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German Pages 271 [274] Year 2019
JbRG Band 37
Jahrbuch für Regional geschichte Geschichte
Franz Steiner Verlag
Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 37
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE
Franz Steiner Verlag
jahrbuch für regionalgeschichte Begründet von Karl Czok Herausgegeben von Mark Häberlein, Bamberg (verantwortlich) / Oliver Auge, Kiel / Josef Ehmer, Wien / Rainer S. Elkar, Siegen / Gerhard Fouquet, Kiel / Franklin Kopitzsch, Hamburg / Reinhold Reith, Salzburg / Martin Rheinheimer, Odense / Dorothee Rippmann, Itingen / Susanne Schötz, Dresden / Sabine Ullmann, Eichstätt Redaktion: Andreas Flurschütz da Cruz / Sandra Schardt (Bamberg) www.steiner-verlag.de/jrg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Satz: Sandra Schardt, Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1860-8248 ISBN 978-3-515-12431-7 (Print) ISBN 978-3-515-12433-1 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis Editorial ................................................................................................................. 11
I Abhandlungen und Literaturberichte Jan Habermann: Burg und Herrschaft im Harz – Regionale Machtkomplexe im 11. und 12. Jahrhundert............................................................................................................. 15 Oliver Auge: Die Hanse in der Region und Regionalgeschichte................................................. 37 Jan Kilián: Oberpfälzische Städte im Dreißigjährigen Krieg: Eine Sondierung der Problematik ............................................................................................................ 57 Lena Krull: Landesgeschichte und Public History – Fachgeschichte und Perspektiven .......... 91 Kevin Rick: Erziehung zur Marktwirtschaft. Schleswig Holstein als Pionier der deutschen Verbraucherpolitik nach 1945? ............................................................................ 113 Michaela Schmölz-Häberlein: Jüdische Geschichte und Regionalgeschichte – Eine Bestandsaufnahme neuerer Publikationen .......................................................................................... 137
II Rezensionen und Annotationen 1. Epochenübergreifend Mark Häberlein, Robert Zink (Hg.): Städtische Gartenkulturen Besprochen von Dorothee Rippmann .................................................................. 157 Thomas Adam: Feuer, Fluten, Hagelwetter Besprochen von Klaus Schlottau ......................................................................... 160
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Inhalt
Sigrid Hirbodian, Sabine Klapp, Tjark Wegner (Hg.): Frauen in Württemberg Besprochen von Jessica Cronshagen .................................................................. 161 Oliver Auge, Norbert Fischer (Hg.): Nutzung gestaltet Raum Besprochen von Detlev Kraack ........................................................................... 163 Herbert Bock: Begehrt und umstritten Besprochen von Harm von Seggern .................................................................... 165 Jörg Rogge, Kristine Müller-Bongard (Hg.): Recounting Deviance Besprochen von Harm von Seggern .................................................................... 166 Eva Jullien, Michel Pauly (Hg.): Craftsmen and Guilds in the Medieval and Early Modern Periods Besprochen von Guillaume Garner ..................................................................... 168 Marco Bellabarba, Hannes Obermair, Hitomi Sato (Hg.): Communities and Conflicts in the Alps Besprochen von Andrea Bonoldi ......................................................................... 170 Markus A. Denzel, Andrea Bonoldi, Anne Montenach, Françoise Vannotti (Hg.): Oeconomia Alpium I Besprochen von Magnus Ressel .......................................................................... 172 Marianne Acquarelli: Die Ausbildung der Wundärzte in Niederösterreich Besprochen von Annemarie Kinzelbach .............................................................. 175 Wolfgang Behringer, Sönke Lorenz (†), Dieter R. Bauer (Hg.): Späte Hexenprozesse Besprochen von Walter Rummel.......................................................................... 177 2. Mittelalter Harald Derschka, Jürgen Klöckler, Thomas Zotz (Hg.): Konstanz und der Südwesten Besprochen von Kurt Andermann........................................................................ 180
Inhalt
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Lucas Wüsthof: Schwabenspiegel und Augsburger Stadtrecht Besprochen von Peter Kreutz .............................................................................. 181 Claudia Esch: Zwischen Institution und Individuum Besprochen von Kilian Baur................................................................................ 183 Jens Klingner, Benjamin Müsegades (Hg.): (Un)Gleiche Kurfürsten? Besprochen von Christof Paulus ......................................................................... 185 Johannes Probus: Cronica monasterii beati Meynulphi in Bodeken Besprochen von Anne Diekjobst .......................................................................... 186 Sigrid Hirbodian, Peter Rückert (Hg.): Württembergische Städte im späten Mittelalter Besprochen von Claudia Esch ............................................................................. 188 Enno Bünz, Hartmut Kühne (Hg.): Alltag und Frömmigkeit Besprochen von Norbert Köster .......................................................................... 191 Andreas Bihrer, Gerhard Fouquet (Hg.): Bischofsstadt ohne Bischof? Besprochen von Erika Kustatscher...................................................................... 193 3. Frühe Neuzeit Martin Knoll, Reinhold Reith (Hg.): An Environmental History of the Early Modern Period Besprochen von Klaus Schlottau ......................................................................... 195 Norbert Angermann, Karsten Brüggemann, Inna Põltsam-Jürjo (Hg.): Die baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit Besprochen von Michael Garleff ......................................................................... 197 Detlef Döring (†) (Hg.): Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2 Besprochen von Gerhard Graf ............................................................................ 199
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Inhalt
Enno Bünz, Ulrike Höroldt, Christoph Volkmar (Hg.): Adelslandschaft Mitteldeutschland Besprochen von Thomas Grunewald ................................................................... 201 Armin Kohnle, Uwe Schirmer (Hg.): Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen Besprochen von Gabriele Haug-Moritz .............................................................. 206 Sigrid Hirbodian, Robert Kretzschmar, Anton Schindling (Hg.): „Armer Konrad“ und Tübinger Vertrag im interregionalen Vergleich Besprochen von Martin Zürn ............................................................................... 209 Peter Blickle: Der Bauernjörg Besprochen von Martin Zürn ............................................................................... 213 Sven Schmidt (†) (Hg.): Das Gewerbebuch der Christoph-Welser-Gesellschaft Besprochen von Mechthild Isenmann .................................................................. 216 Michaela Schmölz-Häberlein (Hg.): Jüdisches Leben in der Region Besprochen von Maja Andert .............................................................................. 217 Birgit Näther: Die Normativität des Praktischen Besprochen von Wolfgang E. J. Weber ............................................................... 219 Christian Heinker: Die Bürde des Amtes – die Würde des Titels Besprochen von Alexander Schunka.................................................................... 220 Wolfgang Scheffknecht: Kleinterritorium und Heiliges Römisches Reich Besprochen von Wolfgang Wüst .......................................................................... 223 Marion Romberg: Die Welt im Dienst des Glaubens Besprochen von Rainald Becker .......................................................................... 225 Lene Freifrau von dem Bussche-Hünnefeld, Stephanie Haberer (Hg.): „wobei mich der liebe Gott wunderlich beschutzet“ Besprochen von Hans-Jörg Künast ..................................................................... 227
Inhalt
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Claudia Garnier, Christine Vogel (Hg.): Interkulturelle Ritualpraxis in der Vormoderne Besprochen von Enrique Corredera Nilsson ....................................................... 229 Indravati Félicité: Das Königreich Frankreich und die norddeutschen Hansestädte Besprochen von Anuschka Tischer ...................................................................... 231 Holger Th. Gräf, Christoph Kampmann, Bernd Küster (Hg.): Landgraf Carl (1654–1730) Philip Haas: Fürstenehe und Interessen Andreas Hedwig, Christoph Kampmann, Karl Murk (Hg.): Bündnisse und Friedensschlüsse in Hessen Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz ..................................................... 233 Dieter Wunder: Der Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts Besprochen von André Junghänel ....................................................................... 236 Holger Th. Gräf: „Ein Held“ Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz ..................................................... 238 Martin Rheinheimer: Ipke und Angens Besprochen von Sandra Schardt.......................................................................... 239 Christine Braun: Die Entstehung vom Mythos des Soldatenhandels Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz ..................................................... 242 4. 19. und 20. Jahrhundert Peter Eitel: Geschichte Oberschwabens im 19. und 20. Jahrhundert Besprochen von Anke Sczesny ............................................................................. 244 Karsten Ruppert (Hg.): Wittelsbach, Bayern und die Pfalz Besprochen von Katharina Weigand ................................................................... 247
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Inhalt
Michael Schäfer: Eine andere Industrialisierung Besprochen von Anke Sczesny ............................................................................. 249 Katrin Lehnert: Die Un-Ordnung der Grenze Besprochen von Falk Bretschneider .................................................................... 251 Gerhard Deter: Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit Besprochen von Isabelle Lindner ........................................................................ 253 Klaus Seidl: „Gesetzliche Revolution“ im Schatten der Gewalt Besprochen von Jannis Trillitzsch ....................................................................... 255 Anette Blaschke: Zwischen „Dorfgemeinschaft“ und „Volksgemeinschaft“ Besprochen von Clemens Zimmermann .............................................................. 258 Daniel Bauer: Die nationalsozialistische Herrschaft in Stadt und Land Rothenburg ob der Tauber 1933–1945 Besprochen von Julia Oberst ............................................................................... 260 Wolfgang Form, Theo Schiller, Lothar Seitz (Hg.): NS-Justiz in Hessen Besprochen von Uwe Danker .............................................................................. 262 František Steiner: Fußball unterm gelben Stern Besprochen von Markwart Herzog ...................................................................... 267
EDITORIAL Der Aufsatzteil des Jahrbuchs für Regionalgeschichte bietet diesmal eine Mischung aus quellenbasierten Studien und Forschungsüberblicken. Jan Habermann zeigt, wie sich die seit dem späten 11. Jahrhundert auftretenden Konflikte zwischen den salischen Königen und dem Adel im nördlichen Harz in der Entwicklung des regionalen Burgenbaus widerspiegelten. Oliver Auge resümiert anschließend jüngere Tendenzen der Hansegeschichtsforschung und plädiert vor deren Hintergrund für eine stärkere Verschränkung regionaler, überregionaler und ‚globaler‘ Perspektiven auf die Hanse. Jan Kilián unterzieht das Verhältnis zwischen Militär und Zivilbevölkerung in sechs oberpfälzischen Städten während des Dreißigjährigen Krieges einer detaillierten Untersuchung und fördert dabei neben gewaltsamen Konflikten und gravierenden materiellen Belastungen auch Aspekte der Kooperation zutage. Lena Krull befasst sich mit dem Verhältnis von Public History und Landesgeschichte; vor dem Hintergrund der Geschichte beider Disziplinen verweist sie auf die wissenschaftlichen, praktischen und gesellschaftlichen Potenziale einer sich (auch) als Public History verstehenden Landes- und Regionalgeschichte. Kevin Rick führt am Beispiel der Verbraucherpolitik in Schleswig-Holstein vor, wie fruchtbar eine regionale Perspektive auch für die politische Zeitgeschichte sein kann: Angesichts gravierender Versorgungsprobleme bildeten sich dort nach 1945 sog. Verbraucherausschüsse, deren dezentrale, partizipative Ansätze zumindest vorübergehend auch auf andere Bundesländer ausstrahlten, ehe die bundesdeutsche Verbraucherpolitik in den 1960er Jahren auf eine zentralistische Linie einschwenkte. Michaela Schmölz-Häberleins Bestandsaufnahme neuerer Arbeiten zur jüdischen Regionalgeschichte leitet zugleich über zum Rezensionsteil des Jahrbuchs, der auch diesmal ein breites Spektrum des aktuellen regionalhistorischen Schrifttums vorstellt. Nachdem die Redaktion des Jahrbuchs für Regionalgeschichte nunmehr zehn Jahre lang am Bamberger Lehrstuhl für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte angesiedelt war, erschien dem geschäftsführenden Herausgeber der Zeitpunkt günstig, die Verantwortung in andere Hände zu übertragen. Mit dem Kieler Regionalhistoriker Oliver Auge hat sich einer der profiliertesten Fachvertreter im deutschsprachigen Raum dankenswerter Weise bereiterklärt, die federführende Herausgeberschaft zu übernehmen. Ihm und seinem Team wünsche ich für die Weiterführung des Jahrbuchs ab dem Jahrgang 38 (2020) alles Gute. Bei den Herausgeberinnen und Herausgebern sowie beim Franz Steiner Verlag bedanke ich mich für die stets vertrauensvolle Zusammenarbeit. Mein besonderer Dank gilt indessen meinen Bamberger Mitarbeiter(inne)n Andreas Flurschütz da Cruz und Sandra Schardt für ihre engagierte und tatkräftige Unterstützung. Bamberg, im Mai 2019
Mark Häberlein
ABHANDLUNGEN
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 37 (2019), S. 15–35
BURG UND HERRSCHAFT IM HARZ Regionale Machtkomplexe im 11. und 12. Jahrhundert Jan Habermann ABSTRACT Seit dem letzten Drittel des 11. Jahrhunderts war die Königslandschaft Harz von tiefreichenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen erfasst. Das zwischen dem salischen Königtum und dem regionalen Adel während des Investiturstreits stärker hervortretende Konfliktverhältnis fand dabei einen sichtbaren Reflex in der Entwicklung des Burgenbaus. Die Rolle der königlichen und adeligen Burgen im landschaftlichen Kontext bietet gleichzeitig wichtige Anhaltspunkte bei der Frage nach dem Reichsgut und der Herausbildung neuer adeliger Herrschaften. Dieser Beitrag beleuchtet einen bestimmten Bezirk des Harzes in einem begrenzten Zeitabschnitt und macht anhand signifikanter Beispiele die Wechselbeziehungen von Burg und Herrschaft in einem breiteren politischen und sozialen Kontext deutlich. Since the last third of the 11th century, the royal landscape of the Harz was caught up in farreaching political and social changes. The conflict between the Salic kings and the regional nobility during the Investiture Controversy became increasingly visible in the development of castle construction. At the same time the role of royal and aristocratic castles in regional landscape provides important approaches in terms of the imperial estate and the emergence of new aristocratic lordships. This article focusses on a specific district of the Harz in a limited period of time and uses significant examples to illustrate the interrelationship between castle and power in a broader political and social context.
I. Einleitung Die Erforschung der hochmittelalterlichen Harzlandschaft im Hinblick auf die sie gestaltenden politischen Kräfte an der Schwelle des Übergangs von einer Königslandschaft hin zur Adelslandschaft erweist sich als bisher wenig bearbeitetes regionalgeschichtliches Arbeitsfeld, das einen erheblichen Erkenntnisgewinn verspricht1. Während bisher Pfalzen, Königshöfe und Itinerare als probate Indikatoren hinsichtlich der Intensität und des Wandels königlicher Herrschaft herangezogen wurden2, hat die Aufarbeitung von Adelsherrschaften am Harz, deren frühe 1
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Eine umfassende landschaftliche Studie, die über das Zeitalter der Ottonen hinausgeht, liegt in diesem Zusammenhang für den Harz noch nicht vor. Ein Überblick zuletzt bei CHRISTIAN FREY: Die Herrschaftslandschaft im nördlichen Harzvorland – Fundament des Reiches, Durchgangszone, Kernlandschaft. In: MARKUS C. BLAICH, MICHAEL GESCHWINDE (Hg.): Werla 1 – Die Königspfalz. Ihre Geschichte und die Ausgrabungen 1875–1964 (= Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 126), Mainz 2015, 220‒222. CASPAR EHLERS: Ort, Region, Reich: Mobilität als Herrschaftsfaktor. In: GERHARD LUBICH (Hg.): Heinrich V. in seiner Zeit: Herrschen in einem europäischen Reich des Hochmittelal-
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Repräsentanten als Funktionsstützen des Königtums im 11. und 12. Jahrhundert anzusprechen sind, in neuerer Zeit nur wenige Fortschritte gemacht3. Dabei erscheint es verlockend, in einer vergleichenden Studie der am Harz herrschaftsbildenden Hochadelsfamilien, insbesondere der Harzgrafen, verschiedene Methoden hinsichtlich des Aufgehens von Reichsrechten in regional-adelige Machtkomplexe anzuwenden und auf dieser Grundlage nach deren Anteilen an dynastischem Status, Symbolik und Selbstverständnis zu fragen. Dieser Ansatz ist auch für die Fragestellung von Belang, mit welchen Mitteln es dem Königtum gelingen konnte, in den wechselnden Kräfteverhältnissen zwischen Staufern und Welfen auf die am Harz ansässigen Grafen- und Edelherrenfamilien zurückzugreifen4. Eine methodisch differenzierte Herangehensweise an die Erschließung von Reichsgut und Reichsrechten in der Entwicklung des Adels am Harz wird bereits durch die ausgesprochen problematische Überlieferungslage vorgegeben: Bis auf einen Einzelfall5 muss eine solche Untersuchung bei nahezu allen Adelsfamilien ohne Lehensverzeichnisse oder sonstige Besitzregister auskommen und ist damit auf den Bestand der erst seit Ende des 12. Jahrhunderts häufiger ausgestellten Privaturkunden angewiesen. Dass diese in aller Regel den beweglichen Eigenbesitz überliefern, hingegen nur in äußerst wenigen Fällen das interessierende Reichsgut, hat in früheren Einzelstudien zu den verallgemeinernden Schlussfolgerungen geführt, dass Reichsrechte im Herrschaftsaufbau bedeutender, am Harz seit dem 12. Jahrhundert politisch aufsteigender Familien, wie den Grafen von Arnstein, keine Rolle gespielt hätten6. Da abgesehen von den Spuren adeliger Besitztraditionen unmittelbare Nachweise von Reichsgut am Nordharz bisher nur in geringfügigem
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ters (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 34), Wien u. a. 2013, 81‒102; DERS.: Eine Königslandschaft für fünfhundert Jahre: Pfalzen, Residenzen und Burgen im nördlichen Harzgebiet um die Burg Lichtenberg vom 8. bis zum 13. Jahrhundert. In: Salzgitter-Jahrbuch 25/26 (2003/2004), 49‒66; THOMAS ZOTZ: Pfalzen und königliche Herrschaftspraxis von der Karolinger- bis zur Stauferzeit unter besonderer Berücksichtigung der Baar. In: VOLKHARD HUTH, JOHANNA R. REGNATH (Hg.): Die Baar als Königslandschaft. Tagung des Alemannischen Instituts vom 6.–8. März 2008 in Doneaueschingen (= Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts 77), Ostfildern 2010, 265‒280. JAN HABERMANN: Königsherrschaftliche Raumerfassung am Nordharz unter den letzten Saliern. Krongut, Reichsdienst und Burgenbau im 11. Jahrhundert. In: Harz-Zeitschrift 68 (2016), 62‒96; BERND FEICKE: Die Grafen von Mansfeld als Vorsitzende königlicher Landdinge (lantdinc) zwischen Harz und Saale im Mittelalter. In: DERS., BERND LINGELBACH (Hg.): Das Burger Landrecht und sein rechtshistorisches Umfeld. Zur Geschichte der Landrechte und ihrer Symbolik im Mittelalter von Rügen bis Niederösterreich (= HarzForschungen 30), Berlin 2014, 79‒87. JOACHIM EHLERS: Heinrich der Löwe. Eine Biographie, München 2008, 244‒248. ERNST SCHUBERT: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert (= Geschichte Niedersachsens 2,1, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 36), Hannover 1997, 488 f. LUTZ FENSKE, ULRICH SCHWARZ: Das Lehnsverzeichnis Graf Heinrichs I. von Regenstein 1217/1227. Gräfliche Herrschaft, Lehen und niederer Adel am Nordostharz (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 94), Göttingen 1990. So GERD HEINRICH: Die Grafen von Arnstein (= Mitteldeutsche Forschungen 21), Köln u. a. 1961, Nachdruck Potsdam 2016, 259 f.
Burg und Herrschaft im Harz
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Umfang beizubringen waren, fiel zusätzlich das Urteil über die territorialen Grundlagen des Königtums sowie der mit ihnen in Verbindung gebrachten Elemente des Adels folgenschwer negativ aus7. Dennoch war bekannt, dass bis in das 13. Jahrhundert hinein auffällige überregionale Gefolgschaftsbindungen zwischen bedeutenden Adelsfamilien am Harz und den Staufern bestanden8. Genau genommen hat sich unter diesen Voraussetzungen die Erforschung des Harzes seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in eine gewisse Aporie zwischen Königslandschaft und Adelslandschaft begeben, bei der einer notwendigen typologischen und zeitlichen Differenzierung mittels der allgemeinen politischen Entwicklungsgeschichte im 12. Jahrhundert nicht beizukommen ist. Die Koinzidenz von Königsherrschaft und Adelsherrschaft am Harz lässt sich allerdings auch mit zum Teil noch deutlich sichtbaren historischen Zeugnissen fassen, die als alternative Kategorien einen mittelbaren Zugang zu den Grundlagen herrschaftlicher Wechselbeziehungen eröffnen: Reichsburgen und Dynastenburgen9. Bezeichnenderweise existierten im hochmittelalterlichen Harz beide Burgentypen in gleicher Zeitstellung dicht nebeneinander, wobei die jeweilige Markierung von territorialen Interessen und gesellschaftlichem Status in einer Zeit zunehmender politischer Rivalitäten seit der Regierung König Heinrichs IV. bis hin zu Kaiser Otto IV. augenfällig wird. So machten am Harz Könige und Kaiser seit den letzten Saliern bis in das 13. Jahrhundert hinein von ihrem Befestigungsregal Gebrauch, um Reichsgut zu behaupten oder zurückzugewinnen, während der Adel regional-allodiale Machtkomplexe durch Burgen abzuriegeln oder auszuwei-
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SABINE WILKE: Das Goslarer Reichsgebiet und seine Beziehungen zu den territorialen Nachbargewalten. Politische, verfassungs- und familiengeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Königtum und Landesherrschaft am Nordharz im Mittelalter (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 32), Göttingen 1971, 65, 73‒78; zur Kritik an der methodisch und inhaltlich problematischen Arbeit von Wilke: WOLFGANG PETKE: Pfalzstadt und Reichsministerialität. Über einen neuen Beitrag der Reichsgut- und Pfalzenforschung. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 109 (1973), 270‒304; ebenso negativ gegenüber königlichen Besitzgrundlagen: MICHAEL KLEINEN: Bischof und Reform. Burchard II. von Halberstadt (1059–1008) (= Historische Studien 484), Husum 2004, 103, kritisch dazu HABERMANN: Raumerfassung (wie Anm. 3), 94. JAN HABERMANN: Die Grafen von Wernigerode. Herrschaftsprofil, Wirkungsbereich und Königsnähe hochadliger Potentaten am Nordharz im späten Mittelalter, Norderstedt 2008, 26‒33; WOLFGANG PETKE: Die Grafen von Wöltingerode-Wohldenberg. Adelsherrschaft, Königtum und Landesherrschaft am Nordwestharz im 12. und 13. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschungen der Universität Göttingen 4), Hildesheim 1971, 364‒382. REINHARD SCHMITT, HANS WILHELM HEINE, MATHIAS HENSCH, ANDREAS OTTO WEBER: Burgenbau in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts und im frühen 12. Jahrhundert in ausgewählten Landschaften des Reiches. In: CHRISTOPH STIEGEMANN, MATTHIAS WEMHOFF (Hg.): Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik. Bd. I: Essays, München 2006, 219‒234, hier 224‒232; dazu auch der Überblick bei MATTHIAS BECHER: Ein Reich in Unordnung: Die Minderjährigkeit Heinrichs IV. und ihre Folgen bis zum Ende des Sachsenaufstands 1075. In: ebd., 62‒78, hier 64.
