Banden legen, bis sie sich durch Geld wieder loskaufen können. Deutsche Übersetzung von demselben nebst dem lateinischen Original. Hier können etwa die hamburgisch-dithmarsischen Verkehrssicherungsverträge herangezogen werden, die im Kontext von Warenwegnahmen und anderen Übergriffen auf Kaufleute immer auch Tötungsdelikte und Gewalttaten adressierten: Johann Lappenberg u. a. (Hg.): Hamburgisches Urkundenbuch (HamUB), 4 Bde., Hamburg 1842–1967, hier I, Nr. 683, 792; ebenda II, Nr. 102, 358. Besonders aufschlussreich für die konkreten Auslegungen des Strandrechts und damit verbundene Gewaltanwendungen: Schuback: Strandrecht, Nr. 22, 119 f.
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sogar lokalen und nicht zuletzt epochalen Unterschieden und Vorgehensweisen gekennzeichnet war: Schon in der griechisch-römischen Antike17 wurden – freilich unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen als im transalpinen Europa – die Rechtsverhältnisse an Strandfunden und bei Schiffbruch Gegenstand juristischer Auseinandersetzung und insbesondere im Einflussgebiet des Römischen Reiches schrittweise in ein öffentliches Recht überführt.18 Im mittelalterlichen Nordeuropa hingegen präsentiert sich ein disparates, im Grunde zweigeteiltes Bild: Auf der einen Seite hielt die Obrigkeit etwa in England und insbesondere in Skandinavien, wo mit der sukzessiven Durchsetzung und Intensivierung der Königsherrschaft im 11. und 12. Jahrhundert schrittweise auch die Kontrolle über den Strand und damit zusammenhängend das Strandregal und Strandrecht in die Hände der Monarchen übergegangen waren, vorerst noch an dem Prinzip der eigenverantwortlichen und rechtmäßigen Aneignung von Treibgut jeglicher Art fest.19 So erklärten etwa das Seeländische Recht und daran anknüpfend das Jütische Recht den König von Dänemark um die Mitte des 13. Jahrhunderts ganz offiziell zum rechtmäßigen Eigentümer aller angetriebenen Güter und Schiffwracks auf Basis der von ihm
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Zum römischen Seerecht und seinen Grundlagen siehe mit weiterer Literatur: Christoph Krampe: Römisches Recht auf hoher See. Die Kunst des Guten und Gerechten. In: Iole Fargnoli, Stefan Rebenich (Hg.): Das Vermächtnis der Römer. Römisches Recht und Europa (Berner Universitätsschriften 57), Bern u. a. 2012, 111–150. Ferner: Niitemaa: Strandrecht, 19–28. So wurde etwa im corpus iuris civilis (528–534 n. Chr.), das ältere römische Gesetzesvorlagen kompiliert und kodifiziert, der Ausübung des Strandrechts eine positive Rechtsetzung gegenübergesellt, die vorsah, dass Strände und Ufer als Rechtsraum nicht länger der Willkür dortiger Bewohner, sondern der Obhut des römischen Kaisers sowie der Jurisdiktion seiner lokalen Bevollmächtigen unterlagen. Paul Krüger (Hg.): Corpus Iuris Civilis Bd. 2: Codex Iustinianus, Berlin 1892, XI, 6; Ders., Theodor Mommsen (Hg.): Corpus Iuris Civilis Bd. 1: Institutiones, Digesta, Berlin 1872, XLVII, 9. Unter anderem wurde festgelegt, dass das Eigentumsrecht an auf Schiffen beförderten Waren ausdrücklich auch im Falle eines Schiffbruchs grundsätzlich bei dem rechtmäßigen Eigentümer verbleiben sollte und nicht pauschal an den Finder überging. Krüger: Codex Iustinianus, XI, 6 § 1. Die illegitime Aneignung von Strandgut – nur wenn der Eigentümer explizit auf seine Ansprüche verzichtete oder ein Verzicht als wahrscheinlich galt, durfte der Finder das geborgene Gut behalten – und die Nicht-Herausgabe desselben gegenüber berechtigten Anspruchstellern wurde im römischen Recht dementsprechend als Verbrechen suspendiert und Zuwiderhandelnde zu Straftätern erklärt. Mommsen, Krüger: Institutiones, Digesta, XLVII, 9 § 1, 3, 7. Auf diese Weise wurde den Interessen von Kaufleuten deutlich Vorschub geleistet, während diejenigen der Strandbewohner kaum Berücksichtigung erfuhren. Als frühe Beispiele können etwa die von Knut dem Großen erlassene Aufteilung von Strandfund zwischen Finder und Kirche an der südöstlichen Küste Englands, in Sandwich, oder eine im Namen des norwegischen Königs erfolgte Beschlagnahmung eines an seiner Küste gescheiterten isländischen Schiffes herangezogen werden. Dazu: Liebermann: Gesetze, Bd. 2,2, Art. „Schiffbruch“, 3a; Karl-Friedrich Krieger: Ursprung und Wurzeln des Rôles d’Oléron (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte 15), Köln u. a. 1970, 51–58; Johannes Steenstrup: Studier over Kong Valdemars Jordeborg. Efter trykte og utrykte Kilder. Første Afdelning. Oplysninger om Landets Forvaltning i der 13de Aahundrede, Kopenhagen 1874, 266. Ferner: Niitemaa: Strandrecht, 29–33.
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in seinem Herrschaftsbereich ausgeübten Strandherrschaft.20 Jedoch dürfen derartige Rechtssetzungen, die in der Regel nur im unmittelbaren Einflussgebiet der jeweiligen Königsherrschaft wirkmächtig wurden, nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine flächendeckende Reglementierung und Kontrollierung der Ausübung des Strandrechts im mittelalterlichen Nordeuropa nur sehr bedingt möglich war – gerade an der Peripherie von Herrschaftsräumen blieb der Umgang mit Strandfunden der lokalen Bevölkerung überlassen.21 Auf der anderen Seite lassen sich bereits im Frühmittelalter erste Ansatzpunkte einer zunächst noch punktuellen Aufhebung des Strandrechts erkennen: Als Auftakt kann ein im Jahr 991 zwischen Æthelred und Olaf Trygveson ausgehandelter Friedensvertrag gelten, aus dem unter anderem hervorgeht, dass Kaufleute in bestimmten Bereichen des Herrschaftsgebiets Æthelreds, etwa auf Handelsplätzen und deren Umland oder in Städten, auch im Falle eines Schiffbruchs rechtmäßige Eigentümer derjenigen Waren bleiben sollten, die sie selbst retten konnten, und damit zumindest in Teilen vor Strandrechtsanwendungen geschützt waren.22 Im hochmittelalterlichen Ostseeraum scheint sich der Kerngedanke dieses Vertragsschlusses, die auf Basis von Verträgen in der Regel örtlich beschränkte Befreiung vom Strandrecht für selbst geborgene Waren, regelrecht zu einem Rechtsprinzip verdichtet zu haben.23 Dieser Leitgedanke findet 20
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Mit den jeweiligen Belegen: Niitemaa: Strandrecht, 31. Schon 1216 verstand sich Waldemar II. in dem von ihm beanspruchten Hoheitsgebiet als Strandherr. Grímur Jónsson Thorkelin: Diplomatarium Arna-Magnaeanum […] Bd. 1: Danica ab a. 1085 ad obitum Christophori a. 1259, Havniae u. a. 1786, Nr. 73. Hinsichtlich des Jütischen Rechts: Von See: Recht, 149–151. Ähnliche Gesetzgebungen finden sich in Form des Gulathingslov in Ansätzen bereits im 11. bzw. frühen 12. Jahrhundert in Norwegen, wenig später auch in Schweden. Dazu: Rudolph Keyser, Peter Munch: Norges gamle love indtil 1387, Bd. 1: Norges ældre end Kong Magnus Haakonnssöns regjeringes-tiltr ædelse i 1263, Christiania 1846, Nr. 145. Dazu und zum Folgenden ferner: Niitemaa: Strandrecht, 32 f.; Edda Frankot: „Of laws of ships and shipmen“. Medieval maritime law and its practice in urban Northern Europe (Scottish historical review. Monographs series), Aberdeen 2012, 9 f.; Hans Collin, Carl Schlyter (Hg.): Corpus iuris Sueo-Gotorum Antiqui, Bd. 2: Codex juris Ostrogotici, cum notis criticis, variis lectionibus, glossario et indice nominum propriorum, Stockholm 1830, Nr. 37 § 2. Noch um die Mitte des 13. Jahrhunderts gibt König Haakon von Norwegen der Stadt Lübeck zu verstehen, dass es nicht in seiner Macht stünde, die Interessen von Schiffbrüchigen in den Küstengebieten außerhalb seines direkten Einflussbereichs zu beschützen. Vorausgegangen war die Aneignung eines lübischen Schiffes in der Nähe von Tönsberg durch die lokale Bevölkerung. Verein für Lübeckische Geschichte (Hg.): Urkundenbuch der Stadt Lübeck (UBStL), 11 Bde., Lübeck 1843–1932, hier I, Nr. 153. Auch in England hielt die Küstenbevölkerung grundsätzlich an der eigenverantwortlichen Ausübung des Strandrechts fest und setzte sich damit über geltendes Recht hinweg. Liebermann: Gesetze, Bd. 2,2, Art. „Schiffbruch“, 4a. Liebermann: Gesetze, Bd. I, 222–224, hier 223. Für Untertanen Æthelreds aus diesen Friedensgebieten galt zudem, dass sie zu Wasser und zu Land grundsätzlich vor Übergriffen durch Untertanen Trygvesons geschützt sein sollten. Zu der Strandrechtsbefreiung im frühmittelalterlichen Nordeuropa siehe grundlegend: Niitemaa: Strandrecht, 35–38. Beispielhaft finden wir es 1204 in einem Privileg Waldemars II., in dem er Lübeck nicht nur im Gebiet um Travemünde, einem damaligen Außenhafen der Stadt, sondern ausdrücklich sogar in seinem gesamten Herrschaftsbereich das Bergerecht für selbstständig gerettetes Gut zugestand.
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sich zeitgleich ebenfalls etwa in den Stadtrechtsurkunden Schleswigs und Flensburgs und bereits erwähnten Rechtcodices wie dem Jütischen Recht wieder.24 Im Umkehrschluss bedeutete dies allerdings auch, dass nach einem Unfall oder Unwetter angetriebene Handelswaren oder Wracks, die abseits dieser Städte und Bereiche bzw. dort nicht selbst geborgen werden konnten, weiterhin den jeweiligen Hoheitsträgern oder den Anwohnern vor Ort anheimfielen. Dies galt auch, wenn etwa eine Stadt keine derartigen Verträge oder Schutzbriefe mit den jeweiligen Herrschaftsträgern unterhielt. Dabei konnte der Umgang mit dem Strand- bzw. Grundruhrrecht an Nord- und Ostsee durchaus variieren: Während für den Ostseeraum zunächst noch keine grundsätzliche Abkehr von diesem Rechtsprinzip auszumachen war, sondern lediglich konkrete Vertragspartner in Form von Einzelvereinbarungen vom Strandrecht befreit wurden, erließen die Hoheitsträger in England, an der Nordsee- und Atlantikküste Frankreichs – mit Ausnahme der Bretagne – und in Flandern auf antiken römischen Rechtstraditionen fußend oder zumindest durch diese beeinflusst bereits im späten 12. Jahrhundert mitunter schärfere einschränkende Maßnahmen, bis hin zu regelrechten pauschalen Aufhebungen desselben.25 Erst im Laufe des 13. Jahrhunderts entfaltete sich dieser Umgang mit dem Strandrecht langsam auch an der Ostsee, ohne das hergebrachte Konzept der individuellen Privilegierung abzulösen;26 diesen Grundgedanken einer allgemeinen Strandrechtbefreiung findet man etwa 1220 in einer von Herzog Burwin von Mecklenburg ausgestellten Urkunde.27 Im Niederelberaum treten derartige Bestimmungen vermutlich auch aufgrund der dort bisweilen schwach ausgeprägten herrschaftlichen Durchdringung zum ersten Mal am Ende des 13. Jahrhunderts in einem zwischen Johann und Albrecht von Sachsen und der Stadt Hamburg ausgehandelten Vertrag in Erscheinung, der alle Kaufleute vor den Küsten Hadelns und Wurstens sowie in ihrem übrigen Hoheitsgebiet vom Strandrecht befreite.28 Die ersten Schritte hinsichtlich einer grundsätzlichen und einheitlichen Aufhebung und damit einhergehend einer Kriminalisierung von Strandrecht und Grund-
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UBStL I, Nr. 12. 1220 wurde besagtes Privileg erneuert und erweitert. Ebenda, Nr. 20. Bezüglich Lübecks Zurückdrängung des Strandrechts siehe: Rothhardt: Kampf. Ähnliche Verträge unter anderem mit Bremen und Stade folgten wenig später. Die Belege bei: Niitemaa: Strandrecht, 75. Verein für Hansische Geschichte (Hg.): Hansisches Urkundenbuch (HUB), 11 Bde., Halle a. d. Saale u. a. 1876–1939, hier I, Nr. 1362 § 55, Nr. 1373 § 88; Von See: Recht, 150 f. Zu diesen Sachverhalten erneut: Niitemaa: Strandrecht, 41; Frankot: Laws, 11. Niitemaa: Strandrecht, 59; Krieger: Ursprung, 52–58. So durften etwa in England des 13. Jahrhunderts Waren nur noch dann an sich genommen werden, wenn es keine Überlebenden unter der Schiffsbesatzung gab. Liebermann: Gesetze, Bd. 2,2, Art. „Schiffbruch“, 4b, d; Bayley: Niitemaa, Strandrecht (Rezension), 196. Niitemaa: Strandrecht, 69–79. UBStL I, Nr. 21: si quis naufragium apud littora nostra perpessos molestaverit. Um 1250 erklären die Herzöge Barnim I. und Wartislav III. von Pommern in einem Schreiben an Lübeck allgemeiner: si aliquis apud terram nostram naufragium sustinebit. Es ging hier folglich nicht nur um Lübecker Kaufleute. Ebenda, Nr. 168. HamUB I, Nr. 917.
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ruhr gingen nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches von der Kurie aus: Konzilsbeschlüsse des 12. Jahrhunderts setzten im Kontext der Kreuzzugsbewegung29 die Übergriffe auf Schiffbrüchige und die unrechtmäßige Inbesitznahme von Treibgut und Wracks auf Basis des Strandrechts mit Raub und sogar Brudermord gleich und drohten bei Verstößen harsche geistliche Sanktionen, wie etwa die Exkommunikation, an.30 Eine unmittelbare und flächendeckende Aufgabe dieser Rechtspraxis hatten diese Urteile und im Übrigen auch die zuvor genannten allgemeinen Strandrechtsbefreiungen zwar nicht zur Folge,31 allerdings bildeten sie Grundlagen und Anknüpfungspunkte für weitere juristische Auseinandersetzungen mit diesen Phänomenen – so wurde eine Reglementierung des Strand- und Grundruhrrechts wenig später Bestandteil unterschiedlicher in ganz Europa auftauchender Seerechtscodices.32 Erst mit der schrittweisen Einführung eines Bergelohns für die jeweiligen Uferbewohner konnten mittelfristig ein gewisser Interessenausgleich und eine Kooperationsgrundlage zwischen den traditionellen Profiteuren des Strandrechts und denen sicherer Verkehrs- und Eigentumsverhältnisse geschaffen werden.33 Die Aneignung von Strandgut wurde an einigen Ufer- und Küstenstreifen allerdings bis in die Frühe Neuzeit und vereinzelt sogar darüber hinaus als gewohnheitsmäßiger, obgleich offiziell illegaler Brauch verstanden.34
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Siehe zu dieser Verknüpfung: Niitemaa: Strandrecht, 52–62. Für das Jahr 1110: Joannes Mansi (Bearb.): Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio […], Bd. XXI, Venedig 1774, 9. Für das Jahr 1179: Ders. (Bearb.): Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio […], Bd. XXII, Venedig 1778, 230 f. Siehe dazu auch die treffende Einschränkung Bayleys gegenüber Niitemaas Ausführungen. Bayley: Niitemaa, Strandrecht (Rezension), 196. Beispielsweise in Mecklenburg wurden noch in der Mitte des 14. Jahrhunderts Strandrechtsaufhebungen verbrieft, was auf anhaltende Konflikte im Zusammenhang von Strandrecht und Strandraub hinweist. Techen: Strandrecht, 281. Am prominentesten sind sicherlich die Rôles d’Oléron, die zunächst im Ostatlantikraum angewendet wurden: Krieger: Ursprung; James Shephard: The rôles d’Oléron. A lex mercatoria of the sea? In: Vito Piergiovanni (Hg.): From lex mercatoria to commercial law (Comparative studies in Continental and Anglo-American legal history 24), Berlin 2005, 205–253; Julia Schweitzer: Schiffer und Schiffsmann in den Rôles d’Oléron im Llibre del Consolat de Mar. Ein Vergleich zweier mittelalterlicher Seerechtsquellen (Rechtshistorische Reihe 331), Frankfurt a. M. u. a. 2007; Frankot: Laws, 11–14. Zur Entwicklung im Hanseraum siehe ferner: Götz Landwehr: Das Seerecht im Ostseeraum vom Mittelalter bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. In: Jörn Eckert (Hg.): Geschichte und Perspektive des Rechts im Ostseeraum. Erster Rechtshistorikertag im Ostseeraum, 8.–12. März 2000 (Rechtshistorische Reihe 251), Frankfurt a. M. 2002, 275–303; Carsten Jahnke, Antjekathrin Grassmann (Hg.): Seerecht im Hanseraum des 15. Jahrhunderts. Edition und Kommentar zum flandrischen Copiar Nr. 9 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck, Reihe B 36), Lübeck 2003. Zu diesen Entwicklungen generell mit weiterer Literatur: Frankot: Laws, 6–26, Kap. 4, 5 u. 6. Niitemaa: Strandrecht, 81–84, 201–248; Cordes: Strandrecht, 213; Ders.: Grundruhr, 603 f.; Lieberich: Grundruhr, 1754. Beispielhaft siehe: UBStL IV, Nr. 434. Noch in der Constitutio Criminalis Carolina wird sich dieser Sache angenommen: FriedrichChristian Schroeder (Hg.): Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen
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Auch die Kaiser und Könige des Heiligen Römischen Reiches, die sich als Träger von Hoheitsrechten über Ufer und Strände im Reichsterritorium verstanden, nahmen sich derartiger verkehrs- bzw. handelsrechtlicher Fragen an: 1177 verbot Friedrich I. die Aneignung von schiffbrüchigem Gut;35 1196 schaffte Heinrich VI. die Grundruhr ab;36 1255 folgte ein erneutes Verbot Wilhelms von Holland, schiffbrüchiges Gut unrechtmäßig an sich zu nehmen.37 Obwohl diese Bestimmungen keine konkreten Einzelbestimmungen zum Umgang mit Strandfund oder anderen verunfallten Waren trafen und dadurch eher Grundsatzcharakter hatten, sprachen auch sie das Eigentumsrecht an verunglückten Waren sinngemäß dem ursprünglichen Inhaber zu. Abseits dieser ganz unterschiedlichen, mit einem gewissen Allgemeingültigkeitsanspruch versehenen Suspendierungen von Strandrecht und Grundruhr sind allerdings weiterhin Dekrete überliefert, in denen Herrschaftsträger einzelne Städte und deren Bewohner unter bestimmten Bedingungen von dem Strandrecht befreiten38 – konkrete und individuelle Rechtsverbriefungen wurden offenbar weiterhin als notwendig erachtet. Die Bindungskraft derartiger reichsweiter Erlässe war im Spätmittelalter oftmals jedoch nur nomineller Natur, denn bereits im Verlauf des 12. Jahrhunderts verloren die Kaiser und Könige im Heiligen Römischen Reich, anders als in England oder Dänemark, die Strand- und Flussregale insbesondere in den nördlichen Reichsteilen de facto schrittweise an die jeweiligen Territorialherren vor Ort.39 Während im südlichen Ostseeraum die Strandherrschaft und damit die Rechte am Strandfund im Zuge des hochmittelalterlichen Landesausbaus in der Germania Slavica in die Verfügungsgewalt der sich dort herausbildenden Fürstentümer übergingen40 und sich damit dem di-
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Römischen Reichs von 1532, Stuttgart 2000, Nr. 218. Ferner auch: Hansen: Strandrecht, 70–77; Niitemaa: Strandrecht, 18. Hinsichtlich des Beispiels Wursten: Hey: Strandrecht, 84–94. Ludwig Weiland (Hg.): Friderici I. Constitutiones (MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 1), Hannover 1893, Nr. 275 § 4. Ebenda, Nr. 373. Ders.: Wilhelmi Regis Constitutiones (MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 2), Hannover 1896, Nr. 370. Exemplarisch sei auf die Konstitutionen Heinrichs V., Ottos IV. und Friedrichs II. verwiesen, die 1111 bzw. 1209 und 1220 venezianische Kaufleute das Eigentumsrecht an ihren Waren auch im Falle eines Schiffbruchs zusprachen. Ludwig Weiland (Hg.): Heinrici V. Constitutiones (MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 1), Hannover 1893, Nr. 102; Ders.: Ottonis IV. Constitutiones (MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 2), Hannover 1896, Nr. 32; Ders.: Frederici II. Constitutiones (MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 2), Hannover 1896, Nr. 76. Im Reichsfreiheitsbrief von 1226 gestand Friedrich II. entsprechend dortigen Rechtstraditionen – wie schon Waldemar II. – den Lübecker Bürgern lediglich für selbst geborgene Waren die Befreiung des Strandrechts zu. HUB I, Nr. 205. Niitemaa: Strandrecht, 137–153. Mit zahlreichen Quellenverweisen siehe: Niitemaa: Strandrecht, 65–69. Stellvertretend für die vielen Urkundenpassagen, die direkte oder indirekte Auskunft über die fürstliche oder bischöfliche Strandherrschaft rund um die Ostsee ab dem 13. Jahrhundert geben, sei auf die bereits erwähnte, 1220 von Heinrich Borwin I. von Mecklenburg ausgestellte Urkunde verwiesen, in der er explizit von littora nostra spricht. UBStL I, Nr. 21.
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rekten Einflussbereich des Kaisers sukzessive entzogen, fielen die betreffenden Rechte an Strand und Ufer an der Nordseeküste und im Elbe-Weser-Raum an die dortigen Machthaber. Neben den Grafen von Holstein, dem Bremer Erzbischof und den Herzögen von Sachsen bzw. Sachsen-Lauenburg41 übten auch die sich zeitgleich entfaltenden, weitgehend autonomen bäuerlichen Landesgemeinden Dithmarschen, Hadeln und Wursten42 faktisch Hoheitsrechte an der Niederelbe und im Flussmündungsgebiet aus. Insbesondere in diesen Regionen hielt die Ufer- und Strandbevölkerung hartnäckig bis weit ins Spätmittelalter an der Ausübung des Strand- und Grundruhrrechts als einer dort vermutlich seit Generationen tradierten Rechtsnorm fest. 3. Die Niederelbe im Brennglas Wie lassen sich nun die zuletzt genannten, im Niederelberaum beheimateten Akteure in diesen holzschnittartig umrissenen Diskurs einordnen? Profitierte die Bevölkerung der Niederelbe- und Nordseeanrainer wie Wursten, Hadeln, Dithmarschen und Kehdingen aller päpstlichen Mandate und kaiserlichen Erlasse zum Trotz seit jeher von dem Strandfund, gewann diese Einnahmequelle im Kontext einer im 13. und 14. Jahrhundert in ganz Europa zu beobachtenden dynamischen Wirtschaftsentwicklung, die einen deutlichen Anstieg des Handelsverkehrs auf Nord- und Ostsee einschließlich angrenzender Flüsse wie der Elbe zur Folge hatte,43 zusehends an Bedeutung. Denn 41
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Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg beanspruchten die Lehnsherrschaft über Hadeln und Wursten, konnten diese dort allerdings kaum durchsetzen, was wiederum eine ausgeprägte Selbstverwaltung in diesen Küstenregionen zur Folge hatte. Dazu: Gustav von der Osten: Geschichte des Landes Wursten ( Jahrbuch der Männer vom Morgenstern 25), 2. Aufl. bearb. von Robert Wiebalck, Wesermünde 1932, 50–56; Erich von Lehe: Geschichte des Landes Wursten, Bremerhaven 1973, 185–212; Jörg Meyn: Sachsen-Lauenburg im Hohen und Späten Mittelalter. In: Eckardt Opitz (Hg.): Herzogtum Lauenburg: Das Land und seine Geschichte. Ein Handbuch, Neumünster 2003, 55–147, hier 123–128. Wursten selbst ist zwar kein unmittelbarer Elbanrainer, wird aber im Folgenden in den Untersuchungsraum miteingebunden. Grund hierfür ist zum einen, dass Hamburg schon sehr früh mit Wursten Verträge unterhielt, die den Umgang mit dem Strandrecht reglementierten, zum anderen, dass die Region unmittelbar nach Westen an die Elbemündung angrenzt. Zur Bedeutung der Elbe für den hamburgischen, hansischen, aber auch holsteinischen Handel siehe exemplarisch: Nis Nissen: Hanseatische Binnenschifffahrt und Oberelbeverkehr vom 15. bis 17. Jahrhundert. In: Beiträge zur Deutschen Volks- und Altertumskunde 23 (1984), 95–154, hier 106–108; Gabrielsson: Zeit, 171–176; Gerhard Theuerkauf: Hamburg und der Elbhandel im Mittelalter. In: Jürgen Ellermeyer, Rainer Postel (Hg.): Stadt und Hafen. Hamburgische Beiträge zur Geschichte von Handel und Schifffahrt (Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Hamburg 8), Hamburg 1986, 33–43, hier 35 f.; Ders.: Die Handelsschifffahrt auf der Elbe – Von den Zolltarifen des 13. Jahrhunderts zur „Elbe-Schiffahrts-Acte“ von 1821. In: Deutsches Historisches Museum (Hg.): Die Elbe ein Lebenslauf – Labe život řeky, Berlin 1992, 69–75. Zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handelsverkehr in den angrenzenden holsteinischen Gebieten: Thomas Hill: Im Schatten der Hanse und des Welthandels. Schleswig-Holstein als Transitland in Mittelalter und früher Neuzeit. In: Klaus Krüger, Andreas Ranft, Stephan Selzer (Hg.): Am Rande der
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jene Verdichtung und Vernetzung des europäischen Handels hatte gleichzeitig zur Folge, dass proportional zu dem zunehmenden Handelsaufkommen auch die Anzahl an Schiffbrüchen anstieg und damit die (Aus-)Nutzung des Strandrechts, aber auch Güterwegnahmen zur See und an Land immer attraktiver wurden. Angesichts dieses Entwicklungshorizonts wurde die Sicherheit auf den Land- und Wasserwegen für das Städtewesen, der Keimzelle des transeuropäischen Handels und der sich im 13. und 14. Jahrhundert europaweit schrittweise entfaltenden Kommerziellen Revolution,44 ein immer dringlicheres Anliegen. Die Zurückdrängung des Strandund Grundruhrrechts als einen zentralen Hemmfaktor des Warenverkehrs wurde insbesondere in den nördlichen, ‚kaiserfernen‘ Reichsteilen zunehmend als städtische Aufgabe wahrgenommen und damit integrale Komponente kommunaler Wirtschaftspolitik. Nicht zufällig fällt die allmähliche Verdichtung und Vernetzung jener niederdeutschen Kaufmannschaften und Städte im Rahmen der Hanse in diese Epoche: Um einen einträglichen und vor allem sicheren Handelsverkehr insbesondere entlang der stark frequentierten Flüsse und Küstenstreifen an Nord- und Ostsee gewährleisten zu können, war eine gemeinschaftliche, städteübergreifende Bekämpfung der Strandrechtspraxis und anderer Güterwegnahmen geradezu notwendig. Die Zusammenarbeit gegen diese Bedrohungshorizonte lässt sich geradezu als ein konstituierendes Moment innerhalb der Formierung der frühen Hanse benennen.45 Ziel der aufstrebenden Städte im Niederelberaum musste es folglich sein, auf Basis der von Papst und Kaiser vorgegebenen Rechtsrahmen mit den oben genannten Elbanrainern verbindliche Leitlinien auf lokaler und regionaler Ebene hinsichtlich des Umgangs mit angeschwemmtem Gut und gestrandeten Fahrzeugen zu vereinbaren. Denn insbesondere die Niederelbe und das Elbmündungsgebiet mit seinen zahlreichen, aufgrund von Strömung und Wasserstand kaum berechenbaren Sandbänken bargen eine große Strandungsgefahr für Kaufleute und Reisende, die dadurch leicht zum Opfer von Strandrechtsansprüchen der lokalen Bevölkerung und daraus gegebenenfalls resultierenden Plünderungen oder Erpressungen werden konnten.46 Von den
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Hanse (Hansische Studien 22), Trier 2012, 71–87, hier 72, 78; Stefan Inderwies: Wie Regionalgeschichte auch Hansegeschichte werden kann – Überlegungen zur Grafschaft Holstein und ihrer Städte im Mittelalter. In: Oliver Auge (Hg.): Hansegeschichte als Regionalgeschichte (Kieler Werkstücke, Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 37), Frankfurt a. M. u. a. 2014, 213–226, hier 218 f. Dazu immer noch grundlegend: Robert Lopez: The Commercial Revolution of the Middle Ages, 950–1350, Cambridge 1976, 56–147. Für den Hanseraum siehe etwa: Rolf Hammel-Kiesow: Die Hanse (Beck Wissen 2131), 5. Aufl., München 2014, 51–53. Zur Frühphase der Hanse siehe anstelle vieler: Detlev Ellmers: Die Entstehung der Hanse. In: Hansische Geschichtsblätter 103 (1985), 3–40; Hammel-Kiesow: Hanse, Kap. 2. Eine Urkunde aus dem Jahr 1477 beschreibt die je nach Strömung mäandernden Fahrtrinnen im Niederelbeflussbett und die davon ausgehende Gefahr für die Kaufleute treffend: Id is in vorledenen tiiden gescheen, alse de Elve jarelikes mit mannigerleie sanden bevletet, de von tiden to tyden vordriven, verwerpen unde sik veranderen, dat men derwegene nene engkdicheyd noch bescheed der zande kan
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drei in dieser Region liegenden Hansestädten Hamburg, Stade47 und Buxtehude48 war erstere im Aushandeln und Besiegeln diesbezüglicher Schutzverträge mit den übrigen Stakeholdern an der Nutzung der Niederelbe am aktivsten: Für die Elbstadt war die Befriedung des Handelsverkehrs auf der Niederelbe schon früh konstitutiver Bestandteil der eigenen Außenpolitik, schließlich fungierte die Niederelbe im Zusammenspiel mit dem Landweg nach Lübeck als ein zentrales Bindeglied zwischen den prosperierenden städtischen Märkten und den Handelsströmen auf Nord- und Ostsee und bildete damit ein Stück weit die Wohlstandsgrundlage der Stadt. Rückhalt im Kampf gegen Strandrecht und Grundruhr fand Hamburg auch seitens der Kurie und des Kaisers. Aus dem Zeitraum von 1265 bis 1266 sind eine Reihe päpstlicher Mandate erhalten, die sich dezidiert mit der unrechtmäßigen Aneignung von Strandgut und damit einhergehenden Übergriffen auf Kaufleute entlang der Elbe beschäftigten.49 Ihren Kulminationspunkt fanden diese Bestimmungen in einer 1267 von Papst Clemens IV. auf Ansinnen Lübecks bestätigten Erklärung, die den Missbrauch des Strandrechts an Nord- und Ostsee inklusive der Elbe bei Androhung von Bann und Interdikt grundsätzlich verbat.50 1362 wurde diese umfassende Weisung auf Ansuchen Hamburgs erneuert und die Ausübung des Strand- bzw. Grundruhrrechts abermals zur unchristlichen Straftat erklärt.51 Dass zudem rund 100 Jahre später auch Kaiser Karl IV.52 diese aus Sicht der Hansestädte geradezu essentielle Problematik wieder aufgriff, unter-
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weten noch hebben, welk mennigen fromen schipheren unde copluden, de de Elve versoken, nicht allene grote sorghfoldicheid unde vare, men ok verlust beyde synes lyves unde gudes heft gemaket. HUB X, Nr. 538. Zu diesen Sachverhalten und der von Hamburg ab circa 1450 angestoßenen Verkehrsrinnenmarkierung auf der Niederelbe durch Tonnen und Baken siehe ferner: Heinrich Reincke: Hamburgische Territorialpolitik. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 38 (1939), 28–116, hier 65 f.; Kurt Ferber: Die Entwicklung des Hamburger Tonnen-, Baken- und Leuchtfeuerwesens. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 18 (1914), 1–103. Zu den konkreten Abläufen siehe erneut: Schuback: Strandrecht, Bd. 2, Nr. 22. Für den Untersuchungszeitraum liegen lediglich zwei Verträge vor, die Stade mit Dithmarschen im Umfeld von Warenwegnahmen und anderen Schädigungen abgeschlossen hat, und zwar im Jahr 1312 und 1384. Zu 1312: Jürgen Bohmbach (Hg.): Urkundenbuch der Stadt Stade (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 37), Hildesheim 1981, Nr. 66. Zu 1384: UBStL IV, Nr. 434. Buxtehude tritt lediglich in dem 1384 geschlossenen Schutzvertrag auf. UBStL IV, Nr. 434. Vgl. dazu: HamUB I, Nr. 686, 689–691. HUB I, Nr. 619. So wurde konkret etwa die Nichtherausgabe von Strandgut gegenüber berechtigen Anspruchstellern sowie die Hehlerei mit selbigem zur Straftat erklärt. Ferner wurde nicht nur den betroffenen Kaufleuten selbst, sondern auch deren Erben in diesem Privileg das Eigentumsrecht an verunfallten Waren grundsätzlich zugesprochen. Zusätzlich wurden die Küstenbewohner ausdrücklich angehalten, gegen einen Bergelohn und einen Ablass von 100 Tagen Schiffbrüchigen beizustehen. HUB IV, Nr. 61. Zu Karls Elbpolitik, die im Kontext eigener wirtschaftlicher und machtpolitischer Interessen verstanden werden muss: Wolfgang von Stromer: Der kaiserliche Kaufmann – Wirtschaftspolitik unter Karl IV. In: Ferdinand Seibt (Hg.): Kaiser Karl IV. Staatsmann und Mäzen, 2. Aufl., München 1978, 63–73, hier 67, 69.
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streicht, welcher Stellenwert der Sicherung und Befriedung der Elbschifffahrt auch im 14. Jahrhundert beigemessen wurde: 1359 verlieh Karl Hamburg unter dem Vorbehalt, die Rechte anderer Elbanrainer zu berücksichtigen, ein Privilegienbündel, welches es der Stadt erlaubte, vermeintlichen pyratae oder spoliatores selbstständig nachzugehen und die Verantwortlichen stellvertretend für Kaiser und Reich verurteilen zu dürfen.53 Damit wurde die seit Jahren seitens der Stadt praktizierte Selbsthilfe im Kampf gegen See, Straßen- und Strandraub in geltendes Recht überführt.54 Die Versuche der Elbstadt, der unrechtmäßigen Aneignung von Strandfund durch die Küsten- und Uferbewohner entlang des Flusses Herr zu werden, müssen dabei grundsätzlich unter dem Vorzeichen einer sich sukzessive entfaltenden Handelsstadt interpretiert werden: Im Verlauf des 13. Jahrhunderts, das für Hamburg geradezu als eine Schlüsselepoche betrachtet werden muss, emanzipierten sich nicht nur Stadtrat und Bürgerschaft zusehends von der schauenburgischen Landeshoheit und stiegen derart zu zentralen städtischen Selbstverwaltungsorganen auf. In synergetischem Zusammenspiel mit diesem Prozess wurde die Stadt gleichzeitig von einem im ganzen nordwestdeutschen Raum spürbaren, außerordentlichen Wirtschaftsaufschwung des Städtewesens ergriffen, der unter anderem von einer rasanten Bevölkerungszunahme begleitet wurde.55 In etwa zeitgleich gelang es der Stadt unter Rückgriff auf das
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HUB III, Nr. 460. Siehe dazu insgesamt: Gabrielsson: Zeit, 148 f.; Tschentscher: Entstehung, 19–22; Ders.: Stromregal und Landeshoheit an der Unterelbe (994–1482): Hamburgs Weg zur Elbhoheit, Hamburg 1953, 256–277. 1374 sollte auch Lübeck ein derartiges Privileg von Karl verliehen bekommen. UBStL IV, Nr. 222 f. Da Begriffsverwendungen wie pirata, spoliator oder predon immer auch dazu dienen konnten, bestimmte Akteure zu disqualifizieren und damit diskursunfähig zu machen – mit Blick auf die Gegenwart sei auf den Terrorismusbegriff verwiesen –, und damit durchaus ein Politikum darstellen konnten, gilt es, diese Termini mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln und auszudeuten. Kurzum: Wer Pirat war und wer nicht, legte Hamburg nach eigenen Maßstäben und unter Berücksichtigung eigener Interessen fest. Zu diesem Problemhorizont grundlegend: Gregor Rohmann: Jenseits von Piraterie und Kaperfahrt. Für einen Paradigmenwechsel in der Geschichte der Gewalt im maritimen Spätmittelalter. In: Historische Zeitschrift 304 (2017) 1, 1–49. Auf Basis dieses Privilegs betrachtete sich Hamburg fortan als mit der Aufgabe der defensio Albeae betraut und machte die Verkehrssicherheit auf dem Fluss damit zu einer zentralen Agenda der Stadt. Zu den frühesten Verwendungen des defensio Albeae-Motivs in der Mitte des 14. Jahrhunderts siehe: Karl Koppmann u. a. (Bearb.): Kämmereirechnungen der Stadt Hamburg (KR), 10 Bde., Hamburg 1869–1951, hier I, 65: pro defensione Albee. Ferner: Verein für Hansische Geschichte (Hg.): Die Recesse und andere Akten der Hansetage (HR), 4 Abteilungen, 26 Bde., Leipzig u. a. 1870–1970, hier I, 1, Nr. 299 § 2. Dazu umfassend: Tschentscher: Entstehung, 23–25. Zu der städtischen und wirtschaftlichen Entwicklung Hamburgs im 13. Jahrhundert siehe überblicksartig: Hans-Peter Baum, Rolf Sprandel: Zur Wirtschaftsentwicklung im spätmittelalterlichen Hamburg. In: Vierteljahrsheft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 59 (1972), 473– 488; Hans-Peter Baum: Hochkonjunktur und Wirtschaftskrise im mittelalterlichen Hamburg. Hamburger Rentengeschäfte 1371–1410, Hamburg 1976; Richter: Frühzeit, 75–92; Maike Hanf: Hamburgs Weg in die praktische Unabhängigkeit vom schauenburgischen Landesherrn (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 31), Hamburg 1986, Kap. 3; Theuerkauf: Hamburg, 35 f.
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gefälschte Barbarossa-Privileg sogar,56 die traditionelle Konkurrentin im Niederelbehandel, Stade, die wirtschaftliche und merkantile Ordnungsfunktion auf dem Flussabschnitt abzulaufen und sich zunehmend als das Handelszentrum in der Region zu etablieren.57 Nicht zufällig fällt in diese Periode beginnender wirtschaftlicher Entfaltung Hamburgs, konkret vor das Jahr 1270, auch die Aufzeichnung des ältesten hamburgischen Schiffrechts, das sich neben Verhaltensregeln zum Gebrauch von Schiffen, unter anderem auch handelsrechtlichen Fragen annahm und das Vorgehen bei Schiffbruch regelte.58 In genau diese Entwicklungshorizonte fällt auch der erste überlieferte Vertrag hinsichtlich der Sicherheit des eigenen Handelsverkehrs im Niederelberaum: 1238 schloss Hamburg überraschenderweise nicht mit einem unmittelbaren Elbanrainer, sondern mit dem zwischen der Elb- und Wesermündung gelegenen Wurstfriesland ein derartiges Abkommen.59 Gleich der erste Vertragspunkt widmete sich der Ausübung des Strandrechts60 und schränkte selbiges ein Stück weit ein:61 Güter Hamburger Kaufleute, die an der Wurster Küste scheiterten oder dort Schiffbruch erlitten, sollten zukünftig vor Übergriffen seitens der lokalen Bevölkerung geschützt sein und bei dem ursprünglichen Eigentümer verbleiben, solange es unter der Schiffsbesatzung Überlebende gab – eine für die damalige Zeit geläufige Klausel, wie sie sich in etwa zeitgleich 56
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Heinrich Reincke: Die ältesten Urkunden der Hansestadt Hamburg. In: Staatsarchiv der Hansestadt Hamburg (Hg.): Forschungen und Skizzen zur Hamburgischen Geschichte (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Hansestadt Hamburg 3), Hamburg 1951, 93–166, hier 126–148; Gerhard Theuerkauf: Urkundenfälschungen der Stadt und des Domkapitels Hamburg in der Stauferzeit. In: Detlev Jasper (Hg.): Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongress der Monumenta Germaniae Historica, München 16.–19. September 1986, Tl. 3: Diplomatische Fälschungen (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 33), Hannover 1988, 397–431. Hinsichtlich des Stader Landungsstreits siehe: Richter: Frühzeit, 86 f.; Tschentscher: Entstehung, 5–7; Hans Wohltmann: Die Geschichte der Stadt Stade an der Niederelbe, Stade 1956, 104. 1340 wurde diese Angelegenheit endgültig zugunsten Hamburgs geregelt: Adolf Soetbeer: Des Stader-Elbzolles Ursprung, Fortgang und Bestand, Hamburg 1839, 19 f. Dazu ausführlich: Tschentscher: Stromregal, 185–214. So wurde unter den Stadtbürgern auch das Bergen von seetriftigem Gut und der Umgang mit Seewurf reglementiert. Dazu: Johann Lappenberg (Hg.): Hamburgische Rechtsalterthümer, Bd. 1: Die ältesten Stadt-, Schiff- und Landrechte Hamburgs, Hamburg 1845, CXXXVII–CXLVII, 75–86, vor allem Nr. XX, XXII, XXVII f. HamUB I, Nr. 514. Dezidiert mit dieser Quelle hat sich Erich von Lehe: Land Wursten vor 700 Jahren: Die Hamburger Urkunde von 1238. In: Jahrbuch der Männer vom Morgenstern 28 (1936/37), 51–64, auseinandergesetzt. Zwar kann aus diesem Vertrag nicht explizit geschlossen werden, dass Wurster in den zurückliegenden Jahren zwangsläufig als Stör- und Unsicherheitsfaktor konkret des hamburgischen Handelsverkehrs entlang der Nordseeküste in Erscheinung traten; dieser Umstand erscheint jedoch im Hinblick auf in der ganzen Region anhaltende diesbezügliche Rechtsstreitigkeiten in den Folgejahren als wahrscheinlich – so weist etwa auch ein 1261 erfolgter Verzicht von Braunschweiger Bürgern auf die Erstattung von in Wursten entstandenen Schäden deutlich in diese Richtung. HamUB I, Nr. 655. Zum Strandrecht in Wursten siehe überblicksartig: Hey: Strandrecht; Von der Osten: Geschichte, 66–78.
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beispielsweise auch in England wiederfindet.62 Zusätzlich wurden in dem Vertrag bestimmte handelsrechtliche Modalitäten geregelt und Wurster Kaufleuten in Hamburg Handelsvergünstigungen in Form von Zollerlässen in Aussicht gestellt. Hierin dürfte die zentrale Motivation für den Verzicht auf die Aneignung von angeschwemmten Waren zu finden sein; die Landesgemeinde und ihr nomineller Lehnsherr, der Herzog von Sachsen-Lauenburg, waren offenbar an einträglichen Handelsbeziehungen mit der Elbstadt interessiert. Sogar schon vor dem 1238 dokumentierten Vertrag scheint ein ganz ähnliches Abkommen zwischen Hamburg und dem Land Hadeln63 ausgehandelt worden zu sein, nimmt besagte Urkunde doch auf ein nicht weiter präzisiertes, offenbar nicht erhaltenes derartiges Übereinkommen Bezug.64 Das 1238 überlieferte Vertragswerk lässt sich nun als Auftakt einer ganzen Kette von ähnlichen Übereinkünften im Niederelberaum begreifen: Das 13. Jahrhundert präsentiert sich geradezu als ein erster Höhepunkt bilateraler, aber auch multilateraler Verträge, die Hamburg bezüglich der Befriedung der Elbschifffahrt und der Bekämpfung des Strandrechts nicht nur mit anderen Hansestädten,65 sondern auch mit sonstigen Elbanrainern beging.66 Mit einer Vielzahl von Fürsten, Bischöfen, Städten und Gemeinden arbeitete die Elbstadt vertraglich zusammen, um einen von Strand- und Seeraub ungestörten Handelsverkehr auf der Niederelbe und darüber hinaus gewährleisten zu können.67
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Siehe dazu ähnliche Erlässe der englischen Könige aus dem späten 12. und 13. Jahrhundert. Krieger: Ursprung, 53 f.; Liebermann: Gesetze, Bd. 2,2, Art. „Schiffbruch“, 4b, d. Die gezielte Tötung der Schiffsbesatzung wird häufig nicht zuletzt aus diesem Grund stattgefunden haben. Nach Dithmarschen lässt sich Hadeln als umtriebigster Unsicherheitsfaktor für den Niederelbeverkehr benennen. Nach dem vor 1238 geschlossenen Vertrag wurde 1300 abermals ein Vertrag hinsichtlich Strandrecht und anderen Übergriffen auf den gemeinen Kaufmann vonnöten, der wiederum 1310 erneuert werden musste: HamUB I, Nr. 918; Ebenda, II, 221. Voraus ging auch ein derartiger Vertrag mit Lübeck: UBStL I, Nr. 674. Im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts sind dann weitere Konflikte in diesem Zusammenhang überliefert: Eduard Rüther (Hg.): Hadler Chronik. Quellenbuch zur Geschichte des Landes Hadeln, Bremerhaven 1932, Nr. 217 f., 230, 279; UBStL IV, Nr. 204, 206; Tschentscher: Entstehung, 11–13; Erich von Lehe: Um die Rechtssicherheit an und auf der Niederelbe: Zwei Hadler Sicherheitsversprechen für Hamburg vom Jahre 1373. In: Jahrbuch der Männer vom Morgenstern 33 (1952), 38–49. HamUB I, Nr. 514: eadem gratia gaudebunt et iure, quo utuntur Hatheleri. Siehe dazu exemplarisch den lübisch-hamburgischen Bündnisvertrag von 1241, der sich auch gegen vermeintliche Piraten richtete: HamUB I, Nr. 525. 1309 kam ein derartiger Vertrag auch mit Stade zustande: HamUB II, Nr. 185. Ferner Tschentscher: Entstehung. So wurde etwa 1286 ein Vertrag mit dem Erzbischof von Bremen, den Herzögen von Sachsen sowie mit den Städten Bremen und Stade geschlossen, in dem Hamburg unter anderem das Recht auf eine Feuerbarke auf der Insel O, dem heutigen Neuwerk, vor der Hadeler Küste erhalten hat: HamUB I, Nr. 821. 1299 schloss Hamburg dann mit den Herzögen von Sachsen-Lauenburg für ihre Hoheitsgebiete an der Elbemündung einen Vertrag ab: HamUB I, Nr. 917. Zur hamburgischen Elbpolitik siehe grundsätzlich: Tschentscher: Stromregal; Ders.: Entstehung. Auf die zahlreichen Verträge mit Dithmarschen wird im Folgenden explizit eingegangen. Dazu: Gabrielsson: Zeit, 147; Tschentscher: Entstehung, 3–12. 1250 schloss Hamburg einen diesbezüglichen Vertrag mit Dänemark, 1261 einen mit Schweden und Nordfriesland. HamUB I, Nr. 558, 657 f. 1291 folgte ein Abkommen mit Rüstringen: HamUB I, Nr. 855.
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4. Das Strandrecht – Zankapfel der mittelalterlichen dithmarsisch-hamburgischen Beziehungsgeschichte Als wohl gewichtigster diesbezüglicher Vertrags- und Konfliktpartner lässt sich allerdings Dithmarschen benennen: Wie ein roter Faden sind die diplomatischen Kontakte Hamburgs mit der Region zwischen Eider und Elbe von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis ins 15. Jahrhundert hinein von dem Leitmotiv immer wiederkehrender Streitigkeiten im Umfeld von Strandrecht und Grundruhr bis hin zu Güterwegnahmen und Strandraub durchzogen. Über die jeweiligen konkreten Vorfälle, die dahinterstehenden Motivationen und Ursachen ist leider kaum etwas bekannt, lediglich die nachträglich begangenen Friedensbekundungen und Schadloshaltungen liefern einen, wenn auch mitunter verstellten, Blick auf die tatsächlichen Ereignisse. Im Jahr 1265 und damit ganz im Trend seiner Zeit erreichte Hamburg erstmalig eine vertragliche Einigung hinsichtlich der Sicherheit von Kaufleuten entlang dithmarsischer Küsten und Ufern mit der dortigen Landesgemeinde.68 Anders als in dem Abkommen zwischen Hamburg und Wursten wurde in dem zugrundeliegenden Schriftstück das vor Ort gleichermaßen als Gewohnheitsrecht praktizierte Strandrecht zwar nicht explizit adressiert, doch beziehen sich die erwähnten graues et multiplices causas sowie die daraus erwachsenen questiones und querimonias eindeutig auf den Umgang mit und die Eigentumsfrage von in Dithmarschen angeschwemmten schiffbrüchigen Objekten und in diesem Zusammenhang entstandenen Auseinandersetzungen und Gewaltanwendungen.69 Neben der allgemeinen Erklärung, hamburgischen Kaufleuten zukünftig wohlgesinnt zu sein, wurde in dem Vertrag unter anderem vereinbart, dass im Falle von gegenseitigen Gewaltanwendungen fortan Schlichtungsverfahren einberufen werden sollten, um im Kontext des Strandrechts entstandene Streitfälle in beiderseitigem Einvernehmen beilegen zu können und auf diese Weise zukünftigen Konflikten vorzubeugen. Dabei beanspruchte dieses Abkommen, wie andere Verträge zu dieser Zeit auch, nicht nur für Hamburger oder Dithmarscher Kaufleute Geltung, sondern ebenfalls für die Stadt anfahrende und besuchende Händler, wodurch unmittelbar auch eine hansische Dimension tangiert ist.
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HamUB I, Nr. 683. Der Vertrag kam im Namen der advocatus, milites, consules et tota communitas terre Thetmarsie zustande. Dazu ferner: Chalybäus: Geschichte, 103 f.; Stoob: Dithmarschen, 119. Zu diesem Schluss gelangte auch der profilierte Dithmarschen-Kenner Heinz Stoob: Stoob: Dithmarschen, 119. In dem Vertrag ist explizit auch von homicidia die Rede, die sich im Umfeld derartiger Streitigkeiten ereignet haben sollen. Unter anderem wurde festgelegt, dass Hamburger Klagen an Dithmarscher richten können sollen, die bis zu 10 Jahre zurückliegen. Das ist ein Hinweis darauf, dass Konflikte im Umfeld von Strandrecht und Strandraub vermutlich schon eine längere Tradition haben.
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Anders als in Wursten, mit dem Hamburg vorerst zu keinen weiteren Vertragsschlüssen hinsichtlich der Ausübung des Strandrechts veranlasst wurde,70 verfehlte diese Übereinkunft den erwünschten Effekt einer Befriedung der Schifffahrt vor Dithmarschen. Das geht aus den unzähligen anschließenden Verträgen hervor, die sich mit der Strandrechtsfrage und den damit zusammenhängenden Übergriffen von Landeseingesessenen auf hamburgische und hansische Händler und deren Waren beschäftigten.71 Entweder scheiterte die Umsetzung derartiger Übereinkünfte daran, dass die jeweiligen Machthaber selbst von der Aneignung von Strandfund profitierten und folglich nur wenig Interesse an einer Beilegung dieser Praxis hatten und die Verträge nur pro forma eingingen,72 oder an der schwach ausgeprägten Exekutive der Landesherren, die gegenüber der lokalen Bevölkerung kein Unterlassen dieser Vorgehensweise erwirken konnten. Insbesondere in Dithmarschen, das nach der Schlacht bei Bornhöved nominell wieder transelbischer Teil des Erzstiftes Bremen geworden war,73 trifft letzteres zu: Dort entwickelte sich im 13. Jahrhundert mit Blick auf die wenig ausgeprägte Herrschaft der Bremer Erzbischöfe eine Kirchspielkonföderation, die Landesangelegenheiten weitgehend selbstständig verwaltete.74 Die Landesgemeinde, die die einzelnen Parochien und Eingesessenen auf Landesebene vertrat, war jedoch nur kaum im Stande, die oftmals divergierenden Einzelinteressen der jeweiligen Kirchspiele zu bündeln und
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Erst 1442 sind erneute Übergriffe von Wurstern auf Hamburger Kaufleute und anschließende Rechtsstreitigkeiten eindeutig belegt, die 1451 in einen neuen Vertrag mündeten: Hey: Strandrecht, 78–84. Bezüglich Dithmarschen siehe: HamUB I, Nr. 683, 792, 822, 856; Ebenda II, Nr. 62, 100, 129, 164, 361. Siehe dazu exemplarisch eine Bannbulle Papst Gregorius VIII. aus dem Jahr 1375, welche dem Erzbischof vorwarf, von der illegitimen Aneignung von Strandgut im Alten Land profitiert zu haben. Schuback: Strandrecht, Bd. 2, Nr. 17. Chalybäus: Geschichte, 29–53; Heinz-Joachim Schulze: Die Grafen von Stade und die Erzbischöfe von Bremen-Hamburg vom Ausgang des 10. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts. In: Heinz-Joachim Schulze, Hans-Eckhard Dannenberg (Hg.): Geschichte des Landes zwischen Elbe und Weser, Bd. 2: Mittelalter (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 8), Stade 1995, 43–104; Adolf Hofmeister: Der Kampf um das Erbe der Stader Grafen zwischen den Welfen und der Bremer Kirche (1144–1236). In: Heinz-Joachim Schulze, Hans-Eckhard Dannenberg (Hg.): Geschichte des Landes zwischen Elbe und Weser, Bd. 2: Mittelalter (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 8), Stade 1995, 105–158, hier 116 f. Dazu überblicksartig: Enno Bünz, Nis Nissen: Dithmarschen im Mittelalter (vom 8. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts). In: Verein für dithmarsische Landeskunde (Hg.): Geschichte Dithmarschens Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Bauernrepublik, Heide 2015, 99–130, 108; Heinz Stoob: Dithmarschens Kirchspiele im Mittelalter. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 77 (1953), 97–140, hier 111–114; Gerd Elsner: Verwaltungsform der Dithmarscher Kirchspielgemeinde in ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart, München 1966, 16 f., 36–43, 54–57; Beat Kümin: Kirchgenossen an der Macht: Vormoderne politische Kultur in den „Pfarreirepubliken“ von Gersau und Dithmarschen. In: Zeitschrift für historische Forschung 41 (2014), Heft 2, 187–230. Auch zum Folgenden.
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die Partikularinteressen der Geschlechterverbände vor Ort zu kontrollieren und zu lenken. Dieser Umstand, das Fehlen zentraler und handlungsfähiger Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen, erschwerte das Aushandeln und letztlich auch die tatsächliche Umsetzung dieser Verträge deutlich. Bereits 1281 musste der gemeinsame Vertrag von 1265 dem Geiste nach erneuert und ausführlicher gestaltet werden:75 Diesmal garantierte die dithmarsische Landesgemeinde den Schwesterstädten an Elbe und Trave sowie den diese Städte anfahrenden Gästen, einem den Handel und Verkehr schädigendes Verhalten auf der Elbe und der Eider sowie zu Land zu entsagen. Sie versicherte darüber hinaus sogar, den gemeinen Kaufmann zukünftig vor Übergriffen auf dessen nauibus, rebus & corporibus in ihrem Einflussbereich aktiv beschützen zu wollen. Allerdings erkannte Hamburg bereits früh, dass es um die Effektivität von mit Dithmarschen auf Landesebene geschlossenen Verträgen schlecht bestellt war und versuchte nun im Zusammenspiel mit der Landesgemeinde die einzelnen, weitgehend selbstständig agierenden Kirchspiele sowie die dortige Bevölkerung vertraglich mehr in die Verantwortung zu ziehen. Hamburg schloss aus diesem Grund mit einer ganzen Reihe von einzelnen Parochien Verträge ab, in der Hoffnung, dadurch der illegitimen Ausübung des Strandrechts an den dithmarsischen Küsten Herr zu werden.76 In den Übereinkommen wurde darüber hinaus vereinbart, dass die Kirchspiele dem allgemeinen Kaufmann zu Erstattung seiner Güter und Rechte verhelfen und zu diesem Zweck gemeinsam mit der Landesgemeinde gegen überführte Straftäter aus ihren Reihen vorgehen sollten.77 Jedoch konnte auch durch diesen Strategiewandel die Sicherheit von Kaufleuten vor den dithmarsischen Küsten und Ufern nicht gewährleistet werden. Schon 1286 waren neue Verträge vonnöten, in denen die an der Elbmündung gelegenen Kirchspiele Brunsbüttel und Marne – ersteres blieb den 1281 geschlossenen Verträgen vermutlich fern – dem Land Dithmarschen, dem Erzbischof und schließlich auch der Stadt Hamburg gelobten, dem gemeinen Kaufmann fortan in keiner Weise schaden zu wollen. Interessant sind diese beiden, im Kern wortgleichen Urkunden nicht zuletzt deshalb, weil hier erstmalig konkrete Geschlechter, die offenbar mit Vergehen am gemeinen Kaufmann in Verbindung gebracht wurden, als Vertragspartner in Erscheinung treten. Genau wie die Kirchspiele mussten sie sich bei Androhung von Pfändung und
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HamUB I, Nr. 792. Dithmarschern sollten in diesem Vertrag grundsätzlich die gleichen Rechte zugestanden werden wie den Hamburgern. Ergänzend zu dem Vertag mit der Landesgemeinde siegelten auch Aluerdesdorpe, Bocoldeburg, Busen, Delf, Heddelake, Hanstede, Herstede, Lunden, Merna, Thellinghestede, Wedinghestede, Wislingheburen und Worden gleichlautende Verträge. Es fehlt jedoch das Siegel Brunsbüttels, was als ein Indiz dafür gewertet kann, dass eine derartige Übereinkunft nicht im Interesse der Uferanrainer war. HamUB I, Nr. 792: Si quis autem huius ordinationis & concordie violator extiterit de quacunque parentela & actor ob hoc querimoniam mouerit, sibi parrochia, in qua reus residens est, ad restitutionem bonorum suorum et ad iustitiam subveniet.
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Todesstrafe78 verpflichten, den Kaufmann nie wieder zu berauben.79 Die dortigen Geschlechterverbände wurden seitens der Elbstadt zusehends als eigentlicher Unsicherheitsfaktor für den Elbverkehr erkannt und sollten in der Folgezeit gezielt adressiert werden. Dem Erzbischof, der in der Bekämpfung des Strandrechts an dieser Stelle zum ersten Mal in seiner Funktion als nomineller Lehnsherr auftaucht, wurde vom Hamburger Rat zwischenzeitlich eine wichtige diplomatische Funktion in diesen Konflikthorizonten zugesprochen: Vermutlich auf Drängen Hamburgs erging in seinem Namen nur fünf Jahre später, 1291, eine Mahnung an besagte Kirchspiele, alle predones, derer man dort habhaft werden konnte, des Landes zu verweisen.80 In dem Schreiben drohte Erzbischof Giselbert den Straftätern neben weltlichen nun auch mit kirchlichen Strafen und wiederholte damit im Wesentlichen die bereits von Papst Alexander III. beschlossenen Sanktionen.81 Die rechtswidrige Aneignung von Strandfund sowie andere Übergriffe aus den südlichen Landesteilen auf Hamburger Bürger und den gemeinen Kaufmann, die sich nur schwerlich gegen vermeintliche Strandräuber zur Wehr setzen konnten,82 ging allem Anschein nach also ungebrochen weiter. Sowohl die vertragliche Einbindung der Geschlechter wie auch schon die Einzelverträge mit den Kirchspielen griffen offenbar ins Leere und hatten keine nachhaltige Befriedung der Elbschifffahrt zur Folge.83 Der Bischof ging nun sogar so weit, den dortigen Kirchspieleingesessenen das Unterhalten von Schiffen zu verbieten, mit denen man Kaufleuten schaden könnte.84 An dieser Stelle findet sich also ein erster vager Hinweis darauf, dass möglicherweise nicht länger nur die im Reich seit dem 12. Jahrhundert zum Strandraub kriminalisierte Ausübung des Strandrechts im Mittelpunkt der Beschwerden stand, sondern auch 78
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HamUB I, Nr. 822: sub pena vite et omnium bonorum eorum. Das Hamburger Urkundenbuch führt nur die Brunsbüttel betreffende Urkunde mit einem Verweis auf einen gleichlautenden Vertrag mit Marne auf. Zu den Geschlechtern im Süden Dithmarschens, die sich im ausgehenden Hochmittelalter wie auch im Rest des Landes aus genossenschaftlich strukturierten Siedlungsverbünden herausbildeten, siehe grundlegend: Stoob: Geschlechterverbände, 121–129. Dazu auch: Hübbe: Verhältnisse, 654. Genannt sind hier die in Brunsbüttel ansässigen Amezinghemanni, Voke(n)manni, Syrsinghemanni, Oedemanni und Bolinghemanni sowie die in Marne eingesessenen Vadhemanni, Olinghemanni, Vethelinghemanni, Adelinghemanni und schließlich die de Eyen. HamUB I, Nr. 856. Mansi: conciliorum, Bd. XXII, 230 f. Um der Übergriffe Herr zu werden, ist in der Bursprake Petri von 1359 festgehalten, dass Kaufleute ihren gestrandeten Kollegen bei Geldstrafe zur Hilfe eilen sollten: Jürgen Bolland: Hamburgische Burspraken, 1346–1594, 2 Bde., Hamburg 1960, hier I, 6, Nr. 11. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich Unterstützung leistende Händler dadurch selbst in Gefahr bringen konnten, scheint dieses Vorgehen allerdings nur wenig Erfolg gehabt zu haben. Die betroffenen Geschlechter erklärten später, dass sie diesem Vertrag nur unter Druck zugestimmt hätten und sich deswegen nicht an ihn gebunden fühlten. HamUB II, Nr. 164a. HamUB I, Nr. 856: Nolumus enim ut predicti naues aliquas habeant, cum quibus possint grauere ratione spolii mercatorem.
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Warenwegnahmen zur See und damit Seeraub – der Übergang zwischen diesen Tatbeständen war, wie bereits umrissen, damals freilich fließender Natur. Eine Kontrolle dieser Vorgabe wird zwar kaum möglich gewesen sein, jedoch belegt dieses Vorgehen ein Zweifaches: Zum einen lässt sich anhand der zahlreichen Vertragsabschlüsse und erzbischöflichen Ermahnungen erkennen, mit welcher Hartnäckigkeit Hamburg die Handelssicherheit vor den dithmarsischen Küsten- und Uferlinien zunächst noch auf Basis von Verträgen durchsetzen wollte und wie wichtig dieses politische Ziel seitens des Stadtrats bewertet wurde. Zum anderen lässt sich an der Ohnmacht der Landesgemeinde, der einzelnen Kirchspiele und schließlich der des Erzbischofs, den geschlossenen Verträgen Taten folgen zu lassen, klar erkennen, wie gering sich die Autorität des Metropoliten und die der dithmarsischen Institutionen gegenüber den Geschlechterverbänden im Südteil des Landes im 13. Jahrhundert ausgestaltete. Keiner dieser Akteure war offensichtlich im Stande – oder angesichts möglicherweise daraus erwachsener Profite willens –, den begangenen Übergriffen auf den gemeinen Kaufmann konsequent Einhalt zu gebieten. Bereits an dieser Stelle fallen deutlich die zur Elbe hin gelegenen Kirchspiele Brunsbüttel und Marne sowie die dortigen Bewohner ins Auge, die die ausgehandelten Verträge hinsichtlich der Sicherheit von Kaufleuten entlang ihrer Küsten- und Uferstreifen immer wieder ignorierten oder, möglicherweise auf die Legitimität des Strandrechts pochend, sich bewusst über diese hinwegsetzten. Die bereits erörterten kaiserlichen, aber auch klerikalen Suspendierungen von Strandrecht und Grundruhr werden zwar auch in Dithmarschen wahrgenommen worden sein, den Status geltenden Rechts erreichten sie in den südlichen Landesteilen allerdings offenbar nicht. Der Einschaltung der landesherrlichen Obrigkeit war indes langfristig ebenso erfolglos: Schon 1304 brachte der Hamburger Rat in Person Gottschalks von Bille erneut Klagen gegen vermeintliche dithmarsische Strand- oder Seeräuber, viris spoliatoribus, vor, und die verdächtigen Individuen mussten vor der Landesgemeinde schwören – dieses Vorgehen ist nun bereits bekannt – fortan weder Kaufleute zu bedrohen noch sich deren Waren anzueignen.85 Bei Zuwiderhandlung drohte Ächtung. Dass die Landesgemeinde ganz offen andere politische Ziele als die Bevölkerung der Elbkirchspiele verfolgte, nämlich einen friedlichen Ausgleich mit der Hansestadt anstrebte, lässt sich daran erkennen, dass sie im Nachgang dieser Willensbekundung sogar eine nicht erhaltene Willkür bekanntgab. Kirchspiele, in oder aus denen Straftaten begangen wurden, sollten fortan so lange dem Kirchenbann unterliegen, bis der entstandene Schaden ersetzt wurde.86 Die Landesführung versuchte also augenscheinlich nach Kräften, den Druck auf die Unruhestifter im Land zu erhöhen. 85 86
HamUB II, Nr. 62. Dazu: Johann Bolten: Dithmarsische Geschichte, Bd. 2, Flensburg u. a. 1782, 358 f.; Chalybäus: Geschichte, 109; Hübbe: Verhältnisse, 654 f. HamUB II, Nr. 100: quod coram nobis cum civitate Hamburgensi et universis mercatoribus concordastis et unanimiter wilcore fecistis, sicut patet in litteris vestris: in qua vel ex qua parrochia mercatores spolia-
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Dass auch dieses Bekenntnis offenbar in einigen Bevölkerungsteilen und Kirchspielen nicht zu einem Einlenken führte, geht wiederum aus einem 1306 abgefassten erzbischöflichen Schreiben an Dithmarschen hervor. Im Namen Hamburgs und nicht weiter benannter Ostseestädte87 drohte der Erzbischof angesichts anhaltender Störungen des Elbverkehrs nun mit drastischeren Konsequenzen: Zunächst berichtete er davon, dass die oben genannten Städte und damit im Wesentlichen die im Entstehen begriffene Hanse88 zukünftig engagiert gegen Dithmarschen vorgehen und einen Boykott gegen dasselbe verhängen wollten, sollte das Berauben und Töten von Händlern entlang den angrenzenden Gewässern aller kaiserlichen und päpstlichen Edikte sowie schließlich aller bilateral geschlossenen Verträge und Friedensbekundungen zum Trotz fortbestehen sowie die jüngst begangenen Taten nicht gesühnt und beendet werden. In diesem Zusammenhang gab er zu verstehen, dass ansonsten alle Dithmarscher in besagten Hansestädten, aber auch in den umliegenden Grafschaften und Herzogtümern, als personae non gratae behandelt werden dürften und damit rechnen müssten, für die Vergehen ihrer Landsleute zur Rechenschaft gezogen zu werden – unter diesen Bedingungen wäre der Handelsverkehr Dithmarschens mit seinem Umland faktisch zum Erliegen gekommen. Derartige wirtschaftspolitisch motivierte Drohungen reichten dem vermutlich im Hintergrund federführenden Hamburg jedoch nicht aus; diesmal sollte der volle Handlungsspielraum gegen Dithmarschen und die betreffenden Straftäter erschöpft werden. In dem Schriftstück informierte der Erzbischof die dithmarsische Landesgemeinde darüber, dass bereits eine Delegation der Hansestädte zum Apostolischen Stuhl unterwegs sei, um dort gemäß den in jener Willkür gemachten Zusagen tatsächlich die Verhängung des Interdikts über die betroffenen Kirchspiele zu erwirken. Wenn von der Kurie ein solches Mandat an den Erzbischof ergehe, bliebe ihm nichts Anderes übrig, so Giselbert, als dieses Urteil zu vollstrecken.89 Wie die Landesgemeinde und die einzelnen Kirchspiele auf dieses Schreiben reagierten, ist nicht bekannt, allerdings muss es wenig später unter Vermittlung Giselberts zu einem Friedensschluss zwischen Dithmarschen und Hamburg gekommen sein;90 die Androhung einschneidender Konsequenzen hatte offenbar aus Perspektive des Erzbischofs und sicherlich auch aus der der Hansestädte ihren Zweck vorerst erfüllt. Denn im noch jungen Jahr 1307 und damit wenige Woche nach dem Tod des Me-
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rentur, illa parrochia ecclesiastico interdicto subiacere deberet et tam diu carere ecclesiasticis sacramentis, donec ablata integraliter fuerint restituta. Hübbe: Verhältnisse, 655. HamUB II, Nr. 100: civitatum intra Wisseram [Wismar, Weser?] et terram Polonie. Dazu wieder: Hübbe: Verhältnisse, 655–657. Auch zum Folgenden. HamUB II, Nr. 100: civitates taliter sint confederati pariter et uniti. Ebenda. HamUB II, Nr. 129: Preterea traugas factas a venerabili domino Giselberto bone memorie Bremensi archiepiscopo super violationibus compositionis supradicte in suo vigore volumus permanere. Dazu siehe erneut: Hübbe: Verhältnisse, 657 f.
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tropoliten wurde dieser geschlossene Friedensvertrag, der selbst nicht überliefert ist, erneuert und dem gemeinen Kaufmann damit abermals Schutz und Rechtssicherheit zugesagt. Über die bisherigen Abkommen hinaus erklärte sich die Landesgemeinde überdies bereit, mit Waffengewalt gegen überführte Friedensbrecher vorzugehen – sie werden in diesem Kontext erstmalig als pirata angesprochen.91 Das Land Dithmarschen stand also einmal mehr für den Schutz des Kaufmanns und damit im Kern gegen jene streitbaren zur Elbe hin gelegenen Kirchspiele und Geschlechter in ihrem Einflussbereich ein. 1308 folgte dann ein Vertrag, in dem explizit eine Reihe von in Brunsbüttel ansässigen, bereits auffällig gewordenen Geschlechtern einschließlich dem Dorf Groden – offenbar ein Hotspot für Strand- und Seeraub – dem Hamburger Rat schworen, dem errichteten Frieden beipflichten zu wollen. In dem betreffenden Schriftstück gaben die dithmarsischen Vertragspartner allerdings die Hinrichtung einiger ihrer Kumpane als Ursache für die seit Jahren anhaltende Feindschaft an.92 Dieser eher nebensächliche Verweis auf hingerichtete Dithmarscher kann als ein Indiz dafür dienen, dass die Hansestadt an der langjährigen Feindschaft mit den besagten Geschlechterverbänden auch selbst ein Stück weit Verantwortung trug – vermutlich heizte die Frage der Rechtmäßig- und Verhältnismäßigkeit derartiger Exekutionen von vermeintlichen Piraten die ohnehin bestehenden Konfliktlinien noch weiter an. Angesichts dieser entgegenkommenden Haltung erklärte sich Hamburg wiederum bereit, von der zwischenzeitlich praktizierten Sippenhaft für Dithmarscher Abstand zu nehmen.93 Jedoch muss die Feindschaft zwischen Bevölkerungsteilen Brunsbüttels sowie Marnes und Hamburg aller gegenseitigen Friedensbekundungen zum Trotz schon wenig später wieder und diesmal sogar in Form eines regelrechten Kleinkrieges, gwerra,94 eskaliert sein. Was genau der Anlass für den Wiederausbruch der Gewalt war, bleibt im Dunkel der Quellen.95 Lediglich zwei 1316 geschlossene Sühneverträge liefern einen 91 92 93 94 95
HamUB II, Nr. 129. Ebenda, Nr. 164a/b: occasione quorundam decollatorum per Hadelerios Hamburgensibus presentatos. Ebenda, Nr. 165. Ebenda, Nr. 358 f. An dieser Stelle muss konstatiert werden, dass die hamburgisch-dithmarsischen Beziehungen zu Beginn des 14. Jahrhunderts trotz aller gegenseitigen Friedensbekundungen grundsätzlich angespannt waren: 1306 erfolgte eine erzbischöflich-holsteinisch-sachsen-lauenburgische Expedition gegen die dies- und jenseits der Elbe gelegenen Marschgebiete Kehdingen, die Haseldorfer Marsch, Kremper Marsch und das Alte Land. Zwar ist in den anschließenden Friedensverträgen von 1307 und 1308 von einer offiziellen Beteiligung Dithmarschens oder einzelner Kirchspiele auf Seiten der Marschbauern in diesem Krieg keine Rede, jedoch lässt sich anhand von Chroniken nachweisen, dass einzelne Dithmarscher den Marschregionen militärische Unterstützung leisteten und dabei mitunter eine wichtige Rolle spielten. Johann Lappenberg (Hg.): Annales Lubicenses, (MGH SS 16), Hannover 1859, 411–429, hier 419 f. Die fortgesetzte Detmar-Chronik berichtet in diesem Zusammenhang auch von erneuten Übergriffen auf Hamburger und Lübecker Kaufleute. Historische Kommission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Die Chroniken der niedersächsischen Städte. Lübeck, Bd. 1 (Die Chroniken
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zugegebenermaßen knappen Einblick in diese dithmarsisch-hamburgischen Händel.96 In dieser Auseinandersetzung, die allem Anschein nach hauptsächlich auf der Elbe geführt wurde, verloren auf Seiten der Dithmarscher mindestens elf Menschen ihr Leben. Einer davon nachweislich im Gefecht, apud cogghonem, die übrigen entweder ebenfalls dort oder spätestens in Hamburg auf dem Schafott auf dem Grasbrook, der traditionellen Hinrichtungsstätte für seitens des Stadtrates als Strand- oder Seeräuber eingestufte Personen.97 Vermutlich angesichts dieser Vorgänge schworen die Geschlechter in den Elbkirchspielen, diesmal auch im Namen ihrer Nachkommen, wenig später dem gemeinen Kaufmann niemals wieder schaden zu wollen und den entstandenen Schaden zu ersetzen.98 Zusätzlich wurde festgelegt, dass Verwundungen, Tötungen oder Gefangennahmen von vermeintlichen Dithmarscher Strand- und Seeräubern zukünftig nicht mehr als Vertrags- und damit Friedensbruch eingestuft werden dürften. Wenige Tage nach der Wiederherstellung eines allgemeinen Friedens trat überdies die Landgemeinde Dithmarschen geradezu mantrahaft für jedermanns Sicherheit im Land ein und erklärte jegliche Übergriffe auf Reisende und Kaufleute für beendet.99 In der Folgezeit scheint dann tatsächlich etwas Ruhe in das spannungsreiche Verhältnis zwischen Dithmarschen und Hamburg Einkehr gehalten zu haben. Die beharrliche Vertragspolitik der Hansestadt sollte im Zusammenspiel mit einer seit dem späten 13. Jahrhundert betriebenen stützpunktorientierten Verkehrssicherungspolitik auf der Elbe – darauf wird noch eingegangen – zumindest partiell von Erfolg gekrönt sein. Nachdem die von 1316 bis 1323 reichende Konfliktperiode mit den Schauenburgern ein Ende gefunden hatte,100 und Dithmarschen Gerhard III. in dem zugrundeliegenden Friedensvertrag abermals die Unversehrtheit von Kaufleuten auf Elbe, Eider, Trene und Sorge versicherte,101 etablierte sich in der Folgezeit zwischen den nördlichen der deutschen Städte 19), Leipzig 1884, 399. Siehe dazu ferner: Hübbe: Verhältnisse, 658 f.; Adolf Hofmeister: Besiedlung und Verfassung der Stader Elbmarschen im Mittelalter, Teil 2: Die Hollerkolonisation und die Landesgemeinden Land Kehdingen und Altes Land (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 14), Hildesheim 1981, 232–241; Elmshäuser: Erzbischöfe, 167–170. 96 HamUB II, Nr. 358 f., 361. 97 Zur Nutzung des Grasbrooks als Hinrichtungsstätte siehe: Ralf Wiechmach, Eilin Einfeldt, Klaus Püschel: „… men scholde en ere hovede afhowen und negele se uppe den stok“. Die Piratenschädel vom Grasbrook. In: Jörgen Bracker (Hg.): Gottes Freund – aller Welt Feind. Von Seeraub und Konvoifahrt: Störtebeker und die Folgen, Hamburg 2001, 52–79, hier 56, 60 f., 73 f. 98 HamUB II, Nr. 358 f. 99 Ebenda, Nr. 361. 100 Siehe zu den dithmarsisch-holsteinischen Konflikten zu Beginn des 14. Jahrhunderts: Carstens: Bündnispolitik, 13; Chalybäus: Geschichte, 109–115; Hofmeister: Kampf, 209 f. Zu dem holsteinischen Kriegszug gegen Dithmarschen im Jahr 1319 siehe: Bünz, Nissen: Dithmarschen, 117–119; Wilhelm Kolster: Geschichte Dithmarschens nach F. C. Dahlmanns Vorlesungen im Winter 1826, Leipzig 1873, 259–276. 101 HUB II, Nr. 408. Dazu und zum Folgenden auch: Stoob: Dithmarschen, 118–120. Ferner überblicksartig: Stoob: Geschichte, 23–40; Bünz, Nissen: Dithmarschen, 119–121; Chalybäus: Geschichte, 118 f. Dieser Vertrag wurde 1345 erneuert. HUB III, Nr. 64. Diesen Verträgen zum
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Kirchspielen auf der einen und den umliegenden Hansestädten auf der anderen Seite eine einträgliche wirtschaftliche Zusammenarbeit. 1336 richtete als erster das wirtschaftliche und politische Zentrum Dithmarschens, Meldorf, einen Markt ein und versprach in diesem Zusammenhang sichere An- und Abreise für Händler inklusive ihrer Waren;102 1357 sicherten die Kirchspiele Lunden und Hemme Lüneburger Kaufleuten freien Verkehr zu;103 1367 bürgten die Kirchspiele Hennstedt, Delve und Tellingstedt für die Sicherheit von Personen und Gütern in ihrem gemeinsamen Hafen und erklärten sich sogar bereit, durch Raub entstandenen Schaden zu erstatten;104 1373 errichteten Neuenkirchen, Teile Wesselburens, Weddingstedt, Hemmingstedt und Wöhrden daselbst in Konkurrenz zu Meldorf einen gemeinsamen Markt und gewährten allen Kaufleuten dort Rechtssicherheit;105 1375 befreite Wöhrden zudem explizit Lübeck von dem Strandrecht und kündigte Hilfestellungen bei Schiffbrüchen an, ohne dass im Vorfeld Klagen seitens der Reichsstadt auszumachen sind.106 Das Zustandekommen dieser Handelsbeziehungen ist dabei im Wesentlichen auf die positive wirtschaftliche Entwicklung insbesondere der nördlichen Landesteile Dithmarschens zurückzuführen: Der Getreidebau in den ausgedehnten Marschgebieten wurde im Zusammenhang der bereits im 11. und 12. Jahrhundert schrittweise begonnenen Eindeichung der Küstenlinien, die sukzessive eine Besiedelung und Kultivierung der äußerst fruchtbaren Eider- und Nordseemarschen sowie der angrenzenden Moorgebiete nach sich zog, immer ertragreicher.107 Um die dort erwirtschafteten Getreideüberschüsse über eigene Märkte an die nachfragestarken umliegenden Trotz scheint es 1335 zu einem Übergriff Dithmarscher auf englische Kaufleute gekommen zu sein. HUB II, Nr. 573. 102 HamUB II, Nr. 1025. Dazu und zum Folgenden Chalybäus: Geschichte, 117–120. 103 UBStL I, Nr. 520. Ein Jahr zuvor ist ein im Grunde identischer Vertrag auch für Wursten und Hamburg überliefert. HUB II, Nr. 572. 104 Paul Hasse u. a. (Hg.): Schleswig-Holstein-Lauenburgische Regesten und Urkunden (SHRU), 14 Bde., Hamburg u. a. 1886–1995, hier IV, Nr. 1228. 105 Die Urkunde ist abgedruckt in: Friedrich Dahlmann: Johann Adolfi’s, genannt Neocorus, Chronik des Landes Dithmarschen, Bd. 1, Kiel 1827, Anhang Nr. 9. Siehe zu den Streitigkeiten zwischen Meldorf und besagten Kirchspielen: Chalybäus: Geschichte, 118 f. 106 UBStL IV, Nr. 277. Der Vertrag zwischen Wöhrden und Lübeck ist am umfangsreichsten, sieht er doch zudem auch einen Bergelohn für Kirchspieleingesessene und die Unterwerfung unter das Urteil des Bischofs von Ratzeburg in Streitfällen vor. 107 Zur dithmarsischen Getreideproduktion und dem Getreidehandel siehe überblicksartig: Stoob: Geschichte, 355–367; Ders.: Dithmarschen, 122; Jörg Missfeldt: Die Republik Dithmarschen. In: Verein für dithmarsische Landeskunde (Hg.): Geschichte Dithmarschens, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Bauernrepublik, Heide 2015, 131–176, hier 141 f. Zum Deichbau siehe: Dirk Meier: Die Unterelbe. Vom Urstromtal bis zur Elbvertiefung, Heide 2014, 95; Ders.: Landschaftsentwicklung und Siedlungsgeschichte des Dithmarscher Küstengebiets von der römischen Kaiserzeit bis zum Mittelalter. In: Verein für dithmarsische Landeskunde (Hg.): Geschichte Dithmarschens, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Bauernrepublik, Heide 2015, 65–98, hier 94–96; Bünz, Nissen: Dithmarschen, 106 f. Der Landeschronist Neocorus berichtet mit Blick auf seine Gegenwart von einem 66-fachen Ernteertrag an Getreide auf Büsum. Dahlmann: Neocorus, Bd. 2, 222.