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Jan Habermann
ten suchte10. Als notwendige methodische Prämisse müssen Burganlagen – über die baugeschichtlichen Bestandteile hinaus – in ihrem landschaftlichen Kontext erfasst werden11. Dazu gehören die Verdeutlichung der regionalen Stellung des Bauherrn einer Burg nebst einer Bestandsaufnahme der Besitztopographie in deren Umfeld ebenso wie die Beobachtung von örtlichen Lagebeziehungen zu konkurrierenden Burgen und Siedlungsformen bzw. das gesellschaftliche und politische Raster, in das königliche und dynastische Burgen eingebettet waren. Aus einem derartigen lokalen Merkmals- und Beziehungsgeflecht ließen sich belastbare Annahmen über territoriale und politische Verhältnisse zwischen Königtum, Adel und Kirche – und letztlich auch über den Bestand an Reichsgut – in einer permanenten Konfliktlandschaft wie dem Harz erschließen. Richtungsweisend für den Aufbau einer derartigen Analyse ist das Konzept der Verherrschaftung. Darunter sind langfristige strukturelle Vorgänge zu verstehen, bei denen ein oder mehrere Herrschaftsträger einen Landschaftsteil entweder herrschaftlich neu erschließen oder in Anknüpfung an bestehende Organisationsformen (etwa Amtsbezirke und Siedlungen) mit eigenen Einrichtungen überlagern und somit gleichsam neue Stratifikationen von Herrschaft hervorbringen. Die topographische respektive landschaftliche Verortung der Burg erhält im Kontext der Fragestellung einen zentralen Rang zugewiesen, wobei zu klären ist, inwiefern ihre Errichtung die Verherrschaftung eines Gebiets vorbereitete oder diesen Prozess abschließen sollte12. Angesichts des bisherigen Kenntnisstandes zum nördlichen Harz bedeutet die Übertragung dieses Konzepts für den vorliegenden Beitrag an erster Stelle eine Neuerfassung der salierzeitlichen Reichsburgen anhand spezifischer Beispiele in ihrem funktionalen landschaftlichen Zusammenhang (II.). Anschließend sind die zeitnah errichteten Stammburgen der Harzgrafen und der ihnen benachbarten Dynasten des weiteren Harzvorlandes als Kristallisationskerne neuer Herrschaftsbereiche zu betrachten (III). Als politisch bestimmende Kraft setzte das Hochstift Halberstadt seine weltlichen Hoheitsansprüche seit dem Ende des 12. Jahrhunderts mit einer auf Lehensbindungen gegründeten Strategie gegenüber dem aufsteigenden Adel durch. Dieser verdient eine abschließende Betrachtung vor allem 10 HORST WOLFGANG BÖHME: Burgen der Salierzeit. Von den Anfängen adligen Burgenbaus bis ins 11./12. Jahrhundert. In: JÖRG JARNUT, MATTHIAS WEMHOFF (Hg.): Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert. Positionen der Forschung. Historischer Begleitband zur Ausstellung Canossa 1077 – Erschütterung der Welt (= Mittelalter-Studien des Instituts zur interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens 13), München 2006, 379‒401; DERS.: Burgenbau der Salierzeit. In: LAURA HEEG (Hg.): Die Salier. Macht im Wandel. Begleitband zur Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz Speyer. Teilbd. 1, München 2011, 118‒127, hier 124‒126. 11 Nach dem Vorbild der englischen Burgenforschung im Sinne von OLIVER H. CREIGHTON: Castles and Landscapes. Power, Community and Fortification in Medieval England (= The archeaology of medieval Europe, 1100–1600), London u. a. 2002 und ROBERT LIDIARD: Landscapes and Lordship. Norman castles and the countryside in medieval Norfolk (= British Series 309), Oxford 2000. 12 Das Theorem der „Verherrschaftung“ zuletzt bei PETKE: Wohldenberg (wie Anm. 8), 294 Anm. 57 mit den dort aufgeführten älteren Ansätzen.
Burg und Herrschaft im Harz
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deshalb, da derartige Maßnahmen in die zu untersuchenden Herrschaftsstrukturen im hochmittelalterlichen Harz einfließen (IV). Der vorliegende Beitrag bietet im Sinne des Konzepts zunächst nur ausschnitt- und beispielhaft für den sogenannten „Harzgau“ einen Problemaufriss, der sich als Zwischenbericht zu einer langfristig zu verfolgenden Landschaftsstudie versteht. Die für den nördlichen Harz repräsentativen Befunde sollten in einem weiteren Schritt vergleichend mit den Verhältnissen am Südost- und Südwestharz13 nach den Prämissen des methodischen Ansatzes betrachtet werden. Erst danach ließe sich ein umfassendes landschaftliches Bild von Burg und Herrschaft im Harz während des Hochmittelalters gewinnen. II. Demarkation königlicher Herrschaft – die Reichsburgen Mit dem Anbruch der spätsalischen Herrschaftszeit unter Heinrich IV. (1065– 1106) setzte im Harz eine neue Periode des Burgenbaus ein. Dessen bisher von der Forschung angenommenes Ziel war die stärkere Beanspruchung und Rückgewinnung von Reichsgut in Sachsen, insbesondere am Harz14. Von den zeitgenössischen Chronisten, allen voran Lampert von Hersfeld und Bruno, liegen innerhalb der Historiographie die bisher wichtigsten Anhaltspunkte vor15. Abgesehen von der königsfeindlichen Haltung dieser beiden Hauptgewährsleute, die an den angeblichen Motiven des Königs als Bauherrn quellenkritische Bedenken anmelden lässt, schwingt in allen Aufzeichnungen das Aufsehen der Zeitgenossen über den innovativen Charakter des königlichen Burgenbaus mit. Als Kernkriterien lassen sich herausstellen, dass diese neuen Burgen des Königs (1.) besonders fest 13 Besonders am Südharz sind die zunächst von Heinrich IV. errichteten Reichsburgen namentlich sicher belegt: MICHAEL KLEINEN: Bischof Burchard II. und die Ilsenburger Reform. In: DIETER PÖTSCHKE (Hg.): Die Abtei Ilsenburg und andere Klöster im Harzvorraum (= HarzForschungen 22), Berlin u. a. 2006, 50–70, hier 61–64; ferner hat bereits die frühere Reichsgutforschung diesen Teil des Harzes zum zentralen Gegenstand gemacht: KARL HEINZ MASCHER: Reichsgut und Komitat am Südharz im Hochmittelalter (Mitteldeutsche Forschungen 9), Köln u. a. 1957, sowie ALBRECHT TIMM: Krongutpolitik der Salierzeit am Südostharz. In: Harz-Zeitschrift 10 (1958), 1–15, und DIETRICH UPMEYER: Königtum, Königsgut und Königssiedler im Harzvorland: Gedanken zur frühen Verfassung des Siedlungsraumes zwischen Harz und Leine. In: Heimatblätter für den südwestlichen Harzrand 39 (1983), 17–41. 14 Aus der zahlreichen Literatur zu diesem Sachverhalt seien herausgegriffen: MATTHIAS BECHER: Die Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit den Sachsen. Freiheitskampf oder Adelsrevolte? In: JARNUT, WEMHOFF (Hg.): Vom Umbruch zur Erneuerung? (wie Anm. 10), 357– 378, hier 358 f.; GABRIEL ZEILINGER: Salische Ressourcen der Macht. Grundherrschaft, Silberbergbau, Münzprägung und Fernhandel. In: BERND SCHNEIDMÜLLER, STEFAN WEINFURTER (Hg.): Salisches Kaisertum und neues Europa. Die Zeit Heinrichs IV. und Heinrichs V., Darmstadt 2007, 143–160, hier 150 f. 15 Hierzu die Zusammenstellung sämtlicher zeitgenössischer Meldungen zum Jahr 1073 sowie die neuere einschlägige Forschungsliteratur in Regesta Imperii [künftig RI] III: Salisches Haus: 1024–1125, Zweiter Teil: 1050 (1056)–1125, Dritte Abteilung: Die Regesten des Kaiserreiches unter Heinrich IV. 1056 (1050)–1106, 2. Lieferung: 1065–1075, Köln u. a. 2010 , Nr. 635.
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Jan Habermann
und in großer Zahl errichtet worden seien und dies auf (2.) Bergen und Hügeln Sachsens (3.) in der Abgeschiedenheit der Wälder auf von Natur aus bereits gut befestigten Plätzen16, so dass die (4.) dadurch bedingte problematische Versorgung der Burgbesatzung mit Nahrungsmitteln durch Plünderungen umliegender Dörfer arrangiert werden musste17. Aus diesen reichsweit beobachteten Lagebedingungen und Baumerkmalen salierzeitlicher Burgen im Harz lässt sich ein Raster ableiten, das als Grundlage für die regionale Betrachtung dienen kann: (1.) Bauweise: feste, d. h. zu erheblichen Teilen steinerne Anlagen; (2.) Typus: Höhenburgen; (3.) Topographie: extreme Bauplätze in Gebirgsnähe, Siedlungsferne und Waldabgeschiedenheit; (4.) Wirtschaftsweise: keine eigenen angeschlossenen Wirtschaftshöfe. Für die Frage nach dem Reichsgut im Harz ist zunächst festzuhalten, dass der salische König Heinrich IV. als Bauherr im rechtlichen Sinne Reichsburgen18 errichtete. Da die sächsischen Gegner des Herrschers nur Vorwürfe hinsichtlich der Rechtmäßigkeit dieser Baumaßnahmen gegen den König erhoben, die auf die zu Burgwerk und Frondienst gezwungenen Bauern sowie der Plünderung von deren beweglichen Gütern rekurrierten19, den Grund für die Errichtung dieser Burganlagen aber nicht ausdrücklich zum Anlass ihrer Klagen nahmen, kann ohne Weiteres angenommen werden, dass die Errichtung der Befestigungswerke auf königlichem Boden, d. h. gemäß dem königlichen Befestigungsregal auf Reichsgut, durchaus rechtmäßig erfolgt war. Im Harzgau, jener Landschaft des engeren nördlichen Harzes zwischen den Flüssen Oker im Westen und Bode im Osten20, beschränkte sich nach bisherigem Forschungsstand das unmittelbar nachweisbare Reichsgut auf das Gebiet um einige urkundlich genannten Güter im Eckertal entlang des Flusses Ecker sowie auf
16 Brunonis Liber de Bello Saxonicum (= Monumenta Germaniae Historica. Deutsches Mittelalter. Kritische Studientexte des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde 2), Leipzig 1937, 22: coepit in desertis locis altos et natura munitos montes quaerere in his huiusmodi castella fabricare. 17 Annales Altahenses Maiores (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores in Folio 20), Hannover 1868, 824: Sed quia in vicino ipsarum urbium praedia pauca vel nulla habebat, illi, qui civitates custodiebant, propter inopiam victualium preadas semper faciebant de substanciis provincalium. 18 ADALBERT ERLER: Art. Reichsburg. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 4, Berlin 1990, Sp. 546–549, hier 547. 19 RI III, 2, 3, Nr. 636. 20 Es handelte sich ursprünglich um eine aus drei Grafschaftsbezirken bestehende Gaugrafschaft aus karolingischer Zeit, die im hohen Mittelalter nacheinander von verschiedenen Herrschaftsträgern verwaltet und verliehen wurde: ALBRECHT HEINE: Grundzüge der Verfassungsgeschichte des Harzgaues im XII. und XIII. Jahrhundert. Diss. Göttingen 1903, 7–19.
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die Pertinenzen der Reichsburg Alardstein, welche sich noch Mitte des 14. Jahrhunderts im Besitz der ehemaligen Reichsministerialen von Burgdorf befanden21. Der direkte Quellenbefund greift allerdings zu kurz. Denn mit der nach Lampert von Hersfeld durch Heinrich IV. erbauten Harzburg sowie mit der weiter östlich gelegenen Heimburg befanden sich strategisch bedeutende Reichsburgen im Harzgau, die das Vorhandensein umfassenderer, schützenswert erachteter Reichsrechte im Umfeld der beiden Standorte anzeigen22. Doch die Betrachtung der nach ihrer mindestens teilmassiven Bauweise und Beschaffenheit von den Zeitgenossen castella genannten Reichsburgen23 Heinrichs IV. im Harz darf sich nicht auf die zahlenmäßig bescheidenen prominenten Beispiele nach Lampert von Hersfeld beschränken. Im Ilsetal bei Ilsenburg (mittlerer Harzgau) wurde nicht lange vor dem Jahr 1073 in 126 Metern Höhenlage über dem Talgrund die massive Burg auf dem Ilsestein errichtet24. Die Anlage entspricht in ihrer Bauweise und Topographie vollkommen dem oben erstellten Raster: In Waldabgeschiedenheit, auf einem hochragenden Granitfelsen von natürlichen Steilhängen bestens geschützt und ohne Anschluss an einen eigenen Wirtschaftshof bildete sie ein massives Bollwerk inmitten des Harzwaldes. Angesichts der in diesem Falle detaillierten schriftlichen Überlieferung ergibt sich für die Reichsburg Ilsestein das Bild einer funktional herausragenden Anlage, die ausdrücklich mit einer konkreten Güterpolitik Heinrichs IV. in Verbindung gebracht wurde. Im Zusammenhang mit der von Papst Paschalis II. erst im Jahr 1105 angeordneten Zerstörung der Burg wird greifbar, dass (unter anderem) mit dieser erstaunlich lange genutzten Reichsburg die territorialen Interessen Heinrichs IV. gegenüber den Stiftsgütern des Benediktinerklosters Ilsenburg innerhalb eines konfliktträchtigen Schnittbereiches klösterlicher und königlicher Grundherrschaft durchgesetzt wurden. So seien die Güter des Klosters Ilsenburg durch Heinrich IV. explizit zerstreut (distracta) worden25, was entsprechend der oben zitierten zeitgenössischen Quellenaussagen als Umverteilung von Hufen und Waldberechtigungen in den Verfügungsbereich von Helfern Heinrichs IV. zu verstehen ist. Solche königlichen Helfer im Harz werden mit bestimmten ihnen zugeteilten Gütern (bona) in der bekannten Urkunde Heinrichs IV. für das Hochstift Hildes21 WILHELM BERGES: Zur Geschichte des Werla-Goslaer Reichsbezirks vom neunten bis zum elften Jahrhundert. In: Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 11,1), Göttingen 1963, 135 f. 22 Zur „Großen Harzburg“ Heinrichs IV. mit Zusammenstellung der Quellen: HEINRICH SPIER: Die Geschichte der Harzburg (= Beiträge zur Geschichte des Amtes Harzburg 11), Bad Harzburg 1985, 29–45. 23 SCHUBERT: Politik (wie Anm. 4), 282. 24 HANSJÜRGEN BRACHMANN: Zum Burgenbau in salischer Zeit zwischen Harz und Elbe. In: HORST WOLFGANG BÖHME (Hg.): Burgen der Salierzeit, Teilbd. 1 (= Römisch-Germanisches Zentralmuseum. Monographien 25), Sigmaringen 1991, 97–148, hier 99. Zur Geschichte JAN HABERMANN: Die Reichsburg Ilsestein im Harz. Befestigungswerk und Machtsymbol der Salierzeit, Norderstedt 2018. 25 Chronologia Abbatum Ilsineburgensium. In: Scriptores rerum Brunsvicensium 3, Hannover 1711, 685: bona, per Henricum Imperatorem quartum distracta.
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heim erwähnt26. Diese als Reichsministerialen oder auch Edelfreie zu verstehenden clientes wurden offenbar dauerhaft im Harz angesiedelt und mit Burgsitzen betraut, um in bestimmten Konfliktzonen einerseits einen gewissen Bestand von mehr oder weniger zusammenhängendem Reichsgut zu überwachen und andererseits wirtschaftlich notwendige Güter, wie diejenigen des Klosters Ilsenburg, zu besetzen. Dabei werden in Bezug auf den Ilsestein Art und Umfang des zu schützenden Reichsguts deutlich, wenn man einen urkundlich nachweisbaren Verbindungsweg zwischen dieser Reichsburg und der Großen Harzburg Heinrichs IV. nachzeichnet, der als Gebirgssteig im Harzinneren hauptsächlich geschlossene Waldreviere überschritt und damit Teile des ehemaligen Reichsforstes im westlichen Harzgau markiert27, in welchem nicht nur Königsbann, Fischfang und Holzschlag rechtlich eine Rolle gespielt haben dürften28, sondern zusätzlich durch den im Nahbereich der Reichsburg Ilsestein nachweisbaren Abbau von Eisenerz29 ein Zusammenhang von Burg und Bergbau30 evident wird. In dem von Kaiser Heinrich IV. noch 1086 so gekennzeichneten Reichsforst des Harzes waren demnach die zur Herstellung von Waffen und Werkzeugen essentiellen Machtressourcen der Ottonen und Salier gelagert31, jedoch durch die Unzugänglichkeit dieser Gebirgsgegend für Rodungsaktivitäten keine regelrechten Wirtschaftshöfe zu erwarten, die eine direkte Versorgung der dann in spätsalischer Zeit dem Schutz dienenden Höhenburgen des Königs hätten ermöglichen können. Dies erklärt den offensiven Charakter der landschaftlich abgeschiedenen Reichsburgen mit den von ihnen aus unternommenen Übergriffen auf liegenschaftliches Gut, d. h. auf Siedlungen und Gehöfte, im Umland, welche offenbar zusätzlich als Reichsgut beansprucht wurden. Hier stand allerdings keine langfristig verfolgte Expansion königlicher Grundherrschaft im Vordergrund, sondern vielmehr die Kompensation der durch den exponierten Burgenbau erwachsenen Standortnachteile. 26 Monumenta Germaniae Historica. Diplomata regum et imperatorum Germaniae [künftig MGH DD] 6: Die Urkunden Heinrichs IV., Berlin u. a. 1941–1978, Nr. 378. 27 HERBERT HAHLIG: Der Hartzesborgesche stych. Eine Verbindung zwischen der Harzburg und der Burg Ilsestein. In: Unser Harz 21 (1973), 54 f. 28 Dies umfasste das ausdrücklich von Kaiser Heinrich IV. verwahrte forestale iure im Harzwald (Silva Harz) in MGH DD H IV Nr. 378. Hierin sieht auch WILKE: Reichsgebiet (wie Anm. 7), 61 f. ein „Kernstück der königlichen Grundherrschaft“. 29 Der mittelalterliche Eisenerzabbau im Ilsenburger Forst ist montanarchäologisch noch nicht nach gegenwärtigen Maßstäben der Forschung untersucht. Es handelt sich um beobachtbare Schürfungen und Pingen mit Ausbiss von Rosteisenerz im Bereich des sogenannten Wassertals zwischen dem Stumpfrücken (südöstlich Ilsestein) und dem Polterberg. Hierzu: HANS RIEFENSTAHL: Landschaftsnamen im Ilsenburger Raum 1, Ilsenburg 1987, 45. Ausführliche Dokumentation: HABERMANN: Reichsburg (wie Anm. 24). 30 Über den Zusammenhang von hochmittelalterlichem Eisenerzabbau und Burgenbau in der Nähe von Reichsgut im Harz: THOMAS KÜNTZEL: Burg am Bergwerk. Die Erichsburg bei Siptenfelde, Landkreis Harz. In: Burgen und Schlösser in Sachsen-Anhalt 17 (2008), 92–103. 31 Vor dem Hintergrund einer geradezu „industriellen“ Eisenerzverarbeitung auf der Grundlage Mittelharzer Eisenerzvorkommen im Reichsgutbestand der ottonischen Pfalzen und Königshöfe sprach HEINZ ALBERT BEHRENS: Deutsche Königspfalzen im Harz: von Werla bis Quedlinburg, Quedlinburg 2016, 21 kürzlich treffenderweise von einer „Rüstkammer der Könige“.
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In diesem Zusammenhang steht neben dem Ilsestein in jüngster Zeit eine weitere Burgstelle im ehemaligen Harzgau als vermuteter Standort einer spätsalischen Reichsburg im Blickpunkt aktueller Forschungen. Weniger als zehn Kilometer von der Reichsburg Ilsestein entfernt erhebt sich der im 15. Jahrhundert urkundlich noch so genannte Burgberg (Borcherch) über der Ortschaft Darlingerode32. In einer Höhenlage von 120 Metern oberhalb der von Ottonen und Saliern genutzten Königsstraße am Harz33, natürlich geschützt von felsigen Steilhängen, von sonstigen Siedlungsformen weitgehend abgeschnitten und in Waldabgeschiedenheit, liefert die auf der Bergkuppe vermutete Burganlage gewichtige Anhaltspunkte im Sinne des oben angeführten Rasters zum spätsalischen Burgenbau. Der jüngste Fund von granitischem Fremdgestein mit Bearbeitungsspuren im Bereich unterhalb der Bergkuppe, teilweise versetzt mit Mörtelresten34, erhärtete die Vermutung einer weiteren Burganlage – eines castellum – mit wenigstens massivem Sockelmauerwerk im Gebiet des ehemaligen Harzgaus. Die spärlichen Bodenfunde und fehlenden oberflächlichen Befestigungsspuren deuten auf eine eher kurze Nutzungsdauer hin, die sich zwischen dem Beginn des Burgenbauprogramms Heinrichs IV. (um 1068) und der durch den Frieden von Gerstungen erzwungenen Zerstörung der Anlagen (1074) zeitlich eingrenzen lässt. Zudem erweist sich die regionale Stellung des zuletzt bezeugten Besitzers am Burgberg gleichermaßen als Ansatzpunkt für die Frage nach dem Reichsgut. Hans Stesies aus der Ministerialenfamilie der Stacius war der letzte Lehensträger, der dieses Objekt von dem bedeutenden Harzgrafengeschlecht von Wernigerode bis 1413 zu Lehen erhalten hatte35. Gleichzeitig waren die Ministerialen von Stasius/ Stesies bis 1402 mit den ursprünglichen Reichslehen der zur Reichsburg Alardstein gehörenden anderthalb Hufen in der Ortschaft Wollingerode sowie mit den weiteren Reichslehen über die Holzflecken bei der Stapelburg, am Alardstein und 32 Auf dem sogenannten Burgberg bei Darlingerode sind keine oberflächlichen Befestigungsspuren mehr erhalten. Bisher war die Existenz einer Burganlage daher umstritten. Die Stelle wird derzeit erforscht von der Arbeitsgruppe Burgberg des Fördervereins zur Pflege der Heimatgeschichte und des Brauchtums Darlingerode e. V. in Abstimmung mit dem Landesamt für Archäologie und Denkmalpflege Sachsen-Anhalt sowie mit der Unteren Denkmalschutzbehörde Sachsen-Anhalt. Zum Überblick vgl. den Artikel von FRIEDRICH STOLBERG: Befestigungsanlagen im und am Harz von der Frühgeschichte bis zur Neuzeit (= Forschungen und Quellen zur Geschichte des Harzgebietes 9), Hildesheim 1968, 200 f. Bisher unveröffentlicht ist das in der Harzbücherei Wernigerode aufbewahrte Manuskript von GERHARD KÖHLER, HORST FOERSTER: Der Darlingeröder Burgberg und die Ahlsburg im Eckertal um 1400 als Lehen im Besitz des Wernigeröder Ministerialen Hans Stesies. Ein Vergleich beider Lehen. Manuskript, Magdeburg 2002. 33 HABERMANN: Raumerfassung (wie Anm. 3), 86 f. 34 Hierzu der umfassende Prospektionsbericht I beim Förderverein zur Pflege der Heimatgeschichte und des Brauchtums Darlingerode e. V.: JAN HABERMANN: Der Burgberg/Kapitelsberg bei Darlingerode. Zur Frage einer Höhenburg des 11. Jahrhunderts nach neuesten Untersuchungen. Ein Prospektionsbericht für den Zeitraum der Jahre 2017/2018. Der beim Förderverein vorliegende Bericht erscheint als elektronische Ressource für den öffentlichen Zugriff unter https://www.komturhof-darlingerode.de. 35 Urkundenbuch der Stadt Wernigerode bis zum Jahre 1460 (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 25), Halle 1891, Nr. 262.