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Hansestädte verkaufen zu können, waren Sicherheitsversprechen für die anreisenden Kaufleute eine unablässige Voraussetzung. Eingerahmt wurden diese Handelsverträge durch ein 1384 zwischen den Kirchspielen Meldorf, Wesselburen und Büsum108 einschließlich des im ganzen Land einflussreichen Geschlechts der Vogdemannen und den auf beiden Seiten der Elbe gelegenen Hansestädten Lübeck, Hamburg, Lüneburg, Stade und Buxtehude sowie Itzehoe ausgehandeltes Abkommen.109 Während Hamburg mit dem Land Wursten seit knapp 150 Jahren einen diesbezüglichen, obgleich weniger detaillierten Rahmenvertrag unterhielt, handelt es sich bei der zugrundeliegenden Übereinkunft um das erste erhaltene Schriftstück, das sich über einzelne Kirchspielgrenzen hinweg explizit mit dem Umgang von Strandfund und schiffbrüchigem Gut an dithmarsischen Küsten und Ufern auseinandersetzt. Zum einen wurde festgelegt, dass Kaufleute aus den oben genannten Städten verlustige Waren entlang der Elbe, Eider und Nordsee eigenständig, und ohne Übergriffe fürchten zu müssen, bergen dürften. Zugleich wurde Dithmarschern ein Bergelohn, wie er im Ostseeraum aber etwa auch in Wursten und Hadeln bereits im 13. Jahrhunderts üblich war,110 in Aussicht gestellt, sollten sie auf Anfrage bei der Bergung von Waren zu Wasser oder zu Land behilflich sein.111 Die dithmarsischen Vertragspartner verpflichteten sich ferner, wie es in ähnlichen Verträgen zur selben Zeit auch der Fall war, angetriebene besatzungslose Schiffe oder herrenlose Güter mit Blick auf mögliche Anspruchsteller für ein Jahr zu verwahren. Schließlich sollten Kaufleute aus den oben genannten Städten bei ihren verbrieften Rechten verbleiben und bereits geschlossene Verträge ihre Gültigkeit behalten. Von einem zusätzlichen Entgegenkommen auf Seiten der Städte in Form von Zollerlässen oder anderen Handelsvergünstigungen, die die Kooperationsbereitschaft in Dithmarschen hätten fördern können, liest man – anders als in dem Vertrag mit Wurstfriesland – in diesem Übereinkommen hingegen nichts. Worin dieser Umstand begründet sein mag, bleibt offen, 1309 jedenfalls stemmte sich die Hamburger Bürgerschaft gegen einen solchen Zollerlass.112 Während in anderen Teilen Nordeuropas und des nördlichen Heiligen Römischen Reichs konkrete vertragliche Übereinkünfte bezüglich des Umgangs mit schiffbrüchigen Waren schon seit mehreren Generationen gängige Praxis waren, ist eine offizielle Verbriefung derartiger Rechte und eine damit einhergehende explizite Distanzierung 108 Noch Neocorus weiß von vele Sehgudes zu berichten, dass vor Büsum angeschwemmt wurde und umme eine christliche Gebör geborgen wurde. Dahlmann: Neocorus, Bd. 2, 222. 109 UBStL IV, Nr. 434. Diesem Vertragsabschluss gingen zahlreiche Verhandlungen zwischen dem federführenden Hamburg und Dithmarschen voraus: KR I, 319, 338–340, 347 f., 358 f., 367, 380. 110 Niitemaa: Strandrecht, 81–84. Bezüglich Wursten und Hadeln: HamUB I, Nr. 821, 917. 111 Were auer dat se vnser hulpe darto behoueden vnde vns edder de vnsen darto esscheden, was de vnsen en denne bergen hulpen, dar schole wy van hebben den drudden deel vor arbeideslon, vnde de coplude, den yd tohoret, scholen beholden de twe teil. UBStL IV, Nr. 434. 112 HamUB II, Nr. 189.
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vom Strandrecht zumindest für Teile Dithmarschens erst im späten 14. Jahrhundert überliefert. Der Umstand, dass sich die oben genannten Kirchspiele erst knapp einhundert Jahre nach den wohlgemerkt allgemein gehaltenen Verschreibungen des Jahres 1281 bereit zeigten, konkrete Regelungen im Umgang mit Strandfund zu treffen, kann abermals als Hinweis auf die Verbreitung und auf die empfundene Rechtmäßigkeit des Strandrechts in diesen Gefilden verstanden werden. Im Zusammenspiel mit den um die Mitte des 14. Jahrhunderts geschlossenen Einzelverträgen der Kirchspiele mit umliegenden Hansestädten war nun immerhin entlang der Nordseeküste und der Eider ein Zustand zumindest relativer Rechtssicherheit für Kaufleute einzelner Städte geschaffen worden. Ausschlaggebend für das Zustandekommen des Vertrags von 1384 waren sicher die bereits beleuchteten wirtschaftlichen Interessen der nördlichen Landesteile Dithmarschens. Das Gros der Marschkirchspiele, das von den guten wirtschaftlichen Beziehungen zu den umliegenden Städten profitierte, trat in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts – abgesehen von Büsum – dementsprechend nur vereinzelt als Störfaktor der Elbschifffahrt in Erscheinung.113 Die Gefahr, die von dem südlichen Landesteil für Hamburg ausging, war jedoch ungebrochen groß: Brunsbüttel, der einzige Marktort im Süden des Landes, unterhielt in dieser Zeit lediglich mit dem erst kurz zuvor im Kreise der Hanse anzutreffenden Buxtehude ein Handelsabkommen, in dem der Stadt und dem Kaufmann freies Geleit und Unterstützung bei Schadensfällen verbrieft wurden114 – dem 1384 geschlossenen Abkommen blieben die Elbkirchspiele, die traditionellen Antagonisten Hamburgs auf der Elbe, geschlossen fern. Die mit Unterbrechungen seit 1360 und damit ein Jahr nach dem kaiserlichen Elbprivileg von 1359 überlieferten Hamburger Schadenslisten, die Dithmarschen bezeichnenderweise eine eigene Rubrik zuordneten, geben erstmalig einen Einblick in das Ausmaß der durch Dithmarscher verübten Schäden.115 Allein für den Zeitraum von 1360 bis 1364 sind acht Einträge überliefert; zwei dieser Vergehen sind eindeutig Brunsbüttel und Marne zugewiesen.116 Ab den 1380er-Jahren lässt sich dann sogar eine drastische Zunahme der Schadensfälle beobachten. Neben Brunsbüttel und Marne, die nach wie vor eindeutig als Hauptverursacher der Übergriffe ausfindig zu machen sind,117 boten den Hamburger Aufzeichnungen zufolge trotz des jüngst geschlossenen
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Lunden und Hemme beispielsweise tauchen jeweils einmalig in der Schadensliste von 1360 auf. Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg (StA HH), 111–1, 26356. Meldorf taucht vereinzelt in den ab ca. 1380 geführten Schadenslisten auf. Exemplarisch: StA HH, 111–1, 26357, fol. 7. SHRU IV, Nr. 1530. StA HH, 111–1, 26356–26358. Wie und auf welcher Basis Schadensfälle überhaupt einzelnen Kirchspielen oder konkreten Geschlechtern zugeordnet werden konnten, bleibt offen. Es ist denkbar, dass diese Informationen auf Gefangene zurückgehen, die durch Hamburger verhört wurden. Ebenda, 26356. Ebenda, 26357, fol. 4–20, 31–33.
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Vertrags auch die Insel Büsum und das im ganzen Land verteilte Geschlecht der Vogdemannen der Stadt wiederholt Anlass zur Beschwerde.118 Den Anstieg der Überfälle auf Hamburger Kaufleute, die einen beträchtlichen finanziellen Schaden verursachten, beantwortete die Elbstadt, wie schon zu Beginn des Jahrhunderts, schließlich erneut mit einem militärischen Vorgehen gegen die Elbkirchspiele. Über den konkreten Verlauf ist einmal mehr kaum etwas bekannt, lediglich ein im Jahr 1395 begangener Friedensvertrag weiß von den gewaltsamen Zusammenstößen zu berichten – gegenseitig überzog man einander mit schelinghe, twydracht, veyde, rof, brand, wunden und doetslach.119 Welchen Stellenwert die nördlichen Kirchspiele der Wiederherstellung des Friedens mit Hamburg und der Aufrechterhaltung der einträglichen wirtschaftlichen Beziehungen mit den umliegenden Hansestädten beimaß, erhellt sich nun auch daran, dass nicht nur Zeugen aus Meldorf als Garanten für den ausgehandelten Frieden in Erscheinung traten. Auch Vertreter aus Wöhrden, Hemme, Weddingstedt, Tellingstedt, Albersdorf und Neuenkirchen sind nachgewiesen. Bereits ein Jahr zuvor, 1394, musste sich das Kirchspiel Brunsbüttel wie schon 1316 vertraglich verpflichten, die Gefangennahme und Hinrichtung von Kirchspieleingesessenen – vermeintlichen See- bzw. Strandräubern – nicht rächen zu wollen.120 5. Die hamburgische Elbsicherungspolitik im 14. Jahrhundert Gleichzeitig zu den unermüdlichen diplomatischen Versuchen Hamburgs, die Elbanrainer und insbesondere Dithmarschen vertraglich zu bewegen, von der Ausübung des Strandrechts und anderweitigen Übergriffen auf den gemeinen Kaufmann abzusehen, lässt sich am Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert ein gewisser Paradigmenwechsel in der hamburgischen Elbsicherungspolitik erkennen. Nicht länger setzte die Hansestadt nur darauf, Verträge mit Dithmarschen, Hadeln oder Wursten auszuhandeln, deren effektiver Nutzen hinsichtlich einer Unterbindung von Strandraub oder anderweitigen Warenwegnahmen gering ausfiel und in dieser Eindimensionalität daher als gescheitert erachtet werden müssen. Ergänzend begann die Stadt an der Jahrhundert-
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So etwa StA HH, 111–1, 26357, fol. 1, 7 f., 13, 18. Möglicherweise hängt der Anstieg Dithmarscher Übergriffe auf den Hamburger Kaufmann in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auch mit den Auswirkungen der Zweiten Marcellusflut zusammen, die viel Kulturland an der Nordseeküste vernichtete und damit die wirtschaftliche Grundlage vieler Menschen zerstörte. Dazu etwa: Jürgen Ibs u. a.: Historischer Atlas Schleswig-Holstein. Vom Mittelalter bis 1867, Neumünster 2004, 32 f. 119 SHRU VI, Tl. 2, Nr. 1189. Der Vertrag wurde seitens der Dithmarscher von den Kirchspielen Meldorf, Wöhrden, Hemme, Weddingstedt, Tellingstedt, Albersdorf, Marne, Brunsbüttel und Neuenkirchen gesiegelt. Dazu auch: Chalybäus: Geschichte, 120. 120 SHRU VI, Tl. 2, Nr. 1115a. Zudem ist in den Kämmereirechnungen für 1394 die Verurteilung und Enthauptung von Dithmarschern belegt: KR I, 480.
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wende, sich sukzessive einer territorialen und stützpunktorientierten Verkehrssicherungspolitik zu bedienen.121 1299, und damit in einer Hochphase dithmarsischer, aber auch Hadeler Übergriffe auf den gemeinen Kaufmann, erwarb Hamburg von den Herzögen des jüngst qua Teilung des Herzogtums Sachsen entstandenen Herzogtums Sachsen-Lauenburg ein Privileg, das es der Stadt gestattete, eine Befestigung auf der vor der Hadeler Küste in der Elbmündung gelegenen Insel Nige O, dem heutigen Neuwerk, errichten zu dürfen.122 In dem zugrundeliegenden Schriftstück befreiten Johann und Albrecht von Sachsen zudem alle vor Hadeln und Wursten sowie in deren sonstigen Hoheitsgebiet gestrandeten Kaufleute von dem Strandrecht. Bereits 13 Jahre zuvor, 1286, hatte Hamburg von dem Erzbischof von Bremen und den Herzögen von Sachsen unter anderem das Recht erhalten, auf besagter Insel eine Feuerbake in Betrieb nehmen zu dürfen.123 Bis spätestens 1312 wurde der dafür benötigte Turm, der durch den eigens dafür eingerichteten Werkzoll finanziert werden sollte,124 fertiggestellt125 und erhielt eine permanente Besatzung von zehn Mann.126 Eine Kontrolle und Sicherung des Elbmündungsgebietes sollte für Hamburg insbesondere in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts von zunehmender Bedeutung sein: In diesen Jahrzehnten – konkret von 1355 bis 1382 – ist Rughenorde als wichtiger Umschlagplatz für hamburgische Waren und im Speziellen für hamburgisches Bier belegt, das vor allem nach England verschifft wurde.127 Dieser im Elbeästuar, konkret vor der Südwestküste Dithmarschens im heutigen Friedrichskoog, gelegene Vorposten des Hamburger Hafens128 war verkehrstechnisch gut angebunden und auch bei Niedrigwasser schiffbar. Auf diese Weise erlaubte er es der Stadt, Waren von größeren, tiefergehenden Schiffen, die es bei Ebbe nur unter Gefahr des Auflaufens auf verborgene 121
Siehe zu dieser Entwicklung überblicksartig: Reincke: Territorialpolitik; Tschentscher: Entstehung; Gabrielsson: Zeit, 146–154. 122 HamUB I, Nr. 918. Zu dem Turm auf Neuwerk siehe: Ferber: Entwicklung. 123 HamUB I, Nr. 821. Ob Hamburg zu dieser Zeit auf dem errichteten Turm tatsächlich eine Feuerbake unterhalten hat, ist hingegen fraglich. Dazu: Ferber: Entwicklung, 17–20. 124 Zu dem Werkzoll: Tschentscher: Entstehung, 13–16; Ferber: Entwicklung, 25 f.; Gabrielsson: Zeit, 147 f. 125 KR I, LXXXVIII; Ferber: Entwicklung, 21–24. 126 HamUB II, Nr. 222, 258, 300. 127 KR I, 82, 341; Jörgen Bracker: Rughenorde, ein Umschlagplatz der Hansezeit im heutigen Friedrichskoog. In: Hansische Geschichtsblätter 129 (2011), 193–212, hier 195 f. Bezüglich des Bierhandels: Gerald Stefke: Ein städtisches Exportgewerbe des Spätmittelalters in seiner Entfaltung und ersten Blüte. Untersuchung zur Geschichte der Hamburger Seebrauerei des 14. Jahrhunderts, Hamburg 1979; Gabrielsson: Zeit, 167–170; Christine von Blanckenburg: Die Hanse und ihr Bier. Brauwesen und Bierhandel im hansischen Verkehrsgebiet (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte. Neue Folge 51), Köln 2001, 33–35. 128 Zur konkreten Verortung Rughenordes siehe: Bracker: Rughenorde, 204–206. Auch wenn die Insel und der dortige Anlegeplatz 1382 letztmalig Erwähnung finden, ist davon auszugehen, dass er noch einige Jahre mehr als Außenposten des Hamburger Hafens Verwendung fand, bis er vermutlich versandete und schließlich aufgegeben wurde.
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Sandbänke in den Hamburger Hafen geschafft hätten, unkompliziert und zeitsparend zu verladen. Nicht zuletzt mit Blick auf den im 14. Jahrhundert florierenden hamburgischen Bierhandel wird das Handelsaufgebot von Hamburg nach Rughenorde und von dort in die im Westen gelegenen Zielhäfen einen deutlichen Zuwachs verzeichnet haben. Vor dem Hintergrund dieser wirtschaftlichen Entwicklung, die mit Zunahme des Verkehrsaufkommens gleichermaßen einen Anstieg von Strandungsfällen erwarten ließ, musste ein reibungsloser, vor See- und Strandraub geschützter Handelsverkehr vor der dithmarsischen Küste mehr denn je ein zentrales wirtschaftspolitisches Ziel hamburgischer Elbpolitik sein. Das bereits erwähnte, unter anderem zwischen der Elbstadt und einigen dithmarsischen Kirchspielen an der Westküste geschlossene Abkommen aus dem Jahr 1384 legt darüber beredtes Zeugnis ab: Um eine mit Hinblick auf verunfallte Waren einträgliche Zusammenarbeit zu etablieren, zeigte sich Hamburg erstmalig sogar bereit, den dithmarsischen Vertragspartnern besagten Bergelohn zuzusichern. Während die nördlichen Kirchspiele in der Mitte des 14. Jahrhunderts Handelsbeziehungen mit den umliegenden Hansestädten unterhielten und damit grundsätzlich zu einer Kooperation mit Hamburg bereit waren, schien bei den Elbkirchspielen der Anstieg des Handelsvolumens im Elbästuar rund um Rughenorde alte Begehrlichkeiten geweckt zu haben. Die 1395 befriedeten Händel zwischen den Elbkirchspielen und Hamburg werden ihren Ursprung einmal mehr im Kontext von Strandrecht und Strandraub sowie den anschließenden Vergeltungsaktionen durch Hamburg gefunden haben. Dass Hamburg im 14. Jahrhundert eine grundsätzliche Bereitschaft zeigte, Strandund Seeraub militärisch zu begegnen und mit Gewaltmitteln für die Sicherheit des Verkehrs auf der Niederelbe einzustehen, wird abseits der Händel mit Brunsbüttel und Marne auch anhand der Konflikte mit dem Hadelner Adelsgeschlecht der Lappen deutlich, die wiederholt auch als Gefährder des Elbverkehrs vor der Hadelner Küste in Erscheinung traten.129 1394 mündeten die daraus resultierenden Streitigkeiten regelrecht in einer Fehde, aus der Hamburg unterstützt von den Wurstfriesen als Gewinner hervorging und die Lappen zwang, das eroberte Schloss Ritzebüttel der Stadt zu verkaufen.130
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Siehe dazu: StA HH, 111–1, 26357, fol. 24–28. Zu den Konflikten zwischen Hamburg und den Lappen, bei denen sogar der Turm auf Neuwerk zwischenzeitlich zerstört wurde, siehe grundsätzlich: Tschentscher: Entstehung, 11–13, 26; Reincke: Territorialpolitik, 62 f.; Rüther: Chronik, Nr. 275; HamUB II, Nr. 211, 360. Zu der Eroberung bzw. zum Erwerb des Schlosses Ritzebüttel sowie angrenzender Gebiete und zu den damit einhergehenden Konflikten mit dem Geschlecht der Lappen siehe: Rüther: Chronik, Nr. 275, 277 f., 293; Tschentscher: Entstehung, 12 f., 26–28; Reincke: Territorialpolitik, 67–71.
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Es folgten weiterer Pfandbesitz und damit zusammenhängende Hoheitsrechte in Hadeln,131 sodass Hamburg am Ende des 14. Jahrhunderts im Zusammenspiel mit dem Turm auf Neuwerk132 eine starke territoriale Präsenz an der Elbmündung etablieren konnte. Diese angesichts des planmäßigen Vorgehens anscheinend ganz bewusst betriebene Territorialpolitik erlaubte es der Stadt, die Sicherheit des gemeinen Kaufmanns im Elbmündungsgebiet besser denn je gewährleisten zu können. Von Neuwerk oder von Ritzebüttel konnte bedrängten Händlern bei pericula, naufragia und gegen piratae133 wesentlich effektiver zur Hilfe geeilt werden als von dem rund 100 Kilometer entfernten Hamburger Hafen. Erst mit der Einrichtung eines Stützpunktes an der Elbmündung befähigte Hamburg sich gewissermaßen selbst dazu, die Umsetzung und Gültigkeit bereits geschlossener Verträge in der Region – das gilt auch für das transelbische Dithmarschen – überwachen und gegen Zuwiderhandelnde gezielt vorgehen zu können. In den städtischen Führungsorganen griff um die Jahrhundertwende offenbar die Erkenntnis Raum, dass eine langfristige Befriedung der Elbschifffahrt nur durch eine Verknüpfung und ein synergetisches Zusammenspiel von vertraglichen Absprachen mit den Anrainern und einer stützpunktpunktorientierten Elbpolitik gelingen konnte. Diese wurde später durch eine städtisch finanzierte Überwachung des Flusses durch Patrouillenbote ergänzt.134 6. Zusammenfassung und Ausblick Während die Ausübung des Strandrechts auf Basis der seitens der geistlichen und weltlichen Obrigkeit erlassenen Strandrechtsbefreiungen bzw. -verbote in einigen Regionen an Nord- und Ostsee im Hoch- und Spätmittelalter schrittweise reglementiert und eingeschränkt wurde, ohne jedoch gänzlich zu verschwinden, tritt der Niederelberaum vor allem im 13. und frühen 14. Jahrhundert geradezu als ein Strandraub-Hotspot in Erscheinung. Darüber legen die zahlreichen, aus den an der Elbe gelegenen
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Zu der hamburgischen Pfand- und Stützpunktpolitik in Hadeln siehe insgesamt: Gabrielsson: Zeit, 148; Eduard Rüther: Das Land Hadeln im Pfandbesitz Hamburgs. In: Jahrbuch der Männer von Morgenstern 13 (1910/11), 104–129. HUB II, Nr. 274 benennt die der Errichtung des Turmes zugrundeliegende Funktion eindeutig: pro salute nostra et omnium mercatorum. StA HH, 710–1, I, T 8a. Siehe dazu: Detlev Ellmers: Die Schiffe der Hanse und der Seeräuber um 1400. In: Wilfried Ehbrecht (Hg.): Störtebeker – 600 Jahre nach seinem Tod (Hansische Studien 15), Trier 2005, 153–168, hier 162–168; Tschentscher: Entstehung, 30–32; Reinhard Paulsen: Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter. Schiffe am Beispiel Hamburgs, europäische Entwicklungslinien und die Forschung in Deutschland (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte. Neue Folge 73), Köln u. a. 2016, 740–742, Abb. 9–11. Erst ab Ende der 1420er-Jahre kommt es regelmäßiger zu Verbuchung von Kosten durch Schiffe auf der Elbe in der Rubrik de navibus civitatis; ab 1460 ist der Kostenposten dann jährlich verbucht. Paulsen: Schifffahrt, 743 f., Abb. 12 u. 13.
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Marschregionen Hadeln und Dithmarschen sowie aus dem etwas weiter westlich gelegenen Wurstfriesland begangenen Übergriffe auf den gemeinen Kaufmann beredtes Zeugnis ab. Als Erklärungsmodell für diese Beobachtung kann zunächst die geografische Beschaffenheit des Flussmündungsgebiets im Zusammenspiel mit der deutlichen Zunahme der merkantilen Nutzung der Niederelbe insbesondere in Folge des wirtschaftlichen Aufstiegs Hamburgs dienen: Mit dem zunehmenden Schiffsverkehr auf dem Flussabschnitt nahm gleichermaßen auch die Zahl an Kaufleuten zu, die dort auf je nach Wasserstand und Strömung oftmals verborgene Sandbänke aufliefen und dadurch Schiffbruch erlitten. Auf sich allein gestellt, waren diese Schiffe dann eine leichte und lukrative Beute – die Besatzung war häufig nicht in der Lage, sich gegen organisierte und oftmals gewaltsam durchgesetzte Strandrechtsansprüche seitens der ansässigen Bevölkerung zu erwehren, und in der Folge waren Plünderungen und Wegnahmen gescheiterter Schiffe und ihrer Waren an der Tagesordnung. Während es Hamburg von vereinzelten Störungen abgesehen mit der Zeit weitestgehend gelang, den Handelsverkehr vor der Wurstener und Hadelner Küste auf Basis von Verträgen zu befrieden, blieb die Anwendung des Strandrechts im südlichen Dithmarschen aller geschlossenen Verträge zum Trotz gelebte Praxis. Als wohl größte Gefahrenquelle insbesondere für den Warenstrom auf der Niederelbe können die Elbkirchspiele Brunsbüttel und Marne identifiziert werden – diesen Schluss lässt jedenfalls der diesbezüglich ausgeprägte diplomatische Verkehr Hamburgs mit und über Dithmarschen zu.135 Um nachvollziehen zu können, warum die vertragliche Zurückdrängung des Strandrechts in Dithmarschen misslang und dasselbe am Übergang zum 14. Jahrhundert sogar einen Höhepunkt erreichte, lohnt sich in der Zusammenschau ein vergleichender Blick auf die unterschiedlichen Verträge, die Hamburg mit Hadeln, Wursten und Dithmarschen beging. Anders als den erstgenannten Regionen, bot die Elbstadt Dithmarschen bis ins späte 14. Jahrhundert keine finanziellen Anreize in Form von Zollerleichterungen oder Bergelöhnen, die die lokale Bevölkerung unabhängig von der Rechtslage hätte motivieren können, von der Ausübung des Strandrechts abzusehen – jedenfalls tauchen derartige Angebote nicht in den Quellen auf. Das beharrliche Festhalten insbesondere der elbnahen Parochien in Dithmarschen an diesem Gewohnheitsrecht könnte also abseits der empfundenen Rechtmäßigkeit dieser Praxis durchaus auf das Fehlen wirtschaftlicher Kompensationsangebote zurückgeführt werden, was wiederum die ökonomische Bedeutung von Strandfunden für die dortige Bevölkerung unterstreichen würde. Warum Hamburg so lange zögerte, Dithmarschen in dieser Sache Zugeständnisse zu machen und schließlich die Zahlung eines Bergelohn etablierte, bleibt Spekulation; möglicherweise war die Stadt angesichts der zahlreichen gewaltsamen Übergriffe auf
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Siehe dazu abseits der analysierten Verträge auch die Hamburger Schadenslisten. StA HH, 111–1, 26356 f.
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den städtischen Handelsverkehr, bei denen immer wieder auch Stadtbürger ihr Leben verloren, schlichtweg nicht bereit, Dithmarschen die Hand zu reichen. Oder aber die Kirchspiele lehnten bis dato jedwede dahingehende Kooperation ab – vielleicht auch weil das Überfallen von Schiffen schlichtweg lukrativer als jeder Vertrag war. Selbst in dem 1384 mit den nördlichen Kirchspielen geschlossenen Rahmenübereinkommen, das den Umgang mit Strandfunden in den Küstenregionen Dithmarschens grundlegend regelte und ein Bergegeld vorsah, tauchen Brunsbüttel und Marne nicht auf. Als weitere wichtige Ursache für die zahlreichen und andauernden Übergriffe auf Kaufleute und deren Waren im Niederelberaum kann der für die dortigen Marschregionen geradezu typische Kirchspielpartikularismus benannt werden. Zentrale und durchsetzungsfähige Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen, die der illegitimen Ausübung des Strandrechts flächendeckend und effektiv einen Riegel vorschieben konnten, fehlten oder waren gerade erst im Entstehen begriffen. Insbesondere Dithmarschen, wo sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts eine de facto selbstständige Kirchspielkonföderation entwickelte, dient hier als eindrückliches Beispiel. Hamburg erkannte bereits früh, dass die dortige Landesgemeinde nicht über den Einfluss und die Durchsetzungskraft verfügte, die Umsetzung des 1265 geschlossenen Schutzvertrags im ganzen Land garantieren zu können. In der Folge versuchte die Stadt, erst die einzelnen Parochien, und als dieses Unterfangen gleichermaßen scheiterte, die Geschlechterverbände in den Elbkirchspielen, die Keimzellen des Strandraubs und anderer Warenwegnahmen, vertraglich mehr einzubinden. Flankiert wurde dieses Vorgehen durch die Einschaltung des nominellen Lehnsherrn Dithmarschens, dem Bremer Erzbischof. Jedoch war keiner dieser Akteure letztlich im Stande oder willens, dem Treiben jener Kirchspiele und Geschlechtern aus den südlichen Landesteilen, die sich wiederholt auch an ihre eigenen Zusagen mehr schlecht als recht gebunden fühlten, Einhalt zu gebieten – die Ohnmacht, dem Strandrecht an dem dithmarsischen Elbufer Herr zu werden, ist dementsprechend aufs Engste mit der politischen Gemengelage vor Ort, den Einzelinteressen der Kirchspiele und ihrer Bewohner verflochten. Anhand dieser Entwicklungen lässt sich nun konstatieren, dass das spätmittelalterliche Dithmarschen nicht als homogene Interessensgemeinschaft verstanden werden darf.136 Als eine Ursache dafür können wiederum unterschiedliche geografische Bedingungen gelten. Während der nördliche Landesteil über ausgedehnte fruchtbare Marschflächen verfügte, die sich ideal für den Getreideanabau eigneten, war diese landwirtschaftliche Nutzfläche am Elbästuar zunächst noch kleiner und zudem der ständigen Gefahr von Landverlusten in Folge der Strömungsverhältnisse im Mündungsgebiet oder Hochwasser im besonderen Maße ausgesetzt.137 In der Konsequenz dürften die elbnahen Kirchspiele vermutlich weit weniger von der im 13. Jahrhundert 136 137
Zu dieser Erkenntnis gelangte in Ansätzen bereits Carstens: Bündnispolitik, 26 f. Siehe dazu etwa die angehängte Karte, die unter anderem auf Landverluste im unmittelbaren Elbmündungsgebiet verweist. Zu dem dort nach 1140 untergegangenen Uthaven siehe etwa: Olaf
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in Dithmarschen schrittweise einsetzenden, äußerst einträglichen Getreidewirtschaft profitiert haben als die nördlichen Landesteile. Während der Norden des Landes in Erwartung gewinnbringender Handelsbeziehungen dementsprechend bereitwillig mit den Hansestädten zusammenarbeitete – die zahlreichen Handelskontakte sprechen hier eine eindeutige Sprache –, verfolgten insbesondere Brunsbüttel und Marne ein anderes wirtschaftliches Konzept und daher andere Interessen im Elbmündungsgebiet als ihre nördlichen Nachbarn. Die Ausübung des Strandrechts sowie andere Formen der Güterwegnahme müssen von den Elbkirchspielen trotz aller gegenläufigen Verlautbarungen und geschlossenen Verträgen als lukrative Einnahme- und nicht zu vernachlässigende Versorgungsquelle verstanden worden sein. Zugunsten Hamburgs wollte und konnte man dort auf die hergebrachten, obgleich obsoleten Nutzungsrechte an dem Fluss und an den Stränden nicht verzichten. Die Folge war eine politische Zweiteilung Dithmarschens, in der die nördlichen Marschgebiete wiederholt gegen ihre Landsleute im Süden Stellung bezogen und mit Hamburg diplomatisch kooperierten.138 Die ältere Forschung hat den geringer ausgeprägten wirtschaftlichen Aufschwung in den Elbkirchspielen als eine zentrale Motivation für das Festhalten an dem Strandrecht im 13. und 14. Jahrhundert nicht hinreichend berücksichtigt und die Konflikte der dortigen, sogenannten Seeräubergeschlechter139 mit Hamburg primär habituell oder geografisch zu erklären versucht. An der Wende zum 14. Jahrhundert lässt sich dann ein Paradigmenwechsel innerhalb der Sicherung des Handelsverkehrs auf der Elbe beobachten. Hamburg setzte nicht länger nur auf bi- oder multilaterale Schutzverträge mit den Elbanrainern, die im südlichen Dithmarschen Lippenbekenntnisse blieben, sondern errichtete zusehends eine territoriale Präsenz im südlichen Elbmündungsgebiet. Fortan versuchte die Elbstadt mit einer militärischen Präsenz auf Neuwerk und später in Ritzebüttel dem anhaltenden Strand- und Seeraub auf und an der Elbe entgegenzuwirken, und griff zu diesem Zweck sowohl gegen Teile Dithmarschens als auch gegen die in Hadeln ansässigen Lappen zu den Waffen – das von Karl IV. erhaltene Privileg bildete eine zentrale
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Klose (Hg.): Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 1: Schleswig-Holstein und Hamburg (Kröners Taschenbuchausgabe 271), 3. Aufl., Stuttgart 1976, 25 f. Diese Zweiteilung des Landes lässt sich auch noch 1447 im Kontext der Verabschiedung des Dithmarscher Landrechts erkennen. Dazu: Stefan Brenner: Im Fahrwasser regionaler Hansestädte. Dithmarschen in den Konfliktfeldern des westlichen Ostseeraums (1500–1559), (Kieler Werkstücke Reihe A 60), Berlin u. a. 2022, 49 f.; Stoob: Geschichte, 44 f.; Carstens: Bündnispolitik, 32 f. Chalybäus: Geschichte, 110. Karl Nitzsch spricht gar von Piratengeschlechtern. Karl Nitzsch: Die Geschichte der Dithmarsischen Geschlechterverfassung. In: Jahrbücher für die Landeskunde der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg 3 (1860), 83–150. Diese Deutungstradition führte Werner Carstens wiederum fort, der die Ausübung des Strandrechts und andere Warenwegnahmen in der Südermarsch mit der geografischen Nähe zur Elbe zu erklären versucht. Die Tatsache, dass auch nördliche Landesteile im Kontext von Strandrecht und -raub auffielen und diesbezüglich Verträge unter anderem mit Hamburg abschlossen, bleibt hier unterrepräsentiert. Carstens: Bündnispolitik, 24.
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Rechtsgrundlage für dieses Vorgehen. Die zunehmenden Fälle von Übergriffen auf Händler auf der Niederelbe an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert machten eine gesteigerte Präsenz Hamburgs in dieser Region ohnehin notwendig: Simultan zu der deutlichen Zunahme von Übergriffen auf Hamburger Kaufleute durch Dithmarscher und das Geschlecht der Lappen trat in diesem Zeitraum auch die heterogene Gruppe der Vitalienbrüder als Unsicherheitsfaktor des Handelsverkehrs im Elbmündungsgebiet in Erscheinung.140 Durch die Aneignung von Territorien beiderseits der Elbe141 und den damit einhergehenden Erwerb von Gerichtsbarkeiten am Fluss nahm allerdings der politische, rechtliche und zunehmend auch wirtschaftliche Ordnungsanspruch Hamburgs auf der Niederelbe mitunter zum Leidwesen der übrigen Elbanrainer immer mehr Gestalt an.142 Nicht zuletzt deshalb fanden die dithmarsisch-hamburgischen Auseinandersetzungen mit Ausklingen des 14. Jahrhunderts kein Ende. Im Gegenteil, die fürs frühe 15. Jahrhundert zu beobachtenden Versuche Hamburgs, den Getreidehandel auf der Niederelbe zu reglementieren und regelrecht für sich vereinnahmen zu wollen, hatten in den 1430er Jahren einen neuen Eskalationshöhepunkt zur Folge:143 Die ab dem 13. Jahrhundert im Umfeld von Strandrecht und -raub unablässig geführten Konflikte gingen nun regelrecht in einen Wirtschaftskrieg über – davon ist jedoch an anderer Stelle zu berichten. Ihre Sprengkraft verloren die dithmarsisch-hamburgischen Spannungen rund um das Strandrecht endgültig erst mit der Aufzeichnung des ersten Landrechts 1447 und insbesondere im weiteren Verlauf des 15. und stärker noch im 16. Jahrhundert, als die dithmarsische Landesführung zunehmend auf eine gute Zu-
140 Zu den Vitalienbrüdern anstelle vieler: Ehbrecht: Störtebeker. Zur Piraterie im Hanseraum anstelle vieler jetzt: Europäisches Hansemuseum (Hg.): Störtebeker & Konsorten: Piraten der Hansezeit?, Lübeck u. a. 2019. 141 Im 15. Jahrhundert folgte etwa auch die Aneignung von Pfandbesitz an der strategisch relevanten Störmündung. Georg Hille: Registrum König Christian des Ersten, Kiel 1875, Nr. 99, 104, 108, 166, 170; Gabrielsson: Zeit, 152. Bezüglich Hamburgs Territorialbesitz im Stromspaltungsgebiet siehe: Reincke: Territorialpolitik, Tafel 4. 142 Zur Entstehung und Ausgestaltung der hamburgischen Elbhoheit siehe grundlegend: Tschentscher: Entstehung; Ders.: Stromregal. Mit einer regelrechten juristischen Weiterentwicklung des Strandrechts im Niederelberaum des 13. und 14. Jahrhunderts ging dieser Prozess allerdings nicht einher. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass eine spezifisch dithmarsische Auslegung des Strandrechts für diesen Zeitraum gleichermaßen nicht beobachtet werden kann. Lediglich die späte Einführung einer finanziellen Kompensation für die Bergung und Rückgabe von Strandgut stellt für die Region ein Unikum da. 143 Die spätmittelalterlichen dithmarsisch-hamburgischen Auseinandersetzungen um den Dithmarscher Vogt Radlef Kersten sind bisher nur sehr vereinzelt, vornehmlich in Überblickswerken zur dithmarsischen Geschichte und folglich nur aus dithmarsischer Perspektive tangiert worden. Stoob: Dithmarschen, 123 f.; Ders.: Geschichte, 24–37; Chalybäus: Geschichte, 136–143; Missfeldt: Republik, 146; Carstens: Bündnispolitik, 28.
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sammenarbeit mit den umliegenden Hansestädten – et vice versa – gegen die Hegemonialbestrebungen Christians I. und seiner Nachfolger angewiesen war.144 Zur Person: Stefan Brenner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt zur Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und Früher Neuzeit an der CAU zu Kiel. Er promoviert aktuell zur deutschsprachigen Rezeptionsgeschichte des hochmittelalterlichen Landesausbaus in der Germania Slavica in der Aufklärung (1700–ca. 1850). Stefan Brenner M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Abteilung für Regionalgeschichte, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
144 Siehe dazu umfassend nun: Brenner: Fahrwasser. Zum Landrecht anstelle vieler: Stoob: Geschichte, Kapitel 2.
Social Topography Reloaded Mapping Renaissance Görlitz Colin Arnaud Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 122–144
Kurzfassung: Auf Grundlage eines Grundsteuerregisters untersucht dieser Artikel soziotopografische Muster und sozioökonomische Hierarchien, indem er zwei bürgerliche Nachbarschaften von Görlitz um 1500 vergleicht und unterschiedliche Tendenzen in der Art und Weise des Wirtschaftens sowie der nachbarschaftlichen Solidarität und der Wohnmobilität hervorhebt. Im südöstlichen Handwerksviertel dominierte mobiles Kapital, während das nordwestliche Langengassenviertel durch viele Marktstandbesitzer und wenig mobiles Kapital gekennzeichnet war. Im Handwerk waren zahlreiche Textilunternehmer angesiedelt, in der Langengasse viele Einzelhändler wie Bäcker, Schuhmacher und vor allem Metzger. Darüber hinaus waren Anzeichen wirtschaftlicher Stratifikation, wie zum Beispiel die Wohnmobilität, im Handwerk stärker ausgeprägt. Außerdem finden wir in der Langengasse mehr Anzeichen für nachbarschaftliche Solidarität, da dort viele Menschen als Bürgen für ihre Nachbarn in Hypothekenurkunden fungierten. Schlagwörter: Sozialtopografie, Stadtgeschichte, Mittelalterliche Geschichte, Solidarität, Steuerregister, Görlitz Abstract: Based on a property tax register, this article examines sociotopographical patterns and socioeconomic hierarchy by comparing two middle-class neighbourhoods of Görlitz in 1500 and highlighting diverging trends in the way business was conducted, as well as neighbourhood solidarity and residential mobility. In the south-eastern Handwerk area, mobile capital dominated, whereas the north-western Langengasse area was characterised by many market stall owners and scarce mobile capital. Handwerk hosted numerous textile entrepreneurs; Langengasse hosted many retailers such as bakers, shoemakers and, above all, butchers. In addition, signs of economic stratification, such as residential mobility, were more pronounced in Handwerk. Furthermore, we find more evidence of neighbourhood solidarity in Langengasse, where many people served as warrantors for neighbours in mortgage deeds. Keywords: social topography, urban history, medieval history, solidarity, tax registers, Görlitz
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1. From vertical to horizontal differences Many tourists see themselves as modern flaneurs when they visit a town. They do not care for specific monuments but try to grasp the flair of the different districts. In judging the atmosphere of a neighbourhood, they do not only consider if the quarter is centrally located or if it is rich or poor. Many other parameters are important, such as the presence of interesting shops, cafés and green areas or the urbanity and peculiarity of the inhabitants. The same is true when people search for a new dwelling: the attraction of a quarter depends on many factors beyond its centrality or social standing. In Berlin, for example, the districts of Wilmersdorf and Friedrichshain have similar architectural and urbanistic patterns, middle-class populations and comparable distances from the centre, but they have a very different flair and their inhabitants cultivate a different habitus and lifestyle. While Wilmersdorf is a quiet neighbourhood inhabited by older people and families, Friedrichshain, with its alternative bars, hipster cafés, worldfood restaurants and creative shops, is popular with a young, metropolitan population. Everyone could find differences between the neighbourhoods of his or her town that range beyond social inequalities. Such differences are very likely to have existed before the industrial revolution. However, historical studies of the social topography of towns generally do not consider this factor and focus instead on the spatial description of social inequalities. Gideon Sjoberg’s model of a typical pre-industrial town provides an insight into this prevailing research perspective. Sjoberg’s model describes the pyramidal aspect of residential patterns. The upper-class lived in the centre, the middle and lower classes outside the centre and the so-called outcasts in the suburbs.1 The visualisation of this model represents the pre-industrial city as a succession of concentric circles whose grey tones became darker as soon as the distance from the centre grows. This model, conceived in 1960, remains a classic, and residential distribution along its lines has been partially confirmed by many studies.2 An obsession with vertical stratification still characterises historical studies of social topography.3 This may be partly due to the nature of 1 2
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Gideon Sjoberg: The Preindustrial city: Past and Present, New York 1960. Ulf Dirlmeier, Bernd Fuhrmann: Räumliche Aspekte sozialer Ungleichheit in der spätmittelalterlichen Stadt. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 92 (2005) 4, 424– 439, here 431–433; Thomas Wozniak: Quedlinburg im 14. und 16. Jahrhundert: Ein sozialtopographischer Vergleich (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 11), Berlin 2013, 189–197; Heinrich Rüthing: Höxter um 1500: Analyse einer Stadtgesellschaft, 2. Aufl., Paderborn 1986, 379–394; Frank-Dietrich Jacob: Städtisches Leben im Zeitalter der frühbürgerlichen Revolution im Spiegel des Görlitzer Steuerregisters von 1528. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 5 (1975), 110–141. For example, Helge Steenweg argues that the aim of social topography should be to understand social stratification in a spatial context: Helge Steenweg: Göttingen um 1400: Sozialstruktur und Sozialtopographie einer mittelalterlichen Stadt (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 33), Bielefeld 1994, 1; Denecke notes that there are
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the sources: tax registers, the typical sources for sociotopography, invite historians to classify the population according to wealth. However, apart from the debate on the pertinence of Sjoberg’s model, it seems necessary to add colour to these grey tones. Indeed, another approach is possible: a horizontal differentiation between neighbourhoods of similar social classes. For example, in a study of the German port town Greifswald, Karsten Igel divides the town into five sectors (Stadt-Räume), each characterized by particular social patterns beyond the oppositions rich–poor or central–peripheral.4 Occupational topography, a well-studied field,5 can be a step in this direction, but occupational patterns too are often interpreted as evidence for social stratification or segregation.6 Moreover, because of the spatial dispersion of most trades, occupational zoning is seldom as clear as expected.7 In examining the example of Görlitz, this essay aims to point out the diverging social patterns of two middle-class neighbourhoods with a similar position in the social and topographical hierarchy of the town. Apart from evidence usually considered for this type of studies, such as house values and housing conditions (renters versus homeowners), three indicators will be considered in the study: the nature of capital, ties of solidarity, and residential mobility. These dimensions have been discussed in social history8 but they are seldom taken into consideration for historical research into social
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three main subjects of historical sociotopographical research: social rank and status, economical hierarchy (wealth and property) and occupational patterns. The two first deal with social stratification: Dietrich Denecke: Soziale Strukturen im städtischen Raum: Entwicklung und Stand der sozialtopographischen Stadtgeschichtsforschung. In: Matthias Meinhardt, Andreas Ranft (ed.): Die Sozialstruktur und Sozialtopographie vorindustrieller Städte: Beiträge eines Workshops am Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am 27. und 28. Januar 2000 (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 1), Berlin 2005, 123–137, here 129 f. See also Monika Lücke, Versuch einer Vermögenstopographie für die Stadt Wittenberg in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: Meinhardt, Ranft: Sozialstruktur, 247–262. Karsten Igel: Zwischen Bürgerhaus und Frauenhaus: Stadtgestalt, Grundbesitz und Sozialstruktur im spätmittelalterlichen Greifswald (Städteforschung A 71), Köln/Weimar/Wien 2010, 261–299, 311. Karsten Igel studies social groups, not social classes. Wozniak: Quedlinburg, 231–304; Willi Schoch: Die Bevölkerung der Stadt St. Gallen im Jahre 1411: Eine sozialgeschichtliche und sozialtopographische Untersuchung (Sankt Galler Kultur und Geschichte 28), St. Gallen 1997, 197–214; Steenweg: Göttingen, 173–230; Rüthing: Höxter, 151–208. “Wie weit dies zutrifft, ob man mit der Berufsverteilung zugleich die räumlich fixierte, soziale Ungleichheit innerhalb von Städten erfassen kann, muss freilich geprüft werden.” (Dirlmeier, Fuhrmann: Räumliche Aspekte, 431). See Johannes Cramer: Zur Frage der Gewerbegassen in der Stadt am Ausgang des Mittelalters. In: Die Alte Stadt 11 (1984), 81–111. Concerning solidarity in the city, see Jeremy Boulton: Neighbourhood and Society: A London Suburb in the 17th Century, Cambridge 1987, 228–261; Pascale Sutter: Von guten und bösen Nachbarn: Nachbarschaft als Beziehungsform im spätmittelalterlichen Zürich, Zürich 2002; Shona Kelly Wray: Communities and Crisis: Bologna during the Black Death (The Medieval Mediterranean 83), Leiden 2009; Justin Colson, Arie van Steensel (ed.): Cities and solidarities: Urban communities in pre-modern Europe, London 2017. Concerning different types of ‘enter-
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topography.9 What correlations can be found between the ways of doing business, the intensity of solidarity, and the speed of residential turnover in both neighbourhoods and how can we explain the correlations between these indicators? 2. The tax register of Görlitz from 1500 To answer these questions, the archives of Görlitz offer a large number of useful documents. Görlitz was a rather small, but by no means insignificant town in eastern Germany on the Via Regia, which was the trading route linking Cracow, Wroclaw, Leipzig, Erfurt and Frankfurt. The Via Regia was the most important traffic axis within the town and crossed it from the Neisse bridge, through the Neissestraße, the Lower Market (Untermarkt), the Brüdergasse and the Upper Market (Obermarkt) to the Reichenbach Gate. Another important axis was the Petersgasse from the Lower Market to the parish church of Saints Peter and Paul and onwards to the northern Nikolai Gate. The Lower Market was the town’s main square, encompassing the town hall and the main market. The grain market took place in the other major square of the town, the Upper Market.10 Around 1500, Görlitz numbered about 8,000 inhabitants.11 The town became wealthy during the 15th century from its trade in woad and the production of woollen cloth.12
9
10 11
12
prises’ in the city, see for example Franco Franceschi: Oltre il “Tumulto”: I lavoratori fiorentini dell’arte della lana fra Tre e Quattrocento, Florenz 1993; Matthieu Scherman: Familles et travail à Trévise à la fin du Moyen Âge vers 1434–vers 1509, Rom 2013. Concerning residential mobility within the neighbourhood and outside, see Dietrich Denecke: Sozialtopographie und sozialräumliche Gliederung der spätmittelalterlichen Stadt: Problemstellungen, Methoden und Betrachtungsweisen der historischen Wirtschafts- und Sozialtopographie. In: Josef Fleckenstein (ed.): Über Bürger, Stadt und städtische Literatur im Spätmittelalter (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Folge 3 121), Göttingen 1980, 161–202, here 188 f.; Boulton: Neighbourhood, 206–227; Stefano D’Amico: Le contrade e la città: Sistema produttivo e spazio urbano a Milano fra Cinque e Seicento (Storia 185), Mailand 1994, 146–151; Hans-Jörg Gilomen: Demographie und Mobilität. Fragen nach den Grenzen der Bindung von Familienidentität an den Wohnsitz in der spätmittelalterlichen Stadt. In: Gabriela Signori, Karin Czaja (ed.): Häuser, Namen, Identitäten. Beiträge zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte (Beiträge zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte 1), Konstanz 2009, 11–28; Wozniak: Quedlinburg, 187 f. Richard Jecht: Geschichte der Stadt Görlitz, Bd. 1.2: Topographie der Stadt Görlitz, Görlitz 1926. Maren Fettback: Schoss, Mobilien und Immobilien: Die Steuerzahlungen der Görlitzer im Jahr 1500. In: Colin Arnaud (ed.): Das Görlitzer Geschossbuch aus dem Jahr 1500. Edition und Studien, Berlin 2018, 98–120, here 103; Jacob: Städtisches Leben, 133; Richard Jecht: Wie lassen sich die Geschoßbücher für die einheimische Geschichtsschreibung nutzbar machen? In: Neues Lausitzisches Magazin 72 (1896), 284–292, here 289. Jacob: Städtisches Leben, 112 f., 118; Cornelia Wenzel: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Stadt Görlitz im 17. Jahrhundert, Görlitz 1993, 18–24; Peter Wenzel: Die wirtschaftliche und soziale Struktur der Stadt Görlitz im 15. und 16. Jahrhundert, Diss. Leipzig 1963; Horst
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The textile industry grew with such vigour that production was partially dispersed into smaller textile factories, called Meistereien, in the northern suburbs.13 The municipal archives preserve an impressive series of tax registers for the period between 1426 and 1800. The so-called Geschossbücher were redacted twice a year to document the Geschoss, a property tax that every household was obliged to pay on the basis of the value of their real estate (houses, stalls, gardens, fields, etc.) and their mobile wealth. Owners of houses additionally paid a fireplace tax (pro foco), and renters paid a table tax (pro mensa). In the registers, each house is listed with the declaration of the homeowner, followed by the declarations of the renters. This information is recorded on a yearly basis in the same order and layout, so it is possible to reconstruct the course of the inventory and the geographical location of the houses.14 The declarations specify all taxed properties and the respective taxes due; only the mobile goods are summarised (pro mobilia). The registered persons were lay citizens of the town and represented their entire households: exempted groups (nobles and clerics) as well as single household members (wives, domestic servants and apprentices) are therefore invisible in the documents. The head of the household was ordinarily a man but could also be a single woman or a widow who had not remarried. The occupations of Görlitz’s citizens are not specified, but specific workshops like mills, dyers’ workshops and textile workshops (Meisterei) are mentioned. Every register is divided into two parts: one for the inner town (intra muros) and one for the suburbs (extra muros).15 In a research seminar with advanced bachelor students during the summer term of 2016, we edited the 80 manuscript pages of the tax register for the town intra and extra muros dated January 1500.16 The register includes the tax lists of about 1,450 households. In addition, the students wrote seven short case studies on diverse subjects based on this particular source. Two of the papers discuss the distribution of mobile
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15 16
Jecht: Beiträge zur Geschichte des ostdeutschen Waidhandels und Tuchmachergewerbes. In: Neues Lausitzisches Magazin 99 (1923), 55–98; 100 (1924), 57–134. Peter Wenzel: Zur Entwicklung der Görlitzer Wolltuchweberei im 15. und 16. Jahrhundert. In: Görlitzer Magazin 17 (2004), 53–60. The street names are only mentioned in the registers of the suburbs. For the inner town, topographical information is rare, but since the registers from the 18th century specify the cadastral numbers of every house, the archivist Richard Jecht has undertaken a retrospective reconstruction of house locations for the earlier registers and has indicated in the register from January 1500 the address and cadastral number of every house that he could identify. Christiane Thiele: Also vorschosse ich getreulichen noch der stat kur: Die Görlitzer Geschossbücher – ihre Aussagekraft und ihre Grenzen. In: Görlitzer Magazin 21 (2008), 29–43; Jecht: Geschoßbücher, 284–292. Rats- und Stadtarchiv Görlitz, libri exactorum 1500–1505, fol. 1r–44r. In this paper the source will be cited as “Geschossbuch 1500, Stadt” (= intra muros) or “Geschossbuch 1500, Vorstadt” (= extra muros), with the paragraph number (such as 2r3 = folio 2r, § 3) given in the edition: Arnaud (ed.): Görlitzer Geschossbuch, 14–97.
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capital.17 Two papers also analyse contractual sources in order to detect social ties.18 The other papers discuss subjects such as the uses and designations of former Jewish places,19 the topography and social position of widows,20 and the dynamics of residential mobility or stability.21 The edition of the documents and the papers have been published as an open-source e-book.22 This paper combines the results of these studies and additional research to provide new insights into the social topography of the town. 3. Two neighbourhoods: Handwerk and Langengasse The variety of indicators provided by the sources allows us to understand the characteristics of each neighbourhood in extraordinary detail. This paper will focus on two neighbourhoods: Langengasse and Handwerk.23 The first was situated in the north-western part of the town, north of the Upper Market, while the second was located in the south-eastern area, south of the Lower Market and the Neissestraße. Both were part of the inner town and were located near the city walls but away from the city gates. In 1500, we count 167 registered people (103 homeowners and 64 renters) in the Langengasse neighbourhood and 141 names (90 homeowners and 51 renters) in the Handwerk neighbourhood. Both neighbourhoods are no official districts: they are here delimited for the present analysis.
17 18
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Fettback: Schoss; Benjamin Huang: Die Versteuerung der Mobilia im Görlitzer Geschossbuch von 1500. Ein Beitrag zur Sozialtopographie des Vermögens. In: Arnaud (ed.): Görlitzer Geschossbuch, 121–137. Mattis Lehmann: Soziale Beziehungen in einer mittelalterlichen Stadt. Eine sozialtopographische Verordnung der Görlitzer Testamente aus dem Jahr 1500. In: Arnaud (ed.), Görlitzer Geschossbuch, 162–192; Domenic Teipelke: Abgeschlossene Gruppen, Bürgschaftsnetzwerke und das Wohl der Stadt: Eine sozialtopographische Analyse des Görlitzer Rentenmarkts in den Jahren von 1484 bis 1500. In: Arnaud (ed.): Görlitzer Geschossbuch, 193–239. Johanna Blender: Die Präsenz der vertriebenen Jüdinnen und Juden im Görlitzer Stadtraum um 1500. In: Arnaud (ed.): Görlitzer Geschossbuch, 265–279. Lea Bussas: Eine Topographie der Witwen in Görlitz um 1500. In: Arnaud (ed.): Görlitzer Geschossbuch, 240–264. Nam Nguyen: Eine Sozialtopographie der familiären Bindung. Mobilität, Identitäten und Verwandtschaft in Görlitz um 1500. In: Arnaud (ed.): Görlitzer Geschossbuch, 138–161. Arnaud (ed.): Görlitzer Geschossbuch. In: http://dx.doi.org/10.18452/19498, last access: 05.07.2022. Geschossbuch 1500, Stadt, 3v8–9r11 (Langengasse neighbourhood), 15r2–18v6 (Handwerk neighbourhood).
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Image 1 Map of Görlitz in 1500 Map: Colin Arnaud Table 1 Statistical analysis of the Langengasse and Handwerk neighbourhoods ( January 1500) Langengasse neighbourhood
Handwerk neighbourhood
Whole town intra muros
Suburbs
Number of houses
103
90
427
449
Number of houses with brewing privileges (percentage of houses)
12 (12 %)
13 (14 %)
112 (26 %)
0
Number of registered persons
167
141
687
761
Number of renters (percentage of registered persons)
64 (38 %)
51 (35 %)
260 (38 %)
176 (23 %)
Poor, tax-free renters (percentage of renters)
13 (20 %)
9 (18 %)
38 (14 %)
50 (28 %)
Independent women, mostly widows (percentage of registered persons)
28 (17 %)
17 (12 %)
107 (15 %)
85 (11 %)
Source: Geschossbuch 1500.
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In the Handwerk and Langengasse neighbourhoods, the value of the real estate was relatively heterogeneous. The houses with beer-brewing privileges – an important sign of social distinction in Görlitz – constituted a clear minority (13 in the Handwerk neighbourhood, 12 in the Langengasse neighbourhood).24 For the purpose of comparison, in the central squares and streets between the Upper Market, the Lower Market and the church of Saints Peter and Paul almost all houses enjoyed such privileges. With a median value of 100 marks, the houses in the Handwerk area were more expensive than those in the Langengasse neighbourhood (30 marks), but rather cheaper than the houses in both market squares or on the main axes, most of which were worth more than 300 marks.
Image 2 House values in the Görlitz tax register of January 1500 The houses with the highest tax were those with five or six “Biere”: with the right to brew beer five or six times a year. Map: Maren Fettback, Colin Arnaud Source: Fettback: Schoss, 105; Geschossbuch 1500.
24
Katja Lindenau: Brauen und herrschen: Die Görlitzer Braubürger als städtische Elite in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Leipzig 2007, 77 (picture 3).
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Apart from these differences, most people living in both neighbourhoods declared some amount of property in the tax register and can therefore be counted among the middle class.25 However, a plurality of different social classes characterises both quarters. The percentages of renters in both neighbourhoods were similar to the rate in the whole town intra muros. Among the renters, the proportion of tax-free persons – probably the poorest – was higher than in the whole town, but lower than in the suburbs (Table 1). 4. Investing capital Despite the similarities discussed in the previous section, the inhabitants of the Langengasse and Handwerk neighbourhoods evinced distinctive economic and social behaviours. Economic behaviour can be understood by considering the use of capital. 4.1 Mobile capital The tax on mobile goods (mobilia) was imposed on circulating capital. This category included silver and gold, but also typical trade goods such as stored cereals, foodstuffs (for example salt, honey, butter and cheese), spices, drapery, or cattle, as well as raw materials such as wood, coal, copper, leather and woad.26 It is clear that the tax on mobilia did not include items for private consumption but was restricted to productive capital. If we consider what percentage of the entire town’s mobilia was represented by each street, we notice a distinct contrast between the Langengasse and the Handwerk neighbourhoods.
25 26
In both districts, we can only count approximately one quarter of the people who do not declare any property (renters paying no tax or solely the table tax). The public order of 1475 regulating the Geschoss provides a list of goods considered mobilia: Library of University Wroclaw, Görlitzer Geschossordnung, 1475, Akc. 1948/113; see also Fettback: Schoss, 120; Huang: Versteuerung, 121 f.
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Image 3 Percentage of mobilia for individual streets of Görlitz ( January 1500) The streets east of the demarcation line represent more than 70 % of the mobilia of the entire inner town. Map: Benjamin Huang, Colin Arnaud Source: Huang: Versteuerung, 126.
Whereas the Langengasse neighbourhood represented about 6 % of the mobilia of the entire town, the Handwerk neighbourhood gathered 35 % of the total. This divergence can be considered in the context of a more general contrast between Görlitz’s western and the eastern quarters: in the western part of town, more than 70 % of the overall circulating capital was concentrated.27 This result not only points to a wealthier population in the Handwerk neighbourhood than in the Langengasse neighbourhood, but above all provides evidence of another way of investing capital. In fact, we notice the same contrast when comparing the respective house values of each homeowner.
27
Huang: Versteuerung, 126.
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Image 4 Value of mobilia compared to house values for each household ( January 1500) Map: Maren Fettback, Colin Arnaud Source: Fettback: Schoss, 110.
In the Handwerk area, 44 % of the households declared possession of circulating capital, compared to 28 % in the Langengasse area.28 Furthermore, the tendency of the Handwerk neighbourhood’s inhabitants to declare higher mobilia values than house values is surprising. Whereas most owners of mobilia in the Langengasse neighbourhood declared small sums of circulating capital, and only 12 homeowners (11.6 %) declared a similar or higher mobilia value than their house value, in the Handwerk neighbourhood, on the other hand, 32 (35.5 %) did so.29 In the Handwerk neighbourhood, the owner of the highest circulating capital was Hans Wolff, who lived on the Kränzelgasse near the Neissestraße. Whereas he paid a tax of 22 groschen (gr.) for his house, which was valued at 80 marks, he was taxed at 28 29
For the Handwerk neighbourhood, there are 63 mentions of mobilia for 142 names, for the Langengasse neighbourhood, there are 47 mentions for 167 names. In the Langengasse neighbourhood, four persons declared significantly more mobilia than their house value and eight others declared a similar sum. In the Handwerk neighbourhood, there are 16 persons in both categories.
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no less than 517 gr. for his mobilia: 23 times more than for his house.30 His next-door neighbour Hans Wittich paid 34 gr. for his house and 288 gr. for his mobilia.31 Both men declared ownership of a small cloth factory, called a Meisterei. They were entrepreneurs in the town’s flourishing textile industry, which required a significant amount of circulating capital. In general, many residents of the Handwerk neighbourhood were active in the textile trade, as the street name Webergasse (‘weavers’ street’) illustrates. Sixteen of the 19 owners of a Meisterei who are identified in the tax register intra muros lived in this particular neighbourhood.32 This suggests that this profitable industry was not controlled by the rich merchants living in the area of the Lower Market, but by specialised entrepreneurs with more limited assets. The drapers of the Handwerk neighbourhood did not hesitate to invest all their wealth in their businesses. It is uncertain if all references to larger amounts of circulating capital should be attributed to drapers. There were other activities requiring capital as well. Thanks to another source, it is possible to identify two leatherworkers living in the Handwerk neighbourhood.33 Leather was another expensive primary product with a long manufacturing process and potential for high added value. However, these results do not mean that the inhabitants of the Handwerk neighbourhood were economically active and the population of the Langengasse neighbourhood inactive, as the higher proportion of widows in the latter neighbourhood might also suggest (Table 1). The distribution of stable owners highlights another aspect of the townspeople’s economic activities. 4.2 Market stalls as fixed capital In 1500, we find about 85 tax payments pro scampno in the tax register for the town intra muros. These scampna were market stalls.34 In German, they were called Bank and belonged to artisans who had direct contacts with clients, such as shoemakers, bakers or butchers.35 In general, these stalls were linked to market privileges, as we can observe in 30 31 32 33 34
35
Geschossbuch 1500, Stadt, 15r6. Ibidem, 15r5. Fettback: Schoss, 117. Teipelke: Gruppen, 219 (picture 11, n°49 and 99). Concerning the diverse types of medieval shops, see Jane Grenville: Medieval Housing, London/Washington 1997, 171–186; Derek Keene: Shops and Shopping in Medieval London. In: Lindy Grant (ed.): Medieval Art, Architecture, and Archaeology in London, Oxford 1990, 29–46; Colin Arnaud: Topographien des Alltags. Bologna und Straßburg um 1400 (Europa im Mittelalter 28) Berlin/Boston 2018, 71–104. In the Görlitz special tax register of 1528 (Türkensteuer), we find mentions of “Schuhbank” (shoemaker’s bank), “Fleischerbank” (butcher’s bank) or “Brotbank” (bread bank): Rats- und Stadtarchiv Görlitz, Steuerregister (Einschätzungen, Rechnungen, Milizsteuern), Steuerregister, 1528–1543, fol. 1r–63r, for example, fol. 3v–4r, 15r, 17r, 21v–22r.
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the charters of many east-central European towns in that had adopted the Magdeburg Law.36 This legal situation likely implies that the scampna mentioned in the tax register were either butchers’ stalls in the meat market on the north-eastern corner of the Upper Market, or bakers’ and shoemakers’ stalls situated on the northern side of the Lower Market in the 14th century.37
Image 5 Residences of stall owners, January 1500 Map: Colin Arnaud Source: Geschossbuch 1500, Stadt.
36 37
Gustav Adolf Tzschoppe, Gustav Adolf Harald Stenzel (ed.): Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einführung und Verbreitung deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien und der Oberlausitz, Hamburg 1832, 8. Jecht: Topographie, 336, 465 f.; Krzysztof Fokt, Christian Speer, Maciej Mikuła (ed.): Liber Vetustissimus Gorlicensis: Das älteste Görlitzer Stadtbuch / najstarza ksie̜ga miejska zgorzelecka: 1305–1416 (1423). Teil 1: 1305–1343 (Fontes Iuris Polonici Prawo miejskie 5), Kraków 2017, 79, 89 (“an der badestuben, di da liet bie den vleischbencken in der Nuwen Stadt”), 98, (“eine shwbank wider den Rath”), 211 (“suchbag […] lieto bene an den ende, so man in die benken geht zcu der rechten hant”), 274, (“eyne brotbang, gelegen kegen den Chramen”), 349 (“scampnum sutorum […] a dextris de insticiis suprascriptis”), 367 (“medium scampnum sutorum […] a dextris eundo de institis.”) 375 (“einen kram, der ander von dem ende als man geht von dem Apotheker czu der linken hant”).
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In the Handwerk neighbourhood, only three stall ownerships are mentioned, but in the Langengasse neighbourhood there are 56, representing about two-thirds of all stalls in the town. These 56 stalls belonged to 41 persons: 11 renters and 30 homeowners. For 11 of those 30 proprietors, the stall’s value significantly surpassed the value of their own house. For another 13, the values of their stall and house were similar, and only six had stalls that were valued significantly lower than their houses. This means that for most stall-owners, their stall represented their most important investment and a significant part of their productive capital. Several inhabitants of the neighbourhood can be identified as butchers, and most of them were stall-owners.38 The topography of mobilia and stall ownership in late medieval Görlitz, therefore, indicates a divergence in the ways of investing capital between the two neighbourhoods. The inhabitants of the Handwerk neighbourhood invested more heavily in circulating capital, whereas those of the Langengasse neighbourhood focused their investments on fixed capital. 4.3 Credit obtained through mortgage contracts The inhabitants of the Langengasse area also had a pronounced tendency to acquire debts in the form of mortgages. Loans for relatively small sums (generally no more than 100 marks, and averaging 30 marks)39 were provided by ecclesiastical institutions. These annuities, which had an annual interest rate of 8 %, theoretically were to be repaid in instalments within three years but in practice were generally not repaid before 10 years had elapsed.40 They were secured through the mortgage of a property (house, stall, cart, etc.)41 and guaranteed by warrantors. Such mortgage contracts were recorded in special municipal registers.
38
39 40 41
Teipelke: Gruppen, 219. See also the table of mortages in Teipelke: Gruppen, 229, n°54 (= Hans Bache, Geschossbuch 1500 Stadt, 5v11, owner of a shop), 234, n°80 (= Hans Dietrich, Geschossbuch 1500 Stadt, 8r9) n°81 (= Hans Cunrad, Geschossbuch 1500 Stadt, 7r14, owner of a shop), n°95 (= Christoff Utmann, Geschossbuch 1500 Stadt, 7r16, owner of a shop), n°107 (= Paul Schmyd, Geschossbuch 1500 Stadt, 6r2, owner of two shops). Teipelke: Gruppen, 223. Ibidem, 198 f. Ibidem, 197.
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Image 6 Mortgage contract debtors Map: Domenic Teipelke, Colin Arnaud Source: Teipelke: Abgeschlossene Gruppen, 201.
Among the 161 mortgages contracted in the town between 1484 and 1500,42 16 debtors lived in the Langengasse neighbourhood and only four in the Handwerk neighbourhood, which represented the lowest incidence of people with mortgages in Görlitz.43 Mortgage was a conservative method of securing loans and was adequate for smaller amounts that did not exceed the value of the mortgaged property. Some butchers of the Langengasse neighbourhood mortgaged their market stalls – a way of liquidizing a fixed capital investment.44 In contrast, the drapers of the Handwerk area needed more liquid capital than their real estate was worth, a mortgage was not the best solution for them. Perhaps they had other ways of acquiring liquid assets: through private borrowing, advancements on orders, or the accumulation of benefits. 42 43 44
Rats- und Stadtarchiv Görlitz, Libri obligationum, anno 1484–1520, fol. 1r–85r. Teipelke: Gruppen, 201 (picture 2). Rats- und Stadtarchiv Görlitz, Libri obligationum, anno 1484–1520, fol. 60r (Andreas Higman, n°80 in picture 6), 60v (Hans Cunrad, n°81), 77r (Andreas Higman, n°82), 78v (Paul Schmyd, n°107).
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5. Ties of solidarity 5.1 Neighbours as warrantors in mortgage deeds The mortgage deeds illuminate local ties of solidarity through the links between debtor and warrantor. Many persons who obtained a mortgage had one or several warrantors who took this role voluntarily as a favour to the debtor. In the Langengasse neighbourhood, debtor and warrantor often resided close to each other. In fact, the surrounding area was the quarter of Görlitz with the highest density of mortgages, suggesting a high degree of solidarity between neighbours.45 In many cases, the neighbours concerned were butchers. Solidarity among guild members and neighbours were therefore mutually reinforcing.46
Image 7 Debtors and warrantors as neighbours in mortgage contracts Grey numbers represent debtors. Black numbers represent warrantors. The distance between debtor and warrantor is no more than two streets. Map: Domenic Teipelke, Colin Arnaud Source: Teipelke: Gruppen, 209. 45 46
Teipelke: Gruppen, 208–210. Ibidem, 217 f.
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5.2 Neighbourhood solidarity in last wills We can find other ties of solidarity between neighbours in the Langengasse neighbourhood in the testaments from 1500. One local resident, for example, the butcher Matthias Engehlhart, declared in his will that the legal guardian of his wife should be Merten Bernt, and appointed Merten Ulman as legal guardian of his daughter. Both men were neighbours and probably butchers, since they possessed a stall. Therefore, professional and neighbourhood relationships seem to overlap in this case.47 In another will, the widow Magdalena Hanschen Schmydyn, who was living on the Breite Gasse, had Lorentz Sattler, who was a close neighbour and possibly her nephew, as her legal guardian. Moreover, Magdalena bequeathed some precious objects to her tenant Michel Goltschmyd and his family (his wife Ursilen and Ursilen’s daughter Margarete). This example illustrates the benevolent relationships between tenant and homeowner.48 5.3 Solidarity between housemates? A comparison between the houses with the largest number of renters may provide another example of divergent patterns of solidarity and sociability between the neighbourhoods. In the Langengasse area, there was one house with four renters, all widows with different amounts of wealth.49 These widows had probably chosen to spend their old age together, helping each other. In contrast, the house with the largest number of renters in the Handwerk neighbourhood belonged to Jakob Thiele, a rich businessman who was active as a tanner and draper. The owner himself lived in the central Petersgasse.50 Jakob Thiele (= Tyle) was a newcomer to Görlitz who had acquired citizen’s rights in 1472. He worked as a tanner in the Töpferberg suburb before his increasing wealth enabled him to move into a central house with brewing privileges on the Petersgasse. He owned a Meisterei and the above-mentioned house in the Handwerk neighbourhood, which was probably linked to his new activity in the textile industry as well.51 Four of the five renters were men owning small amounts of circulating capital, while a fifth male renter had no possessions at all. One of them was called Jacob Scherer (a cloth shearer?), another Andreas 47 48 49 50 51
Lehmann: Beziehungen, 180 (appendix, testament 79). Ibidem, 179 (testament 4). Geschossbuch 1500, Stadt, 9r9. One woman declared no possessions, another two owned mobilia and the fourth possessed a shop. Ibidem, 16v3 and 11v7 (Thiele’s residence). Peter Wenzel: Zur sozialökonomischen Struktur des vorstädtischen Töpferberges – ein Handwerksviertel im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Görlitzer Magazin 25 (2012), 12–24, here 24.
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Scheffer (a shepherd?). It is likely that all of the renters had some economic ties with Jakob Thiele, maybe as wage workers or hired men. In summary, the example from the Langengasse neighbourhood suggests social cohesion and mutual solidarity between lodgers, while the example from the Handwerk area suggests that economic relationships shaped residential patterns. 5.4 Neighbourhood solidarity and social homogeneity The larger degree of social cohesion in the Langengasse neighbourhood may be partly due to the area’s higher social homogeneity. Indeed, most links of solidarity were found among persons of the same social class: in the case of wills, testators were generally on a similar economic level as their legal guardians and beneficiaries. This was also the case for debtors and their warrantors in mortgage deeds.52 As a matter of fact, if we take house values as an indicator of economic conditions, we note a greater homogeneity for the real estate values in the Langengasse neighbourhood. A comparison of the box plots representing the respective median, quartiles, and top and bottom
Image 8 Box plots of the house values for the Langengasse and Handwerk neighbourhoods Value in marks. The fork shows the first and last decile, the box shows quartiles, the dagger represents the average value and the single points are single values in the highest decile. Diagram: Colin Arnaud Source: Geschossbuch 1500, Stadt.