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bei Veckenstedt belehnt36. Die offenbar ursprünglich der Reichsministerialität entstammende Familie Stesies erscheint nicht nur dort, im Eckertal des Harzgaus, mit der Aufsicht über die einstmals dem Reich zustehenden Holznutzungsrechte betraut37, sondern auch unterhalb der Burgstelle bei Darlingerode, die ebenfalls als wirtschaftlich bedeutender Forstort überliefert ist38. Das südlich hinter dem Burgberg bei Darlingerode gelegene Sandtal ist aus neuzeitlichen Quellen zur Wiederaufnahme des Kupfer- und Silbererzabbaus als Gebiet des wahrscheinlich ursprünglich mittelalterlichen Bergbaus39 bekannt und wurde noch bis in das 17. Jahrhundert hinein als umfassendes Nutzungsgebiet behandelt, zu welchem der Burgberg mit seinen Waldberechtigungen gehörte. Die wirtschaftlich nutzbaren Waldreviere des Heinrichstals wurden mit dem Umfeld des Darlingeröder Burgbergs urkundlich in Verbindung gebracht und erhielten anlässlich eines Kaufvertrags durch den Grafen Wolf Ernst von Stolberg-Wernigerode im Jahr 1605 nähere Kennzeichnung als ein jagdrechtlich von alters her besonders geschütztes Forstrevier40, das einstmals Bestandteil des königlichen Bannforstes im Harz gewesen sein dürfte41. Weiterhin war an der Talmündung des interessierenden Gebiets zwischen den ottonischen Klöstern Drübeck und Ilsenburg – nördlich der betreffenden Waldgebiete – die Infrastruktur durch Königsstraßen seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts ausgeprägt und markierte damit zusätzlich den einstmals angrenzenden königlichen Besitz42. Demnach befand sich im behandelten Zeitraum das oftmals nur oberflächlich bezeichnete Reichsgut am Harz in Form zusammenhängender Waldreviere im Hinterland des Burgberges bei 36 Urkundenbuch des in der Grafschaft Wernigerode gelegenen Klosters Ilsenburg. Erste Hälfte. Die Urkunden vom Jahr 1003–1460 (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 6/1), Halle 1875, Nr. 265. 37 Vgl. hierzu den erhaltenen Lehnbrief Kaiser Karls IV. für Alard von Burgdorf vom 9.11.1357: Monumenta Germaniae Historica. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum [künftig MGH Const.] 12, Wiesbaden 2013, Nr. 196. 38 KÖHLER, FÖRSTER: Burgberg (wie Anm. 32), 2 f. 39 Ebd.: 20–24, 26–28. 40 Urkundenbuch der Deutschordens-Commende Langeln und der Klöster Himmelpforten und Waterler in der Grafschaft Wernigerode (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 15), Halle 1882, Nr. 97 (11.11.1605), 1672 annullierter Kaufvertrag zwischen dem Grafen Wolf Ernst von Stolberg-Wernigerode und dem Ordenskomtur Hoyer von Lauingen bezüglich des dannenholtz ahm Borgkberge oberhalb Derblingereuroda gelegen [...] und dan noch eine schmahle striepe, van altters her die Forsterei im Heinrichsthael genandt, ziehet zwuschen des ordens holtz und dem Meineberge hienauff biß ahn das Sandthael [...] wie sie dan auch ahn beiden orttern vogel, auch in der bach daselbst der Forsterei biß uff daß Derblingerodesche gehege, und weitters nicht, fische zu fahen bemechtigt sein sollen. 41 Sachsenspiegel Landrecht (= Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris germanici antiqui. Nova series I/1), Göttingen u. a. 1955, 180, II 61 § 2: Doch sint dre stede binnen Sassen, dar den wilden diren vrede gewarcht is bi koninges bannde, sunder beren unde wolven unde vossen; dit hetet banvorste. Dat ene is [...] de andere de Hart. 42 PIERRE FÜTTERER: Wege und Herrschaft. Untersuchungen zur Raumerschließung und Raumerfassung in Ostsachsen und Thüringen im 10. und 11. Jahrhundert (= Palatium. Studien zur Pfalzenforschung in Sachsen-Anhalt 2,1), Regensburg 2016, 156–159 sowie Anhang Karte 52.
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Darlingerode (im Sand- und Heinrichstal) ebenso wie bei den konkreter überlieferten Reichsburgen Ilsestein (im Ilsetal) und Alardstein (im Eckertal). Es ist bezeichnend für den spätsalischen Burgenbau im Harzgau, wenn von diesen Höhenburgen auf ihren markant exponierten Baulagen jeweils über den Talmündungen des Gebirges eine Kontrolle und Überwachung der natürlichen Zugänge zu den Reichsforsten im Harzinneren mit ihren (Holz- und Erz-) Ressourcen sowie Wildbeständen erfolgen konnte43. Die Kette dieser oftmals nicht mehr als fünf bis zehn Kilometer voneinander entfernten Burgen lässt eine regelrechte Demarkationslinie am Rand des königlichen Besitzes erkennen (Karte 1), die mit der politischen Situation erklärbar ist. Die erstmals unter Heinrich IV. konkret überlieferte Wahrung und intensivere Nutzung königlicher Ressourcen am Harz hatte den systematischen Schutz wirtschaftlicher Machtgrundlagen im sich verschärfenden Konflikt mit der sächsischen Opposition erforderlich gemacht. Die Verherrschaftung des Harzgaus durch königlichen Burgenbau ist als ein Prozess aufzufassen, der in erster Linie auf raumwirksame Sicherung des im inneren Harz gelegenen Bannforstes mit seinen empfindlichen Rohstoffquellen gegenüber dicht angrenzenden Fremdeignern (Adel und Klöster) ausgerichtet war, von denen Übergriffe befürchtet wurden. In den Augen der Zeitgenossen aus dem königsfeindlichen sächsischen Lager wiederum mussten die schwer einnehmbaren Höhenburgen auf den weithin sichtbaren Berggipfeln mit ihrer abschreckenden Wirkung jedoch wie Symbole einer geplanten Unterwerfung des sächsischen Stammes erscheinen. Als solche waren diese eher kleinräumigen steinernen Befestigungswerke allerdings weder in ihrer landschaftlich isolierten Lage noch mit ihren Burgbesatzungen von Reichsministerialen als Kristallisationskerne neuer Herrschaften geeignet. Aber auch für den Schutz königlicher Rechte und Interessen war das oftmals so bezeichnete Burgen43 Abgesehen von den hier beispielhaft herausgestellten Reichsburgen treffen diese topographischen Charakteristika ebenso auf weitere Burgstellen im Harzgau zu, die entweder nicht oder nur unzureichend urkundlich belegt sind, jedoch schon früher als königliche Burgen der Salierzeit angesprochen wurden. Darunter die Harburg bei Wernigerode über dem Nöschenröder Tal mit dem zur Königspfalz Bodfeld führenden „Trockweg“: WALTHER GROSSE: Alte Straßen um Bodfeld. In: Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde 74/75 (1941/42), 1–25, hier 4–10, insbes. 8 f.; STOLBERG: Befestigungsanlagen (wie Anm. 32), 131 f. Im bzw. in der Nähe des Bodetals, dem östlichen Grenzgebiet des Harzgaus, sind es mehrere Burgruinen und Burgstellen, deren Bauweise und Topographie auf eine ursprüngliche salierzeitliche Anlage schließen lassen: Stecklenburg bei Quedlinburg (ebd. 383 f.), ebenso dort die Ende des 12. Jahrhunderts als Reichsburg nachweisbare Große Lauenburg: WALTHER GROSSE: Geschichte der Lauenburg. In: DERS., HERMANN GOERN, HERMANN WÄSCHER (Hg.): Die Lauenburg im Ostharz (= Forschungen zur Denkmalpflege in der Provinz Sachsen 1), Querfurt 1940, 30–57; kritisch hierzu (wenngleich nach rein subjektiven Kriterien in der Spätdatierung zu stark festgelegt): REINHARD SCHMITT: Die Lauenburg im Harz und der frühe Burgenbau im ostfälischen Raum. In: HANS HEINRICH HÄFFNER (Hg.): Neue Forschungen zum frühen Burgenbau (= Forschungen zu Burgen und Schlössern 9), München 2006, 167–180. Darüber hinaus wurde bei Goslar nach Lampert von Hersfeld im Jahr 1075 auf Befehl König Heinrichs IV. die Burg auf dem Steinberg in Gipfellage errichtet: HABERMANN: Raumerfassung (wie Anm. 3), 82 f.
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programm Heinrichs IV. kein Instrument von Dauer. In und um den Harzgau traten ab dem beginnenden 12. Jahrhundert dagegen zur Herrschaft befähigte Adelige mit Geschlechternamen hervor, die nach festen Wohnsitzen hin orientiert waren und zuerst als Stütze des Königtums gedient hatten. In diesem Kontext liefert Bruno von Merseburg als kenntnisreicher Zeitgenosse einen entscheidenden Hinweis auf die Vergabe jener Reichsburgen und Befestigungswerke an Anhänger König Heinrichs IV., die nach der Unterwerfung der Sachsen im Gefolge der Schlacht von Homburg (1075) wiederaufgebaut worden waren. Da diese Anhänger, wie es heißt, durch den König dazu ausersehen waren, mit diesen Burgen in der Region Sachsen zu herrschen, können an der adeligen respektive edelfreien Abkunft dieser Anhänger keine Zweifel bestehen: Tunc urbes et castella, vel quascumque munitiones adhunc habebat Saxonia, suis sequaxibus commendavit et, ut per totam regionem tyrannidem exercerent, imperavit (Brunonis Liber de Bello Saxonicum, cap. 56, 52). Die vom letzten Salier Heinrich V. ebenso wie vom sächsischen König Lothar III. und später auch von Friedrich I. Barbarossa fortgesetzten Maßnahmen der Herrschaftssicherung in Sachsen unter Rückgriff auf bestimmte Adelsfamilien leisteten insbesondere am Harz strukturell der Formierung neuer regionaler Machtkomplexe Vorschub, bei denen der neue Adel im Harz mit eigenen Herrschaftsbildungen an die vom Königtum geschaffenen (Re-)Organisationen von Grafschaft und Reichsgut anknüpfte. Dies soll im Folgenden aufgezeigt werden. III. Fern der Grafschaft – die Stammburgen der Harzgrafen Erstmals für die Zeit kurz nach der Mitte des 13. Jahrhunderts wird in der zeitgenössischen Historiographie eine Gemeinschaft von Grafen und Edelherren begrifflich überliefert, die sich im schlagkräftigen Bündnis gegen den ihre Herrschaft bedrohenden Welfenherzog Albrecht I. den Langen (1236–1279) engagiert hatte: die „Harzgrafen“44. Im Jahr 1285 erscheinen diese als nobiles de Harttone ein weiteres Mal urkundlich im Bündnis mit den Erzbischöfen von Köln und Magdeburg und werden dabei im Einzelnen aufgezählt: Es finden sich hier der Reihe nach die Geschlechternamen von Wernigerode, von Querfurt, von Regenstein, von Blankenburg, von Hadmersleben, von Barby, von Mansfeld, von Falkenstein und von Arnstein45. Während die von Querfurt, von Hadmersleben und von Barby in späterer Zeit entweder durch Aussterben oder durch Rückfall in die politische Bedeutungslosigkeit aus dem engeren Kreis der führenden Harzgrafengeschlechter ausschieden, konnten vor allem die Grafen von Wernigerode, von Blankenburg-Regenstein respektive Regenstein-Heimburg, von Mansfeld, von Arnstein und Falkenstein im nördlichen bzw. nordöstlichen Harz ihre landschaftliche Dominanz 44 Braunschweigische Reimchronik. In: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 2, Hannover 1877, 566 f. 45 Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe 2 (= Publikationen aus den königlich-preußischen Staatsarchiven 21), Leipzig 1894, Nr. 1458.
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aufrecht erhalten. Für deren Geschichte, aber auch für die Frage nach dem Reichsgut im Kontext von Burg und Herrschaft im Harz, muss beachtet werden, dass diese im 13. Jahrhundert so bezeichneten Harzgrafen nicht identisch sind mit den in der Forschungsliteratur manchmal so benannten „Harzgrafen“ aus dem Kreise der frühmittelalterlichen Immedinger-Sippe oder den im westlichen Harzgau bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts als Gaugrafen eingesetzten Süpplingenburgern46. Vielmehr ist gemäß der vorliegenden Befunde zur süddeutschen Herkunft dieser Geschlechter anzunehmen, dass erste Angehörige der erst im 12. Jahrhundert namentlich fassbar werdenden Grafen von Wernigerode, von Blankenburg und von Arnstein die alteingesessenen sächsischen Adelssippen in der Herrschaft abgelöst hatten. Bemerkenswert sind vor diesem Hintergrund insbesondere die Neuordnungen im Harzgau, die Heinrich III. und Heinrich IV. mit der Übertragung von Gaugrafschaften zuerst an das Bistum Halberstadt sowie schließlich zu Gunsten des mit den Saliern politisch enger verbundenen Bistums Hildesheim durchgesetzt hatten47. Derartige Amtsübertragungen in Bischofshand dienten nicht etwa einer rigorosen Ausschaltung der bisher dort eingesessenen Amtsträger aus den Kreisen sächsischer Familien. Sie versetzten den Reichsbischof allerdings in eine übergeordnete Position, die es diesem gestattete, in Abwesenheit des Königs Nutzungs- und Kontrollrechte, aber auch Lehensbefugnisse wahrzunehmen – auch in herrschaftserweiternder Zielrichtung gegenüber dem dort eingesetzten Adel48. Es entspricht der sich andeutenden Strategie der Verherrschaftung durch das spätsalische Königtum, wenn in den nördlichen Gauen des Harzes um 1100 die ersten Vertreter der aus Süddeutschland stammenden Harzgrafenfamilien als neu eingesetzte Herrschaftsträger erscheinen. Im Falle etwa des Aufstiegs der Grafen von Mansfeld im 11. Jahrhundert lässt sich anhand der vorliegenden urkundlichen und historiographischen Zeugnisse rekonstruieren, wie diese durch Heinrich IV. im Hassegau als „Reichsgrafen“ am Nordostharz eingesetzt worden waren49. Dies ist für die Grafen von Arnstein im Nordthüringengau und für die Grafen von Wernigerode im Harzgau bisher ebenfalls vermutet worden, wenngleich der eindeutige Nachweis durch die erhaltenen Quellen nicht mehr mit letzter Sicherheit zu erbringen ist. Anders als bisher behauptet, wurden die Grafen von Arnstein aus der mächtigen schwäbischen Sippe der Steußlinger mit ihrem ersten Vertreter Walther I. von Arnstedt in einem Gebiet des nordöstlichen Harzes ansässig, in dem sich in Bezug auf den Bergbau noch im 15. Jahrhundert durchaus Reichs46 Zu den früh- und hochmittelalterlichen Harzgrafen (eigentlich richtiger Harzgaugrafen) CASPAR EHLERS: Die Integration Sachsens in das fränkische Reich 751–1024 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 231), Göttingen 2007, 171 f. 47 HARTMUT HOFFMANN: Grafschaften in Bischofshand. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 46 (1990), 375–480, hier 402–411. 48 WOLFGANG HEINEMANN: Das Bistum Hildesheim im Kräftespiel der Reichs- und Territorialpolitik, vornehmlich des 12. Jahrhunderts (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 72), Hildesheim 1968, 68. 49 ANDREAS STAHL: Art. Mansfeld. In: WERNER PARAVICINI (Hg.): Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich: Grafen und Herren 2 (= Residenzenforschung 15/IV, 2), Ostfildern 2012, 965 f., FEICKE: Mansfeld (wie Anm. 3), 81 f.
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rechte erkennen lassen50. Bei den Grafen von Wernigerode ist eine Abstammung von den Steußlingern ebenfalls plausibel zu machen, wenn der personengeschichtliche Befund berücksichtigt wird, dass der Wernigeroder Spitzenahn Adalbert mit einem der 1107 urkundlich bezeugten Söhne der Steußlinger-Witwe Judith51 identifiziert werden darf, der, anders als seine Brüder Walther, Werner und Adalbero, urkundlich sonst nicht weiter zu verfolgen wäre – es sei denn, er wäre mit jenem comes Athelbertus gleichzusetzen, welcher als einziger bezeugter Träger dieses Namens in diesem Gebiet 1112 neben seinem Bruder Adelbero im Gefolge Kaiser Heinrichs V.52 und erstmals 1129 am Hof König Lothars III. zu Goslar sicher als Graf von Wernigerode53 belegt ist. Die gemeinsame Sippenabstammung der Wernigeroder und Arnsteiner wird zudem angezeigt durch die Veräußerung gemeinschaftlichen Besitzes an das Reichsstift Quedlinburg Ende des 12. Jahrhunderts – bezeichnenderweise durch Adalbert III. (von Wernigerode) und Adalbero III. (von Arnstein-Biesenrode)54, die damit als Nachfahren in der dritten Generation dieselben Rufnamen trugen wie die Spitzenahnen ihrer jeweiligen Geschlechter. Daraus ließe sich folgern, dass die ursprüngliche Einsetzung schwäbischer Steußlinger in ihre markanten regionalen Stellungen zuerst durch königliche Delegation geschehen war55, was den mannigfachen Hinweisen auf schwäbische Helfer in der zeitgenössischen Chronistik, aber schlichtweg auch den obrigkeitlichen Zuständigkeiten bei Verfügungen über diese Kernzone der Königslandschaft Harz entsprechen würde.
50 Es handelt sich um Silberberwerke von Rammelburg und Arnstedt, die – inmitten des ehemaligen Herrschaftsbereichs der Grafen von Arnstein gelegen (HEINRICH: Arnstein [wie Anm. 6], Anhang Karte 1) – im 15. Jahrhundert den Grafen von Mansfeld als Reichslehen bestätigt werden: FEICKE: Mansfeld (wie Anm. 3), 84. 51 Urkundenbuch des Erzstifts Magdeburg 1 (937–1192) (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaats Anhalt, Neue Reihe 18), Magdeburg 1937, Nr. 189; HEINRICH: Arnstein (wie Anm. 6), 10. 52 MGH DD H V Nr. 103 (16.06.1112) (digitale Vorabversion: http://www.mgh.de/ddhv [28.06. 2018]). 53 WOLFGANG PETKE: Kanzlei, Kapelle und königliche Kurie unter Lothar III. (1125–1137) (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 5), Köln 1985, 153. 54 Codex Diplomaticus Quedlinburgensis, Frankfurt a. M. 1764, Nr. 49 (1199). 55 HEINRICH: Arnstein (wie Anm. 6), 471; HABERMANN: Wernigerode (wie Anm. 8), 25 f.
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In jedem Fall befanden sich die namensgebenden Stammburgen der wahrscheinlich um 1100 zugewanderten Harzgrafen als Höhenburgen in jeweils ähnlicher Bauweise und Höhenlage am engeren Gebirgsgürtel des Nordharzes56 und damit in jenem Gebiet, das zuvor von den eingangs behandelten Maßnahmen des königlichen Burgenbaus sowie von den administrativen Neuordnungen der letzten Salier erfasst worden war. Zum Teil bestand sogar eine unmittelbare Nachbarschaft zu noch im 12. Jahrhundert intakt gewesenen Reichsburgen der Stauferzeit (Karte 1).
Karte 1: Reichsburgen, Reichsgut und Dynastenburgen im nördlichen Harz des 11. und 12. Jahrhunderts (Entwurf und Ausführung: Jan Habermann 2018).
Bei der wichtigen Frage nach der Zeitstellung im Verhältnis von Reichsburg und Dynastenburg ist zu bedenken, dass die festere Zubezeichnung der ersten Harzgrafen nach den jeweiligen Stammsitzen zwar in einem Zeitabschnitt erfolgt war, in welchem nur noch wenige der einst von Heinrich IV. errichteten Reichsburgen in Benutzung waren57. Als ebenso wahrscheinlich kann es gleichwohl gelten, dass die frühesten schwäbischen Steußlinger bereits in der Regierungszeit Heinrichs IV. im Bereich ihrer späteren Stammherrschaften zuerst als Amtsträger eingesetzt waren. Dafür spricht nicht nur der urkundlich klar überlieferte Einzelfall 56 Die Burg Wernigerode der Grafen von Wernigerode in Höhe von 360 Metern NN über der Stadt Wernigerode: STOLBERG: Befestigungsanlagen (wie Anm. 32), Nr. 471; die Blankenburg der Grafen von Blankenburg bei 306 Meter NN: HEINZ ALBERT BEHRENS: Die Burgen der Blankenburg-Regensteiner Grafen. In: Harz-Zeitschrift 54/1 (1993), 35–63, hier 37 f. Zum Arnstein als Höhenburg der Grafen von Arnstedt-Arnstein: STOLBERG: Befestigungsanlagen (wie Anm. 32), 24 f. 57 Die Ersterwähnung eines Grafen von Wernigerode erfolgte im Jahr 1103: Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe 1 (= Publikationen aus den königlich-preußischen Staatsarchiven 65), Leipzig 1896, Nr. 158, mit konkreter Zubenennung schließlich im Jahr 1129: MGH DD Lo III., Nr. 21. Der erste Graf Walther III. von Arnstein 1135: HEINRICH: Arnstein (wie Anm. 6), 12. Im Jahr 1133 erstmals Graf Poppo von Blankenburg: FENSKE, SCHWARZ: Lehnsverzeichnis (wie Anm. 5), 35–41.
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des Steußlingers Lantfried58, sondern auch die wichtige Beobachtung, dass die Harzgrafen von Wernigerode, von Arnstein und von Falkenstein ihre Stammsitze in einem waldreichen Gebiet des engeren Harzgebirges gründeten, in welchem sie bis in das späte Mittelalter hinein keine Grafschaft im rechtlichen Sinne verwalteten. Die eigentliche Grafschaft der Grafen von Arnstein befand sich in einigen Kilometern Entfernung nordöstlich von ihren Stammburgen Arnstedt und Arnstein im Nordthüringengau59. Dasselbe gilt für die Grafen von Falkenstein, die nicht etwa im Umfeld ihrer Höhenburg (Neuer) Falkenstein Grafschaftsrechte ausübten, sondern (ebenso wie die Grafen von Arnstein) im Nordthüringengau bzw. bei Wolmirstedt südlich der Ohre60. Die Grafen von Wernigerode nannten ihre Burg und die unterhalb davon gelegene Stadt Wernigerode im 13. Jahrhundert ihr Eigentum, während noch bis 1272 die Wernigeroder Grafschaft im Derlingau südöstlich von Braunschweig bestand61. Das Beispiel des Walther von Arnstedt, dessen gleichnamiger Sohn sich ab 1135 nach der neuen namensgebenden Höhenburg Arnstein zubezeichnen ließ62, führt vor Augen, wie diese Harzgrafen bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts entweder neue symbolkräftige und statusbetonende Burgen auf den Anhöhen des Harzes gründeten oder diese ohnehin von Anfang an besaßen. Ein gleichzeitiges enges Nebeneinander von Dynastenburgen der Harzgrafen und Reichsburgen der deutschen Könige bestand im Harzgau in erneuerter Form nach dem Sturz Heinrichs des Löwen 1180/81 beziehungsweise mit der nachfolgenden Wiederherstellung der Harzburg als staufische Reichsburg, wobei diese den Grafen von Wohldenberg zu Lehen gegeben wurde63. Die Stammherrschaften der Wernigeroder, Blankenburger, Falkensteiner und Arnsteiner umfassten Ende des 12. Jahrhunderts Besitzkomplexe territorial vergleichsweise bescheidenen Zuschnitts, die – abgesehen von dem typischen Streubesitz an Hufen und Höfen in den Niederungen – im Nahbereich ihrer mächtigen Stammburgen von zusammenhängenden Forsten bis hinauf zu den Anhöhen des Harzes gekennzeichnet waren. Was für die Grafen von Blankenburg-Regenstein aus deren Lehnsregister von 1217/1227 eindeutig hervorgeht, deutet sich bei den Stammherrschaften der benachbarten Harzgrafen zumindest an: Diese Forstherrschaften gehörten, sofern sich diese hauptsächlich über die Anhöhen des Gebirges
58 MGH DD H IV. 265 Nr. 207 (05.08.1068) – ANSELM HEINRICHSEN: Süddeutsche Adelsgeschlechter in Niedersachsen im 11. und 12. Jahrhundert. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 26 (1954), 24–116, hier 71. 59 HEINRICH: Arnstein (wie Anm. 6), 278–296. 60 JOACHIM SCHYMALLA: Die Grafen von Falkenstein im Mittelalter. In: BOJE E. HANS SCHMUHL, KONRAD BREITENBORN (Hg.): Burg Falkenstein (= Schriftenreihe der Stiftung Dome und Schlösser in Sachsen-Anhalt 4), Dössel 2006, 11–35 hier 18 f.; LEOPOLD VON LEDEBUR: Die Grafen von Valkenstein am Harze und ihre Stammesgenossen, Berlin 1847, 23– 29. 61 SIGURD ZILLMANN: Die welfische Territorialpolitik im 13. Jahrhundert (1218–1267) (= Braunschweigische Werkstücke 52. Reihe A: Veröffentlichungen 52), Braunschweig 1975, 106 f. 62 HEINRICH: Arnstein (wie Anm. 6), 12. 63 PETKE: Wohldenberg (wie Anm. 8), 328 f.