52
Lehmann: Beziehungen, 176 f.; Teipelke: Gruppen, 206.
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deciles of the house prices illustrates this difference: the box plot for the Langengasse neighbourhood is much flatter than the box plot for the Handwerk neighbourhood. The patterns of the dominant economic activities – butcheries in one neighbourhood, textile workshops in the other – tended to lead to divergences in the formation of social relationships between participants in the same economic sector. Görlitz’s flourishing textile industry was organised in a putting-out system that tended to encourage the development of small factories, the Meistereien, where textile workers worked for an entrepreneur. Some textile workers even dwelt there, since there were lodgers in many Meistereien.53 The textile industry favoured a hierarchical structure of the production process and a relationship of dependence between the entrepreneur and the labourers. The drapers were organized in a guild whose members were mostly neighbours in the Handwerk area, but their working life was not limited to the neighbourhood. The Meistereien were all located in the northern suburbs, while other important locations for the textile industry were the dyers’ workshops in the Hothergasse54 along the riverbank as well as the fulling mills at the Neisse Gate and in the Konsulsgasse (northern suburb).55 The supply of wool and woad and the marketing of finished cloth required links to regional and interregional commerce. Moreover, other entrepreneurs such as merchants56 or wealthy tanners57 invested in the textile industry. Conversely, we can imagine the desire of successful drapers or tanners to become rich merchants with more diversified activities and assets and with a more prestigious and central residence with brewing privileges.58 In sum, the economic horizons of the drapers and their perspectives on social upward social mobility transcended the boundaries of the Handwerk neighbourhood. In contrast, the butchers of the Langengasse neighbourhood worked alone or with few helpmates. The work hierarchies, therefore, were much flatter than in the textile sector and the relationships between colleagues were those of equals. Furthermore, apart from the slaughterhouse near the Neisse River at the Kutterhof, which was located at the northern end of the Hothergasse, their workspaces were concentrated at
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See for example Geschossbuch 1500, Vorstadt, 1r2, 1r3,1r7, 3v15, 4r7, 4r14, 4v1. Ibidem, 8v1, 8v6, 9r3, 9r7 (“Der Meister Ferberstube”). See also Jecht: Topographie, 678. Jecht: Topographie, 732. See the case of Baltzer Kober (Geschossbuch 1500, Stadt, 1r4) and Hans Fretzle (1r5). Other examples of merchants who possessed a Meisterei can be found in Wenzel: Entwicklung, 59 f. See the example of tanner Jakob Thiele in Fettback: Schoss, 115; Wenzel: Struktur, 22 f. Hans Gläckner, in 1500, owned a house in the Handwerk neighbourhood and a dyer’s workshop (tinctorio) (Geschossbuch 1500, Stadt, 18r3). He had just moved from a nearby house (18r9) that was valued three times less than the new one (35 mark for 110 mark). In 1510, he lived in a brew house in the central Brüderstraße (liber exactorum 1510, fol. 5r. In: Rats- und Stadtarchiv Görlitz, libri exactorum 1506–1510, fol. 457r) and possessed a tanner’s workshop – maybe the converted former dyer’s workshop – and a respectable amount of mobile capital taxed on 43 groschen and 3.3 denar. This evolution shows a social and economic ascension.
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the meat market, which was situated in the same neighbourhood as their residences, providing opportunities for intensive social interactions within the neighbourhood. To sum up, the topographical relationships between debtors and warrantors in mortgages as well as between testators, legal guardians and beneficiaries in wills reveal stronger ties of solidarity in the Langengasse neighbourhood than in the Handwerk area. The patterns of cohabitation in houses with more than four lodgers also suggest a deeper social cohesion in the Langengasse area. This difference can be explained by a more pronounced equality of economic conditions and labour relations in the Langengasse area. As we will see in the next section, however, divergent patterns of mobility also contributed to these local differences. 6. Residential mobility In the same way in which we explored the connection between methods of investing capital and the development of solidarity networks, we can observe a correlation between both of these factors and trends in residential mobility or stability. If we compare the tax register of January 1500 with that of January 1520 and search for houses remaining in the possession of the same family between these two dates, we find only 77 such houses in the entire town. However, the Handwerk neighbourhood is clearly under-represented in this respect with only six stable families compared to 13 in the Langengasse neighbourhood.59 Of the 18 % of all houses in the inner town which remained in the possession of the same family, 12.6 % were in the Langengasse neighbourhood and only 6.6 % in the Handwerk neighbourhood. While both neighbourhoods were characterised by an above-average turnover, this tendency was more pronounced in the Handwerk neighbourhood.
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Nguyen: Sozialtopographie, 152–161 (Appendix, List of families with a stable residence between 1500 and 1520).
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Image 9 Residential stability in the Görlitz tax register between 1500 and 1520 Map: Colin Arnaud Source: Nguyen: Sozialtopographie, 148 (Map 1, here with corrections), 152–161 (Appendix, List of families with a stable residence between 1500 and 1520).
This assessment of the residential stability of families over a period of twenty years takes only the homeowners into account. In order to analyse short-term mobility and include renters, it is necessary to map all relocations which took place in the year 1500. In the tax registers, changes in property ownership or movements of renters can be identified because the name of the leaving homeowner or renter is struck out. To create a map of residential mobility for one single year, both tax registers of 1500 – the edited winter register and the unedited summer register – were consulted.60 Only movements within the inner city are indicated: movements between the inner city and the suburbs have been taken in consideration as far as possible, but movements within the suburbs have not been considered. In the inner town, we find 63 relocations representing 9.2 % of the registered inhabitants. In the Langengasse neighbourhood, the proportion of movements was slightly 60
Sommergeschoss 1500. In: Rats- und Stadtarchiv Görlitz, libri exactorum 1500–1505, fol. 45r–86r.
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above average (10.2 %, 17 of 167 persons) while it was clearly higher in the Handwerk neighbourhood (14.2 %, 20 of 141 persons). In both neighbourhoods, nearly half the moving persons found a new house near their old place of residence while the other half moved farther away than the next two city blocks. In the Langengasse neighbourhood, there are 10 short-distance and seven longer-distance relocations, while in the Handwerk neighbourhood we find nine relocations to places in the vicinity and 11 movements to houses that were some distance away. In the whole town, 121 owned houses or rented dwellings are related to these 63 relocations. Renters moved noticeably more often than homeowners: of the 121 habitations, only 37 (30 %) were the moving persons’ own houses (including brewing houses and garden cottages) and 84 (70 %) were rented dwellings. This ratio diverges significantly between the Langengasse and Handwerk neighbourhoods. In the Langengasse area, only two of the 23 habitations (8.7 %) were owner-occupied houses, while in the Handwerk area, houses in this category constituted 15 of the 31 habitations (48 %). In the Handwerk area, three houses were owned by a person who had lived in a rented dwelling before, whereas the two relocating homeowners in the Langengasse neighbourhood became renters in the same street, the cheap Jüdenring. Whereas most of the persons relocating in the Langengasse neighbourhood – as in the streets between this neighbourhood and the Lower Market (Büttnergasse, Helle Gasse and Brüdergasse) – were renters and owners of cheap houses, homeowners in the Handwerk neighbourhood relocated as well, generally within the same neighbourhood or to a Meisterei in the northern suburbs (Image 10). Given that renters61 and members of the lower classes62 tended to be less stable than the upper classes, the Handwerk neighbourhood, with its above-average rate of shortand long-term mobility among the wealthier homeowners appears to be an anomaly.63 This can be explained, however, if we consider the divergent methods of conducting business and creating social ties. On the one hand, the more intensive use of circulating capital apparently correlated with greater residential mobility, which sometimes accompanied social ascent. On the other hand, a higher rate of turnover impeded the development of a stable neighbourhood community marked by strong ties of solidarity.
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For the mobility of renters, see Denecke: Sozialtopographie, 186–189; Monika Fehse: Dortmund um 1400: Hausbesitz, Wohnverhältnisse und Arbeitsstätten in der spätmittelalterlichen Stadt (Dortmunder Mittelalter-Forschungen 4), Bielefeld 2005, 299. See for Görlitz itself Nguyen: Sozialtopographie, 149: all stable families between 1500 and 1520 are part of the middle-class or the upper-class. The 15 owner-occupied houses that changed ownership in 1500 in the Handwerk area represented 40 % of all the houses of this type in the inner city. Considering that the Handwerk area represented 21 % of all houses of the inner city, the proportion of relocating homeowners in this neighbourhood was clearly above average.
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Image 10 Residential mobility in the Görlitz tax register ( January and June 1500) Map: Colin Arnaud Source: Geschossbuch 1500; Rats- und Stadtarchiv Görlitz, Liber exactorum intra muros 1500 (Sommergeschoss), liber exactorum extra muros 1500 (Sommergeschoss).
7. Conclusions This essay has compared socio-topographical patterns in two neighbourhoods in the town of Görlitz around 1500. Both the Langengasse and Handwerk areas were situated between the town centre and the suburbs and were inhabited by a socially diverse, but generally middle-class population. Despite these similarities, we can observe diverging economic and social behaviours in the two neighbourhoods. The Handwerk area was characterised by the dominance of mobile capital, a low level of solidarity between
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neighbours, and above-average residential turnover, especially among homeowners. In contrast, in the Langengasse area we have observed a higher degree of social cohesion, greater residential stability, and a stronger reliance on immobile capital (especially market stalls) accompanied by a low proportion of mobile assets. The reason why higher economic and residential mobility was correlated with less neighbourhood solidarity in these two areas could be the subject of further study. Nevertheless, some explanations have been formulated here. While the people of the Handwerk neighbourhood made major investments in circulating capital, fixed capital, such as market stalls, was much more important for the inhabitants of the Langengasse neighbourhood. Many butchers lived around the Langengasse area, near the meat market; among the stall owners in the area, there were also probably other artisans with direct contacts to consumers, such as shoemakers. The Handwerk neighbourhood was dominated by the textile entrepreneurs, who engaged in a capital-intensive, risky and profitable business. Their clients were not the local consumers, but regional and long-distance traders. Some of them risked their fortunes and invested significant sums in their activities, far exceeding the value of their houses. Consequently, the drapers of the Handwerk neighbourhood did not seek liquid assets through mortgages. In contrast, such mortgage contracts were frequently sought by inhabitants of the Langengasse area, especially the butchers, who could use their stalls as surety. Mortgage deeds and wills indicate that solidarity between neighbours was rather common in the Langengasse area. Neighbours helped each other by acting as warrantors and legal guardians or by bequeathing valuables to each other. In some cases, friends were not only neighbours but also active in the same profession. This was clearly the case with the butchers, who both lived and worked near each other. Such evidence of solidarity is missing for the Handwerk area. This is partly due to the greater heterogeneity of the local population there. Indeed, the values of houses varied far more than in the Langengasse area, which is a sign of greater social inequality within the neighbourhood. As people tended to show solidarity with persons of the same social class, a more stratified neighbourhood did not favour social cohesion. The textile industry required a large number of workers for the many phases of cloth preparation and production, and the connections between entrepreneurs and workers created a hierarchical relationship of dependency rather than horizontal solidarity. The butchers and shoemakers of the Langengasse neighbourhood, on the other hand, experienced similar social and economic conditions. Moreover, whereas the butchers of the Langengasse area created a common space of daily interaction within their neighbourhood, the activities of the drapers were spread over a wider space, which did not stimulate the formation of a personal network centred on the neighbourhood. Finally, the flourishing textile industry favoured social and spatial mobility. Like Jakob Thiele, who began as a humble tanner in the suburbs in the Töpferberg and finished his life as a rich entrepreneur living in a centrally located house with brewing
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privileges in the Petersgasse, other successful entrepreneurs who accumulated wealth did not necessarily remain in the Handwerk area but tended to move to more central and prestigious streets. More generally, the economic dynamism of the Handwerk area stimulated greater residential turnover within the quarter, including mobility among homeowners. This mobility was another impediment to the creation of a stable neighbourhood community. Both neighbourhoods may be representative of other town quarters. The area between Fleischergasse and Lower Market (Büttnergasse, Helle Gasse and Jüdengasse) was very similar to the Langengasse neighbourhood, with many renters, widows and stall-keepers, little circulating capital, and evidence of neighbourhood solidarity. In contrast, the Neisse riverbank – the Hothergasse and the Töpferberg – shows many parallels to the Handwerk neighbourhood, with above-average residential mobility, a high proportion of circulating capital relative to fixed capital, and an economy based on capital-intensive, commerce-oriented and profitable industries (tanneries, mills, dye works, etc.). Admittedly, the analysis of just one single year may have little statistical relevance and should be expanded by using a wider database. However, this kind of analysis has seldom been attempted and merits greater attention, as it promises surprising results. Mapping ties of solidarity and different forms of capital has proven to be a promising avenue of research if we wish to diversify sociotopographical perspectives and discover differences between urban districts beyond the classical approach focusing on socioeconomic stratification. Due to the continuity and diversity of existing sources in its archive, Görlitz could be a fruitful subject for further sociotopographical research into the period between 1400 and 1800. About the author: Colin Arnaud is a research associate at the Chair for the History of the Early and High Middle Ages and Transcultural History at the WWU Münster. His research interests include urban history, economic and social history and the history of labour. These topics are also reflected in his current habilitation project entitled “Male weavers in medieval Latin and Arabic sources (800–1300). Early case studies for a global history of wage labour”. Dr. Colin Arnaud Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48149 Münster, Deutschland, [email protected]
Rezensionen 1. Epochenübergreifend Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 145–147 Christof Paulus, Rainhardt Riepertinger, Evamaria Brockhoff, Fabian Fiederer, Veronika Schmeer (Hg.) 100 Schätze aus 1000 Jahren. Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2019/20, Haus der Bayerischen Geschichte, Regensburg, 27. September 2019–8. März 2020 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 68), Darmstadt: wbg Theiss, 2019, 256 S., 120 farb. Abb., ISBN 978-3-8062-3999-7, 32,00 EUR. Im Jahr 2010 führte der Direktor des British Museum in London, Neil MacGregor, über mehrere Wochen hinweg durch die von BBC Radio 4 ausgestrahlte Sendung „A History of the World in 100 Objects“. Dem großen Erfolg bei der Hörerschaft folgte bald ein positiv aufgenommenes Buch mit demselben Titel. Wohl nicht zuletzt der große Erfolg von MacGregors Reihe dürfte die Macher der Bayerischen Landesausstellung 2019/2020 im Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg dazu bewogen haben, für diese den Titel „100 Schätze aus 1000 Jahren“ zu wählen. Einleitend erklärt Richard Loibl im zugehörigen Katalog das Ziel, der Dauerausstellung in diesem Haus, die den Zeitraum der Geschichte Bayerns von der napoleonischen Zeit bis zur Moderne umfasst, zumindest für einige Monate auch das Millennium vom Mittelalter bis zum Ende des Alten Reichs, gespiegelt in 100 Objekten, an die Seite zu stellen. Geografisch steht dabei der gesamte moderne Freistaat Bayern im Fokus, also auch jene Gebiete und Städte, die erst mit dem Ende des Alten Reichs im damaligen Herzog- bzw. Königtum aufgingen. Eingeteilt ist der Katalog in zehn chronologisch geordnete Kapitel, wobei der Vorstellung der Objekte stets ein kurzer einführender Essay vorgeschaltet ist. Dabei folgen Ausstellung und Abschnitte der politischen Geschichte, allerdings ohne sich alleine auf Herrscher und ihre Taten zu fokussieren. Die Einzelkapitel umfassen dabei unterschiedlich lange Zeiträume. Während die drei Mittelaltersektionen fast durchgehend mindestens zwei Jahrhunderte behandeln, bewegen sich die neuzeitlichen Kapitel ab der Zeit um 1500 in Schritten von jeweils 50 Jahren vorwärts.
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Den chronologischen Anfang machen in der ersten Sektion „Bewegte Welten und Neue Mächte“ zwei menschliche Skelette des frühen 6. Jahrhunderts aus Straßkirchen im Landkreis Straubing-Bogen sowie die zugehörigen Grabbeigaben. In diesem Abschnitt wird etwa mit der Lex Baioariorum auch eine der ‚kanonischen‘ Quellen zur bayerischen Geschichte des Frühmittelalters vorgestellt, aber es fällt insgesamt angenehm auf, dass auch weniger bekannte Alltagsgegenstände wie eine Bügelfibel oder ein Trinkhorn genutzt werden, um das Leben vor 1.000 Jahren lebendig zu machen. Ganz eingehalten wird die vorgegebene zeitliche Einteilung in den unterschiedlichen Kapiteln nicht, aber dies ist keinesfalls nachteilig, wird so doch im zweiten Abschnitt zu „Bayern vor 800 Jahren“ noch das sonst in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrte Wessobrunener Evangeliar aus dem 9. Jahrhundert vorgestellt. In die großen Linien der bayerischen Geschichte fügen sich der Bleisarg des in Bamberg ermordeten Königs Philipp von Schwaben aus dem Speyerer Dom sowie eine Darstellung Herzog Ludwig des Kehlheimers und Ludmillas von Bogen aus der Zisterzienserinnenabtei Seligenthal in Landshut ein. Die kursorische Vorstellung der beiden ersten Sektionen dürfte verdeutlichen, dass es den Machern der Ausstellung gelungen ist, zentrale Objekte der politischen Geschichte mit herausragenden Gegenständen der Alltags-, Kirchen- und Profangeschichte gemeinsam zu einer überzeugenden Schau zu vereinen und im Katalog zu dokumentieren. Insgesamt bleibt die Ausstellung einem etablierten Narrativ bayerischer Geschichte verbunden, das aber eben auch Platz für Vielfalt lässt. So werden im Spätmittelalterabschnitt neben einem Büstenreliquiar des heiligen Wunibald und Urkunden Kaiser Karls IV. auch etwa ein Paar Lederstiefel aus dem 14. Jahrhundert vorgestellt. Die thematische Breite der Ausstellungsgegenstände in den Mittelaltersektionen setzt sich auch in den sieben Abschnitten zur Frühen Neuzeit fort, wobei die nun gewählten Zuschnitte auf Zeiträume von jeweils etwa 50 Jahren der Darstellung dieser Epoche in der Ausstellung doch von vornherein weit mehr Detailtiefe einräumen als den vorangehenden mehr als 500 Jahren. Dabei gelingt es, den unterschiedlichen Regionen des heutigen Freistaats Bayern vielfach gerecht zu werden. Ein Schreiben Martin Luthers an den Rat der Reichsstadt Augsburg ist ebenso dabei wie der Münzschatz aus Wagneritz im Allgäu aus dem 16. und 17. Jahrhundert oder die Botenrolle der Nürnberger Stadtboten von 1600. Auch Verflechtungen mit anderen Regionen Europas sowie der weiteren Welt werden durch verschiedene Exponate sichtbar, beispielsweise durch einen osmanischen Prunksattel, eine als Weinspender gebrauchte schwedische Löwenstatue oder eine gemalte Hafenszene auf dem Schulterblatt eines Grönlandwals. In allen Einzelkapiteln sind Quellen zur Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte in größerer Zahl vertreten, die es ermöglichen, Kontinuitäten und Brüche nachzuvollziehen. Da ist etwa das Lukasbild aus Byzanz, das im 17. Jahrhundert mit einem Silberretabel kombiniert wurde und die Verschmelzung unterschiedlicher kulturell- und zeitbedingter christlicher Verehrungsformen verdeutlicht. Stärker in einen regionalen Kontext verweist eine vor 1712 angefertigte handschriftliche Bilderbibel, die aufzeigt, wie stark trotz der Verbreitung des Buchdrucks auch weiterhin tradierte Praktiken der religiösen Wissensweitergabe wirkten. Auf die weit verbreitete Sitte, Szenen der Heilsgeschichte im kirchlichen Raum physisch erfahrbar zu machen, deutet die Figur eines Taufengels von 1700 aus einer evangelischen Kirche in Wunsiedel hin, der im Gottesdienst mit
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Hilfe eines Seils aus erhöhter Position herabgelassen wurde. Auf eine weitere Form frühneuzeitlicher Frömmigkeit verweisen die Tonkopfvotive des 17. und 18. Jahrhunderts aus Geisenhausen im Landkreis Landshut, die in der Nähe der Wallfahrtskirche St. Theobald gefunden wurden. Insgesamt wartet der ansprechend gestaltete Ausstellungskatalog, der sich durch hochwertige Abbildungen auszeichnet, für viele Bereiche der bayerischen Geschichte mit einem bunten thematischen und räumlichen Panorama für die Zeit vom frühen Mittelalter bis zum Ende des Alten Reichs auf. Es ließe sich immer trefflich darüber streiten, ob nicht das eine oder andere Objekt noch hätte einbezogen werden müssen, aber dies wäre unnötige Haarspalterei. Der Katalog bietet einen vielgestaltigen Einblick in die Geschichte Bayerns vor der Erhöhung zum Königtum und bietet neben der Beschreibung der verschiedenen Ausstellungsstücke nicht zuletzt auch gut lesbare Essays zu den verschiedenen Zeitabschnitten. Er sei allen, die eine anschauliche Einführung in die bayerische Geschichte vor 1806 suchen, entsprechend ans Herz gelegt. PD Dr. Benjamin Müsegades Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Grabengasse 3–5, 69117 Heidelberg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 147–148 Susanne Scharnowski Heimat. Geschichte eines Missverständnisses Darmstadt: wbg Academic, 2019, 272 S., ISBN 978-3-534-27073-6, 40,00 EUR. Was bedeutet Heimat? Für die meisten Menschen ist Heimat ein Ort. Sei es Wohnort oder Geburtsort: Für immerhin 76 Prozent der Bundesbürger sind Orte untrennbar mit Bindungen, Erinnerungen und Emotionen verbunden. Die Literaturwissenschaftlerin Susanne Scharnowski beschäftigt sich ausführlich mit dem allgegenwärtigen und viel genutzten Begriff „Heimat“ und stößt auf kontroverse Sichtweisen. Sehen die einen darin das Bewahren der eigenen Kultur und Identität, setzen andere dem Heimatbegriff neue Werte wie Weltoffenheit, Dynamik und Diversität entgegen und meinen, dass Heimat von jedem anders empfunden und verstanden werden kann. Das Buch gibt einen umfassenden Überblick über die geschichtliche und emotionale Entwicklung des Heimatbegriffs seit dem 17. Jahrhundert. Anhand der geschichtlichen Epochen zeigt Susanne Scharnowski auf, wie sich das Verständnis von Heimat verändert und deckt Fehlinterpretationen und Missverständnisse auf. Die Genese des Heimatbegriffes führt den Leser dabei von der deutschen Romantik, über die Kolonialzeit und den Ersten Weltkrieg, den Nationalsozialismus bis hin zu Heimatvertriebenen, der Anti-Atomkraftbewegung sowie der Globalisierung in der Gegenwart. In einem systematischen Teil betrachtet die Autorin Schlüsselbegriffe der Heimatdebatte wie „Kitsch“ und „Nostalgie“.
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Wissenschaftlich fundiert und sehr gut lesbar führt die Autorin durch die Wandlungen des Heimatbegriffs in Deutschland. Es gelingt ihr, die ideologisch stark aufgeladene Debatte zu versachlichen und die vielfach zu Schlagworten verkürzten Argumente aufzuarbeiten und verständlicher zu machen. Die Behauptung, „Heimat sei ein irrationales, völkisches, von den Romantikern erfundenes Konzept, von dem sich eine direkte Linie zur Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten ziehen lasse“ (11), widerlegt sie als folgenschwerstes Missverständnis über Heimat, ist doch die Romantik geprägt von Ruhelosigkeit, Entwurzelung, Heimatlosigkeit und Fernweh. Sie stellt dar, wie sich im 19. Jahrhundert Heimat im Zusammenhang mit Gemeinschaft, Landschaft und Tradition als Gegenpol zur zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung entwickelt. Die Auswanderungswellen zwischen 1841 und 1910 werden thematisiert, genauso wie die Rolle des Begriffs im Einsatz gegen die Modernisierung Anfang des 20. Jahrhunderts, die kitschignostalgische Wendung in den 1950er Jahren, die linke Heimat-Kritik in den 1960er Jahren und die gegenwärtigen Verwendungen und Interpretationen des Begriffs „Heimat“. Kaum ein Begriff wird so kontrovers diskutiert wie der Begriff „Heimat“. Heimat war und ist ein mehrdeutiges Wort, das sich zwischen Ortsbindung und Weltverbundenheit auf der einen Seite und Wanderschaft und Abwendung von der irdischen Welt auf der anderen Seite bewegt. Dabei müssen Heimat und Weltoffenheit sowie Solidarität und Heimat keine Gegensätze sein. Susanne Scharnowskis Argumentation folgend ist Heimat kein Gefühl, keine Ideologie, sondern ein Ort, der zwar im Verantwortungsbereich jedes Einzelnen liegt, aber nur gemeinsam gestaltet und erhalten werden kann. Dr. Ute Löding-Schwerdtfeger Schleswig-Holsteinischer Heimatbund e. V., Hamburger Landstraße 101, 24113 Molfsee, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 148–151 Arnd Reitemeier (Hg.) Landesgeschichte und public history (Landesgeschichte 3), Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2020, 244 S., ISBN 978-3-7995-1382-1, 35,00 EUR. Der vorliegende Sammelband bildet die Ergebnisse einer gleichnamigen Tagung der AG Landesgeschichte im Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands an der Universität Göttingen im September 2019 ab. Die abgedruckten Beiträge lassen sich als Reaktionen von Vertreterinnen und Vertretern der Regional- und Landesgeschichte auf eine Reihe unterschiedlicher Entwicklungen in der deutschen Geschichtswissenschaft lesen. Zu diesen Veränderungen zählen unter anderem die anhaltende Spezialisierung und Ausdifferenzierung in neue Arbeitsbereiche und Teildisziplinen, eine stärkere Betonung des Wissenstransfers sowie die mit der umfassenden
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Digitalisierung unseres Alltags einhergehenden Ansprüche an Forschung und Wissensvermittlung. Vor dem skizzierten Hintergrund liefert der Sammelband seinen Leserinnen und Lesern, das darf an dieser Stelle schon vorweggeschickt werden, eine sowohl aktuelle, informative wie zugleich umfassende Bestandsaufnahme des vielfältigen Engagements der Landesgeschichte in Deutschland. Der Fokus der Artikel liegt zum einen auf außeruniversitären Institutionen die traditionell eng mit der Landesgeschichte und ihren inner- wie außeruniversitären Aktivitäten verbunden sind: Hierzu zählen neben Archiven (Sabine Graf), Museen (Eckart Köhne) und Geschichtsvereinen (Andrea Stieldorf) auch Schulen bzw. der Geschichtsunterricht (Anke John). Zum anderen liegt der Fokus auf Medien als vermittelnden Instanzen: Hierfür stehen die Beiträge zu regionalen Geschichtsportalen (Ute Engelen), zur Bedeutung neuer Medien(-formate) bei der Präsentation von Forschungsergebnissen (Martin Göllnitz) oder auch zur Rolle von Filmen in der Landesgeschichte (Markus Köster). Die neben der vom Herausgeber Arnd Reitemeier verfassten Einführung insgesamt fünfzehn Beiträge folgen aber keinem auf einen ersten raschen Blick ins Inhaltsverzeichnis erkennbaren Ordnungsschema. Ihre Zuordnung zu vier inhaltlichen Themenfeldern in der Einleitung (4–8), namentlich: 1. Rahmenbedingungen der landeshistorischen Forschung und Lehre, 2. Kooperation der Landesgeschichte mit außeruniversitären Akteuren, 3. Wirken der Landesgeschichte in die Öffentlichkeit und 4. Nutzung von Medien in der Landesgeschichte, hilft hier nur wenig weiter. Sie gibt, durchweg auf „Vorträge“ verweisend (4–8), in erster Linie den Verlauf der Tagung wieder. Aus diesem Grund dürfte hier auch auf Referate inhaltlich Bezug genommen werden, die selbst keinen Eingang in den Sammelband gefunden haben (5). Das dritte Themenfeld bedürfte zudem einer Erläuterung, geht doch sowohl mit Forschung, Lehre und gesellschaftlichen Kooperationen als auch mit medialen Präsentationen immer zugleich ein Wirken in die Öffentlichkeit einher. Die beiden hier zugeordneten Beiträge von Oliver Auge und Lena Krull demonstrieren dies in inhaltlicher Sicht recht deutlich. Der Band enthält darüber hinaus zwei Beiträge, die jeweils eine theoretische Standortbestimmung der Landesgeschichte unternehmen: So verortet Stefan Hass die Landesgeschichte mit Blick auf eine globalisierte Geschichtswissenschaft. Mit Bezug auf die inhaltliche Ausrichtung des Bandes kommt den einleitenden und zugleich einordnenden Überlegungen des Geschichtsdidaktikers Bernd-Stefan Grewe zum Verhältnis von Public History und Landesgeschichte aber eine ungleich größere Bedeutung zu. Dieser weist aus Sicht der Geschichtsdidaktik unter anderem darauf hin, dass sowohl die Geschichtswissenschaft als auch die Landesgeschichte sehr oft auf sich selbst bezogen agieren und vor allem einen Binnendiskurs – als eine Art der Selbstbespiegelung – pflegen würden (16 f. und 29). Mit Blick auf das Verhältnis zur Öffentlichkeit sieht Grewe dabei in der Landesgeschichte die Frage vernachlässigt, „welche Orientierungsbedürfnisse denn gegenwärtig die (regionale) Gesellschaft bewegen“ (30). Dass diese Frage ernst zu nehmen ist – und auch genommen wird –, zeigt sich auch in den weiteren Beiträgen des Bandes: Mit der (populären) Genealogie (Michael Hecht) und der Stadt-, Lokal- und Unternehmensgeschichte als Auftragsforschung (Michael Kißener) geraten Arbeitsfelder – wenn auch nicht allein – der Landesgeschichte in den Blick, die die Grenze zwischen
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Wissenschaft und Öffentlichkeit in der Praxis mit Erfolg überschreiten. Ein Vorgang, den man ganz pragmatisch als überlebensnotwendig für die wissenschaftliche Forschung bezeichnen kann (vgl. zum Thema Drittmittel hier auch den gemeinsamen Beitrag von Arnd Reitemeier und Guido Lammers). Zudem erweist sich diese Bezugnahme als im besten Sinne kompatibel mit den Erwartungen der Politik an die Landesgeschichte (Babett Gläser). Für diese rücken damit in Lehre und Forschung die Wissenschaftskommunikation und der Wissenstransfer (Oliver Auge) sowie die Praxisbezüge einer landesgeschichtlichen Public History in der Lehre (Lena Krull) immer stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Gerade bezüglich des zuletzt angesprochenen inhaltlichen Themenfeldes erweist es sich als großer Vorteil, dass sämtliche Autorinnen und Autoren – nicht zuletzt auf Basis ihrer Rolle als ausgewiesene Expertinnen und Experten für einen klar umrissenen Arbeitsbereich – sowohl eine erfahrungsnah-praktische als auch eine wissenschaftlich-theoretische Perspektive in den Sammelband einbringen. Über ihre rein landes- und regionalgeschichtlichen Bezüge hinaus regen die Beiträge aber auch zu weitergehenden Überlegungen an. Hier geht es, wenn auch implizit, um die Frage, ob sich die Public History als ein eigenständiges Arbeitsfeld verstehen lässt oder ob allein der öffentliche Umgang mit Geschichte im Vordergrund steht. Im letzten Fall gäbe es unter anderem eine auf die jüngere Zeitgeschichte bezogene Public History oder eben auch eine „regional bezogene Public History“ (Reitemeier, 8). Das eine solche Zuordnung aus Sicht der universitären Landesgeschichte naheliegt, zeigt nicht zuletzt der emphatische Verweis in Oliver Auges Beitrag zu deren „Outreach-Aufgaben“: „Landesgeschichte […] war stets immer [sic!] auch eine Public History!“ (150). Aus Sicht einer Public History, die sich als ein eigenständiges Arbeitsfeld versteht, geht es aber weniger darum, ob die Landes- und Regionalgeschichte „der quasi geborene Dritte Missionar ist“ (Auge, 152). Ein solches Alleinstellungsmerkmal können Public Historians für ihren Arbeitsbereich gleichfalls in Anspruch nehmen. Bernd-Stefan Grewe ist zuzustimmen, dass es sich bei der Public History um „ein breites Forschungsfeld [handelt], das sich aber nicht notwendigerweise immer unter diesem Label versammelt“ (25). Neben der Geschichtsdidaktik stellt die Landesgeschichte ein zweites großes Arbeitsgebiet dar, mit dem die Public History ihren Gegenstand ‚teilt‘, mit der sie aber auch vor Ort ‚konkurriert‘. Einen guten Ausgangspunkt für einen wechselseitigen Austausch zwischen Landesgeschichte und Public History bieten die im vorliegenden Band versammelten Beiträge indessen allemal. In diesem Sinne wird zukünftig zum einen über inhaltliche bzw. methodisch-theoretische Abgrenzungen, zum anderen über Gemeinsamkeiten und somit über potenzielle Kooperationsmöglichkeiten zwischen Landesgeschichte und Public History zu sprechen sein. Über die in den einzelnen Beiträgen thematisierten Aspekte hinaus sollten dann aber weniger (Landes-) Geschichtsrepräsentation in der Öffentlichkeit im Zentrum stehen, sondern vielmehr die Rekonstruktion und Analyse von Praktiken im Sinne eines „doing history“ unter stärkerer Berücksichtigung kulturwissenschaftlicher Aspekte sowie das Ausloten von Grenzen und Potenzialen einer direkte(re)n Kollaboration mit ganz unterschiedlichen Publika im Sinne eines „engaging audiences“. Die Beiträge des Bandes stellen insgesamt einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar.
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Prof. Dr. Cord Arendes Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften, Historisches Seminar, Grabengasse 3–5, 69117 Heidelberg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 151–153 Franz Jäger Gletscher und Glaube. Katastrophenbewältigung in den Ötztaler Alpen einst und heute Innsbruck: StudienVerlag, 2019, 275 S., 49 sw. und 25 farb. Abb., ISBN 978-3-7065-5920-1, 34,90 EUR. Die historische Katastrophenforschung erlebt seit mittlerweile bald 30 Jahren einen regelrechten Boom. Dabei geht eine Richtung auch verstärkt der Frage nach religiösen Bewältigungsstrategien von Naturkatastrophen nach.1 Ein größerer Teil der Studien ist dabei der Vormoderne gewidmet – bahnbrechend dazu etwa die von Manfred Jakubowski-Tiessen zur Sturmflut von 1717.2 Auch klimatisch besonders schwierige Zeiten wie die Kleine Eiszeit (ca. 1300–1850) fanden in diesem Zusammenhang besondere Beachtung.3 Das Land Tirol wiederum ist hinsichtlich religiöser Praktiken angesichts von Naturgefahren ein außergewöhnlich lohnenswertes Studienobjekt sowohl für historische Zeiten als auch die jüngste Vergangenheit.4 Franz Jäger nimmt das Tiroler Ötztal, das benachbarte Pitztal sowie stellenweise auch das jenseits des Alpenhauptkammes liegende obere Passeiertal in Südtirol in den Fokus und widmet sich einer Naturgefahr, die in der Forschung bislang nur am Rande Beachtung gefunden hat: das Vordringen sowie Abschmelzen von Gletschern und die damit verbundenen religiösen Bewältigungsstrategien. Im Laufe der Kleinen Eiszeit kam es zu einem – nicht kontinuierlichen – Anwachsen von Gletschern, die um 1850 ihre größte Ausdehnung erreichten. Damit verbunden waren der Verlust von alpiner Weidefläche, die Blockade traditioneller Passrouten sowie immer wieder auch Murgänge und Ausbrüche von Gletscherseen, die in der Folge ganze Talschaften überfluten konnten. Der erste Teil der Darstellung ist einführender Natur und setzt sich zunächst mit der Frage auseinander, inwiefern die Kleine Eiszeit Auswirkungen auf den Alltag im hochalpinen Lebensraum hatte. Darauf folgt ein Überblick über die Wahrnehmung der alpinen Natur durch Reisende und Wissenschaftler ‚von außen‘ sowie durch die lokale Bevölkerung ‚von innen‘. Interessant ist dabei insbesondere der Abschnitt zur „Gletscher-Dämonologie“ (45–54), der sich mit der Rolle von Gletschern und Gletschervorstößen in der Sagenwelt beschäftigt und etwa auch zoomorphe Darstellungen des Gletschers behandelt, die bis in die Zeit um 1900 reichen (Abb. auf 46 sowie Farbtafel 1). Schließlich geht der Autor noch auf die unterschiedlichen Ausprägungen von Volksfrömmigkeit seit dem Konzil von Trient und der von den Jesuiten getragenen Gegenreformation ein, etwa auf die in der Frühen Neuzeit weit verbreitete straftheologische Deutung von Naturkatastrophen und damit verbunden auf Bußpraktiken in Form von Wallfahrten.
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Im zweiten Teil werden Gletschervorstöße im Untersuchungsgebiet genauer vorgestellt. Dabei wird vor allem der „Dämon des Ötztales“, der Vernagtferner, ins Zentrum gerückt, dessen vier Phasen des starken Anwachsens zwischen dem späten 16. und der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Ausbrüchen des Vernagt-Eissees verbunden waren. Die tirolische Verwaltung war gegenüber der Naturgefahr und dem darauffolgenden Elend der Bevölkerung in der Regel machtlos, ja mitunter auch grob nachlässig, wie das Beispiel von 1845 zeigt (104–105). Eine ähnliche Gefahrensituation bot sich unterhalb des Gurgler Gletschers sowie am Fischbach, der mit seinen häufigen Vermurungen im Raum Längenfeld die Schäden nach Gletscherausbrüchen nochmals deutlich steigern konnte. Dieselbe Kombination aus Gletschersee-Ausbrüchen und Vermurungen ergab sich auch im benachbarten Pitztal sowie jenseits des Timmelsjochs auf Südtiroler Seite durch die Ausbrüche des Passeirer Wildsees, aufgrund von insgesamt sechs Ausbrüchen treffend „Kummersee“ genannt. Der dritte Teil schlägt einen Bogen zur Gegenwart. Die Katastrophen sind nun nicht mehr Gletschervorstöße, sondern die gerade auch im Hochgebirge stark spürbaren Folgen des rasanten, überwiegend anthropogen bedingten Klimawandels; dazu kommen Lawinenereignisse als Bedrohung für Verkehrswege und touristische Infrastruktur. Jäger zeigt hier auf, dass Formen der Volksfrömmigkeit immer noch erhalten geblieben sind, etwa – regional unterschiedliche – Lawinenfeiertage, individuelle spirituelle Gedenkorte, Prozessionen wie die von Walten im Passeiertal zur Nepomukskirche von Wans oder das Sprengen von Weihwasser bei drohendem Unwetter. Die Studie gewährt einen interessanten Einblick in eine katholisch geprägte Volksfrömmigkeit, der sich nicht nur in der Vormoderne, sondern auch auf die jüngste Vergangenheit bezieht. Die zahlreichen Abbildungen, viele davon aus dem Fotoarchiv des Autors erstmals publiziert, können die schriftlichen Ausführungen eindrücklich veranschaulichen und ergänzen. Manche Exkurse, etwa zur Situation im Wallis, einer Region, die hinsichtlich der Topografie und der ausgeprägten katholischen Volksfrömmigkeit ein durchaus stimmiges Vergleichsbeispiel bildet, bleiben allerdings teilweise zu sehr an der Oberfläche (21–22); deutlich besser gelungen ist der neuerliche Vergleich hinsichtlich religiöser Bewältigungsstrategien im Wallis gegenüber Gletscherseeausbrüchen (139–151). Bei den allgemeinen klimageschichtlichen Informationen fallen einige Fehler auf: Der Beginn der Kleinen Eiszeit sollte gemäß der neueren Forschung5 besser schon um 1300 und nicht erst gegen 1550 (13) angesetzt werden. Ebenso wird das Maunder Minimum, eine Phase besonders niedriger Sonnenaktivität innerhalb der Kleinen Eiszeit, nicht zum „Ende des 16. und Beginn des 17. Jahrhunderts“ (13, Fußnote 7) angesetzt, sondern auf etwa 1645–1715. Insgesamt aber handelt es sich um eine gut lesbare und religionsgeschichtlich-ethnologisch fundierte Fallstudie zur alpinen Katastrophenforschung, die zahlreiche Anregungen für weiterführende Untersuchungen enthält. 1
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Hans-Ferdinand Angel: Der religiöse Mensch in Katastrophenzeiten. Religionspädagogische Perspektiven kollektiver Elendsphänomene (Regensburger Studien zur Theologie 48), Frankfurt a. M. u. a. 1996; Manfred Jakubowski-Tiessen, Hartmut Lehmann (Hg.): Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003. Manfred Jakubowski-Tiessen: Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit (Ancien Régime. Aufklärung und Revolution 24), München 1992. Wolfgang Behringer, Hartmut Lehmann, Christian Pfister (Hg.): Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“. Cultural Consequences of the „Little Ice Age“ (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212), Göttingen 2005; Christian Rohr: Extreme
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Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit (Umwelthistorische Forschungen 4), Köln u. a. 2007. Hans Haid: Mythos Lawine. Eine Kulturgeschichte, Innsbruck u. a. 2007; Barbara Haid, Hans Haid: Sindt-Fluss. Eine Kulturgeschichte der Naturkatastrophen im Alpenraum, Innsbruck u. a. 2009. Beide Werke stellen zwar kulturhistorische Fundgruben dar, entsprechen aber hinsichtlich der Struktur und der Quellennachweise nicht den heute üblichen wissenschaftlichen Kriterien. Aus katastrophensoziologischer Sicht interessant ist die Studie von Bernd Rieken: Schatten über Galtür? Gespräche mit Einheimischen über die Lawine von 1999. Ein Beitrag zur Katastrophenforschung, Münster u. a. 2010. Vgl. etwa Sam White, Christian Pfister, Franz Mauelshagen (Hg.): The Palgrave Handbook of Climate History, Basingstoke 2018.
Prof. Dr. Christian Rohr Universität Bern, Historisches Institut, Länggassstrasse 49, 3012 Bern, Schweiz, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 153–154 Ludwig Steindorff Geschichte Kroatiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 2020, 304 S., Abb., 1 Zeittafel, 1 Register, ISBN 978-3-7917-3132-2, 29,95 EUR. Ludwig Steindorff hat auch mit der dritten erweiterten Auflage der „Geschichte Kroatiens“ (1. und 2. Auflage tragen den Titel: „Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“) ein überzeugendes Buch vorgelegt. Bereits im einführenden Kapitel mit dem Titel „Kroatien – Land der Vielfalt“ wird den Leserinnen und Lesern klar, dass es dem Autor nicht nur um eine klassische Nationalgeschichte, sondern auch um die Darstellung des Zusammenwachsens von heterogenen Regionen und das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Kulturen und politischer Überzeugungen geht. Dazu passend ist seine Bemerkung, dass bis zum Ende des 11. Jahrhunderts weder die Bezeichnung „kroatisch“ noch die Zusammengehörigkeit des Binnenkroatiens mit dem Küstensaum existierte (36). Gekonnt nimmt sich der Autor des ganzen Raumes des heutigen Kroatiens seit der Antike an, ohne die zahlreichen kulturellen und politischen Verflechtungen zu den Nachbarregionen in den zwei Jahrtausenden aus dem Blick zu verlieren. Beginnend mit dem knappen Abriss zur Ethnogenese in der Antike berichten die insgesamt elf Kapitel in einem chronologischen Aufbau vom Mittelalter, von der glagolitischen Schriftkultur, der frühen Neuzeit, dem langen 19. Jahrhundert, der kroatischen Rolle in den beiden Weltkriegen, dem sozialistischen Kroatien, der Zeit nach der Unabhängigkeit 1991 und schließlich der Gegenwart. Aus den thematisch breit gefächerten Erläuterungen erfahren die Leserinnen und Leser nicht nur von Dynastien, Regierungen, Konflikten und Institutionen, sondern beispielsweise auch von der Urbanisierung, den zahlreichen Migrationen, der Wirtschaft, dem kulturellen Leben, der
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heutigen Erinnerungskultur und der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen. Die vielen inhaltlichen Vertiefungen sowie die Bild- und Textquellen unterstützen die lebendige Erzählung. Darunter sind Texteinschübe zur Erfindung der Quarantäne im 14. Jahrhundert, zur Kinderretterin Diana Budisavljević im Zweiten Weltkrieg und zum Künstler Ivan Meštrović. Zu den konfrontativen historischen Narrativen, wie etwa der schwierigen Beurteilung der sozialistischen Ära, skizziert der Autor die unterschiedlichen Deutungen. Seine Darlegungen sind dennoch präzise und beinhalten deutliche Urteile zu kontroversen Geschichtsbildern. Er bestätigt mitunter, dass das Regime von Slobodan Milošević in den 1990er Jahren den Weg zum Krieg und zur Gewalt im zerfallenden Jugoslawien wies (225) und dass das erste Jugoslawien (1918–1945) nicht durch nationalistische Spannungen, sondern den Angriff NS-Deutschlands 1941 zerschlagen wurde (172). Die wissenschaftliche Qualität der Darstellung bleibt selbst bei Beschreibungen der heute touristisch verwerteten Motive unbeschadet, wie zum Beispiel der Verbreitung der „Krawatte der Kroaten“ (86) im Europa des 17. Jahrhunderts. Das Buch ist eine Einladung zum Kennenlernen der kroatischen Geschichte im Kontext europäischer historischer Prozesse und nationalstaatlicher Ordnungen. Die große Leistung der Erzählung liegt in der Synthesebildung über die Ähnlichkeiten zwischen den kroatischen und anderen südost- und ostmitteleuropäischen Entwicklungen in mehr als zwei Jahrtausenden. In seinem Schlusskapitel resümiert der Autor, dass es sich um ein normales und authentisches Land handele, weil es stets mit ähnlichen Herausforderungen, wie es sie in anderen europäischen Ländern gab, konfrontiert gewesen, jedoch in seiner komplexen Historie, seiner Geografie und seinen Traditionen authentisch sei. Steindorff hat ein wissenschaftlich fundiertes Lesebuch geschrieben, das auch für den Unterricht geeignet ist. Es kommt ohne Fußnoten und Anmerkungen aus. Dafür beinhaltet es Grafiken, Skizzen, Zeittafeln, Register, Karten, Abbildungen und eine gute Bibliografie für die Weiterbeschäftigung mit der kroatischen Geschichte. Es kann sowohl dem Fachpublikum als auch allen interessierten Leserinnen und Lesern uneingeschränkt empfohlen werden. PD Dr. Daniela Simon Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Mohlstraße 18, 72074 Tübingen, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 154–157 Sarah Kleinmann, Arnika Peselmann, Ira Spieker (Hg.) Kontaktzonen und Grenzregionen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Bausteine aus dem Institut für sächsische Geschichte und Volkskunde 38), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2019, 278 S., ISBN 978-3-96023-262-9, 39,00 EUR. In „Kontaktzonen und Grenzregionen“ versammeln die Herausgeberinnen elf Beiträge der Dresdner Konferenz „Contact Zones and Border Regions. Current Cultural Studies Perspectives“
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vom November 2017, mit der ein deutsch-polnisch-tschechisches Forschungsprojekt des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde zur Grenzregion im Dreiländereck abgeschlossen wurde. Mary Louise Pratt, auf deren Verständnis von Kontaktzonen ein Großteil der vorliegenden Aufsätze rekurriert, hat ein Vorwort beigetragen; ergänzt wurde die Publikation durch einen bereits veröffentlichten Text von Nora Sternfeld. Den deutschsprachigen Texten ist ein englisches Summary vorangestellt, den englischen eine deutsche Kurzfassung. Auf eine Literaturliste wurde verzichtet, was angesichts der sehr disparaten Beiträge verständlich ist; andererseits hätte dies zu einer stringenteren Zitierweise oder einer Reduktion von Quellenvarianten führen können. Verschiedene Formen des Genderns machen einzelne Texte weniger flüssig lesbar, als zu wünschen gewesen wäre. Eine dem Band beigefügte Kurzübersicht zu den Beitragenden hingegen erleichtert die Lektüre. Nach Einschätzung der Herausgeberinnen erlebt Pratts 1991 formulierter Begriff der Kontaktzonen trotz der von der Autorin selbst beobachteten inflationären Verwendung weiterhin „eine bemerkenswerte Konjunktur“ (26) und mündet sowohl in theoretischen Überlegungen zur Validität als auch in verschiedenartigen Studien, genutzt oft im Kontext von Identitätskonstruktion. Spezifisch relevant ist hierbei der Perspektivwechsel weg von den tradierten Zentren – oft genug gleichzusetzen mit nationalen Hauptstädten – hin zu den Grenzregionen. Diese ermöglichen als Räume des Uneindeutigen, des Übergangs und eben auch der weniger klaren Trennungen Begegnungen, Austausch und Wissenstransfer, die sich in ihrer Multiperspektivität auch strukturell erheblich von noch immer dominierenden Deutungsmustern unterscheiden. Ira Spieker, eine der Herausgeberinnen, identifiziert in „Kontaktzonen. Zur Konstituierung eines Konzepts“ (25–46) „Raum“, „Macht“ und „Übersetzung“ als „für die Konstituierung von Kontaktzonen zentral und […] relevant“, wobei auch deren Verhältnis zueinander überprüft werden und durch weitere Analyseinstrumente ergänzt werden müsse (28). Bezogen auf das Gebiet der zunehmend an Attraktivität gewinnenden Border Studies befragen Dominik Geerst und Hannes Krämer „Die methodologische Fundierung kulturwissenschaftlicher Grenzforschung“ (47–79). Das Spannungsfeld von border und boundary wirkt dabei ebenso vielversprechend wie die Aufschlüsselung im Sinne der Kontaktzonen in „Grenzziehungen von der Grenze her“ (60), empfiehlt, „Grenzverläufen [zu] folgen“ (62) und „Beziehungen zwischen Grenzen und Ordnungen [zu] perspektivieren“ (65), wobei sie Grenzverläufe zwischen Staaten nicht als „eindeutige Demarkationslinie“, doch ebenso wenig als „vorgezeichnete Kontaktzone“ verstanden wissen wollen und für „prinzipielle Offenheit“ plädieren, um „der liminalen Kraft der Grenze analytisch auf der Spur zu bleiben und […] auch Widersprüche, Unentschlossenheiten und Übersetzungsprobleme in die Analyse einzubeziehen“ (70). Der Optimismus, durch Schwerpunktsetzung und Perspektivverlagerung einen Erkenntnisgewinn zu erzielen, unbefangene Begegnungen zu ermöglichen sowie tradierte Machtverhältnisse infrage zu stellen, mündet dabei nicht notwendig in dem erwarteten Erkenntnisgewinn. Die ethnografischen Studien des vorliegenden Bands bilden deutlich ab, dass die Begegnungen vor Ort, an Grenzen und über Grenzen hinweg weiterhin auch von Abgrenzungen, von Selbst- und Fremdbildern, persönlichen Erfahrungen und der Geschichte der als der eigenen verstandenen Gemeinschaft geprägt sind. Begegnung kann dann auf reine Gleichzeitigkeit am selben Ort reduziert sein (wie im Fall der Istanbuler Galata-Brücke). Oder sie beschränkt sich auf lokale Initiati-
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ven, Veranstaltungen oder Begegnungsfeiern, was die Frage nach dem Spannungsverhältnis von notwendiger Begegnung und Annäherung einerseits und andererseits dem Wunsch nach Identifikation mit Kulturen und ihren Traditionen – einschließlich der Abgrenzung von anderen – unvermeidlich werden lässt. Gerade die Aufsätze zum (inzwischen von einem anderen Besitzer unter neuem Namen betriebenen) „Hotel Sudety“ und über die zweisprachig ausgeschilderten Lehrpfade auf der tschechischen Seite des Böhmerwalds zeigen deutlich die Notwendigkeit, den Optimismus, dass Annäherung und Verständigung kaum mehr Anreize benötigen, als ihnen eine Gelegenheit oder ein Forum zu bieten, realistischerweise durch die Erkenntnis zu ergänzen, dass Kontakt allein nicht ausreicht, um die Auswirkungen historischer Ereignisse zu verarbeiten, Klischees zu erkennen und Vorurteile abzubauen. Touristinnen und Touristen, die in der polnisch-deutschen oder tschechisch-deutschen Grenzregion oftmals nach Spuren der eigenen Familiengeschichte suchen, treffen dort auf Menschen, denen diese Region Heimat ist, Alltag, und die eine solche Suche als verunsichernd und bedrohlich empfinden können. Andere Stätten der Begegnung lassen sich tatsächlich aufsuchen und erfüllen als Gedenk-, Bildungs- oder Kulturstätten oftmals Doppelfunktionen. Diese auszuhaltende inhärente Spannung kann produktiv genutzt werden, jedoch ebenso zu Missverständnissen und von allen Seiten als problematisch empfundenen Konflikten führen wie bei Nora Sternfeld, die in „Errungene Erinnerungen. Gedenkstätten als Kontaktzonen“ (201–218) ehemalige Konzentrationslager als Erinnerungsorte analysiert, die sowohl Stätten sind, an denen sich nationalsozialistische Gräuel unvorstellbaren Ausmaßes abspielten, als auch Räume, in denen sich Besucher über diese Zeit informieren und austauschen sollen. Pierre Noras Konzept der Lieux de mémoire, das auch sehr abstrakte „Orte“ einschließt, lässt sich ergiebig auf die Gedenkstätten anwenden, denen sich Deutschland zunächst sehr zögerlich zuzuwenden begann. Kontakt bietet offensichtlich neben den Möglichkeiten neuer Perspektiven, des Lernens und Befragens tradierter und womöglich zu festgefügter Sichtweisen auch das Potenzial unerwarteter Konflikte. Ein anschauliches Beispiel schildert Torsten Näsers „Filming in contact zones“ (257–273) über die filmische Begleitung der Erarbeitung eines Theaterstücks, wobei verschiedene Interessen für die Filmarbeit zu Spannungen führten und letztlich den Erfolg des gesamten Projekts gefährdeten. Erschwerend war der Umstand, dass die universitäre Seite des Projekts einem Plakatentwurf Rassismus unterstellte, während die Theatermacher und auch der Dargestellte dies völlig anders interpretierten; für die Künstler ein inakzeptabler Eingriff in ihre künstlerische Freiheit, der verschärfend als „Hierarchiegefälle“ (259) wahrgenommen wurde – wie bereits von Pratt identifiziert als „asymmetrical relations of domination and subordination“ (26). Ein beständiges Nachjustieren des zunächst Vereinbarten sowie ein ergebnisoffenes Agieren konnte das geschilderte Projekt retten, wobei jedoch die initiale Erwartung, ethnografisch-filmische Dokumentationen „als Texte einer Kontaktzone“ (272) lesen zu können, deutlich an ihre Grenzen stieß und sowohl rückwirkend als auch hinsichtlich weiterer Projekte kritisch reflektiert werden muss. Faszinierend ist Kaleigh Bangors Analyse von „Joseph Roth’s Autoethnographic Response to Bureaucratic Contact Zones 1919–1939“ (235–256), die Roths traumatische Erlebnisse nach der Zerschlagung des Habsburgerreiches reflektiert. Roth fand sich als galizischer Jude, geboren nahe
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Lwów (damals Lemberg) plötzlich als Staatenloser mit Grenzen und deren trennenden, ausschließenden und letztlich selbst tödlichen Konsequenzen konfrontiert. Zugleich nahm die sich extrem ausweitende Bürokratie kafkaeske Züge an. Als sprachgewandter Publizist fand er immer wieder Gelegenheit, seine Kämpfe um eine in einem Pass dokumentierte Identität und somit das Recht, sich an Orten aufzuhalten und zu anderen zu bewegen, anekdotisch und dabei ungemein präzise zu reflektieren: „His real-time awareness of the political changes that occurred at every border he crossed, enabled him to translate the political into the personal.“ (242) Einige Konzepte von nationaler Zugehörigkeit waren und sind hierbei flexibler, inklusiver als andere. Wo „Nation“ auf den Geburtsort rekurriert, hat ein Fremder nahezu keine Chance, seinen Status zu ändern. Wo sie ein Bekenntnis zu Normen und Werten bedeutet, besteht die Chance, sich für diese aktiv zu entscheiden. Der „Nansen-Pass“ (benannt nach Frithjof Nansen, damals Hochkommissar des Völkerbunds für die russischen Flüchtlinge) verhalf den Staatenlosen zwar zu einem Dokument – einem Beweis für ihre Existenz –, doch mehr auch nicht, und sowohl (befristete) Aufenthaltsgenehmigungen als auch Reisen blieben ein nervenzehrendes, kostspieliges und gefahrvolles Vabanque-Spiel. Die doppelte Reflexion Roths und Bangors über Roths Beobachtungen ist ein schönes Beispiel für die Tragfähigkeit von Pratts Konzept der Kontaktzonen – und ein guter Abschluss für den vorliegenden Band. Dr. Steen Bo Frandsen Syddansk Universitet, Institut for Statskundskab, Alsion 2, 6400 Sønderborg, Dänemark, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 157–159 Jochen Ebert, Werner Troßbach (Hg.) Dörfliche Erwerbs- und Nutzungsorientierungen (Mitte 17. bis Anfang 19. Jahrhundert). Bausteine zu einem überregionalen Vergleich Kassel: kassel university press, 2016, 376 S., ISBN 978-3-7376-0214-3, 34,00 EUR. Mit mikrohistorischen Studien hat die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten zahlreiche neue Impulse erfahren. In Hinblick auf die Erschließung frühneuzeitlicher ländlicher Gesellschaften haben solche Forschungen eine Diversität ermittelt, welche von der klassischen Agrar-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit ihren bisherigen Methoden kaum wahrgenommen worden war. Ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt mit dem Titel „Erwerbs- und Nutzungsorientierungen als Determinanten für die Ausprägung von Dorfprofilen (Hessen-Kassel 1737)“ ging in diesem Zusammenhang der bisher Desiderat gebliebenen Frage nach, inwieweit sich die mikrohistorisch ermittelte Vielfalt „nicht nur konstatieren, sondern in gewisser Weise auch systematisieren lässt“ (Klappentext). Der 2016 erschienene Sammelband, der sich mit seinem Untertitel „Bausteine zu einem überregionalen Vergleich“ von der regionalgeschichtlichen Ebene ab-
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heben will, stellt Ergebnisse des Forschungsvorhabens vor, das von Jochen Ebert und Werner Troßbach von der Universität Kassel betreut wurde. Grundlage der Forschungen waren weniger die rechtliche Organisation oder das Herrschaftsgeflecht im ländlichen Raum, sondern vielmehr die aus Steuerakten einer definierten Region zu ermittelnden wirtschaftlichen und sozialen Strukturvoraussetzungen. Das Projekt bezieht sich auf 124 Dörfer in dem zur Landgrafschaft Hessen-Kassel gehörigen Gebiet an Werra und Meißner, für die „Dorfprofile“ erstellt werden konnten. Die aus den Quellen ermittelte Datengrundlage erlaubt einen systematischen Vergleich und „sogar so etwas wie eine Messung der dörflichen Diversität“ (7). Die im folgenden vorzustellenden Beiträge erwuchsen aus Vorträgen, die bei einer Fachtagung im März 2015 in Witzenhausen gehalten wurden. Die ersten fünf Essays untersuchen spezifische Wirtschaftszweige und Gruppen in der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft in anderen Regionen. Hier widmet sich Niels Grüne zunächst dem Tabakanbau in der badischen Rheinpfalz, das heißt den rechtsrheinischen Gebieten um Mannheim und Heidelberg. Im 18. und 19. Jahrhundert bildete dieser Wirtschaftszweig die lukrativste der dort betriebenen Sonderkulturen, an der immer mehr Dorfbewohner teilhatten. Innerdörfliche Konflikte um den Tabakanbau wurden zugunsten von Kleinbesitzern beigelegt. Sodann betrachtet Holger Thomas Gräf den Viehhandel und Viehbesitz im nördlichen Wetterauund Vogelsberg-Gebiet im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Als Ergebnis seiner Forschungen deutet sich an, dass die von ihm betrachtete florierende Wirtschaftssparte auf die Markterfordernisse und Marktchancen ausgerichtet war, wobei Gräf eingangs grundsätzlich zu bedenken gibt, dass unsere Kenntnis über die Beschaffenheit frühneuzeitlicher Märkte mangels Quellen oft nur unzureichend ist. Im Zentrum der Betrachtungen von Anke Sczesny stehen die ökonomischen Verhältnisse im Weberdorf Langenneufach westlich von Augsburg im 18. Jahrhundert. Zur Subsistenz betrieben die Handwerker im Nebengewerbe Landwirtschaft. Die Wirtschaftszweige der Garnherstellung und der Leinwandproduktion waren fast sprichwörtlich eng miteinander verwoben und bildeten ein „hochorganisiertes inneres Marktsystem zum Nutzen der Produzenten und der Herrschaftsträger“ (77). Ebenfalls das Augsburger Umland ist die räumliche Grundlage für Sabine Ullmanns Beitrag „Regionale und lokale Erwerbsprofile jüdischer Händler in den ländlichen Ökonomien des 17. und des 18. Jahrhunderts“. In der Markgrafschaft Burgau konzentrierte sich der jüdische Bevölkerungsanteil in einigen Dörfern und Marktorten; der Konkurrenzdruck unter den auf den Vieh-, Kredit- und Warenhandel angewiesenen jüdischen Händlern war groß, sodass es zu regionalen Schwerpunktsetzungen in der ökonomischen Strategie kam. Das Forschungsthema der Alphabetisierung untersuchen Heinrich R. Schmidt und Michael Egger anhand des Kantons Zürich für die Zeit vor 1800 im Kontext der dörflichen ökonomischen Strukturen. Quellengrundlage sind hierbei nicht die für den Alphabetisierungsgrad eigentlich wenig aussagekräftigen Signaturen unter Eheverträgen, sondern die Seelenregister, bei denen beispielsweise individuell festgestellt wurde, ob jemand lesen kann. Egger hat diese Verzeichnisse tiefschürfend analysiert und dabei festgestellt, dass die Landschaft Zürich schon im 17. Jahrhundert „hoch“ und im frühen 18. Jahrhundert „überwiegend“ alphabetisiert war (126). Die folgenden Beiträge widmen sich dann ausschließlich der „Landschaft an der Werra“, der Gegend, auf die der Fokus des DFG-Projekts gerichtet ist. In einem einführenden Essay legt Jo-
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chen Ebert die Zielsetzungen, Quellen und Zwischenergebnisse des Projekts dar. Das Vorhaben soll „das Ausmaß der Diversität dörflicher Nutzungs- und Erwerbsorientierungen in einer spezifischen Region während eines eng umrissenen Zeitraums“ analysieren und „auf der Basis der statistischen Analyse Dorfprofile“ entwickeln, welche „die naturräumlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen, die sozialen Strukturierungen sowie die Erwerbsorientierungen miteinander verbinden“ (130 f.). Die Region war geprägt von klein- oder unterbäuerlichen Betrieben, die zur Existenzsicherung auf ein Nebengewerbe wie Handwerk und Leinweberei angewiesen waren. Innerhalb der einzelnen Dörfer kam es zu einer mehr oder minder stark ausgeprägten Ungleichverteilung der Ressourcen. Die individuellen bäuerlichen Betriebe traten in Konkurrenz zu den in großer Menge vorhandenen landesherrlichen und adligen Gütern. Die folgenden vier Aufsätze fokussieren die Fragestellungen des Projekts auf signifikante Themen: Werner Troßbach untersucht zunächst anhand der Steuerlast den Ackerbau in der „Landschaft an der Werra“ und versucht daraus Schlüsse zum bäuerlichen Einkommen zu ziehen. Für die Bestimmung der Wertschöpfung spielten neben dem Ackerbau dessen Diversifizierung sowie andere Einflüsse eine Rolle. Die von der Landesherrschaft angestrebte Steuergerechtigkeit konnte überörtlich nicht erzielt werden. Jörg Westerburg und Werner Troßbach richten sodann den Blick auf die Weber sowie die Fuhrleute als regionsspezifische Berufssparten. Der Flachsanbau, die Produktion von Garnen und Weberzeugnissen sowie der Leinwandhandel bildeten wichtige zumeist Zweit- oder Dritterwerbszweige in der hessischen Werraregion. Die zur Schicht der wohlhabenderen Steuerpflichtigen gehörenden Fuhrleute transportierten vor allem Salz aus der Soodener Saline nach Frankfurt, Darmstadt oder Franken. Weitere Transportgüter waren Kohle, Wasser und Wein. Am Beispiel von Wellingerode zeigt Jochen Ebert auf, dass die Zahl der auswärtigen Landbesitzer diejenige der Ortsansässigen weit überstieg; über ein Viertel des steuerpflichtigen Landes in der Gemarkung lag in den Händen solcher „Ausmärker“ oder „Forenses“. Für das ganze „Werraland“ konstatiert Ebert eine „hohe Frequenz von Besitztransfers einzelner Parzellen“ und einen „relativ lebhaften Bodenmarkt“ (299). Die Ausmärkerverhältnisse waren eine nicht zu unterschätzende Komponente bei der Beurteilung von Dorfprofilen. Zum Abschluss stellen Jochen Ebert, Ulf Liebe und Werner Troßbach die Grundsatzfrage nach der Repräsentativität mikrohistorisch gewonnener Ergebnisse. Über den Weg von Häufigkeits- sowie verschiedenen Clusteranalysen können sie – vereinfacht gesagt – verschiedene Arten von Dorftypen für die „Landschaft an der Werra“ ermitteln: Ackermännerdörfer, Leinweberdörfer, Fuhrleutedörfer, Handwerkerdörfer und Tagelöhnerdörfer mit jeweiligen Zwischenstufen wie „Ackermänner-Tagelöhner“-Dörfern. Mit einem breiten thematischen Spektrum und den detailliert aufbereiteten Ergebnissen haben das DFG-Forschungsprojekt und der daraus erwachsene Sammelband neue Wege in der mikrohistorischen Geschichtsforschung aufgezeigt. Dr. Michael Ehrhardt Landschaftsverband Stade, Bremervörde, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 160 Manfred Beller Rheinblicke. Historische und literarische Perspektiven (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 401), Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019, 226 S., Abb., ISBN 978-3-8253-4636-2, 36,00 EUR. Der Germanist Manfred Beller behandelt in acht Beiträgen verschiedene Themen im Umfeld des Rheins. Fünf der Texte sind bereits früher, einige auf Englisch und Italienisch erschienen und wurden nun überarbeitet. Er untersucht die Rheinregion in ihrer Entwicklung seit der Antike anhand französischer und deutscher Atlanten sowie Lexika. Dem Beitrag über die Rheinreisen Victor Hugos 1838 und 1840 schließt sich eine Betrachtung der Inschriften und Reliefbilder des Mainzer Marktbrunnens von 1526 an. Am Beispiel eines Zweiges der Familie Brentano zeigt er, wie sich italienische Kleinhändler des 17. und 18. Jahrhunderts vom Comer See als Zuwanderer in einer Stadt – hier Bingen – ansiedelten und integrierten. Den Tagebüchern und Briefen des italienischen Schriftstellers und Historikers Aurelio de‘ Giorgi Bertòlas aus den Jahren 1787 und 1795 kann er sehr spezielle Beobachtungen der Menschen und Landschaften am Rhein entnehmen, während sich Goethe bei seinen Ausflügen nach Rüdesheim und Bingen 1814 vor allem für Mineralien und Bergbau interessierte. Georg Christian Braun dagegen schilderte 1824 und 1828 in Gedichtform das biedermeierliche Volksleben am Rhein, dessen romantische Vermarktung der Autor zu Recht noch heute erkennt. Nüchterner ist dagegen die Betrachtung des im 19. Jahrhundert beginnenden und bis heute nachwirkenden Denkmalkultes um den Erhalt von Burgen und den Bau von Denkmälern als Zeugnisse der Vergangenheit. Das ansprechend gestaltete Buch lässt die Leserin und den Leser etwas hilflos zurück, denn so unterschiedlich die anregenden Beiträge sind, so wenig verbindet sie, außer die thematische Nähe zum Rhein; vielleicht reicht das aber schon für alle, die sich für das Verbindende und Trennende des Flusses aus weiter oder punktueller Perspektive interessieren. Dr. Ortwin Pelc Hamburg, Deutschland
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 161–163 Matthias Manke, René Wiese (Hg.) Erinnerung an Mecklenburg. 50 Archivalien aus acht Jahrhunderten (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns 22), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2019, 209 S., ISBN 978-3-412-51609-3, 39,00 EUR. Die wie der Gedanke an etwas nicht mehr Existierendes anklingende Wehmut im Titel dieses Sammelbandes kommt nicht von ungefähr, zumal es im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern mit der Erinnerungskultur hinsichtlich Mecklenburgs nicht zum Besten steht. Obwohl an der Landes- bzw. Regionalgeschichte als historischem Raumbezug zur Bewahrung von Identität auch und erst recht im strukturschwachen Nordosten der Bundesrepublik kein Weg vorbeiführt, fristet diese hier seit Jahrzehnten ein klägliches Dasein. Während die landesgeschichtliche Erforschung aller namhaften historischen Gebietskörperschaften des Bundesgebietes selbstverständlich im Rahmen durch die öffentliche Hand finanzierter Institutionen, von Lehrstühlen bis hin zu entsprechenden Forschungsinstituten für Landesgeschichte geleistet wird und sich Regionalgeschichte europaweit im Aufwind befindet, sucht man vergleichbare Ansätze in Mecklenburg-Vorpommern vergeblich. Hier beschränken sich die Verantwortlichen auf die Zementierung einer selbst verordneten MV-Identität, der Landesgeschichte bestenfalls als Vehikel zur Tourismusförderung dient und knüpfen damit in fataler Weise an die an ahistorischen administrativen Strukturen orientierte Kulturpolitik der DDR an. Halbherzige Low-Budget-Angebote, wie das virtuelle Landesmuseum zur Geschichte Mecklenburgs und Vorpommerns, in dem Mecklenburg als „Landesregion“ abgehandelt wird, müssen als Feigenblatt für nicht vorhandene Strukturen zur wissenschaftlichen Erforschung und Darstellung der Landesgeschichte herhalten und schaden dem Image des Bundeslandes. So wird die mecklenburgische Landesgeschichte in diesem Band hauptsächlich amtierenden und ehemaligen Archivaren des Landeshauptarchivs anvertraut, lediglich zwei der insgesamt 20 Autoren sind an Universitäten außerhalb Mecklenburg-Vorpommerns tätig. Dabei kommt den beiden ebenfalls im Archivdienst des Landes tätigen Herausgebern und Mitautoren das Verdienst zu, hier verschiedenste Aspekte der mecklenburgischen Landesgeschichte in Form einer quellenkundlichen Anthologie schlaglichtartig zu erhellen. In den seit 2003 allesamt bereits im „Mecklenburg Magazin“, der wöchentlich erscheinenden Regionalbeilage der „Schweriner Volkszeitung“ erschienenen Beiträgen, wird eine farbige Reise durch neun Jahrhunderte Mecklenburg unternommen. Dass sich die Autorinnen und Autoren in der Leserschaft einer Lokalzeitung dabei an ein breites Publikum interessierter Laien wandten, kommt der Lesbarkeit der Beiträge zugute, ohne ihrer Qualität Abbruch zu tun. In ihrer Einleitung beklagen die Herausgeber hinsichtlich der Verhältnisse in ihrem Bundesland, dass sich die „historische Identität des mecklenburgischen Landesteils immer blasser“ und die Vermittlung landesgeschichtlicher Grundkenntnisse „in einer strukturschwachen und weiter Strukturen abbauenden Wissenschaftslandschaft des Geistes allerdings immer schwieriger“ (11) darstellt. Völlig zu Recht bedauern die Herausgeber landespolitische Entscheidungen, „die sich
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in ein Umfeld niedergehender Landesgeschichtsforschung in Mecklenburg-Vorpommern einpassen“ zumal „Landesgeschichte als Fach an den Universitäten des mit Identitätsdefiziten behafteten Landes professionell nicht mehr vertreten ist“ (ebenda). Dem fachlichen Profil der Autorinnen und Autoren entsprechend, widmen sich sechs der 50 chronologisch aufeinanderfolgenden Beiträge des Sammelbandes mittelalterlichen Archivalien Mecklenburgs. Zudem werden 16 frühneuzeitliche Quellen vorgestellt, während 33 Artikel Archivfunde zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aufbereiten. Ein instruktiver Beitrag zu Restaurierung und Konservierung des nicht selten durch den Zahn der Zeit in Mitleidenschaft genommenen Archivguts von Ulrike Krüger und Carmen Wallow rundet den Band ab. Jeder Beitrag umfasst zwei bis drei Textseiten und ist mit farbigen Abbildungen und gegebenenfalls auch Transkriptionen der Archivalien versehen. Präsentiert werden Urkunden, Verträge, Handschriften, Artefakte, Briefe, Karikaturen, Karten und Zeichnungen. Darunter Dokumente von allgemeiner Bedeutung für die Landesgeschichte, wie die 1158 ausgestellte Urkunde des aus England stammenden Papstes Hadrian IV. über die Stiftung des Bistums Ratzeburg, der 1358 ratifizierte Vertrag über den Verkauf der fortan das Herzstück des Herzogtums bildenden Grafschaft Schwerin an das Haus Mecklenburg, die 1523 geschlossene Große Union der Ritter- und Landschaft, das 1632 geschlossene Bündnis der mecklenburgischen Herzöge mit König Gustav II. Adolf von Schweden und den als ständische Verfassung bis zum Ende der Monarchie geltenden Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich von 1755. Weniger bekannt dürfte hingegen die das Ende der 1806 gewonnenen mecklenburgischen Souveränität besiegelnde, durch Otto von Bismarck unterzeichnete Ratifikationsurkunde über den Bündnisvertrag zwischen den mecklenburgischen Großherzogtümern und Preußen aus dem Jahr 1866 sein. Neben Dokumenten zu politischen Zäsuren und großen Staatsaktionen verdankt der Band seine gute Lesbarkeit der Aufbereitung von Archivalien zu interessanten Nebenaspekten der Landesgeschichte. Im Spiegel der Quellen werden neben Arabesken und Kuriositäten der mecklenburgischen Sozial- und Alltagsgeschichte auch aufschlussreiche Details der politischen Geschichte des Landes präsentiert. So bringt Oliver Auges Darstellung der Reimchronik des Ernst von Kirchberg, den Leserinnen und Lesern neben der Gestaltung und Ausführung einer eindrucksvollen Prunkhandschrift auch den politischen Kontext ihrer Entstehung vor dem Hintergrund der mecklenburgischen Großmachtpolitik des 14. Jahrhunderts nahe. Yvonne Bergerfurth stellt die 1785 erstellte Gebührentabelle des Schweriner Scharfrichters Eichenfeldt in ihren sozialgeschichtlichen Kontext. Angesichts von COVID-19 erstaunlich aktuell, erscheint eine von Antje Koolman vorgestellte Abhandlung über Abwehrmaßnahmen gegen die Europa heimsuchende Cholera. Zum Schutz vor der Seuche hatte ein sächsischer Leutnant und Mathematiklehrer, die mit einer Zeichnung über eine Abluftanlage für Krankenzimmer von Cholera-Patienten versehene Denkschrift, 1831 Großherzog Friedrich Franz I. von MecklenburgSchwerin überreichen lassen. Gänzlich anderer Natur sind die durch René Wiese vorgestellten Zeichnungen Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, mit denen der Hohenzoller gelegentlich seine Briefe an die mecklenburgische Verwandtschaft illustrierte. In heiteren Selbstkarikaturen brachte der König hier seine Gemütslage zum Ausdruck, indem er sich selbst klein und untersetzt darstel-
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lend, auf Zephirsflügeln nach Ludwigslust eilend zeichnet, um seine Vorfreude auf einen Besuch in Mecklenburg zu betonen. Insgesamt ist die „Erinnerung an Mecklenburg“ in diesem Sammelband gelungen. Farbig und lebhaft verfasste Beiträge illustrieren den Reiz archivalischer Quellen. Sie garantieren kurzweiligen Erkenntnisgewinn und bieten landesgeschichtlich Interessierten eine abwechslungsreiche Lektüre. Durch die Darstellung eines breiten Spektrums von Archivalien könnte der Band außerdem als Einführung für Studierende der mecklenburgischen Landesgeschichte empfohlen werden: – wenn es für dieses Fach einen Lehrstuhl an der einstigen mecklenburgischen Landesuniversität geben würde. Dr. Sebastian Joost Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 163–165 Alexander Thon (Hg.) 800 Jahre Stadtrecht für Annweiler. Studien zur Vorgeschichte, Wirkung und Folgen der Verleihung des Stadtrechts durch König Friedrich II. am 14. September 1219 (Beiträge zur Geschichte des Trifels und des Mittelalters 6), Annweiler am Trifels: Trifelsverein e. V., 2019, 240 S., ISBN 978-3-9819630-4-5, 18,00 EUR. Anlässlich des 800-jährigen Jubiläums der Stadtrechtsverleihung durch den Staufer Friedrich II. an die Stadt Annweiler am Trifels versammelte Herausgeber Alexander Thon sieben Beiträge mitsamt einer Urkundenedition im vorliegenden Band. Beginnend mit der Geschichte der Stadt vor der Gründung geben die Texte insgesamt einen tiefergehenden Einblick in die Zeit nach 1219 bis zur abenteuerlichen Rückkehr der besagten, heute nur noch zu besonderen Gelegenheiten der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Urkunde aus den Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 1991. Zunächst rückt Alexander Thon jedoch das Stadtrechtsprivileg selbst in den Betrachtungsfokus und schafft durch Beschreibung, Edition, Übersetzung sowie Einblicke in Überlieferungs- und Publikationsgeschichte eine wichtige Ausgangslage für die anschließenden Aufsätze. Allerdings hält sich die Edition nicht an die bestehenden Regeln wie unter anderem der MGH (Monumenta Germaniae Historica), sondern ist dezidiert für ein nicht-wissenschaftliches Publikum konzipiert (28, Fußnote 5). Auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Bestimmungen der Urkunde ist für diesen Leserkreis verfasst. Den Aufsatzteil des Bandes eröffnet Martin Armgart mit einem Blick in die Vorgeschichte Annweilers bis 1219, wobei er bereits zu Beginn seines Beitrags auf die vermeintliche Ersterwähnung Annweilers 1086/1006 eingeht und überzeugend zusammenfasst, weshalb es sich bei der Nennung von vallem Annovillem in der Schenkungsurkunde Heinrichs IV. an das Kloster Horn-
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bach vom 5. April 1086 um eine gefälschte Urkunde aus dem 18. Jahrhundert handeln muss. Ähnliches gelte für die Pfarrkirche mit Reliquienschatz und ihr Weihdatum im Februar 1153. Daran anschließend geht Armgart kritisch mit den verschiedenen Tauschdaten Annweilers gegen Morsbronn ins Gericht. Sinnigerweise fasst der Autor abschließend seinen Ansatz zusammen, wonach eine Betrachtung der Geschichte Annweilers mittlerweile eher „ein Aufräumen, ein Infragestellen von alten Annahmen, das Setzen neuer Fragezeichen“ (49) sei. Der folgende Text von Gerold Bönnen entspricht weitgehend einem von ihm bereits 1988 verfassten und in den „Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz“ erschienenen Aufsatz1, in dem er die Stadtrechtsurkunde König Friedrichs II. von 1219 inhaltlich analysiert und in einen überregionalen Bedeutungskontext und somit auf Makroebene innerhalb der deutschen Verfassungsgeschichte positioniert. Er charakterisiert zunächst die Umgebung um Annweiler als ein stets „besonders königsnahes, herrschaftlich eng verbundenes Territorium“; gerade der Trifels habe „unter allen Burgen eine herausragende Stellung“ (57) innegehabt. Dennoch sei das Privileg keine singuläre bzw. ortsspezifische Erscheinung, sondern falle zeitlich mit weiteren Stadtrechtsvergaben andernorts zusammen, weshalb der Autor für eine stärker vergleichende Auseinandersetzung des Annweiler Privilegs mit anderen, beispielsweise der Privilegienvergabe an Oppenheim, plädiert, denn letztlich seien all diese Maßnahmen im Gesamtkontext des Aufenthalts Friedrichs II. im Reich und demnach innerhalb einer intensiven Herrschaftsphase des Staufers zu bewerten. Im Anschluss rückt Klaus Frédéric Johannes schließlich den Aussteller der Urkunde, König Friedrich II., als Person in den Vordergrund und zeichnet dessen bewegtes Leben in Gänze nach. Dabei wird deutlich, dass, obwohl sich der Staufer nur selten diesseits der Alpen aufhielt, er durch seine Aktionen während seiner Anwesenheit nachhaltig die Strukturen des Reichs, wie unter anderem anhand des Annweiler-Privilegs ersichtlich wird, prägte. Die Zeit ab der Stadtrechtsverleihung bis ins 19. Jahrhundert betrachtet Rolf Übel in seinem Beitrag und charakterisiert sie bereits in der Überschrift als „Annweilers Kampf “ (131), denn auf die Erhebung zur Reichsstadt folgte 1330 die Verpfändung an die Pfalzgrafen Rudolf II. und Ruprecht I. Während das 19. Jahrhundert diesen Akt im Sinne einer Strafe deutete, sah der Historiker Meinrad Schab dies vielmehr als „Ausdruck übergeordneter Territorialpolitik“ (137). Nachdem Annweiler 1410 an die kurpfälzische Linie Pfalz-Zweibrücken fiel, setzte sich der Konflikt um die im Privileg von 1219 garantierten Freiheiten und Rechte in Form eines ständigen Verhandlungsakts gegenüber den herzoglichen Pfandnehmern fort; der Vertrag von 1519 zementierte schließlich aber die Abhängigkeit von den Landesherren. Von Rolf Übel bereits angesprochen, nimmt Günter Frey die Thematik der Stadtbefestigung auf und widmet sich in seinem Beitrag deren baulichen Spuren innerhalb der Stadt. Auch bei diesem Aufsatz handelt es sich um eine überarbeitete und aktualisierte Fassung eines 2012 erschienen Texts in den Mitteilung des Historischen Vereins der Pfalz.2 Ausgangspunkt für die bauliche Befestigung Annweilers bildete wahrscheinlich das Privileg von 1219, dass den Bau von „wehrhafte[n] Mauern und Türme[n]“ ermöglichte (175), allerdings sind diese Befestigungen, deren frühster schriftlicher Hinweis ins Jahr 1485 zurückdatiert, im heutigen Stadtbild kaum mehr erkennbar. In Einzelbetrachtung der Stadtmauer/-graben und verschiedener Türme, zum Beispiel des
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Schlauchturms (Melac-Turm), macht Frey anhand detaillierter Nachweise das Schicksal und die Bedeutung der jeweiligen Bauten für die Stadt nachvollziehbar. Mit Hilfe von weitgehend unveröffentlichten Diensteiden aus Landau und Annweiler ermöglicht Andreas Imhoff darauffolgend noch einen Einblick in bekannte und unbekannte Berufsbezeichnungen der Frühen Neuzeit. Den Abschluss des Sammelbandes bildet schließlich ein zweiter Beitrag Günter Freys zum Verschwinden der Stadtrechtsurkunde im Zweiten Weltkrieg und zur späten Rückkehr des Dokuments aus den Vereinigten Staaten im Jahr 1991. Ein Orts- und Personenregister fehlt, was aufgrund der Kompaktheit des Buchs nicht allzu stark ins Gewicht fällt. Insgesamt beleuchten die vorliegenden Texte ausgehend von besagter Stadtrechtsurkunde auf gut verständliche, aber kritische Art und Weise die Geschichte Annweilers vom Mittelalter bis in die Moderne. Die Beiträge sind besonders in Hinblick auf ihr Literatur- und Quellenverzeichnis jedoch nicht vereinheitlicht, was der Gesamtästhetik leider schadet. Der aktualisierte, erneute Druck der Aufsätze von Bönnen und Frey, die zumindest um einige neuere Literaturtitel zur Stadtgeschichte ergänzt wurden, ist ebenfalls ein Schönheitsfehler; ihr Vorhandensein im Band ist jedoch sinnvoll für die Gesamtaussage des Buchs und rundet die unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Urkunde im Endeffekt sinnig ab. 1 2
Gerold Bönnen: Die Stadterhebung Annweilers durch König Friedrich II. im Jahr 1219. In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 86 (1988), 35–57. Günter Frey: Türme – Tore – Mauern. Annweiler – eine alte Stadt. In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 110 (2012), 87–107.
Laura Potzuweit M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Abteilung für Regionalgeschichte, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
2. Mittelalter Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 165–168 Martina Stercken, Christian Hesse (Hg.) Kommunale Selbstinszenierung. Städtische Konstellationen zwischen Mittelalter und Neuzeit (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 40), Zürich: Chronos Verlag, 2018, 392 S., 51 sw. Abb., 17 farb. Abb., ISBN 978-3-0340-1435-9, 58,00 EUR. Um die Stadt als multimedial bespielten Ort sozialer, politischer oder religiöser Entwicklungen zu analysieren, sind in den letzten Jahrzehnten Prozesse der symbolischen Kommunikation, Formen der dauerhaften oder ephemeren Repräsentation und der sich im Ritual manifestierenden
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Performativität in das Blickfeld getreten. Mit dem spatial turn wurden zudem Raumkonstellationen und Topografien als Analysekategorien und konstruierende Determinanten der Stadt erschlossen. Der von Martina Stercken und Christian Hesse herausgegebene Sammelband mit Beiträgen einer 2015 in Zürich veranstalteten Tagung zur Selbstinszenierung europäischer Städte demonstriert den Mehrwert dieser kulturwissenschaftlich inspirierten Ansätze in der Stadtgeschichtsforschung. Unter kommunaler Selbstinszenierung fassen der Herausgeber und die Herausgeberin im Vorwort „Momente, in denen die Stadtgemeinde überlegt und für unterschiedliche Öffentlichkeiten sichtbar gemacht wird“ (9) und damit vor allem Kontexte, die über historische Begründungsmuster auf die schriftliche, bildliche oder rituelle Vergegenwärtigung sozialer Werte zielen. Dieser weite Rahmen ermöglicht eine epochenübergreifende Perspektive vom 13. bis ins frühe 20. Jahrhundert und einen räumlich breiten Zugriff von den Städten der alten Eidgenossenschaft und des römisch-deutschen Reiches über Beispiele in Österreich, Polen und Frankreich bis hin zu den Städten im englischen Königreich. Der Schwerpunkt des Bandes liegt aber auf den Schweizer und oberdeutschen Städten des Spätmittelalters. In der ersten Sektion werden unter dem Stichwort „Modelle“ verschiedene historische Ausformungen städtischer Selbstinszenierung vereint, die gesellschaftliche Tugenden, kommunale Stabilität und Legitimität innerstädtisch und in ihrer Bedeutung innerhalb größerer territorialer Zusammenschlüsse begründen. Martina Stercken veranschaulicht dies einführend anhand von Fallbeispielen aus Städten im Südwesten des Reiches: Während in der bebilderten Chronik Diepold Schillings (1513) die Stadtgeschichte von Luzern als Erfolgsgeschichte zugunsten der Führungsschichten modelliert werde, verbinde grafische Stadtdarstellungen aus dem 16. Jahrhundert das Anliegen, größere Rezipientenkreise zu erschließen und die jeweilige Stadt als geordnetes, historisch legitimiertes Ganzes im Gesamthorizont der Heilsgeschichte zu vergegenwärtigen. Roman Czaja untersucht Inszenierungen städtischer Eintracht und kommunalen Konsenses in den preußischen Städten des 13. bis 16. Jahrhunderts und unterstreicht dabei einmal mehr, dass die kontinuierliche Behauptung einer Beteiligung aller Bürger am Stadtregiment weniger politischrechtliche Realität als eine Stabilisierungsstrategie der Obrigkeiten darstellte. Daniela Schulte nimmt ebenfalls die wirkmächtige Vorstellung der Stadt als einträchtiger Bürgergemeinde zum Ausgangspunkt: In der bebilderten Berner Chronistik des 15. Jahrhunderts seien Stadtbrände zu narrativen Wendepunkten modelliert, an denen sich die Widerstands- und Zukunftsfähigkeit der Stadt exemplifizieren lasse. Eine Besonderheit der eidgenössischen Städte nach 1500 ist die Anbringung fremder Stadtwappen in neuralgischen Bereichen des Stadtraums. Dies interpretiert Regula Schmid als Ausweis der Teilhabe an einem größeren Verbund von gleichgestellten Städten und damit als „ständische Zugehörigkeit innerhalb der Eidgenossenschaft“ (76). Um das eigene Prestige und Selbstbild nach außen hin wirksam darzustellen, wird der Nachweis des Expertenstatus von Verwaltungspersonal in der Frühen Neuzeit zunehmend wichtiger. Christian Hesse untersucht das Phänomen für die eidgenössischen Städte in akribischer Analyse des Berner Bemühens um einen juristischen Doktortitel des Stadtschreibers und Diplomaten Thüring Fricker (ca. 1429–1519). Olga Kozubska-Andrusivs Untersuchung zur Selbstinszenierung religiöser
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Gruppen im multiethnischen Lwiw des 16. und 17. Jahrhunderts kann für jede Teilgruppe der Stadt – Katholiken, orthodoxe Ruthenen und christliche Armenier – ein profiliertes, distinktives Selbstverständnis herausarbeiten; allein für die jüdische Minderheit bleibt die Aussagekraft in dieser Hinsicht etwas blass. Der Themenblock zu „Ritualen“ fokussiert auf habitualisierten Formen städtischer Selbstinszenierung vom späten Mittelalter bis 1900: Gerrit Jasper Schenk zeigt am Beispiel der 1357 eingeführten und über 150 Jahre fortgeführten Straßburger Lux-Prozession die Wandlungsfähigkeit von Ritualen, hier vom Krisenritual zum Gedächtnisritual mit legitimatorischer Funktion. Während Lionel Dorthe das Johannisfest in Freiburg im Üechtland anhand der spätmittelalterlichen Stadtrechte nachvollziehbar als hervorgehobenen Mechanismus ritueller Approbation und Moment der „force de ville“ (155) ausweist, bringt der Versuch von Katrin Utz Tremp, anhand von einer enquête von 1420 zur Beschreibung des gleichnamigen Fests in Payerne beizutragen, wenig konkrete Ergebnisse: mehr als der Ablauf des Fests wird sein Boykott von herrschaftlicher Seite sichtbar. Jan-Friedrich Missfelder gelingt anschließend eine weiterführende „sinnesgeschichtliche Lektüre“ (197) des Zürcher Schwörtags und seiner Ausrufpraktiken in der Frühen Neuzeit. Zwei englische Beiträge widmen sich der „invention of tradition“ im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: Roey Sweet erforscht mit Leicester, Lichfield und Shrewsbury die historistisch-kommerzialisierte Festkultur bisher wenig beachteter mittelgroßer Städte. Vivian Bickford-Smith interpretiert die Straßenparaden für die englische Krone in der südafrikanischen Kolonie Capetown als Verankerung nationaler Identität und Loyalität in der Bevölkerung und macht dabei auch auf Genderund Diversitätsaspekte aufmerksam. Zu Beginn der dritten Sektion „Räume“ wendet sich Keith D. Lilley in einem englischen Beitrag dem kartografischen Raum als relationaler und kontextueller Praxis zu, und zwar mit der Frage nach den Reflexen gelebter städtischer Erfahrung in einem spätmittelalterlichen Stadtplan von Bristol. Die folgenden vier Studien fokussieren weniger auf performativen Raumtheorien, eröffnen aber durchaus interessante Perspektiven auf materielle Inszenierungen und vernachlässigte Formen der Repräsentation im vormodernen Stadtraum: die untersuchten Architekturen und Monumente reichen von Stadtbefestigungen (Armand Baeriswyl) und Leprosorien (Martin Uhrmacher) in deutschen und schweizerischen Städten des Mittelalters über die Inszenierung effektiver Stadtwirtschaftspolitik auf spätmittelalterlichen Marktplätzen (Werner Freitag) bis zur Umdeutung des frühneuzeitlichen Stadtraums im Zuge des Austauschs von Prangersäulen durch religiöse Votivmonumente (Martin Scheutz). Instruktiv zur bürgerlichen Selbstinszenierung an der Schnittstelle von privat und öffentlich ist Bettina Köhlers Deutung des Pariser hôtels im 17. und 18. Jahrhundert als „Wohnhaus und performative Maschine der Gastlichkeit“ (362), die über Architektur, Dekor und Fassade mit den Bewohnern und der Stadtgesellschaft interagiere. Den Band beschließt ein architekturhistorischer Blick von Cristina Gutbrod auf den nicht realisierten Stadthausentwurf Gustav Gulls (1858–1942) im Herzen von Zürich, der die mittelalterliche Vergangenheit in der Zukunft „Groß-Zürichs“ fortschreiben sollte. In dieser städtebaulichen Vision spiegelt sich zum Abschluss die eidgenössische Städtegeschichte als Kern dieses gelungenen Sammelbandes, der insgesamt thematisch reichhaltig ist und der Städteforschung methodologisch
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neue Perspektiven aufzeigt. Als kleineres Manko aus Benutzersicht sei lediglich auf das fehlende Register und die gelegentlich unklare Zuordnung von Abbildungen (257 f.) hingewiesen. Dr. Susanne Ehrich Universität Regensburg, Institut für Geschichte, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 168–170 Mechthild Isenmann Strategien, Mittel und Wege der inner- und zwischenfamiliären Konfliktlösung oberdeutscher Handelshäuser im 15. und „langen“ 16. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 249), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2020, 450 S., 15 sw. Tab., ISBN 978-3-515-12574-1, 72,00 EUR. Drei „seltsame Heiraten“ habe es im Augsburg des Jahres 1516 gegeben, ließ sich Wilhelm Rem, der große Spötter unter den Chronisten der schwäbischen Reichsstadt, vernehmen: Christoph Herbrot habe eine Tochter dem Sohn Konrad Meutings, Michael von Stetten seinen Sohn Ulrich Fuggers Tochter und Lukas Gassner seine Tochter dem Ulrich Fugger gegeben, aber alle, die „zusammen heirateten“, seien „einander feind“ gewesen.1 Mit Recht bezeichnete der Ethnologe Utz Jeggle bäuerliche Ökonomien als familiale Not- und Terrorgemeinschaften. Und das gilt auch für städtische Verwandtschaftsfamilien der Vormoderne. Man „befreundete“ sich durch eheliche Verbindungen, und man wusste dabei auch um die Risiken, die das Leben in solchen Familienverbänden mit sich brachte. Geschäftliches Handeln in Familienkonstellationen war auch den Prinzipalen der Großen Familiengesellschaften Oberdeutschlands bis weit ins „lange“ 16. Jahrhundert hinein gemein. Mechthild Isenmann interessiert in ihrer Leipziger Habilitationsschrift nun nicht dieses seit langem bekannte und erforschte Unternehmensmodell an sich. Es geht ihr vielmehr um die bislang wenig behandelte Frage nach den Zusammenhängen zwischen den immer wieder auftretenden, zum Teil existenzvernichtenden Konflikten in diesen besonderen familialen Verwandtschaftsumgebungen und den strategischen wie operativen Instrumentarien zur Lösung solcher Probleme im Sinne des Geschäfts. Die Arbeit handelt mithin von der Resilienz solcher Familiengesellschaften. Angesichts der seit Jahrhunderten anhaltenden und gerade wieder aktuellen Querelen in einigen großen Familienunternehmen mit ihren erheblichen Gefährdungspotenzialen liegt die Relevanz solchen Nachdenkens über anthropologische Verhaltenskonstanten und über die zugrundeliegenden sozial- und wirtschaftshistorischen Prozesse in der Vormoderne auf der Hand. Mechthild Isenmann hat ihre Arbeit klug nach zwei Untersuchungsperspektiven ausgerichtet. In der ersten, wiederum in zwei analytische Zugangsweisen unterteilten Perspektive werden die geschäftlich-organisatorischen Baupläne und familialen Konstellationen vornehmlich ausgewähl-
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ter Augsburger und Nürnberger Gesellschaften (Imhoff, Meuting, Paumgartner, Behaim, Rem und Welser-Vöhlin, Arzt, Herbrot-Manlich, Höchstetter-Rem und Viatis-Peller) beobachtet. Es ist Isenmann dabei zunächst wichtig, die Kommunikationsbedingungen und -konstellationen in und außerhalb einer Gesellschaft, mithin also die Grundlagen des Umgangs von Familienmitgliedern, situativ einbezogenen Vertrauenspersonen und externen Institutionen im Rahmen des Geschäfts zu beschreiben. In „nahezu idealtypischer Weise“ (65) bietet sich dafür die herausragende Überlieferungssituation der Imhoff mit ihren erhaltenen Rechnungsbüchern und vor allem mit den zahlreichen Korrespondenzen an. In diesen Quellen wird die Kommunikation zwischen den regierenden Familienhäuptern in der Zentrale Nürnberg und den abhängigen Neffen und Vettern sinnfällig, aber auch der Bruch der scheinbaren Harmonie in der Geschäftsführung sichtbar. Ausgelöst wurde der Konflikt durch den Tod Paulus Imhoffs, des Faktors im Safranzentrum L’Aquila, und die durch Endres Imhoff, den Nürnberger Prinzipal, von dessen Bruder Wolf verlangte Inventur und Abschlussrechnung. Es ist faszinierend zu sehen, wie es Mechthild Isenmann anhand der sehr guten, aber ebenso komplizierten Überlieferung gelingt, den mühseligen Weg der Mediation über inner- und außerfamiliäre Vertrauenspersonen und das Nürnberger Stadtgericht von 1545 an bis zum Vergleich 1551 sehr detailliert zu rekonstruieren. Außergewöhnlich in der Intensität der Einblicke in das Innenleben von Familiengesellschaften ist auch die zweite Analyseebene gelungen. Die Autorin fragt darin anhand spezifischer verwandtschaftlicher Konstellationen nach Strategien und Maßnahmen zur Konfliktvermeidung bzw. -lösung. Anhand der Vater-Sohn-Verhältnisse der Augsburger Meuting und der Paumgartner zeigt sie a) anhand der im Gesellschaftsvertrag der Meuting von 1436 niedergelegten Abstimmungsverhältnisse und b) an Anpassungen von testamentarischen Verfügungen Hans und Regina Paumgartners, welche Möglichkeiten bis hin zur Enterbung des sorgfältig erzogenen, aber charakterlich missratenen Nachfolgers Gesellschaften offenstanden, um Eventualitäten zu begegnen, die die geschäftliche Kontinuität stören konnten. Unter den von Isenmann behandelten Onkel-Neffen-Neffen-Konstellationen in Familiengesellschaften sei das Verhältnis der Imhoff zu ihrem Mitgesellschafter Paulus Behaim herausgestellt. Der Neffe wurde, da er keine gewinnträchtige Arbeit für die Gesellschaft erbrachte, in mehreren Gesellschaftersitzungen ausgeschlossen. Der Prinzipal Endres Imhoff hatte dabei ein einheitliches, unnachgiebiges Vorgehen der Mitgesellschafter zustande gebracht. Die Gründe für das Scheitern der auf Brüder aufruhenden Familiengesellschaften macht Isenmann etwa an der seit 1436 bestehenden Gesellschaft der Brüder Hans und Ulrich Arzt sowie ihrer drei Schwestern bzw. Schwäger fest. Hier führte die nicht geeinte Generalabrechnung, vorgelegt von dem Senior Hans Arzt, 1450 zum Bruch, wobei der Verfasserin tiefe Einblicke in die manipulativ angelegte Struktur und den Misstrauenshaushalt der Gesellschaft durch die eingehende Analyse der überlieferten Gesellschafterversammlungen gelingt. Das erfolgreiche Gegenmodell beschreibt sie anhand des vielleicht zu geschönten Wahrnehmungsspiegels, wie ihn das sogenannte Tagebuch des Lukas Rem vermittelt. Die 1518 gegründete Gesellschaft der Brüder Endris und Lukas Rem sowie ihres Verwandten Ulrich Honolt bestand in wechselnden Gesellschafter-Konstellationen trotz mancher Konflikte erfolgreich bis 1537. Die Probleme von Gesellschaften, die über Schwiegersöhne gestiftet wurden, beschreibt die Verfasserin etwa an der 1534 geschlossenen Verbindung zwischen Marina Herbrot und Simon
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Manlich in Augsburg. Die daraus erwachsenen, vornehmlich persönlichen Konflikte konnten erst 1545 in einem schiedsgerichtlichen Austrag vor dem Augsburger Rat beigelegt werden. Dagegen gelang es Bartholomäus Viatis, ab 1591 mit seinem Schwiegersohn Martin Peller eine sehr erfolgreiche Gesellschaft zu führen. Deren Kontinuität stand freilich 1624/25 nach dem Tod des Seniors auf Messers Schneide. Das Unternehmen konnte aber, wie die Verfasserin zeigt, durch vorherige vertragliche Absprachen auch unter Hintanstellung des eigenen Sohnes und der Übertragung der Geschäftsverantwortung auf den Fähigsten, vor allem durch Modifikationen des Testaments fortgeführt werden. Die zweite, kompakt und konzis ausgefallene Untersuchungsperspektive, Analyse genannt, ist gleichsam eine lange Zusammenfassung der exemplarischen, nach Themenfeldern geordneten Fallbeispiele. Isenmann stellt dabei auf glasklare Systematisierung ab: 1) auf die Konfliktkonstellationen, entstanden aus innerfamilialen Problemen, strittigen Schlussrechnungen und ebensolchen unternehmerischen Entscheidungen, aus Betrug, Verschwendung und Unfähigkeit unter den Gesellschaftern, 2) auf die Strategien zur Konfliktvermeidung wie die äußerst sorgfältige Ausbildung der potenziellen Nachfolger an wichtigen Destinationen europäischen Handels (begleitet gelegentlich von ihrer sozialen Verwahrlosung), die Heiratspolitik, die Gestaltung der Gesellschaftsverträge auch mit der Regelung ordentlicher Gesellschafterversammlungen und die Sicherung der Nachfolge sowie 3) auf die Instrumentarien der Konfliktlösung, die wie die außerordentliche Gesellschafterversammlung, die Vermittlung und der Austrag vor Rats- oder Stadtgericht unmittelbare Anwendung fanden. Es gibt wenige neuere Arbeiten der internationalen Wirtschaftsgeschichtsforschung der Vormoderne, die mit derartig glücklich verbundener findiger, intensiver Quellenarbeit und analytischer Schärfe und Breite komplexe Probleme resilienter Unternehmensführung überzeitlicher Relevanz vorführen und dabei die Tiefen menschlichen Handelns ausleuchten. Mechthild Isenmanns Untersuchung gehört zweifellos zu ihnen. 1
Historische Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis 16. Jahrhundert. Bd. 25 / Die Chroniken der schwäbischen Städte. Bd. 5: Augsburg, Leipzig 1896, 48.
Seniorprof. Dr. Dres. h. c. Gerhard Fouquet Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 171–172 Dieter Neitzert Göttinger Boten und Gesandte. Reichweite und Intensität städtischer Kommunikation zwischen 1400 und 1450 (Göttinger Forschungen zur Landesgeschichte 22), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2019, 200 S., 4 sw. Abb., 4 Karten, ISBN 978-3-7395-1202-0, 19,00 EUR. Das ursprüngliche Ziel von Dieter Neitzerts Studie war, nach Bekenntnis des Autors, das Kommunikationsnetz Göttingens im Spätmittelalter unter Einbeziehung der Wirtschaftsbeziehungen zu erarbeiten. Dieses wurde jedoch durch die Überlieferungslage erfolgreich verhindert, sodass „nur“ die Untersuchung des Göttinger Boten- und Gesandtschaftswesens für den Zeitraum von 1400 bis 1450 blieb. Dieselbe erfolgt mit beispielhafter Quellenkritik auf 75 Seiten Fließtext. Für diesen wurden mehrere tausend Boten- und Gesandtenreisen betreffende Rechnungseinträge ausgewertet, welche im über hundert Seiten umfassenden Anhang eine systematische Erschließung erfahren. Hierbei verzichtet Dieter Neitzert, mit nachvollziehbarer Reflektion der teilweise problematischen Quellenlage, auf die Darstellung der Herkunftsorte der in Göttingen ankommenden Boten, da sich diese häufig nicht sicher genug rekonstruieren ließen. Die Studie betrachtet also notgedrungen die von Göttingen ausgehende Kommunikation durch Boten und Gesandte. In diesen Betrachtungen geht Dieter Neitzert kaum über die Ergebnisse der größeren, einen neuen Forschungszugriff anstoßenden und damit beispielhaften Studien von Klara Hübner oder Heinz-Dieter Heimann hinaus.1 Dies war aber, nach eigener Aussage, auch gar nicht sein Ziel. Und unter anderem in dieser Ehrlichkeit liegt auch eine der großen Stärken der Studie. Dieter Neitzert reflektiert konsequent selbstkritisch und legt die ab und an auftretenden Probleme und methodischen wie überlieferungstechnischen Schwierigkeiten seiner Arbeit klar dar und benennt die Grenzen seines Zugriffs. Gleichzeitig gibt er hierbei Anregungen für ein potenzielles weiteres Vorgehen (etwa die Sichtung weiterer Corpora), welches ihm selbst jedoch nicht mehr möglich war. So sehr er sich an diesen Stellen in Bescheidenheit übt, so vorbildlich ist doch seine umfangreiche Auswertung der städtischen Rechnungen. Durch diese kann er die kommunikative Einbindung Göttingens in den umgebenden Raum nachvollziehbar ausführen und dabei etwa die engen Beziehungen zum Landesherrn bei gleichzeitiger Königsferne herausstreichen. Für einige Beispiele führt er auch die durch seine Daten mögliche Feinanalyse politisch-kommunikativer Beziehungen und Voraussetzungen aus. Damit beweist er die Tragfähigkeit und Fruchtbarkeit seines Materials und will zu weiteren Studien anregen, zu welchen er sich nicht mehr im Stande sieht. Gleichzeitig kann er der Regional- und darüber hinaus sogar der Hansegeschichte einige neue Mosaiksteine hinzufügen. Etwa, wenn er anhand seiner Gesandtschaftsrechnungen einen bisher unbekannten Tag der sächsischen Städte in Hildesheim wahrscheinlich machen und die Rolle Göttingens als Vorort des südlichen Hansedrittels, welches auch zu militärischen Aktionen im Dänenkrieg bereit war, weiter akzentuieren kann. Die Studie sei, nicht nur für das betreffende Kapitel, also auch allen Hanseforschern ans Herz gelegt.
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Die fünf Karten ermöglichen durch die Visualisierung wichtiger Arbeitsergebnisse, auch dem mit der lokalen Landesgeschichte weniger Vertrauten, den Ausführungen Dieter Neitzerts gut zu folgen. Dieser umfangreiche Anhang ist es auch, der für die nachkommenden Forscherinnen und Forscher noch bedeutender sein dürfte als der eigentliche Haupttext. Denn Dieter Neitzert stellt in diesem die Früchte seiner jahrelangen Quellenlektüre im Göttinger Stadtarchiv aufbereitet und gut erschlossen allen Interessierten zur Verfügung. In seinem offenen Umgang mit den eigenen Forschungsdaten durchaus nachahmenswert. Durch diese so gut aufbereiteten Daten, etwa zu den Zielen von Boten und Gesandten, dürfte die vorliegende Studie auch für die zu den mit Göttingen in Kontakt stehenden Städte zwischen Erfurt, Heidelberg und Lübeck forschenden Historikerinnen und Historikern von großem Interesse sein. Dieser Anhang ist gleichzeitig auch die beste Begründung, warum Dieter Neitzerts Studie eben nicht nur als ein umfangreicherer Aufsatz publiziert gehörte, sondern als Monografie. Er selbst schließt mit den Worten: „Es ist zu hoffen, dass die vorgelegte Studie eine Fortführung der Kommunikations- und Raumforschung wird unterstützen können und dass sich im veröffentlichten Material durch späteren Zugriff dazu Ansatzpunkte werden finden lassen.“ (75) Dieter Neitzert hat selbst die Grundlagen für positive Aufnahme dieser seiner Arbeit gelegt. 1
Heinz-Dieter Heimann: Brievedregher. Kommunikations- und alltagsgeschichtliche Zugänge zur vormodernen Postgeschichte und Dienstleistungskultur. In: Helmut Hundsbichler (Hg.): Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-Hist. Klasse, Sitzungsberichte 596 = Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 159), Wien 1992, 251–292 sowie Heinz-Dieter Heimann: Zum Boten- und Nachrichtenwesen im niederrheinischen Raum, vornehmlich der Stadt Köln im Spätmittelalter. Aus der Werkstatt eines Forschungsprojekts. In: Geschichte in Köln. Studentische Zeitschrift am Historischen Seminar 28 (1990), 31–46 und vor allem Klara Hübner: Im Dienste der Stadt. Boten- und Nachrichtenorganisationen in den schweizerischoberdeutschen Städten des späten Mittelalters (Mittelalter-Forschungen 30), Ostfildern 2012.
Max Grund M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 173–175 Michael Bühler Existenz, Freiheit und Rang. Handlungsmuster des Ortenauer Niederadels am Ende des Mittelalters (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen 222), Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2019, XXVI + 344 S., 1 ausklappbare Farbtaf., ISBN 978-3-17-035360-2, 32,00 EUR. In seiner an der Universität Freiburg bei Prof. Dr. Andreas Bihrer eingereichten Dissertation untersucht Michael Bühler die Geschichte des Ortenauer Ritteradels vom 14. Jahrhundert an bis zur Entstehung des Ritterkantons Ortenau im Jahre 1542 bzw. bis zum Ende der frühen Reformationsphase 1555. Ihm geht es dabei darum, verschiedene von unterschiedlichen ritteradeligen Familien nahezu zeitgleich verwendete Verhaltensweisen (Handlungsmuster) zu identifizieren und zu erläutern, die geeignet waren, erfolgreich auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu reagieren. Als solche benennt er Gruppenbildung, Lehen, Ämter und Dienste, Kriegswesen, Heiraten, Kirchen-, Kloster- und Stiftungsverhalten sowie wirtschaftliche Anpassungen. Wichtig ist ihm dabei, dass er diese nicht nur isoliert in ihrer Wirkmächtigkeit beschreibt, sondern jeweils deren Zusammenspiel mit in den Blick nehmen möchte. Als elementare Ziele der Ritteradeligen postuliert er die Trias Existenz, Freiheit und Rang. Die erwähnten Handlungsmuster will er danach bewerten, wie wirksam sie für das Erreichen dieser Ziele waren. Existenz meint die Schaffung bzw. Beibehaltung der wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Erhalt des Geschlechts; Freiheit erklärt sich am besten durch den Gegenbegriff „Landsässigkeit“ bzw. die Option möglichst unabhängig zwischen den unterschiedlichen politischen (besser wohl territorialen) Mächten agieren zu können. Der Begriff „Rang“ schließlich zielt auf Verhaltensweisen, die der Vergewisserung bzw. des Erhalts adeligen Selbstverständnisses in der Gesellschaft dienen. Vollmundig kündigt der Autor mit Verweis auf die gegenseitige Bezugnahme der Handlungsmuster an, dass „erstmals ein zusammenhängender Überblick für eine Adelslandschaft entstehen [soll] und somit eine Art Gesamtbild niederadeliger Verhaltensweisen im Spätmittelalter und der beginnenden Frühen Neuzeit.“ (7) Diesem Anspruch kann der Autor, trotz allen Bemühens um die nachvollziehbare und akkurate Auswertung seiner Quellen, aber nicht genügen. Dazu fehlten, wie der Autor an mehreren Stellen selbst beklagt, in vielen Bereichen die nötige Quellenmenge und -tiefe. Schwerer wiegt aber, dass – wenn schon ein solcher Anspruch erhoben wird – zentrale Elemente ritteradeliger Existenzen wie die Familienstrukturen und Familienverbandsbildungen oder wie der Auf- und Ausbau der Grund- und Gerichtsherrschaften (adelige Herrschaft) nicht oder nur am Rande in den Blick genommen werden. Gleiches gilt für die existenzsichernden wirtschaftlichen Grundlagen adeliger Lebensweise, die gerade einmal auf zweieinhalb Seiten abgehandelt werden. Was die Arbeit leistet, ist für eine weitere Adelslandschaft im Alten Reich, der Ortenau, anhand ausgewählter Kriterien und beobachteter Verhaltensmuster aufzuzeigen, wie der Ritteradel politisch, sozial und wirtschaftlich im Spiel der Territorialmächte versuchte, eine unabhängige
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Stellung zu erhalten. Dabei bedient sich Bühler zur besseren Einordnung der eigenen Erkenntnisse des vergleichenden Ansatzes, indem er immer wieder insbesondere Kurt Andermanns reichhaltige und tiefgründige Forschungen zum Ritteradel im Kraichgau heranzieht. Auch wenn der Autor richtigerweise gegen eine Hierarchisierung der von ihm berücksichtigten Verhaltensweisen bzw. Anpassungsleistungen argumentiert, so räumt er der ritteradeligen Gruppenbildung in seiner Darstellung breiten Raum ein. Schlossen 25 Ortenauer Ritter und Edelknechte 1474 noch einen Einungsvertrag mit Markgraf Karl von Baden, so erfolgten die Verlängerungen ab den 1490er Jahren auf rein genossenschaftlicher Basis, ein wichtiger emanzipatorischer Akt. Es ist deshalb zu loben, dass der Autor die verschiedenen Aktivitäten der Einung im regionalen Rahmen oder in Beziehung etwa zum Reich detailliert herausarbeitet. So lässt sich am besten verstehen, dass sich der Ortenauer Ritteradel als eine Gruppe verstand, die gewillt war, ihre Interessen zu bündeln und ihre Handlungsspielräume zu erweitern. Seine Erkenntnisse möchte der Autor mit einer Neubewertung, einer neuen Betonung des Werts der niederadeligen Einung verknüpfen. Seiner Meinung nach hätte die Forschung das Phänomen niederadeliger Gruppenbildung zuletzt zu stark auf die Adelsgesellschaften eingeschränkt. Bühler setzt dem die aus den Quellen zu erschließende gleichzeitige Existenz verschiedener Gruppenbildungsformen entgegen und fordert dazu auf, diese im landschaftlichen Vergleich darzustellen. Inhaltlich ist diesem Ansatz voll zuzustimmen, nicht jedoch der Einschätzung der Forschungssituation. Anstatt mit Blick auf die Kieler Arbeiten zu den Adelsgesellschaften von einer Einengung der Forschung auf diese zu sprechen, hätte sich für Bühler hier die Chance zum Vergleich seiner Quellen mit dem zeitgleichen, facettenreichen Einungswesen des fränkischen Adels angeboten, das in der Forschung (Robert Fellner, Ernst Schubert, Cord Ulrichs, Klaus Rupprecht) ausführliche Darstellungen erfahren hat. Insbesondere die Einungsverträge von 1494 und deren Folgeverträge hätten hier reichhaltiges Vergleichsmaterial geboten. In der Folge widmet sich der Autor den weiteren Lebensbereichen bzw. Verhaltensweisen des Ortenauer Niederadels und setzt diese in Bezug zu der von ihm proklamierten Trias, immer wieder aber auch zu deren Beitrag zur Gruppenbildung. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse unterscheiden sich nicht groß von jenen in anderen Regionen, in welchen der Ritteradel langfristig in die Reichsunmittelbarkeit strebte. Dazu gehört etwa im Bereich des Lehnswesens die Tendenz zur Stärkung der Mehrfachvasallität, um der Gefahr zu entgegnen, dass sich ein Adeliger, eine Familie, zu stark an einen Fürsten band. Betont wird auch die wachsende Bedeutung der Ämter und Dienste an den Fürstenhöfen für den Ritteradel, wobei zugleich auf eine zunehmende Anzahl an möglichen Dienstherren geschaut wurde. Auf der Basis von ca. 300 Heiraten im Ortenauer Ritteradel beschäftigt sich Bühler intensiv mit dem Heiratsverhalten, ohne dass ihm jedoch die Heiratsverträge als Quelle in ausreichender Zahl vorgelegen hätten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das Heiratsverhalten gruppenbildend, identitätsstiftend und die Exklusivität des Standes sichernd war. Als Anpassungsleistungen erwähnt er etwa regionale Neuausrichtungen in Richtung Elsass oder der Stadt Straßburg (aber auch der Pfalz) und die Absorption bürgerlich-patrizischer Schichten. Zu weniger eindeutigen Ergebnissen kommt der Autor in den Bereichen Kriegswesen, Kirchen-, Kloster- und Stiftungsverhalten sowie wirtschaftlicher Anpassungen. Sein Vorgehen ist –
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und das macht diese Arbeit für die Regionalforschung sicherlich wichtig –, für die Einzelfamilien jeweils die Befunde darzulegen und zusammenzufassen, doch fehlt häufig, wie er selbst oft genug beklagt, die notwendige Quellenbasis. Das Bemühen um die so wichtigen Beziehungsnetzwerke im kirchlichen Bereich war zwar gegeben, Stiftungen wurden im lokalen und regionalen Umfeld für Zwecke der Memoria und der Familienversorgung getätigt, doch waren die Voraussetzungen im Vergleich zu anderen Regionen schlechter. Dazu gehörte etwa der geringe Zugang zu Domkapitelspfründen und die fehlende Anzahl an eigenen Patronatskirchen. Der Befund in Bezug auf das Engagement in der Frühphase der Reformation reiht sich ein in bekannte Muster (uneinheitlich, zögerlich). Im Bereich Kriegswesen vermischt Bühler Sachverhalte, die sich unter diesem Punkt eigentlich kaum subsumieren lassen. Die hier zu beachtenden Aspekte, Söldnerdienste und Beteiligung an Lehensaufgeboten, kann er quellenmäßig kaum fassen und damit bewerten. Dass das Führen von Fehden oder die Beteiligung daran eigentlich unter ganz anderen, nämlich ständisch-rechtlichen Aspekten zu bewerten wäre, führt er zwar an, behandelt diese aber viel zu kurz. Wichtig ist ihm zudem die Erkenntnis, dass der Niederadel im späten Mittelalter und im 16. Jahrhundert sich verstärkt von der Burg in die Stadt zurückzog, was er mit dem Besitz an adeligen Stadthöfen begründet. Ganz schlüssig scheint diese These jedoch nicht, denn eine diesbezügliche Tendenz müsste zunächst einmal durch Antworten auf Fragen wie etwa, seit wann besitzen die Adeligen diese Höfe, welche Funktionen besaßen diese Höfe für sie und wie wurden sie tatsächlich genutzt, geklärt werden. Zugleich kann der Autor auch den vermeintlichen Widerspruch zwischen dem – ohne konkrete Belege behaupteten – Funktionsverlust der eigenen Amtsburg, dem Hinwenden zu den Städten und dem doch gleichzeitigen Ausbau der Burgen zu repräsentativen Schlössern und Residenzen (216 f.) nicht plausibel aufklären, da er keine Fälle solcher Ausbauten behandelt. Überhaupt scheint mir die These, dass sich der Niederadel den Städten gegenüber öffnete, was sich in der Arbeit im Grunde nur auf Straßburg bezieht, auf sehr wackeligen Beinen zu stehen. Die Arbeit, die dankenswerterweise über ein Orts- und Personenregister verfügt, schließt mit ausführlichen Anhängen zu den Mitgliedern der Einungen zwischen 1446 und 1542, den von ihm aus den Quellen herausgearbeiteten Eheverbindungen im Ortenauer Ritteradel sowie einem Nachdruck der Einungsurkunde der Ortenauer Ritterschaft von 1474. Dr. Klaus Rupprecht Staatsarchiv Bamberg, Hainstraße 39, 96047 Bamberg, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 176–177 Klaus Alberts Dithmarscher Freiheit. Das Land und seine Herrschaft von Karl dem Großen bis zu Kaiser Karl V. Heide: Boyens Buchverlag, 2020, 136 S., 56 farb. Abb., ISBN 978-3-8042-1534-4, 24,95 EUR. Klaus Alberts ist innerhalb Schleswig-Holsteins regionalhistorischer Community kein Unbekannter. Der promovierte Jurist veröffentlichte mehrere Werke zu zentralen Themen der schleswig-holsteinischen Geschichte, unter anderem zur Volksabstimmung von 1920, die zur Festlegung der heute noch existierenden deutsch-dänischen Staatsgrenze führte. Nun wendet sich Alberts einem ganz anderen, gleichwohl nicht minder spannenden Thema zu: der Geschichte der Dithmarscher Freiheit und der damit verbundenen „freien Bauernrepublik“, die in der sogenannten Letzten Fehde von 1559 ihr Ende fand. Die Dithmarscher Geschichte ist Alberts nicht fremd, hat er sich doch bereits 1978 in tiefschürfender und Respekt erheischender Weise mit den Dithmarscher Landrechten von 1447 und 1539 befasst.1 Wie man bei der Lektüre gleich zu Anfang des neuen Buches erfährt, wuchs Alberts in Meldorf in Dithmarschen auf, wo ihm gewissermaßen von Kindesbeinen an vermittelt wurde, „dass Dithmarschen etwas Ungewöhnliches sei“ (8). Diese Besonderheit möchte der Verfasser nun entschlüsseln. Er verfolgt dabei einen hohen Anspruch, denn „in dieser Form [sei das Thema] bisher noch nicht aufgearbeitet“ worden (7). Wie der Untertitel zum Werk besagt, spannt Alberts seinen Bogen denkbar weit von der Karolingerzeit bis zum 16. Jahrhundert und, wenn man sich den kurzen Ausblick am Schluss vergegenwärtigt, sogar noch weiter, bis in die preußische Zeit. Zunächst nähert er sich seinem Vorhaben lexikalisch über das Lemma Dithmarschen im einschlägigen Brockhaus-Artikel (16. Auflage) an, der ihm als Kind als gar nicht schlecht gewählte Informationsquelle diente (8–11). Dieses lexikalische Fundament erweitert Alberts sodann einführend um einen Blick auf die beiden Schreiben Kaiser Friedrichs III. vom 28. Mai 1473 bezüglich der Übertragung Dithmarschens an König Christian I. von Dänemark, woran sich folgerichtig die Frage anschließt: Wie frei war Dithmarschen eigentlich (12–15)? Dann eilt der Verfasser von den geografischen Gegebenheiten (16–23) über die schon erwähnte Karolinger- und folgende Ottonen- und Salierzeit (24–41) inklusive Seitenblick auf die Billungerherzöge als „Paladine des Königs“ (42 f.) und weiter über die Verbindungen zu den Grafen von Stade (44–55) und die an ihrer Position im Buch etwas verlorene Missionszeit (56–63) zu den Beziehungen zur Bremer und Hamburger Kirche (64–83), gefolgt von Ausführungen zum Verhältnis zu Holstein und zum Gottorfer Herzog Adolf I. als dem „Liquidator der Dithmarscher Freiheit“ (84–104, hier 99) und einem Kapitel zur Reformationszeit, das mit dem „Vergehen (der) alten Ordnungen“ überschrieben ist und hinsichtlich der Chronologie gut und gern auch einen Abschnitt vorher hätte angesiedelt werden können (104–115). „Dithmarscher Freiheit – Was war, was wurde“ lautet die Überschrift zum Schlusskapitel, worin nochmals die Kerngedanken des Buchs zusammengeführt und die „einmalige Ordnung“ Dithmarschens bis 1559 unterstrichen werden (116–125). Ein Literaturverzeichnis (126–130) sowie ein Bildnachweis (131) beschließen den Band.
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Das lobenswert gründlich redigierte und mit zahlreichen großformatigen Farbabbildungen und großzügigem Satzspiegel ansprechend gestaltete Buch ist schwungvoll und verständlich geschrieben. Dass die kundige Leserschaft natürlich die meisten der Abbildungen aus anderen Zusammenhängen oder Boyens-Büchern schon kennt – das gilt insbesondere für die schönen Karten des Boyens-„Hausautors“ Dirk Meier –, tut der Übersichtlichkeit keinen wesentlichen Abbruch. Alberts pflegt einen journalistischen Schreibstil im Präsens, was der geschichtlichen Darstellung sicher gewollt den Charakter eines auf seine Art packenden historischen Romans verleiht. Dies verschafft einem Lesepublikum, das bisher wenig bis gar nichts von der Materie wusste oder verstand, einen leichteren Zugang zu Dithmarschens Vergangenheit – und dieses Lesepublikum steht wohl auch im Blickfeld von Autor und Verlag. Die Geschichtsinteressierten aber, die sich schon vorher mit der aufregenden und wichtigen Dithmarscher Geschichte befasst haben, sind ob der vollmundigen Verlagsankündigung, in dem neuen Buch werde die Dithmarscher Freiheit nicht nur behauptet, sondern auch begründet, baff erstaunt. In dieser romanesken Form gab es eine solche bunte Aufarbeitung der Dithmarscher Geschichte vielleicht wirklich noch nicht. Allerdings kann Alberts‘ Publikation an Inhalt, Tiefenschärfe und Aussagekraft bereits vorliegenden (und auch bei Boyens erschienenen) Büchern wie der Geschichte Dithmarschens aus dem Jahr 2015 dann doch nicht das Wasser reichen.2 Und es ist zumal Vorsicht geboten: Markige Sätze wie „Fremde Herrschaft kannte Sachsen nicht, nur seine eigene“ zur Charakterisierung der Verhältnisse vor der Zeit der Sachsenkriege Karls des Großen (29) klingen nicht nur nach Geschichtsdarstellungen älterer (überwunden geglaubter) Zeiten, sondern sind auch faktisch problematisch. Und wenn, wie leider so oft, an anderer Stelle falsch geschrieben steht, dass Dithmarschen unter die Botmäßigkeit Dänemarks geraten war (84) – was etwas anderes ist als sachlich richtig die Botmäßigkeit des dänischen Königs –, und dass nach Bornhöved 1227 „Dänemarks Rolle als nordeuropäische Großmacht endgültig erledigt“ gewesen ist (Ebenda) – was ist mit dem Dänemark im 14., 15., 16. und 17. Jahrhundert? –, dann wird erkennbar, dass die Darstellung im Detail doch ihre qualitativen Schwachstellen hat, die bei aller Freude an der Buntheit von Alberts‘ Wort und Bild doch einen zwiespältigen Gesamteindruck hinterlassen. Dithmarscher Freiheit – was war, was wurde: da geht noch was. 1 2
Klaus Alberts: Friede und Friedlosigkeit nach den Dithmarscher Landrechten von 1447 und 1539, Heide 1978. Martin Gietzelt (Red.): Geschichte Dithmarschens. Von den Anfängen bis zum Ende der Bauernrepublik, Heide 2015.
Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 178–180 Martin Zwirello Die sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Beziehungen zwischen den oberschwäbischen Reichsstädten Ulm, Biberach und Ravensburg und ihren geistlichen Institutionen im Spätmittelalter Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2018, XXXIV + 279 S., ISBN 978-3-86764-871-4, 59,00 EUR. Martin Zwirello hat sich die drei oberschwäbischen Reichsstädte Ulm, Biberach und Ravensburg ausgewählt, um herauszufinden, welchen Einfluss die Städte auf die Entwicklung ihrer geistlichen Institutionen nahmen, die sich in ihrem Stadtgebiet befanden. Seine Entscheidung für diese drei Reichsstädte begründet er damit, dass sie als Reichsstädte über einen Grad der Autonomie verfügten, der eine eigenständige städtische Kirchenpolitik begünstigte und dass in allen Städten durch den Fernhandel mit Barchent und Leinwand wohlhabende Kaufleute anzutreffen waren, welche sich durch großzügig bemessene fromme Stiftungen hervortaten. Insbesondere anhand der frommen Stiftungen zu Gunsten der geistlichen Institutionen möchte er aufzeigen, wie sich dieselben entwickelten und welchen Einfluss die Stadträte auf die Vorstandswahlen und das bürgerliche Stiftungsverhalten nahmen und das bürgerliche Stiftungsverhalten kontrollierten. Dabei geht er den Unterschieden von Stadt zu Stadt nach und untersucht die geschichtliche Entwicklung der kirchlichen Institutionen selbst und ihre soziale Zusammensetzung im Einzelnen. Als geistliche Institutionen versteht er (Pfarr-)Kirchen, Kapellen, in der Stadt selbst und zum Teil auch in der näheren Umgebung angesiedelte Klöster, klösterliche Pfleghöfe, Beginen- und Terziarinnensammlungen sowie allgemeine und Sondersiechenspitäler; ebenfalls von Bürgern begründete Spitäler, an denen Spitalbruderschaften bestanden. Für Ulm beleuchtet er die außerhalb des engeren Stadtbereichs gelegene Abtei Wiblingen, für Ravensburg die Klöster Weingarten und Weißenau. Zeitlich konzentriert sich die Arbeit auf das Spätmittelalter seit dem Ende des Interregnums bis zur Einführung der Reformation oder auch der konfessionellen Parität, also von 1273 bis ca. 1530/1545. Wesentliche Grundlage für seine Arbeit sind die reichhaltig vorhandenen Archivbestände und die Detailuntersuchungen zu den genannten kirchlichen Institutionen und Städten. Im Überblick stellt er die annähernd 100 geistlichen Institutionen und in Beziehung zur jeweiligen Stadt und ihren Bürgern dar. Dabei treten die jeweiligen Beziehungsgeflechte und Einflusssphären deutlich zum Vorschein. Nach Zusammenführung all der Einzelergebnisse kommt Zwirello zum Schluss, dass die drei untersuchten Städte im Spätmittelalter einen großen Einfluss auf die Entwicklung ihrer geistlichen Institutionen nahmen, die sich im Stadtgebiet befanden. Der Einfluss drückte sich in frommen Stiftungen aus, welche die Städte, Bürger oder Korporationen zur Gründung neuer Institutionen, zur Ansiedlung von Mendikantenkonventen oder zur Förderung bereits bestehender Institutionen schenkten. Zu den Adressaten besonders vieler frommer Stiftungen gehörten die Heiliggeist-
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spitäler, die Pfarrkirchen und Bettelordensklöster. Für Ulm konnte Zwirello nachweisen, dass besonders das neue Münster, ab 1377 ließ der Rat nur noch Stiftungen für den Münsterbau zu, in Biberach das in erster Linie geförderte, seit 1320 kommunalisierte Heilig-Geist-Spital und in Ravensburg die Karmeliterkirche im Fokus des städtischen Interesses standen. Die enge Verbindung der Biberacher zum Spital hing damit zusammen, dass die Stadt die Stelle des Spitalpriesters in der Spitalkapelle selbst und aus den eigenen Reihen besetzen konnte, in Ravensburg entwickelte sich die Karmeliterkirche mit einer großen Zahl an Stiftungen und bedeutenden Grablegen im Unterschied zu den beiden Pfarrkirchen zum Ort der bürgerlichen Selbstbestimmung. Mit vielen stichhaltigen Beispielen gelingt es Zwirello nachzuweisen, dass die „drei Städte […] mit der Zeit durch das Instrument der Kirchenpflegschaft bzw. Kommunalisierung der Spitäler in erster Linie Kontrolle über das Vermögen der Anstalten [gewannen]. Sie nahmen aber auch Einfluss auf die Wahlen der Klostervorsteher. Eine besonders intensive Kirchenherrschaft konnte sich dabei Ulm aufbauen, insbesondere durch den Erwerb des Kirchenpatronats am Münster im Jahre 1446. Aber auch Ravensburg konnte bei allen kirchlichen Institutionen ihr Vermögen zu Lasten der Abteien Weingarten und Weißenau beaufsichtigen“ (275). Im Hinblick auf das Wirken der geistlichen Institutionen für die Städte und ihre Bürger konnte Zwirello nachweisen, dass insbesondere die Aspekte der Seelsorge, der Krankenpflege, der Fürsorge für die Sterbenden und die Fürbitte für das Seelenheil der Verstorbenen großes Gewicht hatten. Dies gilt ausdrücklich auch für die Bettelorden, welche durch die Seelsorge der Mönche durch Predigt, Beichte und Bestattungen auf den klostereigenen Friedhöfen eine große Rolle spielten. Am Ende seiner Untersuchung bringt Zwirello seine Ergebnisse folgendermaßen auf den Punkt: „Insgesamt kann man sagen, dass sich die Beziehungen der untersuchten Städte Ulm, Biberach und Ravensburg zu ihren geistlichen Institutionen im Falle von Ulm in einer besonderen städtischen Förderung des neuen Münsterbaus, […] und in Einflussnahmen auf die Wahlen der Vorgesetzten und auf die Rechnungslegung äußerten. Im Falle von Biberach handelte es sich um eine besondere städtische Förderung des Spitals und dadurch bedingt um eine Behinderung der Entstehung von Klöstern und sonstigen Konventen durch den Rat. In Ravensburg hingegen wurden diese Beziehungen durch die Interessen der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft geprägt, indem die Geschäfte dieser bedeutenden Gesellschaft durch die ständigen Gebete der Franziskanerinnen geistlich abgesichert werden sollten und indem die Gesellschaftskapelle und die Grabkapelle der an der Gesellschaft beteiligten Kaufmannsfamilien Humpis und Mötteli ihren Platz in der Karmelitenkirche fanden.“ (277 f.) Lange Zeit standen nach den Untersuchungen Zwirellos in allen drei Städten jeweils mindestens ein auswärtiges Kloster der Herausbildung einer eigenen städtischen Autonomie in Kirchenangelegenheiten entgegen, in Ulm das Kloster Reichenau, in Biberach die Abtei Eberbach und in Ravensburg die zwei bedeutenden Abteien Weingarten und Weißenau. Durch die akribische Aufarbeitung der Geschichte der kirchlichen Institutionen und der jeweils bestehenden Beziehungsgeflechte zu den Städten und Stadtgesellschaften gelingt es Martin Zwirello erstmals in einer großen Gesamtschau darzustellen, wie sich die Beziehungen zwischen
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den drei spätmittelalterlichen Reichsstädten und ihren geistlichen Institutionen gestalteten. Dies ist das große Verdienst seiner Arbeit. Prof. Dr. Andreas Schmauder Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Kulturzentrum Festung Ehrenbreitstein, Landesmuseum Koblenz, 56077 Koblenz, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 180–183 Benjamin Müsegades, Ingo Runde (Hg.) Universitäten und ihr Umfeld. Südwesten und Reich in Mittelalter und Früher Neuzeit. Beiträge zur Tagung im Universitätsarchiv Heidelberg am 6. und 7. Oktober 2016 (Heidelberger Schriften zur Universitätsgeschichte 7), Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019, 276 S., ISBN 978-3-8253-6846-3, 25,00 EUR. Die Universität als Personengemeinschaft ist dasjenige Tableau, so konstatierte Peter Moraw in seinem grundlegenden Aufsatz aus dem Jahr 1982, auf welchem sich die drei Dimensionen der Universitätsgeschichte, bestehend aus der Institutionen-, der Gelehrten- und der Disziplingeschichte, am übersichtlichsten und überzeugendsten darstellen lassen.1 Ein Defizit innerhalb der deutschen Universitätsgeschichte, welches lange Zeit beklagt wurde und wird, besteht in der fehlenden Verbindung dieser drei Untersuchungsfelder. Innovativ verfolgt der aus einer Heidelberger Tagung aus dem Jahr 2016 hervorgegangene Sammelband, mit insgesamt zehn Beträgen, eben dieser Forderung der neueren Universitätsgeschichte nach einer Verknüpfung der drei zentralen Bereiche gerecht zu werden. Die thematische Fülle des universitären Lebens, die im vorliegenden Sammelband vorweg als Umfeld definiert wird, erstreckt sich auf Personen, Gruppen, Institutionen und Strukturen, die mit den Mitgliedern der Universitäten agierten. Mit einem besonderen Schwerpunkt auf den Universitäten Freiburg, Heidelberg und Tübingen im Zeitraum vom 14. bis zum frühen 19. Jahrhundert greifen die einzelnen Beiträge die Trends der aktuellen Universitätsgeschichte, wie beispielsweise empirisch-sozialstatistische Studien, wissenschaftsbiografischen und fach- bzw. institutionengeschichtlichen Arbeiten, die Geschichte der Studentenschaft oder den Beziehungen zwischen Universität und Stadt, gewinnbringend auf. Dem Leser der pointierten Beiträge erschließt sich auf diese Weise ein umfassender Blick auf die drei Teilbereiche 1. Landesherrschaft und Territorium, 2. Stadt und 3. Kirche, Geld und Gelehrte. Nach einer konzisen Einleitung von Benjamin Müsegades zu „Universitäten und ihr Umfeld“, die einen aktuellen und überwiegend deutschsprachigen Forschungsstand zur Universitätsgeschichte bietet, schließt der Beitrag von Nina Gallion zur Universitätsgründung in Tübingen an. Der Landesherr Eberhard V. stiftete nicht nur die Universität, sondern blieb mit ihr zeitlebens eng verbunden. In einer profunden Darstellung der Ereignisse arbeitet die Autorin die Gründungsmotive und das Engagement des Landesherrn heraus und verdeutlicht gleichzeitig, wie tief die
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Tübinger Universität in den gesamtherrschaftlichen Kontext eingebunden war. Anhand ausgewählter biografischer Fallbeispiele städtischer Führungsgruppen Württembergs wird deutlich, dass sich die Hochschule auf wirtschaftlicher, rechtlicher und personeller Ebene mit der Stadt und dem Land verband und quasi zu einem „Kristallisationspunkt“ im Territorium der Landesherrschaft wurde.2 Ebenso detailliert analysiert Ingo Runde im anschließenden Beitrag die Universität Heidelberg im Kontext von Politik, Religion und Wissenschaft. Auf der Grundlage einer umfangreichen Quellenarbeit illustriert der Autor zunächst die einzelnen Schritte der Heidelberger Universitätsgründung im Jahr 1386. Im Verlauf der Ausführungen folgen die Leserinnen und Leser der Genese anhand zahlreicher Statutenänderungen, die im Laufe der Jahrhunderte nicht nur tiefgreifende Einschnitte und Veränderungen innerhalb der Universitätsstruktur hinterließen, sondern auch einen enormen Einfluss auf die städtischen, gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse der territorialen Bereiche ausübten. Den Abschluss der ersten Sektion bildet der Beitrag von Dieter Speck zu den zahlreichen Reformbewegungen der Universität Freiburg. Der Verfasser untersucht dabei die Frage, wie sich die Hochschule von einer reformfeindlichen zu einer „pro-habsburgischen“ und damit reformwilligen Hochschule wandeln konnte. Nach ihrer Gründung im Jahr 1457 erlebte die Universität zunächst eine glanzvolle Blütephase, die, bedingt durch eine strategische „Randzone“ und permanente Rivalitätskämpfe, nach etwa 100 Jahren endete. Als Opfer der konfessionellen Spaltung der Territorien versuchte die Hochschule mit einem Reformversuch im Jahr 1716 einen ersten Befreiungsschlag. Trotz einer enormen Abwehrhaltung der Freiburger Professorenschaft und des Senats gegenüber erneuten Reformanregungen des Wiener Hofs, mussten sich diese schlussendlich einer Zwangsreform der Jahre 1767/68 beugen. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wandelte sich die Position der Universität Freiburg. Bedingt durch den sowohl organisatorischen Neubeginn als auch einem fast vollständigen Austausch des Lehrkörpers entwickelte sich die Akademie von einer reformfeindlichen zu einer „pro-habsburgischen“ Hochschule. Den Auftakt zum Themenschwerpunkt „Stadt“ bildet der Aufsatz von Andreas Büttner, der sich anhand zweier Auseinandersetzungen zwischen Studenten und der Stadtbevölkerung, sowohl dem Grad als auch der Art der Beziehung von Universität und ihrem Umfeld nähert. Im Zentrum der Ausführungen stehen die beiden größeren gewaltsamen Konflikte aus der Anfangszeit der Universität Heidelberg (1406 und 1422), die der Autor hinsichtlich ihrer Überlieferung, ihrem Anlass und ihrem Verlauf untersucht. Mit dieser Art von Streitigkeiten und Vergehen, so konstatiert der Verfasser am Ende seines Beitrags, stand die Universität Heidelberg nicht alleine da. Das Spektrum zwischen Kooperationen und Konflikten untersucht Jana Madlen Schütte am Beispiel akademischer Ärzte und anderen unterschiedlichen Akteuren des Marktes wie Badern, Barbieren und Wundärzten. Dabei stellt sie erfolgreich heraus, dass verschiedene Parameter über das Geschehen und die Situation entschieden: Auf beiden Seiten waren sowohl das persönliche Ansehen, das städtische Netzwerk als auch der Behandlungserfolg ausschlaggebend für das Zustandekommen einer Kooperation oder eines Konflikts. Von Kooperation und Konflikt handelt auch der anschließende Beitrag von Manuel Kamenzin, der die beiden Pole in der Person des Theophrastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, ver-
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eint sieht. Der Gelehrte, der gleichermaßen in Kooperation und Konflikt mit den Universitäten stand, wird durch die Untersuchung seines Bildungswegs, seiner Lehrtätigkeit in Basel sowie die Folgen des Nürnberger Druckverbots im Umfeld der Hochschulen neu verortet. Die dritte und damit abschließende Sektion vereint vier Beiträge zum Themenkomplex „Kirche, Geld und Gelehrte“. Der Frage, welche kirchenpolitischen, wirtschaftlichen und personellen Kooperationen die Universität Heidelberg in ihrer Gründungsphase zur Kirche des Spätmittelalters pflegte, geht der Beitrag von Heike Hawicks nach. Sicher ist, so konstatiert die Autorin nach ihren detailreichen Ausführungen zu den personellen Netzwerken der Universität im kirchlichen Umfeld, dass sich die Existenzgrundlage der Heidelberger Hochschule nur auf der Unterstützung des Kurfürsten und der päpstlichen Beauftragten bilden konnte. Der anschließende Beitrag von Wolfgang Eric Wagner widmet sich einem bislang nur in Teilaspekten erörterten aber einem generell relevanten und spannenden Thema universitätsgeschichtlicher Forschung: Am Beispiel der Universität Heidelberg betrachtet der Autor Kalender und Zeitpläne (kalendarische Aufzeichnungen, statutarische Festlegungen, Universitäts- und Fakultätsbeschlüsse etc.), um das akademische Jahr im Kontext individueller Zeitkonstruktion einer sozialen Gruppe zu analysieren. Durch die Betrachtung der Genese des akademischen Jahres und die Analyse der praktischen Umsetzung der kalendarischen Vorgaben durch Feste und Unterricht verdeutlicht der Verfasser, dass der akademische Kalender neben vielen pragmatischen Zwecken vor allem ein „gemeinschaftsstiftendes Sinnzentrum“ (204) für die Universitätsmitglieder darstellte. Maximilian Schuh untersucht in seinem Beitrag die Kontakte und Beziehungen zwischen der bayrischen Landesuniversität in Ingolstadt, gegründet 1472, und dem Südwesten des Reiches. Durch die Orientierung der Hochschule an den Universitäten in Wien und Leipzig teilte sich auch in Ingolstadt, nach Basler Vorbild, die Artistenfakultät in die zwei philosophischen Ausrichtungen: der via moderna und der via antiqua. Möglicherweise, so konstatiert der Autor in seinem Fazit, lässt sich auch anhand dieses Modells, zumindest für die Ingolstädter Anfangsjahre, die Herkunftsgliederung der Magister abbilden. Den Abschluss des Sammelbandes bildet der Aufsatz von Elisabeth Heigl zur regionalen Kapitalvergabe am Beispiel der vormodernen Universitäten Heidelberg und Greifswald. Die Autorin bietet einen spannenden Einblick in einen bislang weitgehend unbekannten Forschungsgegenstand des akademischen Finanzwesens anhand zweier Topoi: den Stipendien/ Stiftungen und der Verschuldung frühneuzeitlicher Universitäten. Zusammenfassend erläutert sie im Fazit, dass der akademische Kapitalhandel ein hochkomplexes System aus administrativen, juristischen und sozialpolitischen Abhängigkeiten darstellte, welches die Universität eng mit ihrem regionalen Umfeld verband und sie zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor machte. Für die Nutzbarkeit des Sammelbandes haben die Herausgeber sowohl ein Personen- als auch ein Ortsregister bereitgestellt. Der überaus ansprechend lektorierte Band liefert in vielerlei Hinsicht wertvolle Beiträge zur gegenwärtigen Forschungsdiskussion und stellt durchweg einen Gewinn für die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte der Vormoderne dar. 1
Peter Moraw: Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte. In: Ders., Volker Press (Hg.): Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, Marburg 1982, 1–45.
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Auch Sylvia Paletschek bescheinigte in ihrer Studie zur Universität Tübingen, allerdings für einen deutlich späteren Zeitraum, der Hochschule eine besondere Eigenheit: „Da sie die einzige Landesuniversität war, fehlte eine innerstaatliche Fluktuation des Personals, das schlug sich auf die Nachwuchschancen nieder. Und als dominierender Faktor einer wenig industrialisierten Kleinstadt bestimmte sie die urbane Geselligkeit und knüpfte die sozialen Netzwerke.“ Vgl. Sylvia Paletschek: Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, (Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte), Stuttgart 2001.
Dr. Swantje Piotrowski Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 183–186 Katharina Hülscher Das Statutenbuch des Stiftes Xanten (Die Stiftskirche des Heiligen Viktor zu Xanten. Neue Folge 1), Münster: Aschendorff Verlag, 2018, 710 S., ISBN 978-3-402-13254-8, 86,00 EUR. Auf dem Gebiet der Kloster- und Stiftskirchenforschung haben in den vergangenen Jahren mehrere umfangreiche Handbücher, darunter das 2019 erschienene „Handbuch der Stiftskirchen in Baden-Württemberg“ (Herausgeberschaft: Sönke Lorenz (†), Oliver Auge, Sigrid Hirbodian) und das zweibändige, im selben Jahr publizierte „Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg“, verantwortet wiederum von Oliver Auge zusammen mit Katja Hillebrand, gezeigt, dass kirchliche Institutionen vielfach noch erhebliches mediävistisches Forschungspotenzial aufweisen.1 Eingehende Untersuchungen können Aufschluss darüber geben, wie das Verhältnis zwischen mittelalterlichem weltlichen und geistlichen Leben ausgesehen hat und welche Charakteristika insbesondere Letzterem und seinen jeweiligen Beteiligten innewohnten. An diesem Punkt setzt Katharina Hülschers 2018 im Druck erschienene Dissertation an: Im Mittelpunkt steht das Statutenbuch des St. Viktor-Stifts zu Xanten, das im Jahr 1490 vom damaligen Dekan Arnold Heymerick niedergeschrieben wurde und daher auch als Repertorium Decani bekannt ist. Hülscher hat sich der Aufgabe gestellt, das bislang noch nicht gedruckte Statutenbuch erstmals zu edieren und mit umfangreichen begleitenden Einordnungen und Auswertungen zu versehen. Neben der Edition, die nach gut 200 Seiten beginnt und somit einen erheblichen Teil der Publikation einnimmt, ist es erklärtes Ziel der Arbeit, verschiedene Fragen an die Quelle zu richten und „zu eruieren, inwieweit man durch das Repertorium einen ganzheitlichen Blick auf das Viktorstift und seine Bewohner im ausgehenden 15. Jahrhundert erhält“ (18). Zentrale Aspekte, die nach der Einleitung (Kapitel 1) in eigenen Abschnitten behandelt werden, sind hierbei Arnold Heymerick als Verfasser des Repertoriums und seine Gründe, sich einem so umfang-
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reichen Unterfangen zu widmen (Kapitel 2), die Themenvielfalt der Quelle hinsichtlich „Norm und Wirklichkeit“, das heißt in Bezug auf die von Heymerick verzeichneten Missstände im Stift (Kapitel 3) sowie die „Frage nach der Einzigartigkeit des Repertoriums und nach dessen Beeinflussung durch andere Statuten“ (18) (Kapitel 4 und 5). In ihrer Gesamtheit liefern die Aspekte dieses Tableaus einen lebendigen Eindruck von alltäglichen Fragen und Problemen im St. Viktor-Stift: Die Statuten und darin vermerkten Strafen legen nahe, dass zu den Missständen beispielsweise Nachlässigkeiten der Kanoniker bei der Ausübung ihrer geistlichen Pflichten gehörten; ferner versuchte Heymerick, mit detaillierten Regelungen, finanziellen Anreizen und empfindlichen Strafen allzu ausgedehnten Absenzen der Kapitelmitglieder entgegenzuwirken – ein Problem, das in dieser Form auch in anderen Kapiteln des ausgehenden Mittelalters zu finden war und in Xanten auf die beschriebene Weise offenbar verhältnismäßig gut gelöst werden konnte (63–70). Neben diesen großen Themen sah sich der Dekan anscheinend auch Fällen gegenüber, in denen in der Lebensgemeinschaft Vergehen einzelner Kanoniker stillschweigend von anderen geduldet und damit der disziplinarischen Kompetenz der Leitungsebene vorenthalten wurden; Streitfälle, auch gelöst unter Ausübung von Gewalt, Verstöße gegen die Normen des Stifts und einst geleistete Eide sowie interne Machtverschiebungen unter den Ämtern an St. Viktor bis hin zu einem deutlichen Machtgewinn des Portars bildeten weitere Übel, denen der Dekan begegnen musste (vgl. insgesamt Kapitel 3.2). Mögen viele dieser Themen mit Ausnahme der Entwicklungen rund um den Portar auch für andere Stifte jener Zeit charakteristisch gewesen sein, so sind es die Anlage und Art des Repertorium Decani jedoch nicht: Hülscher zufolge präsentiert sich das Statutenbuch „in seiner Konstruktion als ein einzigartiges Werk […], mit dem sich keine bis heute bekannte Statutensammlung aus anderen Stiften vergleichen lässt“ (201). Konkret weist die Autorin den Aufbau und den Anspruch des Werks, möglichst alle Fragen und Schwierigkeiten stiftischen Zusammenlebens abzudecken, als besonders nach, da sowohl eine mehrere Jahrzehnte zuvor von Heymerick angefertigte Sammlung von Statuten als auch ähnliche Zeugnisse aus benachbarten Stiften „wesentlich knapper“ angelegt seien (201). Möglicherweise hängen die Besonderheiten des Statutenbuchs mit der Person des Verfassers zusammen, dessen ausgedehntes Wirken im kurialen Umfeld den Blick für rechtliche Fragen und Regelungen geschärft haben könnte (199). Auch wenn der Dekan nur rund ein Jahr nach Abschluss seines Werkes verstarb, kam das Repertorium am Xantener Stift tatsächlich über mehrere Jahrhunderte zum Einsatz und leistete Hilfe bei der Klärung alltäglicher Fragen (201 f.). Aus diesem Punkt leitet Hülscher zielführend weitere Forschungskomplexe ab wie die Edition späterer und früherer Statutenbücher samt vergleichenden Untersuchungen zu den angerissenen Themenbereichen, die Spiegelung der Schilderungen im Repertorium an Tagebüchern und ähnlichen Quellen aus dem Kreis der Kapitelmitglieder oder auch einen neuen Fokus auf weitere Schriften, die Intentionen und den Wirkungskreis des Geistlichen Arnold Heymerick (202 f.). Bei diesem sehr auf Xanten konzentrierten Fokus wäre es interessant gewesen, den Blick über die unmittelbare Nachbarschaft des St. Viktor-Stifts hinauszurichten und die Edition sowie die sie begleitenden Untersuchungen in den generellen Kontext jüngerer Forschungen rund um Stifts-
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kirchen, ihre Kanoniker und die Normen stiftischen Zusammenlebens einzuordnen. Insgesamt gewinnt die Leserschaft bis hierhin aber einen lebhaften Eindruck vom in Rede stehenden Repertorium Decani, der sich an Hülschers Edition noch einmal direkt verifizieren lässt. Ein eigenes Kapitel zur Beschreibung der Handschrift (Kapitel 6) führt in die Edition ein, wobei der Einstieg in die Quelle möglicherweise etwas hätte erleichtert werden können, wenn dieser Abschnitt mit den in Kapitel 1.1.1 versammelten Bemerkungen zur Editionspraxis zusammengeführt und der Edition unmittelbar vorangestellt worden wäre. Letztere nimmt, wie bereits angedeutet, verständlicherweise den größten Teil von Hülschers Werk ein. Im Rahmen der Transkription wurden gängige orthografische Angleichungen vorgenommen, sodass der Text an sich in seiner Satzstruktur gut rezipiert werden kann. Vermerke am Seitenrand verweisen auf die Blätter der Handschrift, um darin das Auffinden einzelner Textstellen zu erleichtern. Lateinische Datierungen sind zum besseren Verständnis in eckigen Klammern direkt im Text aufgelöst worden, was auch über Fußnoten hätte geschehen können. Im Anmerkungsapparat zeigt sich eine Abweichung von den Editionsgrundsätzen der MGH, da die mit Buchstaben versehenen Fußnoten nicht, wie sonst gängig, für Lesarten und Varianten, sondern für einen Sachkommentar verwendet werden, der beispielsweise Namen erklärt und für die Lektüre nützliche Informationen liefert. Die mit Zahlen versehenen Anmerkungen sind dagegen für weitere Hinweise zum Text, Lesarten und Verweise auf Vorlagen verwendet worden. Für die Benutzung der Edition wäre eine klarere Trennung und die Orientierung an der bewährten Praxis der MGH wahrscheinlich hilfreicher gewesen. Erschlossen wird die Edition mit drei Registern (Personen, Orte, Sachen), wobei auffällt, dass ausschließlich auf die Edition, nicht aber auf die gut 200-seitige vorangestellte Untersuchung verwiesen wird. Dass die Fundstellen nicht mit Buchseiten, sondern mit den Blattangaben der Handschrift ausgewiesen sind, führt zu einer mitunter umständlichen Suche, da der Inhalt einer Manuskriptseite mindestens über zwei, häufig jedoch über drei Buchseiten verteilt ediert ist. Register in den MGH-Bänden bieten beispielsweise erleichterte Suchbedingungen, da hier nicht nur die entsprechende Buchseite, sondern oft sogar die Zeile genannt wird und die Glossare bzw. Wortregister einen größeren Umfang haben als das von Hülscher erarbeitete Sachregister. Hiervon abgesehen, hat die Verfasserin eine wichtige Quelle der Stiftskirchenforschung ediert und damit den Forschungsstand mindestens zum Xantener St. Viktor-Stift bereichert. Die Lebenswelt der Kanoniker, alltägliche und normative Fragen des Zusammenlebens und insbesondere die rechtssetzenden Interessen des Dekans Arnold Heymerick werden mit hohem Erkenntnisgewinn untersucht. Es bieten sich Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen nicht nur zu Xanten, sondern auch, wenn man den Blick über das Thema des Bandes hinaus weitet, zu anderen geistlichen Institutionen des Reiches und ihren Regelwerken. Detailstudien wie die vorliegende erarbeiten also eine Grundlage, um kirchliche Einrichtungen verschiedener Regionen vergleichend zu betrachten. Das vom Reihenherausgeber Jens Lieven im Vorwort angekündigte Vorhaben, in der neuen Reihe „Die Stiftskirche des Heiligen Viktor zu Xanten. Neue Folge“ alsbald weitere Quelleneditionen erscheinen zu lassen, ist daher unbedingt zu begrüßen.