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erstreckten, ursprünglich zum Reichsforst des Harzes64. Obwohl von den sämtlichen übrigen Harzgrafengeschlechtern keine verlässlichen Besitzverzeichnisse überliefert sind, zeigt sich in der urkundlichen Besitzrekonstruktion, wie seit Beginn des 13. Jahrhunderts bei den Harzgrafen Eigenbesitz geschäftlich mobilisiert wird, der entweder zuvor eindeutig als Reichsgut fassbar ist oder dessen Art und Lage wenigstens mittelbar darauf schließen lässt65. Obwohl noch 1223 Kaiser Friedrich II. in einer politisch hochrangigen Angelegenheit die Harzgrafen von Wernigerode, Blankenburg und Regenstein mit ihren Stammburgen in seine politischen Handlungen verpflichtend einbinden konnte66, war die Eingliederung ehemaliger Reichsgutbezirke am Harz in regional gefestigte Machtkomplexe mit den Grundelementen von Burg und Forstherrschaft nach freiem Eigentum bis auf punktuelle Rechte um 1200 abgeschlossen. Das spätstaufische Kaisertum konnte die mächtigen Harzgrafen um 1244/50 nur noch mit jährlichen Geldrenten aus der Goslarer Reichsvogteikasse motivieren, Schutzdienste für die Hütten- und Waldarbeiter im Harz zu übernehmen67, jedoch nicht mehr auf der Grundlage von ehemals verliehenen liegenschaftlichen Reichsgütern. Dennoch haben bemerkenswerterweise zumindest drei große Harzgrafengeschlechter, die von Wernigerode, von Mansfeld und von Schwarzburg(-Blankenburg), noch im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts eine Bindung an das Reich unter König Ludwig dem Bayern aufrecht erhalten, wobei die Bestätigung und weitere Delegation einzelner Reichsrechte und Patronate überliefert ist68. Aber nicht nur in den bisher wenig erforsch64 FENSKE, SCHWARZ: Lehnsverzeichnis (wie Anm. 5), 514–518, insbes. 518. 65 Dies betrifft die ursprünglich zur Reichsburg Harzburg gehörenden Burgsitze und die jener Burg zugehörenden Bergwerke und Ortschaften im Besitz der Grafen von Wernigerode am Nordwestharz: HABERMANN: Wernigerode (wie Anm. 8), 49–57, 88. Mit Blick auf den ursprünglichen Besitz der Grafen von Arnstein bislang nicht beachtet wurden die im 15. Jahrhundert erst urkundlich erwähnten Reichsrechte an Silberbergwerken bei Arnstedt und Rammelburg im Kernbereich der Stammherrschaft der Grafen von Arnstedt-Arnstein: FEICKE: Mansfeld (wie Anm. 3), 84. 66 MGH Const. 2, Nr. 98 (04.09.1223). 67 MICHAEL SCHOLZ: Vom Reichsvogt zum Stadtvogt. Zur Geschichte eines Amtes und der Goslarer Gerichtsverfassung im Mittelalter. In: DIETER PÖTSCHKE, WILHELM BRAUNEDER, GERHARD LINGELBACH (Hg.): Stadtrecht, Willküren, Polizeiverordnungen 1: Goslar und Wernigerode (= Harz-Forschungen 32), Berlin 2017, 62–78, insbes. 64–66. 68 Hierzu: Regesten Kaiser Ludwigs des Bayern (1314–1347) 11: Die Urkunden aus den Archiven und Bibliotheken Berlins, Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns, Sachsens, Sachsen-Anhalts, Thüringens, Köln u. a. 2018, Nr. 48 (Lehnbrief an Graf Burkhard V. von Mansfeld vom 22.01.1323); Nr. 49 (Lehnbrief an die Grafen Heinrich VI. und Günther VII. von Schwarzburg); Nr. 68 (Lehnbrief an Graf Friedrich II. von Wernigerode von 1323 Mai 4); Nr. 87 (Schuldbrief um vergangene und künftige Reichsdienste der Harzgrafen von Schwarzburg, Hohnstein, Mansfeld und Wernigerode vom 21.08.1323). Ich danke vielmals Frau Dr. Doris Bulach, der Bearbeiterin der Regesten, für ihre freundliche Unterstützung und für die Einsichtnahme in das Manuskript. – Zu ergänzen sind im betreffenden Kontext die aufgeführten Regesten noch mit: Urkundenbuch der Stadt Goslar und der in und bei Goslar gelegenen geistlichen Stiftungen 3 (1301 bis 1335) (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 31), Halle 1900, Nr. 890 (15.06.1331): Rückruf eines durch Kaiser Ludwig IV. erteilten Schutzauftrags der Grafen Konrad III. von Wernigerode und Burchard V.
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ten spätmittelalterlichen Bezügen der Harzgrafen zum geographisch entfernten römisch-deutschen Kaisertum offenbart sich das traditionelle Bewusstsein von Reichsnähe dieser Familien, sondern auch im Festhalten an jenen Stammburgen abseits der Grafschaften, welche als Höhenburgen den hochadeligen Status inmitten der ehemaligen Königslandschaft Harz demonstrierten. IV. „Hirten“ im Herrschaftsgeflecht – die Bischöfe von Halberstadt Als vierter politischer Machtfaktor im hochmittelalterlichen Harz ist neben dem Königtum, vorübergehend dem Herzogtum Heinrichs des Löwen sowie den aufsteigenden Harzgrafen das Hochstift Halberstadt zu nennen. Für die im 12. Jahrhundert amtierenden Bischöfe von Halberstadt ist zunächst festzuhalten, dass deren politische Geltung in der Region im Gegensatz zu Königtum und Adel nicht aus dem Komplex von Burg und Herrschaft resultierte. Außerhalb ihrer Kathedralstadt und der in deren Umfeld etwa 1151 erbauten Burg auf dem Langenstein69 verfügten die Bischöfe von Halberstadt speziell im Harzgau während der Pontifikate bis hin zu Albrecht I. von Anhalt (1304–1324) offenbar nicht über eigene Burgen, die als Ausgangspunkte für Verherrschaftungen hätten genutzt werden können. Unterstützt wird dieser bei systematischer Durchsicht der Urkunden sich ergebende Negativbefund durch die gleichzeitig feststellbare Strukturierung der bischöflichen Grundherrschaft, welche bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts ausschließlich in Villikationen und noch nicht in Burgzubehörungen organisiert war70. Stattdessen war im Hochmittelalter ein über den nördlichen Harz ausgebreiteter Lehensnexus der Bischöfe von Halberstadt dafür verantwortlich, dass die politisch bedeutenderen Harzgrafen von Wernigerode, von Blankenburg-Regenstein und von Arnstein in deren Gefolgschaft gezogen wurden. Bereits im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts begegnen Angehörige dieser Familien als Lehensleute in den Urkunden der Halberstädter Bischöfe71. Ausschlaggebend hierfür waren die weiter oben gekennzeichneten Grafschaftsrechte dieser Dynasten, welche sich nicht im Umfeld der Stammburgen am Harz, sondern in den weiteren Harzvorlanden aufspüren lassen und vor allem im Harzgau beim Hochstift Halberstadt zu Lehen gingen72.
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von Mansfeld gegenüber der Reichsstadt Goslar. Die Zuteilung dieses bemerkenswerten Schutzauftrags als eine Form der Statthalterschaft für den Kaiser dürfte sich zwischen dem 4. Mai – dem Zeitpunkt der Belehnung Graf Friedrichs II. (vgl. oben) – und dem 5. August 1323 – dem Datum eines Zeugendienstes Graf Konrads III. von Wernigerode für Kaiser Ludwig zu Arnstadt (RI Ludwig des Bayern [vgl. ebd.], 45 Nr. 77) ereignet haben. STOLBERG: Befestigungsanlagen (wie Anm. 32), 231 f. MICHAEL SCHOLZ: Der Bischof als Landesherr. Zur Entwicklung des Hochstifts Halberstadt zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Territorium. In: Harz-Zeitschrift 63 (2011), 25–50, hier 28 f. HEINEMANN: Hildesheim (wie Anm. 48), 328; FENSKE, SCHWARZ: Lehnsverzeichnis (wie Anm. 5), 35, 55. Vgl. hierzu oben die Darstellungen im vorangegangenen Kapitel.
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Zu beachten ist bei dieser eigenartigen Schwerpunktlagerung, dass die im 11. Jahrhundert erfolgten Grafschaftsschenkungen von Heinrich III. und Heinrich IV. an das Hochstift die Bischöfe von Halberstadt scheinbar mit Lehensbindungen zu den jeweils dort beauftragten dynastischen Amtsinhabern ausgestattet hatten73. Das betraf schließlich die aus Süddeutschland durch das Königtum herangezogenen Geschlechter, die in Rechtsnachfolge der altsächsischen Gaugrafen in neu gegliederten Gaubezirken zum einen mit ihren Stammburgen auf oder nahe Reichsgut des Harzes ansässig geworden waren, um Rechte des Königtums zu beaufsichtigen, zum anderen, mit der Ausübung der Grafschaftsrechten betraut, von den Bischöfen von Halberstadt als „Hirten“ des regionalen Herrschaftsgeflechts kontrolliert wurden. Unter dieser Voraussetzung entstanden im betreffenden Zeitraum keine wirklichen Konkurrenzverhältnisse zwischen Bischof und Harzgrafen; der Bischof war noch nicht darauf angewiesen, eine herrschaftssichernde Burgenpolitik in seinem eigenen geistlichen Hoheitsbereich zu betreiben. Vielmehr rückten Harzgrafen und Bischöfe in außenpolitischer Bedrängnis während des 13. Jahrhunderts noch enger zusammen und verstärkten ihre gegenseitigen Beziehungen74. Besonders eindrucksvoll ist das Beispiel des Grafen Walther V. von Arnstein, der sich in die Ministerialität Bischof Volrads I. von Halberstadt (1254–1295) begeben hatte75. Möglicherweise in Reaktion auf die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts zunehmenden Arrondierungsversuche der Harzgrafen innerhalb ihrer Stammherrschaften, insbesondere seitens der Grafen von Wernigerode und von Regenstein, wandte zuerst der aus dem anhaltinischen Grafengeschlecht stammende Bischof Albrecht I. von Halberstadt eine planvoll erscheinende Strategie des Burgenbaus und Burgenerwerbs im Harzgau an76. Die in der Nähe des Klosters Ilsenburg etwa zwischen 1304 und 1313 errichtete bischöfliche Wendeburg77 kann als erste Gegenmaßnahme des Hochstifts Halberstadt verstanden werden, den expansiven Bestrebungen der Grafen Albrecht V. und Friedrich II. von Wernigerode gegenüber dem Ilsenburger Kloster78 einen Riegel vorzuschieben. In weitaus stärkerem Maße nahm der Amtsnachfolger aus dem welfischen Herzogshaus, Bischof Albrecht II. von Halberstadt, das Machtmittel des Burgenbaus in Rivalität zu den Harzgrafen in die Hände, womit im gesamten 14. Jahrhundert ein langwieriges Ringen um Burg und Herrschaft als nunmehr festere Organisations73 HOFFMANN: Grafschaften (wie Anm. 47), 403 f. 74 UB Halberstadt 2, Nr. 1458: Bündnis der Harzgrafen mit Bischof Volrad von Halberstadt. 75 FRIEDRICH EMIL STRASSBURGER: Die Herren und Grafen von Arnstein. In: Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde 20 (1887), 116–148, hier 135. 76 CHRISTIAN VON SCHMIDT-PHISELDECK: Die Kämpfe um die Herrschaft im Harzgau während der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde 7 (1874), 297–319, hier 298–291. 77 UB Ilsenburg 1, Nr. 203. Das urkundlich ausführlich genannte und mit Zubehör beschriebene castrum des Bischofs ist weder in einem Burginventar verzeichnet noch archäologisch erforscht. 78 EDUARD JACOBS: Die Befehdung des Klosters Ilsenburg durch die Grafen Albrecht und Friedrich von Wernigerode 1309–1320. In: Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde 23 (1890), 355–415.
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einheiten der Territorialisierung einsetzte79, welches die politische Entwicklung der nördlichen Harzlandschaft nachhaltig bestimmte und einen weiteren Beitrag rechtfertigen würde, der an den vorliegenden anschließt. V. Zusammenfassung Die oft gestellte Frage nach dem Übergang des Reichsguts in den Besitz regionaler bzw. adeliger Gewalten80 wurde im vorliegenden Beitrag im Hinblick auf den nördlichen Harz mittels eines qualitativen Ansatzes verfolgt, für welchen Burgen im Kontext ihres näheren landschaftlichen Umfeldes die wesentlichen Indizien lieferten. Das übergeordnete Konzept der Verherrschaftung schloss dabei Parameter der Besitztopographie, der Infrastruktur und der Lagebeziehungen ein, um durch Burgen gefestigte Herrschaften des Königtums und des Adels im Gefüge etwaiger Reichsgutbezirke näher beschreiben zu können. Für den gewählten Untersuchungsraum sind folgende Ergebnisse festzuhalten: Das Königtum der letzten Salier hatte sich mit den durchaus zahlreich anzunehmenden Reichsburgen eines Herrschaftsinstruments bedient, das mit seiner landschaftserfassenden Funktion einer defensiven Flankierung von Reichsgutbezirken dienen sollte. Abgesehen von den im weiteren Raum Ostsachsens durch rechtmäßigen königlichen Burgenbau angezeigten Königsbesitz bestand das abzusichernde Reichsgut insbesondere am Harz in Form der Reichsforstreviere mit dem Königsbann, aber auch der darin ermittelbaren Stätten des Eisenerzabbaus – einer in dieser Region seit alters her begehrten Ressourcenquelle. Gleichzeitig machten diese Befestigungswerke (castella) auf Grund ihrer wirtschaftlichen Standortnachteile ständige Übergriffe auf angrenzende Grundherrschaften, die als Reichsgüter beansprucht wurden, zur Versorgung der Burgmannschaften notwendig. Die Zielrichtung dieser ersten landschaftlich überformenden Verherrschaftung des Harzes durch programmatischen Burgenbau wird über Einzelbeispiele des Harzgaus hinaus insbesondere anhand der regelrechten Demarkationslinie erkennbar, die sich bei der Zusammenstellung der gesicherten, wahrscheinlichen oder noch zu erforschenden salierzeitlichen Burgstellen entlang des nördlichen Harzgebirgsrands ergibt. Hinsichtlich der Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit dieser flankierenden Methode ist herauszustellen, dass selbst nach der zwischenzeitlichen Zerstörung sämtlicher Burgen nach dem erzwungenen Frieden von Gerstungen 1074 eine nicht näher bestimmbare Anzahl dieser Reichsburgen wiederherge79 HEINZ ALBERT BEHRENS: Die Burgen Bischof Albrechts II. von Halberstadt und Graf Albrechts II. von Regenstein-Heimburg als Ausdruck territorialen Machtstrebens in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts. In: ADOLF SIEBRECHT (Hg.): Geschichte und Kultur des Bistums Halberstadt. Symposium anlässlich 1200 Bistumsgründung Halberstadt, 24. bis 28. März 2004. Protokollband, Halberstadt 2006, 583–593. 80 Siehe hierzu die zusammengefasste Forschungsliteratur sowie die quantitative Methode bei ANDREAS CHRISTOPH SCHLUNK: Königsmacht und Krongut: Die Machtgrundlage des deutschen Königtums im 13. Jahrhundert – und eine neue historische Methode, Wiesbaden 1988, 3–19 sowie passim.
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stellt wurde und insbesondere im Harzgau gegenüber konkurrierenden Besitzmächten bis zum Ausgang der Regierungszeit Heinrichs IV. intakt waren (Reichsburg Ilsestein!). Unter welchen Bedingungen einige dieser Reichsburgen, wie die Harzburg oder die Große Lauenburg bei Thale, die kriegerischen Auseinandersetzungen des Königtums mit den Sachsen überdauerten, bisweilen mit einem eigenen Herrengeschlecht greifbar werden bzw. in späterer Zeit sogar vom staufischen Königtum erweitert wurden, lässt sich nach den bisherigen Befunden noch nicht ausreichend dokumentieren, bleibt jedoch hinsichtlich des indizierten Reichsguts forschungsrelevant. In jedem Fall darf die Herrschaftsmethode des Burgenbaus in spätsalischer Zeit im Hinblick auf den Schutz des königlichen Besitzes und die Reorganisation der Grafschaften am Harz nicht mehr isoliert betrachtet werden. So erscheint es angesichts von Abstammung und Herrschaftsbildung frühester Vertreter der seit Beginn des 12. Jahrhunderts in diesen Interessengebiet des Königtums neu hineinwirkenden Harzgrafenfamilien naheliegend, dass im ständigen Gegensatz zwischen Königtum und alteingesessenen sächsischen Familien bis zum Ausgang der Salier Schutz und Verwaltung der Reichsrechte neben den Reichsbistümern zur konkreten Aufgabe dieser neu zugezogenen süddeutschen Adelsfamilien geworden waren. Die Stammburgen der Harzgrafen griffen die statusbetonende Bauweise der königlichen Reichsburgen auf und erscheinen ebenso wie diese an Reichsgutbezirke des engeren Harzes gekoppelt. Die weiterhin in diesem Zeitabschnitt erfolgende Neuverleihung von Grafschaftsrechten in den vom salischen Königtum neu gegliederten bzw. den Bistümern aufgetragenen Gaugrafschaften bewirkte eine Unterordnung dieses regional neu eingepflanzten Adels unter die Hochstifte und brachte eine eigenartige, auf lange Zeit charakteristische Doppelstellung der Harzgrafenfamilien zwischen Reich, Landesherren und Bistümern hervor. Das ursprüngliche Reichsgut im Harz ging phasenweise rasch bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts in den neuen Adelsherrschaften auf. In dem Moment, in dem das Königtum mit verschiedenen baulichen und gesellschaftlich-politischen Unternehmungen die eigene Stellung in einer Kernlandschaft des Reiches zu stärken gedachte, hatte es im Harz den entscheidenden Wendepunkt des Übergangs von einer Königslandschaft zur Adelslandschaft selbst herbeigeführt.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 37 (2019), S. 37–56
DIE HANSE IN DER REGION UND REGIONALGESCHICHTE1 Oliver Auge ABSTRACT Der folgende Beitrag versteht sich als Plädoyer für ein stärker als bisher zu realisierendes Zusammenwirken von Hansegeschichts- und Regionalgeschichtsforschung. Denn entgegen anderslautenden Einschätzungen beschränkt sich bislang die Zusammenführung regional- und hansegeschichtlicher Perspektiven zumeist allein auf den Aspekt regionaler Identität, wobei insbesondere auf das Spannungsfeld zwischen hansischem und regionalem Bewusstsein abgehoben wird. In zwei Schritten macht der Aufsatz deutlich, dass zum einen ein regionalhistorischer Zugang zur Hansegeschichte durchaus andere, weiterführende Aspekte zutage fördern kann und dass zum anderen eine stärkere Berücksichtigung regionalgeschichtlicher Ansätze und Vorgehensweisen die Hansegeschichtsforschung sogar aus der Denkfalle eines Modernitätsparadigmas herauszuführen vermag. The following contribution is intended as a plea for a closer cooperation and interaction between the historiography of the Hanseatic League and regional history. Contrary to certain statements, the combination of regional and Hanseatic historical perspectives is often merely limited to the aspect of regional identity, with a particular focus on the tension between Hanseatic and regional awareness. The article proceeds in two stages to explain that, on the one hand, a regional historical approach to the Hanseatic League may reveal other distinct elements of its history that offer fresh insights; on the other hand, closer consideration of regional historical concepts and processes may liberate historical research on the Hanseatic League from the problematic paradigm of modernity.
I. Die Ausgangslage Im 80. Jahrgang der Rheinischen Vierteljahrsblätter wurde eine Besprechung des von mir 2014 herausgegebenen Sammelbandes „Hansegeschichte als Regionalgeschichte“ abgedruckt, die der in der Hanseforschung nicht unbekannte Volker Henn als Autor verantwortet2. Das von Henn rezensierte Werk vereint die Vorträ1
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Mit Anmerkungen und Literaturhinweisen versehene, inhaltlich erweiterte Fassung des Vortrags, der im Rahmen der SFB-Ringvorlesung „Ressourcenschwäche und Funktionalität: Die Hanse und ihr Recht“ an der Goethe-Universität in Frankfurt a. M. am 25. Januar 2017 und in modifizierter Form im Kontext des Freitags-Kolloquiums des Instituts für Vergleichende Städtegeschichte in Münster am 10. Februar 2017 gehalten wurde. Für die jeweils anregende Diskussion im Anschluss an den Vortrag danke ich allen Beteiligten vielmals. Die Anregungen sind in mancherlei Hinsicht in die folgenden Ausführungen eingeflossen. VOLKER HENN: Rezension zu: Oliver Auge (Hg.): Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Winterschule in Greifswald vom 20. bis 24. Februar 2012 (= Kieler Werkstücke. Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 37), Frankfurt a. M. 2014. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 80 (2016), 445–447.