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Rezensionen Sönke Lorenz (†), Oliver Auge, Sigrid Hirbodian (Hg.): Handbuch der Stiftskirchen in Baden-Württemberg, Ostfildern 2019; Oliver Auge, Katja Hillebrand (Hg.): Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster, Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, 2 Bde., Regensburg 2019.
Dr. Frederieke Maria Schnack Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte und Historische Grundwissenschaften, Am Hubland, 97074 Würzburg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 186–188 Klaus Militzer Verwaltete Herrschaft. Die kurkölnischen Residenzen im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein. Neue Folge 4), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2019, 348 S., 11 sw. Abb., 1 Karte, ISBN 978-3-412-51569-0, 30,00 EUR. An den reichen Erträgen der Hof- und Residenzenforschung, die während der letzten 30 Jahre publiziert wurden, haben die spätmittelalterlichen geistlichen Reichsfürsten einen deutlich geringeren Anteil als ihre weltlichen Genossen. Gleichwohl ist eine ganze Reihe von Monografien zu Höfen und Residenzen einzelner (erz-)bischöflicher Herrschaften in weiterem oder engerem zeitlichen Zuschnitt zu nennen, so zu Passau1 (1992), Trier2 (1995), Magdeburg3 (1998), Basel4 (2004), Konstanz5 (2005) und den preußischen Bistümern6 (2007). Mit Blick auf die Erzbischöfe von Köln lag bisher zwar Wilhelm Weises Studie (2004)7 zum Hof im 12. Jahrhundert vor, für das Spätmittelalter hingegen nur eine überschaubare Zahl einschlägiger Aufsätze. Mit Klaus Militzer hat sich dieses wichtigen Desiderates ein Kenner der Materie angenommen, der damit zugleich eine Summe der eigenen Forschungen zum Thema bietet. Die übersichtlich angelegte Studie, die insbesondere das 14. und 15. Jahrhundert behandelt, aber oftmals zeitlich zurück- und zuweilen auch vorgreift, beginnt nach der Einleitung (9–13) und einem kurzen Überblick zu den Quellen (15–19) mit einem Abriss zum kurkölnischen Territorium (21–40). Darauf folgt zunächst ein längerer Abschnitt über den Hof (41–109), der vor allem Einblicke in das Personal von Rat, Haushalt und Kanzlei der Erzbischöfe eröffnet (ergänzend wären systematische Personenverzeichnisse nützlich gewesen), außerdem auf Reiseherrschaft, Itinerar und Archiv eingeht. Es folgen drei Kapitel zur erzbischöflichen Administration, zunächst zur Kurie, mithin zur Diözesanverwaltung (111–116), sodann zur herrschaftlichen Verwaltung in den rheinischen Besitzungen (117–130) und in Westfalen (131–144). Rund die Hälfte des Textes nehmen die beiden letzten Abschnitte ein, die sich den Residenzen zuwenden, wiederum zunächst in den rheinischen Teilen (145–263: Bonn, Poppelsdorf, Godesberg, Brühl, Köln) und anschließend
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in Westfalen (265–289: Soest, Arnsberg). Eine Zusammenfassung (291–294) beschließt die Darstellung, die durch ein Register der Orte und Personen zusätzlich erschlossen wird. In ihrem analytischen Rahmen knüpft die Arbeit an das von Hans Patze seit den 1970er Jahren entwickelte Konzept einer Residenzenforschung an, die zunächst insbesondere verwaltungsgeschichtlich ausgerichtet war.8 Damit zeigt Klaus Militzer zum einen, wie gewinnbringend eine solche Herangehensweise nach wie vor ist. Zum anderen mag der Rezensent jedoch nicht verhehlen, ein gewisses Ungenügen daran zu empfinden, dass neuere Entwicklungen der Hof- und Residenzenforschung – zum Beispiel die intensive Einbindung sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen oder die interdisziplinäre Öffnung – weniger Beachtung finden. Letztlich ist eine solche Entscheidung freilich Sache des Autors, der nicht alle denkbaren Fragen abzuhandeln verpflichtet ist. Die primär verwaltungsgeschichtliche Perspektive der Arbeit tritt deutlich bei der Frage hervor, was eine Residenz ausmache. So heißt es etwa zur Godesburg: „Die mehr oder weniger zahlreichen Aufenthalte der Kölner Erzbischöfe und besonders [!] die Funktion als Archiv hoben die Burg aus der Mehrzahl der übrigen Landesburgen heraus und gestatten daher zumindest von Ansätzen zu einer Residenzbildung zu sprechen“ (210). Mit der teilweisen Zentralisierung der Verwaltung in Brühl, wie sie eventuell die Hofordnung von 1469 beabsichtigt habe, ohne dass dies praktisch umgesetzt worden sei, wäre der Ort „zur stetigen Residenz erhoben“ worden (232). Hingegen sei bei der Bezeichnung Soests als erzbischöfliche „Residenz“ oder „Nebenresidenz“ Vorsicht geboten, obgleich die Stadt mit ihrer „zentralörtliche[n] Funktion“ zumindest für das kurkölnische Westfalen „alle Voraussetzungen“ dafür besessen habe: Denn ihr fehlte „eine Kanzlei oder auch nur eine Aufbewahrungsstelle für Urkunden und Akten […], obwohl der Erzbischof in Soest immer ein Haus hatte, in dem er absteigen und auch Lehen vergeben konnte“ (277). Und Arnsberg „entbehrte […] wichtiger Anhaltspunkte einer erzbischöflichen Residenz“, obwohl dort „alle Erzbischöfe seit Friedrich von Saarwerden [1370–1414] oft […] geurkundet und […] folglich auch häufig den Ort aufgesucht“ hätten, denn „weder war der Ort der Mittelpunkt einer Kanzlei, eines Archivs oder einer Grablege“ (287). Gerade an Arnsberg wird aber auch deutlich, wie schwer aus dieser Perspektive eine widerspruchsfreie Einschätzung und Beschreibung der Residenzfunktion ist (vgl. die ganze Passage 282–288), ohne dass der Begriff „Protoresidenzen“ (145, 282) dies einfacher zu machen scheint. Aus der Sicht Militzers ist sogar Bonn erst im endenden 16. Jahrhundert „tatsächlich Residenz geworden“ (293, vgl. auch 188 f.). Die definitorische Grundhaltung, in der Ansätze zur örtlichen Konzentration der Verwaltung vor dem fürstlichen Itinerar und der Organisation des Hofes rangieren, muss man nicht zur Gänze teilen, doch erweisen sich die letztlich in der Sache begründeten Unsicherheiten durchaus als anregend für das weitere Nachdenken über Bestimmungen und Ambivalenzen spätmittelalterlicher Residenzbildungsprozesse. Infolge der systematisch gegliederten Behandlung des Gegenstandes lässt sich der Band nicht zuletzt als ergiebiges Überblicks- und Nachschlagewerk nutzen. Im Vergleich dazu steht die Verknüpfung der angesprochenen Themenbereiche etwas zurück. So wäre es in einem anders strukturierten Untersuchungsgang vorstellbar, die inhaltlich breit angelegten, die allgemeine Ortsgeschichte teilweise seit früher Zeit aufnehmenden Abschnitte zu den einzelnen Residenzen
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spezifischer auf das Thema zuzuschneiden, und die Zusammenführung mancher erhellender lokaler Beobachtungen hätte die damit verbundenen Einsichten nochmals vertiefen können – als Beispiele seien der bereits angeklungene stete Blick auf die Archivbildung genannt (182, 209 f. und 231 f.) oder die Überlegungen zur Frage möglicher „Anlaufstellen“, um Petenten oder Beschwerdeführern während der Abwesenheit des reisenden Fürsten die Möglichkeit zu geben, ihre Anliegen vorzubringen (184–187, 210 f., 233 und 286). Am Rand sei erwähnt, dass einige Nachlässigkeiten sprachlicher Art vermeidbar gewesen wären. In der Summe hat Klaus Militzer eine materialreiche und anregende Arbeit vorgelegt, die nicht allein regionalgeschichtlich, sondern auch im Sinne einer vergleichenden Residenzenforschung Aufmerksamkeit verdient. Nicht zuletzt demonstriert sie eindrücklich, wie wichtig, ja unverzichtbar für die Erforschung von Residenzen und Residenzorten der kundige landesgeschichtliche Blick ist. 1 2 3 4 5 6 7 8
Konrad Amann: Die landesherrliche Residenzstadt Passau im spätmittelalterlichen Deutschen Reich (Residenzenforschung 3), Sigmaringen 1992. Dieter Kerber: Herrschaftsmittelpunkte im Erzstift Trier. Hof und Residenz im späten Mittelalter (Residenzenforschung 4), Sigmaringen 1995. Michael Scholz: Residenz, Hof und Verwaltung der Erzbischöfe von Magdeburg in Halle in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Residenzenforschung 7), Sigmaringen 1998. Volker Hirsch: Der Hof des Basler Bischofs Johannes von Venningen (1458–1478). Verwaltung und Kommunikation, Wirtschaftsführung und Konsum (Residenzenforschung 16), Ostfildern 2004. Andreas Bihrer: Der Konstanzer Bischofshof im 14. Jahrhundert. Herrschaftliche, soziale und kommunikative Aspekte (Residenzenforschung 18), Ostfildern 2005. Marc Jarzebowski: Die Residenzen der preussischen Bischöfe bis 1525 (Prussia sacra 3), Toruń 2007. Wilhelm Weise: Der Hof der Kölner Erzbischöfe in der Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas (Studia Humaniora 38), Düsseldorf 2004. Vgl. dazu beispielsweise den programmatischen Aufsatz von Hans Patze, Gerhard Streich: Die landesherrlichen Residenzen im spätmittelalterlichen Deutschen Reich. In: Blätter für Deutsche Landesgeschichte 118 (1982), 204–220.
Dr. Sven Rabeler Christian-Albrechts-Universität, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 189–194 Eduard Mühle Die Slawen im Mittelalter zwischen Idee und Wirklichkeit Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2020, 504 S., 5 Karten, ISBN 978-3-412-51898-1, 49,00 EUR. Das Buch beschäftigt sich laut Klappentext mit folgender Frage: „Verfügt der slawischsprachige Bevölkerungsteil Europas über ein besonderes »slawisches« Bewusstsein, eine spezifische »slawische« Kultur und Geschichte? Ausgehend von dieser Frage erzählt Eduard Mühle die Geschichte der »Slawen« im Mittelalter völlig neu.“ Auf den Seiten 42–43 fragt Mühle: „Kann […] für das Mittelalter weiterhin ohne weiteres von ‚den Slawen‘ gesprochen werden? Oder müssen nicht vielmehr selbst ‚die Slawen‘ des Frühmittelalters als ein Konstrukt verstanden […] werden?“ und kündigt an zu zeigen, „wie ‚die Slawen‘ […] im Sinne eines kulturalistischen Konstrukts entworfen […] worden sind.“ Nun waren die mittelalterlichen Slaven zwar keine biologische Abstammungsgemeinschaft – nach 600 n. Chr. waren ja die meisten Slaven zu Slaven gewordene Balten, Ostseefinnen, Gepiden, Vandalen, Romanen, Griechen u. a.1 (vgl. 84 f.) –, dennoch waren sie in mehr als nur einer Hinsicht eine reale Gemeinschaft, zusammengehalten nicht nur, wie Mühle es darstellt, von einer gemeinsamen Sprache, sondern auch von einem gemeinsamen Schicksal, insbesondere dem der Unterjochung durch die Avaren; von einer gemeinsamen Religion2; von einer von Mühle zwar erwähnten (414), aber nicht ausreichend gewürdigten gemeinsamen Tradition der Personennamengebung (Namen auf -slavъ und -mirъ und andere)3; von gemeinsamen rechtlichen consuetudines4; von einer gemeinsamen dichtersprachlichen Tradition und einer gemeinsamen sakralen Dichtung5; von einer gemeinsamen Grußkultur6; von ihrer Meisterschaft in der Herstellung und im Gebrauch von Einbäumen, die von der südslavischen Balkanhalbinsel bis in die ostslavische Rus’ und bis zur westslavischen Ostsee als slavische Spezialität wahrgenommen wurde.7 Mühle bringt zur Frage der Einheitlichkeit der slavischen Kultur auf Seite 441, Fußnote 1444 wertvolle Literaturhinweise, hat aber selbst Folgendes zu sagen: „Die beobachteten Ähnlichkeiten in der materiellen Kultur werden vielfach eher auf äußere Umstände […] zurückzuführen sein, als auf ein bewusstes Bemühen, […] einer gemeinsamen slawischen Identität Ausdruck zu verleihen.“ (441) Aber welches Volk fabriziert denn Boote, Behausungen, Töpfe, Waffen und Ohrringe nicht etwa, um zu fahren, zu wohnen, zu kochen, zu jagen und zu kämpfen und Frauen zu schmücken, sondern um „einer gemeinsamen Identität Ausdruck zu verleihen“? Und woran wäre denn ein solches Ansinnen zu erkennen? Das mit dem Ausdruckverleihen ist doch einfach nur so dahingesagt. Wie auch immer, man findet außer der gemeinsamen Sprache genügend weitere distinctive features, die dem mittelalterlichen Slaventum seinen Zusammenhalt nach innen und seine Konturen nach außen verliehen, und benötigt keine „Konstruktion“, um die Slaven als Volk zu sehen. Um das Slaventum auf seine Sprache zu reduzieren, befleißigt sich Mühle einer besonderen Sprachregelung: Er schreibt ziemlich konsequent slawischsprachig, wo andere einfach slawisch oder slavisch schreiben würden. In den Quellen genannte „Slaven“ werden von Mühle unbeirrt und mit bemerkenswerter Ausdauer in „slawischsprachige Bevölkerungsgruppen“, „slawisch-
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sprachige Bevölkerungsverbände“ und dergleichen umbenannt. Nachweislich betrachteten die frühmittelalterlichen Slaven sich selbst als zusammengehörig, so etwa in der altrussischen Nestorchronik: „Von diesen Slaven zerstreuten sich [alle] über das Land und begannen mit ihren Namen zu heißen, je nachdem, wo sie sich auf welchem Platz niedergelassen haben: Am Fluss namens Morava [= March], und sie begannen Mähren zu heißen; und andere nannten sich Tschechen. Und das sind dieselben Slaven: Weißkroaten und […]“.8 „Die Muroma sind ihr eigenes Volk und die Tscheremissen sind ihr eigenes Volk, die Mordva sind ihr eigenes Volk. Es sind nämlich (jeweils) nur das ein slavisches Volk in der Rus’: die Poljanen, die Derevljanen, die Novgoroder […] Und das sind andere Völker, die der Rus’ Tribut leisten: Tschud’, Merja, Wepsen, Muroma, Tscheremissen, Mordva […] Diese sind (jeweils) ihr eigenes Volk […]“.9 Aber dieses „Konstrukt einer ursprünglichen slawischen Gemeinschaft“ (259) sei ja nur ein „singuläre[r] Versuch einer frühen Instrumentalisierung der slawischen Idee“ (262)! Da fragt man sich erstens: Woran erkennt man einen solchen Versuch? Und zweitens: Wie genau verhalten sich slavische Idee und slavisches Bewusstsein zueinander? Beim Polen Długosz zu findenden eindeutigen Belegen versucht Mühle auf folgende Weise beizukommen (408–411): „Als eine umfassende slawische Gemeinschaft werden die slawischsprachigen Nationen bei Długosz eindeutig nur im Kontext der sagenhaften Frühgeschichte imaginiert. Und so ist es auch wenig wahrscheinlich, dass der Krakauer Geschichtsschreiber und jene Kreise der polnischen Elite, für die er gesprochen hat, im 15. Jahrhundert (noch) ein (altererbtes) lebendiges ‚gesamtslawisches‘ Gemeinschaftsgefühl besessen und gepflegt haben.“ (410–411) Eine Erwähnung „nur im Kontext der sagenhaften Frühgeschichte“ lässt Mühle also nicht gelten. Dabei wäre es doch nichts Ungewöhnliches, wenn sich die polnische Elite des 15. Jahrhunderts in ihrem gesamtslawischen Gemeinschaftsgefühl gerade auf eine sagenhafte Frühgeschichte berufen hätte. Worauf denn sonst? Eine Schlüsselrolle spielt hier das Wort „nur“: „nur im Kontext der sagenhaften Frühgeschichte“. Man braucht nur ein „nur“ hinzuzufügen, und schon hat man ein Argument oder zumindest etwas, was aussieht wie ein Argument. Ein anderes solches Wort ist „bezeichnenderweise“. Vgl. 221: „Vier Mal benutzte er [Cosmas] überdies den Begriff Sclavi oder Sclavonica manus, wo er ausdrücklich von Böhmen (Boemi) sprach. Dies geschah bezeichnenderweise bei der Schilderung von Begegnungen bzw. Zusammenstößen mit Deutschen“. Dass Boemi als Sclavi bezeichnet werden, gilt also nicht, wenn dies in Schilderungen von Begegnungen bzw. Zusammenstößen geschieht? Wieso denn nicht? Mühles einziges Argument ist das Adverb „bezeichnenderweise“. Wenn es in einer Quelle aus dem 13. Jahrhundert heißt: „die ‚Slawen, sprich die Bulgaren‘ (rodь slověne rekše blьgare)“, so ist es diesmal das Fehlen von „Überlegungen über einen besonderen slawischen Charakter der Bulgaren“, das Mühle daran hindert, die Stelle als Beleg für die Existenz eines slavischen Bewusstseins anzuerkennen (420). Eine explizite Aussage genügt ihm nicht, nein, sie muss auch noch von Überlegungen umrankt sein. Ein anderer Text, der von „unserer slawischen Nation“ spricht und „unsere slawische Sprache“ erwähnt, ist irrelevant, weil er nur „marginal“ ist (424–425). Und Helmold wollte ja „nur die Reichweite der slawischen Sprache“ (369–370) unterstreichen. Und Gallus Anonymus wollte, wo er den Namen Gnesen als slavisch bezeichnet, „lediglich seine Sprachkenntnisse zur Schau stellen“ (278–280)! Gibt es bei Gallus
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weitere Belege für eine solche Eitelkeit? Hat er weitere Gelegenheiten, seine Sprachkenntnisse zur Schau zu stellen, genutzt? Der These vom Erfundensein des Slaventums zuwiderlaufende Belege werden einfach irgendwie abgetan und vom Tisch gewischt. Manchmal gibt es nicht einmal den Anschein einer Argumentation. Etwa in Folgendem: „Die Mehrzahl der in diesem regnum [Polen] lebenden Menschen hat dagegen keine wie auch immer verstandene überregionale Identität entwickelt. Ihr Gemeinschaftsbewusstsein blieb – und dies noch für lange Zeit – auf lokale und regionale Bezüge beschränkt.“ (276) Woher weiß denn Mühle das? In welchem Dokument kommen denn diese „Menschen“ zu Wort? Das ist reine Spekulation. Es gibt auch einige sprachwissenschaftliche Anmerkungen zu machen: Zu Seite 73: Der traditionellen Auffassung folgend führt Mühle das slavische Wort für „König“ auf den Namen Karls des Großen zurück. Von F. Lorentz 1905 vorgebrachte lautchronologische Argumente führen jedoch zur Annahme, dass vielmehr Karl Martells Name die „Vorlage“ darstellte.10 Bei Mühle finden sich in der Fußnote 212 falsche Schreibungen des slavischen Wortes für König. Zu 85–87: Zwischen der „Hinterlassenschaft der im 5. Jahrhundert aus dem östlichen Mitteleuropa abziehenden Germanen und der materiellen Kultur der in diese Gebiete zuwandernden slawischsprachigen Verbände“ klaffe eine „chronologische Lücke“, die die Archäologen nicht haben schließen können. Dazu ist anzumerken, dass die Lücke von der Sprachwissenschaft geschlossen werden kann: Den bei Ptolemaios überlieferten Namen eines Vandalenstammes Σιλίγγαι haben die Slaven wohl von den Σιλίγγαι selbst übernommen und danach dazu ein Adjektiv gebildet, das im heutigen Polnischen substantiviert Śląsk „Schlesien“ lautet.11 Diese Entlehnung belegt, dass Germanen und Slaven eine Zeit lang gleichzeitig im Lande gewesen sind und Sprachkontakt hatten. Zu 219, Fußnote 664: Die Kiever Blätter stammen nicht aus Böhmen, sondern höchstwahrscheinlich vom Plattensee.12 Zu 149 und 233: Der Kroaten-Name ist nicht turksprachlich, sondern bekanntlich am ehesten iranisch.13 Zu 176, 177: Dass der byzantinische Kaisertitel erst 918/919 ins Slawische entlehnt worden sei, und zwar „über das römisch-lateinische caesar in Gestalt des slawischen Wortes Car“, ist unmöglich: Da in diesem slavischen Wort die Zweite Palatalisierung (k > c) gewirkt hat, muss es spätestens im 7. oder frühen 8. Jahrhundert ins Slavische übernommen worden sein14; und wenn es über das Gotische ins Slavische gelangt ist15, noch früher. Zu 284: nota bene: Die typisch slavischen Personennamen auf -slav(ъ) (Radoslav, Dobroslav etc.) stehen zwar mit slava „Ruhm“, nicht aber mit dem Namen der Slaven in einem etymologischen Zusammenhang. Konstantins und Methods Slavisch war nicht „die damals gesprochene makedonische Variante des Slawischen“ (167), sondern das davon deutlich verschiedene Salonikislavisch.16 Auf Seite 59 hätte in der Fußnote 154 Elisabeth Skach angeführt werden müssen.17 Enttäuschend uninformiert zeigt sich Mühle in der Frage der slavischen Religion. Dass „[ü] ber die bei den frühen Slawen verbreiteten religiösen Sinnkonstruktionen und praktizierten Kulte […] kaum etwas bekannt“ (109) sei, ist schlichtweg falsch. Die von V. V. Ivanov und V. N. Toporov erdachte und von Radoslav Katičić weiterentwickelte philologische Methode hat es diesen Forschern in den letzten Jahrzehnten erlaubt, ein zwar fragmentarisches, aber doch auch weitläufiges und feinkörniges Bild der „religiösen Sinnkonstruktionen“, also der Glaubensinhalte der heidnischen Urslaven, zu malen. Allein Katičić hat diesem Thema fünf Bücher gewidmet.18 Die abenteuerliche Deutung des Theonyms «Daž(d)bogъ» als „auf ein sprachliches Missverständnis“ von
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Missionaren zurückgehend und in Wirklichkeit eine „slawische Begrüßungsformel daždь Bogъ (gebe Gott dir Glück)“ darstellend (109–110) ist völlig verfehlt. In Wirklichkeit handelt es sich um ein φερέοικος-Kompositum mit der Bedeutung „gib Anteil (sc. am Reichtum)!“ und sehr wohl um ein Theonym, gebildet wie ein gängiges zweigliedriges Anthroponym. Zu 110: Sehr wohl gibt es eine „slawische Götterfamilie“ und „Zuständigkeiten“! Eine gemeinslavische feminine (nicht „femine“) Form von «bogъ» ist sehr wohl bekannt – sie lautet «bogyńi» –, und weibliche Gottheiten gibt es sehr wohl: «Mokošь», die Gattin Donnergottes, und «Mara», seine Tochter. Zu 112: Ein Wort für Priester, und zwar ein einheimisches, gab es sehr wohl: urslavisch *džiriku > altkirchenslavisch žьrьcь.19 Zu 318: Ein „einheitliches slawisches Heidentum“ hat es sehr wohl gegeben. Hinsichtlich der slavischen Realienkunde lässt sich Folgendes ergänzen: Neben der auf Seite 97 erwähnten Brandrodung gab es auch eine Reihe anderer Rodungsarten.20 Getreide wurde nicht oder zumindest nicht ausschließlich „mit Holzflegeln und Klopfstöcken“ gedroschen (104); wie die Etymologie des slavischen Wortes für „Tenne“ «gumьno» zeigt, wurde das Korn auch auf im Freien angelegten Tennen von darüber getriebenen Rindern aus den Ähren getreten.21 An sachlichen Fehlern sind zu nennen: Zu Seite 63 mit Fußnote 168: Gregor der Große schreibt nicht zwei Briefe an den Exarchen von Ravenna Callinicus (bei Mühle verschrieben: Callincus), sondern nur einen, den vom Mai 599.22 Der andere slavische Einfälle erwähnende Brief, der vom Juli 600 stammt, ist nicht an Callinicus, sondern an Maximus, Bischof von Salona gerichtet.23 185: Sehr wohl ist erkennbar (und in der Slavistik längst communis opinio), dass Chrabr die Glagolica verteidigt und nicht die Kyrillica, die ja eigentlich die um ein paar zusätzliche Zeichen angereicherte griechische Schrift ist. 166: „Die übernommenen griechischen Buchstaben wurden verändert und für die besonderen slawischen stimmhaften Konsonanten eine Reihe von neuen Zeichen entworfen.“ In Wahrheit werden in der Kyrillica die stimmhaften Konsonanten d, g, z, m, n, r, l mit griechischen Buchstaben bezeichnet, und die neu entworfenen š, č, c, št´ sind gar nicht stimmhaft. Noricum lag nie und nimmer auf der Balkanhalbinsel, wie Mühle anzunehmen scheint, wenn er schreibt: „auf dem Balkan, genauer in der ehemaligen römischen Provinz Noricum“ (257). An Druckfehlern und ähnlichen Unachtsamkeiten wurden folgende entdeckt: 85, Fußnote 251: Bradford; recte: Barford. 118: εδνων. 139: Name. 142: Flußnamen. 147: Völker. 151: Bewussstseins. 159: ungewiß. 162: riß. 163: Inernationalen. 168: Gerichsttextes. 185: beginnnenden. 206: der einheimischer. 207: zurürckbeorderte. 235: Plonim: recte Plomin. 249: Gewohnheitsrechts. 249: intergiert. 249, 305: Authorität. 293–295: In den Fußnoten mehrmals ćirilskich; recte: ćirilskih. 314: ein erste. 318: vorrübergehend. 334: Fürstentümern. 357: ein origo-Legende. 377: Lauriacum/ Lorsch; recte: Lauriacum/Lorch. 377: laubabiles. 377: ethymologische. 417: Zar-enthron. 423: Spbljemь; recte Srbljemь. 429: stečak; recte: stećak. 433: legitmiert. 445: spanennden. Mühles Werk enthält kein Vorwort, wohl aber am Ende unter der Überschrift „Dank“ die erwarteten Informationen über Hintergründe und Umstände seiner Entstehung. Nach einem Prolog, der eigentlich einen Exkurs darstellt, folgen die eigentlichen Kapitel, ein Epilog, die erwähnten Danksagungen, ein Abkürzungsverzeichnis, ein Quellen- und Literaturverzeichnis, Karten, ein Personenregister, ein Register der geografischen Bezeichnungen und ein Register der Ethnonyme und Personenverbände.
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Mühles Versuch, den Slavenbegriff zu dekonstruieren, kann als gescheitert angesehen werden. Seinem Buch kommt aber zugute, dass der Versuch aufgesetzt wirkt und beim Lesen leicht weggeblendet werden kann. Oft genügt es, sich in Mühles bemühtem „slawischsprachig“ einfach das „-sprachig“ wegzudenken, und man erhält eine solide, bewundernswert detailreiche, geradezu enzyklopädische Darstellung der Geschichte des mittelalterlichen Slaventums, wertvoll auch wegen der reichlichen Literaturhinweise. Es gibt wohl kein anderes Buch zur mittelalterlichen Geschichte des von Mühle in Frage gestellten Slaventums, in dem so kompakt so viele Einzelheiten, von denen viele bisher nur wenig Beachtung fanden, geboten werden. Die slavische Mediävistik ist um ein wichtiges Werk reicher geworden. 1 2 3
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Georg Holzer: Untersuchungen zum Urslavischen: Einleitende Kapitel, Lautlehre, Morphematik (Schriften über Sprachen und Texte 13), Berlin 2020, hier 35 f. Ebenda, 37–39. Georg Holzer: Zur Akzentuierung urslavischer Nominalkomposita mit besonderer Berücksichtigung der Personennamen. In: Ricerche slavistiche. Nuova serie 1/61 (2018), 157–203; Ders.: Zusammengesetzte urslavische Personennamen mit verbaler erster Komponente, Gedenkschrift für Liljana Dimitrova-Todorova [im Druck]. Radoslav Katičič: Die Verfassungsterminologie der frühmittelalterlichen Slawenherrschaften. In: Slavica Slovaca 31/1 (1996), 3–26, hier 6. Georg Holzer: Vorhistorische Periode. In: Karl Gutschmidt, Sebastian Kempgen, Tilman Berger, Peter Kosta (Hg.): Die slavischen Sprachen / The Slavic Languages. Ein internationales Handbuch zu ihrer Struktur, ihrer Geschichte und ihrer Erforschung. / An International Handbook of their Structure, their History and their Investigation, Band 2 / Volume 2 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 32.2.), Berlin/New York 2014, 1117– 1131, hier 1126; Georg Holzer: „Der Kuckuck hat gerufen“: Eine urslavische Mythenerzählung in phonetisch realistischer Rekonstruktion. In: Ricerche slavistiche. Nuova serie 14/60 (2016), 249–287; Georg Holzer: Urslavische Sprüche vom Götterkampf in phonetisch realistischer Rekonstruktion. In: Tomasz Nastulczyk, Stanisław Siess-Krzyszkowski (Hg.): Nihil sine litteris. Scripta in honorem Professoris Venceslai Walecki, Kraków 2017, 319–326 und die dort reichlich gegebenen Hinweise auf Katičić. Georg Holzer: Alte slavische Grußformeln. In: Ilona Janyšková, Helena Karlíková, Vít Boček (Hg.): Etymological Research into Czech. Proceedings of the Etymological Symposium Brno 2017, 12–14 September 2017 (Studia etymologica Brunensia 22), Praha 2017, 151–164. Holzer: Untersuchungen, 32–34. Polnoe sobranie russkich letopisej. Tom pervyj: Lavrent’evskaja letopis’. Vyp. 1: Povest’ vremennych let. 2. Aufl., Leningrad 1926, 6. Ebenda, 11. Georg Holzer: Zum sorbischen Dialektkontinuum im westslavischen Zusammenhang. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 45 (1999), 251–276, hier 254; Ders.: Zur relativen Datierung prosodischer Prozesse im Gemeinslavischen und frühen Kroatischen. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 51 (2005), 31–71, hier 46; Ders.: Untersuchungen, 104. Ebenda, 114. Georg Holzer: Art. „Altkirchenslawisch“. In: Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 10 (2002), 187–202, hier 199; siehe auch Ders.: Corrigenda in der Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens. Band 10: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 48 (2002), 255–257. Ranko Matasović, Tijmen Pronk, Dubravka Ivšić, Dunja Brozović Rončević: Etimološki rječnik hrvatskoga jezika I, Zagreb 2016, 338. Holzer: Untersuchungen, 77 f.
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Rezensionen Max Vasmer: Russisches etymologisches Wörterbuch III, Heidelberg 1980; vgl. Saskia PronkTiethoff: The Germanic loanwords in Proto-Slavic (Leiden Studies in Indo-European 20), Amsterdam/New York 2013, 100–102. Georg Holzer: Die Geschichte des Slavischen der Stadt Saloniki bis zum Jahr 863. In: Johannes Reinhart (Hg.): Slavica mediaevalia in memoriam Francisci Venceslai Mareš (Schriften über Sprachen und Texte 8), Frankfurt a. M. 2006, 29–67 [auf Academia.edu hochgeladen am 15.09.2021]. Elisabeth Skach: Die Lautgeschichte des mittelalterlichen Slavischen in Griechenland, Frankfurt a. M. 2015. Holzer: Untersuchungen, 37 f. Holzer: Akzentuierung, 164, Fußnote 24. Vgl. Peter Anreiter: Sinnbezirke der ältest bezeugten slawischen Namen in Österreich, Wien 2015, 229–250. Georg Holzer: Namenkundliche Aufsätze (Innsbrucker Beiträge zur Onomastik 4), Wien 2008, 167–191; Ders.: Untersuchungen, 37 f. Als Quelle zitiert Mühle Paul Ewald, Ludwig M. Hartmann (Hg.): Gregorii I papae Registrum epistolarum. Tomus II: Libri VIII–XIV. In: Monumenta Germaniae Historica. Epistolae 1, 2, Berlin 1899, 154 f. Ebenda, 249 f.
Prof. Dr. Georg Holzer Universität Wien, Institut für Slawistik, Spitalgasse 2, Hof 3 (Campus), 1090 Wien, Österreich, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 194–196 Clemens Regenbogen Das burgundische Erbe der Staufer (1180–1227). Zwischen Akzeptanz und Konflikt (Mittelalter-Forschungen 61), Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2019, 622 S., 18 farb. Abb., 8 Karten, 3 Stemmata, ISBN 978-3-7995-4382-8, 75,00 EUR. Der Frühling der deutschsprachigen mediävistischen Burgundforschung manifestiert sich nicht zuletzt in der von Clemens Regenbogen 2017 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg eingereichten Dissertationsschrift – so viel sei als lobendes Fazit bereits vorweggenommen. Während der bisherige Blick der deutschsprachigen mediävistischen Forschung auf das Königreich Burgund besonders auf die Herrschaftszeit des Stauferkaisers Friedrich I. Barbarossa und dessen Gemahlin Beatrix von Burgund gerichtet war,1 füllt Clemens Regenbogen mit seiner Studie gleich zwei Forschungsdesiderate – zum einen mit der Wahl des Untersuchungsgegenstands der lange vernachlässigten (Pfalz-)Grafschaft Burgund und zum anderen mit dem bisher eher unbeachteten Untersuchungszeitraum, der Jahre 1180 bis 1227. Ziel der Arbeit ist es zu untersuchen, wie es den in Burgund eigentlich ortsfremden staufischen sowie den nachfolgenden andechs-meranischen Akteuren in ihrem pfalzgräflichen Amt gelang, ihren Anspruch auf Herrschaft zum Ausdruck zu bringen, durchzusetzen und überdies auf Akzep-
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tanz stoßen lassen zu können, bzw. warum sie in Anbetracht ihres langwährenden Engagements in Burgund trotzdem scheiterten (22). Zu diesem Zweck definiert Clemens Regenbogen im methodischen Teil seiner Einleitung für ihn relevante Begrifflichkeiten wie „Macht“ und „Herrschaft“, verwebt diese miteinander (23–26) und unterscheidet zwischen einer „Bottom-Up-Perspektive“ (durch burgundische Akteure dem Herrscher zugeschriebene Macht) als auch einer „Top-DownPerspektive“ (vom Machthaber ausgehende Herrschaftsansprüche) (26 f.). Das zweite Kapitel bietet eine gelungene Zusammenfassung der Geschichte der Grafschaft Burgund bis zum Jahr 1180, wobei auch auf Verflechtungen mit dem Königreich Burgund rekurriert wird, und bewegt sich hier auf der Höhe der Forschung. Mit diesem Kapitel schafft der Autor bei seinen Leserinnen und Lesern eine Verständnisgrundlage der herrschaftlichen Voraussetzungen, vor denen die drei Akteure des folgenden Abschnitts agierten. Das mit dem Wort „Akteure“ überschriebene dritte und ausführlichste Kapitel stellt die drei Personen, „die während des Untersuchungszeitraumes den pfalzgräflichen Anspruch auf politische Überordnung in Burgund verkörperten“ (77) in den Mittelpunkt: Pfalzgraf Otto I. von Burgund, dessen Gemahlin Margarethe von Blois und schließlich Pfalzgraf Otto II. von Burgund, Schwiegersohn Ottos I. und Margarethes. Zu allen drei Akteuren bietet Clemens Regenbogen eine kurze Einordnung der familiären Herkunft, um danach anhand diplomatischer sowie sphragistischer Untersuchungen die Rangordnung und -ansprüche der jeweiligen Akteure sowohl aus der Bottom-Up- als auch der Top-Down-Perspektive zu analysieren. Hier macht Regenbogen beispielsweise anhand der sich verändernden Titulatur auf die ambivalente Position Ottos I. aufmerksam, der sich in seinem Ranganspruch zwischen burgundischen und Reichsfürsten bewegen musste. So zeige sich mit Änderung seines Titels eines Grafen von Burgund zum Pfalzgrafen von Burgund eine Hinwendung und Zugehörigkeit zu den Reichsfürsten, mit der jedoch eine Abgrenzung von anderen burgundischen Fürsten einherginge (146). Ein abschließender Blick auf die Grablege und Memoria der drei Akteure vervollständigt die jeweiligen Unterkapitel. Im vierten Kapitel werden die Themenkomplexe der anerkannten Macht aus einer BottomUp-Perspektive und der praktizierten Herrschaft aus einer Top-Down-Perspektive vor dem Hintergrund der in der Einleitung definierten Begriffe „Macht“ und „Herrschaft“ thematisiert. Die Akzeptanz der staufischen Herrschaft leitet der Autor erneut unter Rückgriff auf diplomatische Quellen her, indem er erbetene Urkunden, vor allem Schutz- und Bestätigungsurkunden, die in drei Zeitphasen eingeteilt werden können (232), und Zeugenlisten heranzieht. Hierbei kann der Autor alte Narrative, nach denen die staufischen Pfalzgrafen keinen Rückhalt beim burgundischen Adel genossen bzw. dieser sich gar gegen sie stellte, eindeutig widerlegen. Der Themenkomplex der Herrschaftspraxis wird durch fünf Untersuchungsaspekte beleuchtet: 1.) anhand der Orte der Herrschaft, die der Analyse zufolge „weniger flächenhaft strukturiert als vielmehr lokal konzentriert“ waren (271), 2.) der Zusammensetzung des, wie Regenbogen nachweisen kann, nur schwach ausgeprägten pfalzgräflichen Hofes, 3.) des burgundischen Legatenwesens, welches gemäß der Untersuchungen des Autors unter Pfalzgraf Otto II. nach den Anfangsjahren nahezu zum Erliegen kam, 4.) der pfalzgräflichen Pröpste, die sich laut der Studie als Getreue der Pfalzgrafen vorzugsweise aus dem burgundischen Adel speisten, und komplettierend, 5.) des herrschaftlichen
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Handelns in Urkunden anhand von Vergabungen und Privilegien, Verträgen mit geistlichen Partnerinstitutionen sowie Diplomen zu Lehensbeziehungen. Unter dem Begriff „Aushandlungen“ widmet sich Clemens Regenbogen in seinem fünften Kapitel den Konflikten der burgundischen Pfalzgrafen, anhand deren Auswertung er nachzeichnet, wie es den Pfalzgrafen gelang, ihren Herrschaftsanspruch gegenüber ihren politischen Kontrahenten durchzusetzen. Gerade in diesem Abschnitt kann Clemens Regenbogen auf Grundlage, der von ihm minutiös recherchierten archivalischen Quellen die bisherigen Forschungsergebnisse zu Pfalzgraf Otto I. einer Neubewertung unterziehen sowie erstmals ein eingehendes Bild der Konflikte unter dessen Witwe Margarethe und Pfalzgraf Otto II. darstellen. Hierbei nimmt er seine Leserschaft an die Hand und führt sie sowohl durch die Chronologie der Ereignisse der Konflikte Ottos I. als auch durch die große Anzahl beteiligter burgundischer Großen in den Auseinandersetzungen Ottos II., sodass ein quellennaher Überblick gewahrt bleibt. Der pointierten Schlussbetrachtung lässt Clemens Regenbogen zwei Exkurse folgen: Zunächst 1.) ein mehrteiliger Exkurs zum pfalzgräflichen Urkundenwesen, der Diplomatikerherzen höherschlagen lässt, dem sich 2.) ein Exkurs zu den burgundischen Pfalzgrafen und der höfischen Dichtung anschließt. Das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis, welches jedem Burgundforscher mit Fokus auf die Stauferzeit einen hervorragenden Überblick sowohl der deutschals auch französischsprachigen Forschung bietet, sowie der ausführliche Anhang, der unter anderem einen direkten Zugriff auf 35 bisher unedierte Urkunden ermöglicht und ein Personen- und Ortsregister enthält, beschließen dieses Werk. Die veröffentlichte Studie ist unverzichtbar für jeden Burgundforscher. Clemens Regenbogen gelingt es nicht nur, eine Brücke zwischen deutsch- und französischsprachiger Forschung zu schlagen, sondern darüber hinaus lange bestehende Forschungslücken zu schließen. 1
Siehe hierzu einschlägig Verena Türck: Beherrschter Raum und anerkannte Herrschaft. Friedrich I. Barbarossa und das Königreich Burgund (Mittelalter-Forschungen 42), Ostfildern 2013.
Lisa Klocke M. A. Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für die Geschichte des Früh- und Hochmittelalters und Historische Hilfswissenschaften, Universitätsstraße 150, 44801 Bochum, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 197–199 Enno Bünz, Dirk Martin Mütze, Sabine Zinsmeyer (Hg.) Neue Forschungen zu sächsischen Klöstern. Ergebnisse und Perspektiven der Arbeit am Sächsischen Klosterbuch (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 62), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2020, 620 S., zahlreiche Farbabb., Karten, ISBN 978-3-96023-306-0, 80,00 EUR. Die Untersuchung der Stifts- und Klostergeschichte in den historischen Regionen Deutschlands nimmt insbesondere seit der Jahrtausendwende einen prominenten Platz in der Geschichtsforschung ein. Viele regionalhistorisch ausgerichtete Projekte haben bereits Klosterbücher nach dem Vorbild des Vorreiters Brandenburg hervorgebracht und weitere vergleichbare Projekte befinden sich aktuell in Planung oder Bearbeitung. Auch das Sächsische Klosterbuch zählt zu den Projekten, die aktuell noch keinen Abschluss gefunden haben, dennoch aber in der Wissenschaft präsent sind: Der 620 Seiten starke Band ist das Ergebnis eines seit 2010 laufenden interdisziplinären Projekts in Sachsen. Basierend auf einer bereits 2012 durchgeführten Tagung führt die vorliegende Veröffentlichung durch die vielseitige Geschichte der geistlichen Niederlassungen im Gebiet des heutigen Freistaates. Bei der Mehrzahl der 17 Beiträge handelt es sich um geschichtswissenschaftliche Untersuchungen, doch umfasst die Aufsatzsammlung auch kunsthistorische, bauhistorische und archäologische Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte rund um die spirituellen Gemeinschaften Sachsens. Dabei werden inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, die die handbuchartige Ausrichtung des geplanten Klosterbuchs um einige Aspekte bereichert. Eingangs ist zu bemerken, dass die Publikation eine große thematische Breite geistlicher Geschichte abdeckt: Nach einer Einleitung der Herausgeber thematisiert Heinz-Dieter Heimann, der bereits als Wegbereiter und Herausgeber des Brandenburgischen Klosterbuches wirkte, die anhaltende „Konjunktur der Klosterbücher“ (39). Dabei geht er dem Ursprung der professionellen regionalen Ordensforschung nach und versucht gleichzeitig, die Leistungen der bisherigen jüngeren Forschungsbewegungen einzuordnen. Der Autor geht nicht nur auf das anhaltende Interesse an der Bearbeitung von Klosterbüchern ein, sondern versucht auch einen Ausblick auf zukünftige Klosterbücher zu geben. Die weiteren Beiträge sind spezifischer auf einzelne historische Persönlichkeiten oder geistliche Orden und Stifte sowie deren sächsische Niederlassungen zugeschnitten. Dabei wird nicht selten richtungsweisende Basisforschung nahe an den Originalen betrieben, so etwa in den Ausführungen von Antje Janina Gornig zu den Niederlassungen der Antoniter in Mitteldeutschland. Auf einer breiten, bisher weitgehend unbeachteten Quellenbasis ordnet die Wissenschaftlerin das Ordenshaus der Antoniter in Lichtenberg-Prettin bzw. die dazugehörigen Stellen in Wittenberg, Eicha, Halberstadt und Magdeburg-Sudenburg gut nachvollziehbar in den regionalen- und ordensspezifischen Kontext ein. Gleichzeitig kann sie aufgrund ihrer profunden Quellenkenntnis nachweisen, dass es die angeblichen Häuser der Antoniter in Eilenburg und Taucha als solche gar nicht gab.
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Besonderes Augenmerk wird auch jenen geistlichen Orden und Niederlassungen geschenkt, die in der Forschung bisher keine große Aufmerksamkeit erhalten haben. Dazu gehören nicht nur die Magdalenerinnen und die Serviten, die jeweils in einem Beitrag betrachtet werden, sondern zudem geistliche Niederlassungen, die eigentlich keine Ordenszugehörigkeit besaßen. Dazu zählen neben den häufig überlieferungsarmen Beginenhäusern, die Jörg Voigt in seinem Artikel am Beispiel der Beginenhäuser in Leipzig näher untersucht, auch das Säkularkanonikerstift in Zscheila und die dazugehörige, in Hain verbliebene Propstei, die Klaus Fröhlich in den Fokus nimmt. Letzterer stellt auf Basis der Überlieferung die komplexe Geschichte des Domherrenstifts vor, das als geistliche Niederlassung für den Meißner Bischof ein herrschaftssicherndes Element sein sollte, im Verlauf des späten Mittelalters aber an Bedeutung verlor. Auch die Ritterorden werden in dem Band bedacht. Der Aufsatz von Petr Hrachovec stellt die Geschichte der Johanniterkommenden im Zittauer Land im 16. Jahrhundert vor.1 So besaß der Orden das Patronat der städtischen Pfarrkirche, ein Umstand, der zu Spannungen mit dem Rat der Stadt führte, die ihrerseits ein hohes Interesse an der Verwaltung des Patronats hatten. Der ein halbes Jahrhundert andauernde, gut belegte Konflikt um die johannitischen Güter und das Patronat führte letztlich zum Verlust der Niederlassungen für den Orden. Neben weitgehend unerforschten Klöstern, Stiften und Kommenden werden in dem Band auch bereits besser erforschte Institute eingehend betrachtet, etwa die Niederlassungen der Zisterzienser in Buch oder Altzelle. Hans-Peter Schmit widmet sich etwa dem Wirken Martins von Lochau, der als Abt der Zisterzienserabtei Altzelle Teil eines humanistischen Gelehrtennetzwerks um 1500 war. Viel Aufmerksamkeit gilt darüber hinaus den Dominikanern in Leipzig, die einerseits in einem Überblick zum Termineiwesen sächsischer Bettelordensniederlassungen von Jens Klingner behandelt werden. Andererseits werden sie auch in den Abhandlungen von Hartmut Mai zur Baugeschichte und Ausstattung der Leipziger Niederlassung, von Rudolf Hiller von Gaertingen zur Entstehung und Deutung der sogenannten Böhmischen Tafel und von Jörg Voigt zu den Paulerregelnonnen im Umfeld der Dominikanerniederlassung und den Barfussenschwestern bei den Franziskanern in Leipzig prominent berücksichtigt. Weiterhin thematisiert Christoph Volkmar die Dominikaner und deren Beziehung zum wettinischen Herrscherhaus. Die Leipziger Dominikanerniederlassung bildet mit Untersuchungen zur regionalen Einbindung, aber auch zur Kunstund Bauhistorie einen inhaltlichen Schwerpunkt des Werkes. Insgesamt darf man den Band mit seinen vielfältigen Beiträgen mit vornehmlich geschichtswissenschaftlicher Ausrichtung einerseits als Vorausblick auf die ergiebige Basisforschung verstehen, die sich später in Form des Klosterbuches für Sachsen der Öffentlichkeit zeigen wird. Anderseits sind die Texte, die wohl zumeist von den Autorinnen und Autoren des Klosterbuches verfasst wurden, als Ergänzung desselben zu sehen. Es bleibt abzuwarten, wie viele der „Neuen Forschungen zu den Sächsischen Klöstern“ sich auch im Handbuch finden werden. Auf jeden Fall geht die inhaltliche Tiefe der meisten Einzelbeiträge über die Ansprüche und Ziele bisher erschienener Klosterbücher hinaus, was insbesondere für eine zielgerichtete Ergänzung der Klosterbuchartikel spricht. Im gesamten Band ist bereits die enge Verzahnung der geistlichen Nieder-
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lassungen mit deren unmittelbaren Umgebung, aber auch deren überregionale Einbindung gut sichtbar, was jede der hier behandelten Niederlassungen betrifft. Dass zwischen der Tagung und ihrer hiermit vorliegenden Veröffentlichung acht Jahre liegen, ist kaum merkbar: Die meisten Beiträge wurden sorgsam um aktuelle Literatur ergänzt und um neue Forschungsperspektiven und -erkenntnisse erweitert. Darüber hinaus bereichern den Band weitere Beiträge, die nicht auf die Tagung zurückgehen. Letztlich wird deutlich, welchen Mehrwert nicht nur der vorliegende Band für die gegenwärtige und zukünftige regionalhistorische und vergleichende Ordensforschung hat, sondern auch das hoffentlich bald erscheinende sächsische Klosterbuch haben kann. 1
Von Hrachovec publizierte 2020 eine umfassende Monografie zu den Zittauer Kirchen, wobei die Thematik um die Auflösung der Johanniterkommenden im Zittauer Land ebenfalls eine Rolle spielt: Petr Hrachovec: Die Zittauer und ihre Kirchen (1300–1600). Zum Wandel religiöser Stiftungen während der Reformation (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 61), Leipzig 2020.
Robert Harlaß M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 199–202 Stephan Flemmig Zwischen dem Reich und Ostmitteleuropa. Die Beziehungen von Jagiellonen, Wettinern und Deutschem Orden (1386–1526) (Quellen und Forschungen zur sächsischen und mitteldeutschen Geschichte 44), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2019, 706 S., ISBN 978-3-515-12309-9, 116,00 EUR. „Die Jagiellonen. Europas vergessene Großmacht“ titelte das Cover der März-Ausgabe 2022 des populärwissenschaftlichen DAMALS-Magazins und in der Tat rückte diese Herrscherdynastie erst in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt in den Fokus der deutschen Historiografie.1 Der gleichermaßen als Desiderat2 zu bezeichnenden engen Verknüpfung von Reich, repräsentiert in Gestalt der Wettiner, dem Deutschen Orden und den Jagiellonen widmete sich daher Stephan Flemmig in seiner im Wintersemester 2016/17 eingereichten und 2019 veröffentlichten Habilitationsschrift. Eines seiner Kernergebnisse vorwegnehmend begründet der Autor zu Beginn seine Entscheidung für einen Vergleich dreier Parteien damit, dass „es sich um stetige und enge Beziehungen [handelte], die gleichzeitig nicht einfach auf ein bilaterales Verhältnis reduziert werden können“ (19). Folgerichtig ergänzt er diesen multilateralen Vergleich in seiner umfangreichen Ausarbeitung sowohl durch die Kurie als auch anhand weiterer Dynastien des Reiches wie beispielsweise
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der Hohenzollern und Habsburger. Dadurch entsteht eine vielseitige und vielschichtige Betrachtung mit einem klaren Schwerpunkt auf dem Agieren der drei zentralen Akteursgruppen. Ein weiterer, engerer Zuschnitt erfolgt durch die Fokussierung auf die politisch-herrschaftliche Ebene bzw. das auswärtige Handeln. Kulturelle und ökonomische Aspekte werden, wie der Autor selbst ankündigt, nur vereinzelt berücksichtigt. Die klare Strukturierung setzt sich im weiteren Verlauf der Arbeit fort: Nach einem einleitenden Abschnitt zu Fragestellung, Vorgehen, internationalem Forschungsstand, Quellensituation, Begriffserklärungen und einer oberflächlichen Einführung in die diplomatische Praxis des Mittelalters konzentriert sich der Autor in den Teilen zwei bis sieben auf die Beziehungsgeflechte von Jagiellonen, Wettinern und Deutschem Orden ab der Gründung der polnisch-litauischen Personalunion im Jahr 1386 bis zum Ende der ungarischen und böhmischen Herrschaft der Herrscherdynastie 1526. Der Kapitelaufbau folgt dabei fast durchgängig dem immer gleichen, sich wiederholenden Muster: Zunächst werden die Jagiellonen in einem oberflächlichen, europäischen Kontext verortet, dann erfolgt ein Blick auf die Positionierung der Wettiner im Reich, woran sich ein chronologischer Durchgang anschließt, der mit einer Zusammenfassung endet. Sinnigerweise beginnt der erste inhaltliche Abschnitt daher mit der Etablierung der Jagiellonen nach Unionsgründung innerhalb des bestehenden, europäischen Machtgefüges und den ersten Bündnisbestrebungen. Dabei begegnen gerade die Wettiner im spannungsgeladenen Dualismus von polnisch-litauischer Union und Deutschem Orden, da beide Konfliktparteien besonders vor der Schlacht von Tannenberg 1410 bemüht waren, die Fürstendynastie für die eigene Position zu gewinnen. Der zweite Teil wartet mit einer vermeintlich klaren wettinischen Positionierung zu Ungunsten der Jagiellonen auf, die im Rahmen der Thronfolge in Böhmen und der damit verbundenen militärischen Unterstützung Kurfürst Friedrichs II. von Sachsen für Herzog Albrecht von Habsburg beim Erlangen ebendieser Königswürde erfolgte. Trotz dessen traten die wettinischen Landesherren weiterhin auch in der Rolle des Vermittlers auf und auch die Avancen der Union um die Unterstützung der Wettiner setzten sich fort. Stephan Flemmig meint darin zu erkennen, dass diese insgesamt „als wichtiger Machtfaktor zwischen dem Reich und Ostmitteleuropa wahrgenommen wurden“ (164). Innere Konflikte, wie beispielsweise der sächsische Bruderkrieg, riefen im dritten Abschnitt nun wiederum in vertauschten Rollen die Jagiellonen als Vermittler auf den Plan. Dahingegen bezeichnet der Autor die Beziehung der Wettiner zum Deutschen Orden in dieser Zeit als Misstrauensverhältnis, woran die Zurückhaltung der Wettiner in Bezug auf die Preußen-Frage nicht unschuldig gewesen sein dürfte. Dementsprechend definiert Flemmig den Zeitraum zwischen 1444 bis 1466 als eine der schwächsten Phasen innerhalb der diplomatischen Beziehungen von Jagiellonen, Wettinern und Deutschem Orden (237). Eine neuerliche Intensivierung, betrachtet im vierten Teil der Ausarbeitung, erfolgte erst im Zuge der abermaligen Bemühungen der Jagiellonen um die böhmische Krone. Auch der jagiellonisch-habsburgisch-hunyadischen Gegensatz, weniger der Zweite Thorner Frieden, setzte diesen Trend, wie im fünften Abschnitt verdeutlicht, fort. Zum Ende des 15. Jahrhunderts vertiefen sich auch die Verbindungen auf personeller Ebene im Rahmen einer dynastischen Ehepolitik, zu der unter anderem das Konnubium des Albertiners Herzog Georg (der Bärtige) mit Barbara von Polen zu rechnen ist. Dieses Bündnis
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ist keine singuläre Erscheinung, sondern in zeitlicher Nähe sind weitere Heiraten der Jagiellonen mit fürstlichen Dynastien des Reichs zu beobachten, wie die Ehe Herzog Bogislaws X. von Pommern mit Anna Jagiellonka (1491) und das Konnubium Markgraft Friedrichs (des Älteren) von Brandenburg-Ansbach mit Sofia von Polen (1479). Mit der Wahl von Georgs jüngerem Bruder, Friedrich von Sachsen, zum Hochmeister des Deutschen Ordens 1498 erreicht gleichermaßen die Beziehung der Wettiner zum Deutschen Orden im sechsten Abschnitt eine neue Qualität. Dessen Weigerung dem polnischen König den im Thorner Frieden festgelegten Treueeid zu leisten, führte jedoch wiederum zu einem Konflikt mit den Jagiellonen, an dem sich auch die wettinische Verwandtschaft vor allem in Gestalt seines Bruders beteiligte. Den inhaltlichen Teil beschließt unter anderem die Ordens-Frage, die letztlich mit der Umwandlung der preußischen Ordensgebiete in ein von Polen abhängiges Lehen ihre finale Erklärung erfuhr. In seiner Schlussbetrachtung betont Stephan Flemmig die je nach Betrachtungszeitraum unterschiedliche Intensität der diplomatischen Beziehungen, wobei sich Phasen enger Kontakte mit weniger intensiven Abschnitten abwechselten. Allerdings bestanden dauerhafte wie auch immer geartete Verbindungen zwischen den dreien, wobei die diplomatische Praxis mit den gängigen Mitteln (Korrespondenzen, Gesandtschaften, Herrschertreffen etc.) bestritten wurde und in der Art und Weise nicht vom Agieren gegenüber anderen Fürsten oder der Kurie abwich (595). Wichtig und weiterführend für zukünftige Forschung erscheint schließlich der nochmalige Hinweis des Autors, wonach auswärtige Beziehungen nicht auf rein herrschaftlicher Ebene existierten und gepflegt wurden, sondern unterschiedliche Gruppen und Mitglieder der Gesellschaft an ihrem Fortbestehen oder Abbruch beteiligt waren. In Gesamtschau liefert Stephan Flemmig, was er in seiner Einleitung ankündigt: Eine seitenreiche und detaillierte Studie mit einem politisch-herrschaftlichen Fokus. Die Konzentration auf eine herrschaftliche Ebene lädt leider oftmals jedoch zu rein deskriptiven Passagen ein; die Entscheidung für drei Akteursgruppen führt stellenweise zudem zu einem Ungleichgewicht in ihrer Betrachtung. Die Kalmarer Union als weiterer wichtiger Akteur des Ostseeraums zur gleichen Zeit wird nur randständig behandelt und nicht in das dichte Verflechtungsnetz aus Kontakten und Beziehungen eingewebt, was angesichts der inhaltlichen Schwerpunktsetzung verständlich erscheint. Die kurzen, ereignisgeschichtlichen Informationsblöcke zu den skandinavischen Reichen sind jedoch allesamt der deutschen, vor allem aber der osteuropäischen Literatur entnommen, sodass die nordische Forschung bedauerlicherweise keinerlei Berücksichtigung findet. All diese Kritikpunkte mindern jedoch in keiner Weise den Gesamtwert der Analyse, an die sich in Zukunft hoffentlich weitere, wie vom Autor in seiner Schlussbetrachtung angeregte Forschungsbeiträge anschließen werden, sodass die Jagiellonen keine vergessene Großmacht bleiben. 1
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Auf internationaler Ebene sei beispielsweise auf das Langzeit-Projekt „The Jagiellonians: Dynasty, Memory and Identity“ (2013–2018) an der Universität Oxford und gefördert durch die Europäische Union verwiesen, aus dem auch mehrere Publikationen hervorgingen (https://www.jagiel lonians.com/, letzter Zugriff: 23.02.2022). Einen wichtigen Beitrag zum auswärtigen Handeln in Ostmitteleuropa lieferte bereits der von Stephan Flemmig mitherausgegebene Sammelband von 2017: Stephan Flemmig, Norbert Kers-
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Rezensionen ken (Hg.): Akteure mittelalterlicher Außenpolitik: Das Beispiel Ostmitteleuropas (Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung 35), Marburg 2017.
Laura Potzuweit M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Abteilung für Regionalgeschichte, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
3. Frühe Neuzeit Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 202–205 Petra Hornung Gablinger Gefühlsmedien. Das Nürnberger Ehepaar Paumgartner und seine Familienbriefe um 1600 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 39), Zürich: Chronos Verlag, 2018, 276 S., 8 farb. Abb., ISBN 978-3-0340-1434-2, 48,00 EUR. Ulrike Leuschner (Hg.) Briefe der Liebe. Henriette von der Malsburg und Georg Ernst von und zu Gilsa 1765–1767 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 46 = Kleine Schriften 15), Marburg: Historische Kommission für Hessen, 2018, 272 S., 14 farb. Abb., ISBN 978-3-942225-41-0, 28,00 EUR. „Gefühlsmedien“ ist die Dissertation Petra Hornung Gablingers überschrieben, die am Historischen Seminar der Universität Zürich entstanden ist. In vier großen Kapiteln untersucht die Autorin die „Privatbriefe“ des Nürnberger Kaufmanns Balthasar Paumgartner (1551–1600) und seiner Ehefrau Magdalena, geb. Behaim (1555–1642), die zwischen 1582 und 1598 verfasst wurden. Die Briefe befinden sich im Germanischen Nationalmuseum und wurden von der Autorin für ihre Analyse um wenige weitere Familienbriefe ergänzt. Dabei berücksichtigt sie zunächst die Frage, wie Briefe als Medium der Kommunikation funktionieren konnten – welchen sozialen Wert sie hatten, auf welchen Wegen sie zwischen Schreiber und Adressaten bzw. Adressatenkreis übermittelt wurden, mit welchem Leserkreis bei solchen Familienbriefen überhaupt zu rechnen war und welche Form (sprachliche Gestaltung und Adressierung) die Briefe einnahmen. Es wird deutlich, dass die Praxis des Briefeschreibens im Milieu der Familien Paumgartner und Behaim zur alltäglichen Kommunikation gehörte (Habitus, Kapital sozialer Beziehungen nach Bourdieu). In den Briefen wurden vielfältige Themen, sowohl privater als auch geschäftlicher Natur, zwischen beiden Geschlechtern besprochen. Im Fall der Paumgartner ergab sich die Notwendigkeit der schriftlichen Kommunikation aus den Geschäfts-
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reisen Balthasars; Magdalena übernahm in dieser Zeit die Koordination der Geschäfte und die Distribution der Waren in der fränkischen Reichsstadt. Im zweiten und dritten Kapitel verbindet Hornung Gablinger den medienmethodischen Zugang zum 169 Briefe umfassenden Korpus mit Fragestellungen der Emotionsgeschichte. Sie zeigt, auf welche Art und Weise familiäre Beziehungen, Ehe und Liebe in den Briefen vorkommen und geht auf den Prozess der Partnerwahl und Eheanbahnung sowie der Eheschließung zwischen Magdalena und Balthasar Paumgartner ein. Ihre Briefe dienten also nicht nur der Herstellung der Beziehung zwischen den beiden, sondern während ihrer Ehe auch der Aufrechterhaltung der Partnerschaft und schlossen die Familien der Ehepartner ein, besonders Balthasars Bruder Caspar Paumgartner, seinen Vater und die Mutter Magdalenas. Beziehungen waren somit einerseits Gegenstand, andererseits war ihr Erhalt (verstanden als emotional community nach Rosenwein) Zweck der Briefe der Nürnberger Patrizierfamilie, wie Hornung Gablinger konstatiert (138 f.). Durch den sprachlichen Ausdruck und die Schilderung der eigenen Gefühlslage sowie der Schreibsituation zeigen sich die emotionale Nähe Balthasars und Magdalenas; diese Schriftintimität wurde mittels der eigenen Handschrift, mittels emotives (Reddy), spezifischen Ausdrücken in Anrede- oder Grußformeln, aber auch durch das Schreiben über Dinge zum Ausdruck gebracht. So zeigt die Autorin, dass die Bitte nach Gegenständen und die Erfüllung dieser Bitten, etwa um Kleidung oder Genussmittel, genauso Indizien für die Aufrechterhaltung eines guten Verhältnisses waren und symbolischen Wert besaßen wie die Übergabe von persönlichen Schätzen wie einer Haarlocke oder Blume. Auch alltägliche und auf den ersten Blick banale Themen wie der Tagesablauf, die Gesundheit, die politische und gesellschaftliche Situation in der Stadt, der Verlauf der Geschäfte, Reisen oder das Wetter konnten so zu Markern des gefühlvollen Austausches werden. Gefühle erscheinen also in den Briefen häufig kodiert. Exkurse verdeutlichen die emotionale Nähe, die Hornung Gablinger in den Briefen des Ehepaars Paumgartner erkennt: So zeigen die zwischen der Nürnbergerin Ursula Freher und ihrem Verlobten aus Frankfurt ausgetauschten Brautbriefe aus dem Jahr 1598, dass auch das Schreiben über den gemeinsamen geografischen Lebensmittelpunkt Magdalenas und Balthasars Intimität herstellte, was bei Freher und Johann Adolf von Glauburg aufgrund ihrer jeweiligen Herkunft nicht möglich war. Die Einbindung der Familien in den Prozess der Ehevorbereitung und damit auch den erweiterten Leserkreis thematisieren wiederum die Briefe der Paumgartners, deren Inhalt, kontrastiert mit denjenigen Anna Büschlers und Erasmus von Limpurgs, deutlich weniger geheim wirken. Büschler und Limpurg unterhielten in den 1520er Jahren eine heimliche Liebesbeziehung, was den Kreis der Personen, die um die Briefe und die Beziehung wussten, deutlich einengte, aber gleichwohl nicht auf das Paar beschränkte. Im vierten Teil ihrer Monografie widmet sich Hornung Gablinger der Edition der Briefe der Paumgartners durch Georg Steinhausen aus dem Jahr 1895. Dieser verfasste mit der „Geschichte des deutschen Briefes“ eine noch heute als Standardwerk geltende Kulturgeschichte des Briefes vom 16. bis 18. Jahrhundert. Hornung Gablinger unterstellt Steinhausen, dass er „die Edition romantisier[e]“ und den Briefwechsel dieses Ehepaars als exemplarisch für ein bürgerliches Ehepaar des 16. Jahrhunderts verstehe (205); dies belegt sie anhand der Biografie Steinhausens sowie seiner Auffassung von und Haltung zu Quellen, insbesondere zu den genannten Briefen.
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„Gefühlsmedien“ – ein Begriff, den Hornung Gablinger für die Briefe, die „zwischen den verschiedensten Akteuren standen und stehen[…]“ (243, Hervorhebung im Original), verwendet – verbindet auf innovative Weise eine durchaus bekannte Quelle mit modernen Fragestellungen und Methoden. Die Autorin konzentriert sich nicht allein auf das Medium des Briefes, an dem sie plausibel die verschiedenen Schichten emotionaler Nähe herausarbeitet, sondern bezieht auch die Rezeptionsgeschichte dieses speziellen Korpus mit ein und thematisiert so den Einfluss der unvermeidlichen emotionalen Beziehung des Historikers/der Historikerin zu seinen/ihren Quellen. Ein kleines Manko der Monografie ist das fehlende Orts-, Personen- und Sachregister, das die Arbeit sicher noch besser verwendbar gemacht hätte. Eine ähnliche Fragestellung wie im Falle der Arbeit Hornung Gablingers böte sich sicher auch für die Auswertung der Liebesbriefe an, die Ulrike Leuschner in der Edition „Briefe der Liebe“ der breiteren Forschung zugänglich gemacht hat, wie die Herausgeberin selbst in ihrem Nachwort andeutet (235). Leuschner bearbeitete eine Sammlung von insgesamt 120 Briefen, die Georg Ernst von und zu Gilsa (1740–1798) mit Henriette Luise Charlotte Christiane von der Malsburg (1748–1767) austauschte und die heute im Hessischen Staatsarchiv in Marburg liegt. Das Konvolut ergänzen ein Brief des Bruders Georgs, Wilhelm Friedrich Eitel von und zu Gilsa, den er an Henriette verfasste, sowie der Ehevertrag zwischen Henriette und Georg. Die beiden dem landsässigen hessischen Adel angehörigen jungen Leute lernten sich 1764 oder 1765 in Marburg kennen, wo Georg Ernst an der Universität nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst Rechtswissenschaften studierte; Henriette war die Schwester Philipp Ludwig Wilhelm von der Malsburgs, des besten Freundes Georg Ernsts. Im Gegensatz zu den zeitgenössisch vorherrschenden, durch die Familien des Paars arrangierten Ehen, beruhte die Heirat zwischen Georg Ernst und Henriette im Dezember 1766 auf romantischer Zuneigung. So zeigen die Briefe anfänglich (der Austausch beginnt im August 1765) die beginnenden Gefühle und die gegenseitige Versicherung der Aufrichtigkeit der Zuneigung; die 43 im ersten Ehejahr verfassten Briefe hingegen umfassen neben Bekundungen der gegenseitigen Liebe auch den Themenkreis des von Henriette in Gilsa geleiteten Haushaltes, Georg Ernsts Berufsleben in Kassel und gesellschaftliche Ereignisse. Der Briefwechsel endet mit dem Tod Henriettes Ende November 1767 im Kindbett. Ähnlich der Korrespondenz der Paumgartner im 16. Jahrhundert halten sich auch die hier edierten Briefe an zeitgenössische Gepflogenheiten, in diesem Fall die Regeln der Briefsteller im „Jahrhundert des Briefes“ – allen voran Christian Fürchtegott Gellerts. Damit entsprechen sie den Erwartungen an Galanterie und Respektbekundung in niederadeligen Kreisen. Dies wird etwa sichtbar an Anrede- und Grußformeln oder den Devotionsabständen. Gemeinsam haben die Korrespondenzen auch die Thematisierung des Schreibens und Versendens bzw. die Bezugnahme auf den Erhalt von Briefen, auch wenn deren Übermittlung in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts neben den weiterhin als Überbringern genutzten gemeinsamen Bekannten mittels einer etablierten und zuverlässig arbeitenden Reichspost erfolgen konnte. Ebenso wird über gegenseitige Geschenke, etwa Haushaltsgegenstände, Kleidung oder Nahrungsmittel geschrieben. Eine große Rolle spielen darüber hinaus Themen der Literatur, für die beide eine ausgeprägte Vorliebe haben; Georg Ernst sendet Henriette häufiger Gedichte als Briefbeilagen und lobt darin ihre Schönheit, Figur oder Augenfarbe. Intimität drücken auch die Kosenamen füreinander und
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die Anspielungen auf bzw. die Bekundung von Sehnsucht nach körperlicher Liebe und dem Körper des Ehegatten aus, was mitunter explizit und direkt ausgedrückt wird. Während Henriettes Briefe von einem „leichte[n], muntere[n] Stil“ geprägt sind (241), sie allerdings durchaus Konzeptfassungen ihrer Schreiben erstellt, erscheinen Leuschner die ersten Briefe Georg Ernsts noch stark formalisiert; erst im Laufe der Zeit kann er die von Gellert geforderte Natürlichkeit im schriftlichen Gespräch erreichen. Wie Leuschner zeigen kann, hatte die Handschrift Georg Ernsts einige Besonderheiten (258). Der Edition folgen Informationen zum Textkorpus, zum Kontext des Kennenlernens, zur Ehe des Paares und zum Lebenslauf Georg Ernsts nach Henriettes Tod sowie ein editorischer Bericht. Die vorbildliche Bearbeitung der Texte erläutert Änderungen in der zeichengetreuen Wiedergabe der Briefe mittels textkritischem Apparat präzise und ermöglicht den Leserinnen und Lesern transparent die Aufschlüsselung der Vorlage. Leuschner kennt als Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Briefe und Tagebücher der Aufklärungszeit sehr gut; mitunter überrascht die Historikerin allerdings ihre fast schon literarische Ausdrucksweise, etwa wenn sie das kurze Kapitel zum Tod Henriettes und den weiteren Lebensereignissen Georg Ernsts als „Ausklang“ betitelt (255) oder einige Textpassagen recht subjektiv erscheinen („Henriette [gereicht] ihre geschlechtsbedingte mangelnde Ausbildung ausnahmsweise einmal zum Vorteil.“ [241] „Endgültig die Ehe befreit sie [Henriette] von Verlustängsten und Minderwertigkeitsgefühlen.“ [251]). Nichtsdestotrotz ermöglicht die Edition Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einen Zugang zu einer sehr geschlossen erscheinenden Briefsammlung, die nicht nur das Wissen um die vormoderne Ehe erweitert, sondern darüber hinaus auch zu sozialhistorischen Fragestellungen beitragen kann. Dr. Sandra Wölfel Universität Bayreuth, Universitätsstr. 30, 95447 Bayreuth, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 205–208 Wolfgang Wüst (Hg.) Der Dreißigjährige Krieg in Schwaben und seinen historischen Nachbarregionen: 1618–1648–2018. Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung in Augsburg vom 1. bis 3. März 2018 (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 111), Augsburg: Wißner-Verlag, 2018, 374 S., zahlreiche Abb. und Grafiken, ISBN 978-3-95786-179-5, 29,00 EUR. Schon seit geraumer Zeit erweisen sich Gedenkjahre als entscheidende Taktgeber der historischen Erinnerungskultur im deutschsprachigen Raum. Da sich 2018 der Prager Fenstersturz zum 400. Mal jährte, war es somit wenig überraschend, dass in diesem Jahr Tagungen und Publikationen zum Dreißigjährigen Krieg Hochkonjunktur hatten. Von Johannes Burkhardt bis Georg
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Schmidt legten mehrere prominente Autoren entsprechende Monografien vor – teils angereichert mit neuen Thesen und Erkenntnissen, oftmals aber auch nur Altbekanntes neu auflegend. Als wissenschaftlich bisweilen ertragreicher erwiesen sich mehrere Sammelbände, allen voran die von Robert Rebitsch und Michael Rohrschneider herausgegebenen Publikationen. Diese Auflistung kann nun noch durch einen von Wolfgang Wüst betreuten Band erweitert werden, der die Ergebnisse einer Augsburger Fachtagung vom März 2018 präsentiert. Besagtes Sammelwerk hebt sich von den zahlreichen anderen Veröffentlichungen zum Dreißigjährigen Krieg dadurch ab, dass es eine spezifisch regionalgeschichtliche Perspektive einnimmt und vor allem den Südwesten Deutschlands in den Fokus rückt, nämlich Schwaben und seine „historischen Nachbarregionen“. Die Beiträge sind zu drei Kapiteln zusammengefasst, die sich thematisch teilweise überschneiden: „I. Allgemeines und Regionales“, „II. Schwaben“ und „III. Schwaben, Nachbarregionen, Europäisches“. Wie die Kapitel- bzw. Sektionsüberschriften nahelegen, greifen einige Aufsätze bisweilen deutlich über die heutige bzw. historische Region Schwaben hinaus: Franken ist gleich mit mehreren Studien vertreten, zumindest eine Untersuchung nimmt auch eine europäische Perspektive in den Blick. Chronologisch wie thematisch passend werden die Einzelbeiträge mit einem Aufsatz von Axel Gotthard über die Ursachen des Krieges im Reich und neuere Forschungsmeinungen hierzu eröffnet. Die drei folgenden Beiträge eint ein gewisser Fokus auf Ostschwaben sowie eine Schwerpunktsetzung auf die sogenannte Schwedenzeit zwischen 1631 und 1635: So widmet sich Thomas Groll dem Dreißigjährigen Krieg im Bistum Augsburg und Wolfgang Wüst gibt einen Überblick über die schwedische Besatzungszeit in mehreren süddeutschen Reichsstädten. Dazwischen reiht sich ein erkenntnisreicher Aufsatz von Wilhelm Liebhart über das Schicksal der Augsburger Benediktiner von St. Ulrich und Afra ebenfalls zur Zeit der schwedischen Besatzungsherrschaft ein. Die darauf folgenden Aufsätze von Christof Paulus und Klaus Wolf heben sich beide aufgrund ihres spezifisch kultur- bzw. literaturgeschichtlichen Zugangs von anderen Beiträgen ab. Paulus widmet sich in seiner Untersuchung der fränkischen Herrschaft Schwarzenberg und Wolf nimmt die schwäbische Literatur während des Dreißigjährigen Krieges in den Blick, wobei er sich unter anderem mit den Meistersingern von Memmingen beschäftigt. Im Beitrag von Gerhard Immler steht Kurbayern und dessen Interesse an „Mittel- und Oberschwaben als Vormauer Bayerns“ im Mittelpunkt. Immler kann in seiner Untersuchung belegen, welche bedeutsame Rolle dem heutigen Bayerisch-Schwaben als strategisches Vorfeld der bayerischen Grenzsicherung nach Westen im Dreißigjährigen Krieg und der Frühen Neuzeit allgemein zukam. Den Fokus auf das Schicksal einzelner schwäbischer Städte legen die Ausführungen von Walter Ansbacher, Franz-Rasso Böck und Stefan Dieter, die sich Dillingen, Fürststift und Reichsstadt Kempten sowie Kaufbeuren widmen. In allen drei Beiträgen wird dem Leser vor Augen geführt, dass der Dreißigjährige Krieg auf kommunaler Ebene zwar meist mit wirtschaftlichem und demografischem Niedergang einherging, aber auch als (oftmals erfolgreiches) Bemühen um institutionelle und administrative Selbstbehauptung und Kontinuität beschrieben werden kann. Darauf folgen Aufsätze, die sich entweder mit einer bestimmten Region befassen oder jeweils mit Ereignissen, die für die Genese, den Verlauf oder die Beendigung des Krieges von zentraler
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Bedeutung waren: Thomas J. Hagen rekonstruiert akribisch, wie die konfessionellen Spannungen in Donauwörth kurz nach 1600 soweit eskalieren konnten, dass die Reichsstadt letztlich der Reichsacht verfiel und unter bayerische Besatzung geriet, was eine bündnispolitische Polarisierung im Reich nach sich zog und zumindest nach klassischer Lesart in den Dreißigjährigen Krieg führte. Hierauf folgt eine detailreiche Analyse der Schlacht von Nördlingen von 1635 von Wilfried Sponsel. Christoph Gunkel thematisiert wiederum den Nürnberger Exekutionstag, jenem im Vergleich zum Westfälischen Friedenskongress weit weniger bekannten diplomatischen Großereignis, ohne das eine Demobilisierung und damit tatsächliche Beendigung des Kriegszustandes im Reich nicht hätte erreicht werden können. In die nördlichen Grenzregionen von Schwaben bzw. in deren unmittelbare Nachbarschaft verweisen die Beiträge von Holger Fedyna, Frank Kleinehagenbrock und Luisa Hammerich: Fedyna befasst sich mit dem Härtsfeld und Kleinehagenbrock mit dem heute württembergischen Teil Frankens, insbesondere Hohenlohe. Hammerichs Aufsatz stellt eine interessante Detailstudie über den Dinkelsbühler Alltag im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges dar, die sich vor allem auf eine Untersuchung von Rechnungsbüchern stützt. Abgeschlossen wird der Sammelband von zwei im weiteren Sinne kulturgeschichtlichen Detailstudien: Wolfgang Mährle widmet sich dem Hochschulbesuch von Protestanten aus den Reichsstädten Augsburg, Nördlingen, Memmingen und Lindau und analysiert dabei unter anderem die Wahl der Studienorte und -fächer von Seiten der schwäbischen Reichsstädter. Der letzte Beitrag des Bandes stammt von Rainald Becker, der anhand der bisher unterschätzten Literatur- und Quellengattung der Universalhistorien der Frage nachgeht, inwieweit der Dreißigjährige Krieg in dieser besonderen Literatur im 18. Jahrhundert als Epocheneinschnitt dargestellt wurde. Abgerundet wird der Band durch ein Abkürzungs- und Siglenverzeichnis sowie ein Orts- und Namensregister. Letzteres ist für einen Sammelband zweifelsohne keine Selbstverständlichkeit und ein Gewinn, auch wenn sich hier einige kleinere Fehler finden. So wird etwa die Ortschaft Elchingen auf dem Härtsfeld mit der heutigen Gemeinde Elchingen im Landkreis Neu-Ulm verwechselt oder die Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach gleich unter drei inhaltlich faktisch identischen Lemmata aufgeführt. Wie bei einem Sammelband dieser Vielzahl an Autorinnen und Autoren nicht ganz überraschend, schwankt die methodische Innovation und die Berücksichtigung aktueller fachwissenschaftlicher Diskussionen zwischen einzelnen Beiträgen durchaus erheblich. So begnügt sich Axel Gotthard in seinen Ausführungen über die Ursachen des Dreißigjährigen Krieges weitgehend mit der erneuten Schilderung der von ihm schon oft vertretenen Thesen, darunter die von der (vermeintlich) vollständigen institutionellen Lähmung des Reiches in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts. Jüngste Forschungsarbeiten stellen dieses Urteil zumindest bezüglich der Reichskreise infrage. In den Ausführungen von Thomas Groll fallen kleinere inhaltliche Ungenauigkeiten ins Auge, etwa wenn er von Augsburg als „paritätischer Reichsstadt“ (37) schon vor dem Dreißigjährigen Krieg bzw. dem Westfälischen Frieden spricht. Auch löst sich der Autor bisweilen zu wenig vom Wortlaut seiner Quellen oder der älteren Literatur (Weitnauer), zum Beispiel wenn er konsta-
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tiert, um das Jahr 1635 hätte die Soldateska im (gesamten) Bistum Augsburg „alles Vieh, Getreide und weitere Lebensmittel“ geraubt (43). Erfrischend methodisch innovativ zeigt sich hingegen Christof Paulus, der sich ausdrücklich „der neuen Kulturgeschichte“ (85) verpflichtet sieht und dessen Beitrag über das fränkische Schwarzenberg keinem klassischen chronologisch-ereignisgeschichtlichen Aufbau folgt, sondern nach kommunikations- und mentalitätsgeschichtlichen sowie wirtschafts- und verwaltungsgeschichtlichen Aspekten gegliedert ist. Ebenso in besonderer Weise hervorstechend ist der Aufsatz von Rainald Becker, der sich mit 33 Seiten Länge nicht nur in quantitativer Hinsicht von den meisten anderen Beiträgen deutlich abhebt, sondern den Leser auch mit Einblicken in eine hochinteressante, aber erstaunlich unbekannte Quellengattung zu überraschen vermag. Der Band vereint somit eine durchaus beeindruckende Vielzahl an thematisch, methodisch wie geografisch unterschiedlich fokussierten Beiträgen und kann auch mit den ein oder anderen neuen Erkenntnissen aufwarten, die unser Wissen über Schwaben und seine unmittelbaren Nachbarregionen im Dreißigjährigen Krieg teils merklich erweitern. Dr. Fabian Schulze Universität Augsburg, Philosophisch-Historische Fakultät, Universitätsstraße 10, 86159 Augsburg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 208–210 Anja Amend-Traut, Josef Bongartz, Alexander Denzler, Ellen Franke, Stefan A. Stodolkowitz (Hg.) Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 73), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2020, 320 S., 9 Abb., ISBN 978-3-412-51720-5, 65,00 EUR. Der Titel ist Programm – und dies gleich in mehrfacher Hinsicht, verweist er doch nicht nur auf die gerichtliche Vielfalt im Alten Reich zwischen Reichshofrat, Reichskammergericht und dörflichem Rügegericht, sondern zugleich auf die mit dem Begriff der „Gerichtslandschaften“ verbundenen Fragen nach der funktionalen Verzahnung der Reichsgerichtsbarkeit mit den unteren Ebenen der Gerichtsbarkeit im vormodernen imperialen Rechtsraum. Der inhaltlich mehrdimensionale Begriff der „Gerichtslandschaften“ selbst wurde als „Arbeitsinstrument“ im Kontext des inzwischen bereits älteren kultur- und sozialwissenschaftlichen Paradigmenwechsels des spatial turns entwickelt und im Rahmen zweier rechtshistorischer Tagungen schon 2005 erfolgreich erprobt. Er verweist dabei nicht nur auf geografisch – landschaftlich, regional oder lokal – determinierte Gerichts- und Rechtsräume, sondern verknüpft diese zugleich im Sinne der wiederholt anzitierten „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ mit Beschreibungen der dortigen „bunten Vielfalt von
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Gerichtsarten […] vor dem Hintergrund der weltlichen, geistlichen, territorialen, städtischen, dörflich/bäuerlichen, ständischen, berufs- und religionsbezogenen Gerichte“ (33 f.). Dass dieses rechtshistorisch innovative Forschungskonzept für die analytische Erfassung der geografisch, personell und institutionell vielgestaltigen Gerichtsbarkeit im Alten Reich ausgesprochen erfolgreich fruchtbar gemacht werden kann, dokumentiert nicht zuletzt der vorliegende Sammelband, der aus einer 2016 gemeinsam von der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. und dem Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit getragenen gleichnamigen Tagung hervorgegangen ist. Eingeleitet von einer konzeptionell verdichteten und hochinformativen Einführung der fünf Herausgeberinnen und Herausgeber zu „Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften“ (9–37) werden insgesamt 13 Beiträge zusammengeführt, die sich auf methodisch, zeitlich und geografisch durchaus unterschiedliche Weise der vormodernen Gerichtsvielfalt jenseits der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich annähern. Sie generieren dabei zugleich eine für Tagung und Sammelband angestrebte vergleichende Perspektive, die sich einerseits an der Gerichtsvielfalt in Verbindung mit ausgewählten Personengruppen orientiert, andererseits die „Gerichtslandschaften“ einzelner Territorien mit ihren je spezifischen Entwicklungen berücksichtigt. Geografisch allerdings beschränken sich die hier zusammengetragenen Beobachtungen wesentlich auf den Norden bzw. Nordwesten des Alten Reichs sowie den süddeutschen Raum, während die (nord-) ostdeutschen „Gerichtslandschaften“ leider nicht genauer in den Blick genommen werden. Eröffnet wird die klug durchkomponierte Abfolge der einzelnen Beiträge durch die für das Verständnis der historischen Gerichtsvielfalt zentralen Überlegungen Dietmar Willoweits „über den Schutz subjektiver Rechte in Vergangenheit und Gegenwart“ (39–55), die zugleich mitten in aktuelle Diskussionen zur Ergänzung bürgerlicher Grundrechte bei gleichzeitiger Wahrung politischer Gestaltungsräume führen. Gegenüber dem „gröbere[n] Instrument der Gesetzgebung“ (54) mit ihrem objektiven Geltungsanspruch wird dabei auf die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung des individuellen Rechtsschutzes hingewiesen, der sich in einer „äußerst kreativ voranschreitenden Rechtsprechung“ (54) manifestiert. Ebenfalls grundlegenden Fragenstellungen zur vormodernen Gerichtsvielfalt widmet sich der Beitrag Peter Oestmanns „Zur Typologie frühneuzeitlicher Gerichte“ (57–76), der gegen eine für die Höchstgerichtsbarkeit konstatierte „Überspezialisierung“ der Forschung (58) den Blick für das „Wimmelbild“ (75) der frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit verstärkt zu öffnen sucht. Perspektivisch ergänzt werden diese Ausführungen durch die Untersuchungen Michael Ströhmers zur „Jurisdiktionsökonomie und Gerichtsvielfalt im Nordwesten des Alten Reiches“ (77–99), der höchst instruktiv die sozioökonomischen Zusammenhänge vormoderner Gerichtsorganisationen thematisiert. Während Alexander Krey in seinem Beitrag zur „Rechtsvereinheitlichung durch Oberhöfe und die Synthese deutschen Rechts in der Forschung“ (101–125) am Beispiel Ingelheims und Lübecks die konstruktivistischsynthetisierende Sicht rechtshistorischer Arbeiten auf die Rechtsprechung spätmittelalterlicher Oberhöfe kritisch beleuchtet, konzentrieren sich Hendrik Baumbachs Ausführungen („Was war ein Landgerichtssprengel?“; 127–144) auf die Gerichtsnutzung und das räumliche Einzugsgebiet überregional tätiger kaiserlicher Landgerichte. Jenseits der hier jeweils angesprochenen vormodernen Gerichtsvielfalt betrachtet demgegenüber Florian Dirks im Rahmen seiner Überlegungen „zu Konfliktlösungsstrategien in Fehden zwischen Stadt und Adel auf Tagfahrten im Hanseraum
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des 14. und 15. Jahrhunderts“ (145–162) zeitgenössische Möglichkeiten und Formen einer außergerichtlich-gütlichen Streitschlichtung innerhalb einzelner „Gerichtslandschaften“. Mit immer wieder neuen Fragestellungen und Forschungsansätzen umkreisen auch die nachfolgenden Studien die Gerichtsvielfalt und „Gerichtslandschaften“ im Alten Reich. So untersucht Stefan Andreas Stodolkowitz am Beispiel Braunschweig-Lüneburgs die potenziellen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen „Herrschaftsverdichtung und Institutionalisierung der Justiz“ (163–181). Methodisch bemerkenswert sind darüber hinaus die umfangreichen quantitativen Studien Alexander Denzlers zur süddeutschen Gerichtsvielfalt (183–208), der auf der Grundlage der im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München überlieferten Reichskammergerichtsakten insgesamt 154 Gerichtstypen für den bayerischen Raum des 16. bis 18. Jahrhunderts identifizieren konnte. Exemplarisch werden schließlich zwei fränkische Gerichtstypen vorgestellt – „Das Würzburger Kanzleigericht zu Beginn der Frühen Neuzeit“ durch Josef Bongartz (209–226) sowie „Das Wertheimer Zentgericht in der Zeit um 1600“ durch Michaela Grund (227–240). Instruktive diachrone Ausführungen zur „jüdische[n] Gerichtsbarkeit in der Frühen Neuzeit“ durch Stefan Rohrbacher (241–259) und zur „akademische[n] Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ durch Marian Füssel (261–278) sowie eine differenzierte Fallstudie Vincent Demonts zur „Gerichtsvielfalt im Gewerbealltag“ des Nürnberger Raums an der Wende zum 18. Jahrhundert (279–300) runden das vielschichtig aufgefächerte Spektrum vormoderner Gerichtsvielfalt im Alten Reich facettenreich ab. Fazit: eine ausgesprochen empfehlenswerte Lektüre – nicht nur für an der vormodernen Rechtsgeschichte Interessierte. Dr. Gabriele Annas Johann Wolfgang Goethe-Universität, Historisches Seminar/Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60629 Frankfurt am Main, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 210–215 Márta Fata Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit (Einführungen in die Geschichtswissenschaft. Frühe Neuzeit 1), Stuttgart: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, 245 S., 10 Abb., ISBN 978-3-8252-5414-8, 20,00 EUR. Kurt Andermann, Nina Gallion (Hg.) Weg und Steg. Aspekte des Verkehrswesens von der Spätantike bis zum Ende des Alten Reichs (Kraichtaler Kolloquien 11), Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2018, 266 S., 14 Abb., ISBN 978-3-799-59281-9, 29,00 EUR.
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Antoni Mączak Eine Kutsche ist wie eine Straßendirne … Reisekultur im Alten Europa (Polen in Europa), Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2016, 237 S., 13 Abb., ISBN 978-3-506-78485-8, 29,90 EUR. Die Fortbewegung von Punkt A nach Punkt B ist eine von Freiheiten (etwa Urlaub) und Zwängen (etwa kriegsbedingte Flucht) geprägte grundlegende Erfahrung von Menschen, deren historische Erforschung die Migrations- und Mobilitätsgeschichte besonders seit den grundlegenden Arbeiten von Klaus J. Bade allein schon deshalb wiederkehrend betreibt, da Ursachen, Formen und Folgen der Bewegung im physischen Raum eine fast unerschöpfliche Komplexität und Variabilität aufweisen. Diese Forschungen für die Frühe Neuzeit zu synthetisieren und für Studierende und Dozierende aufzubereiten, ist das Anliegen von Márta Fata. Ihr hier im Zusammenhang mit zwei weiteren Publikationen zu besprechendes monografisches Einführungswerk zur Mobilität und Migration in der Frühen Neuzeit wird dem Anspruch einer komprimierten Bestandsaufnahme mehr als gerecht, gleichwohl es unvermeidbar zu Auslassungen und Bündelungen kommt, die manches übersehen lassen. Zumindest ist es der Vergleich mit den weiteren hier zu besprechenden historischen Studien, die zwar ebenso mittelbar (Beiträge im Sammelband „Weg und Steg“) und unmittelbar (Antoni Mączak) die geografische Mobilität der Vormoderne für einen erweiterten Leserkreis behandeln, aber dennoch andere und weitere Befunde generieren. Die Schnittmenge aller drei Publikationen ist mit der inhaltlichen, zeitlichen (besonders Frühe Neuzeit) und dann auch räumlichen Ausrichtung gegeben: Die „Länder zwischen dem Großfürstentum Litauen und dem Atlantischen Ozean, von der Ostsee bis Malta“ (23) stehen bei Mączak in seiner Studie zur „Reisekultur im Alten Europa“ und ebenso und hier vor allem das römischdeutsche Reich mit seinen angrenzenden Gebieten bei Fata und den Autoren des von Kurt Andermann und Nina Gallion herausgegebenen Sammelbandes im Vordergrund. Eine gebündelte Betrachtung aller drei Studien lohnt sich auch aufgrund des intendierten, gemeinsamen Rezipientenkreises. Mit dem Lehrwerk von Fata liegt der Auftakt einer neuen, von Marian Füssel und Christoph Kampmann herausgegebenen Einführungsreihe in die Geschichte der Frühen Neuzeit vor, die sich an ein auch von Mączak anvisierten Leserkreis richtet; die Reihenherausgeber führen im Vorwort neben Studierende und Lehrende ein historisch interessiertes Publikum an. Und der Sammelband „Weg und Steg“ basiert auf ein sich gleichermaßen an Fachhistorikerinnen und Fachhistoriker sowie interessierte Laien richtendes Kolloquium. Obgleich in allen drei Büchern Muster und Gemeinsamkeiten von Mobilität und Bewegung herausgearbeitet werden, unterscheiden sich die Studien in ihren Schwerpunktsetzungen deutlich. Dies betrifft zunächst die beiden Monografien. Fata setzt sich in erster Linie mit Wanderungsbewegungen auseinander, die mit einer dauerhafteren Veränderung des Lebensmittelpunktes einhergehen (Migration), während Mączak ausschließlich zeitlich begrenzte Bewegungen unter Beibehaltung des bisherigen Wohnsitzes fokussiert (Reisen). Gerade diese unterschiedliche Ausrichtung erlaubt es Letzterem, sämtliche 16 Teilkapitel mit einer Vielzahl an oft auch längeren direkten Quellenzitaten von schreibenden Reisenden auszuführen. Ob etwa das Anfertigen, Mitführen und Rezipieren von Reiselektüre, die Überschreitung von Herrschaftsgrenzen
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oder die gesonderte Betrachtung von reisenden Gelehrten, es sind immer und in den genannten Fällen Zeitgenossen aus England, Frankreich, Flandern, Pommern, Württemberg, Italien und Polen, die ausführlich zu Wort kommen. Diese quellenzentrierte Darstellung der Reisetätigkeit zu Fuß, mehr aber auf Pferden oder in Kutschen ist geradezu das Leitmotto von Mączak. Denn die nicht nur gedruckten, sondern auch handschriftlich verfassten und etwa in Bibliotheken von Krakau, Stockholm, Kopenhagen, Cambridge und Oxford überlieferten und dort – lange vor der voranschreitenden Digitalisierung unserer Tage – wohl allesamt persönlich eingesehenen Reiseberichte erlauben es, sich „am leichtesten den Alltag unter damaligen Bedingungen vor[zu] stellen“ (22). Dem so behandelten Reisealltag vorzugsweise des 16. und 17. Jahrhunderts stehen bei Fata eine begrifflich-historiografische Grundlegung und zehn wiederum in Unterpunkte gegliederte Themenfelder gegenüber, die weitaus kürzere Direktzitate enthalten, um etwa mit dem Brief eines österreichischen Exulanten, einer Aufzeichnung eines Amtmanns aus Zweibrücken über die Täufer oder Privilegien von niedergelassenen Hugenotten die religiös motivierte Migration quellengestützt zu thematisieren. Die von Fata synthetisierten Forschungsbefunde betreffen außer der Migration aus Glaubensgründen die eigens behandelte militärische und kriegsbedingte Migration, die Siedlungsmigration, die Erwerbsmigration, die Subsistenzmigration von armen Unterschichten, verschiedene Formen der Mobilität zum Zweck des Wissenserwerbs und der Wissensvermittlung sowie – dem Ganzen vor- und nachgelagert – die Rahmenbedingungen von Migration und Mobilität im Zeichen der frühneuzeitlichen Expansion und Welterfahrung, des (kameralistischen) Bevölkerungsverständnisses, der Migrationssteuerung und schließlich, zum Abschluss, die (Des-)Integration von migrierten Menschen. Alle diese Themenbereiche werden der Grundlage jeglichen historischen Arbeitens wegen, mehr aber entsprechend des Formates eines Lehrbuchs, von Fata durchweg mit einschlägigen Quellenzugängen exemplifiziert und aufbereitet. Dazu tragen besonders die zehn Abbildungen bei, die mit grafisch abgehobenen Beschreibungen etwa ein Stammbuch eines Studenten, eine Warntafel vor ‚Zigeuner‘ oder ein Zeltlager bei London der 1708/09 vor einer Kältewelle und Hunger fliehenden Pfälzer zeigen. Und auch im Fließtext fehlt es nicht an – im Vergleich zu den Zitatblöcken von Mączak – kürzeren, aber ebenso anschaulichen Quellenzitaten, wobei neben Objekten (Warntafel und Tafelaufsatz in Form eines Schiffes) die bereits angesprochene Vielfalt an schriftlichen Quellenarten multiperspektivische Zugänge vermittelt. Im Unterschied zu Mączak, der außer Reiseberichten Briefe, Notizen, Instruktionen und Rechnungen einbezieht, gründet das Lehrbuch von Fata also auf ein weitaus breiteres Quellenspektrum, wozu dann auch Reiseberichte zählen, wie das kommentierte Quellen- und Literaturverzeichnis unterstreicht. Einzig die Quellengrundlage der Migrations- und Mobilitätsforschung als solche reflektiert Fata nicht eigens. Mączas setzt sich demgegenüber durchweg kritisch mit der Quellenauswahl und den Reiseberichten auseinander und räumt den Quellenbeispielen mehr Platz ein, um den Erfordernissen, (enttäuschten) Ansprüchen und Folgen des Reisens kleinteiliger nachgehen zu können. Mączak Studie findet bei Fata keine Erwähnung, wie auch umgekehrt und zwangsläufig Fatas jüngere Studie nicht in der älteren Abhandlung über das Reisen in der Frühen Neuzeit angeführt ist. Die 1978 erstmals auf Polnisch, danach 1992 auf Italienisch, 1995 auf Englisch, 1998 auf Nie-
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derländisch und nun auch posthum auf Deutsch erschienene Studie von Mączak (1928–2003) hat Igor Kąkolewski mit einem Nachwort versehen. Die Breitenwirkung der Abhandlung ist dem Gegenstand, der sowohl quellenzentrierten als auch europäischen Ausrichtung sowie der klaren sprachlichen Ausgestaltung geschuldet. Mączaks bleibender Verdienst ist es – so hebt es Achatz von Müller in seinem Geleitwort vor –, „durch vergleichende und akkumulierende Nutzung dieser so unendlich ergiebigen Quellen [Reiseberichten; AD] aus Splittern und Einzelfunden einen Strauß vergnüglicher und informativer Nachrichten über das Reisen im alten Europa zu binden“ (19). Eben dieser aus Reiseberichten gebundene, quellenzentrierte und reflektierte sehr dichte Strauß erlaubt eine detaillierte Betrachtung des Reisealltags. Eine solche Alltagsperspektivierung der Migrationsbewegungen sowie der dann gleichfalls mitbehandelten Reistätigkeit von Gelehrten, Adeligen und Missionaren kann Fata nicht vornehmen, da sie sich viel breiter und generalisierender mit den frühneuzeitlichen Wanderungsbewegungen auseinandersetzt. Dessen ungeachtet stehen auch in dem jüngeren Lehrwerk Motive und Schicksale von migrierenden Einzelpersonen oder Gruppen unter Anführung eindringlicher Quellenbeispiel im Vordergrund, bevor das abschließende Fazit überdies Forschungsperspektiven für die Migrationsgeschichte benennt. Mączak resümiert dagegen weniger die Reiseforschung als dass er sie nachhaltig geprägt hat. Neben der mehrfach übersetzten Studie hat er 1982 zusammen mit Hans Jürgen Teuteberg einen nach wie vor einschlägigen Sammelband zu Reiseberichten als Quellen europäischer Kulturgeschichte vorgelegt. Und auch seine vor über 40 Jahren erstmals abgefasste Abhandlung über den Reisealltag ist bleibend lesenswert, auch wenn seitdem die Forschungen etwa zu reisenden Frauen, Apodemiken oder – wie gleich deutlich wird – zur mobilitätsrelevanten Verkehrsinfrastruktur vorangeschritten sind. Mit den beiden monografischen Überblicksstudien erfahren die mobilen Menschen der Vormoderne eine systematische und weitgefasste, aber dennoch keineswegs allumfassende Behandlung. Denn einen gänzlich anders gelagerten Aspekt der Mobilitäts-, Migrations- und Reiseforschung, nämlich die verkehrsinfrastrukturelle Grundlage der Fortbewegung, behandelt der Sammelband „Weg und Steg“, und zwar nicht nur der Publikationsform wegen. So liegt es zunächst in der Natur eines Sammelbandes, dass etwa Gerhard Fouquet den Bau und den Unterhalt der Weidenhäuser Brücke in Marburg, Gustav Pfeifer den Kuntersweg im unteren Eisacktal oder Daniel Kaune die Stadt Frankfurt als Verkehrsknoten weitergehend als in komprimierten Überblicksstudien untersuchen; anders gesprochen erlaubt der Sammelband punktuelle Tiefenbohrungen. Dazu zählen, neben dem bereits genannten Kuntersweg, der Marburger Brücke und der Stadt Frankfurt, weitere Brücken etwa in Dresden (Reinhard Spehr) und in Wimpfen (Kurt Andermann), Wasserwege im Elsaß (Gerrit Jasper Schenk), Zollstraßen im frühneuzeitlichen Württemberg (Nina Gallion), die Straßen im antiken Römerreich (Martin Frey) und schließlich Chausseen in Österreich und im Schwäbischen Kreis (Bernd Wunder). Kurt Andermanns Beitrag zur Wimpfener Brücke über den Neckar ist für die Kraichgauer Kolloquiumsreihe prädestiniert. Für den gesamten Sammelband wiederum programmatisch ist sein zeitlicher Längsschnitt von der Errichtung der Wimpfener Brücke unter den Römer über deren Fortbestand und Verfall um 1300 bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit Wimpfens, als Fähren und Geleitsstraßen schon längst keinen adäquaten Ersatz zur einstigen Brücke bieten konnten. Neben der Frühen Neuzeit stehen in dem Sammelband das
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Spätmittelalter und vereinzelt die Antike im Vordergrund. Eine solche zeitliche als auch – etwa mit den Brücken von Mostar, Prag, Rom (Pons Milvius) und Regensburg – räumlich weitergefasste sowie etwa auch Theodor Storms Roman ‚Der Schimmelreiter‘ einbeziehende, dichte Beschreibung realer und fiktionaler Brücken bietet Rainer Schlundt an. Wie er hervorhebt, waren die gleichermaßen Wasser, Erde, Luft und Licht vereinenden Bauwerke zutiefst mythisch aufgeladene Objekte, die, vergleichbar mit den von Schlundt gleichfalls behandelten Regenbogen, als „anthropologische Erklärungshilfen in einer unsicheren Welt“ (118) fungierten. Menschen migrierten und reisten in der Vormoderne nicht voraussetzungslos. Vielmehr lag jeglicher Fortbewegung eine Verkehrsinfrastruktur zugrunde, die Waren- und Menschenströme lenkte – und allein schon deshalb menschliches Handeln (etwa Bau von Straßen und Instandsetzung von Brücken), aber ebenso (literarisches) Erinnern und Reflektieren einforderte. Eben diese komplexe verkehrsinfrastrukturelle Grundlage menschlicher Mobilität und Migration fokussiert der Sammelband im Unterschied zu den beiden Überblickswerken. Bei Fata werden die Wasser- und Landstraßen als „Voraussetzung der steig zunehmenden Wanderungsbewegungen“ (47) ebenso nur am Rande thematisiert wie bei Mączak (24). Auf der anderen Seite ist es Letzterer, der eigens den Bedarf und die Mühen der Geldversorgung in einer bereisten Fremde erörtert, während demgegenüber Gallion in ihrem Sammelbandbeitrag die an Straßen, aber auch an Brücken, Toren und Flüssen erhobenen Zölle mehr aus der Perspektive der Landesherrschaft und der Zöllner und weniger aus der Warte der (warentransportierenden) Straßennutzer aufbereitet. Die Ansätze und Befunde der hier gesammelt besprochenen Studien ergänzen sich mehr, als dass sie sich überschneiden, nur lose nebeneinanderstehen oder gar widersprechen. Letzteres ist nur bei einem grundlegenden Themenaspekt der Fall, nämlich der Nutzungsqualität der Verkehrsinfrastruktur von der Antike bis ins ausgehende 18. Jahrhundert. Für die Herausgeber des Sammelbandes „Weg und Steg“ ist der im Vorwort und im Klappentext des Sammelbandes zu findende modernisierungstheoretische Befund eindeutig: Unter den Römern hätte es einen „hochentwickelten Straßenbau“ gegeben, anders als im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit mit ihren „zumeist unbefestigt[en] und oft buchstäblich unwegsam[en]“ (Klappentext) Wegen. Dies habe sich erst „mit der Entwicklung des Chausseebaus im späteren 18. Jahrhundert“ (ebenda) geändert. Im Vorwort heißt es ähnlich: „die vielen kleineren und größeren Wege über Land kann man sich im Mittelalter wohl gar nicht primitiv genug vorstellen“ (8). Der Rezensent hat sich bereits im JbRG 36 (2018) im Rahmen eines Themenschwerpunktes zur Nutzung und Wahrnehmung von Straßen und Wegen (1100–1800) zu diesem teleologischen Entwicklungsmodell des Straßenbaus geäußert und wird diese defizitäre Sicht auf die Straßen der Vormoderne mit einer in Druckvorbereitung befindlichen Habilitationsstudie für das 16. Jahrhundert weiter entkräften. Denn abgesehen davon, dass auch noch die Chausseen „viel zu wünschen übrig ließen“, wie Fata anmerkt (51), mussten und konnten sich die Zeitgenossen bereits vor dem 18. Jahrhundert ungeachtet aller Vulnerabilität der Verkehrsinfrastruktur auf dieser in Abhängigkeit von der Natur fortbewegen. Diese, berechtigtermaßen von Mączak (24) und Fata (51) mitbedachte, Naturabhängigkeit begründete und limitierte zugleich auf entscheidende Weise eine durchaus expandierende geografische Mobilität. Die Bedingungen, Routinen und Unwägbarkeiten der Fortbewegung auf Straßen, Wegen und Brücken bleiben in weiteren Studien zu erhellen, um nicht
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nur die Mobilität, sondern ebenso die Sesshaftigkeit der Menschen in der Vormoderne besser zu verstehen. Auch dies gibt die vergleichende Betrachtung der drei Publikationen zu erkennen. Dr. Alexander Denzler Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Professur für Frühe Neuzeit und Vergleichende Landesgeschichte, Universitätsallee 1, 85072 Eichstätt, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 215–217 Thomas Bremer, Christine Haug, Helga Meise (Hg.) Verlegerische Geschäftskorrespondenz im 18. Jahrhundert. Das Kommunikationsfeld zwischen Autor, Herausgeber und Verleger in der deutschsprachigen Aufklärung (Buchwissenschaftliche Beiträge 96), Wiesbaden: Harrassowitz, 2018, 312 S., 12 Abb., ISBN 978-3-447-11011-2, 72,00 EUR. Der Band geht auf eine Wittenberger Tagung vom Oktober 2015 zurück und versammelt 14 Einzelstudien zum Verhältnis deutscher Verleger der Aufklärungszeit zu ihren Autoren und Herausgebern. Vor dem Hintergrund deutlicher Verbesserungen des Postwesens, die die Intensivierung brieflicher Kommunikation im „Jahrhundert des Briefes“ ermöglichten, und einer gleichzeitigen Ausweitung des Buchmarktes, die zunehmend Verdienstmöglichkeiten für Autoren wie Verleger bot, bieten die Autor-Verleger-Briefwechsel der Zeit wichtige Einblicke in die ökonomischen wie auch sozial- und kulturgeschichtlichen Bedingungen der Buch- und Zeitschriftenproduktion des 18. Jahrhunderts. Autoren und Verleger sind als Produzenten einerseits aufeinander angewiesen, haben andererseits unterschiedliche wirtschaftliche Interessen, deren Ausgleich nicht immer konfliktfrei möglich ist. Die Beiträge des Bandes reflektieren dieses Spannungsverhältnis am Beispiel unterschiedlicher Verleger- wie auch Autortypen. So reicht das Spektrum auf der Verlegerseite vom hart agierenden, die alleinige Werkherrschaft und das ‚ewige Verlagsrecht‘ für sich beanspruchenden Johann Friedrich Weygand, gegen den Heinrich Christian Boie und die Hainbündler sich durchsetzen mussten (Hannes Fischer, 83–124) und dem knauserig sich an Gellerts Werken bereichernden Johann Wendler (Thomas Bremer, 149–157), bis hin zu kooperativ denkenden, im Zeichen des zeitgenössischen Freundschaftsdiskurses kommunizierenden und die Interessen ihrer Autoren zumindest mit berücksichtigenden Georg Joachim Göschen und Philipp Erasmus Reich (Fischer; Bremer; Jana Kittelmann, 125–148; Sören Schmidtke, 159–173; Ursula Caflisch-Schnetzler, 187–203). Besonders interessante Fälle sind in diesem Zusammenhang etwa Christoph Martin Wielands Erfahrungen mit dem Züricher Verlagshaus Orell, Gessner, Füssli & Comp., in dem quasi in verteilten Rollen Conrad Gessner den vertrauensvoll agierenden ‚Bel Esprit‘, Johann Heinrich Heidegger dagegen den hart verhandelnden „Zunftmeister“ spielte (Tristan Coignard, 71–81). Oder Friedrich Vieweg, der sich im Streit um die „Popularität“ des Athenaeums taktierend
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verhielt, vereinbarte Honorare nicht zahlte und die Brüder Schlegel zum Verlagswechsel zwang (Claudia Bamberg, 175–185). Zu bedenken ist freilich zweierlei: Zum einen handelt es sich bei Wieland und August Wilhelm Schlegel um sehr selbstbewusste Autoren, die ihren Verlegern gegenüber ganz anders auftreten konnten als beispielsweise der bedürftige Johann Karl August Musäus, der in einem wirtschaftlich weit stärkeren Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Verleger und ‚Literaturpapst‘ Nicolai stand (Nadja Reinhard, 221–240). Zum anderen ist die in allen diesen Fällen stark asymmetrische Quellenlage zu bedenken. Da die Briefe der Verleger in den seltensten Fällen überliefert sind, können Aussagen und Verhalten der Verleger in aller Regel nur aus den Briefen der Autoren rekonstruiert werden – eine Quellenlage, die die Gefahr einer einseitigen Parteinahme für die Position der Autoren natürlich begünstigt. Angesichts dessen kann man das stets sehr behutsame, detailreiche und quellennahe Vorgehen fast aller Beiträgerinnen und Beiträger des Bandes nur dankbar zur Kenntnis nehmen – mehrere Aufsätze sind zudem durch die Edition wichtiger Quellen im Anhang ergänzt (Fischer, Caflisch-Schnetzler, Wögerbauer). Sie alle entgehen der Gefahr, durch allzu modische Betonung theoretischer Modelle aus dem Bereich der Netzwerk- oder Systemtheorie den Zugang zu den Quellen einzuengen. Die Rekonstruktion historischer Netzwerke und wirtschaftlich-kultureller Systemzusammenhänge setzt ja die Erschließung einer soliden Quellenbasis allererst voraus. In weiten Bereichen liegt diese Basis noch nicht vor, zu der die Beiträge des Bandes jedoch wichtige Mosaiksteine beitragen. Auch der lesenswerte Aufsatz von Michael Wögerbauer zum Briefwechsel zwischen August Gottlieb Meißner und Georg Joachim Göschen (241–265) verwendet den Begriff „Systemtheorie“ in Bezug auf das literarische System der Zeit wohltuend pragmatisch und quellennah. So ist der einleitende Hinweis der Herausgeberin Christine Haug auf die „Soziale Netzwerk-Theorie“ (3) zweifellos sinnvoll und richtig, gelangt aber über allgemeine Aussagen über die „enge Verflechtung von sozialen, literarischen und ökonomischen Zirkulations- und Netzwerkmodellen“ im „Literaturbetrieb der Spätaufklärung“ (5) nicht hinaus. Wichtiger dagegen erscheint ihr Hinweis auf die Verfahren der „historischen Praxeologie“, deren in der Literaturwissenschaft weitgehend unterschätzte Relevanz sie selbst in ihrem Beitrag zu den „Arbeits- und Organisationsabläufen in einem Verlagskontor“ (19–45) eindrucksvoll unter Beweis stellt. Sie zeigt, wie der Strukturwandel im Verlagswesen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer fortschreitenden Effizienzsteigerung der Arbeit im Verlagskontor zwang. Der in einem expandierenden Buchmarkt und einem immer vielfältiger vernetzten Handelssystem gestiegene Korrespondenzbedarf konnte unter anderem nur durch den zunehmenden Einsatz von Formularen effektiv bewältigt werden – eine Entwicklung, die zugleich in tendenziellem Widerspruch zur auf Vertrauen und Reputation zielenden persönlichen Netzwerkbildung steht. Wie ergiebig die Erschließung neuer Quellen für die Erforschung der Verlags- und Buchhandelsgeschichte sein kann, zeigt sich an den Beiträgen, die das im Stadtarchiv Halle an der Saale erhaltene und im Rahmen eines DFG-Projektes inzwischen vollständig erschlossene Verlagsarchiv Gebauer & Schwetschke ausgewertet haben: Zwar sind auch in ihm wiederum keine Verlegerbriefe enthalten, gleichwohl kann Daniel Fulda (47–70) am Beispiel der zahlreichen Autorbriefe Gottlob Benedikt Schirachs an Johann Justin Gebauer die Beziehung der beiden als ökonomisch
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geprägtes Autor-Verleger-Verhältnis einordnen, in dem der zeittypische Freundschaftsdiskurs, „die als Kommunikationserleichterung fungierende Freundschaftsunterstellung“ (69), den ökonomischen Interessen der Briefschreiber klar untergeordnet ist. – Petronela Križanova (267–281) weist unter anderem auch anhand von Briefquellen des Gebauer-Archivs die enge internationale Vernetzung der Pressburger Verlagsbuchhändler Anton Löwe und Philipp Ulrich Mahler nach. – Aus dem Nachlass Friedrich Nicolais in der Staatsbibliothek Berlin schöpft Françoise Knoppers Beitrag über den Streit Friedrich Nicolais mit dem Abbé de L’Epée über dessen Taubstummensprache, in dem der philosophische Streit über die Vermittlung abstrakter Ideen bei Nicolai von der Abwehr französischer kultureller Dominanz überlagert wird (205–219). – Da das Archiv des Brockhaus-Verlagshauses nur noch in Teilen im Staatsarchiv Leipzig überliefert ist, kann Claudia Taszus in ihrem Beitrag über Laurenz Oken und Friedrich Arnold Brockhaus (283–300) nur zum Teil auf Originalbriefe zurückgreifen. Ihr gelingt gleichwohl, ein überzeugendes Porträt einer einerseits emotionalen, stark von Missverständnissen und wirtschaftlichen Konflikten geprägten Autor-Verleger-Beziehung zu entwerfen, die gleichwohl aufgrund gemeinsamer politischer Überzeugungen in der Zeit der Befreiungskriege und einer von persönlicher Offenheit und Geradlinigkeit geprägten Streitkultur dauerhaft funktionierte und nicht zum Bruch führte. So überzeugt dieser Tagungsband durch die Vielzahl gründlicher, quellennaher Einzeldarstellungen, die wichtige Beiträge zur Erforschung der deutschen Buchhandelsgeschichte des 18. Jahrhunderts liefern und durch das im Anhang mitgelieferte knappe, aber verlässliche Register als Referenzwerk für weitere Forschungen dienen wird. Der Band ist äußerst solide redigiert und gedruckt, nennenswerte Druckfehler sind nicht zu verzeichnen. Merkwürdig allerdings, dass die „Einführung“ allein von der (offenbar maßgeblichen) Herausgeberin Christine Haug unterzeichnet, im abschließenden Danksagungsabsatz aber im Plural formuliert ist. Nicht nur bleibt so die Rolle des auf dem Titelblatt an erster Stelle genannten Herausgebers Thomas Bremer im Unklaren, sondern es entsteht auch die Merkwürdigkeit, dass die Unterzeichnerin sich in diesem Absatz selbst dankt – offenbar sind hier zwei Fassungen des Einführungsaufsatzes durcheinander geraten. Das ist kurios, aber natürlich alles andere als schlimm. Nur: solche Fehler darf eigentlich kein Verlag durchgehen lassen, der trotz aller Auslagerung der Lektorats- und Redaktionsarbeiten immer noch die Schlussverantwortung für seine Bücher trägt. Vielleicht kann dieser kleine Fauxpas ja späteren Forschern als Beleg für das Schnell-schnell der heutigen wissenschaftlichen Buchproduktion und so auch für den Wandel des „Kommunikationsfelds zwischen Autor, Herausgeber und Verleger“ in unserem Jahrhundert dienen. Dr. Frank Baudach Eutiner Landesbibliothek, Schlossplatz 4, 23701 Eutin, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 218–219 Oliver Baustian Handel und Gewerbe des Königreichs Westphalen im Zeichen des système continental. Wirtschaft und Zollreformen, staatliche Gewerbeförderung und Regulierung der Außenhandelsbeziehungen 1807–1813 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Forschungen 16), Berlin: Duncker & Humblot, 2019, 632 S., ISBN 978-3-428-15724-2, 99,90 EUR. Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine rechtshistorische Dissertation, die 2017 an der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen eingereicht wurde. Die sehr umfangreiche Arbeit basiert auf weitgehend unerschlossenem Quellenmaterial aus französischen und deutschen Archiven. In seiner Untersuchung geht der Autor der Frage nach, inwieweit es Napoleon gelang, bis 1813 das Königreich Westphalen wirtschaftlich in sein système continental einzubinden. Ausgehend von dieser Fragestellung befasst sich der Autor nicht mit der Legitimation der Napoleonischen Großmachtinteressen und den Zielen seiner Gründung von Satellitenstaaten, sondern setzt diese voraus. Von dieser Prämisse ausgehend schreibt er den Widerstand gegen die okkupatorischen wirtschaftspolitischen Interessen und Maßnahmen der Besatzer nicht der napoleonischen Wirtschaftspolitik zu. Er führt ihn auf die konservative, innovationsfeindliche Haltung der drei zuständigen Finanzminister, Bülow, Malchus und Wolffrad zurück (21, 588) und betrachtet den Widerstand als verpasste „reale Chancen“ der wirtschaftlichen Modernisierung. Der Autor beginnt (Kapitel II) mit einem kurzen Überblick über die traditionellen Wirtschaftszweige des neugegründeten Königreichs Westphalen (Landwirtschaft, Textilgewerbe, Bergbau) und beschreibt die neuen für die Wirtschaft zuständigen Ministerien. Danach untersucht er in Kapitel III die Wirtschaftsreformen und staatliche Gewerbeförderung. In den Blick nimmt er dabei nicht allein die durchgeführten Reformen, wie die Aufhebung des Zunftzwangs und Gewerbefreiheit, sondern auch nicht durchgeführte Pläne, etwa die Gründung einer Handelsbörse in Magdeburg oder eines Handelsrates. Er untersucht zudem staatliche Maßnahmen zur Förderung der Rübenzuckergewinnung oder Zichorien- und Kaschmirproduktion. Die Aufhebung des Zunftzwangs und das Patentsteuergesetz von 1808 und 1810, das den Webern die Möglichkeit bot Patente kostenfrei zu erwerben, betrachtet der Autor als „Ausdruck einer bemerkenswert modernen staatlichen Fürsorge für die bedürftigen Schichten der Weber“ (202). Anzumerken ist hier, dass das Leinengewerbe kaum zünftig organisiert war. Im anschließenden Kapitel IV setzt er sich ausführlich mit der Zollorganisation auseinander. Durch die Schaffung eines zollfreien Binnenmarktes zwischen dem Königreich und den angrenzenden Regionen sowie den Schutz vor der englischen Konkurrenz sieht er Maßnahmen eines „echten reformerischen Fortschritts“ (426), die seiner Meinung nach nur durch den „mangelnden Integrationswillen“ der verantwortlichen Minister boykottiert wurden. Die Schaffung eines zollfreien und geschützten Binnenmarktes nutzte sicherlich einigen Gewerbezweigen, doch für das wichtigste Gewerbe, das Leinen- und Garngewerbe, dessen Märkte vor allem in den Amerikas lagen, fehlten alternative Absatzmärkte. In Frankreich war für westfälische Textilien kein Bedarf.
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Die Erschließung neuer Märkte in Italien und Neapel wurde den westfälischen Gewerbetreibenden nicht ermöglicht. Der Autor vermerkt dies zwar durchaus, gleichwohl spricht er von dem Versäumnis neue Exportmärkte für das führende Gewerbe zu erschließen auf Grund des „erkennbaren Unwillens“ der führenden Minister (427). Irritierend sind auch seine Bemerkungen in Kapitel V zur Wiederbelebung des maritimen Handels durch die Ausgabe von Seelizenzen, wonach „Leinen und Garn erstmals auch für Frankreich als unverzichtbare Exportartikel an Bedeutung gewannen“ (578). Wie bereits Silvia Marzagalli und François Crouzet in ihren Arbeiten aufgezeigt haben, hatte Napoleon die Lizenzen nur auf den äußersten Druck des französischen Landwirtschaftssektors hin ausgegeben und sie sollten primär den französischen Getreidemarkt entlasten.1 Sie waren, wie Baustian selbst bemerkt, ohne den gleichzeitigen Erwerb von englischen Lizenzen wertlos. Zudem waren sie auf Grund der rigiden Bedingungen für die Deutschen wenig attraktiv, weshalb nur wenige erworben wurden. Insgesamt ließe sich noch eine Reihe von befremdlichen Äußerungen anführen, etwa wenn er anmerkt, dass die westfälischen Finanzminister den Handelskrieg gegen Frankreich als eine „rein französische Angelegenheit“ betrachteten, er aber im gleichen Zusammenhang von einem „gemeinsamen Handelskrieg“ spricht (427 f.). Mit seinem Anliegen, die „pauschale Negativbewertung“ (22) der napoleonischen Wirtschaftspolitik zu hinterfragen, bewegt er sich in der Reihe neuerer Arbeiten von Bettina SeverinBarboutie für das Großherzogtum Berg oder Bärbel Sunderbrink für Westphalen, die bereits ein differenzierteres Bild dieser Epoche entworfen haben.2 Auch wenn es an manchen Stellen schwer fällt, seinen Schlussfolgerungen zur französischen Wirtschaftspolitik zu folgen, so enthält der Band doch eine Fülle von aufschlussreichen Detailinformationen, auch ist die ausführliche Darstellung der wirtschaftspolitischen Debatten positiv hervorzuheben. Dies macht die Arbeit dennoch lesenswert. 1 2
Silvia Marzagalli: Les boulevards de la fraude. La négoce maritime et le blocus continental (1806–1813), Bordeaux, Hambourg, Livourne, Villeneuve 1999; François Crouzet: L’économie britannique et le blocus continental, Paris 1987. Bettina Severin-Barboutie: Französische Herrschaftspolitik und Modernisierung – Verwaltungs- und Verfassungsreformen im Großherzogtum Berg (1806–1813), München 2008; Bärbel Sunderbrink: Revolutionäre Neuordnung auf Zeit. Gelebte Verfassungskultur im Königreich Westphalen. Das Beispiel Minden-Ravensberg 1807–1813, Paderborn 2015.
Prof. Dr. Margrit Schulte Beerbühl Universität Düsseldorf, Institut für Geschichtswissenschaften II, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 220–221 Frank Henschel „Das Fluidum der Stadt …“. Urbane Lebenswelten in Kassa/Košice/Kaschau zwischen Sprachenvielfalt und Magyarisierung 1867–1918 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 137), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017, 361 S., 8 Abb., ISBN 978-3-525-37316-3, 50,00 EUR. Mit seiner Studie über Lebenswelten im ostslowakischen Košice/Kaschau/Kassa stößt Frank Henschel auf ein Gebiet vor, das in der Stadtgeschichte bzw. ostmitteleuropäischen Geschichte bislang eher unterrepräsentiert ist. Es geht dem Verfasser nicht um eine Stadtgeschichte per se, sondern um die Erfassung „der vielsprachigen, heterogenen Kaschauer Lebenswelten“ (2), die in erheblichem Maße durch sprachliche Trennlinien gekennzeichnet waren und bis 1918 durch die ‚Nationalitätenkonkurrenz‘ maßgeblich bestimmt wurden. Die Kernfrage dieser 2013 vorgelegten Leipziger Dissertation lautet demnach, inwiefern ethnisch-nationale Milieus beherrschend waren für die Struktur urbaner Lebenswelten. Dabei sollen dezidiert die diversen Akteurinnen und Akteure sowie ihre Praktiken vorgestellt werden. Der Begriff „Lebenswelt“ ist in diesem Kontext insofern missverständlich, als der Verfasser damit nicht Lebenswelt im Sinne Husserls oder Schütz’ meint. Für ihn sind es vielmehr die unterschiedlichen Bühnen des städtischen Lebens, von Vereinen über Kirchen, Lokalpolitik bis hin zu Kultureinrichtungen, die er als Lebenswelten versteht und – einem Kapitel über die frühe Stadtgeschichte und Sozialstruktur folgend – in fünf Hauptkapiteln vorstellt. Zunächst widmet sich der Verfasser der städtischen Politik. Den vielfältigen Modernisierungsherausforderungen begegnete das bürgerlich dominierte Stadtregiment mit starkem Bewusstsein der eigenen Interessen, orientierte sich aber kaum an ethnischen Differenzierungen. Soziale Exklusion und eine diffuse Gleichsetzung von slowakischer Sprache und unterbürgerlichem Status bestimmten den politischen Raum. Als zweites werden Kultur und Zivilgesellschaft abgehandelt, wobei hier das Theater und Vereinswesen im Mittelpunkt stehen. Diese blieben nicht nur weitgehend exklusive bürgerliche Institutionen, sie wurden „teilweise Transmissionsriemen nationaler Rhetorik und Foren der Kommunikation nationaler Deutungsmuster“ (150). Dennoch überlagerten vielfältige soziale und konfessionelle Interessen die Magyarisierungsbestrebungen und verhinderten so eine vollständige Instrumentalisierung der kulturellen Institutionen durch die ‚Nationswächter‘. Mit Kirche und Schule werden im anschließenden Kapitel zwei Bereiche genannt, in denen sich die Stadtgesellschaft organisierte und die deswegen besonders wichtig waren, weil so gut wie alle Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner an ihnen teilhatten. Obwohl die Kirchen kaum umhin kamen, im Sinne einer einheitlichen ungarischen Nation zu wirken, repräsentierten sie in der Mittelstadt multinationale und mehrsprachige Gemeinden, die nicht zu homogenisieren waren. In der Volksschule zeigte sich der Druck zur Magyarisierung besonders deutlich, allerdings war der Erfolg hierbei offensichtlich zweifelhaft, da bis zum Ersten Weltkrieg die Mehrsprachigkeit üblich blieb. Anders sah es dagegen in den weiterführenden Schulen und Hochschulen aus, da hier der Anpassungsdruck flächendeckend war.
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Auch im Wirtschaftsleben lässt sich kaum von einem fortschreitenden Prozess der Ethnisierung sprechen. Ein zum Teil vehementer Wirtschaftsnationalismus verlor sich in ungezieltem Aktionismus, ohne eine flächendeckende Durchsetzung der ungarischen Sprache in den Medien, im Handel und in der Produktion oder eine Bevorzugung ‚ungarischer‘ Produkte durchsetzen zu können. Die lokalen Wirtschaftsverbände, Assoziationen der Handwerker und die Arbeiterbewegung spiegelten in je eigener Weise den Magyarisierungsdruck, wobei sich zunehmend die soziale Gebrauchsweise der Sprache, etwa in der Abwertung des Slowakischen, bemerkbar machte. Besonders aufschlussreich sind schließlich die Ausführungen im Kapitel zu Erinnerungskultur und Identitätspolitik. Denn hier kam die Dominanz des ungarischen Nationalismus (Stichwort Rákóczi-Kult) zwar voll zum Tragen, stand jedoch im Spannungsverhältnis zur Loyalität gegenüber der Habsburger Monarchie und dem Staat insgesamt. Auch die in den Volkszählungen erfassten nationalen Selbstverortungen und die Entwicklung der Namensmagyarisierung bieten kein schlüssiges Bild, das den Erfolg einer Ethnisierungsstrategie belegt hätte. In Bezug auf die Erinnerungskultur lässt sich daher vielleicht am ehesten von einer sprachlich-kulturellen Resilienz von Minderheitenmilieus sprechen. Im abschließenden Kapitel betont der Verfasser, dass die Magyarisierungspolitik zwar ein durchaus wichtiger Faktor für die Prägung von Lebenswelten in Košice/Kaschau/Kassa war. Sie durchdrang und überlagerte andere Differenzierungskategorien wie soziale Schicht, Konfession und Geschlecht und führte zu zahlreichen Anpassungsprozessen und Konflikten. Allerdings scheiterte der Versuch einer (sprachlichen) Homogenisierung, blieben doch nichtethnische Zuschreibungen für die Akteurinnen und Akteure in diversen lebensweltlichen Bereichen weitaus relevanter. Aus Sicht des Verfassers zeigt der Blick auf die Mittelstadt die praktischen Auswirkungen von Magyarisierungspraktiken und -diskursen in ihren Erfolgen, Hemmnissen und Widersprüchen besonders deutlich. Mit diesem Ansatz ist ihm eine theoretisch fundierte, aufschlussreiche und gut lesbare Studie gelungen, die beweist, dass Klein- und Mittelstädte hervorragend geeignet sind, um die lebensweltlichen Brechungen von Ethnisierungsprozessen zu analysieren. Dr. Sönke Friedreich Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Zellescher Weg 17, 01069 Dresden, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 222–224 Nils Jörn, Dirk Schleinert (Hg.) Vom Löwen zum Adler. Der Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen 1815 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern 52), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2019, 272 S., 17 Abb., ISBN 978-3-412-51242-2, 50,00 EUR. Die territoriale Neuordnung im Fahrwasser der Napoleonischen Kriege stellte ein wahrhaft globales Phänomen dar. Es betraf die Einwohner Ceylons ebenso wie Norweger, Lauenburger oder die Menschen am Kap der Guten Hoffnung. Fließend waren die Grenzen zwischen Ständestaat und Kolonie. Und aus einer Landschaft mit weitreichenden ständischen Freiheiten konnte unvermittelt eine Kronkolonie werden, wie das Lehrstück Helgoland zeigt. Einige Jahre liegen bereits hinter den Jubiläumsfeierlichkeiten, mit denen in Kiel, Oslo und anderenorts an den Frieden im Norden und die neue, liberale Verfassung von Eidsvoll erinnert wurde; es ist Zeit, Rückschau zu halten und sich so manchen Aspekt noch einmal vor Augen zu führen. Der 2019 erschienene, von den ausgewiesenen Fachleuten Nils Jörn und Dirk Schleinert herausgegebene Sammelband „Vom Löwen zum Adler. Der Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen 1815“ stellt eine hochrangige wie lesenswerte Einladung dazu dar. Den historischen Rahmen bildet die landläufig als „Ringtausch“ bezeichnete territoriale Besitzverschiebung im Norden. Mit jener erhielten Schweden das seit dem 18. Jahrhundert begehrte Norwegen, Dänemark das Herzogtum Lauenburg und Preußen das einstige Schwedisch-Pommern. Hervorgegangen aus einer Tagung, vereint der in der Reihe „Forschungen zur Pommerschen Geschichte“ im Böhlau Verlag erschienene Band zwölf Beiträge, die sich aus jeweils unterschiedlichem Blickwinkel mit dem Übergang Schwedisch-Pommerns an Preußen beschäftigen. Dreh- und Angelpunkt ist der 23. Oktober 1815, an dem das Tauschobjekt im Rahmen eines offiziellen Aktes feierlich an seinen neuen Besitzer übergeben wurde. Den Beginn macht der Festvortrag des renommierten schwedischen Rechtshistorikers Kjell Åke Modéer, der den Tausch als Paradebeispiel für europäische Verflechtungs- und Identitätsbildungsprozesse begreift und ihm ebenso ein großes Maß an Aktualität bescheinigt. Dass das lange schwedisch-pommersche Miteinander in der Tat nicht nur Vergangenheit, sondern auch Gegenwart darstellt, belegen die biografischen Anmerkungen Modéers, der auf diese Weise nicht allein Beobachter bleibt, sondern ebenso zum Akteur einer gelebten Erinnerungskultur avanciert. Auch die Themen und Inhalte der folgenden Aufsätze sind klug gewählt und bieten eine Innenund Außenperspektive auf das Thema. So beschäftigen sie sich einerseits mit den inneren politischen, rechtlichen und kulturellen Verhältnissen vor und nach dem Übergang (Nils Jörn, Dirk Schleinert, Johannes Weise, Anja Erdmann, Ludwig Biewer, Gaby Huch, Anke Wiedensohn); andererseits untersuchen sie am Beispiel Norwegens und Finnlands vergleichend weitere Territorien im Norden, die im Zuge der Neugliederung ebenso ihren Besitzer wechselten ( Jens E. Olesen, Manfred Menger). Zudem werfen sie einen Blick auf kühne Wünsche und Projektionen, wie den angedachten Übergang Schwedisch-Pommerns an Mecklenburg (Kathleen Jandausch).
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Sehr deutlich zeigen die Aufsätze die enormen Kontinuitäten auf, die auch über den Wechsel des Fürsten hinaus wirkten. Das galt nicht allein für die diskursive Macht der Idee des „alten Rechts“ oder „alter Privilegien“, sondern auch für personales Beharrungsvermögen bei der Verwaltung des Territoriums. Wie überzeugend dargelegt wird, stellte die Überwindung der ständischen Privilegien (teils auch von Ständen, die kaum mehr als auf dem Papier existierten) einen Jahrhunderte dauernden Prozess dar, der nicht per Federstrich von einem fernen Herrscher einfür allemal dekretiert werden konnte. Ebenso wird deutlich gemacht, dass Schwedisch-Pommern und Wismar nicht nur eine historische Tatsache, sondern in mindestens derselben Weise einen Erinnerungsort ersten Ranges darstellten. So gilt es den einzelnen Beiträgen nicht nur, quellennah der Vergangenheit auf den Grund zu gehen, sondern gleichzeitig gegenwärtige Bilder und Stereotypen zu dechiffrieren. Dazu zählt auch die Erkenntnis der Notwendigkeit, sich aus dem langen Schatten einer teleologischen preußischen Historiografie zu befreien und eine vorgebliche pommersche Rückschrittlichkeit quellen- und methodenbasiert zu hinterfragen. Einmal mehr wird bei der Lektüre des Bandes aber auch deutlich, dass es nicht immer bloße Strukturen oder Diskurse sind, die Geschichte schreiben, sondern dass immer noch die oft geschmähten „großen Männer“ als individuelle Akteure nicht zu unterschätzen sind. Das wird anhand des schwedischen Thronfolgers Bernadotte ebenso deutlich wie am Beispiel des Augustenburgers Christian Friedrich als temporärem norwegischem König. Akteurinnen tauchen hingegen so gut wie nicht auf; vielleicht hatte Pommern in jener Zeit aber auch keine Denkerinnen vom Kaliber einer Caroline Perthes oder Sophie Reimarus aufzuweisen. Schwierig ist die Annäherung an den aus Greifswald stammenden Historiker Christian Friedrich Rühs, der eben nicht nur Chronist Nordeuropas, sondern auch dezidiert antifranzösischer und antijüdischer Publizist war. Für die jüdischen Minderheiten im Norden bedeuteten die Umwälzungen der nach-napoleonischen Zeit nicht nur Gutes: Neben Rühs trat etwa von dänischer Seite Conrad Georg Friedrich Elias von Schmidt-Phiseldeck mit heftigen judenfeindlichen Angriffen. Ausdrücklich wurden Juden (neben Jesuiten) von der sonst modernen und liberalen Eidsvoll-Verfassung nicht als norwegische Bürger anerkannt. Der sogenannte dänische Freiheitsbrief von 1814 brachte allenfalls eine partielle Emanzipation mit sich, und auch die bürgerliche Gleichstellung der Juden in Hamburg währte nur kurz. Hier ist sicherlich noch vergleichende Forschungsarbeit zu leisten. Insgesamt gibt sich der Band verdient selbstbewusst, wovon nicht zuletzt der teils beibehaltene Vortragsstil und die Verwendung der alten Rechtschreibung zeugen. Er ist behutsam illustriert und inhaltlich, optisch und haptisch gefällig. Bei der Fülle an berücksichtigten Fakten und Kontexten ist es verzeihlich, dass sich mancher Autor in Schleswig-Holstein und anderenorts vielleicht nicht ebenso gut wie in Pommern auskennt und dass auch die eine oder andere, sicherlich gewinnbringende aktuellere Publikation nicht berücksichtigt wird. Abschließend sei auf eine Anmerkung der Herausgeber dieses sehr lesenswerten Buches verwiesen, die mit Blick auf das Brudervolk im Westen belegt, dass historische Diskurse nach wie vor ihre Wirkmächtigkeit entfalten und dass auch die Historikerinnen und Historiker nicht davon ausgenommen sind: „Das Sprichwort, daß alles 100 Jahre später passieren würde, trifft also wirklich nur für Mecklenburg, keinesfalls für Pommern zu – ein Ergebnis, das die Pommern keines-
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wegs überrascht.“ Überrascht ob dieser Freimütigkeit zeigt sich indes der holsteinische Rezensent und mag in diesem Sinne die Herausgeber anregen, auch zum Thema regionale Identitäten und Diskurse einmal einen ähnlich fruchtbringenden Band zu bewerkstelligen. Prof. Dr. Martin Krieger Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 224–225 Dörthe Schimke Fürsorge und Strafe. Das Georgenhaus zu Leipzig 1671–1871 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig 11), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2016, 197 S., ISBN 978-3-96023-035-9, 39,00 EUR. In der Frühen Neuzeit, insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert, entstanden neuartige Institutionen, die den gesellschaftlichen Umgang mit Armut und unterschiedlichen Formen des abweichenden, nicht normgerechten Verhaltens grundlegend und nachhaltig veränderten. Die zahlreichen, überwiegend regionalgeschichtlich ausgerichteten Beiträge zur Erforschung von Zucht-, Arbeits-, Armen- und Waisenhäusern, die in den letzten Jahrzehnten vorgelegt worden sind, ermöglichen es mittlerweile, ein differenziertes Bild zu zeichnen. Eine weitere wertvolle Arbeit hat Dörthe Schimke vorgelegt. Ihre Studie, die überarbeitete und erweiterte Fassung einer Masterarbeit am Historischen Seminar der Universität Leipzig, ist dem Leipziger Georgenhaus gewidmet. Der Untersuchungszeitraum reicht von der Gründung des Hauses im Jahr 1671 bis zu seiner Auflösung 1871. Die Verfasserin konnte auf eine umfassende Überlieferung archivalischer Quellen im Stadtarchiv Leipzig zurückgreifen, vor allem auf die Bestände „Stiftungsakten“ und „Georgenhaus“. Die ausgezeichnete Quellenlage erlaubt eine minutiöse Rekonstruktion nicht nur der allgemeinen Geschichte des Hauses, seiner Verwaltung und seiner Finanzierung, sondern auch des Anstaltsbetriebs bis in die feinsten Verästelungen des Alltags hinein. Schimke kann aufzeigen, dass das Georgenhaus, das zeitweise über 500 Menschen beherbergte, als zentrale Einrichtung des frühneuzeitlichen Armenwesens in Leipzig fungierte. Etliche Befunde bestätigen oder ergänzen bereits vorliegende Forschungsergebnisse zur Geschichte vergleichbarer Institutionen. So konnte sich auch das Georgenhaus seit den 1730er Jahren nicht mehr selbst finanzieren. Die Erträge einer Textilmanufaktur und einer Farbholzraspelwerkstatt, ergänzt um Einnahmen aus Zinsgeschäften und Almosen, reichten nicht aus, um die Kosten zu decken. Im größeren Forschungskontext ist dies ein weiterer wichtiger Hinweis darauf, dass man zwar zunächst versuchte, derartige Anstalten rentabel zu betreiben, widrigenfalls aber auch bereit war, sie zu bezuschussen. Im Vordergrund stand, einem zentralen Anstaltszweck ent-
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sprechend, die pädagogische und letztlich auch disziplinierende Funktion der Arbeit. Vergleichbar mit vielen Einrichtungen in anderen Städten ist auch die bemerkenswerte Multifunktionalität des Georgenhauses: Es beherbergte sowohl Arme, bei denen der Versorgungsgedanke im Vordergrund stand, als auch zwangseingewiesene sogenannte Gefangene; zu letzteren gehörten eine eher kleine Zahl von Straftätern und die größere Gruppe der „Korrektionäre“, die durch deviantes Verhalten wie zum Beispiel Bettelei oder Trunksucht aufgefallen waren. Hinzu kamen in Leipzig als besondere Insassengruppe Waisenkinder. Schimke betont, wie eng Fürsorge und Disziplinierung im Anstaltsalltag miteinander verzahnt waren und benennt damit ein weites zentrales Kennzeichen, das das Georgenhaus mit vielen anderen Institutionen dieser Art verbindet. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass eine einseitige Deutung, die entweder den Versorgungs- oder den Disziplinierungsaspekt überbetont, der Komplexität multifunktionaler frühneuzeitlicher Einrichtungen nicht gerecht wird. Ergänzt werden könnte in diesem Zusammenhang, dass gerade die im Anstaltsalltag erkennbare Verzahnung beider Aspekte deutlich macht, dass auch die Versorgung Armer stets im Horizont drohender Bestrafung und Disziplinierung stattfand. Anregend für weiterführende Diskussionen und Forschungen ist Schimkes Hinweis, dass die normativen Prinzipien, die dem Betrieb des Georgenhauses zugrunde lagen, nicht allein der Sichtweise des Leipziger Rats entsprangen, sondern offenbar von großen Teilen der Stadtbevölkerung geteilt wurden. Ambitionierte Reformbestrebungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, die auch die Waisenhausschule betrafen, lassen den Wunsch erkennen, die Situation der Insassen zu verbessern. In der Praxis jedoch standen einem Erfolg dieser Maßnahmen, wie Schimke betont, viele Hindernisse entgegen. So erwies sich zum Beispiel die Vermittlung der Waisenkinder ins Erwerbsleben aufgrund des zeitgenössischen Ehrkonzepts als schwierig. Langfristig zeigte sich, dass das unterfinanzierte und oft überlastete Georgenhaus nicht in der Lage war, das komplexe Problem der Armut und der aus ihr resultierenden Folgen zu lösen. Im 19. Jahrhundert geriet die Zusammenfassung unterschiedlicher Funktionen bzw. Insassengruppen in einer Institution zunehmend in die Kritik. Nach der Auflösung des Georgenhauses 1871 traten schließlich Spezialeinrichtungen an seine Stelle. Dörte Schimke hat eine profunde, quellennah gearbeitete und theoretisch reflektierte Studie vorgelegt. Die Arbeit zeigt nicht zuletzt, wie ertragreich die regionalgeschichtlich orientierte Beschäftigung mit Zucht-, Arbeits-, Armen- und Waisenhäusern für die Erforschung frühneuzeitlicher Lebenswelten sein kann, wenn eine dichte Quellenüberlieferung detaillierte und differenzierte Einblicke in den Umgang mit Armut und Devianz ermöglicht. Dr. Dirk Brietzke Universität Hamburg, Fachbereich Geschichte, Arbeitsstelle für Hamburgische Geschichte, Edmund-Siemers-Allee 1, 20146 Hamburg, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 226–227 Gabriele Schneider, Thomas Simon (Hg.) Gesamtstaat und Provinz. Regionale Identitäten in einer „zusammengesetzten Monarchie“ (17. bis 20. Jahrhundert) (Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Neue Folge. Beihefte 14), Berlin: Duncker & Humblot, 2019, 283 S., ISBN 978-3-428-15834-8, 99,90 EUR. Mit den titelgebenden Perspektiven auf Gesamtstaat, Provinzen und Regionen sowie Identitäten Preußens stößt der von Gabriele Schneider und Thomas Simon herausgegebene Tagungsband neue Forschungsfragen an. Der Band geht auf die gleichnamige Tagung der Preußischen Historischen Kommission 2017 zurück. Eine Einführung in diese Neuperspektivierung gibt Monika Wienfort in ihrem Eröffnungsbeitrag. Wienfort stellt die historiografische Grundsatzfrage, die viele Beiträge in diesem Band inspiriert: Ist Preußen als ein Staat, der zwar nicht mehr existiert, aber immer noch Emotionen schürt, in der deutschen Landesgeschichte gut aufgehoben – ähnlich wie Baden, Württemberg oder Bayern – oder verlangt die Stellung Preußens als kleinste europäische Großmacht des 19. Jahrhunderts und als größte und hegemoniale Monarchie im Deutschen Kaiserreich nach anderen Zugängen, Methoden und Begriffen? Die Besonderheit Preußens, das territorial zwei Drittel des Deutschen Bunds (angefangen von den Rheinprovinzen über Westfalen, Brandenburg, Pommern, Polen bis hin zu Schlesien) einnahm und in diesen Provinzen mit unterschiedlichen Rechtstraditionen, politischen Kulturen und gesellschaftlichen Hierarchien umzugehen hatte, wird von den Herausgebern und Autoren mit dem Begriff der „composite monarchy“ untersucht, der jüngst auch für die politische Geschichte der Habsburgermonarchie wiederentdeckt worden ist. Ein wichtiges Ziel ist es dabei, so etwa Wienfort, die Staatsbildung Preußens als regionales Zusammenspiel von Verfassung und Verwaltung zu untersuchen und nicht allein dessen Beitrag zu einer deutschen Nationalkultur mit der Doppelrolle des preußischen Herrschers als König in seinem Land und als Kaiser im Reich (17). Die Perspektivierung als „composite monarchy“ modifiziert auf überzeugende und erfrischende Weise eine Tradition, die den Fokus eher auf die staatliche Modernisierung und Zentralisierung Preußens legt. Der Kompositcharakter Preußens wird einmal an unterschiedlichen Verfassungsrechtsräumen deutlich. Prägnante Einsichten vermittelt Peter Baumgart zu Schlesien. Schlesien wurde nach dem preußisch-österreichischen Krieg zwar formal an das Modell der preußischen Kernprovinzen angepasst, doch ließ man Besonderheiten der lokalen Konfessions- und Adelspolitik unangetastet und perpetuierte die Unterschiede zu den anderen preußischen Provinzen durch ein Sonderministerium in Breslau (85). Ludwig Biewer widmet sich in seinem Beitrag der Integration des bis 1815 geteilten Pommerns, wählt dafür den Begriff des „differenzierten Einheitsstaats“ und betont ebenfalls, dass die Integration von Pommern, insbesondere Schwedisch-Vorpommern, nur unter Zugeständnissen an vorpreußischen Ämtertraditionen und Adelsprivilegien möglich war. Das Bild einer anders gelagerten Verfassungskultur vermittelt Heide Barmeyer – ebenfalls mit dem
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Begriff des „differenzierten Einheitsstaats“. Barmeyer beschreibt am Beispiel von Westfalen und Hannover die Integration in der Region (Westfalen war vor 1815 kein einheitliches Territorium gewesen) und die Integration der Region in den Staat mithilfe einer modernisierenden Verwaltung. Barmeyer zieht den Schluss, dass der Bevölkerung eine funktionierende Verwaltung letztlich wichtiger gewesen sei als eine Verfassung (108). Der zusammengesetzte Charakter Preußens lässt sich zum anderen an den unterschiedlichen Räumen gesellschaftlicher Teilhabe und gesellschaftlicher Netzwerke verdeutlichen. Die Rolle des Adels beispielsweise untersucht Frank Göse am Beispiel der Militäreliten und des räumlichen Wandels in der Adelsgemeinschaft, der von Staats wegen angestoßen wurde. Traditionelle, durch Besitz geschaffene Heimaträume, die „Adelslandschaften“, die sich nicht nur am eigenen politischen Territorium, sondern über Landesgrenzen hinweg orientierten, konkurrierten mit neuen Räumen, die die Eliten durch ihre berufliche Laufbahn im Staatsdienst gewissermaßen selbst absteckten und die sich an den Garnisonen orientierten (49). Wolf Nitschke befasst sich mit den vom Adel dominierten Provinziallandtagen in Preußen, deren Zusammenfassung und Vereinigung zu einem zentralen Parlament immer wieder scheiterte. Die von Liberalen argwöhnisch beäugte konservative Instanz fristete nach 1848 in der Konkurrenz mit liberalen Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzialinstitutionen ein Schattendasein (157). Abschließend beleuchten einzelne Beiträge den Übergang von zersplitterten verwaltungsrechtlichen Materien zur Einheitlichkeit der Rechtsregelung (Beitrag von Ingeborg SchnellingReinicke zum Wasserrecht), korporatistische Gegenentwürfe zum Einheitsstaatsmodell (Beitrag von Erik Lommatzsch zu Peter Reichenberger) und schlagen den Bogen zu einer europäischen Geschichte der „composite monarchy“ mit Blick auf die spanische und die Stuart-Monarchie (vergleichender Beitrag von Ronald Asch) und Dänemark mit seinen Territorien in der Karibik, Grönland, Island und Norwegen oder Kolonien in Indien (Beitrag von Jes Fabricius Møller). Wünschenswert wäre gewesen – wie es offenbar auch ein Ansatz der Berliner Tagung gewesen war –, hier auch die Perspektive der Osteuropageschichte und der habsburgischen Geschichte einzubeziehen, um die Besonderheiten eines multiethnischen Gemeinwesens stärker in den Blickpunkt zu nehmen. Der Anspruch der Tagung und des Bands, für die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Preußens eine neue methodische Perspektive anzubieten, ist weitgehend in Erfüllung gegangen. Lohnend wird es sein, in Zukunft die Unterschiede zwischen Monarchie und Staat auch in der begrifflichen Dichotomie von „composite monarchy“ und „differenzierter Einheitsstaat“ herauszuarbeiten. Angesichts der Vielfalt der „zusammengesetzten Monarchie“ Preußen bleibt nach der Lektüre ein produktives Überraschungsmoment zurück und man wünscht sich darauf aufbauende weitergehende Studien, die nach dem Gemeinsamen im Zusammengesetzten fragen. Dr. Jana Osterkamp Ludwig-Maximilians-Universität München, Collegium Carolinum, Hochstraße 8, 81669 München, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 228–230 Antje Schloms Institutionelle Waisenfürsorge im Alten Reich 1648–1806. Statistische Analysen und Fallbeispiele (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 129), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2017, 395 S., 45 Abb., ISBN 978–3515116626, 62,00 EUR. Die Gründungen August Hermann Franckes (1663–1727) in der Amtsstadt Glaucha bei Halle an der Saale bedeuten nicht nur für die Institution des Waisenhauses zeitgenössisch einen wichtigen sozialpolitisch-organisatorischen und weithin ausstrahlenden Einschnitt, sondern entfalteten über ihre Nachfolgeinstitution, die Franckeschen Stiftungen, auch nachwirkendes historiografisches Potenzial. Ein Datenbankprojekt1 setzte sich vor einigen Jahren das Ziel, sämtliche Waisenfürsorgeinstitute der Zeit Franckes im Heiligen Römischen Reich mit Angaben zur Lage, Trägerschaft, konfessionellen Prägung, den Gründungsumständen, Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen sowie weiteren Punkten zu erfassen. Auf dieser umfangreichen, 264 Waisenhäuser umfassenden Sammlung fußt die vorliegende Dissertation der Historikerin Antje Schloms, die 2015 an der Universität Halle-Wittenberg abgeschlossen wurde. Sie versucht sich an einer Synthese der breiten Forschungslandschaft aus Einzelstudien, Sammelbänden und eher anekdotischen Überblicken zu den 248 untersuchten frühneuzeitlichen Waisenhäusern, um generalisierend-vergleichende Aussagen zur Entwicklung dieser Institutionen zu treffen. Die Autorin möchte dies zudem mit aktuellen Forschungsfeldern kontextualisieren, die etwa Fragen um die Armenfürsorge, pädagogische Aspekte oder das Policeywesen behandeln. Diesem Anspruch kann die Verfasserin – so viel sei bereits vorweggenommen – gerecht werden. Die in der Datenbank bereits erfassten Datensätze werden nach einer knappen Einleitung „umfassend“ (17) statistisch ausgewertet, wobei beispielhaft einzelne Waisenhäuser angeführt werden. In einem zweiten, deutlich umfangreichen Teil der Arbeit stehen fünf „Orte“ bzw. Anstalten (Braunschweiger Beatae Mariae Virginis, die Niederlande, Erfurt, das Waisenhaus August Hermann Franckes in Glaucha, Züllichau) im Fokus, deren Waisenfürsorge exemplarisch für einen bestimmten Aspekt beleuchtet wird. Dies soll große Entwicklungslinien aufzeigen, die Erkenntnisse der bisherigen Forschung an die Arbeit rückbinden und die in der Studie selbst erarbeiteten Analyseergebnisse verifizieren. Mehrere Anhänge mit Listen, Tabellen, Grafiken und Registern runden die Arbeit ab und bieten nicht zuletzt eine Auflistung aller untersuchten neugegründeten Waisenhäuser und Einblicke in die technische Datenverarbeitung innerhalb des Katasters. Die methodischen Arbeitsprämissen im statistischen Teil sind durch die Orientierung an den Kriterien der Datenbank bereits im Vorfeld getroffen worden: Das betrifft den von 1648 bis 1806 reichenden Zeit- sowie den geografischen Untersuchungsraum, der sich auf Neugründungen auf dem Gebiet des Alten Reichs erstreckt. Sicherlich sind diese Auswahlkriterien aus nachvollziehbaren pragmatischen Gründen so gewählt, dennoch bleibt zu fragen, ob diese rein politischen Rahmungen nicht Gefahr laufen, die Analyseergebnisse durch Schwerpunktsetzungen zu verzerren. Sinnvoll scheint es hingegen in jedem Fall, allein schon durch die zeitliche Rahmung die in
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der Historiografie dominante Stellung des Waisenhauses Franckes kritisch zu hinterfragen. Dies gelingt auch durch die Auswahl der Fallbeispiele, die oft in keiner Beziehung zur Stiftung Franckes standen und unabhängig von dieser agierten. Die Verfasserin nutzt diese auch, um die Ergebnisse der quantitativen Analyse des ersten Teils nochmals aufzugreifen. In dem statistischen Eingangskapitel orientiert sich Antje Schloms an dem „Musterhaus“Datensatz, der bereits im Rahmen des Erfassungsprojekts entwickelt wurde. So können empirisch fundierte Aussagen etwa zur Funktionalität der Waisenhäuser bzw. Einbindung in andere lokale Fürsorgeinstitute, quantitativen Verteilungen als „Gründungswellen“, räumlichen Verteilungen und Konzentrationen innerhalb eines Territoriums, konfessionellen Zugehörigkeiten, „private“, städtische oder landesherrliche Trägerschaften und Gründungspersonen, Verhältnis von Gründungen und Schließungen, Erziehungsgrundsätzen und vermittelten Bildungsinhalten, Personal und den aufgenommenen Kindern getroffen werden. Allein durch die Auswertung des umfangreichen Datenmaterials wird deutlich, dass die Bedeutung der Gründung Franckes, ihr innovatives Potenzial und ihre Strahlkraft auf spätere Stiftungen einer neuen und in Teilen relativierenden Bewertung bedarf. Fünf ausgewählte Institutionen stehen im Zentrum des zweiten Teils der Arbeit, der konzeptionell nicht so sehr zu überzeugen vermag wie das statistische Kapitel. Die Autorin möchte anhand fallbeispielhafter Aspekte die vorangegangenen empirischen Ergebnisse vertiefend behandeln, allerdings bleiben die Auswahlkriterien eher vage. Das Braunschweiger Beatae Mariae Virginis spiegelt zwar wie unter einem Brennglas die typischen Entwicklungen der Armenfürsorge im Reich, fällt als mittelalterliche Gründung aber eigentlich aus den untersuchten Beispielen schon formal heraus. Die zu Recht betonten Vorbildwirkungen der calvinistischen Fürsorgeeinrichtungen der Niederlande in der Soziallfürsorge oder der Architektur werden überzeugend dargelegt, inwieweit es sich hierbei aber um einem „Kulturtransfer“ (19) handelte, wird theoretischmethodisch nicht weiter ausgeführt. Hingegen steht mit Erfurt ein Beispiel im Fokus, bei dem sich aus dem Umstand von zeitgleich gegründeten lutherischen und katholischen Waisenhäusern anregende Analyseschlüsse vor einer konfessionellen Folie ergeben. Im vorletzten Teil folgt die Gründung Franckes selbst. Hier wird besonders deutlich, dass der Typus des „pietistischen Waisenhauses“, das von Francke nach Aussage der älteren Forschung quasi im Alleingang entwickelt worden war, eine deutliche Korrektur nötig hat. Das letzte Fallbeispiel fragt nach dem Rezeptionserfolg der Franckeschen Stiftungen, der vor allem auch auf einer guten Selbstvermarktungstaktik gründete. Anhand dieser als institutionelle Biografien gestalteten Kapitel werden die Einflüsse auf und die Nachahmungen der Gründungen Franckes gut deutlich. Nicht immer kann allerdings die Kluft zwischen beiden methodisch deutlich unterschiedlich gearbeiteten Großabschnitten überzeugend überwunden werden. In jedem Fall sind sie jedoch geeignet, die zwangsweise eher trockenen Statistikanalysen historisch-quellengesättigt zu unterfüttern. Die hin und wieder aufscheinenden Satzfehler mit fehlenden Leerschlägen können den positiven Gesamteindruck nicht weiter trüben. Das Verdienst der Arbeit, eine systematisch-empirische Studie zum Waisenhauswesen im Konzept institutionalisierter Fürsorge in verschiedenen Aspekten vorgelegt zu haben, soll durch die konzeptionellen Vorbehalte nicht geschmälert werden. Zukünftige Arbeiten zur Armenfür-
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sorge im Heiligen Römischen Reich werden nicht zuletzt wegen der verarbeiteten äußerst umfangreichen Literatur- und Quellenbasis an der von Antje Schloms vorgelegten Studie nicht vorbeikommen. Es bleibt zu hoffen, dass solche Untersuchungen auch dazu beitragen werden, die erfreulicherweise immer weiter ansteigende Menge an fachwissenschaftlichen Datenbanken sinnvoll zu strukturieren und für weiterführende Forschungen zu erschließen, damit diese nicht im digitalen Nirwana verschwinden. 1
„Waisenhaus-Kataster“ (archiv.francke-halle.de/start.fau?prj=ifaust8_whk, letzter Zugriff: 06.07.2022).