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ge und Referate, die im Februar 2012 von Fachleuten und wissenschaftlichem Nachwuchs aus Anlass einer gleich betitelten Winterschule in Greifswald gehalten worden sind3. Bei dieser Konferenz stand neben der Idee, Experten mit am Hansethema interessierten Neulingen zusammenzuführen, die von mir vertretene These Pate, dass Hanse und Hansekaufleute nie allein überregional oder gar ‚global‘ agierten, sondern stets genauso in ihrer jeweiligen Region verankert und mit derselben aufs Engste vernetzt waren4. Nur wenn beides, hansische ‚Globalität‘ und Regionalität bis hin zur Lokalität, komplementär betrachtet wird, lässt sich der Schlüssel zum Verständnis der Hansegeschichte überhaupt finden – so die weitergehende Schlussfolgerung5. Und noch weitergedacht kann die Deutung der Hansegeschichte keinesfalls nur, aber eben auch als Regionalgeschichte aus der lähmenden Dauerschleife eines die Hanseforschung interpretatorisch meines Erachtens in die Irre führenden Modernitätsparadigmas führen6. Darauf wird im Folgenden noch näher einzugehen sein. Der Rezensent Henn jedenfalls hält die im genannten Band abgedruckten Expertenbeiträge insgesamt für durchaus lesenswert, auch wenn sie das Rahmenthema „Hansegeschichte als Regionalgeschichte“ ganz unterschiedlich ausfüllen und unter hansischen Regionen ausschließlich Lübeck und den Ostseeraum verstehen würden7. Indes sei die Idee einer Verankerung der Hanse in den Regionen, in denen die hansischen Kaufleute beheimatet waren und die dann als hansische Teilräume ein konstitutives Element der hansischen Organisation wurden, nicht neu8. So habe sich bereits die 1993 in Münster veranstaltete Pfingsttagung des Hansischen Geschichtsvereins des Themas angenommen „und versucht, Ansätze zu entwickeln, um über die Erforschung der innerhansischen Raumstrukturen und des Nebeneinanders von regionaler Eigenständigkeit und gleichzeitiger Bindung an die Hanse zu einem besseren Verständnis von ‚Hanse‘ zu gelangen, die immer damit zurechtkommen musste, einen Ausgleich zwischen regionalen Sonderinteressen und gesamthansischen Zielsetzungen zu finden, und in diesem Spannungsfeld ein Wesensmerkmal ihrer Geschichte offenbarte“. Es werde mithin „nicht so recht deutlich […], welche Erkenntnisziele mit der neuen ‚regionalhistorischen Hanse-
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OLIVER AUGE (Hg.): Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Winterschule in Greifswald vom 20. bis 24. Februar 2012 (= Kieler Werkstücke. Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 37), Frankfurt a. M. 2014. Dazu und zum Folgenden OLIVER AUGE: Zur Einführung. In: DERS. (Hg.): Hansegeschichte als Regionalgeschichte (wie Anm. 3), 9–19. Siehe hierzu ausführlich ergänzend OLIVER AUGE: Hansegeschichte als Regionalgeschichte? Zur Diskussion um ein gar nicht so neues Forschungsdesign. In: MICHAEL HUNDT, JAN LOKERS (Hg.): Hanse und Stadt. Akteure, Strukturen und Entwicklungen im regionalen und europäischen Raum. Festschrift für Rolf Hammel-Kiesow zum 65. Geburtstag, Lübeck 2014, 3–14. Ebenda, 9. HENN: Rezension (wie Anm. 2), 446. Dazu und zu folgenden Zitaten ebenda, 445.
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deutung‘ verfolgt werden sollen, die in der hansegeschichtlichen Forschung nicht bereits diskutiert werden“9. Auf diese Rezension könnte vieles entgegnet werden: Beispielsweise sind hansische Regionen selbstverständlich nicht allein mit Lübeck und dem Ostseeraum identisch. Aber an irgendeinem konkreten Punkt muss man eben mit seinem Forschungsansatz beginnen und dabei, wie bei jedem größeren Vorhaben, zumal die engen Grenzen beachten, die durch die Faktoren Raum, Zeit und Geld bei Tagungen, Winterschulen und daraus hervorgehenden Tagungsbänden auferlegt werden. Und ebenso natürlich stellt das auf der Greifswalder Winterschule verfochtene Konzept einer Hansegeschichte als Regionalgeschichte keine genuine Innovation der aktuellen Geschichtsforschung dar, worauf in der im betreffenden Band abgedruckten Einführung ausdrücklich hingewiesen wurde10. Schon der Kieler Historiker Wilhelm Koppe nämlich gibt sich, wie eine jüngere Publikation nachweisen konnte, durch vielfältige Studien als früher Vertreter einer hansischen Regional- beziehungsweise einer regionalhistorisch betrachteten Hansegeschichte zu erkennen11 – lange vor der erwähnten Greifswalder Winterschule und auch lange vor der besagten Pfingsttagung von 1993, die unbestritten viel Sinnvolles und Weiterführendes zum Thema zutage gefördert hat. Doch nicht wegen des von dem angesprochenen Sammelband offenbar ausgehenden weiteren Diskussionsbedarfs, sondern aufgrund der Symptomatik, die in der darauf fußenden Besprechung aufscheint, wurde ihre Erwähnung dem Beitrag absichtlich etwas ausführlicher vorangestellt. Was ist mit dieser Symptomatik konkret gemeint? Während nämlich ein Teil der Hanseforschung durchaus ernsthaft den Sinn und Zweck einer regionalhistorischen Betrachtung überhaupt in Abrede stellt – Hansegeschichte ist in diesem Sinne allein als transregional bis global zu begreifen –, denkt ein anderer Part von sich, dass er schon immer oder zumindest immer wieder die Verankerung der Hanse in den Regionen erforscht habe, oder er gibt zumindest vor, es getan zu haben und es nach wie vor zu tun. Allerdings beschränkt sich der Forschungszugang zur regionalen Komponente der Hanse in Kenntnis der relevanten Veröffentlichungen bislang schwerpunktmäßig auf Fragen des Raumbewusstseins beziehungsweise der Identität und – damit zusammenhängend – auf die Herausarbeitung auseinanderdriftender regionaler Bindungen als im Lauf der Zeit anscheinend immer stärker werdenden Gegenpol gesamthansischer Interessen12. Weniger stark gewichtet sind demgegenüber zum 9
Die Beiträge der Pfingsttagung wurden abgedruckt in den Hansischen Geschichtsblättern 112 (1994), 1–159. 10 AUGE: Zur Einführung (wie Anm. 4), 9. 11 OLIVER AUGE, MARTIN GÖLLNITZ: Hansegeschichte als Regionalgeschichte: Das Beispiel des Kieler Historikers Wilhelm Koppe (1908–1986). In: Hansische Geschichtsblätter 131 (2013), 229–273. 12 Siehe hier mustergültig die Beiträge von HEIDELORE BÖCKER: Regionale Bindungen und gesamthansische Beziehungen pommerscher Städte im Mittelalter. In: Hansische Geschichtsblätter 112 (1994), 57–96; FRIEDRICH BERNWARD FAHLBUSCH: Regionale Identität. Eine Beschreibungskategorie für den hansischen Teilraum Westfalen um 1470? In: Ebenda, 139–159; VOLKER HENN: „...de alle tyd wedderwartigen Suederseeschen stedere“. Zur Integration des
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Beispiel ökonomische Gesichtspunkte. Rainer Postel sprach in ersterem Zusammenhang schon einmal vom „Wachsen zentrifugaler Kräfte innerhalb der Gemeinschaft“13. In der Tat wird wohl niemand mehr ernsthaft behaupten wollen, es habe ein von der Hanse ausgehendes regionales Raumbewusstsein gegeben14. Als Erklärung für das Fehlen einer solchen Identität wird unter anderem angeführt, dass in den Hansestädten, zumal denjenigen im Binnenland, jeweils nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Kaufmannschaft aktiv am hansischen Handel mitwirkte, weswegen auch die Hanse im zeitgenössischen Bewusstsein lediglich eine marginale Rolle spielte15. Dass freilich die eben skizzierte antagonistische Sicht – hier Hanse und dort Regionalität – nur bedingte Gültigkeit hat, zeigte Jürgen Sarnowsky bereits 1994, als er für die preußischen Hansestädte gerade ein starkes, im Wesentlichen durch die gemeinsame Gründungsgeschichte und von den gleichen politischen Rahmenbedingungen her zu erklärendes Bewusstsein herausarbeitete, eine regionale Einheit zu bilden16. Zugleich lasse sich diese Homogenität kaum eindeutig von den gesamthansischen Entwicklungen trennen. „Die hansische Geschichte“, so sein einleuchtendes Fazit, „wäre ohne die Kenntnis der regionalen Entwicklungen und Strukturen nicht verständlich.“ In einem Vortrag zur „Spiegelung regionalen und hansischen Bewusstseins in der Geschichtsschreibung Lübecks und Livlands“, den Jürgen Sarnowsky am 31. Januar 2017 im Kontext der Kieler Mittelaltergespräche gehalten hat, untermauerte er diese Sicht und konnte zudem nachweisen, dass zwar kein hansisches Bewusstsein, wohl aber hansische Themen hinlänglich in der jeweiligen Chronistik vorkommen17. Als gewisses Scharnier zwischen der Hanse und der einzelnen Stadt, in der die Chronistik entstanden sei, fungiere jeweils die sie umgebende Region.
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niederrheinisch-ostniederländischen Raumes in die Hanse. In: Ebenda, 39–56; MATTHIAS PUHLE: Der sächsische Städtebund im späten Mittelalter – Regionale ‚confoederatio‘ oder Teil der Hanse? In: Ebenda, 125–138; sowie HERBERT SCHWARZWÄLDER: Bremen als Hansestadt im Mittelalter. In: Ebenda, 1–38. RAINER POSTEL: Der Niedergang der Hanse. In: DERS., JÖRGEN BRACKER, VOLKER HENN (Hg.): Die Hanse – Lebenswirklichkeit und Mythos, 3. Aufl. Lübeck 1999, 165–193, hier 165. Siehe diesbezüglich MATTHIAS PUHLE: Wieviel Region braucht Hansegeschichte? Neue Ansätze in der modernen Hansegeschichtsforschung. In: AUGE (Hg.): Hansegeschichte als Regionalgeschichte (wie Anm. 3), 35–45, hier 41 f. So auch HENN: Rezension (wie Anm. 2), 445. JÜRGEN SARNOWSKY: Die preußischen Städte in der Hanse. In: Hansische Geschichtsblätter 112 (1994), 97–124, hier 114. Auch zum Folgenden. Siehe dazu und zum Folgenden die Informationen unter der URL: https://www.histsem.unikiel.de/de/abteilungen/regionalgeschichte/kolloquien/wintersemester-2016-2017 [05.02.2019].
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II. Die Hanse in der Region Jürgen Sarnowsky hat sich in der Festschrift für Horst Wernicke eingehender mit dem Ende der mittelalterlichen Hanse auseinandergesetzt18. Dabei stellt er mit guten Gründen das in der Forschung nach wie vor bestimmende, organologisch geprägte Dreier-Schema zur Hansegeschichte in Frage, das dieselbe in ihre Anfänge, in eine „Blütezeit“ und einen Niedergang unterteilt19. Mit der Anfangszeit werde im Regelfall die Hansegeschichte bis 1350 übertitelt. Strittiger sei die Datierung des Übergangs von der Blüte zum Niedergang, wobei hier tendenziell der Utrechter Frieden der Hanse mit England von 1474 dominiere, teilweise aber schon das Ende des 14. Jahrhunderts angeführt werde: „Nimmt man 1669 als das Ende der hansischen Interessengemeinschaft in überkommener Gestalt, hätte die Hanse einen fast dreihundertjährigen Niedergang erfahren, nach zweihundert Jahren Aufstieg und kurzer Blüte.“20 Auch wenn die Vorstellung eines langen Niedergangs aus klassisch gewordenen Geschichtswerken wie Edward Gibbons „The History of the Decline and Fall of Roman Empire“ mit der These eines 1000-jährigen Niedergangs des Imperium Romanum durchaus bekannt sei21, mache eine solche Deutung für die Hansegeschichte wenig Sinn, wie Sarnowsky weiter schreibt. Das werde schon daran ersichtlich, dass sich die hansische Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert nach neueren Untersuchungen22 keinesfalls nur auf die Erneuerung älterer Strukturen beschränkte, wie man lange meinte. Im Gegensatz dazu müsse man die Wandlungen um 1500 als Prozess des Übergangs in eine neue Phase hansischer Geschichte betrachten, die mehr gewesen sei als bloß ein langer Niedergang. Vielmehr habe seinerzeit ein erneuter Aufstieg durch eine innere Erneuerung begonnen23. Zu dieser Erneuerung der Hanse an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit gehörte nun interessanterweise als wesentliches Kernelement der Aspekt der Regionalität. Das regionale Moment war nichts unbedingt Neues, wie schon ein kursorischer Blick auf die einzelstädtische oder regionale Organisation der Handelsschifffahrt in frühhansischer Zeit zeigt24 oder die immer wieder aufscheinende Tendenz zur Abschottung angestammter regionaler Handelsräume gegen Konkur18 JÜRGEN SARNOWSKY: Das Ende der mittelalterlichen Hanse. In: SONJA BIRLI u. a. (Hg.): ene vruntlike tohopesate. Beiträge zur Geschichte Pommerns, des Ostseeraums und der Hanse. Festschrift für Horst Wernicke zum 65. Geburtstag (= Schriftenreihe der David-MeviusGesellschaft 12), Hamburg 2016, 499–517. 19 Ebenda, 500 f. Auch zum Folgenden. 20 Zitat aus ebenda, 501. 21 EDWARD GIBBON: The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire, 6 Bde., London, 1776–1789. 22 Sarnowsky verweist hier auf JOHANNES LUDWIG SCHIPMANN: Politische Kommunikation in der Hanse (1550–1621). Hansetage und westfälische Städte (= Quellen und Darstellungen zu Hansischen Geschichte 55), Köln 2004. 23 SARNOWSKY: Das Ende der mittelalterlichen Hanse (wie Anm. 18), 501 f. 24 ROLF HAMMEL-KIESOW: Kaufleute und Städte. Wie die Hanse entsteht. In: DERS., MATTHIAS PUHLE, SIEGFRIED WITTENBURG (Hg.): Die Hanse, Darmstadt 2009, 19–52, hier 25; DERS.: Die Hanse (= C. H. Beck Wissen 2131), 5. Aufl. München 2014, 32 f.
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renz von außen, auch innerhansische, vor Augen führt25. Zudem und besonders anschaulich spiegelt sich die regionale Verankerung der Hanse in ihren im 15. Jahrhundert geschlossenen politischen Bündnissen und Tohopesaten wider26. Die ab dem 16. Jahrhundert verstärkte regionale Gliederung der Hansestädte in Dritteln und Quartieren mit eigenen Regionaltagen als organisatorischen Vorstufen zur Koordination der Willensbildung auf dem Hansetag war so auch schon in den Kontoren in London und Brügge vorweggenommen, in denen laut Statuten jeweils drei Drittel existierten27. Rolf Hammel-Kiesow hat daher vor einiger Zeit die regionale Sonderung „als grundlegendes Prinzip der hansischen Organisation“ überhaupt gedeutet28. Nun beriet der Lübecker Hansetag von 1518 zunächst einmal, welche Städte man zur Tagfahrt laden und welche man in den Privilegien des Kaufmanns beschützen solle29. In der Folge wurden die märkischen Städte Berlin, Salzwedel und Stendal sowie die sächsischen Städte Halle, Aschersleben, Quedlinburg, Halberstadt und Helmstedt aus der Hanse ausgeschlossen, wohingegen Uelzen und Stettin die Privilegien der Hanse zwar nutzen, aber nicht – für Stettin galt das zumindest vorerst – an den Hansetagen teilnehmen durften. Stargard und Anklam in Pommern wurden zu den Versammlungen zugelassen30. In der Tendenz gibt sich das seinerzeitige Bemühen um eine zahlenmäßige Reduktion der Mitglieder bei gleichzeitiger regionaler Konzentration zu erkennen31. Dazu passte der Aus- und Umbau regionaler Strukturen, der in etwa zeitgleich betrieben wurde. Konkret verfestigte sich die Einteilung der Hanse in drei Drittel mit den Vororten Lübeck, Köln und Braunschweig, die sich unter dem Eindruck der wachsenden Konkurrenz zwischen Danzig und Braunschweig zur Vierteilung in ein kölnisches, ein lübisches, ein sächsisches und ein preußisches Quartier weiterentwickelte32. Der Zusammenhalt in den einzelnen Quartieren war offenkundig verschieden stark ausgeprägt, wurde aber durch die Abhaltung gemeinsamer Regional- oder Quartierstage befördert33. Die Quartiereinteilung half bei einer gemeinsamen Steuererhebung. An die Quartierhauptstädte wurden anschließend von den 25 HAMMEL-KIESOW: Kaufleute und Städte (wie Anm. 24), 52; DERS.: Ein starkes Netzwerk. Der hansische Handel. In: DERS., PUHLE, WITTENBURG (Hg.): Die Hanse (wie Anm. 24), 91– 150, hier 110, 121 f. 26 MATTHIAS PUHLE: Die „dudesche hense“ – Im europäischen Konzert. In: HAMMEL-KIESOW, PUHLE, WITTENBURG (Hg.): Die Hanse (wie Anm. 24), 159–182, hier 165, 168–171. 27 HAMMEL-KIESOW: Die Hanse (wie Anm. 24), 62; MATTHIAS PUHLE: Im Zeichen der ‚gemenen stede‘ – Die Organisation der Hanse. In: HAMMEL-KIESOW, PUHLE, WITTENBURG (Hg.): Die Hanse (wie Anm. 24), 53–86, hier 56, 60, 70 f., 84. 28 HAMMEL-KIESOW: Die Hanse (wie Anm. 24), 66. 29 Vgl. die Hanserezesse: Die Rezesse und andere Akten der Hansetage. Hg. vom Verein für Hansische Geschichte, Abt. 3, Bd. 7, Leipzig 1905, 135 (Nr. 108, §292). 30 Vgl. dazu SARNOWSKY: Das Ende der mittelalterlichen Hanse (wie Anm. 18), 506. 31 Siehe aber ebenda: „Diese gezielte Reduktion des Mitgliederkreises […] brachte jedoch noch keine Erneuerung der Gemeinschaft.“ 32 PAUL SIMSON: Die Organisation der Hanse in ihrem letzten Jahrhundert. In: Hansische Geschichtsblätter 13 (1907), 207–244, 381–438. 33 Ebenda, 214.
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einzelnen Städten die verlangten Zahlungen geleistet, die von diesen wiederum an die neu eingeführte hansische Hauptkasse weiter abgeführt wurden34. Die Quartierhauptstädte waren zugleich die Vermittler zwischen „ihren“ Städten und der Hanse insgesamt35. Die Städte konnten sich an sie mit Beschwerden und Wünschen wenden, welche diese dann auf den Hansetagen vorbrachten. Über sie ergingen die Einladungen zu den Hansetagen, und durch sie erfolgte die Verkündigung der auf den Hansetagen gefassten Beschlüsse. Zur Einrichtung von speziellen Quartierskassen, deren Verwaltung wiederum den Quartierhauptstädten anvertraut worden wäre, ist es indes nicht gekommen, obwohl sie mehrfach ins Auge gefasst worden sind36. Doch waren die Hauptstädte nicht nur für ihr Quartier und dessen Stellung zur Gesamtheit von Bedeutung, sondern sie hatten auch wichtige gesamthansische Aufgaben zu erfüllen. So trafen sie seit 1581 öfter mit den wendischen Hansestädten – neben Lübeck waren dies hauptsächlich Rostock, Stralsund, Wismar, Hamburg und Lüneburg – als einer Art engerem Ausschuss der Hanse zusammen und besiegelten gemeinsam, stellvertretend für ihre Quartiere, allgemein verbindliche Abmachungen37. Sie verbürgten sich gemeinsam für pekuniäre Verpflichtungen der Hanse und leisteten sich auch gegenseitig Sicherheit, indem notfalls stets drei Quartierhauptstädte der vierten eine Schadlosverschreibung ausstellten. Sie überprüften auch die Abrechnungen der Kontore. Dem Ausland gegenüber erschienen die vier Quartierhauptstädte denn auch vielfach als die berufene Vertretung der ganzen Hanse, weswegen sie wiederum regelmäßig die ins Ausland geschickten Gesandten stellten, teilweise noch um diejenigen Bremens und Hamburgs ergänzt. Durch solche und weitere, nunmehr zentralistische Maßnahmen, zu denen etwa die Einrichtung einer Bundeskasse 161238 oder schon 1556 die erstmalige Schaffung eines gesamthansischen Amtes, dasjenige des Syndikus39, zählten, erfuhr die derart erneuerte Hanse eine vorher so nicht gekannte Intensität, was sich auch im Bemühen um die Wiederzulassung beziehungsweise Wiederaufnahme einer ganzen Reihe verlorener oder abgeschnittener Mitglieder zur Hanse vor allem in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts widerspiegelte40. Die Hanse ging dennoch unter, was gemeinhin ins zeitliche Umfeld des letzten Hansetages von 1669 datiert wird41, ohne dass die drei Hansestädte Lübeck, 34 35 36 37 38 39
Ebenda, 215. Dazu und zum Folgenden siehe ebenda. Ebenda. Dazu und zum Folgenden siehe ebenda, 214. Ebenda, 436. HERBERT J. LANGER: Gestalten der Spätzeit. Die Syndici der Hanse. In: DETLEF KATTINGER, RALF-GUNNAR WERLICH, HORST WERNICKE (Hg.): Akteure und Gegner der Hanse. Zur Prosopographie der Hansezeit. Gedächtnisschrift für Konrad Fritze (= Hansische Studien 9; Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte 30), Weimar 1995, 219–230; SIMSON: Organisation (wie Anm. 32), 381–386. 40 SIMSON: Organisation (wie Anm. 32), 219. 41 HAMMEL-KIESOW: Die Hanse (wie Anm. 24), 118; SARNOWSKY: Das Ende der mittelalterlichen Hanse (wie Anm. 18), 500. – Zur damaligen Situation vgl. HEINZ DUCHHARDT: ‚System‘ im ‚System‘? Die ‚späte‘ Hanse und die internationale Politik. In: HEIDELORE BÖCKER,
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Hamburg und Bremen aufhörten, zumindest dem Anspruch nach weiterhin die Gesamtheit der Hansestädte nach außen zu vertreten und dementsprechend geschlossen aufzutreten42. Für den Untergang wird von der Forschung ein ganzes Ursachenbündel als Erklärung bemüht, das vom Aufstieg der Territorialgewalten und Nationalstaaten über die Reformation bis zur Ausdifferenzierung der Handels praktiken reicht und auch das schon erwähnte Anwachsen zentrifugaler Kräfte und den Vorrang eigennütziger Motive gegenüber gesamthansischen Interessen in der einzelstädtischen Politik einschließt43. Ganz abgesehen davon, dass Letzteres nicht erst zum Ausgang der Hansegeschichte, sondern während ihres gesamten Verlaufs begegnet44, ist die Existenz dieses Ursachenbündels und damit auch die antagonistische Wirkung von Regionalität und Hansegeschichte im Grundsatz gewiss nicht in Abrede zu stellen. Aber diese Regionalität gehörte genauso zur kraftvollen Reform und Erneuerung der Hanse im 16. Jahrhundert! Sie wirkte zum Zeitpunkt des vermeintlichen Nieder- oder, weniger pejorativ, Übergangs der Hanse auch als stärkendes, nicht lediglich als schwächendes Moment. III. Die Hanse in der Regionalgeschichte Hansegeschichte als Regionalgeschichte bezieht sich also, wie vorgeführt, auf die unter verändertem Blickwinkel vollzogene Betrachtung und Interpretation der Hansegeschichte als solcher. Sie kann bestenfalls aus einer angeblichen Schwäche sogar strukturstärkende Impulse ableiten. Hansegeschichte als Regionalgeschichte meint aber auch die Institution der Hanseforschung selbst, worum es im zweiten Teil der Betrachtung gehen soll. Dazu muss zunächst etwas weiter ausgeholt werden: Bekanntlich nimmt die Regionalgeschichte, die sich unter zeitlicher Vorläuferschaft der Geschichtsforschung in der DDR ab Mitte der 1970er Jahre langsam an den westdeutschen ECKHARD MÜLLER-MERTENS (Hg.): Konzeptionelle Ansätze der Hanse-Historiographie (= Hansische Studien 14), 61–68; RAINER POSTEL: Von der Solidarität bedrängter Egoisten. Hansetage des frühen 17. Jahrhunderts. In: VOLKER HENN (Hg.): Die hansischen Tagfahrten zwischen Anspruch und Wirklichkeit (= Hansische Studien 11), Trier 2001, 151–162. 42 MICHAEL NORTH: The Hanseatic League in the Early Modern Period. In: DONALD J. HARRELD (Hg.): A Companion to the Hanseatic League (= Brill’s companions to European history 8), Leiden u. a. 2015, 101–126. – Siehe dazu kurz auch CARSTEN JAHNKE: Die Hanse (= Reclams Universal-Bibliothek 19206), Stuttgart 2014, 209–212. 43 Siehe hierzu HAMMEL-KIESOW: Die Hanse (wie Anm. 24), 96–117; JAHNKE: Die Hanse (wie Anm. 42), 195–208; POSTEL: Der Niedergang der Hanse (wie Anm. 13), 165; sowie SARNOWSKY: Das Ende der mittelalterlichen Hanse (wie Anm. 18), 502–514. 44 So formuliert SARNOWSKY: Das Ende der mittelalterlichen Hanse (wie Anm. 18), 502, richtig: „Man kann hinzufügen, daß der ‚Vorrang eigennütziger Motive in der städtischen Politik‘ wohl in der hansischen Geschichte eine durchgängige Erscheinung war.“ – Siehe etwa auch HAMMEL-KIESOW: Ein starkes Netzwerk (wie Anm. 25), 110: „Die große Leistung der Hanse war es daher, trotz der Gegensätze zwischen spezifischen regionalen Interessen der einzelnen hansischen Teilräume über Jahrhunderte immer wieder einen Konsens gefunden zu haben, um diese auszugleichen.“
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Universitäten etablierte, die allgemeinen und strukturgeschichtlichen Prozesse einer Region in beschleunigenden sowie retardierenden Momenten in den Fokus ihrer Betrachtung45. Um solch eine Region erfassen zu können, muss die Regionalgeschichte einen theoretischen Raum themenbedingt konstruieren und mit eigenen „Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, Methoden, Arbeitstechniken, Materialaufbereitungen und Darstellungsweisen“ füllen46. Die gewählte beziehungsweise definierte Region kann auf die vielfältigsten Raumeinheiten, ausgehend von Untersuchungsschritten oder im Rahmen von Forschungsprojekten, zurückgreifen, ohne ernsthaft mit dem Vorwurf der Beliebigkeit konfrontiert zu werden, denn das konkrete historische Thema kreiert die jeweilige Region47. Anders ausgedrückt: Im Raum können thematische Schwerpunkte individuell festgelegt und je nach historischer Raumzuordnung untersucht werden48. Regionalgeschichte lässt sich dabei als „auf den kleinen Raum übertragene Anwendung der Historischen Sozialwissenschaft“ definieren49. Klare inhaltliche Fixpunkte bilden folglich neben der Stadtgeschichts- und Stadtumlandforschung die raumorientierte Wirtschaftsgeschichte und die Agrargeschichte. Diese und weitere Themenfelder – zu nennen sind insbesondere die strukturbedingte und -bedingende Siedlungs-, Bevölkerungs-, Mentalitäts- und Bildungsgeschichte sowie die Prosopographie – umfassen in der epochalen Einordnung den Zeitraum ab dem Hochmittelalter50. Auf diese Weise gelingt es der Regionalgeschichte, die klassische Lokal- und Landesgeschichte zu umfassen und die thematische Vielfalt der zu untersuchenden Region interdisziplinär sowie flexibel zu erschließen51. Die wechselseitige Anregung und Befruchtung unterschiedlicher Zugangs- und Betrachtungsweisen, eingebettet in die Analyse historischer Strukturen und Prozesse52, zeichnet indes nicht nur die Regionalgeschichte, sondern auch die Hansegeschichte aus: Selbstredend treffen 45 WOLFGANG KÖLLMANN: Zur Bedeutung der Regionalgeschichte im Rahmen struktur- und sozialgeschichtlicher Konzeptionen. In: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), 43–50, hier 46 f. 46 Das Zitat entstammt CARL-HANS HAUPTMEYER: Zu Theorien und Anwendungen der Regionalgeschichte. Warum sind Überlegungen zur Theorie der Regionalgeschichte sinnvoll? Auf welche Weise läßt sich Regionalgeschichte anwenden? In: Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde 21 (1997/98), 121–130, hier 123. 47 ERNST HINRICHS: Regionalgeschichte. In: CARL-HANS HAUPTMEYER (Hg.): Landesgeschichte heute (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 1522), Göttingen 1987, 16–34, hier 22 f. 48 Siehe dazu, wenn auch mit vielleicht etwas zu scharfer Abgrenzung von der klassischen Landesgeschichte, WERNER FREITAG: Landesgeschichte als Synthese. Regionalgeschichte als Methode. In: Westfälische Forschungen 54 (2004), 291–305, hier 296. 49 Das Zitat stammt aus HINRICHS: Regionalgeschichte (wie Anm. 47), 19. 50 Ebenda, 18–22. Hierin besteht eine große Affinität zur sog. Historischen Kulturraumforschung. Vgl. dazu FRANZ IRSIGLER: Vergleichende Landesgeschichte. In: CARL-HANS HAUPTMEYER (Hg.): Landesgeschichte heute (wie Anm. 47), 35–54, hier 44. 51 FRANKLIN KOPITZSCH, Regionalgeschichte und „Rekonstruktion historischer Lebenswelten“. In: REIMER WITT (Hg.): Im Spannungsfeld zwischen Regional- und Landesgeschichte. Vorträge eines Regionalsymposiums im Landesarchiv Schleswig-Holstein (= Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 74), Schleswig 2003, 79–90, hier 79. 52 Ebenda, 80. – Siehe dazu insgesamt auch KARL HEINRICH POHL: Im Spannungsfeld zwischen Landes- und Regionalgeschichte. Einige einführende Überlegungen. In: REIMER WITT (Hg.): Im Spannungsfeld zwischen Regional- und Landesgeschichte (wie Anm. 51), 7–17.