Michael Roth M. A. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Internationales Studienzentrum, Im Neuenheimer Feld 684, 69120 Heidelberg, Deuschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 230–232 Stefan Fuchs Herrschaftswissen und Raumerfassung im 16. Jahrhundert. Kartengebrauch im Dienste des Nürnberger Stadtstaates (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 35), Zürich: Chronos Verlag, 2018, 312 S., 31 farb. Abb., ISBN 978-3-0340-1346-8, 48,00 EUR. Frühneuzeitliche Karten erfahren als Medien sozialer und kultureller Praktiken schon seit einigen Jahrzehnten – erwähnt sei hier nur der sogenannte spatial turn – ein verstärktes Forschungsinteresse. Ein besonderer Fokus richtet sich dabei auf handgezeichnete Karten als Mittel der Herrschaftsausübung, d. h. vor allem der Erfassung sowie der Medialisierung des Herrschaftsraums und seiner Grenzen. In diesen Kontext reiht sich auch die vorliegende, im Jahr 2015 als Dissertation an der Universität Zürich eingereichte Studie von Stefan Fuchs zu Herrschaftswissen und Raumerfassung im 16. Jahrhundert ein, die den Kartengebrauch im Dienste des Nürnberger Stadtstaates untersucht. Anknüpfend an Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität führt Fuchs dabei in seiner (nicht gerade eingängig zu lesenden) theoretischen Einführung – parallel zur etablierten „pragmatischen Schriftlichkeit“ – zunächst den Begriff der pragmatischen Kartografie (25) ein: Seit dem 16. Jahrhundert habe sich demzufolge nicht nur in der Reichsstadt Nürnberg der Gebrauch der Karte als administratives und juristisches Hilfsmittel verbreitet, das jedoch kennzeichnenderweise nie singulär, sondern immer im Zusammenspiel mit schriftlichen Verwaltungstechniken verwendet wurde. Da die genauen Entstehungsbedingungen jedoch weitgehend im Dunkeln liegen, möchte Fuchs diese näher in den Blick nehmen. Neben den technischen Voraussetzungen seien dabei die Verbreitungsformen des kartografischen Wissens unter den relevanten Gruppen („soziale Dispositive der Wissenszirkulation“, 27) sowie die Typen der Wissensaufbereitung, also Karte, Diagramm, Liste etc., von besonderem Interesse. Die Reichs-
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stadt Nürnberg eignet sich für eine solche Studie in besonderem Maße sowohl aufgrund der reichhaltigen Überlieferung in den Nürnberger Archiven als auch wegen ihrer Stellung als kartografisches Innovationszentrum sowie der schon damals sehr ausdifferenzierten Verwaltung, die Fuchs im zweiten Kapitel ausführlich in Aufbau und Praxis darstellt. Der eigentliche Hauptteil der Arbeit umfasst drei unterschiedlich umfangreiche Kapitel, die die verschiedenen Verwendungsformen von Karten näher untersuchen: Das Inszenieren von Herrschaft mit Karten (79–93) durch die Reichsstadt lässt sich hier jedoch – im Unterschied zum 18. Jahrhundert, als eine von Homann herausgegebene Karte des angeblichen reichsstädtischen Herrschaftsgebiets einen veritablen Streit mit den territorialen Nachbarn auslöste – nicht nachweisen. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Die erhobenen Informationen wurden als Arkanwissen betrachtet und waren geheim; keinesfalls durfte eine andere Herrschaft detaillierte Kenntnisse über das Nürnberger Territorium erlangen. Der Versuch des Autors, für die Herrschaftsinszenierung durch Karten mit dem opulent ausgestatteten Atlas des Patriziers Paul Pfinzing ersatzweise ein Beispiel aus dem Nürnberger Patriziat heranzuziehen, kann folglich auch nicht ganz überzeugen. Anders verhält es sich hingegen mit dem umfangreicheren Kapitel zum Prozessieren mit Karten (95–150), das u. a. am Pfinzing-Atlas auf stringente Weise die sich seit Beginn des 16. Jahrhundert durchsetzende Verwendung von Karten im Rechtswesen beschreibt. Gerade im Zuge entstehender Staatlichkeit, die auch die räumliche Konsolidierung von Herrschaft (54–57) in den Vordergrund rückte, gerieten benachbarte Territorien in Streit um Herrschaftsrechte und Grenzverläufe. Die konfliktgebundene Lokalkartografie, die den ganz überwiegenden Teil der archivalisch überlieferten Karten ausmacht, holte nun das Ergebnis des vor Ort durchgeführten Augenscheins in den Gerichtssaal, sie bewirkte einen Informationstransfer von der Peripherie in die Zentrale. Dabei war jedoch lange nicht klar, ob die situativ erarbeiteten Karten im stark auf schriftliche Aufzeichnungen setzenden römisch-rechtlich beeinflussten Kameralprozess (106 f.) als Beweismittel akzeptiert würden, spätestens seit 1654 hatten sie sich jedoch auch im Reichskammergerichtsprozess durchgesetzt. Von eminenter Bedeutung war schließlich auch das Regieren mit Karten (151–243), das Fuchs nochmals speziell unter Rückgriff auf Foucaults Gouvernementalitätsbegriff untersucht. Demzufolge hätten der – faktisch dem tatsächlichen Verwaltungshandeln zeitlich immer hinterher hinkende – humanistische Gelehrtendiskurs sowie die sich in Abgrenzung zu Machiavellis Il principe entwickelnde Fürstenspiegelliteratur das Gemeinwohl, den gemeinen nutz, verstärkt als Zweck guten Regierens identifiziert. Als eine von verschiedenen Voraussetzungen hierfür galt die genaue Kenntnis des eigenen Herrschaftsgebiets. Aus diesem Grund wurden in Europa seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erste mehr oder weniger umfangreiche Landesaufnahmen durchgeführt, die die Territorien sowohl deskriptiv (Beschreibungen, Tabellen) als auch kartografisch erfassten. Die Sicherung des Besitzes und der Herrschaftsrechte waren dabei sowohl für den Rat der Stadt Nürnberg als auch für den Grundherrn Paul Pfinzing die vorwiegende Motivation. Militärische Erwägungen standen demgegenüber genauso zurück wie ökonomische oder fiskalische Beweggründe. Ein kurzes Fazit von fünf Seiten fasst nochmals die vorhergehenden Erkenntnisse zusammen, wie sich die Karte ihre Stellung als Verwaltungs- und Herrschaftstechnik zwischen den traditio-
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nellen schriftlichen Aufzeichnungen wie Salbüchern und Weistümern erkämpfte und rundet die Studie auf diese Weise ab. Im Anhang finden schließlich sich ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie 31 farbige Abbildungen. Gewiss könnte man sich als Leser bei einigen Details andere Gewichtungen wünschen. So wird beispielsweise der kartografiegeschichtliche Forschungsstand auf einer recht theoretischen Ebene abgehandelt und vergleichbare regionalhistorische Studien, von denen vor allem in jüngerer Zeit wichtige erschienen sind, nicht erwähnt. Auch ließe sich darüber streiten, ob der Darstellung des europäischen wie deutschsprachigen Gelehrtendiskurses tatsächlich rund 30 Seiten eingeräumt werden müssten oder ob hier nicht im Sinne einer besseren Lesbarkeit eine konzisere Zusammenfassung sinnvoll gewesen wäre. Vor allem bei der von soziologischen Begriffen geprägten Erörterung der theoretischen Grundlagen ist die Arbeit zudem recht schwer lesbar. Gerade kartografiegeschichtliche Darstellungen sind ja auch immer für den Laien von Interesse. Schließlich darf noch das Fehlen eines Personen- sowie eines vor allem in einer kartografiehistorischen Studie sinnvollen Ortsregisters bemängelt werden. Diese nicht grundsätzlichen Kritikpunkte sollen das Gesamturteil jedoch nicht schmälern. Die Studie folgt einem schlüssigen Ansatz, ist gut recherchiert und durchdacht und bringt auf diese Weise auf der theoretischen Ebene ebenso vielversprechende Befunde wie für die kartografiegeschichtliche und regionalhistorische Forschung. Dr. Johannes Staudenmaier Staatsarchiv Bamberg, Hainstraße 39, 96047 Bamberg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 232–234 Philip Steiner Die Landstände in Steiermark, Kärnten und Krain und die Josephinischen Reformen. Bedrohungskommunikation angesichts konkurrierender Ordnungsvorstellungen (1789–1792) Münster: Aschendorff Verlag, 2017, 608 S., ISBN 978-3-402-13221-0, 59,00 EUR. Die vorliegende 608 Seiten starke Monografie ist die Druckfassung der Promotionsschrift Philip Steiners, die im Rahmen des Teilprojekts D02 „Josephinismus, katholische Kirche und landständischer Adel. Bedrohungskonstellationen in Innerösterreich“ im Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnung“ an der Universität Tübingen (5) entstand. Die Einbindung in ein derart großes interdisziplinäres Forschungsvorhaben, das „die Auswirkungen von Bedrohungserfahrungen auf soziale Ordnungen und sowohl die dementsprechende Rolle als auch die Reaktion der betroffenen Akteure“ (39) untersucht, ließen dem Autor wenig Spielraum bei der inhaltlich-methodischen Schwerpunktlegung seiner historischen Arbeit, wie er selbst schreibt: „Als Mitarbei-
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ter des Teilprojekts D02 wurde mir die Aufgabe zuteil, die Ende des 18. Jahrhunderts anlässlich der josephinischen Reformen in den Quellen zu Tage getretenen Bedrohungskonstellationen in Bezug auf die Landstände der drei innerösterreichischen Herzogtümer Steiermark, Kärnten und Krain zu erforschen.“ (23) Innerhalb dieser engen Vorgaben wählte Steiner mit seinem Fokus auf die „Bedrohungskommunikation“ der Stände einen innovativen gesellschaftstheoretischen Ansatz; zum einen nimmt er sich mit der Ständeforschung einem Desiderat an, zum anderen fügt sich die Arbeit damit in ein dynamisches Forschungsfeld zur politischen Kommunikation ein. Zwei Kritikpunkte fallen gleich zu Beginn auf: Einführend wird in Kapitel I. eine Arbeitsdefinition für den Begriff „Josephinismus“ formuliert, worunter Steiner „vor allem jene unter Maria Theresia [1717–1780] einsetzende und unter Joseph II. aufgeklärte, staatlich und offensiv ausgerichtete Reformbewegung in der Habsburgermonarchie“ (58) versteht. Diese Begriffsbestimmung erachtet der Rezensent für diskussionswürdig. Maria Theresia ernannte ihren Sohn erst nach dem Tod ihres Gatten Franz Stephans (* 1708) 1765 zum Mitregenten und der Einfluss Josephs II. (1741–1790) auf die Gesetzgebung war bis zum Beginn seiner Alleinherrschaft 1780 marginal. Die Bezeichnung der maria-theresianischen Reformen als „josephinisch“ ist daher bedenklich, zumal der vom Gedankengut der Aufklärung geleitete Sohn bei der Verwirklichung von Verordnungen viel rigoroser und ungehaltener vorging als seine vom Österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748) zur Reform gedrängte Mutter. Ebenso bringt die einleitende Darstellung der Reformen unter Maria Theresia und Joseph II. auf knapp 100 Seiten in Kapitel II. (59–153) kaum besonderen Mehrwert für das Verständnis der „Bedrohungskommunikation“ der innerösterreichischen Landstände der Jahre 1789 bis 1792. Hilfreich wäre stattdessen eine einführende Analyse ständischer Kommunikationsnetzwerke in Kärnten, Steiermark und Krain in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, über deren Kanäle diese „Bedrohungskommunikation“ lief, gewesen. Die eigentliche „Bedrohungskommunikation“ der innerösterreichischen Stände beleuchtet Steiner am Beispiel der Probleme rund um die josephinische Steuer- und Urbarialregulierung (1789–1790) und der weitreichenden Diskussionen um die Restauration der altständischen Verfassungen in Steiermark, Kärnten und Krain (1790–1792). Kapitel III. (155–249) gibt Aufschluss über die Beschwerden der Landstände im Kontext der Durchführung der Steuer- und Urbarialregulierung (Auffassung von grundherrschaftlichem Eigentumsrecht, Abwicklung von Messungen und Schätzungen, unqualifizierte Ratgeber) und in Kapitel V. (277–331) werden die innerösterreichischen Bauernerhebungen nach der Rücknahme des Patents behandelt. Der Hofkommissär Kajetan von Auersperg (1754–1818) brachte Vorschläge zur Erleichterung und Entlastung des Bauernstandes ein, wogegen diese protestierten. In Kapitel IV. (251–276) analysiert Steiner die Rückführung des steirischen Herzoghutes nach Graz, die als symbolischer Siegeszug des Herrenstandes über die Landesherrschaft inszeniert und von Steiner als „Verfassungsfest“ (Vgl. 259–261) im Sinne Barbara Stollberg-Rilingers identifiziert wurde. Abschließend erörtert der Autor in Kapitel VI. (333–393) die Vorschläge der steirischen, Kärntner und Krainer Landstände zur Wiederherstellung der alten Verfassung, das heißt der „politischen Strukturen, Rechte und Privilegien ihrer Landschaft“ (335) aus der vor-josephinischen Ära. Das war Bestandteil des „leopoldinischen Krisenmanagements“ (335), um mit den Landständen einen Kommunikationsprozess über die „bedrohte Ordnung“ in Ganz zu setzen. Wie
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die detaillierte Analyse der schwierigen Folgeverhandlungen der innerösterreichischen Ständedeputationen am Wiener Hof zeigt (396–514), war von Leopold II. (1747–1792) jedoch nie eine vollständige Rückkehr zur alten Ordnung geplant. Philip Steiner konnte mit seiner quellenbasierten Studie aufzeigen, dass die Stände in den späten 1780er Jahren alles andere als „entmachtet“ waren und wie komplex sich die „Bedrohungskommunikation“ der innerösterreichischen Landschaften angesichts der vordringenden Staatsgewalt abspielte. Dr. Julian Lahner August-Kleebergstraße 5, I-39025 Naturns, Südtirol/Italien, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 234–235 Sebastian Schröder Tecklenburg um 1750. „Geographia Tecklenburgensis“ und „Bereisungs-Protocollum“ des preußischen Kriegs- und Domänenrats Ernst Albrecht Friedrich Culemann. Edition und historische Einordnung (Nordmünsterland-Studien 1) Lage: Lippe Verlag, 2019, 252 S., ISBN 978-3-89918-075-6, 17,90 EUR. Die Grafschaft Tecklenburg zählt zu denjenigen Territorien des Alten Reiches, die aus mehreren Gründen besondere Aufmerksamkeit beanspruchen dürfen. Zum einen ist sie ein Paradebeispiel für die Erforschung der Frage, ob und inwiefern es den mindermächtigen Reichsständen gelungen ist, ihre eigenen Interessen in den komplexen Wirkungszusammenhängen der Reichs- und europäischen Mächtepolitik zu behaupten. Zum anderen lassen sich anhand von Tecklenburg in exemplarischer Weise die Strukturgegebenheiten, Probleme und Herrschaftspraxis der preußischen composite monarchy analysieren. Hierzu liefert die hier zu besprechende Edition reichhaltiges Anschauungsmaterial, da sie tiefe Einblicke in die Realitäten preußischer Herrschaft ‚vor Ort‘ ermöglicht. Das Buch geht auf eine Publikation des Bearbeiters aus dem Jahre 2018 zurück, die für den Wiederabdruck überarbeitet wurde. In einer ausführlichen Einleitung werden die notwendigen Erläuterungen zum Kontext der edierten Quellen konzise dargelegt. Deren Autor, der preußische Kriegs- und Domänenrat Ernst Albrecht Friedrich Culemann (1711–1756), wird ebenso vorgestellt wie die konkrete Verwaltungspraxis in der Grafschaft Tecklenburg um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Auch die beiden heute in der Abteilung Westfalen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen aufbewahrten Hauptquellen der Edition, die „Geographia Tecklenburgensis“ und das „Bereisungs-Protocollum der Graffschafft Tecklenburg“, werden inhaltlich verortet. Besonders instruktiv sind die einleitenden Ausführungen des Bearbeiters zur Frage des Quellenwerts der edierten Schriftsätze. Wie überzeugend dargelegt wird, bieten diese nicht nur eine detaillierte Momentaufnahme des Zustands der Tecklenburgischen Lande um 1750, sondern
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sie sind auch bestens dazu geeignet, gängige Tendenzen der jüngeren Frühneuzeitforschung auf den Prüfstand zu stellen. Hierzu zählen zum Beispiel die Abkehr von etatistischen Perspektivierungen, die lange Zeit durch das ‚Absolutismus‘-Paradigma geprägt wurden, darüber hinaus die Deutung vormoderner Herrschaft als dynamischer Aushandlungsprozess, bei dem die Landesherrschaft zwingend auf die Kooperation der lokalen Kräfte angewiesen war, sowie nicht zuletzt die Bemühungen, unterschiedliche Formen herrschaftlicher Kommunikation zu differenzieren. Der große Aussagewert der edierten Quellen hängt unmittelbar mit der charakteristischen Genauigkeit der Aufzeichnungen Culemanns zusammen. Seine für den internen dienstlichen Gebrauch gedachten Aufzeichnungen zielten auf eine detaillierte Bestandsaufnahme ab, die letztlich zur Gewährleistung herrscherliche Kontrolle und Steigerung der landesherrlichen Einnahmen gedacht war. Während die „Geographia Tecklenburgensis“ in umfassender und systematischer Weise die zeitgenössischen tecklenburgischen Verhältnisse dokumentieren sollte (Administration, Wirtschaft, Steuern, Bevölkerung und politische Verhältnisse), ähnelt das in Frage- und Antwort-Form abgefasste „Bereisungs-Protocollum“ in hohem Maße traditionellen Visitationsberichten, die dazu gedacht waren, möglichst genau die Lage vor Ort aufzuzeichnen. Herausgekommen sind dabei detaillierte Zustandsbeschreibungen von großer Themenvielfalt, die auf Grundlage persönlicher Anschauung in nüchterner Weise den Status quo bilanzieren und zugleich auch – zumindest punktuell – einen intensiven Einblick in die Bedürfnisse der Untertanen und in deren Interaktionen mit der Obrigkeit erlauben. Culemann erweist sich hierbei durchaus als ein Freund klarer Worte. „Die Einwohner der Graffschafft Tecklenburg sind gesunde starke Leute, dabey aber mehrentheils wie überhaupt, also auch in der Religion einfältig“, liest man in der „Geographia Tecklenburgensis“ (70). Insgesamt gesehen wusste er jedoch Erfreuliches zu berichten: „Ich bin aber zuverläßig versichert worden, daß die Unterthanen durchgehends in der Graffschafft Tecklenburg […] ietzo weit besser, als sonsten und zu gräfflichen Zeiten gewesen, stehen […]“ (192). Zur Einrichtung der Edition: Der Bearbeiter hat sich entschieden, den Text buchstabengenau nach der Schreibweise Culemanns zu präsentieren; lediglich Umlautpunkte und Interpunktion wurden an den heutigen Gebrauch angepasst. Erkennbare Mühe hat sich der Editor bei der akkuraten Wiedergabe des Textes gegeben, wovon zahlreiche Textanmerkungen zeugen. Positiv zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Einbeziehung nachträglicher Korrekturen und Marginalien. Nicht zu jeder Person findet sich eine Personalanmerkung; dies wird jedoch – zumindest in Teilen – durch die Personenregister aufgefangen. Besonders wichtig sind zudem die Ortsregister; sie sind gerade mit Blick auf die Nutzbarkeit der Edition in geografischen und administrativen Fragen unerlässlich. Schwarz-Weiß-Abbildungen und Tabellen runden das Bild ab. Wer ein Interesse an landeskundlichen Aspekten der Grafschaft Tecklenburg hat und – jenseits der einseitigen Top-down-Prämissen der älteren borussischen Historiografie – konkretes Anschauungsmaterial zur preußischen Herrschaftspraxis auf lokaler Ebene sucht, dem sei die vorliegende Edition empfohlen. Prof. Dr. Michael Rohrschneider Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Am Hofgarten 22, 53113 Bonn, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 236–238 Silvia Kepsch Dynastie und Konfession. Konfessionsverschiedene Ehen in den Grafenhäusern Nassau, Solms und Isenburg-Büdingen 1580–1648 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 185), Darmstadt/Marburg: Historische Kommission für Hessen, 2021, XII + 414 S., 7 Tafeln, 14 sw. Abb., ISBN 978-3-88443-340-9, 29,00 EUR. Sowohl die Konfessionalisierungs- als auch die Adels- und Dynastieforschung kann (nicht nur) für die Frühe Neuzeit hinsichtlich ihrer Resultate auf eine mittlerweile stolze Bilanz verweisen. Da das Konnubium immanenter Bestandteil adelig-dynastischer Politik war und die Konfession im Zuge der Reformation und Konfessionalisierung nicht minder, liegt indes der Brückenschlag zwischen beiden genannten Forschungsrichtungen besonders nahe. Allerdings standen in diesem Zusammenhang konfessionsverschiedene Ehen bislang nicht im Mittelpunkt des Interesses, und wenn es vereinzelt doch geschah, dann handelte es sich um Untersuchungen zu katholisch-protestantischen Eheverbindungen und nicht um Konnubien unter dem Vorzeichen des innerprotestantischen Konfessionsgegensatzes. Letzterer war für die damaligen Zeitgenossen aber wahrnehmbare Realität. Erinnert sei nur daran, dass die Lübecker Fürstbischöfe in der Frühen Neuzeit entweder Protestanten oder Katholiken sein konnten – faktisch waren sie nur ersteres –, dass aber Angehörige des calvinistischen Bekenntnisses von einer Kandidatur für das fürstbischöfliche Amt von vornherein ausgeschlossen waren. In ihrer von Horst Carl als Doktorvater betreuten und 2020 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommenen und zusätzlich mit dem Wissenschaftspreis des Landes Hessen für Geschichte und Landeskunde ausgezeichneten Dissertation betrachtet Silvia Kepsch am Beispiel der Wetterauer Grafenhäuser Nassau, Solms und Isenburg-Büdingen die von der Forschung also bisher weitgehend vernachlässigten Mischehen zwischen 1580 als Beginn der Ausbreitung der reformierten Konfession in der Grafenregion und dem Westfälischen Frieden von 1648. In ihrer lobenswert ausführlichen Einleitung (1.) stellt die Verfasserin zunächst ihr Thema, die Forschungskontexte und die Arbeitsziele, ihr begriffliches Instrumentarium (Dynastie, Haus, Familie sowie Religion und Konfession, „Dynastiekonfession“), die Quellen, Methode und den Untersuchungsaufbau sowie zuletzt die genannten Grafengeschlechter im dynastie- und konfessionsgeschichtlichen Überblick vor (1–78). Mit „Eheallianzbildung und Konfession“ ist das darauf folgende, zweite Kapitel überschrieben, worin die konfessionellen und konfessionsverschiedenen Eheallianzen der Wetterauer Grafen näher vorgestellt, das Zustandekommen konfessionsverschiedener Eheverbindungen beleuchtet und die zeremonielle Seite dieser Eheschließungen thematisiert werden (79–155; im Inhaltsverzeichnis hat sich leider ab Abschnitt 2.3.2 bis 2.4 ein ärgerlicher Seitenzählfehler eingeschlichen). In einem dritten Schritt widmet sich Kepsch der christlichen Lebenspraxis in konfessionsverschiedenen Ehen (157–219). Mission und Dynastie, Glaubenspraxis und Integration der Gräfin sowie Kirchenpolitik in konfessionsverschiedenen
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Ehen sind die hierin behandelten Abschnitte. Um konfessionelle Kindererziehung geht es darauf im vierten Kapitel (221–282), worauf fünftens speziell Vormundschaftskonflikte im Fall einer anderskonfessionellen Witwe in den Blick genommen werden (283–350). Es folgt ein wiederum erfreulich seitenstarkes Fazit zu „Dynastie und Konfession“ (Kapitel 6), das sich aber beileibe nicht in der bloßen Zusammenfassung der zahlreichen relevanten Erkenntnisse der vorangehenden Abschnitte ergeht. Diese werden ja auch schon zu jedem Kapitelende jeweils in einem eigenen Fazit zusammengeführt. Vielmehr wird, inhaltlich anspruchsvoll und methodisch ambitioniert, die Multikonfessionalität der Dynastien zum Schluss fokussiert problematisiert und damit auf eine höhere Vergleichsebene gehoben (351–371). Kepsch kommt auf die konfessionelle Einflussnahme in konfessionsverschiedenen Ehen, die Konfessionalisierbarkeit von Dynastien, das erkennbare Normensystem, die konfessionelle Pluralität als religiöse und politische Herausforderung sowie Konflikte und Bewältigungsstrategien zu sprechen. Ein Anhang, bestehend aus einem Verzeichnis der Tafeln und Abbildungen (373 f.), einem Quellen- und Literaturverzeichnis (375–403) und zu guter Letzt einem Personenregister (404–414) beschließen den insgesamt akkurat redigierten, übersichtlich gestalteten (sogar mit eigenen Nutzungshinweisen zur Hilfestellung versehenen [31 f.]) und mit einer auskömmlichen Zahl an Abbildungen illustrierten Band. Kepsch ist eine flüssig zu lesende, überaus überzeugende Untersuchung der in den drei Wetterauer Grafenhäusern zwischen 1580 und 1648 häufigen konfessionsverschiedenen Ehen gelungen. Die hinter den Eheallianzen erkennbaren Ziele und Ambitionen in familialer, politischer und religiöser Hinsicht macht sie nicht zuletzt durch die tiefschürfende Interpretation der herangezogenen zeitgenössischen Familienkorrespondenzen nachvollziehbar. Erfreulich und absolut sinnvoll ist, dass die Verfasserin mehrfach den Blick zurück über die die Kontinuitäten wie Brüche verwischende Epochenschwelle zum Mittelalter wagt. Nicht von ungefähr führt sie in ihrer allerersten Anmerkung mit Peter Moraw gleich einen überaus namhaften Mediävisten an (auch wenn Kepsch damit, etwas gewagt, einen Beleg zum Reich um 1600 [!] liefern möchte) (1). Klar ist auch, dass angesichts der gerade in letzter Zeit zahlreich gewordenen Forschungsliteratur zu adeligen Ehen und Ehepolitiken nicht jeder relevant erscheinende Titel im Literaturverzeichnis auftaucht. Allerdings ist es doch ein schmerzliches Defizit, wenn Kepsch mit ihrer Arbeit explizit neue Sichtweisen auf die Handlungsspielräume von Frauen als politischen Akteurinnen eröffnen möchte, aber sowohl den aktuellen Forschungsdiskurs zu Handlungsspielräumen allgemein als auch die in diesem Zusammenhang richtungsweisende Studie von Melanie Greinert speziell zu Fürstinnen zwischen Unterordnung und Selbstbehauptung ausblendet.1 Abgesehen von diesem Monitum ist die ausgezeichnete Dissertation von Silvia Kepsch aber ein wirklich gelungener, wichtiger Baustein zur Konfessionalisierungs- wie zur Dynastie- und Adelsforschungen der Frühen Neuzeit, die auch außerhalb Hessens für künftige diesbezügliche Studien unbedingt von großem Nutzen sein wird. 1
Melanie Greinert: Zwischen Unterordnung und Selbstbehauptung. Handlungsspielräume Gottorfer Fürstinnen (1564–1721) (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 1), Kiel/Hamburg 2018.
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Prof. Dr. Oliver Auge Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 238–240 Alexandra Haas Hexen und Herrschaftspolitik. Die Reichsgrafen von Oettingen und ihr Umgang mit den Hexenprozessen im Vergleich (Hexenforschung 17), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2018, 319 S., 6 Abb., ISBN 978-3-7395-1107-8, 29,00 EUR. Im Nördlinger Ries und den angrenzenden Gebieten befand sich das Herrschaftsgebiet der Grafen von Oettingen. Oettingen-Oettingen war lutherisch, Oettingen-Wallerstein katholisch. Die Saarbrücker Dissertation bei Wolfgang Behringer, begonnen in Tübingen unter der Betreuung des 2012 verstorbenen Historikers Sönke Lorenz, nimmt vergleichend die „Hexenpolitik“ eines mindermächtigen Reichsstands in den Blick. Abgesehen von Einzelfällen gab es im 16. Jahrhundert in Oettingen-Oettingen Hexenverfolgungen 1574 und eine Verfolgungswelle in OettingenWallerstein 1587–1594. Geradezu eine Massenverfolgung fand in Oettingen-Wallerstein 1627–1631 statt, bei der gut 160 Menschen starben. Mindestens vier Frauen wurden 1673 im katholischen Oettingen-Katzenstein hingerichtet. Die protestantischen Oettingen-Oettingen vertraten zunächst eine moderate, die Prozesse eher ablehnende Haltung. 1618 kritisierte Oettingen-Oettingen die Prozesspraxis des katholischen Stifts Ellwangen, in dem damals eine intensive Verfolgung stattfand. Erhalten ist der ellwangische Gegenbericht im Staatsarchiv Ludwigsburg B 389 Bü 704. Die Akte ist online.1 Im Dreißigjährigen Krieg wurde diese Skepsis etwas aufgeweicht. Zwar wurde in Oettingen-Oettingen 1627–1631 keine einzige Hexe hingerichtet (171), aber der Landesherr unterzeichnete die Hinrichtungsbefehle des Nachbarterritoriums im Zeichen der intensivierten Kooperation der beiden Herrschaften auf dem Gebiet des Gerichtswesens. Dagegen arbeitete Oettingen-Wallerstein mit ausgesprochenen Verfolgungsbefürwortern zusammen, so um 1593 mit Dr. Paulus zum Acker, der später als Dillinger Hofrat die Verfolgungen vorantrieb, und mit dem 1628 als Hexenkommissar bestallten Dr. Wolfgang Kolb. In zwei Aufsätzen kam Haas – ohne neue Aspekte – auf das Thema ihrer Dissertation zurück: „Der Hexentanzplatz bei Wechingen in der Prunkkarte von Graisbach (Pfalz-Neuburg), ca. 1570“ und „Die Hexenverfolgungen in der Grafschaft Oettingen. Wenn in der Regierung Verfolgung und Gegner von Hexenprozessen aufeinandertreffen“.2 Die Quellenlage ist eher dürftig. Von einer reichen Aktenüberlieferung im Privatarchiv der Fürsten von Oettingen-Wallerstein auf der Harburg kann keine Rede sein. Hauptquelle für die Welle von 1627/31 ist eine Dokumentation der Hingerichteten 1627–1630, die „Wallersteiner He-
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xenliste“ (132 f.). Ergänzt werden mussten die spärlichen Harburger Quellen durch Archivalien im Landesarchiv Baden-Württemberg, insbesondere zu Reichskammergerichtsprozessen, und die Handschrift 2° Cod. ms. 214 der Universitätsbibliothek München, eine Art „Hexenhandbuch“, angelegt um 1629 wohl vom genannten Dr. Kolb.3 In ihr ist die „einzig erhaltene Wallersteiner Prozessakte von 1593“ überliefert (99). Von der späteren Wallersteiner Welle ab 1627 gibt es keine einzige Akte (133). Wertvoll ist die „Chronologische Prozessliste“ (228–289), die alle ermittelten Verfahren knapp zusammenfasst und die genannte Hexenliste (hoffentlich erschöpfend) auswertet. Dass sie mit einem Fall von 899 (228, Druckfehler: 889) einsetzt, der sich auf Altötting bezieht4, weckt wenig Vertrauen in die Arbeitsweise der Verfasserin. Vollends erschüttert wird dieses durch die Lektüre der Rezension von Rainer Walz in der Zeitschrift für Historische Forschung, der von für eine Dissertation „untragbaren Mängeln“ spricht.5 Fast alle Zitate aus archivalischen Quellen seien grob fehlerhaft, eine ausreichende Kenntnis des Lateinischen sei nicht gegeben, und es existierten auch eklatante inhaltliche Mängel. Ich selbst habe in der Transkription der Bestallungsurkunde des Dr. Kolb aus der Münchner Handschrift (226 f.) mehr als 40 sinnentstellende Fehllesungen gefunden, von vielen ungenauen Wiedergaben und fragwürdigen sprachlichen Modernisierungen abgesehen.6 Beeinträchtigt das die Resultate? Man kann es ohne gründliche Nachprüfung eigentlich nicht wissen, auch wenn die skizzierten Grundlinien vermutlich verlässlich sind. Nötig wären auch in den Geisteswissenschaften „restudies“, die sich ein Thema zeitnah erneut vornehmen. Eine andere Problemlösung wäre einfacher ins Werk zu setzen: Handelte es sich nicht um ein Privatarchiv, könnte man das überschaubare Harburger Quellenmaterial für vergleichsweise wenig Geld einfach online verfügbar machen. Dann könnte jeder, der die nötigen paläografischen Kenntnisse besitzt, eigene Auswertungen vornehmen. Zusätzlich könnten mit Crowdsourcing Transkriptionen, etwa der auch für Genealoginnen und Genealogen wichtigen „Hexenliste“, erstellt werden. Wissenschaft ist ein Prozess, der immer auch die Möglichkeit des Scheiterns einschließt. Zugleich kann dieses Scheitern, wenn man es denn nicht unter den Tisch kehrt und zur Tagesordnung übergeht, aufgearbeitet und überwunden werden. Hier wären insbesondere die Gutachter der vorliegenden Dissertation gefragt. 1 2
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http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=2-2192905-1, letzter Zugriff: 12.07.2022. Alexandra Haas: Der Hexentanzplatz bei Wechingen in der Prunkkarte von Graisbach (PfalzNeuburg), ca. 1570. In: Eichstätter Diözesangeschichtsblätter 4 (2018/19), 7–22; Dies.: Die Hexenverfolgungen in der Grafschaft Oettingen. Wenn in der Regierung Verfolgung und Gegner von Hexenprozessen aufeinandertreffen. In: Klaus Walter Littger (Hg.): Hexenverfolgung im Bistum Eichstätt. Symposium des Eichstätter Diözesangeschichtsvereins am 12./13. Oktober 2018 in Eichstätt (Beiträge zur Geschichte der Diözese Eichstätt 2), Sankt Ottilien 2020, 261–278. Online verfügbar: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:19-epub-42921-0, letzter Zugriff: 12.07.2022. Fortsetzung der Fuldaer Annalen: http://www.mgh.de/dmgh/resolving/MGH_SS_rer._ Germ._7_S._133, letzter Zugriff: 12.07.2022. Rainer Walz: Rezension zu Alexandra Haas, Hexen und Herrschaftspolitik. Die Reichsgrafen von Oettingen und ihr Umgang mit den Hexenprozessen im Vergleich (Hexenforschung 17), Bielefeld 2018. In: Zeitschrift für Historische Forschung 46 (2019), 370 f.
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Rezensionen https://archivalia.hypotheses.org/125787, letzter Zugriff: 12.07.2022.
Dr. Klaus Graf Hochschularchiv der RWTH Aachen, Theaterplatz 14, 52062 Aachen, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 240–242 Wolfgang Wüst (Hg.) Historische Kriminalitätsforschung in landesgeschichtlicher Perspektive. Fallstudien aus Bayern und seinen Nachbarländern 1500–1800. Referate der Tagung vom 14. bis 16. Oktober 2015 in Wildbad Kreuth (Franconia 9), Erlangen: Wissenschaftlicher Kommissionsverlag, 2017, 360 S., ISBN 978-3-940049-23-0, 29,80 EUR. Die deutsche Kriminalitätsgeschichte abseits von der älteren Hexenforschung stellt, im Gegensatz zur englisch- und französischsprachigen Historiografie und trotz des durchgängig großen öffentlichen Interesses an Krimiromanen und true crime-Formaten, erst seit den 1980er, spätestens aber ab den frühen 1990ern einen eigenständigen Bereich innerhalb der Geschichtswissenschaften dar. Der vorliegende Sammelband, dessen 17 Beiträge in vier thematischen Sektionen Ergebnis einer kooperativen Tagung zwischen dem Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte, dem Zentralinstitut für Regionenforschung (Sektion Franken) und dem Institut für Politische Bildung der Hans-Seidel-Stiftung vom 14. bis 16. Oktober 2015 sind, fügt den bisherigen Forschungsleistungen nun eine landesgeschichtliche Sichtweise hinzu und benennt sich daher „als Brücke zwischen Kriminalitäts- und Landesgeschichte“ (IX). Nach thematischer Hinführung und Überblick über die Aufsätze erfolgt der Auftakt der ersten Sektion „Regionenübergreifend“ folgerichtig anhand einer Standortbestimmung Gerd Schwerhoffs, der durch zahlreiche eigene Beiträge zum Vorankommen der Historischen Kriminalitätsforschung in Deutschland beigetragen hat. Kurz und prägnant schildert er erbrachte Untersuchungsergebnisse anhand verschiedenster Bereiche wie Delikte und Strafen, während er im gleichen Atemzug zukünftiges Potenzial dieser Themenfelder für die Kriminalitätsgeschichte herausstellt. Gerade im Bereich „bestimmter Mikromilieus“ (XV) sowie der Hexenforschung attestiert er der deutschsprachigen Historiografie wichtige Ergebnisse; diese positive Entwicklung sei unter anderem dem Arbeitskreis für Historische Kriminalitätsforschung und denen aus diesem Kreis hervorgehenden Kolloquien und Büchern zu verdanken. Interterritoriale Strafverfolgung, ein ebenfalls lange Zeit vernachlässigter Aspekt, im Zeitraum 1648 bis 1806 am Beispiel von Eigentumsdelikten, vor allem in Gestalt von Vaganten und Räuberbanden, mit einem regionalen Fokus auf dem Kurfürstentum Mainz, benachbarten Herrschaften und Südwestdeutschland steht dann im Zentrum von Karl Härters Beitrag. Im Anschluss widmet
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sich Wolfgang Wüst Zucht- und Arbeitshäusern. Frühe Beispiele „des sozialdisziplinierenden Typus Arbeitshaus“ (52) habe es demnach bereits zu Beginn bzw. in der Mitte des 17. Jahrhunderts in beispielsweise Bremen, Lübeck, Hamburg und Danzig gegeben. Süddeutsche Institutionen folgten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Weiterführend geht Dirk Brietzke auf die erwähnten Einrichtungen in Hamburg (1618: Werk- und Zuchthaus), Bremen (1608: Werk- und Zuchthaus) und Lübeck (1601: St. Annen-Armen- und Werkhaus) ein, denen er eine Vorreiterrolle im Reich zuspricht. Den zentralen Zweck der Zucht- und Arbeitshäuser sah der zeitgenössische Diskurs im Übrigen in den drei Schlagworten „Abschreckung, Disziplinierung und Besserung“ (67) gegeben. Zum Abschluss dieser Sektion verfolgt Markus Hirte die ideologischen Grundlagen der Hexenprozesse und die damit verbundene Entwicklung vom Vorwurf hin zum strafwürdigen Vergehen nach. Mit seinem Beispiel Rothenburg verweist er knapp zum Ende seines Beitrags noch auf einen gemäßigten Fall der Hexenverfolgung. Die zweite Sektion konzentriert den Blick auf Altbayern und Schwaben. Beginnend arbeitet Satu Lidman die Wahrnehmung und Bedeutung des Alkohols im frühneuzeitlichen Bayern im Zusammenhang von Gewaltdelikten heraus. Trunkenheit bewegte sich dabei stets in einem Spannungsfeld aus Kriminalisierung und sozialer Notwendigkeit zum Zweck der gesellschaftlichen Teilhabe. Stefan Breit betrachtet anschließend die Entwicklung der Strafrechtspraxis am Beispiel der Herrschaften Hohenaschau und Wildenwart bis ins 19. Jahrhundert. An seine Habilitationsschrift von 2004 anknüpfend stellt Gerhard Fritz die Maßnahmen, besonders das Streifenwesen und die Position von Kriminalisten, für die Bewahrung der öffentlichen Sicherheit in Schwaben von 1648 bis 1806 heraus. Mit einem personenzentrierten Zugang beschließt Michael Johannes Pils diesen thematischen Abschnitt. Am Beispiel der mindestens 14 Brandstiftungen der Maria Franziska Frankin zwischen 1798 und 1801 in Schwabminchingen (Schwabmünchen), dem Prozess und ihrer Hinrichtung im Sommer 1802 ordnet er den Tatbestand „Brandstiftung“ in die übergeordneten, bisweilen schwierigen juristischen Hintergründe ein. Diese biografische Annäherung setzt Günter Dippold in der dritten Sektion „Franken“ mit einer Betrachtung von Dieben bzw. Diebesbanden, zum Beispiel der Familie Pultz, in der Frühen Neuzeit fort, indem er einen Zugang der Kriminalitätsforschung wählt, der weniger normative Hintergründe, als die menschliche Seite der Taten in den Fokus rückt. Christof Paulus gibt mittels eines Werkstattberichts einen Einblick in die Auswertung der sogenannten Protokollserie des Schwarzenberger Centgrafenamts zwischen 1683 und 1755. Dadurch zeigt er in der longue durée Konjunkturen und Veränderungen in der Wahrnehmung und Ahndung von Verbrechen. Eine Besonderheit der Nürnberger Überlieferung präsentiert Daniel Burger anhand des Forst- und Zeidelgerichts und dessen spezieller Zuständigkeit. Dahingegen knüpft Marina Heller durch überlieferte Diebeslisten aus dem 18. Jahrhundert und diverser Steckbriefe an die angeklungene Vagantenproblematik an. Am Beispiel des Nürnberger Henkers Franz Schmidt (Meister Franz) und seines selbstverfassten Tagebuchs („Tätigkeitsberichts“ (283)) gibt Sabine Wüst schließlich einen Einblick in den „Alltag“ eines Henkers sowie auf übergeordneter Ebene in die Strafrechtspraxis Nürnbergs im 16. und 17. Jahrhundert. Der Text liest sich wie eine Chronik, stellenweise nicht unähnlich der zeitlich später verfassten Tragisch-Kuriosen Chronik des Asmus Bremer für Kiel.1
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Im letzten Abschnitt „Österreich und Schweiz“ kehrt der Sammelband in Gerhard Ammerers Beitrag wiederum zum Vagantentum, dieses Mal mit Fokus auf dem Habsburgerreich und dem Salzburger Erzstift im 18. Jahrhunderts, zurück. Ammerer betrachtet nicht nur die Maßnahmen, sondern auch den „äußerst ambivalent[en]“ Diskurs „um Armut, Betteln und Vagieren“ (303). Mit seinem Aufsatz zur Kriminalität im Umfeld von Kirmes und Wirtshäusern in der Schweiz von 1500 bis zum Ende des Alten Reichs beschließt Fabian Brändle den Band. Insgesamt erfüllt der vorliegende Sammelband eindrucksvoll die Ankündigung Gerd Schwerhoffs in seiner Einleitung, wonach es in der Kriminalitätsgeschichte noch „viel Neues zu entdecken und zu erforschen“ (17) gäbe. Gerade das Potenzial aus der Verknüpfung von Landesgeschichte und Kriminalitätsforschung, vor allem auch mittels eines grenzübergreifenden Zugangs, wurde überaus deutlich und lässt auf zukünftige, vergleichende Forschungen in weiteren Räumen hoffen. In der Abkehr von der reinen Betrachtung juristisch-normativer Quellen liefern die Aufsätze zudem einen wichtigen Beitrag, um Kriminalität als sozialgeschichtliches Phänomen zu begreifen, zumal der Band herausstellt, wie differenziert und auf den Einzelnen ausgerichtet die frühneuzeitliche Strafpraxis agierte. Auch einige kleinere Rechtschreib- und Formatierungsfehler können die Gesamtbedeutung des Bandes in keiner Weise mindern. 1
Moritz Stern (Hg.): Chronicon Kiliense tragicum-curiosum 1432–1717. Die Chronik des Asmus Bremer, Bürgermeisters von Kiel (Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 18/19), Kiel 1901/1916.
Laura Potzuweit M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Abteilung für Regionalgeschichte, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
4. 19. und 20. Jahrhundert Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 242–244 Herbert Popp, Klaus Bitzer, Haik Thomas Porada (Hg.) Die Fränkische Schweiz. Traditionsreiche touristische Region in einer Karstlandschaft (Landschaften in Deutschland 81), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2019, 402 S., 180 sw. und farb. Abb., 4 Faltkarten in Rückentasche, Orts- und Sachregister, ISBN 978-3-412-51535-5, 30,00 EUR. Der Untertitel deutet es bereits an: Die vorliegende moderne Landeskunde verbindet die geologisch-topografischen Grundlagen einer Region mit der vom Menschen in Jahrtausenden entwickelten Kulturlandschaft. Der Fokus liegt dabei auf den aktuellen Entwicklungen bei den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen in einem der ältesten,
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touristisch erschlossenen Gebiete. Es geht um eine aktuell ausgelegte Beschreibung von Region und Bevölkerung, die historische Dimension wird lediglich als Hinführung zur Gegenwart begriffen. Dabei wird zurecht auf die territoriale und konfessionelle Zersplitterung aus der Zeit vor 1800 hingewiesen (Hochstift Bamberg, Markgrafschaft, Reichsstadt Nürnberg sowie die Reichsritterschaft). Die Umschreibung des Gebietes „Fränkische Schweiz“, dessen Name erstmals um 1807 auftaucht und bis heute besonders im touristischen Bereich eingesetzt wird (Tourismusverband Fränkische Schweiz, Fränkische Schweiz-Verein), steht vor Abgrenzungsproblemen, zumal es gegenwärtig in fünf Landkreise administrativ aufgesplittert ist. Letztlich handelt es sich um ein Raumkonstrukt mit je nach der Fragestellung variablen Grenzziehungen. Kalk- und Dolomitgestein bestimmen das Relief, die singulär stehenden Dolomitfelsen sowie die zahlreichen Höhlen haben Naturwissenschaftler, Romantiker und schließlich Touristen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert angezogen. Der Karst mit seinen Dolinen und zahlreichen Trockentälern bildeten die Grundlage für ein Landschaftsbild, das von den Betrachtern als ‚schön‘ eingestuft wird. Deshalb wird die Fränkische Schweiz als Wander- und Genussregion von Touristen genutzt und als eine Verkörperung eines ‚Bilderbuchfrankens‘ angesehen: Viele Brauereien, deftige Brotzeiten, knusprige Forellen und Sauerkirschen, der Blick auf zahlreiche Burgen und Ruinen, Bildstöcke und Feldkapellen, Mühlen und kleine Fachwerkhäuser akzentuieren die Erinnerung bei vielen, auch bei dem Rezensenten, der dort als Kind viele Sonntage verbracht hat. Dieses positive Bild durchzieht auch den Band, ohne aber allzu sehr in Panegyrik abzuschweifen. Die Fragen der Sozial- und Wirtschaftsgeografen nach Veränderungen der landwirtschaftlichen Bewirtschaftungsformen, die verkehrsmäßige Anbindung, die Bevölkerungsentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, die aktuelle Unternehmensstruktur, die Zahl der Aus- und Einpendler sowie natürlich die touristische Entwicklung werden breit dargestellt und analysiert. Dabei geht es auch um bedeutsame Fragen nach dem Erhalt der Kulturlandschaft, ohne dieselbe musealisieren zu wollen.1 Durch den Rückgang der bisher dominierenden Egertenwirtschaft (Feld-WeideWechselwirtschaft) und der im 19. Jahrhundert exportorientierten Schafzucht kommt es zu einer zunehmenden Verwaldung der Kulturlandschaft, besonders auf den Hochflächen. Aktuell werden Blicke auf Dolomitfelsen freigeschnitten, Wacholderheiden und Magerrasen künstlich am Leben erhalten, indem erneut Schafherden dort durchziehen, wobei es weniger um die Vermarktung von Wolle und Fleisch geht, sondern der Schäfer primär als ein Kulturlandschaftspfleger eingesetzt wird. Umstritten sind – nicht nur hier – die Windkraftanlagen und Überlandleitungen, aber auch die Auswüchse des Tourismus (Bootfahrer ziehen die Flora und Fauna in Mitleidenschaft, ebenso die Kletterer; hinzu kommt der Lärm durch die Motorradfahrer und anderes mehr). Wichtig für die Identität der Region – sowohl bei den Bewohnern wie bei den Gästen – ist die Aufrechterhaltung von Brauchtum, etwa die opulent dekorierten Osterbrunnen. In einem zweiten, umfangreichen Teil werden die einzelnen Landkreise mit ihren kulturlandschaftlichen Angeboten vorgestellt, und zwar alphabetisch nach einzelnen Orten. Die Beiträge sind unterschiedlich lang, enthalten aber meist die zentralen Informationen in komprimierter Form. Leider wird am Ende eines jeweiligen Beitrages kein Literaturverzeichnis angeführt, wodurch die Nutzung in der wissenschaftlich betriebenen historischen Landesgeschichte erschwert wird; das
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Gesamtliteraturverzeichnis hilft hier nur partiell weiter. Das Buch bietet neben den gedruckten Informationen auch Online-Vertiefungen an, die mit einer QR-Code-Scanner-App abgerufen werden können. Insgesamt handelt es sich hier um ein von zahlreichen Autorinnen und Autoren erstelltes hochinformatives Buch, das in einer keineswegs veralteten landeskundlichen Weise Geologie, Geografie und Geschichte mit aktuellen kulturlandschaftlichen Fragestellungen verbindet. 1
Ein Vergleich zum Spessart bietet Anika Magath: Der Spessart als Kulturlandschaft. Blickwinkel auf eine Kulturlandschaft und das Projekt der Europäischen Kulturwege (Veröffentlichungen des Geschichts- und Kunstvereins Aschaffenburg 69), Aschaffenburg 2020.
Prof. Dr. Helmut Flachenecker Julius-Maximilian-Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 244–246 Mareen Heying Huren in Bewegung. Kämpfe von Sexarbeiterinnen in Deutschland und Italien, 1980 bis 2001 (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: 64), Essen: Klartext Verlag, 2019, 300 S., ISBN 978-3-8375-2071-2, 34,95 EUR. Aufgrund der Corona-Pandemie sind Prostituierte, die in mehreren Städten offensiv für ihr Recht auf Berufsausübung auf die Straßen gehen, nochmals verstärkt in den medialen und öffentlichen Fokus gerückt. In Hamburg demonstrierten jüngst zahlreiche Sexarbeiterinnen auf St. Pauli – zunächst vergeblich – dafür, ihre Arbeitstätigkeiten wieder aufnehmen zu dürfen. Beispiele wie dieses verweisen auf die Gegenwartsrelevanz von sozialen Bewegungen, denen die historische Forschung mit Hinblick auf die Sexarbeit bisher nur vereinzelt Aufmerksamkeit geschenkt hat.1 Insofern schließt Mareen Heyings Dissertationsarbeit eine nach wie vor bestehende Forschungslücke. Konzeptionell betrachtet ist Heyings Studie vergleichend angelegt und zeichnet die jeweils relevanten Akteursgruppen innerhalb der deutschen und der italienischen Hurenbewegung zwischen 1980 und 2001 nach. An den Schnittstellen der Themenfelder Arbeit und Sexualität sowie der Geschlechtergeschichte und der Forschung über soziale Bewegungen fragt die Studie „nach der Selbstverortung der Bewegungen von Sexarbeiterinnen, wie sie sich Öffentlichkeit verschafften und welche politischen Praktiken sie anwandten“ (19). Offen lässt die Autorin dabei, warum sie sich in ihrer Arbeit eines deutsch-italienischen Vergleichs annimmt, zumal diese beiden Regionen ganz ähnlich liberale juristische Rahmenbedingungen für die Sexarbeit aufweisen.2 Für die Beantwortung ihrer Leitfragestellung zieht Heying in erster Linie ‚Huren-Zeitschriften‘ heran, also zeitgenössische Publikationen deutscher und italienischer Akteursgruppen. Flankierend
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hierzu stützt sich die Untersuchung auf einen umfangreichen Literaturkorpus sowie Oral History Interviews. Die Studie ist in sechs Hauptkapitel untergliedert, die übergreifend zunächst eine thematische Ordnung aufweisen. Die innere Gliederungslogik fällt für die Kapitel zwei und drei chronologisch aus, wohingegen das vierte und fünfte Kapitel systematisch anhand einzelner Analysebegriffe arrangiert wurden. Diese Argumentationsstruktur erschließt sich aus den inhaltlichen Ausführungen nicht gänzlich und lässt das Vorgehen deshalb ein Stück weit erratisch erscheinen. Pointiert eröffnet Heying ihre Ausführungen im zweiten Kapitel, indem sie zunächst die für den Untersuchungszeitraum relevanten juristischen Regularien der Prostitution für Italien und Deutschland absteckt. Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen werden in weiteren Unterpunkten die Wirkmächtigkeit sozialer Bewegungen sowie die gesellschaftliche Stigmatisierung von Sexarbeiterinnen thematisiert. Im dritten Kapitel „Die Entstehung und Verortung von Prostitutionsbewegungen“ widmet sich Heying systematisch den bedeutsamsten Akteursgruppen sowie den Strategien, mit denen sie auf ihre Agenda aufmerksam machten. Dabei stellt die Autorin heraus, dass die deutsche Prostitutionsbewegung deutlich heterogener anmutete und von deutlich mehr Akteuren getragen wurde als ihr italienisches Pendant. Denn während für den deutschen Raum neben der prominenten Organisation Hydra auch der Verein „Huren wehren sich gemeinsam“ (HWG), „Rotstift“ sowie weiterführende Akteursgruppen identifiziert werden können, stand in Italien nahezu ausschließlich die Organisation Lucciole (Glühwürmchen) synonym für die Bewegung von Sexarbeiterinnen. Länderübergreifend einte die jeweiligen Akteursgruppen ihre Intention, breitere gesellschaftliche Akzeptanz generieren zu wollen. Das schematische Vorgehen, mit dem sich die Autorin den deutschen und italienischen Organisationen zuwendet und anschließend zu den politischen Forderungen der einzelnen Gruppierungen übergeht, lässt sich aus narrativer Sicht jederzeit schlüssig und plausibel nachvollziehen. Aus analytischer Perspektive überzeugen die schematischen Ausführungen jedoch ein Stück weit weniger, denn sie gewähren weder Raum noch Möglichkeit, die deskriptiven Erläuterungen analytisch innerhalb historischer Kontexte zu verorten, Wandlungsprozesse oder Kontinuitäten zu rekonstruieren oder Erklärungsansätze für diese Prozesse zu finden. Das Kapitel vier eröffnet hingegen ebenjenes Erklärpotenzial, indem Heying anhand verschiedener Analysebegriffe, wie beispielsweise „Arbeit“, „Körper“ und „Öffentlichkeitsarbeit“ Modifikationen herausgearbeitet. Dabei thematisiert die Autorin gelungen zahlreiche Wechselwirkungen und zeigt übergreifende Themenfelder auf, die von deutschen und italienischen Aktivisten und Aktivistinnen öffentlichkeitswirksam aufgegriffen und ausgehandelt wurden. Besonders überzeugend fallen die Abhandlungen zum „Körper“ und der „Öffentlichkeitsarbeit“ aus, denn hierin unterscheidet die Autorin feinsinnig zwischen dem privaten und beruflichen Einsatz des Körpers von Prostituierten und geht intensiv auf die Doppelmoral ein, die zwischen der regen Nachfrage nach käuflichem Geschlechtsverkehr und der Stigmatisierung von Sexarbeiterinnen besteht. Unter dem Begriff der „Herausforderung“ zeigt die Autorin zudem die Macht- und Hoheitsstreitigkeiten zwischen Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen und Aktivisten
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der Hurenbewegung auf und fragt dabei danach, welche Akteursgruppe zu welcher Zeit die Deutungshoheit über Sexarbeit innehatte. An die Vorgehensweise des vierten Kapitels anknüpfend, werden auch im letzten Kapitel diverse Begrifflichkeiten, darunter „Wandel“, „Konflikte“, „Partizipation“ und „Wirkung“ angesprochen. Die Autorin rekonstruiert Entwicklungs- und Wandlungsprozesse, ohne dabei jedoch unnötig ausschweifend zu werden. Trotz der schlüssigen Argumentation lässt das Kapitel gleichwohl offen, warum Heying gerade diese Analysebegriffe wählt, da die Auswahl vereinzelt etwas willkürlich anmutet. Zudem wäre auch denkbar gewesen, die Erläuterungen innerhalb des letzten Kapitels in die vorangegangenen Ausführungen einzuflechten, um so zeitliche Brüche, Wandlungen oder aber Kontinuitäten deutlicher herausarbeiten zu können. Insgesamt betrachtet stellt Heyings Studie einen bedeutsamen Beitrag zum Forschungszweig der Geschichte der Sexarbeit dar, der nur langsam in den Fokus der Forschung zu rücken scheint. Insofern kann Mareen Heyings Arbeit ein Stück weit als Pionierwerk betrachtet werden, auf das spätere historische Beschäftigungen gewinnbringend zurückgreifen können. 1 2
Siehe hierzu insbesondere Almuth Waldenberger: Die Hurenbewegung. Geschichte und Debatten in Deutschland und Österreich, Wien 2012. So war die Sexarbeit in Italien und Deutschland formal erlaubt, galt allerdings im deutschen Raum als sittenwidrig, wohingegen die Prostitution in Bordellen vom italienischen Gesetzgeber – bis zum heutigen Tag – untersagt ist.
Mona Rudolph M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 246–248 Matthias Klein NS-„Rassenhygiene“ im Raum Trier. Zwangssterilisationen und Patientenmorde im ehemaligen Regierungsbezirk Trier 1933–1945 (Rheinisches Archiv. Veröffentlichungen der Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn 161), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2020, 394 S., 3 Abb., 40 Tab., 2 Übersichtskarten, ISBN 978-3-412-51647-5, 50,00 EUR. Matthias Klein hat mit seiner Veröffentlichung einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der regionalen Geschichte der Zwangssterilisationen und der ‚Euthanasie‘ im Raum Trier in der Zeit des Nationalsozialismus geleistet. Durch seine umfangreichen Archivrecherchen gelingt es dem Autor neben der Rekonstruktion formaler Abläufe und der Offenlegung der handelnden Personen auch Informationen über die Betroffenen zu geben.
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Einleitend setzt sich Klein zunächst mit dem Forschungsstand zu den Themen Zwangssterilisationen und NS-Patiententötungen auseinander. Anschließend legt er die Forschungssituation in der Region Trier dar, in der sowohl die Umsetzung des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ aus dem Jahr 1933 in der allgemeinen Bevölkerung als auch die Beteiligung von Heil- und Pflegeanstalten an Zwangssterilisationen und Patiententötungen zuvor nicht hinreichend untersucht wurden. Matthias Klein bearbeitet dieses Forschungsdesiderat in seiner Veröffentlichung. Die Arbeit ist in drei inhaltliche Abschnitte gegliedert. Der erste Teil beschreibt die Rahmenbedingungen in denen es um Grundlagen der Erbgesundheitslehre ‚Eugenik‘ sowie der so genannten ‚Rassenhygiene‘ geht. Beide Lehren entwickelten sich bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, wurden aber bei den Nationalsozialisten zum festen Bestandteil ihrer Ideologie und führten zum oben genannten Zwangssterilisationsgesetz. Des Weiteren befasst sich der erste Abschnitt mit dem Gesundheitswesen der Region Trier, das für die Umsetzung der Zwangssterilisationen zuständig war. Schließlich wird die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt der Barmherzigen Brüder in Trier dargestellt. Diese katholische Einrichtung war, im Gegensatz zu den meisten konfessionellen Einrichtungen, fest in das staatliche System der Gesundheitsversorgung der Rheinprovinz integriert. Ein abschließender biografischer Exkurs über den Leiter der Trierer Heil- und Pflegeanstalt, Dr. Jakob Faas, der die konfessionelle Anstalt für Männer vom 1. April 1934 bis zu ihrer fast kompletten Auflösung am 31. Juli 1941 führte, zeigt dessen enge Bindung zum Nationalsozialismus und seiner Ideologie auf. Im zweiten Teil der Arbeit geht es um die Umsetzung der Zwangssterilisationen im Regierungsbezirk Trier. Matthias Klein orientiert sich hier im Wesentlichen an dem vom ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ vorgegebenen Verfahrensgang. Detailliert zeichnet er nach, welche Personengruppen an der Umsetzung der einzelnen Schritte – von der Anzeige zum Antrag bis zur Entscheidung der Erbgesundheitsgerichte und der vorgenommenen Operationen zur Zwangssterilisation – beteiligt waren. Dabei untersucht Klein neben der Heil- und Pflegeanstalt der Barmherzigen Brüder in Trier auch das Straf- und Jugendgefängnis Wittlich sowie die Haftanstalt in Trier. Zahlreiche aus den Archivrecherchen von Matthias Klein erstellte Tabellen untermauern die Forschungsergebnisse. Im Folgenden legt Klein seinen Fokus auf die Betroffenen, nennt Beispiele der Opfer der Zwangssterilisationen und skizziert teilweise deren Reaktionen auf die gegen sie gerichteten Verfahren. Darüber hinaus wird schließlich das Verhalten einiger kirchlicher Institutionen und Personen nachgezeichnet, wobei er herausstellt, dass die katholische Kirche sich nicht einheitlich gegen die Umsetzung des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ aussprach. Der zweite Teil der Arbeit lässt die eine oder andere kritische Einordnung der Quellen in die vorherrschende NS-Ideologie vermissen. Beispielhaft sei die zitierte Passage aus den Sterilisationsbeschlüssen des Trierer Erbgesundheitsgerichtes ab August 1936 genannt. Die Behauptung, dass eine Sterilisation keine „Minderung der Ehre oder des Ansehens des Betroffenen“ mit sich bringe (227), entspricht nicht der ausgrenzenden Realität der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik und hätte einer solchen Einordnung bedurft.
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Der dritte Teil thematisiert, inwieweit der Regierungsbezirk Trier von Patiententötungen betroffen war. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Heil- und Pflegeanstalt der Barmherzigen Brüder. Klein rekonstruiert die Abtransporte von 518 Patienten aus der Trierer Heil- und Pflegeanstalt von Anfang August bis zum 11. September 1939. Lediglich 71 Männer verblieben auf dem angeschlossenen Schönfelder Hof. Die Recherchen erstrecken sich auf die Zielorte der Patienten, darüber hinaus verfolgt der Autor auch die Werdegänge der Patienten in den neuen Anstalten. Hierbei kommt es zu ständigen Weiterverlegungen, die deutlich machen, dass Patienten von Heilund Pflegeanstalten in der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu einer großen „Verschiebware“ wurden. Mindestens 90 der Trierer Patienten wurden beispielsweise bis August 1941 im Rahmen der „Aktion T4“ und zwei Männer in der darauf folgenden „Aktion 14f13“ ermordet. 130 Patienten verstarben in Anstalten, die nicht zu den Tötungseinrichtungen der „Aktion T4“ oder der „dezentralen Euthanasie“ gehörten. Eine genaue Todesursache kann für diese Personen nicht benannt werden, Klein schließt in bestimmten Anstalten aktive Tötungen dennoch nicht aus. Von 133 Patienten sind Verlegungen im Rahmen der Evakuierungstransporte der Jahre 1943 und 1944 in außerrheinische Anstalten belegt. Für 75 Patienten der Trierer Anstalt kann Matthias Klein sicher sagen, dass sie die NS-Zeit überlebten. Auch wenn nicht für alle verlegten Patienten der Heil- und Pflegeanstalt der Barmherzigen Brüder das Schicksal aufgrund der Quellenlage geklärt werden konnte, so zeichnen die Recherchen ein detailliertes Bild der Unüberschaubarkeit von Patiententransporten in der NS-Zeit. Für die fast vollständige Evakuierung der Trierer Anstalt bis zum 11. September 1939 stellt Klein abschließend militärische Gründe, die Befürchtung eines Einmarsches französischer Truppen, fest. Einen Zusammenhang mit einer Entkonfessionalisierung der Anstalt oder einer Zielstellung, die Patienten im Rahmen der „Aktion T4“ zu töten, schließt er aus. In seiner Studie hat Klein umfassende Forschungsliteratur einbezogen und diskutiert diese teilweise in seiner Arbeit. Der umfangreiche Anhang mit Abkürzungs-, Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ergänzt durch zusätzlich erstellte Tabellen zu benutzten Quellen, das Quellenverzeichnis, das Literaturverzeichnis und ein Personenregister bieten eine gute Orientierung. Matthias Klein hat mit dieser Veröffentlichung einen wesentlichen Forschungsbeitrag für die Regionalgeschichte Triers und die Erforschung der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ in der NS-Zeit geleistet. Ein großes Verdienst ist es auch, dass Forschungsdesiderate angesprochen werden, die Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler zu weiteren Arbeiten anregen können. Susanna Misgajski Putbus/Wreechen auf Rügen, Deutschland, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 249–252 Sabine Schneider Belastete Demokraten. Hessische Landtagsabgeordnete der Nachkriegszeit zwischen Nationalsozialismus und Liberalisierung (Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen 47 = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 48,15), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2019, XI + 560 S., ISBN 978-3-942225-45-8, 35,00 EUR. Die vorliegende Monografie von Sabine Schneider basiert auf ihrer 2017 an der Universität Marburg angenommenen Dissertation, welche sich mit den Auswirkungen der nationalsozialistischen Belastung eines Teils der Abgeordneten des Hessischen Landtages auf die Demokratisierungsprozesse während der Nachkriegszeit auseinandersetzt (V–VII). Nach der Wahl dieses Forschungsfeldes erarbeitete Schneider von 2014 bis 2017 ein Projekt, das von mehreren zeitnahen Vorarbeiten zur NS-Belastung in den Landesparlamenten der Bundesrepublik Deutschland während der 1950er und 1960er Jahre profitierte. So wurde die Aufarbeitung dieses Kapitels deutscher Demokratiegeschichte in den 2010er Jahren beispielsweise für die Landtage der Bundesländer Schleswig-Holstein1, Niedersachsen2 sowie mit einem vorwiegend statistischen Analysefokus für den Hessischen Landtag selbst3 durchgeführt. Schneider stellt mit Blick auf besagte Vorarbeiten die Frage, wie leicht oder schwer es den Landespolitikerinnen und Landespolitikern der 1950er und 1960er Jahre trotz eines relativ großen Anteils NS-belasteter Abgeordneter gelingen konnte, eine stabile, freiheitlich-demokratische politische Mentalität im Hessischen Landtag zu entwickeln. Standen die NS-belasteten Abgeordneten der Herausbildung einer solchen Mentalität (vielleicht aufgrund eines subtilen Verweilens in überkommenen nationalsozialistischen Denkweisen) negativ gegenüber? Oder fielen diese ideologischen Altlasten kaum ins Gewicht? Wurde der beobachtbare Entwicklungstrend hin zu freiheitlichem Denken durch NS-belastete Abgeordnete in der Folge vielleicht verlangsamt oder gefördert? (5 f.). Um möglichst passende Antworten auf diese Fragen zu finden, ergänzt die Arbeit Schneiders die bestehenden Vorarbeiten zu dieser Thematik um eine für Leserinnen und Leser gut nachvollziehbare Perspektive, indem sie im Anschluss an ein einleitendes Kapitel sowie an eine Übersicht zum hessischen Parlament, zur hessischen Verfassung und zum hessischen Parteienwesen der Nachkriegszeit zunächst gruppenbiografisch die politischen Werdegängen von elf unterschiedlich stark nationalsozialistisch vorbelasteten Nachkriegsabgeordneten4 für ihr Wirken bis 1945 erstellt. Diese Personen repräsentieren in mindestens drei Legislaturperioden die Landesparteien BHE, CDU, FDP und SPD, wodurch das Parteienspektrum im von 1945 bis 1970 reichenden Untersuchungszeitraum weitestgehend vollständig abgedeckt wird. Schneider greift für die Erstellung der politischen Lebensläufe sowie für die Bestimmung der späteren personalpolitischen Sachlage ab 1945 auf verschiedene Archivstandorte aus den einstigen Tätigkeitsbereichen der Abgeordneten im überwiegend mitteldeutschen Raum zurück
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(24). In deren Beständen finden sich ausreichend umfangreiche Schriftquellen zu den von ihnen versehenen Ämtern. Hierzu zählen neben den Protokollen der Hessischen Landtagssitzungen (teilweise unvollständige) Spruchkammerdokumente sowie einige erhaltene Nachlässe. Auch Zeitungsberichte zur repräsentativen politischen Gesinnung einiger journalistisch tätiger Abgeordneter werden von Schneider als Ergänzung zum Quellenfundus berücksichtigt. Als weiteres Mittel der Veranschaulichung finden schließlich Zeitzeugeninterviews mit Personen aus dem persönlichen Umfeld der untersuchten Politikerinnen und Politiker5 Berücksichtigung bei der Interpretation ihrer Lebenswege. Durch die sachliche Auswertung dieser vielseitigen Quellen gelingt es Schneider, die meisten politischen Anschauungsmuster der Nachkriegsabgeordneten genau zu rekonstruieren. Die vergleichende Auswertung der Lebensläufe zeigt auf, dass die NS-Belastung je nach Person zwischen ‚nominell‘ (Rudi Arndt) und ‚mittelschwer‘ (Gustav Hacker) schwankt. Ersterer sei laut Schneider nur aufgrund eines bürokratischen Automatismus in den Status eines NSDAP-Anwärters versetzt worden (482 f.), während Letzterer im Rahmen seiner Tätigkeit als NS-Funktionär durchaus starke nationalistische und volksdeutsche Ansichten vertrat (96 f.). Schneider stellt somit eine ausgeprägte ideologische Heterogenität innerhalb der untersuchten Personengruppe fest. Teilweise terminologische Kontinuitäten zum nationalsozialistischen Sprachjargon treten in den Nachkriegsäußerungen einiger Abgeordneter folglich weiterhin in Erscheinung. Den frühen politischen Biografien folgt ein Kapitel, welches die verschiedenen Wege der Abgeordneten in die Landespolitik der Nachkriegszeit anhand von vorherrschenden Handlungsmotiven erklärt. Hier stellen vor allem die Neuausrichtung von älteren Politikern nach 1945, parteipolitische Aufstiegschancen und Engagements von Politikneulingen und Personennetzwerke sowie Kontakte zu inner- und außerpolitischen Akteuren wichtige Funktionen der landespolitischen Nachkriegsordnung dar (147 f.). Unter Rückbezug auf diese Rahmenbedingungen und vorgestellten persönlichen Werdegänge widmet sich der nächste Abschnitt der Monografie den Demokratisierungs- und Liberalisierungstendenzen der hessischen Nachkriegszeit. In diesem Zusammenhang erfahren Debatten des Landtages zu den Themen der Tabuisierung und Bewältigung nationalsozialistischer Vorbelastungen von Abgeordneten ebenso wie nationalsozialistisch vorbelastete Terminologien im Sprachgebrauch von Abgeordneten nach 1945 eine eingehende Analyse durch Schneider. Es folgt ein mehrstufiger Diskurs zum Dualismus zwischen den Tätern und Opfern der NS-Vergangenheit Hessens, die während der Nachkriegszeit zu Fragen der Vertriebenen, der Ostpolitik des Landes, der Westintegration, der Wiederbewaffnung und dem problematischen Wiedererstarken von extremen politischen Anschauungen in Bezug gesetzt werden. Die Rolle des Hessischen Landtages bei der schrittweisen Weiterentwicklung des demokratisch-freiheitlichen Selbstverständnisses der Abgeordneten wird vor dem Hintergrund dieser historischen Debatten in einem eigenen Unterkapitel analysiert. Zum Abschluss der Arbeit hin folgt ein kürzeres Kapitel, welches den Umgang der Öffentlichkeit mit der nationalsozialistischen Vergangenheit einiger Abgeordneter des Landtages erörtert. Hierbei kommen auch selbstreflektorische Überlegungen der betroffenen Abgeordneten zum
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Tragen. Die Arbeit endet mit einer Schlussbetrachtung zum Forschungsgegenstand, in welchem Schneider neben einer Zusammenfassung der neu gewonnenen Erkenntnisse auch ein Fazit zieht. So gelangt sie zu der generellen Einschätzung, dass die untersuchten Abgeordneten sich gut an die neuen politischen Verhältnisse nach 1945 anpassen konnten und dem neuen politischen System durchaus positiv gegenüberstanden. Eine allgemeine Zuwendung der westdeutschen Sympathien zum Westen hin trug zu dieser Akzeptanz des neuen politischen Systems ebenso bei wie die erzielten wirtschaftlichen Erfolge der ‚Wirtschaftswunderzeit‘. Da die 1950er und 1960er Jahre in der Folge von einem strukturellen und wirtschaftlichen Ausbau des Landes geprägt waren, dessen Erfolg vom Vorhandensein kompetenter Fach- und Führungskräfte in allen Bereichen der westdeutschen Gesellschaft abhing, stellten selbst mittelschwere NS-Belastungssituationen in der Regel keinen Hinderungsgrund für eine erfolgreiche Abgeordnetenkarriere dar. Den Preis für diese wirtschaftlichen Erfolge sieht Schneider in einer teilweisen Marginalisierung von Opfern der vorangegangenen NS-Politik. Hier zeichnen sich die stärker NS-belasteten Abgeordneten generell durch eine verringerte Empathie aus. Ein übersichtlicher Anhang mit Kurzbiografien, Nachweisen und Abkürzungsverzeichnissen rundet Untersuchung adäquat ab. Zusammenfassend handelt es sich bei der vorliegenden Monografie um eine sehr gut gelungene Studie zur hessischen Nachkriegsgeschichte, welche den Forschungsgegenstand systematisch und leserfreundlich aufzuarbeiten vermag. Die wenigen verbesserungswürdigen Elemente des Werkes beschränken sich überwiegend auf leichte terminologische Ungenauigkeiten. So werden vereinzelt belastete Begriffe aus der NS-Zeit direkt in den Text de Autorin übernommen, etwa bei der „Arisierung“ (453) oder dem „Kriegsausbruch“ (28). Eine der wenigen inhaltlichen Fehleinordnungen von geringer Tragweite findet auf der Seite 241, wo der Übergang von der Frakturschrift zur Normschrift versehentlich auf das Jahr 1945 anstatt auf das Jahr 1941 datiert wird. Ungeachtet dessen ist das gesamte Werk stringent und informativ ausgearbeitet. Somit hat Schneider einen fachlich wertvollen und anschaulichen Beitrag zur hessischen Politik- und Personengeschichte erbracht. 1
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Vgl. Uwe Danker, Sebastian Lehmann-Himmel: Landespolitik mit Vergangenheit. Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive nach 1945. Durchgeführt im Auftrag des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Husum 2017. Vgl. Stephan Alexander Glienke: Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter. Abschlussbericht zu einem Projekt der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen im Auftrag des Niedersächsischen Landtages, Hannover 2012. Vgl. Albrecht Kirschner: Abschlussbericht der Arbeitsgruppe zur Vorstudie „NS-Vergangenheit ehemaliger hessischer Landtagsabgeordneter“ der Kommission des Hessischen Landtags für das Forschungsvorhaben „Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen“, Wiesbaden 2012; Norbert Kartmann (Hg.), Andreas Hedwig (Bearb.): NS-Vergangenheit ehemaliger hessischer Landtagsabgeordneter. Dokumentation der Fachtagung 14. und 15. März 2013 im Hessischen Landtag, Wiesbaden u. a. 2014. Bei den untersuchten Abgeordneten handelt es sich um Rudi Arndt (1927–2004), Gustav Hacker (1900–1979), Eitel Höhne (1922–1998), Ernst Holtzmann (1902–1996), Heinrich Kohl (1912– 1984), Hermann Krause (1908–1988), Heinrich Rodemer (1908–1980), Ernst Schauß (1906–1972), Ludwig Schneider (1893–1977), Frank Seiboth (1912–1994) und Tassilo Tröscher (1902–2003).
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Rezensionen Hierbei handelt es sich um Familienangehörige, Parteifreunde und ehemalige Unterstellte der oben genannten Abgeordneten: Armin Clauss, Manfred Merforth, Adelheid Dorothea Tröscher, Hans Jörg Tröscher und Otto Wilke.
Marvin Groth M. A. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 252–254 Alina Bothe Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum. Eine Quellenkritik (Europäisch-Jüdische Studien. Beiträge 4), Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2019, 491 S., ISBN 978-3-11-055577-6, 123,95 EUR. In der „Geschichte der Shoah im Virtuellen Raum“ beschäftigt sich Alina Bothe mit den videografierten, digital aufbereiteten und archivierten Interviews Überlebender der Shoah des Visual History Archiv (VHA) der USC Shoah Foundation in den USA. Ausgangspunkt der Analyse ist die Feststellung, dass dieses „radikale Großprojekt“ sowohl wegen seines Umfangs als auch wegen seiner digitalen Strategie in „vielerlei Hinsicht Maßstäbe gesetzt“ habe und somit paradigmatisch für den „digital turn“ (2) stehe, weil nur durch die massive mediale Transformation die Archivierung, Bearbeitung, Annotation und Kommentierung eines solch großen Bestandes im Umfang von mehr als 52.000 Interviews ermöglicht worden sei. Die Ausgangsannahme der Autorin ist dabei, dass der Umgang mit dem digitalen Interview-Artefakt anders sei als jener mit Video-Interviews, die auf andere Art und Weise rezipiert würden. Als Konsequenz werden sie von Bothe als digitale Zeugnisse im Unterschied zu Video-Zeugnissen bezeichnet. Die daraus erarbeitete These ist demnach ebenso plakativ, nämlich dass der mediale Transformationsprozess nicht nur die Quellen selbst, sondern damit auch das geschichtswissenschaftliche Arbeiten verändert habe. Für diese digitalen Zeugnisse fehle eine entsprechende Quellenkritik, für welche einige Ansätze mit der vorliegenden Arbeit von Alina Bothe geliefert werden sollen. Dafür werden die digitalen Zeugnisse im „virtuellen Zwischenraum der Erinnerung“ verortet und im klassischen Sinne geschichtswissenschaftlichen Arbeitens hinsichtlich der Ebenen Rekonstruktion, Repräsentation und Rezeption untersucht. Die Autorin beginnt die Untersuchung mit einer Einordnung des Gegenstandes in einen dreigestaltigen Referenzrahmen: Erstens geht es um die Interviews mit Überlebenden der Shoah wie sie im VHA gesammelt zu finden sind. Zweitens werden die von ihr so bezeichnete ‚virtuelle Sphäre‘ und die digitalen Medien adressiert. Schließlich werden auch die Theorie und die Geschichte der Shoah einbezogen, da diese den historischen Kontext der Studie liefern. Das Buch ist dementsprechend, abgesehen von der umfassenden Einleitung und einem Fazit, in vier große Hauptteile gegliedert.
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Einer ausführlichen Diskussion des Zeugnisses bzw. der Zeitzeugenschaft im zweiten Kapitel folgt die detaillierte Kontextualisierung des VHA in der USC Shoah Foundation. Anhand von zwei ausführlich diskutierten Beispielen zeigt Bothe die unterschiedlichen Phasen des gesellschaftlichen Umgangs mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und mit deren Interviews. An diesen sehr schön herausgearbeiteten Musterdarstellungen zeigen sich auch jene Elemente, die letztlich in eine generelle Quellenkritik des Digitalen einfließen sollen: nämlich die situative Bedingtheit der Interviews, die durch nationale und kulturelle Rahmungen bestimmt ist und nun zusätzlich durch die medialen Transformationsprozesse betrachtet werden muss. In einem vierten Kapitel wird schließlich „die virtuelle Sphäre als virtueller Zwischenraum“ (Kapitelüberschrift, 185) anhand der drei Achsen Raum, Zeit und Subjekt diskutiert. Da dieser Abschnitt das herausfordernde Kernstück und die theoretische Verortung der Arbeit ist, soll es näher besprochen werden. Angelehnt an Homi K. Bhaba und Edward Soja verbindet die Autorin Raumkonzeptionen des spatial turns mit den Theorien des beyond und something else besides der postcolonial studies. Die virtuelle Sphäre wird in Anlehnung an die unterschiedlichen Konzepte des Thirdspace bei Bothe als „neither the one, nor the other“ (249) bezeichnet, wobei sie die Unzulänglichkeit der genutzten Theorien anerkennt, da die Interaktion von Raum, Zeit und Subjekt nur angedeutet bleibt. Die digitalen Zeugnisse des VHA werden dennoch im Zwischenraum verortet, da dieser als Ort der Widerständigkeit erfasst wird, eine Eigenschaft, die auch auf die VHAZeugnisse zutrifft. Die zeitliche Dimension, die im digital age neu gedacht werden muss, wird mangels fehlender adäquater Theorien anhand von Reinhart Kosellecks „Über die Zeit“ erarbeitet, der Bezugsrahmen ist die zeitliche Dimension von Erfahrung (268). Die Autorin schließt daraus für die digitalen Medien, dass sie durch Gegenwart, Zukunftsorientierung, Beschleunigung und Wiederholung geprägt sind. Zur Erfassung des Subjekts im ‚virtuellen Zwischenraum‘ wiederum wird Hannah Arendts Bedeutung des Subjekts ‚im Zwischen‘, die Vita Activa, mit Bhabas Theorien der agency bzw. der enunciation erweitert und auf digitale Medien angewandt, wobei fundamentale Differenzen festzustellen sind. In einer detailreichen Synthese bringt sie ihre Überlegungen zu den neuen Ausprägungen von Raum, Zeit und Subjekt in digitalen Medien unter (282–299), wobei sich dadurch einige Doppelungen mit den vorher gemachten Zwischenfazits ergeben. In einem abschließenden fünften Kapitel erarbeitet Bothe drei ganz unterschiedlich angelegte Fallstudien: In der Fallstudie zur historischen Rekonstruktion werden die virtuellen Zeugnisse im Rahmen des geschichtswissenschaftlichen Arbeitens thematisiert. In der Fallstudie Repräsentation nähert sich die Autorin den virtuellen Zeugnissen mittels der historischen Darstellung des ‚Schreibens‘, wobei sie aufgrund der gewählten Beispiele für kollaborative digitale Schreibtechniken plädiert. In der Fallstudie Rezeption untersucht sie die 1.000 auf YouTube frei zugänglichen virtuellen Zeugnisse aus der VHA-Sammlung auch in Bezug zu den auf dieser Plattform zu findenden Inszenierungen anderer Institutionen. Die Autorin schließt die Untersuchung mit einem ausführlichen Fazit, das die theoretischen Überlegungen mit den durchdachten Beispielen in Beziehung setzt sowie die Gedanken zu einer Quellenkritik des Digitalen zusammenfasst. Die ‚virtuelle Sphäre‘ ist, so schließt sie, durch ihre Entstehung, ihre transnationale Einbindung und ihre Nutzung geprägt. Die digitalen Medien be-
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sitzen dabei einige Charakteristika, die es zu berücksichtigen gilt, und zwar sind dies Immersion, Instantität und Interaktivität. Diese wiederum verändern die traditionellen Konzeptionen von Raum, Zeit und Subjekt, wobei es zu berücksichtigen gelte, dass die digitalen Medien „noch immer eine terra incognita“ (445) blieben. Die Erinnerung an die Shoah sei in der virtuellen Sphäre bereits mediatisiert, geprägt durch einen westlichen Wertekodex, die produzierten Sprechakte folgten aber auch in dieser Sphäre geschriebenen und ungeschriebenen Regeln. Die digitalen Zeugnisse erweisen sich in diesem Gefüge jedoch als sperrige, widerständige Erzählungen. Der ‚virtuellen Zwischenraum‘ ist also fragmentarisch, instabil, in flux und in ständiger Veränderung, dabei national als auch transnational orientiert. Grundsätzlich ist dieses Buch von Alina Bothe als wertvoller Beitrag zur Diskussion der Digitalisierung der Shoah zu werten. Allerdings erweisen sich die digitalen Zeugnisse sowie der ‚virtuelle Zwischenraum‘ als sperrig, stellenweise zu sperrig, um überzeugend zu sein. Das hat damit zu tun, dass die Autorin trotz der eigenen Aufrufe zur Interdisziplinarität, die disziplinären, geschichtswissenschaftlichen Grenzen eben nicht verlässt. So wertvoll eine Untersuchung wie die vorliegende daher auch ist, es wäre sicher fruchtbar gewesen, diese komplexe Materie unter Einbeziehung der methodischen und theoretischen Überlegungen in angrenzenden Fachrichtungen, wie beispielsweise den Cultural Studies, Media Studies oder auch den von ihr selbst genannten Digital Humanities zu analysieren. Eine Quellenkritik des Digitalen ist dort im Rahmen der Digitalen Hermeneutik alles andere als eine terra incognita sondern ein mittlerweile gut erforschter Bereich,1 ebenso wie die komplexen Verbindungen von (Erinnerungs-)Kultur, Gesellschaft und (digitalen) Medien auch im Zusammenhang mit der Shoah immer wieder neu erforscht werden.2 Schließlich sei auch noch angemerkt, dass gerade angesichts der Vielfalt der Mediationen des Holocaust im World Wide Web der Titel klüger gewählt hätte werden können, denn die vorliegende Studie beschäftigt sich nicht mit der Geschichte der Shoah im virtuellen Raum, sondern nur mit einem kleinen Ausschnitt davon – auch wenn dieser Ausschnitt sehr umfassend, wohlüberlegt und akribisch untersucht wird. Gerade deswegen kann trotz der genannten kritischen Punkte eine klare Leseempfehlung ausgesprochen werden. Nachdem auch die digitale Geschichte der Shoah und ihre Erinnerung sich nach zwei Jahren Pandemie in einem unglaublichen Beschleunigungs- und Lernmodus befindet, wäre ein Update der gemachten Untersuchung außerdem durchaus wünschenswert. 1 2
Siehe zum Beispiel Autorinnen und Autoren wie Andreas Fickers, Ian Milligan, Toni Weller, Pascal Föhr oder Eva Pfanzelter. Siehe zum Beispiel Anna Reading, Lucy Bond, Jessica Rapson, Joanne Garde-Hansen oder Andrew Hoskins.
Prof. Mag. Dr. Eva Pfanzelter Universität Innsbruck, Institut für Zeitgeschichte, Innrain 52, 6020 Innsbruck, Österreich, [email protected]
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 255–257 Detlev Kraack (Hg.) Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins und Norddeutschlands für das 21. Jahrhundert. Ortwin Pelc zum 65. Geburtstag (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 56), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2019, 369 S., 57 sw. Abb., ISBN 978-3-515-12330-3, 60,00 EUR. Konzeptionell betrachtet, sind Festschriften eine heikle Angelegenheit. Thematische Vorgaben der Herausgeber, inhaltliche Bezüge zum Oeuvre des Geehrten und eigene Forschungsinteressen der Ehrenden: diese differierenden, zuweilen auch divergierenden Perspektiven resultieren gar nicht so selten in einem – nun ja, formulieren wir es direkt und uncharmant – Sammelsurium. Die Qualität der einzelnen Beiträge tangiert das in keiner Weise, nur ist eine Festschrift als Ganzes keineswegs immer mehr als die Summe ihrer Teile – zuweilen vielleicht sogar weniger. Und wenn sich der Rezensent unvorsichtigerweise auf die Besprechung einer solchen Festschrift eingelassen hat, mag er zusehen, wie er zwischen der fragmentierenden Betrachtung der einzelnen Beiträge und einer wohlfeilen Kritik an deren zwischen zwei Buchdeckel gezwungenen Gesamtheit laviert. Glücklicherweise gehört die Festschrift zum 65. Geburtstag von Ortwin Pelc nicht zu der beschriebenen Art. Nicht dass sie von den angeführten Problemen gänzlich frei wäre (welche Festschrift wäre das?), doch ihre Heterogenität spiegelt immerhin programmatisch das Wirken des Jubilars. Auf die enorme Vielfalt der Arbeiten von Ortwin Pelc verweisen die Aufsätze schon in ihrem zeitlichen Horizont vom Hochmittelalter bis zur Zeitgeschichte, von der Teilung des Erbes der 1106 ausgestorbenen Billunger (Gerrit Aust, 35–38) und der Identifizierung des im Umkreis Heinrichs des Löwen auftretenden comes Heinricus de Schota (Günther Bock, 39–60) bis zu den Vorbereitungen für die Luftverteidigung Kiels zwischen 1908 und 1918 (Stefan Wendt, 289–299) und den Anfängen des Rundfunks in Mecklenburg in den 1920er und 1930er Jahren (Wolf Karge, 301–312). Doch auch inhaltlich ließe sich zur Mehrzahl der aufgegriffenen Themen im beigegebenen Schriftenverzeichnis des Jubilars (21–34) eine kleinere oder größere Veröffentlichung finden. Das gilt – um allein zwei Beispiele herauszugreifen – für die Erforschung von Katastrophen, denen sich Detlev Kraack anhand des Brandes des Pastoratshauses im schleswigschen Eggebek im Sommer 1815 unter Herausstellung sozialer Netzwerke als Teil der Bewältigungsstrategie nähert (215–230), wie auch für das laufende Projekt zu den Burgen in Schleswig-Holstein, das Oliver Auge mit Blick auf deren Kapellen vorstellt (97–107). Hinzu kommen – schließlich ist Ortwin Pelc nicht zuletzt Museumsmann – mehrere Texte zu Objekten und zur Ausstellungspraxis: zu archäologischen Funden als Zeugnissen mittelalterlicher Alltagsgeschichte in Lübeck (Manfred Gläser, 61–74), zu einer goldenen Tabaksdose, die im Namen des Sohnes Kaiser Napoleons 1812 als Geschenk nach Hamburg gelangte (Ralf Wiechmann, 193–214), zu zwei Fotografien von 1905, die aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassene Japaner in Hamburg, auf dem Weg in ihre Heimat, zeigen (Olaf Matthes, 279–287), schließlich zu Vorbereitung und Durchführung der 1990 in Rostock gezeigten Hanseausstellung, die zuvor in Hamburg zu sehen gewesen war (Peter Danker-Carstensen, 343–363). Als langjähriger Abteilungsleiter am Museum für Hamburgische Ge-
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schichte war Ortwin Pelc unter anderem auch für die jüdische Geschichte zuständig – thematisch reihen sich hier Doris Mührenberg (zur Lübecker Synagoge, 251–260), Anna-Therese Grabkowsky (zu dem assimilierten Nationalökonomen und Regierungsbeamten Ernst von Halle, 261–277) und Lars Scholl (zu der Deportation skandinavischer Juden und den dabei 1942/43 eingesetzten Schiffen, 319–338) ein. Nun verspricht der Titel des Bandes Beiträge zu einer „Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins und Norddeutschlands für das 21. Jahrhundert“. Der Schluss dieser Wendung lässt sich (ob beabsichtigt oder nicht) als Markierung von Repräsentativität, Innovation und Aktualität der vorgestellten Forschungen verstehen. Eine Festschrift daran zu messen wäre freilich unfair, doch ansatzweise sei der Band auch aus dieser Sicht beleuchtet. Dass nahezu alle Beiträge in den umrissenen geografischen und sachlichen Rahmen fallen, ist nicht entscheidend – allein für Stefan Wendt und Lars Scholl (siehe oben) mag das nicht so recht gelten, etwas fremd wirken im Übrigen die Essays von Victoria Asschenfeldt über Zinnfiguren (313–317) und von Winfried Wagener über den Marinemaler Otto Neutschmann (339–342). Ansonsten wird die Wirtschafts- und Sozialgeschichte in einem weiten inhaltlichen Radius abgeschritten: Zu den bereits berührten Themen gesellen sich noch die Stichworte Markt (Peter Wulf über den Kieler Umschlag und dessen Akteure, 135–146), Hafen (Norbert Fischer über Ausbau und Nutzung des Sielhafens im hamburgischen Ritzebüttel, 159–168), Religion (Martin Rheinheimer über Vorstellungen von der Auferstehung und ihre Wandlungen, 179–192), Wahrnehmung von Urbanität (Mathias Hattendorff über Hamburg betreffende Selbstzeugnisse des Herzogs Friedrich von Holstein-Beck um 1800, 169–178) und Medien (Gaby Schuylenburg über den publizistischen Niederschlag der Konflikte zwischen Bremen und Schweden um die Reichsunmittelbarkeit der Weserstadt, 147–158). Kennzeichnend für zahlreiche Beiträge ist dabei die auf einer Mikroebene angesiedelte exemplarische Analyse, was neben pragmatischen Gründen mit einem häufiger anzutreffenden Charakterzug gegenwärtiger wirtschafts- und sozialhistorischer Forschung korrespondiert. Die gewählte Exemplarität kann unmittelbar auf größere Arbeitsvorhaben verweisen, so zum Beispiel bei Oliver Auge (siehe oben) oder bei Claus-Hinrich Offen, der die Lebensläufe dreier Hamburger Schüler des Lübecker Katharineums um 1830 und die mit der Erstellung einer entsprechenden Prosopografie verbundenen Schwierigkeiten skizziert (231–250). Vor allem aber bieten einige Aufsätze tatsächlich grundsätzlich neue Facetten bekannter Phänomene, welche die Forschung weiter beschäftigen sollten. In subjektiver Auswahl und stellvertretend für manche der schon genannten Texte seien dafür abschließend drei Beispiele namhaft gemacht: Stephan Selzer befasst sich auf der Basis von Gerichtsakten mit der Mobilität im Hanseraum, mithin mit einem im Grunde klassischen Thema der Hanseforschung, aber eben nicht mit Blick auf Kaufleute, sondern auf Räuber und Betrüger, die gleichfalls die hansischen (Handels-)Straßen nutzten (75–95). Norbert Angermann geht dem Handelsgeschehen in Livland im 17. Jahrhundert nach (der Begriff „Norddeutschland“ wird hier zugegebenermaßen gedehnt), jedoch nicht dem Russlandhandel livländischer Kaufleute, sondern dem von der Forschung vernachlässigten Handel russischer Kaufleute und ihren Niederlassungen in Riga und Reval, Dorpat und Narva (109–120). Antjekathrin Graßmann schließlich beschreibt die Nutzung, bauliche Veränderung und Finanzierung des Londoner Stalhofes im 18. und 19. Jahrhundert seitens der drei Städte Lübeck, Hamburg und
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Bremen und schlägt damit gleichsam eine Schneise in die Geschichte des hansischen Erbes in nachhansischer Zeit (121–134). Dr. Sven Rabeler Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Olshausenstraße 40, 24098 Kiel, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 257–259 Oliver Auge, Caroline Elisabeth Weber (Hg.) Pflichthochzeit mit Pickelhaube. Die Inkorporation Schleswig-Holsteins in Preußen 1866/67 (Kieler Werkstücke. Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 57), Berlin u. a.: Peter Lang, 2020, 280 S., 37 sw. und 3 farb. Abb., ISBN 978-3-631-80718-7, 56,95 EUR. Die Einverleibung Schleswig-Holsteins in die Hohenzollernmonarchie 1866/67 ist wohl die im historischen Bewusstsein am wenigsten verankerte Gebietsveränderung der deutschen Einigungskriege (1864–71). Sie vermisste die Dramatik des Selbstmords von Bürgermeister Karl Fellner im preußisch-besetzen Frankfurt oder des verbissenen, langjährigen Widerstands der Welfen in Hannover und frankophiler Bevölkerungsteile im Reichsland Elsaß-Lothringen. Es verwundert daher wenig, dass der 150. Jahrestag der Inkorporation der ehemals dänischen Herzogtümer in das Königreich Preußen im Jahr 2017 kaum von der lokalen Öffentlichkeit als wichtiges historisches Ereignis wahrgenommen wurde. Lediglich das Schleswig-Holsteinische Landesarchiv widmete dem Thema mit einer Ausstellung und begleitendem Vortragsprogramm größere Aufmerksamkeit. Der vorliegende Sammelband hat zum Ziel, größeres Interesse an den Umwälzungen jener Zeit zu wecken. Wie die zwei Herausgeber Oliver Auge und Caroline Elisabeth Weber freimütig bekennen, sind die hier veröffentlichten Zugänge zur schleswig-holsteinischen Geschichte „in ihren Grundzügen durchaus bekannt“; dennoch „stellt jeder der Texte eigene und oftmals ganz neue Fragen oder nimmt veränderte Sichtweisen als bisher ein“ (10). Trotz des Titels fokussiert der Band dabei weniger auf die Einverleibung Schleswig-Holsteins im engeren Sinne und mehr auf die Auswirkungen der Reichseinigung in den einzelnen Landesteilen, die das heutige Bundesland bilden. Unter den elf Beiträgen finden sich deshalb auch zwei, welche die Erfahrungen Lauenburgs (das nach dem Verkauf der österreichischen Anteilsrechte 1865 zuerst in Personalunion mit Preußen regiert wurde und 1876 formell in Schleswig-Holstein aufging) sowie der Hansestadt Lübeck (die erst im Zuge des Groß-Hamburg Gesetzes von 1937 ihre Unabhängigkeit verlor) behandeln. Ausgerichtet sind die Beiträge entlang dreier thematischer Achsen. Die erste geht der Frage nach, inwiefern die Entstehung einer preußisch geleiteten kleindeutschen Staatsnation
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auf Zustimmung oder Widerspruch in der Bevölkerung stieß, da ja wie in anderen annektierten Provinzen aufgrund augustenburgischer Sympathien und einer nicht gerade kleinen nationalen Minderheit von 200.000 dänisch-gesinnten Nordschleswigern alternative Loyalitäten existierten. Die zweite Achse bilden die strukturellen Veränderungen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten, die den Territorien Schleswig-Holsteins durch den Zugang zu einem größeren Binnenmarkt, Gewerbefreiheit und einer revidierte Städteordnung erwuchsen, aber auch höhere Steuerlasten und die Einführung der dreijährigen Wehrpflicht ohne Möglichkeit der Stellvertretung kommen zur Sprache. Die letzte thematische Schiene des Bandes steht unter der Rubrik Repräsentation. Als geostrategischem Scharnier zwischen Nord- und Ostsee gewann die Provinz ein nationales Profil, das nicht zuletzt im Ausbau der Kieler Marinestation, dem Kaiser-WilhelmKanal und Denkmalprojekten zu Ehren der ‚Reichsgründer‘ zum Ausdruck kam. Bismarck, der zwischen 1865 und 1876 das Amt des leitenden Ministers für Lauenburg ausübte und nach seiner Dotierung mit dem Sachsenwald zum größten Landbesitzer des kleinen Herzogtums aufstieg, erlangte so im Laufe der Jahre eine gewisse regionale Beliebtheit. Ein Highlight unter den Beiträgen ist Mogens Rostgaard Nissen und Klaus Tolstrup Petersens Kapitel zur Frage der dänischen Minderheit. Aus genuin transnationaler Perspektive gehen sie nicht nur auf die Versuche nationalistischer Interessenverbände in Dänemark und Deutschland ein, Nordschleswig im Zusammenspiel mit den jeweiligen Regierungen für die eigene Sache zu gewinnen, sondern setzen sich auch mit Richtungskämpfen innerhalb der nordschleswig-dänischen Bewegung auseinander. Solange Aussicht auf die Abhaltung einer Volksabstimmung über die Zugehörigkeit Nordschleswigs gemäß Artikel 5 des Prager Friedens bestand, wurde heftig darüber gestritten, ob gewählte Vertreter der Minderheit einen Eid auf die preußische Verfassung ablegen durften, um ihren Sitz im Landtag nehmen zu können und somit Einfluss auf politische Entscheidungen zu gewinnen. Diese auf reichhaltigem archivalischem Quellenmaterial beruhenden Einblicke in den inner-nordschleswigschen ‚Bruderkrieg‘ sind besonders interessant für deutsche Leser, denen die Nuancen jener Problematik nicht immer bekannt sein mögen. Aber auch die anderen Beiträge des Sammelbandes vermitteln durchaus Neues. So bietet Tobias Köhlers Auswertung der bisher zum Teil unveröffentlichten Korrespondenz Bismarcks und des ersten Oberpräsidenten Schleswig-Holsteins, Carl von Scheel-Plessen, eine gediegene Analyse ihrer komplexen „Freundschaft“ (17–20). Frank Möller steuert lesenswerte Überlegungen bei, wie der zeitgenössische Nationalökonom Arnold Lindwurm und die preußische Staatsführung den Wert der annektierten Provinz bemaßen. Carsten Walczoks Kapitel erhellt den Hintergrund der preußisch-lauenburgischen Verhandlungen, die der Besitzergreifung des Herzogtums den Weg ebneten. Das von Katharina Priewes untersuchte Schaffen des Landbaumeisters Hermann Georg Krüger, des Kieler Stadtbaumeisters Gustav Ludolf Martens und seines Neumünsteraner Kollegen Magnus Schlichting belegt eine Vielfalt an architektonischen Einflüssen in den öffentlichen Bauten der Kaiserzeit, welche dem später konstruierten Narrativ eines angeblichen Antagonismus zwischen ‚dänischem Klassizismus‘ und preußisch-deutschem ‚Historismus‘ widersprechen. Frank Lubowitz geht anschließend der Frage nach, welche Modernisierungsschübe von Reformen in Infrastruktur, Industrie und Landwirtschaft auf die Entwicklung Schleswig-Holsteins
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ausgegangen sind (wobei eine Historisierung des Begriffs ‚Moderne‘ wünschenswert gewesen wäre). Komplementär zeichnet Johannes Rosenplänter nach, wie die Präsenz der Marine, der kaiserlichen Kanalkommission und regelmäßige Besuche Kaiser Wilhelms II. Kiel zu einer Stadt machten, „in der sich der Reichsgedanke in besonderer Weise verdichtete“ (168). Webers Auswertung von deutschen wie dänischen Liedtexten, Ego-Dokumenten und visuellem Quellenmaterial relativiert das Image der deutschen Führungsmacht Preußen in Schleswig-Holstein jedoch erheblich. Lisa Kraghs Blick auf die umtriebige Professorenschaft der Christian-Albrechts-Universität bestätigt gleichermaßen das schwierige politische Klima in den Herzogtümern, das der Professorenschaft harte Entscheidungen abrang und zuweilen die akademische Freiheit bedrohte. Julian Freche verdeutlicht, dass obgleich Lübeck nicht direkt von den Veränderungen in den ehemals dänischen Landesteilen betroffen war, der Ausgang des Deutschen Kriegs von 1866 nicht weniger einschneidend auf die Beziehung der Hansestadt zu dem im Aufbau begriffenen Nationalstaat gewirkt hat. Martin Göllnitz beschließt den Band mit einer hilfreichen Zusammenfassung und weiterführenden Fragestellungen für die zukünftige Erforschung der Spuren, die Preußen westlich der Elbe hinterlassen hat. Betrachtet man den Sammelband in seiner Gesamtheit, fällt das Fehlen jeglicher Bezüge zu ausländischen Forschungsergebnissen ins Auge, abgesehen von dem schon erwähnten Versuch einer dänisch-deutschen histoire croisée. Insbesondere hätten Rosenpläters Ausführungen von Jan Rügers auf Englisch veröffentlichten Überlegungen zum Symbolcharakter deutscher Flottenrevuen profitiert. Schade auch, dass der Band keinen Anschluss an methodische und thematische Debatten außerhalb der Landesgeschichte sucht. Dennoch leistet er einen wichtigen Dienst für das Verständnis einer prägenden Epoche schleswig-holsteinischer Vergangenheit. Dr. Jasper Heinzen Vanbrugh College, Department of History, University of York, YO10 5DD York, England, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 259–264 Lioba Keller-Drescher Vom Wissen zur Wissenschaft. Ressourcen und Strategien regionaler Ethnografie (1820–1950) (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen 215), Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2017, XXXII + 325 S., ISBN 978-3-17-033574-5, 32,00 EUR. Basierend auf einem wissensanthropologischen Konzept besteht das Ziel dieser Arbeit darin, am Beispiel der Produktion regionalethnografischen Wissens die Wissenschaftsforschung fortzuentwickeln; ein hoher Anspruch, der im Format einer 2015 an der Universität Tübingen eingereichten
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Habilitationsschrift eingelöst wurde. Wie auf der Homepage der heute als Universitätsprofessorin am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster tätigen Verfasserin zu lesen ist, war dem damals eingereichten Titel der Zusatz „Volks-Kunde“ vorgeschaltet. Womöglich will die Buchfassung die Vorstellung vermeiden, dass es sich um einen Beitrag zur Disziplinengenese der Volkskunde im heutigen Verständnis handelt, wenngleich der in der Aufklärung geprägte Begriff ‚Volks-Kunde‘ noch sehr unbestimmt war. Tatsächlich wird dieser Begriff in der vorliegenden Untersuchung mehr über die Entwicklung der Regionalsprachenforschung als über die Entstehung volkskundlichen Wissens konkretisiert. Der markierte Zeitraum (1820–1950) bezieht die Phase der „Institutionalisierung vor der Institutionalisierung“ (2) ein. Ein Hinweis im Untertitel, dass der zu untersuchende Wissensraum im württembergischen Territorium situiert ist, hätte – auch im Hinblick auf künftige Literaturrecherchen – der schnelleren Orientierung gedient, soll aber womöglich auf die grundsätzliche Verwertbarkeit des Werkes für die Wissenschafts- und Wissensforschung abzielen. Die Untersuchung teilt sich in sechs Hauptkapitel. In ihrer Einleitung positioniert die Verfasserin ihren Ansatz im sehr weitgefächerten Feld der Wissens- und Wissenschaftsforschung, die anderen fünf sind (mit Vor- und Rückgriffen) nach Zeitschnitten gegliedert. Deren Datumsangaben (1820, 1860, 1900, 1920, 1950) sollen nicht als trennscharf, sondern als Verdichtungen von Ereignissen um einen bestimmten Zeitraum aufgefasst werden. Entstanden ist die Arbeit am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen durch dessen Teilnahme am DFG-geförderten Forschungsverbund „Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert“. Lioba Keller-Drescher bestritt den Tübinger Anteil maßgeblich durch zwei konsekutive Projekte: „Konstituierung von Region als Wissensraum. Der Beitrag von Volkskunde und Sprachforschung in Württemberg 1890–1930“ (2006–2008) sowie „Wissenschaft und Landeskultur: Volkskundliches Wissen im staatlichen Reorganisationsprozess (Baden-Württemberg 1952–1977)“. Fraglos sieht man dieser Arbeit ihre Vorgeschichte, die noch weitere themenaffine Projekte umfasst, an: Die Verfasserin weiß, wovon sie spricht. Und man nimmt ihr ab, dass Württemberg über eine sehr gute Überlieferungslage verfügt. Wichtig erscheint zunächst Keller-Dreschers zentrale These, dass sich die Grundausrichtung der Volkskunde und des volkskundlichen Wissens, so man das Spannungsfeld zwischen nationaler und transnationaler Orientierung einbeziehe, anders untersuchen lasse als bisher (9). So ist die Entwicklung wissenschaftlichen Wissens vom Staat und damit den unterschiedlichen Konstellationen in den Kleinstaaten abhängig. Bekanntlich legt noch heute das unterschiedliche Förderungsniveau der Bundesländer davon Zeugnis ab. Die im Kontext des Forschungsverbundes entwickelten Konzepte legt die Verfasserin in ihrer Einleitung dar. Diese sind über die Diskursanalyse (Foucault) und die wissenssoziologische Dimension des Habitus-Konzepts von Bourdieu hinaus (Stichwort: Wissen als Austauschkapital) vor allem von den ‚Laborstudien‘ (Bruno Latour, Knorr-Cetina) beeinflusst, in denen die Praktiken von Wissenserzeugung und damit verbundene Bearbeitungsprozesse in den Blickpunkt rücken. Flankiert werden solche Ansätze von dem in arbeitssoziologischen und betriebswirtschaftlichen Diskursen entwickelten Konzept des Wissensmanagements. Es betrachtet das Wissen als
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Ressource und legt Wert auf die Sichtbarmachung der Austauschbeziehungen von Wissensakteuren, ihren milieugeprägten Netzwerken und Institutionen. Diese Richtung des Methodenbündels gelangt denn auch am überzeugendsten zum Einsatz. Der erste Zeitabschnitt behandelt die Anfangsszenarien ethnografischer Wissensproduktion, in welchem Keller-Drescher die bislang unterbelichtete Rolle des 1820 für Württemberg gegründeten „Königlich Statistisch-topographischen Bureaus“ in den Mittelpunkt rückt. Angeknüpft wird an die behördliche historische Wissensforschung (Szöllösi-Janze), die durch Staatsnähe begründete Ressourcenbildungen untersucht. Unter Ressourcen werden nicht nur Gehälter, Räume, Forschungsmittel etc., sondern ebenso Beziehungsnetzwerke und die Möglichkeit zur Rekrutierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verstanden. Vereine und Vereinigungen, Akademien und Gesellschaften werden flankierend betrachtet. Von den Strategien geht es zum Gründungspersonal (womit in den personengeschichtlichen Darstellungsmodus gewechselt wird), um sich anschließend dem Stellenwert des topografischen Wissens zu versichern. Zur Materialsammlung zählen Ortschroniken, deren damals weniger ertragreiches Format als „fortlaufende Statistik“ (50) aufgefasst wird. Ist dieses Kapitel mit „das Bureau“ überschrieben, so das folgende mit „das Volk“. Es befragt die zweite Jahrhunderthälfte danach, wie neben der Produktion volkskundlichen Wissens die Suche nach dem ‚Volk‘ an Stellenwert gewinnt (69). Ausgangspunkt bildet die Analyse der fünfbändigen landeskundlichen Schrift „Das Königreich Württemberg“, dessen dritter Teil mit dem Untertitel „Das Volk“ etikettiert ist. Etwa ein Viertel dieses Bandes ist ethnografischen Verhältnissen gewidmet, darunter der „Lebensweise und [den] Sitten“, dem „Volkscharakter“ und der „Mundart“. Letzterer Beitrag wurde von Adelbert von Keller, einem Tübinger Professor für deutsche Sprache, verfasst. Bevor nun die Verfasserin die Entwicklung der frühen Dialektografie über von Keller und – in den Anschlusskapiteln – über Hermann Fischer und Karl Bohnenberger fortschreibt, widmet sie sich eingehend den damals üblichen Erhebungsformaten Frage(n)plan und Fragebogen, die als „Regulative der Wissenserfassung und Wissenspräsentation“ (78) durchdrungen werden. Ein kleiner Exkurs wird den Grimmschen Fragebogenaktionen gewidmet (86–88). Zentral ist für diese Kapitel das Darstellungsformat von Oberamtsbeschreibungen, die mit zahlreichen Quellenbeispielen belegt und en détail analysiert werden. Beschlossen wird der um 1860 gesetzte Zeitabschnitt mit Adelbert von Kellers Vorarbeiten für das „Schwäbische Wörterbuch“, das mit Betrachtungen zum Konzept ‚Volkssprache‘ sowie des für die Wörterbucharbeit unerlässlichen Formats von Zettel und Zettelkastensystem (mit Bezug auf Markus Krajewski) arrondiert wird. Der Zeitabschnitt um 1900 ist mit „Aktionen“ betitelt, stellt er doch eine Phase in den Mittelpunkt, in der volkskundliche Aktionen an Relevanz und Wirkmächtigkeit gewinnen. Den weiteren Fokus der Darstellung bestimmt das von Hermann Fischer bearbeitete Wörterbuch, dessen erste Lieferung 1901 erschien. Sein Lehrer Adelbert von Keller, dem er die Vorarbeiten verdankt, war bereits 1883 verstorben. Neben dem für die Wörterbucharbeit formalisierten Zettelformat werden auch ‚durchschossene‘ Handexemplare der Wörterbuchmitarbeiter berücksichtigt. Bemerkenswert ist, dass von den circa 800.000 handschriftlichen Zetteln der Ära Fischer nur noch drei Pappkästen vorhanden sind, die zudem von Lioba Keller-Drescher anlässlich der Vorbereitung der Ausstellung „Wortschatz. Vom Sammeln und Finden der Wörter“ aufgespürt wurden,
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was einmal mehr zeigt, wie sehr die Verfasserin – neben ihrem hohen reflexiven Vermögen – von den Quellen aus denkt, ja sich für diese verantwortlich zeigt. Es ist wohl auch jene Einstellung und Sonderbegabung, durch welche die Spreu vom Weizen getrennt wird. Dass man diese Zettel damals als verbraucht ansah, wird man gegebenenfalls einmal schmerzlich vermissen, wenn im Zuge der unerlässlichen Digitalisierung des „Schwäbischen Wörterbuchs“ die Einbeziehung seiner handschriftlichen Datengrundlage zur Disposition steht. Durchdrungen wird im Folgenden die von Karl Bohnenberger initiierte Flurnamensammlung, trägt doch das topografische Unternehmen wie andernorts zur Ressourcenbildung im erst später konkurrierenden Feld von Mundartforschung und Volkskunde bei. Die so genannte „Sammlung volkstümlicher Überlieferungen“ – und damit jenes Programm, das zur Kanonbildung der Volkskunde führte – nimmt vergleichsweise wenig Raum ein. Erklärbar ist dies durch den geringen Ertrag entsprechender Aufrufe und Fragebögen, deren Fragebereiche tabellarisch aufgelistet werden (178–180). Einbezogen werden abschließend der Eingang der Volkskunde in den Schulunterricht („Heimatkunde“) sowie Initiativen der Volksbildung und des Vereinswesens. Symptomatisch für diesen Abschnitt ist die Bezeichnung der Volkskunde als eine „leutselige Sammelwissenschaft“ (201), die mit der Ära Weinhold zu Ende gegangen sei. Dabei gelingt es Lioba Keller-Drescher, die Bedeutung des Begriffs ‚leutselig‘ zu enttarnen, die noch dem (im Zuge der aufklärerischen Wissenschafts- und [Volks]Bildungsbewegung entstammenden) semantischen Feld von „patriotisch, vaterländisch und philanthropisch“ zuzuordnen (und daher nicht pejorativ, wie der hierfür anfällige Begriff des ‚Dilettanten‘, aufzufassen) sei (ebenda). Die Zeit um 1920 ist der universitären Institutionalisierung im neuen Volksstaat gewidmet und schreibt das Wirken des Privatdozenten Karl Bohnenberger fort, der neben der ordentlichen Professur von Hermann Schneider schließlich ebenfalls (auf Wunsch des Landes und gegen Widerstände der Universität) ein eigenes Ordinariat erhielt. Über weite Strecken wird zudem über das Landesamt für Denkmalpflege, dessen Vorgeschichte, Gründung und Wirkung, verhandelt. Der Übergang zum Nationalsozialismus wird vornehmlich an Personen, ihren auf- oder absteigenden Karrieren, festgemacht. Das letzte Kapitel, betitelt mit „Milieus“, ist weniger umfangreich. Bemüht wird dieser Begriff, um die Rerekrutierung der Volkskunde über die Person Helmut Dölkers hinaus sichtbar zu machen. Erneut werden hier der Einfluss außeruniversitärer Netzwerke und ihrer Akteure einbezogen und die Effekte solcher Milieubildungen im Verhältnis zum professionellen Wissenschaftsbetrieb betrachtet. Bemerkenswert ist die eigenwillige Formgebung der Untersuchung. Sie wird mit einer rahmenden Szene eröffnet, die dem Leser eine Detailsicht auf das Testament von Karl Bohnenberger eröffnet. Den Schluss bilden Betrachtungen zu Bohnenbergers Nachlass und dessen Erben. Zu den vielen Vorzügen dieser Arbeit zählt überhaupt ihre didaktische Komposition. Der Verfasserin gelingt es, mikroanalytische Darstellungsweise, also die Vermittlung von Quellen, und kontextuelle, Makroperspektiven eröffnende Erzählweise rhythmisch miteinander zu verbinden. Je dichter die Quellenlage ist (was besonders für die Zeit um 1860 und um 1900 gilt), um so szenischer wird die Darstellung und wirkt beinahe so, als hätte Verfasserin die Ereignisse unmittelbar miterlebt. Distanz und Fokalisierung, berichtender und reflexiver Modus wechseln
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einander ab. Jedem Kapitel wird das intendierte Erkenntnisinteresse vorangestellt und am Ende eine Zwischenbilanz beigefügt. Quellen- und Literaturverzeichnis folgen der Inhaltsübersicht. Abbildungen von Quellenbelegen hat die Verfasserin auf dem Wege der oben genannten Ausstellungsdokumentation quasi vorab publiziert. Die Suche wird durch ein fundiertes Namen- und Sachregister erleichtert. In ihrer Einleitung vermeidet Keller-Drescher eine tiefergehende Diskussion konkurrierender Ansätze und legt stattdessen Schlüsselbegriffe dar. Damit verliert sie sich nicht in den kontroversen Ansätzen der Wissensforschung. Neben „Wissensmilieu“, „Wissensformat“, „Wissenstransfer“ und „Wissensraum“ sowie dem Feldbegriff ist dies der Begriff der „Gelegenheitsstruktur“, welcher bislang wissenschaftstheoretisch nicht gebräuchlich sei (9). Die Verfasserin leitet ihn von einer Untersuchung über soziale Bewegungen ab und sieht eine Nähe zu Bourdieus „strukturierender Struktur“, meint aber letztlich doch nur „den analytischen Nachvollzug“ (10) von Handlungsmöglichkeiten: welche Gelegenheiten sich warum spontan bilden oder wie etwas tatsächlich abläuft, auch wenn es gar nicht so intendiert war. Da dieser Begriff nicht nur eigenschöpferisch, sondern zentral gesetzt wird, hätte man sich dessen tiefergehende Untersetzung gewünscht. Was unterscheidet diese Vokabel vom Kontingenzbegriff, was vom Serendipity-Muster (also der Rolle des Zufalls)? Und hängt es nicht stark von der Interpretationsleistung des Forschenden ab, was als Handlungsoptionen ex post erkannt wird? Ist der Begriff konsensuell operationalisierbar, hermeneutisch tauglich oder am Ende nur ein Plastikwort? Etwas zu kurz geraten ist ebenso die Darlegung des Forschungsstandes, da er sich zu intern auf die im Forschungsverbund entwickelten Ansätze und deren Vordenkerinnen und Vordenker stützt. So wird zwar die überregional angelegte Arbeit von Vera Deißner erwähnt, aber keine Linie zu der von ihr versuchten Verbindung zwischen der Wissenschaftssoziologie Kuhnscher Prägung und der Diskursanalyse gezogen. Um Dynamiken der Produktion wissenschaftlichen Wissens, die Scheidung sogenannter ‚Proto-Wissenschaften‘ von ‚ausgereiften‘ Wissenschaften, die Inkommensurabilität von Begriffen im paradigmatischen Wechselspiel, das Verständnis von tacit knowledge als Teilsubstanz praxeologischer Ansätze und vieles andere mehr klarer begreifen zu können, ist eine kritische Relektüre von Kuhns Ansatz nach wie vor empfehlenswert. Wenn etwa von „Proto-Volkskunde“ (69) oder von „protowissenschaftlicher Ethnografie“ (17) die Rede ist, sollten Kuhnsche Bezüge nicht unerwähnt bleiben, wie es sich überhaupt empfohlen hätte, Wissenschaftstheoretikerinnen und Wissenschaftstheoretiker hin und wieder direkt zu zitieren. Einmal wird der Kuhnsche Begriff der ‚Normalwissenschaft‘ im Kontext des Nationalsozialismus benutzt, in dem keine ‚Normalwissenschaft‘ mehr möglich gewesen sei (19), wenngleich dieser Begriff auf den Bewegungsverlauf von Paradigmenwechseln gemünzt ist und wohl nur in diesem Kontext tauglich ist. Für die Vorgeschichte der Ethnografie bis zur Aufklärung wird auf die Überblicksdarstellung von Justin Stagl verwiesen. Eine vergleichende Sicht auf parallele Verläufe regionaler Ethnografieentwicklung wird nicht – auch nicht ansatzweise – versucht. Zwar wird die Dissertation von Andrea Bagus als „Referenzwerk“ gelobt (11), aber nicht näher auf sie eingegangen, während fachweite regionale Ethnografien außerhalb des Untersuchungsraumes, zum Beispiel auch im Format län-
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gerer Aufsätze, weithin unerwähnt bleiben. So heißt es lapidar: „An vielen Stellen der Tätigkeiten und der Aktionen könnte man die Namen austauschen und Forscher aus anderen Regionen an die Stelle der württembergischen setzen, weil es sich um typische Vorgänge dieser Zeit handelt“ (141). Was aber genauer als typisch anzusehen ist, wo, wie und wodurch es zu Sonderentwicklungen gekommen ist, kann nur durch eine vergleichende Untersuchung der Entwicklung regionaler Ethnografien anderer Wissensräume ermittelt werden, deren Prägefaktoren und Konstituierungsverläufe different sind. Das aber zu erwarten, hätte selbst das Wissensformat einer Habilitationsschrift überfordert, deren Umfang sich in Grenzen halten muss. Mit 325 Seiten ist er wohl bemessen, denn es will etwas heißen, ein solch breites Beobachtungsfeld, basierend auf in jahrelanger Archivarbeit gewonnenen Quellenerträgen, so zu bearbeiten, dass neue Denkhorizonte auch tatsächlich eröffnet und erprobt werden. Kurzum handelt es sich – und zwar auf mehreren Ebenen der Darstellung – um eine hervorragende Untersuchung, die fraglos zum Besten zählt, was der Forschungsverbund „Volkskundliches Wissen“ hervorgebracht hat. Der künftigen Ethnografiegeschichte wird es als bleibendes Referenzwerk dienen. Dr. Christoph Schmitt Universität Rostock, Wossidlo-Forschungsstelle für Europäische Ethnologie/Volkskunde, Am Reifergraben 4, 18055 Rostock, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 264–267 Natalie Pohl Atomprotest am Oberrhein. Die Auseinandersetzung um den Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass (1970–1985) (Schriftenreihe des deutsch-französischen Historikerkomitees 15), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2019, 443 S., ISBN 978-3-515-12401-0, 68,00 EUR. Während die Anfänge der deutschen Atomwirtschaft durch die bis heute unübertroffene Studie von Joachim Radkau1 früh untersucht worden sind, harrte die Geschichte der westdeutschen Anti-Atomkraft-Bewegung lange Zeit einer Aufarbeitung und blieb Politikwissenschaftlern und (ehemaligen) Aktiven aus der Bewegung vorbehalten. Seit gut zehn Jahren erhält dieses Forschungsfeld, erweitert um eine globale und westeuropäische Perspektive, aber erfreulicherweise immer mehr Aufmerksamkeit. Eine Reihe von Einzelstudien, Themenheften sowie Sammel- und Ausstellungsbänden widmet sich mittlerweile diesem Thema.2 Hinzu kommen Überblicksdarstellungen, die die Anti-Atomkraft-Bewegung in einen größeren Kontext einordnen.3 Einzig für Nordrhein-Westfalen, einem unterschätzten Kernland der Atomkraft und ihrer Gegner, fehlt es bislang noch an substanziellen Forschungen.4
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Die vorliegende Dissertation von Natalie Pohl ist ein weiterer Beitrag zur historischen Erforschung der Anti-Atomkraft-Bewegung. Gegenstand ihrer Untersuchung ist der grenzüberschreitende Protest gegen den geplanten Bau von Atomkraftwerken in Baden und im Elsass, der bislang noch nicht systematisch untersucht wurde. Pohl konzentriert sich auf die Akteure des Protests, also die Bürgerinitiativen sowie die zwischen ihnen bestehenden Kooperationen und Netzwerke. Sie fragt nach den Organisations- und Ausdrucksformen, auf die die Gruppen zurückgegriffen haben, um ihre Ziele zu verwirklichen, sowie den Möglichkeiten und Grenzen, die sich ihnen aufgrund der transregionalen Zusammenarbeit boten. Für ihre Untersuchung bedient sich die Autorin des Konzeptes der ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ sowie des Begriffs der ‚Bürgerinitiative‘, verweist aber auch auf methodische Probleme, die beiden innewohnen. So sei das Konzept der ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ in den 1980er Jahren von deutschen und französischen Sozialwissenschaftlern entwickelt und weiterentwickelt worden, die persönlich in die Anti-Atomkraft-Bewegung involviert waren. Die Nähe zum Untersuchungsgegenstand erfordere daher eine kritische Reflexion und Dekonstruktion der Methode. Für den Bürgerinitiativbegriff, der aus denselben Gründen problematisch ist, fehle es außerdem an einer vergleichbaren französischen Vokabel. Pohl nimmt im Hauptteil ihrer Studie zunächst ausführlich die Anfänge der kritischen Debatte über die Nutzung der Atomenergie in Deutschland und Frankreich sowie die Ursprünge der Anti-Atomkraft-Bewegung in den Blick. Am Beispiel des „Kampfbundes gegen Atomschäden“ sowie des „Weltbundes zum Schutze des Lebens“ referiert sie ausführlich die elitären Wurzeln des Anti-Atomprotests und verweist auf nationalistische und rassistisch-völkische Prägungen im Denken von Führungsfiguren wie Bodo Manstein, Günther Schwab oder Werner Haverbeck. Darüber hinaus zeichnet Pohl von der studentischen ‚68er-Bewegung‘ ausgehende Impulse auf den Anti-Atom-Protest nach, die sich auch in Form von biografischen Bezügen, beispielsweise beim badischen Liedermacher Walter Mossmann, zeigen. Die wichtigen Befunde zum Einfluss nationalistischer und völkischer Ideen auf die Anti-Atomkraft-Bewegung – ein bis heute noch nicht systematisch aufgearbeitetes Kapitel – lässt die Verfasserin aber leider nicht in den Analyserahmen einfließen. So hätte es beispielsweise aufschlussreich sein können, den Einfluss oder NichtEinfluss rechten Gedankenguts auf die badisch-elsässischen Bürgerinitiativen zu untersuchen. Im Hauptteil ihrer Studie zeichnet Pohl dann teils minutiös die Entstehung und Zusammensetzung der badisch-elsässischen Protestinitiativen, die organisatorische Verfasstheit der Gruppen, ihre Stellung in der öffentlichen und medialen Debatte über die zivile Nutzung der Atomkraft sowie die Verwobenheit des Anti-Atom-Protests mit Formen der regionalen Identität nach. Die dichte, stellenweise fast schon enzyklopädische Beschreibung der französischen und deutschen Initiativen ist besonders dort stark, wo einzelne Themen querschnittsartig untersucht werden. So stellt Pohl eine These infrage, wonach Frauen zu Beginn des Protests gegen das geplante Atomkraftwerk in Wyhl zunächst nur eine schwache Rolle gespielt und sich erst im Laufe des Konfliktes politisiert hätten. Pohl kann demgegenüber anhand von Quellen und am Beispiel einer Zeitzeugin nachweisen, dass sich Frauen schon früh in den Protest einschalteten. Frauen hätten außerdem bei den Bauplatzbesetzungen in Marckolsheim und Wyhl eine entscheidende Rolle gespielt, weil sie aufgrund der vorherrschenden Geschlechterrollen mehrheitlich nicht berufstätig
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gewesen seien und daher tagsüber, während die Männer einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten, die Platzwache aufrechterhalten konnten. Ergiebig ist auch die Untersuchung der Bedeutung von regionaler Identität für die Ideenwelt der Anti-Atomkraft-Bewegung. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Initiativen beförderte demnach die Wiederbelebung von Traditionen des Alemannischen und die Konstruktion eines transregionalen Heimatverständnisses, das auf gemeinsamen Geschichtsvorstellungen fußte und unter dem Begriff des ‚Dreyecklandes‘ popularisiert wurde. Diese transregionale Identität habe unter anderem in Liedern und in einer spezifischen Form der kollektiven Erinnerung Ausdruck gefunden. Obwohl Pohl in ihrer Studie viele neue und aufschlussreiche Erkenntnisse über die Geschichte des grenzüberschreitenden deutsch-französischen Atomprotests am Oberrhein herausarbeiten kann, weist die Untersuchung auch einige Schwächen auf. So wäre es wünschenswert gewesen, die Ergebnisse stärker in den Gesamtkontext der Umweltbewegungsgeschichte einzuordnen. Die in der Einleitung angeschnittenen methodischen Probleme, die Pohl am Beispiel des Konzeptes der ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ und des Bürgerinitiativbegriffes anspricht, hätten zudem mithilfe des Untersuchungsgegenstandes vertieft werden können. Gleiches gilt auch für den Heimatbegriff, den die Verfasserin zwar ausführlich anhand von Quellen diskutiert, nicht aber in den vorhandenen Forschungsstand einbettet.5 Angesichts des Umfangs hätte der Studie außerdem das eine oder andere Zwischenfazit sehr gutgetan. Diesen Einwänden zum Trotz liefert die Arbeit einen wichtigen und durch den transregionalen Fokus auch innovativen Beitrag zur Geschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung. 1
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Joachim Radkau: Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek bei Hamburg 1983; Ders., Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München 2013. Vgl. z. B. Astrid Mignon Kirchhoff, Jan-Henrik Meyer (Hg.): Global Protest against Nuclear Power. Transfer and Transnational Exchange in the 1970 s and 1980 s. In: Historical Social Research 39 (2014) 1; Michael Schüring: „Bekennen gegen den Atomstaat“. Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und die Konflikte um die Atomenergie 1970–1990, Göttingen 2015; Gerhard Gelderblom: 40 Jahre „Schlacht um Grohnde“ 1977–2017, Holzminden 2017; Stephen Milder: Greening Democracy. The Anti-Nuclear Movement and Political Environmentalism in West Germany and Beyond 1968–1983, Cambridge 2017; Janine Gaumer: Wackersdorf. Atomkraft und Demokratie in der Bundesrepublik 1980–1989, München 2018; Luise Schramm: Evangelische Kirche und Anti-AKW-Bewegung. Das Beispiel der Hamburger Initiative kirchlicher Mitarbeiter und Gewaltfreie Aktion im Konflikt um das AKW Brokdorf 1976–1981, Göttingen 2018; Dolores L. Augustine: Taking on Technocracy. Nuclear Power in Germany, 1945 to the Present, Oxford 2018; Astrid Mignon Kirchhof (Hg.): Pathways into and out of Nuclear Power in Western Europe. Austria, Denmark, Federal Republic of Germany, Italy, and Sweden, München 2020. Vgl. Jens Ivo Engels: Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn u. a. 2006; Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.): Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M./New York 2008. Eine wichtige Ausnahme bildet Bernd-A. Rusinek: Das Forschungszentrum. Eine Geschichte der KFA Jülich von ihrer Gründung bis 1980, Frankfurt a. M./New York 1996.
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Vgl. z. B. Willi Oberkrome: „Deutsche Heimat“. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen (1900– 1960), Paderborn 2004.
Dr. Christian Möller Bielefeld, Deutschland, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 267–269 Christopher Landes Sozialreform in transnationaler Perspektive. Die Bedeutung grenzüberschreitender Austausch- und Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland (1880–1914) (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 236), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2016, 386 S., ISBN 978-3-515-11304-5, 62,00 EUR. Transnationale Geschichtsschreibung hat Konjunktur, auch und gerade über Europa im ‚langen 19. Jahrhundert‘. Der Erkenntnisgewinn liegt auf der Hand, denn durch das Herausarbeiten transnationaler Transferprozesse und Verflechtungen wird das herrschende Narrativ vom ‚Zeitalter des Nationalismus‘, das von einer um die Jahrhundertwende sich vollziehenden Verfestigung nationaler Heterostereotype und einer Radikalisierung nationalistischen Denkens geprägt gewesen sei, zumindest partiell modifiziert. Zu all den Feldern, die in den letzten Jahrzehnten aus einer solchen Perspektive bearbeitet wurden, zählt auch die Sozialfürsorge. Es ist kein Zufall, dass hierzu gerade in Frankreich intensiv geforscht worden ist – verwiesen sei nur auf die einschlägigen Arbeiten der Straßburger Historikerin Catherine Maurer.1 Denn Frankreich war seinerzeit auch auf diesem Gebiet eines der führenden und am besten organisierten Länder. Nicht ohne Grund konstatierte schon Wilhelm Liese in seiner 1922 veröffentlichten Geschichte der Caritas, dass Frankreich „oft genug […] andern Ländern nicht bloß als Beispiel, sondern auch als Kraftquelle gedient“ habe.2 Auf die zentrale Bedeutung Frankreichs verweist auch Christopher Landes immer wieder in seiner unter der Betreuung von Ewald Frie (Tübingen) entstandenen Dissertationsschrift über die „Bedeutung grenzüberschreitender Austausch- und Vernetzungsprozesse für die Armenfürsorge in Deutschland“ (so der Untertitel). Für den von ihm behandelten Zeitraum, der die Jahrzehnte zwischen 1880 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs umfasst, unterscheidet der Autor drei Phasen: eine erste, von 1880 bis 1900 dauernde Vernetzungsphase, in der internationale Beziehungen nur „punktuell zustande kamen und von Partikularinteressen sowie einzelnen, engagierten Personen abhingen“ – wobei deutsche Fürsorgeexperten kaum ins Gewicht fielen (341); eine zweite, um die Jahrhundertwende einsetzende Vernetzungsphase, in der sich die internationalen Beziehungen quantitativ wie qualitativ intensivierten und professionalisierten – unter tatkräftiger Beteiligung nun auch deutscher Fürsorgeexperten, die Teil einer sendungsbewuss-
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ten internationalen Reformergemeinschaft wurden, die tatkräftig Einfluss auf die Fürsorgepraxis ihrer jeweiligen Länder nahm; eine dritte, um 1910 beginnende Vernetzungsphase, die nicht nur von einer fortschreitenden Spezialisierung und Differenzierung geprägt war, sondern auch von Richtungskämpfen und Kontroversen, etwa um den Armutsbegriff. Das etablierte, internationale Netzwerk büßte in dieser Phase an Bedeutung ein, derweil neue nationaler orientierte Fürsorgewissenschaftler an Einfluss gewannen, bis dann infolge des Weltkriegs „nahezu alle internationalen Beziehungen zum Erliegen kamen“ (349). Die Bereiche, in denen Landes diesem Wandel nachgeht, erstrecken sich vom Erfahrungsaustausch über die Formulierung von Leitkonzepten bis zur Netzwerkbildung. Diese beschreibt er im ersten Hauptteil seiner Arbeit (47–162) am Beispiel von persönlichen und institutionellen Beziehungen, wobei er sich neben dem Literaturtransfer und der Kontaktpflege etwa im Rahmen von Studienreisen vor allem dem internationalen Kongresswesen zuwendet und dabei gleichermaßen den Wissenstransfer wie dessen Akteure in den Blick nimmt. So kann er namentlich für den Zeitraum von 1880 bis 1910 zeigen, wie zwischen den Fürsorgeexperten „ein Gefühl der grenzüberschreitenden Verbundenheit“ entstand, da diese die „gleichen Werte, Leitideen, dieselbe ‚Sprache der Reform‘ und ‚Fürsorgekultur‘“ schufen und teilten (159). Im zweiten Hauptteil (163–223) nimmt Landes mit der Unterstützung hilfsbedürftiger Ausländer und arbeitsfähiger Arme zwei ausgewählte Bereiche in den Blick, über die sich die Fürsorgeexperten intensiv austauschten. Dieser Austausch zeitigte Rückwirkungen auch auf die Fürsorgepolitiken der jeweiligen Länder. Aber, so ausgeprägt er auch ausfiel, die Umsetzung im jeweiligen Land war stets von den nationalen Rahmenbedingungen abhängig und variierte dementsprechend. Dabei – und das wird im dritten Hauptteil (224–310) gezeigt – bestand lange Zeit weitgehend Einigkeit mit Blick auf die organisatorischen, methodischen und ethischen Leitkonzepte. Erst in den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam es vermehrt zu sozialpolitischen Deutungskämpfen und zur Herausbildung unterschiedlicher Handlungsorientierungen. Das ging einher mit dem Aufkommen eines neuen Armuts- und Fürsorgediskurses, der in einem vierten, deutlich kürzer gefassten Teil (311–338) behandelt wird, der insbesondere um den Armutsbegriff kreist. Unter Einbeziehung wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Expertise fragte man nicht länger nach dem moralischen Versagen des Einzelnen, sondern nahm die gesamte Gesellschaft und deren Defizite in den Blick. Das führte bei manchen Experten mitunter zu neuen Einsichten über die Art und Weise, wie mit den Armen umzugehen sei. Geradezu foucaultianisch mutet die Aussage des von Landes zitierten Sozialpädagogen Christian Jasper Klumker an, der 1911 den Werdegang eines Vagabunden zwischen „Gefängnis, Haftstrafe, Korrektionshaus, Arbeitshaus, Siechenhaus“ für unbarmherziger hielt als die Methoden des Mittelalters, als man den Delinquenten am „Rade in einigen Stunden“ tötete (Zitat auf 334). Die wichtigsten der in diesen vier Teilen erzielten Ergebnisse werden in Landes‘ Schlussbetrachtung noch einmal zusammengefasst. Dabei betont er unter anderem, dass Deutschland in vielerlei Hinsicht von dem internationalen Austausch profitierte, und distanziert sich damit von jener Tradition der historischen Fürsorge- und Wohlstaatsforschung, die Deutschland lange Zeit eine Sonder-, ja Pionierrolle bei der Entstehung moderner Sozialstaatlichkeit zugeschrieben hat (siehe 344 f.). Vielleicht hätte diese These schon in der Einleitung stärker konturiert werden sol-
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len, das hätte den Lesefluss sicherlich erleichtert. Auch mag man bedauern, dass die vorliegende Arbeit weitgehend auf einer deskriptiven Ebene verharrt, insbesondere dann, wenn es zu (aufgrund der prioritär systematischen Vorgehensweise nicht immer vermeidbaren) Redundanzen kommt. Nichtsdestoweniger sind die Meriten der Arbeit für diejenigen, die zur Fürsorgepolitik und Armutsforschung arbeiten, nicht zu unterschätzen. Die informative, an der Schnittstelle von Sozial- und Wissensgeschichte angesiedelte Arbeit ist solide aus den Quellen herausgearbeitet (darunter Archivmaterial, vor allem aber Protokolle, Verhandlungsberichte, Periodika und andere zeitgenössische Publikationen) und kann auch jenen Anregungen geben, die sich für andere Aspekte transnationalen Austauschs, dessen Grenzen, aber auch dessen Reichweite im Europa des späten 19. Jahrhunderts interessieren. 1 2
Siehe etwa Catherine Maurer: La ville charitable. Les œuvres sociales catholiques en France et en Allemagne au XIXe siècle, Paris 2012. Wilhelm Liese: Geschichte der Caritas, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1922, 203.
Prof. Dr. Armin Owzar Université Sorbonne Nouvelle, Départment d’Etudes germaniques et franco-allemandes, 8 rue Saint-Mandé, 75012 Paris, Frankreich, [email protected]
Jahrbuch für Regionalgeschichte 40 (2022), 269–271 Frank Engehausen, Sylvia Paletschek, Wolfram Pyta (Hg.) Die badischen und württembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: 220), 2 Bde., Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2019, LXII + IX + 992 S., 103 sw. Abb., 4 Tab., Register, ISBN 978-3-17-035357-2, 78,00 EUR. Der in zwei Teilbänden vorliegende, knapp tausend Seiten starke Sammelband dokumentiert die nationalsozialistische Geschichte sämtlicher Ministerien der Länder Baden und Württemberg, die bis 1952 Vorläuferinstanzen des heutigen, flächenmäßig drittgrößten Bundeslandes der BRD waren. Vom Land Baden-Württemberg ging auch die Finanzierung der Forschungsarbeit an fünf deutschen Universitäten aus. Zur Begründung der Förderung verweist die Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes in ihrem Vorwort auf die Notwendigkeit von „Erkenntnisse[n], die auch heute für den Schutz von Demokratie und Rechtsstaat“ wichtig sind (Grußwort, V). Dem handbuchartigen Werk ist ein herausgehobener Platz als Referenzwerk in der weiteren Aufarbeitung der NS-Geschichte Baden-Württembergs und der Behörden-/Verwaltungsgeschichte im NS-Staat sicher. Es informiert nicht nur über das Personal, den Aufbau und die
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verschiedenen Aufgabenfelder der Behörden. Die Autorinnen und Autoren der Beiträge loten auch Entscheidungs- und Handlungsspielräume hochrangiger Ministerialbeamter sowie die von Akteurinnen und Akteuren niedrigerer Hierarchiestufen aus.1 Einige beschreiben Elitenkontinuitäten nach 1945 und Entlastungsnarrative, welche die Akteure bemühten, um den deutschen Wiederaufbau unter demokratischen Vorzeichen mitgestalten zu können. Bei den durchweg gut lesbaren Beiträgen handelt es sich jeweils um Längsschnittstudien, welche der Arbeit der Ministerien während des zweiten Weltkrieges jeweils gebührende Aufmerksamkeit zollen. Die Verknüpfung der beschriebenen Zugänge nicht nur im Sammelband, sondern auch in den Einzelbeiträgen zeugt von einem komplexen Verständnis der Herausgeberinnen und Herausgeber sowie Autorinnen und Autoren von ‚Behördengeschichte‘. (Ministerial-)Verwaltungen werden hier mitnichten als Durchleitungsinstanzen begriffen, sondern in ihrer Arbeit als beeinflusst von persönlichen Überzeugungen und Zielen, Machtinteressen und Sachzwängen beschrieben. Auf diese Weise gelingt es dem Band auch, einen guten Eindruck von Behördenhandeln im NS-Alltag zu vermitteln. Wie unterschiedlich die Beiträge sind, lässt sich an denen über die Innenministerien verdeutlichen: Während Robert Neisen die Abteilungen der württembergischen Behörde systematisch beleuchtet, beschreiben Carsten Kretschmann und Christoph Raichle die badische themenorientiert. Nicht zuletzt für das Verständnis der auf 20 Seiten beschriebenen „Mitwirkung des badischen Innenministeriums an der Repressionspolitik des NS-Regimes“ ist diese Herangehensweise dienlich. Die systematische Herangehensweise Neisens verdeutlicht dagegen (ebenso wie der Rundumschlag über die Ministerien im Sammelband insgesamt) eines sehr eingängig: Kein Ministerium, keine Abteilung, kein Verwaltungsfeld entzog sich den Maximen des NS-Staates. Dass es in vielen Fällen zu einer „teils willfährige[n], teils skrupellose[n] Mitwirkung zahlreicher Beamter […] an der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis“ kam (3), während in anderen Fällen Konflikte zwischen ‚Staat‘ und ‚Partei‘ auftraten, betont Frank Engehausen in seiner Einleitung. „Kontrahent[…]“ der Länderministerialbürokratie sei weniger die Reichsverwaltung, als vielmehr die Partei gewesen (4). Doch in Abwehrhandlungen gegen parteiliche ‚Einmischungsversuche‘ dürfe man „nicht von vornherein einen Akt der Resistenz erkennen“ (2), bestätigt Engehausen Ergebnisse bereits vorliegender Forschungen, die solche Konflikte als systemimmanent beschreiben. Warum für die Rahmung der einzelnen Beiträge nicht stärker auf das durchaus lesenswerte und reich belegte Projektexposé1 aus dem Jahr 2013 zurückgegriffen wurde, erschließt sich nicht. Diese Vorstudie enthält nämlich einiges von dem, was man im Sammelband vergeblich sucht. So kann die in der Einleitung zum Sammelband getroffene Aussage, die Forschungsgruppe habe auf ihrem Feld ‚Neuland‘ betreten, nur verwundern. Eine eingeschränkte Perspektive auf die ‚Institutionenforschung‘ scheint dafür zu sorgen, dass unter anderem jene Studien aus den 1990er/2000er Jahren außer Acht gelassen werden, die sich gewinnbringend mit ‚Regionen‘ im Nationalsozialismus beschäftigen und eine stärkere Auseinandersetzung mit der Interaktion von Staat und Partei auf der ‚mittleren‘ Ebene einfordern bzw. leisten.2 Auch Informationen zur Quellenlage fehlen in der Einleitung. Besser aufgestellt sind in dieser Hinsicht die Einzelstudien: zum Forschungsstand und zur Überlieferung erfährt man in den meisten Einzelbeiträgen etwas. Während diesen meist auch ein kurzes Fazit beigegeben ist, fehlt ein die Beiträge zusammenfassendes Resümee auf den ersten
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Blick ganz. Dieser Eindruck wird an unvermuteter Stelle, in der Einleitung, teilweise korrigiert. Eine Reflexion der Projektergebnisse vor dem Hintergrund bisheriger Forschungsergebnisse findet hier jedoch nicht statt. Auch wenn die Verfasserin dieser Rezension qualitative Forschungszugänge gegenüber quantitativen prinzipiell bevorzugt, muss konstatiert werden, dass das Fehlen von Statistiken etwa über Parteimitgliedschaften der Ministerialbeamtinnen und Ministerialbeamten eine Vergleichbarkeit der nationalsozialistischen ‚Durchdringung‘ der behandelten und anderer Behörden erschwert. Dass den Teilbänden über die Ministerien Baden und Württemberg jeweils ein um 1930 einsetzender Aufsatz zur „Machtübernahme der Nationalsozialisten“ in den Ländern vorangestellt ist, gefällt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der in erster Linie politischen Begründung des Projekts wäre im Rahmen einer so breit angelegten Untersuchung ein umfassenderer Rückblick auf die Rolle der Landesministerien und -bediensteten in der ‚tönernen‘ Weimarer Demokratie wünschenswert gewesen. Ein Vorhaben, das sich als Public-History-Projekt versteht, hätte auch durch prominent platzierte sachthematische Längsschnittdarstellungen zu besonders relevanten Themen der NS-Verwaltung wie ‚Polizei‘, ‚Staatsangehörigkeit‘ und ‚Verfolgung von Jüdinnen und Juden‘, von Sintizze und Sinti sowie Romnja und Roma gewonnen. Anhand dieser Themen lässt sich das Zusammenspiel verschiedener Ministerien und anderer Akteurinnen und Akteure im regionalen Verwaltungshandeln besonders gut darstellen. Schließlich handelte es sich – wie aus der Behandlung des Themas in einigen Einzelbeiträgen deutlich wird – bei den ‚Judensachen‘ um ein ‚Querschnittsthema‘ der Verwaltung. Lobend erwähnt werden muss die Internetpräsentation, die Interessierten bereits in der Arbeitsphase des Teams Einblicke in die Ziele und Ergebnisse des Projekts gab. Die Inhalte wurden auch für Laien gut verständlich aufbereitet und es finden sich sogar Materialien für den Schulunterricht. 1 2 3
Ein ähnliches Vorgehen verfolgt u. a. auch das Projekt „Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit. Politik, Personal, Prägungen in Bayern 1945–1975“, das am Institut für Zeitgeschichte in München angesiedelt ist. Stellvertretend für verschiedene Titel sei genannt Michael Richter, Thomas Schaarschmidt, Mike Schmeitzner (Hg.): Länder, Gaue und Bezirke, Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Halle a. d. Saale 2007. Wolfram Pyta u. a. (Bearb.): Vorstudie und Projektexposé. Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, 15.03.2013 (https://www.uniheidelberg.de/md/journal/2014/07/033_pm_anlage_expose_forschungsprojekt_ns_vergan genheit_der_landesministerien.pdf, letzter Zugriff: 17.03.2022).
PD Dr. Nadine Freund Gedenkstätte KZ-Außenlager Braunschweig Schillstraße, Schillstraße 25, 38102 Braunschweig, Deutschland, freund@schillstraße.de
Jahrbuch für Regionalgeschichte
www.steiner-verlag.de Themenschwerpunkt „Grenzen“ Enno Bünz Grenzen in der Geschichte Laura Potzuweit Zwischen erobertem und ererbtem Besitzanspruch Caroline Elisabeth Weber Up ewig ungedeelt oder wiedervereinigt? Paul Srodecki Zur Genese einer Idee mit weitreichenden Folgen
Aufsätze Stefan Brenner Von Strandrecht und Strandraub: Die Elbmündung als Schauplatz dithmarsisch-hamburgischer Konflikthorizonte im 13. und 14. Jahrhundert Colin Arnaud Social Topography Reloaded: Mapping Renaissance Görlitz
ISBN 978-3-515-13341-8
9 783515 133418