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fast alle thematischen Zugriffe der Regionalgeschichte auch für mögliche Zugänge zur Hansegeschichte zu, was ihre Kombination schon auf den ersten Blick so sinnvoll macht. Die Hanseforschung hält sich nun zugute, „dass [sie] eine große Integrationskraft für neue Fragestellungen, innovative Methoden und [damit natürlich auch] für aktuelle Moden stets besaß und sich bis heute bewahrt hat“53. Das ist an zwei momentanen Tendenzen innerhalb der Zunft der Hansehistoriker deutlich ablesbar: in der Anwendung netzwerktheoretischer Methodik und, damit verbunden, in der differenzierten Auseinandersetzung mit globalhistorischen Fragestellungen. Die europaweit betrachtete Netzwerkbildung hansischer Kaufleute und deren phänomenologische Einordnung in den größeren Zusammenhang der spätmittelalterlichen Globalisierung gewinnen in der gegenwärtigen Forschung zur Hansegeschichte stetig an Bedeutung54. Die netzwerkartige Organisationsstruktur des hansischen Handels war optimal an die Rahmenbedingungen des Handels im Hanseraum angepasst, wie die „Netzwerker“ unter den Hanseforschern unterstreichen55. Sie verstehen denn auch die Hanse vornehmlich als „eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft niederdeutscher Fernhändler zum Erwerb und Erhalt von Handelsprivilegien an auswärtigen Handelsplätzen“56, innerhalb derer familiäre und geschäftliche Interessen netzwerkartig eng aneinander gelagert beziehungsweise voneinander überlagert waren. Ausgehend von einem grundlegenden Beitrag, den Ulf Christian Ewert und Stephan Selzer 2001 in den Hansischen Geschichtsblättern publizierten und in dem sie die Tragfähigkeit der Netzwerkforschung für das Verständnis der Funktionsweisen, Stärken und Schwächen des hansischen Handels mit guten Argumenten untermauerten57, ist seither eine zwar zahlenmäßig noch überschaubare, in Inhalt wie Konsequenz aber unbedingt weiterführende Reihe von Studien zur hansischen Handels- und Wirtschaftsgeschichte verfertigt worden, die sich des Instru53 Das Zitat entstammt STEPHAN SELZER, ULF CHRISTIAN EWERT: Die neue Institutionenökonomik als Herausforderung an die Hanseforschung. In: Hansische Geschichtsblätter 123 (2005), 7–29, hier 8. 54 Vgl. dazu den Überblick bei OLIVER AUGE: Vom Städtebund zur kaufmännischen Interessensgemeinschaft. Der Beitrag der Hansehistoriker zur Stadtgeschichtsforschung der letzten 20 Jahre. In: OLGA FEJTOVÁ (Hg.): Städte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit als Forschungsthema in den letzten zwanzig Jahren (= Documenta Pragensia 32), Prag 2015, 563–578. 55 STEPHAN SELZER, ULF CHRISTIAN EWERT: Verhandeln und Verkaufen, Vernetzen und Vertrauen. Über die Netzwerkstruktur des hansischen Handels. In: Hansische Geschichtsblätter 119 (2001), 135–161, hier 159. 56 Das Zitat stammt aus STEPHAN SELZER: Die mittelalterliche Hanse (= Geschichte Kompakt), Darmstadt 2010, 6. 57 SELZER, EWERT: Verhandeln und Verkaufen (wie Anm. 55). Siehe auch DIES.: Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters. Konzepte – Anwendungen – Fragestellungen. In: GERHARD FOUQUET, HANS-JÖRG GILOMEN (Hg.): Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters (= Vorträge und Forschungen 72), Ostfildern 2010, 21–47; DIES.: Netzwerkorganisation im Fernhandel des Mittelalters: Wettbewerbsvorteil oder Wachstumshemmnis? In: HARTMUT BERGHOFF, JÖRG SYDOW (Hg.): Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft? Stuttgart 2007, 45–70.
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mentariums der Netzwerkforschung in fruchtbarer Weise bedient58. Mike Burkhardt konnte so zum Beispiel in seiner 2009 gedruckten Arbeit über den hansischen Bergenhandel kaufmännische Entwicklungsmuster und deren Veränderungen sehr gut verdeutlichen59. Konkret wurde sichtbar, dass im Bergenhandel zum Ausgang des Mittelalters die Bedeutung von Familienmitgliedern mehr und mehr abnahm und sich die Zahl der Handelspartner erheblich reduzierte. Die Netzwerkforschung innerhalb der Hansegeschichte kann als inhaltliche Fortführung von Untersuchungen gesehen werden, die in den 1990er Jahren auf den genossenschaftlichen Kontext des hansischen Handels abhoben60, und zugleich als eine qualitative Steigerung davon. Netzwerkforschung fragt nach der Verbindung von Personen als Akteuren innerhalb eines sozialen Netzwerks61. Sie ist damit nicht nur zu einem wichtigen Vehikel der Erforschung hansischer Wirtschafts- und Handelsgeschichte, sondern darüber hinaus zur wesentlichen Stütze des personengeschichtlichen Forschungsansatzes geworden, der in der Aufarbeitung der Hansegeschichte schon eine längere Tradition hat62. So hat sich etwa der bereits erwähnte Kieler Historiker Wilhelm Koppe teilweise schon vor oder während des Zweiten Weltkrieges in zahlreichen Arbeiten derselben Ansätze, Methoden und Quellen bedient und damit gewissermaßen Prosopographie und Netzwerkforschung betrieben, lange bevor diese ihren Namen erhielten und technisch verfeinert worden sind63. Besonders die hansische Führungsgruppe, also die 58 Siehe etwa CARSTEN JAHNKE: Handelsnetze im Ostseeraum. In: FOUQUET, GILOMEN (Hg.): Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters (wie Anm. 57), 189–212; DERS.: Geld, Geschäfte, Informationen. Der Aufbau hansischer Handelsgesellschaften und ihre Verdienstmöglichkeiten (= Handel, Geld und Politik 9), Lübeck 2007; DERS.: Netzwerke in Handel und Kommunikation an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert am Beispiel zweier Revaler Kaufleute, ungedruckte Habil.-Schr., Kiel 2003. – Zum Aspekt der modernen Netzwerkforschung siehe jetzt auch DERS.: Moderne Netzwerkforschung in der regionalen Hansegeschichte. Möglichkeiten, Gefahren und Perspektiven. In: AUGE (Hg.): Hansegeschichte als Regionalgeschichte (wie Anm. 3), 47–58. 59 MIKE BURKHARDT: Der Bergenhandel im Spätmittelalter: Handel, Kaufleute, Netzwerke (= Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte N. F. 60), Köln u. a. 2009. Auch zum Folgenden. 60 Vgl. dazu etwa DETLEF KATTINGER: Die Gotländische Genossenschaft. Der frühhansisch-gotländische Handel in Nord- und Westeuropa (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte N. F. 47), Köln u. a. 1999; DERS., NILS JÖRN, HORST WERNICKE (Hg.): Genossenschaftliche Strukturen in der Hanse (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte N. F. 48), Köln u. a. 1999. – Siehe zum Thema unter rechtswissenschaftlichem Blickwickel auch ALBRECHT CORDES: Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel im Hanseraum (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte N. F. 45), Köln u. a. 1998. 61 Siehe als kurz gefasste verständliche Einführung BRUNO TREZZINI: Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse: Eine aktuelle Übersicht. In: Zeitschrift für Soziologie 27 (1998), 378–394. 62 WERNER PARAVICINI: Hansische Personenforschung. Ziele, Wege, Beispiele. In: ROLF HAMMEL-KIESOW (Hg.): Vergleichende Ansätze in der hansischen Geschichtsforschung (= Hansische Studien 13), Trier 2002, 247–272. 63 Siehe etwa WILHELM KOPPE: Von den „van Sost“ in Lübeck von den 1280er Jahren bis zum Knochenhaueraufstand von 1384. In: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 62 (1982), 11–29; DERS.: Das Stockholmer Testament eines deutschen
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Handlungs- und Leistungsträger des hansischen Handels und der hansischen Politik, geriet seither ins prosopographische Blickfeld, da die Untersuchung ihrer individuellen Lebensschicksale Rückschlüsse auf soziologische Gemeinsamkeiten sowie kollektive Identitäten erlaubt64. Diese informelle Gruppe mit ihrer dreifachen Homogenität bezüglich ihrer politisch-sozialen Situation, ihrer wirtschaftlichen Interessen sowie ihrer elitären Identität versuchte Friedrich Bernward Fahlbusch 2005 mit dem Neologismus „Amigonat“ zu umschreiben65. Jedoch hat sich der Begriff nicht durchgesetzt. In seiner 2010 erschienenen Studie zu Delegierten beziehungsweise Ratssendeboten und Netzwerken der Hanse zwischen 1356 und 1516 entschied sich Dietrich W. Poeck demgegenüber für den schlichten Quellenterminus der „Herren der Hanse“66. Mit seinem sezierenden Blick auf die Delegierten der bedeutenden Hansetage von 1379 und 1418 und deren 111 feststellbaren Netzwerken macht Poeck die städteübergreifenden Verbindungen hansischer Kaufleute exemplarisch greifbar. Deren sich überlagernde wirtschaftliche Interessen und verwandtschaftliche Beziehungen bestimmten offenbar zu einem wesentlichen Teil die hansische Politik. „Private“ Wirtschaftsinteressen, einzelstädtische Ziele sowie gesamthansische Belange griffen ineinander über. So kommt Poeck zu dem eigentlich nicht überraschenden Schluss, dass „in den Beratungen und Diskussionen des Hansetages […] die einzelnen Netzwerke von den Herren der Hanse zum Netzwerk Hanse verbunden“ wurden67. Der Hansetag war ihm zufolge
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Kaufgesellen. Mit Bemerkungen über die hansische Kaufmannschaft. In: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 34 (1954), 37–44; DERS.: Revals Schiffsverkehr und Seehandel in den Jahren 1378/84. In: Hansische Geschichtsblätter 64 (1940), 111–152; DERS., GERT KOPPE: Der Kreis der Kaufleute um den Lübecker Russlandfahrer Godschalk Wise (1350–1367). In: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 89 (2009), 25–86; DIES.: Die Lübecker Frankfurt-Händler des 14. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck. Reihe B 42), Lübeck 2006. Siehe dazu nun zusammenfassend AUGE, GÖLLNITZ: Hansegeschichte als Regionalgeschichte (wie Anm. 11). FRIEDRICH BERNWARD FAHLBUSCH: Zwischen öffentlichem Mandat und informeller Macht: Die hansische Führungsgruppe. In: Hansische Geschichtsblätter 123 (2005), 43–60. – Siehe als ein frühes Beispiel NILS JÖRN (Hg.): Der Stralsunder Frieden von 1370. Prosopographische Studien (= Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte N. F. 46), Köln u. a. 1998. FAHLBUSCH: Zwischen öffentlichem Mandat und informeller Macht (wie Anm. 64), 59. DIETRICH W. POECK: Die Herren der Hanse. Delegierte und Netzwerke (= Kieler Werkstücke. Reihe E: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 8), Frankfurt a. M. 2010. – Auf den Quellenterminus verweist allerdings bereits FAHLBUSCH, Zwischen öffentlichem Mandat und informeller Macht (wie Anm. 64), 46. – Siehe auch schon die Vorarbeit zu dieser Studie unter der Leitfrage nach dem familiären Beziehungsnetz von DIETRICH W. POECK: Hansische Ratssendboten. In: HAMMEL-KIESOW (Hg.): Vergleichende Ansätze in der hansischen Geschichtsforschung (wie Anm. 62), 97–142. Das Zitat stammt aus POECK: Die Herren der Hanse (wie Anm. 66), 511.
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durch die Delegierten-Netzwerke bestimmt, nicht durch die Interessen der Städte68. Mit solchen Erkenntnissen wiederum berührt die Personenforschung stets auch die neuralgische Frage nach dem „Wesen der Hanse“. Bekanntlich hat die Forschung in der Vergangenheit lange eine Trennlinie zwischen einer Kaufmanns- und einer Städtehanse gezogen, um so klar zu machen, dass mit der 1356 erfolgenden Etablierung des Hansetages das städtische Element zum ausschlaggebenden Faktor geworden sei69. Nicht zuletzt durch die eben skizzierten personengeschichtlichen beziehungsweise netzwerkanalytischen Arbeiten wird dieses lange vorherrschende Bild von der Städtehanse grundlegend revidiert beziehungsweise korrigiert. „Die Hanse war kein mächtiger, über Jahrhunderte existierender Städtebund“, schreibt der Hansekenner Matthias Puhle70. Sie war vielmehr „eine Organisation von Kaufleuten, die ihre politisch und wirtschaftlich dominierende Stellung in ihren Herkunftsstädten nutzten, um mit dem Rückhalt ihrer Städte ihren – für mittelalterliche Verhältnisse – globalen Handel abzusichern, wovon die Hansestädte in der Regel auch profitierten.“ Die auf Netzwerk- und Personenforschung aufruhende, überzeugende und gewiss noch ausbaufähige Einordnung der Hanse in einen globalgeschichtlichen Kontext verdankt sich Rolf Hammel-Kiesow. Seiner Meinung nach habe die Leistung der Hansekaufleute in ihrem dreistufigen – regionalen, überregionalen und internationalen – Außenhandelsnetzwerk bestanden71. Das Handelsnetzwerk der niederdeutschen Hanse fungierte sozusagen als „Brücke zwischen den Märkten“, wie es eine Hanseausstellung in Köln 1973 in ihrem Titel bereits formulierte72. Dieses Netzwerk habe es ermöglicht, die verschiedenen Städte der Ostsee miteinander zu verknüpfen und die Wirtschaftsräume im Landesinneren der jeweiligen Handelspartner ökonomisch zu erschließen. Insgesamt folgert Hammel-Kiesow sodann, dass der „global player“ Hanse nicht als maßgeblicher Motor einer spätmittelalterlichen Globalisierung – in einem jüngeren Beitrag nach Jürgen Oster68 Ebenda. – Dazu durchaus kritisch MATTHIAS PUHLE: Rezension zu: Dietrich Poeck: Die Herren der Hanse. Delegierte und Netzwerke. Frankfurt am Main 2010. In: H-Soz-Kult, 21.09.2011, URL: www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-17109 [05.02.2019]. 69 Siehe mustergültig z. B. HORST WERNICKE: Die Städtehanse 1280–1418. Genesis, Strukturen, Funktionen (= Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte 22), Weimar 1983. – Siehe dazu die Rezension von VOLKER HENN: Die Hanse: Interessengemeinschaft oder Städtebund? Anmerkungen zu einem neuen Buch. In: Hansische Geschichtsblätter 102 (1984), 119–126. – Vgl. zur Problematik auch KLAUS FRIEDLAND: Kaufleute und Städte als Glieder der Hanse. In: Hansische Geschichtsblätter 76 (1958), 21–41. – Siehe ferner SELZER: Die mittelalterliche Hanse (wie Anm. 56), 4 f., 10. 70 PUHLE: Rezension (wie Anm. 68). Auch zum Folgenden. 71 ROLF HAMMEL-KIESOW: Der Januskopf der dudeschen hense: zwischen „Globalisierung“ und Abschottung. In: ROLF WALTER (Hg.): Globalisierung in der Geschichte; Erträge der 23. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 18. bis 21. März 2009 in Kiel (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 214), Stuttgart 2011, 53–70, hier 56. 72 WALTER HAARHAUS (Hg.): Hanse in Europa: Brücke zwischen den Märkten. 12.–17. Jahrhundert, Köln 1973.
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hammel korrekt zur Protoglobalisierung modifiziert73 – verstanden werden dürfe, aber wesentlich zu einem Teilvorgang innerhalb des Prozesses der Globalisierung im Mittelalter beigetragen habe74. Von einem etwaigen innovatorischen Rückstand der Hanse und ihrer Kaufleute könne somit keine Rede sein75. Durch „Intensivierung und Beschleunigung grenzüberschreitender Transaktionen bei deren gleichzeitiger räumlicher Ausdehnung“ verknüpfte die niederdeutsche Kaufmannschaft Hammel-Kiesows Beobachtungen zufolge vielmehr Nord- und Osteuropa nachhaltig miteinander und integrierte sie somit in ihren eigenen Kernraum: der Ostseeregion76. In diesem Sinne kann Hansegeschichte durchaus in einer globalgeschichtlichen Perspektive verstanden und erforscht werden. Es ist im Hinblick auf das Plädoyer dieses Aufsatzes darauf hinzuweisen, dass in den genannten und weiteren neueren Betrachtungen immer wieder der Terminus „regional“ auftaucht. So verweist Matthias Puhle in seiner Rezension zu Poecks „Herren der Hanse“ implizit auf die wichtige Rolle der regionalen Komponente innerhalb der Hansegeschichte, indem die Verortung der Hansekaufleute zu Hause, in ihrer Region für deren Stellung im globalen Handel der Zeit von zentraler Bedeutung gewesen sei77. Dass eine solche Aussage von Puhle herrührt, verwundert wenig, wenn man bedenkt, dass gerade er als Hanseforscher durch eine regionalhistorisch relevante Arbeit reüssierte78. Auch Hammel-Kiesow zeichnet, wie dargelegt, das Handelsnetzwerk der hansischen Kaufleute vollkommen richtig als eines, das eine regionale wie überregionale Seite bis hin zur globalen Dimension hatte. Zur Relevanz eines regionalhistorischen Ansatzes äußerte sich andererseits Carsten Jahnke in einem Beitrag zur hansischen Netzwerkforschung: Die Hanse stamme aus der Region und sei in der Region verankert gewesen. Regional verankerte, auf Vertrauen basierende soziale Netzwerke der Hansekaufleute hätten die Überwindung räumlicher und zeitlicher Probleme beim Abschluss von Geschäften bewirkt. Die Regionalgeschichte sei daher gar „der Schlüssel“ zum Verständnis der europäischen Hansegeschichte79. Grund und Auslöser für die erkennbare Verschiebung von einer ehemals vorherrschenden travezentrischen, das heißt auf Lübeck konzentrierten Perspektive zu einem mehr oder minder globalgeschichtlichen Blickwinkel scheint neben der Einwirkung von aktueller Tagespolitik und Wirtschaftsgeschehen immer noch der 73 ROLF HAMMEL-KIESOW: „Herren der Hanse“, ökonomische Netzwerke und ProtoGlobalisierung. Das Bild von der Hanse im frühen 21. Jahrhundert. In: THOMAS SCHILP, BARBARA WELTZEL (Hg.): Dortmund und die Hanse. Fernhandel und Kulturtransfer (= Dortmunder Mittelalter-Forschungen 15), Bielefeld 2012, 17–31, hier 25–27. 74 HAMMEL-KIESOW: Ein starkes Netzwerk (wie Anm. 25), 118–121. 75 DERS.: Der Januskopf der dudeschen hense (wie Anm. 71), 69 f. 76 DERS: Europäische Union, Globalisierung und Hanse. Überlegungen zur aktuellen Vereinnahmung eines historischen Phänomens. In: Hansische Geschichtsblätter 125 (2007), 9–30, hier 30. 77 Siehe nochmals PUHLE: Rezension (wie Anm. 68). 78 MATTHIAS PUHLE: Die Politik der Stadt Braunschweig innerhalb des sächsischen Städtebundes und der Hanse im späten Mittelalter (= Braunschweiger Werkstücke. Reihe A: Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek 20), Braunschweig 1985. 79 JAHNKE: Moderne Netzwerkforschung in der regionalen Hansegeschichte (wie Anm. 58), 55 f.
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Beitrag Wolfgang von Stromers von 1976 zu sein, worin er die Hanseforschung mit der scharfen These konfrontierte, die hansische Wirtschaft sei vermeintlich innovatorisch rückständig und unmodern gewesen80. Symptomatisch bringt diesen Sinnzusammenhang ein Zitat Rolf Hammel-Kiesows zum Ausdruck: „Der […] Ansatz verfolgt die Frage, was die Hanse in unseren heutigen Augen ‚modern‘ macht, wo die strukturellen Ähnlichkeiten der Hanse mit heutigen Phänomenen oder Institutionen liegen, hier folglich mit der Globalisierung und der Europäischen Union“81. Schon ein kursorischer Blick auf maßgebliche Veröffentlichungen zur Hansegeschichte seit dem Ende der 1970er Jahre zeigt, wie ungemein intensiv sich die Hanseforschung mit von Stromers Verdacht auseinandersetzte und wie sehr sie ihn als Anstoß zu einer differenzierten Beschäftigung mit der hansischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte nahm82. Eben wurde im Zusammenhang der Erwähnung der These von Stromers aber absichtlich das Wort „vermeintlich“ verwendet. Denn von Stromer selbst führt in seinem Beitrag eine stattliche Reihe von Beispielen binnenländischer oder peripherer Hansestädte an, die darauf abzielen, Ansichten der Forschung bezüglich ihrer „innovatorischen Rolle“ geradezurücken – darunter Erfurt, Dortmund, Köln, Breslau, Thorn, Krakau, Naumburg und so weiter83. Nebenbei bemerkt wird an diesen Beispielen deutlich, dass sein Aufsatz eigentlich ein beachtliches Plädoyer für einen regionalhistorischen Ansatz in der Hansegeschichtsforschung darstellt. Von Stromer weist darauf hin, dass sich Unternehmer aus dem Hanseraum, aus Thorn, Krakau und Breslau, der oberdeutschen Konkurrenz im Montanwesen und beim Vertrieb von Buntmetallen stellten, oder dass Kölner, Breslauer und Krakauer Kaufleute weitgespannte Wechselgeschäfte auch mit Oberdeutschland betrieben84. Solche und ähnliche Befunde veranlassten offenkundig Rolf Hammel80 WOLFGANG VON STROMER: Der innovatorische Rückstand der hansischen Wirtschaft. In: KNUT SCHULZ (Hg.): Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Herbert Helbig zum 65. Geburtstag, Köln 1976, 204–217. – Zum Vorwurf siehe auch HAMMEL-KIESOW: Die Hanse (wie Anm. 24), 20 f.; DERS.: Ein starkes Netzwerk (wie Anm. 25), 114. 81 Das Zitat entstammt HAMMEL-KIESOW: Europäische Union, Globalisierung und Hanse (wie Anm. 76), 8. 82 Angeführt wird nur eine kleine Auswahl von Versuchen zur Widerlegung: STUART JENKS: Hansisches Gastrecht. In: Hansische Geschichtsblätter 114 (1996), 2–60; MICHAEL NORTH: Kreditinstrumente in Westeuropa und im Hanseraum. In: NILS JÖRN, DETLEF KATTINGER, HORST WERNICKE (Hg.): „kopet uns werk by tyden“. Beiträge zur hansischen und preußischen Geschichte. Festschrift für Walter Stark zum 75. Geburtstag, Schwerin 1999, 43–46; MARIE-LOUISE PELUS-KAPLAN: Zu einer Geschichte der Buchhaltung im hansischen Bereich. Die Handelsbücher der Lübecker Kaufleute vom Anfang des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 74 (1994), 31–46; WALTER STARK: Über Techniken und Organisationsformen des hansischen Handels im Spätmittelalter. In: STUART JENKS, MICHAEL NORTH (Hg.): Der hansische Sonderweg? Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Hanse (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte N. F. 39), Köln 1993, 191–201. 83 VON STROMER: Der innovatorische Rückstand der hansischen Wirtschaft (wie Anm. 80), 211–217. 84 Ebenda, 212–214.
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Kiesow in seinem gemeinsam mit Matthias Puhle verfassten Buch zur „Hanse“ zur berechtigten Mahnung, dass man den hansischen Handel mit Oberdeutschland keinesfalls unterschätzen dürfe, was lange Zeit in sträflicher Weise geschehen sei85. Diese Warnung wird durch unlängst publizierte Beobachtungen von Mark Häberlein auf ihre Weise untermauert. Häberlein schreibt: „Das Bild eines harten Konkurrenzkampfes zwischen Vertretern zweier antagonistischer Handelssysteme, das Götz Freiherr von Pölnitz in seiner Monographie ‚Fugger und Hanse‘ zeichnete, hält einer kritischen Neulektüre im Lichte der Quellen und der neueren Forschungsliteratur nicht stand. Es scheint vielmehr angebracht, das tradierte Bild eines Antagonismus zwischen Fuggern und Hanse zu entmythisieren und durch eine ausgewogenere Sichtweise zu ersetzen“86. Es ist jedenfalls angesichts dessen nicht zu gewagt zu behaupten, dass gerade eine regionalgeschichtliche Herangehensweise, mit der bekanntlich nicht nur ein spezieller räumlicher Blickwinkel, sondern durch ihren stets funktionalen Raumbegriff eine optimale Möglichkeit zu neuen Verständniszugängen und Erkenntnissen verbunden ist, die Hansegeschichtsforschung konstruktiv aus der hier in aller Kürze dargelegten und schon eingangs erwähnten „Dauerschleife“ des Modernitätsparadigmas, in die sich die Hanseforschung unter dem Druck der These von Stromers selbst geführt hat, herausbringen kann und bereits herauszuziehen begonnen hat. Denn ein regionalhistorischer Ansatz erbringt vielfach nicht neue Erkenntnisse zum Dreiklang von „schneller, höher, weiter“, auf den – salopp formuliert – die ‚Modernisten‘ unter den Hansehistorikern aus sind, sondern er bricht die damaligen Verhältnisse oftmals auf das mittelalterliche Normalmaß herunter. Dieses war – aufs Ganze gesehen – eben nicht allein vom Lübecker Superlativ bestimmt. Es kannte vielmehr auch die Realität von Hansestädten wie Salzwedel oder Kiel. Steffen Langusch hat 2015 einen inhaltlich beachtlichen Beitrag zum Thema „Salzwedel und die Hanse“ veröffentlicht, worin er zeigt, dass zum Beispiel Lübeck nur eine untergeordnete Rolle für den Fernhandel der Salzwedeler Kaufleute spielte, dass sie vielmehr über Hamburg am Flandernhandel teilnahmen87. Insbesondere verdeutlicht er am lokalen Fall Salzwedels und am regionalen Beispiel der altmärkischen Hansestädte, dass die in der allgemeinen Hanseforschung gängige These, der Entzug des Willkürrechts und das Verbot von Städtebündnissen, auch das Fehlen eines „vollmächtigen Rats“ hätten grundsätzlich zum Verlust der Hansefähigkeit einer Stadt geführt, so nicht unbedingt zutreffen kann. Langusch erkennt vielmehr zwischen den Salzwedeler Sühnebestimmungen von 1488, die die politische Selbstständigkeit der Stadt beschnitten, und dem offiziellen Ende der Hansemitgliedschaft 1518, also 30 Jahre später, keinen direkten Zusammen-
85 MATTHIAS PUHLE: Partner und Konkurrenten der Hanse. In: HAMMEL-KIESOW, PUHLE, WITTENBURG (Hg.): Die Hanse (wie Anm. 24), 180 f. 86 Das Zitat entstammt MARK HÄBERLEIN: Die Fugger: Konkurrenten der Hanse im Ostseeraum? In: ROLF HAMMEL-KIESOW, STEPHAN SELZER (Hg.): Hansischer Handel im Strukturwandel vom 15. zum 16. Jahrhundert (= Hansische Studien 25), Trier 2016, 49–66, hier 64. 87 Siehe dazu und zum Folgenden STEFFEN LANGUSCH: Salzwedel und die Hanse. In: Jahresbericht des altmärkischen Vereins 85 (2015), 1–39, hier 8 f.
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hang88. Thomas Hill hingegen publizierte 2016 einen Aufsatz zur gern vergessenen Kieler Hansegeschichte, worin er die durchaus frühe Teilhabe der betreffenden Kaufleute am hansischen Fernhandel ab 1283 ebenso vor Augen führt wie die insgesamt eher bescheidene hansische Partizipation Kiels in ökonomischer, personeller und politischer Hinsicht89. Auf seine Schlussbeobachtung, „Kiel war – wie viele andere Städte – eine Stadt auch in der Hanse“, wird nochmals zurückzukommen sein90. Kiel war bekanntlich gleichfalls ein gewichtiger Baustein der nordelbisch-holsteinischen Städtelandschaft. Solche Städte in der Region um Hansestädte lassen sich als Spiegelung derselben deuten, wie Stefan Inderwies91 und wiederum Thomas Hill nachgewiesen haben. Letzterer geht sogar so weit, die bipolar beziehungsweise korrespondierend zwischen Nord- und Ostsee aufgestellte holsteinische Städtelandschaft als bewusste Entgegnung auf das hansische Städtepaar Lübeck-Hamburg zu verstehen92. Und beide Bereiche blieben natürlich nicht getrennt voneinander. Die Märkte der Hansestädte waren ganz im Gegenteil auch wichtig für die kleineren Städte in ihrer Umgebung. Umgekehrt zeigten die Hansestädter ein hohes Interesse an Renten- und Grundstückskäufen in diesen Städten und versuchten zudem, in die Ratsgremien derselben einzusickern93. Es gibt also ganz aktuelle Erkenntnisse aus dem Bereich des Lokalen und Regionalen, die die Hansegeschichtsforschung inhaltlich voranbringen und bisherige Fehldeutungen geraderücken. Die illustrierende Beispielreihe sei mit einem Aufsatz von Stefanie Rüther beschlossen, der sich gewaltsamen Übergriffen der Hansestädte auf Ressourcen ihres Umlandes widmet94. Wie Rüther darin darlegt, wird die durchaus expansive Territorialpolitik der Hansestädte nach wie vor einseitig als „Garantie für die Verkehrssicherheit“ gedeutet, und kriegerische Handlungen derselben werden nicht als Fehde, sondern als Streben nach ungestörtem Ertrag interpretiert95. Dieses Narrativ verbinde sich mit der Beschreibung hansestädtischer Gewalt als lediglich durch angeworbene Söldner ausgeführt, wenn Gewalt denn überhaupt zur Sprache komme. Die nach wie vor nahezu durchweg verbreitete Sicht, Hansestädte seien Hüterinnen des Landfriedens gewesen und hätten vornehmlich zu 88 Ebenda, 17 f. 89 THOMAS HILL: Kleine Städte in der Hanse. Das Beispiel Kiels (1250–1400). In: SONJA BIRLI u. a. (Hg.): ene vruntlike tohopesate (wie Anm. 18), 247–265. 90 Ebenda, 264. 91 STEFAN INDERWIES: Wie Regionalgeschichte auch Hansegeschichte werden kann – Überlegungen zur Grafschaft Holstein und ihrer Städte im Mittelalter. In: AUGE (Hg.): Hansegeschichte als Regionalgeschichte (wie Anm. 3), 213–227. 92 THOMAS HILL: Im Schatten der Hanse und des Welthandels. Schleswig-Holstein als Transitland zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. In: KLAUS KRÜGER, ANDREAS RANFT, STEPHAN SELZER (Hg.): Am Rande der Hanse (= Hansische Studien 22), Trier 2012, 71–87. 93 INDERWIES: Wie Regionalgeschichte auch Hansegeschichte werden kann (wie Anm. 91), 221. 94 STEFANIE RÜTHER: Städtische Territorialpolitik? Übergriffe der Hansestädte auf Ressourcen des Umlandes im Mittelalter. In: OLIVER AUGE, NORBERT FISCHER (Hg.): Nutzung gestaltet Raum. Regionalhistorische Perspektiven zwischen Stormarn und Dänemark (= Kieler Werkstücke. Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 44), Frankfurt a. M. 2017, 125–137. 95 Ebenda, 129. Auch zum Folgenden.
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diesem Zweck gewaltsam Burgen in ihrem Umland erobert, verdiene indes nicht länger uneingeschränkt Glauben96. Insgesamt sei die Sichtweise vom Krieg als ein von außen an die Städte herangetragener Störfall beziehungsweise als eine dem grundsätzlich friedlichen Charakter städtischen Lebens widerstrebende Ausnahme mehr als fragwürdig. Am Beispiel Lübecks kann Rüther vielmehr verdeutlichen, dass die Stadt einerseits zwischen 1394 und 1405 kein Jahr ohne Beteiligung an den Konflikten der engeren und weiteren Umgebung erlebte und dass andererseits die Zuschreibung eines Bedrohungspotentials zur Rechtfertigung militärischer Aktionen gegen das Umland schon zeitgenössisch war97. Als damals nämlich ein Bürgerausschuss vom Rat forderte, außerstädtischer Landbesitz, egal ob zu Eigentum oder als Pfand, sei wegen der damit verbundenen großen finanziellen Belastung für die Stadt innerhalb der nächsten drei Jahre abzugeben, entgegnete der Rat, dass es für die Stadt nicht gut sei, wenn die Landgüter wieder in die Hand adeliger Ritter kämen. Denn dadurch würden die Straßen wieder so unsicher wie in der Zeit, bevor das Land in die Hand der Bürger gekommen sei. Hinter der aktiven Kriegspolitik Lübecks habe allerdings in der Realität ein starkes Interesse der städtischen Führungsschicht an der Teilhabe an den Ressourcen des Umlandes gestanden. Diese konzise Schlussfolgerung gilt indes nicht allein für die Hansestadt Lübeck, sondern auch für andere Hansestädte wie Magdeburg oder Greifswald, wie in einem anderen aktuellen Beitrag gezeigt wird98. Eine verstärkte regionalspezifische Betrachtung hansischer Geschichte kann, wie im letzten Beispielfall deutlich geworden sein dürfte, einer verbreiteten und zugleich fragwürdigen Deutung hansestädtischer und mithin auch hansischer Interessenspolitik entgegenarbeiten. Mit anderen Worten: An die Stelle einer in dieser Hinsicht bisher offenbar argumentativ schwach aufgestellten Forschung tritt eine auf der Stärke des regionalhistorischen Zugriffs beruhende Deutung. Die Hansegeschichtsforschung hat diesen durch die Arbeit der Kieler Abteilung für Regionalgeschichte weitergegebenen Impuls erfreulicherweise aufgegriffen und beispielsweise auf der 129. Pfingsttagung des Hansischen Geschichtsvereins vom 20. bis 23. Mai 2013 in Wismar ein Streitgespräch zwischen Carsten Jahnke und Stuart Jenks zum Thema „Die Hanse findet nur in der Region statt“ durchgeführt99. Das Streitgespräch auf der Pfingsttagung war natürlich bewusst thesenartig zugespitzt. Die Frage lässt sich indes gewiss nicht so eindeutig beantworten, wie es der Titel des Streitgesprächs suggerierte. Denn wie bereits Hammel-Kiesows Charakterisierung des hansischen Außenhandelsnetzwerkes als regional und zugleich
96 Ebenda, 134 f. 97 Ebenda, 133 f. Auch zum Folgenden. 98 OLIVER AUGE: Hansestädte(r) ziehen in den Krieg: Zu Hintergründen, Ablauf und Ergebnissen hansestädtischer Militäroperationen zu Lande. In: ORTWIN PELC (Hg.): Hansestädte im Konflikt. Krisenmanagement und bewaffnete Auseinandersetzung vom 13. bis zum 17. Jahrhundert (= Hansische Studien 23), Wismar 2019 (im Druck). 99 Freundlicherweise hat Carsten Jahnke einen Audio-Mitschnitt jenes Streitgesprächs zur Verfügung gestellt, dem dieses Zitat entnommen ist.
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überregional-international nahelegte100, ist Hansegeschichte wohl letztlich immer beides gewesen: Teil einer Global- und einer Regionalgeschichte. Und nur aus beiden Perspektiven gemeinsam ist Hansegeschichte richtig zu verstehen. Die eng – weit enger als oftmals zugegeben – miteinander verwandten Methodiken der Global- und Regionalgeschichtsforschung legen eine vernetzte Sichtweise nahe101. Oft genug nämlich handelt es sich bei Arbeiten unter dem Etikett der Globalgeschichte nicht um Forschungen zur Weltgeschichte, sondern um Studien zur Regionalgeschichte in der Welt, in einzelnen Teilen unseres Globus. Das ist kein Fehler, ganz im Gegenteil, muss zur methodischen Relativierung des derzeitigen Booms der Globalgeschichte aber deutlich ausgesprochen werden. Dazu passt freilich die Beobachtung, dass sich Globalisierung grundsätzlich immer in kleineren Räumen abspielt, um sich dann zum großen Ganzen zu verbinden102. So betrachtet wird die regionale Verankerung der Hanse wirklich zu einer echten Grundvoraussetzung ihrer aktiven Rolle bei der mittelalterlichen Globalisierung. Oder anders ausgedrückt: Der regionalhistorische Ansatz ist durch seine thematische Ausrichtung und seinen methodischen Zugriff ein wichtiger Baustein bei dem Bemühen um ein umfassendes Verständnis vom Wesen der Hanse. IV. Ausblick Es steht zu erwarten, dass die solchermaßen angelaufene Diskussion, die sich auch in der zu Beginn dieses Beitrags näher berührten Rezension widerspiegelt, zu weiteren differenzierten Anstrengungen bezüglich der Frage motiviert, ob der regionalhistorische Ansatz im Rahmen der Hansegeschichte sinnvoll ist oder nicht. Vor allem muss es dabei künftig um die Herausarbeitung einer möglichst scharfen Trennlinie zwischen dem gehen, was die Regionalgeschichte grundsätzlich inhaltlich will und methodisch zu leisten vermag, und einem klassischen stadt- beziehungsweise lokalgeschichtlichen Ansatz, der bezogen auf die einzelne Hansestadt häufig genug das Etikett „hansisch“ von seinen Ergebnissen her nicht verdient. Noch einmal sei daran erinnert, dass Hill resümiert, Kiel sei auch eine Stadt in der Hanse gewesen103. Daneben war Kiel zeitgleich Residenzstadt und eine Stadt des Adels, vor allem aber eine im Nahbereich gut vernetzte holsteini-
100 Siehe dazu nochmals HAMMEL-KIESOW: Der Januskopf der dudeschen hense (wie Anm. 71), 56. 101 Zur Methodik der Globalgeschichte siehe etwa SEBASTIAN CONRAD, ANDREAS ECKERT, ULRIKE FREITAG (Hg.): Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen (Globalgeschichte 1), Frankfurt a. M. u. a. 2007; ANDREA KOMLOSY: Globalgeschichte. Methoden und Theorien (Urban Taschenbücher 3564), Wien 2011. 102 GISELA GRAICHEN, ROLF HAMMEL-KIESOW: Die Deutsche Hanse. Eine heimliche Supermacht, Reinbek 2011, 309. 103 HILL: Kleine Städte in der Hanse (wie Anm. 89).
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sche Landstadt104. Stephan Selzer beobachtete bereits 2010 mit einer gewissen Reserviertheit, dass sich Hanseforschung immer mehr zur mittelalterlichen Stadtgeschichte Niederdeutschlands entwickle. Dies könne man als Zersplitterung des Forschungsstandes herabsetzen105. Seine berechtigte Warnung gilt es unmittelbar zu beherzigen, will die Regionalgeschichte nicht selbst ein die Hanseforschung hemmendes Element werden. Den Stein der Weisen in dieser diffizilen Frage zu finden, fällt aber offenkundig gar nicht so leicht. „Wo also soll man die Grenzen ziehen im Rahmen etwa der Geschichte einer einzelnen Hansestadt?“, fragt ganz richtig der schon erwähnte Steffen Langusch106: „Ist nur der Fernhandel relevant, im Extremfall vielleicht nur der Fernhandel in den vier Hansekontoren Bergen, Brügge, London und Nowgorod sowie in den etwa 30 hansischen Faktoreien, oder gehören auch Umlandhandel und Marktwesen zur Hansegeschichte einer Stadt? Welche Bedeutung hat das städtische Handwerk? Waren nur Fernhandelskaufleute Profiteure des Handels oder müssen auch andere Teile der städtischen Gesellschaft (namentlich der Oberschichten, wie z. B. der Adel und die Geistlichkeit) berücksichtigt werden? Wie spiegeln sich Stadt-Umland-Beziehungen im Hansehandel wieder?“ Das sind punktgenau die Fragen, die Regional- wie Hansegeschichtsforschung in nächster Zeit noch intensiv beschäftigen müssen und deren Beantwortung letztendlich darüber entscheiden wird, ob aus einem in gängigen Darstellungen projizierten Bild des Niedergangs der Hanse wie aus einem an manchen Stellen empfundenen inhaltlichen Defizit der Hanseforschung mit einer zusätzlichen regionalhistorischen Perspektive eine Stärke und ein Mehrwert zu werden vermag.
104 Vgl. dazu z. B. OLIVER AUGE: Kiel in der Geschichte. Facetten einer Stadtbiografie (= Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 86), Hamburg/Kiel 2017, 53–75. 105 SELZER: Die mittelalterliche Hanse (wie Anm. 56), 11. 106 Dazu und zum Folgenden LANGUSCH: Salzwedel und die Hanse (wie Anm. 87), 2.
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OBERPFÄLZISCHE BÜRGER UND SOLDATEN WÄHREND DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGES Eine Sondierung der Problematik Jan Kilián ABSTRACT Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Problematik der Beziehungen zwischen Soldaten und Bürgern während des Dreißigjährigen Krieges am Beispiel ausgewählter Städte in der Oberpfalz (Neumarkt, Weiden, Nabburg, Cham etc.). Es herrscht die allgemeine Überzeugung, dass die Bürger nur negative Erfahrungen mit Soldaten hatten, wenn sie Gewalt, Diebstahl von Eigentum und Beleidigungen erfahren, diese in ihren Häusern unterbringen und ihre Mahlzeiten bezahlen mussten, ganz zu schweigen davon, dass bei einem feindlichen Angriff auf die Stadt ebenfalls ihr Leben und die Ehre ihrer Frauen und Töchter in fatale Gefahr gerieten. Auf der anderen Seite gab es aber auch eine mannigfaltige Zusammenarbeit zwischen den beiden sozialen Schichten, wie den Kauf von Gütern von Soldaten oder die Knüpfung verwandtschaftlicher Beziehungen. Die Studie verfolgt daneben auch die Bildung der kriegstypischen Abwehrmechanismen in oberpfälzischen Städten. The article examines the relations between soldiers and civilians during the Thirty Years’ War in selected cities of the Upper Palatinate, including Neumarkt, Weiden, Nabburg, and Cham. There is a general tendency in the literature to view urban citizens’ experiences with soldiers as purely negative; according to this view, town dwellers frequently had to face violence, theft, and insults, as well as to endure the quartering of military personnel in their homes and supply their unwelcome guests with food. In the case of enemy attacks on the city, they were also at risk to lose their lives and the honor of their wives and daughters. On the other hand, this article demonstrates that civil-military relations were also marked by various forms of cooperation, such as the purchase of goods and even the forging of social relationships. Moreover, the article also investigates the defensive measures taken by Upper Palatine towns during this lengthy wartime period.
Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) ist sicherlich ein Zeitabschnitt, der angesichts seiner fesselnden Ereignisse und hervorragenden Persönlichkeiten nicht nur die Historiker, sondern auch die allgemeine Leserschaft ständig beschäftigen wird. Über diese Ereignisse und Personen hinaus ist es jedoch möglich, auch den Alltag und die Auswirkungen der Kriegsrealität auf die einfache, in den Städten und auf dem Lande lebende Bevölkerung zu studieren. Alle gesellschaftlichen Schichten waren damals in einem bisher unbekannten Ausmaß mit Militär konfrontiert und mussten einen modus vivendi mit ihm finden. Es ist bekannt, dass die
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Hauptlast in Form der Unterbringung und Versorgung der Soldaten gerade die Städte trugen. Wie sah jedoch konkret das Zusammenleben dieser beiden auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen im städtischen Raum aus? Waren sie für die Städte wirklich durchgehend verheerend? Existierten territoriale Unterschiede, bzw. waren einige Städte durch das Militär schlimmer betroffen als andere? Wie verlief der Alltag eines in die Stadt verlegten Soldaten, wie fügte er sich in das städtische Umfeld ein, worauf hatte er seitens seines „Gastgebers“ Anspruch? Ähnliche Fragen ließen sich unendlich viele stellen – auf einige davon versuche ich auf den folgenden Seiten am Beispiel von sechs ausgewählten oberpfälzischen Städten zu antworten: Weiden, Neumarkt, Nabburg, Cham, Sulzbach und Neunburg vorm Wald. Eine spezifische Stellung hatte dabei Sulzbach, das nicht zum Herrschaftsgebiet Friedrichs V. von der Pfalz gehörte, sondern eine der Residenzen des Herzogtums Pfalz-Neuburg war. I. Problematik und Forschungsüberblick Die Kriegserfahrungen der Bürger und der Landbevölkerung zu erkunden, gehört auch aus historisch-anthropologischer und mikrohistorischer Perspektive zu den besonders lohnenden Bereichen historischer Forschung. Diese konzentriert sich zwar in Deutschland, aber auch hier entstand bisher keine Monografie, die sich speziell dem Zusammenleben der Bürger mit den in ihren Städten einquartierten Soldaten gewidmet hätte (im Gegensatz zu den sich in Dörfern aufhaltenden Soldaten1). Teilweise wird dieses Defizit durch einige wissenschaftliche Tagungsbände kompensiert, die zumeist vom Arbeitskreis „Militär und Gesellschaft in der frühen Neuzeit“ veranstaltet wurden. Zu den gelungensten und für die weitere Forschung zweifellos wichtigsten gehören die Sammelbände über die Beziehungen zwischen Militär und frühneuzeitlicher Gesellschaft2 bzw. Militär und ländlicher Gesellschaft in der Frühen Neuzeit3. Einer seiner Herausgeber, Bernhard Kroener, behandelt dieses Thema auch in anderen Sammelwerken4. Als grundlegend können ferner die in diesen Sammelbänden publizierten Texte von Michael Kaiser und Ralf Pröve gelten. Kaiser bezeichnete seinen Aufsatz als Überlegungen zu Konstituierung und Überwindung eines lebensweltlichen Antagonismus zwischen Söldnern und Bevölkerung, wobei er sich vor allem mit der unterschied-
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JÖRG RATHJEN: Soldaten im Dorf: Ländliche Gesellschaft und Kriege in den Herzogtümern Schleswig und Holstein 1625–1720, Kiel 2004. BERNHARD R. KROENER, RALF PRÖVE (Hg.): Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn 1996. STEFAN KROLL, KERSTEN KRÜGER (Hg.): Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Münster/Hamburg/London 2000. BERNHARD R. KROENER: Militär in der Gesellschaft. Aspekte einer neuen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit. In: THOMAS KÜHNE, BENJAMIN ZIEMANN (Hg.): Was ist Militärgeschichte (= Krieg in der Geschichte 6), Paderborn 2000, 283–299.
Oberpfälzische Bürger und Soldaten während des Dreißigjährigen Krieges
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lichen Sicht beider Gruppen auf Normen und Lebenswelten beschäftigte5. Dagegen befasste sich Ralf Pröve mit den Umständen des Aufenthalts von Soldaten in bürgerlichen Haushalten, wobei sein zeitlicher Horizont weiter gesteckt war und die gesamte Frühe Neuzeit einbezog6. Einen repräsentativen Querschnitt bietet zudem ein Sammelband über die Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges „aus der Nähe“, der ebenfalls einige Studien enthält, die sich auf Städte und deren Belastung durch das Militär beziehen7. Die Beziehungen der städtischen Bevölkerung zu den Soldaten konnte natürlich auch keine der neueren Monografien ausblenden, die Städten im Zeitraum des Dreißigjährigen Krieges gewidmet sind. In der zweiten Hälfte der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre erschienen mehrere Arbeiten von Bernd Roeck über Augsburg, zu deren aufschlussreichsten die Aufsätze gehören, die sich mit der Psyche der durch den Krieg betroffenen Menschen und dem Niedergang der Wirtschaft befassen. Roeck, der hierbei die Möglichkeiten der Mikrohistorie und historischen Anthropologie umfassend nutzte, interessierte zwar primär der einfache Mensch, jedoch nicht speziell seine Beziehung zu den Soldaten, so dass er zu der genannten Problematik nur geringfügige Details beisteuert8. Ähnliches gilt auch für die ansonsten präzisen Analysen der Verhältnisse in einigen süddeutschen Reichsstädten von Thomas Wolf – er behandelt vor allem die demografischen Verhältnisse und die Wirtschaft9. Durch Wolf inspiriert wurde offensichtlich Kathrin Werner bei ihrer Dissertation, die sich auf die norddeutsche Städtegruppe Demmin, Loitz, Anklam und Wolgast konzentriert, dabei aber auch weitere Städte am Fluss Peene in Vorpommern berücksichtigt10. Mit ihrem monumentalen Umfang beeindruckt die Dissertation von Christian Plath über Konfessionskämpfe und feindliche Okkupationen am Beispiel Hildesheims, die den gesamten Zeitraum 1580–1660 abdeckt. Der militärischen Präsenz wird hier nur geringer Raum
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MICHAEL KAISER: Die Söldner und die Bevölkerung. Überlegungen zu Konstituierung und Überwindung eines lebensweltlichen Antagonismus. In: STEFAN KROLL, KERSTEN KRÜGER (Hg.): Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Münster/Hamburg/London 2000, 79–120. 6 RALF PRÖVE: Der Soldat in der „guten Bürgerstube“. Das frühneuzeitliche Einquartierungssystem und die sozioökonomischen Folgen. In: KROENER, PRÖVE (Hg.): Krieg und Frieden (wie Anm. 2), 191–219. 7 HANS MEDICK, BENIGNA VON KRUSENSTJERN (Hg.): Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1999. 8 BERND ROECK: „Als wollt die Welt schier brechen“. Eine Stadt im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, München 1991; DERS.: Eine Stadt im Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, 2 Bde., Göttingen 1989. 9 THOMAS WOLF: Reichsstädte in Kriegszeiten. Untersuchungen zur Verfassungs-, Wirtschaftsund Sozialgeschichte von Isny, Lindau, Memmingen und Ravensburg im 17. Jahrhundert, Memmingen 1991. 10 KATHRIN WERNER: Vorpommersche Städte entlang der Peene im Dreißigjährigen Krieg. Die Auswirkungen dieses Krieges auf das ökonomische, soziale und kulturelle Leben der Bewohner von Demmin, Loitz, Anklam, Wolgast und anderer Peenestädte, 2 Bde., Greifswald 1996.
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eingeräumt11. Ein Spezialfall war Ingolstadt als wichtige und während des Dreißigjährigen Krieges nicht überwundene bayerische Festung, bei deren Untersuchung sich Tobias Schönauer auf die Begleitumstände des Kriegs konzentrierte, einschließlich der Übervölkerung der Stadt durch Flüchtlinge und Soldaten12. Den Beziehungen zwischen städtischer Bevölkerung und Militär nähert sich aber am stärksten Martin Wildgruber, der in seiner Arbeit über Wasserburg nur den zeitlich eng begrenzten Abschnitt zwischen 1632 und 1634 betrachtet. Es handelt sich dabei um den Zeitraum, in dem die Stadt am stärksten vom Feind bedroht und als wichtige Festung auch von Soldaten regelrecht überschwemmt war13. Neben den genannten entstanden einige weitere, ähnlich orientierte Arbeiten, deren Qualität jedoch unterschiedlichen Niveaus ist und die die genannte Problematik nicht grundsätzlich erhellen14. Bemerkenswert ist zudem, dass kein einziger der erwähnten Autoren dem Zusammenleben der Soldaten mit der Stadtbevölkerung ein eigenes Kapitel widmet. Dasselbe gilt für die umfangreichen Arbeiten eines Autorenkollektivs über Wien während des Dreißigjährigen Krieges, die ein breites thematisches Spektrum von der Demografie bis zur Geschichte des Theaters und der Musik aufweisen, wobei sich dem Militärwesen nur Peter Broucek annimt15. Ungleich größere Aufmerksamkeit widmet der Auseinandersetzung der städtischen Bevölkerung mit den Soldaten Doris Gretzel in ihrer gelungenen und als Buch publizierten Diplomarbeit, die für die Stadt Zwettl eine bisher ungenutzte narrative Quelle zur Verfügung hatte und u. a. interessante Perspektiven auf das böhmische Heer von österreichischer Seite vermittelt16. Weiterhin finden wir selbständige Kapitel über Interaktionen zwischen Soldaten und Bürgern in den Arbeiten von Philip Tober über Wismar und Antje Rieck über Frankfurt am Main in den Jahren 1631 bis 1635. Tober verfolgte Konflikte, in denen physische Gewalt, Diebstahl, Raub, Zerstörung von Liegenschaften usw. greifbar werden17. Die Schilderungen von Rieck über das alltägliche Leben in einer Stadt während der mehrjährigen Okkupation durch die Schweden gehören in dieser Hinsicht zu den
11 CHRISTIAN PLATH: Konfessionskampf und fremde Besatzung. Stadt und Hochstift Hildesheim im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (ca. 1580–1660), Münster 2005. 12 TOBIAS SCHÖNAUER: Ingolstadt in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Soziale und wirtschaftliche Aspekte der Stadtgeschichte, Ingolstadt 2007. 13 MARTIN WILDGRUBER: Die feste Stadt Wasserburg im Dreißigjährigen Krieg 1632–1634, Wasserburg am Inn 1986. 14 Siehe besonders ROBERT STRITMATTER: Die Stadt Basel während des Dreißigjährigen Krieges. Politik. Wirtschaft. Finanzen, Bern 1977; MARTIN KNAUER, SVEN TODE (Hg.): Der Krieg vor den Toren. Hamburg im Dreißigjährigen Krieg 1618–1648, Hamburg 2000, oder WERNER EBERMEIER: Landshut im Dreißigjährigen Krieg, Landshut 2001. 15 ANDREAS WEIGL (Hg.): Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung – Gesellschaft – Kultur – Konfession, Wien/Köln/Weimar 2001. 16 DORIS GRETZEL: Die landesfürstliche Stadt Zwettl im Dreißigjährigen Krieg, Zwettl 2004. 17 PHILIP TOBER: Wismar im Dreißigjährigen Krieg 1627–1648. Untersuchungen zur Wirtschafts-, Bau- und Sozialgeschichte, Berlin 2007, besonders 114–119.
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ertragreichsten überhaupt, weil hier im Prinzip kein Aspekt des komplizierten Zusammenlebens von Soldaten und Bürgern fehlt18. In der Tschechischen Republik widmete sich der Problematik zunächst Marek Ďurčanský19; an seine Forschungen schloss Jan Kilián an, der sich um eine detaillierte komparative Untersuchung der Beziehungen dieser beiden Sozialgruppen bemüht20. II. Rahmenbedingungen: Die Oberpfalz im Krieg In beiden Teilen der Pfalz regierte seit dem Tode seines gleichnamigen Vaters im Jahre 1610 Kurfürst Friedrich V., anfänglich wegen seiner Minderjährigkeit unter einer Vormundschafts-Kuratel. Die selbständige Regierung übernahm er 1614, und in den folgenden Jahren empfing er die Huldigung der oberpfälzischen Städte21. Östlich dieses Gebiets, im benachbarten böhmischen Königreich, begann sich damals bereits die Situation zwischen den dominanten Protestanten und den weniger zahlreichen, jedoch mächtigen und durch die Habsburger geschützten Katholiken zuzuspitzen. Dieser Konflikt mündete im Frühjahr 1618 in den Prager Fenstersturz und eine offene militärische Auseinandersetzung22. Die böhmischen Stände wählten sich zunächst ein Direktorium als Regierung, und nach dem Tode Kai18 ANJA RIECK: Frankfurt am Main unter schwedischer Besatzung 1631–1635. Reichsstadt – Repräsentationsort – Bündnisfestung, Frankfurt a. M. 2005. 19 MAREK ĎURČANSKÝ: Zkušenosti Nymburských s vojáky za třicetileté války. Sonda do problematiky obrazu vojáka v českém prostředí [Erfahrungen der Stadt Nimburg mit den Soldaten zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Eine Sonde in die Problematik des Bildes des Soldaten im böhmischen Milieu]. In: Kuděj 1999/1, 22–38. 20 JAN KILIÁN: Město ve válce, válka ve městě. Mělník 1618–1648 [Eine Stadt im Krieg, ein Krieg in der Stadt. Melnik 1618–1648], České Budějovice 2008, besonders 139–198; DERS.: Kašperské Hory za třicetileté války [Die Stadt Bergreichenstein in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges], Plzeň 2015, besonders 49–60; DERS.: „Gott wird sie straffen...“. Vojáci v pamětech Michela Stüelera z Krupky (1629–1649) [Soldaten im Gedenkbuch Michel Stüelers aus Graupen]. In: Historie – otázky – problémy 3/1 (2011), 115–122; DERS.: Na kvartýře. K aspektům soužití mezi vojáky a měšťany za třicetileté války [Im Quartier. Zu den Aspekten des Zusammenlebens der Soldaten und der Bürger zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges]. In: Historie a vojenství LXIII, 1 (2014), 20–34 oder DERS.: Vojenské násilí ve městech za třicetileté války. Se zvláštním přihlédnutím k Plzeňsku [Die militärische Gewalt in den Städten zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Mit besonderer Beachtung der Pilsener Region]. In: Folia Historica Bohemica 29/1 (2014), 5–29. 21 Zu Friedrich V. von der Pfalz z. B. BRENNAN C. PURSELL: The Winter King. Frederick V of the Palatinate and the Coming of the Thirty Yearsʼ War, Aldershot 2003; Peter Bilhöfer: Nicht gegen Ehre und Gewissen. Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz – Winterkönig von Böhmen (1596–1632), Heidelberg 2004; JOHANNES LASCHINGER (Hg.): Der Winterkönig. Königlicher Glanz in Amberg, Amberg 2004 oder Jaroslav Čechura: Zimní král aneb české dobrodružství Fridricha Falckého [Der Winterkönig oder das böhmische Abenteuer Friedrichs von der Pfalz], Prag 2004. 22 Vgl. z. B. JAN KILIÁN: Religiös-politische Unruhen in Böhmen und der (dritte) Prager Fenstersturz. In: ROBERT REBITSCH (Hg.): 1618. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges, Wien/ Köln/Weimar 2017, 149–168.
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ser Matthias’ (1619) lehnten sie den bereits 1617 gewählten Ferdinand II. ab, enthoben ihn des Thrones und wählten den calvinistischen Kurfürsten Friedrich V. zum König, besonders im Hinblick darauf, dass es sich bei ihm um das Haupt der Union und den Schwiegersohn des englischen Königs Jakob I. handelte23. Friedrich zog mit der Annahme der böhmischen Krone sein Land in den Dreißigjährigen Krieg hinein, obwohl sich die Auseinandersetzungen in der ersten Phase bis 1620 nur auf dem Territorium der böhmischen Krone und Österreichs abspielten24. Jedenfalls begann man in der Oberpfalz bereits ab 1619 Truppen anzuwerben, was allerdings auch für die nahegelegenen bayerischen Besitztümer galt, denn Herzog Maximilian von Bayern, das Haupt der Katholischen Liga25, gewährte seinem habsburgischen Verbündeten umfassende Hilfe. Seinen pfälzischen Verwandten konnte er persönlich nicht ausstehen und spekulierte auf dessen kurfürstlichen Rang26. Friedrich V. und die böhmischen Stände erlitten eine fatale Niederlage am Weißen Berg bei Prag (November 1620), und der pfälzische Regent, auch „Winterkönig“ genannt, musste fliehen27. Zwar hielten ihm die Truppen in der Oberpfalz, die sich aus vom englischen König bereitgestellten schottischen und englischen Soldaten zusammensetzten, die Treue, und für seine Interessen kämpften auch die Söldner des Generals Ernst von Mansfeld28; ein deutliches Übergewicht lag jedoch auf der ligistisch- bzw. bayerisch-kaiserlichen Seite. 1621/22 kapitulierten die oberpfälzischen Städte, einige nach hartem Kampf. Schließlich fiel auch das rheinpfälzische Heidelberg als Friedrichs Hauptstadt und Residenz29. Die Pfalz und der kurfürstliche Rang wurden an Maximilian von Bayern übertragen, der auf seinem neu gewonnenen Territorium die Rekatholisierung begann. Für die oberpfälzischen Städte sollten ab diesem Zeitpunkt die Aufenthalte verschieden starker ligistischer und kaiserlicher Einheiten alltägliche Realität werden. Die Oberpfalz selbst wurde von Bayern annektiert. Was Kampfhandlungen betrifft, herrschte dort allerdings für einige Jahre Ruhe; die Kämpfe spielten sich in weiter Entfernung ab – in Schlesien, Mähren, Norddeutschland und Dänemark. Nach der Pazifizierung Dänemarks und Mansfelds schien es, dass der Kaiser bzw. sein Ge23 Vgl. MAGNUS RÜDE: England und Kurpfalz im werdenden Mächteeuropa. Konfession – Dynastie – kulturelle Ausdrucksformen, Stuttgart 2007. 24 Siehe HANS STURMBERGER: Aufstand in Böhmen. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges, München 1959. 25 FRANZISKA NEUER-LANDFRIED: Die Katholische Liga. Gründung, Neugründung und Organisation eines Sonderbundes 1608–1620, Kallmünz 1968. 26 Zu seiner Person ANDREAS KRAUS: Maximilian I. Bayerns großer Kurfürst, Graz/Wien/ Köln/Regensburg 1990; KURT PFISTER: Kurfürst Maximilian von Bayern und sein Jahrhundert, München 1948; DIETER ALBRECHT: Die auswärtige Politik Maximilians von Bayern 1618–1635, Göttingen 1962; HELMUT DOTTERWEICH: Der junge Maximilian. Biographie eines bayerischen Prinzen, München 1980. 27 OLIVIER CHALINE: Bílá hora [Der Weiße Berg], Prag 2013. 28 Dazu WALTER KRÜSSMANN: Ernst von Mansfeld (1580–1626). Grafensohn, Söldnerführer, Kriegsunternehmer gegen Habsburg im Dreißigjährigen Krieg, Berlin 2010. 29 Dazu ANNETTE FRESE: Der Winterkönig. Heidelberg zwischen höfischer Pracht und Dreißigjährigem Krieg, Remshalden 2004.
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neralissimus Wallenstein keinen Gegner mehr hatten30. Aber das erwies sich als Irrtum. Im Jahre 1630 griff der schwedische König Gustav II. Adolf in den Krieg ein, verbündete sich mit protestantischen Reichsständen und führte sein Heer rasch Richtung Süden31. Obwohl die Schweden in den oberpfälzischen Städten nicht sofort in Erscheinung traten, kam es dort im Zusammenhang mit deren Erfolgen zu Unruhen und Widerstand gegen den bayerischen Kurfürsten (z. B. in Neunburg vorm Wald32). Der schwedische König und Wallenstein blockierten sich 1632 bei Nürnberg gegenseitig33, bevor sich Gustav II. Adolf im folgenden Jahr mit Wallenstein bei Lützen die Schlacht lieferte, in der er sein Leben ließ. Aber schon seit Nürnberg breiteten sich schwedische Bataillone in der Umgebung aus, und es gelang ihnen 1632, einige Festungen und Städte in der Oberpfalz zeitweilig zu erobern, u. a. Sulzbach34. Überdies drang Bernhard von Sachsen-Weimar im gleichen Jahr zur Donau vor, eroberte Regensburg und Straubing, und seine Männer gelangten auf ihren Raubzügen bis in die Oberpfalz. In Verbindung mit den Weimarischen und anderen Opponenten der Bayern bedrohten oder eroberten die Schweden weitere oberpfälzische Städte einschließlich Neumarkts35, bevor sie 1635 für längere Zeit durch die kaiserliche Armee aus der Region verdrängt wurden. Nach den Niederlagen bei Regensburg und Nördlingen36 brach der antihabsburgische Widerstand erneut zusammen; Sachsen und Brandenburg schlossen mit dem Kaiser den Prager Frieden (1635)37. Nur der offene Kriegseintritt des katholischen Frankreich gegen die Habsburger rettete die protestantische Sache und Schweden, dem die Kräfte ausgingen. Mehrere Jahre wurde nun wieder weit von der Oberpfalz entfernt gekämpft: in Frankreich, im Westen des Reiches und in Norddeutschland. Dem kaiserlichen Oberbefehlshaber Mathias Gallas gelang es 1638 nicht, im Norden den Truppen des schwedischen Generals Johann Banér standzuhalten, und er zog sich bis nach 30 Zu Wallenstein gibt es sehr zahlreiche Literatur, nur auswahlweise: GOLO MANN: Wallenstein, 3 Bde., Frankfurt am Main 1971–1974; ROBERT REBITSCH: Wallenstein. Biografie eines Machtmenschen, Wien/Köln/Weimar 2010; JOSEF POLIŠENSKÝ, JOSEF KOLLMANN: Wallenstein. Feldherr des Dreißigjährigen Krieges, Wien/Köln/Weimar 1997. 31 MICHAEL ROBERTS: Gustavus Adolfus, 2 Bde., London 1953–1958; GÜNTER BARUDIO: Gustav Adolf der Große, Frankfurt am Main 1982; DIETER ALBRECHT: Richelieu, Gustav Adolf und das Reich, München/Wien 1959 und besonders JÖRG-PETER FINDEISEN: Gustav Adolf II. von Schweden. Der Eroberer aus dem Norden, Graz/Wien/Köln 1996. 32 THEO MÄNNER, KARL-HEINZ PROBST: 1000 Jahre Neunburg vorm Wald, 1017 bis 2017, Neunburg vorm Wald 2017, 66. 33 HELMUT MAHR: Wallenstein vor Nürnberg 1632, Neustadt an der Aisch 1982. 34 ADOLF RANK: Sulzbach im Zeichen der Gegenreformation (1627–1649). Verlauf und Fazit einer beschwerlichen Jesuitenmission, Sulzbach-Rosenberg 2003, 78. 35 KARL RIED: Neumarkt in der Oberpfalz. Eine quellenmäßige Geschichte der Stadt Neumarkt, Neumarkt in der Oberpfalz 1960, 87. 36 Monografisch PETER ENGERISSER, PAVEL HRNČIŘÍK: Nördlingen 1634. Die Schlacht bei Nördlingen – Wendepunkt des Dreißigjährigen Krieges, Weißenstadt 2009. 37 KATRIN BAUER: Von Pirna nach Prag. Die Entstehungsgeschichte des Prager Friedens von 1635, Saarbrücken 2011.
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Böhmen zurück – mit den Schweden auf seinen Fersen38. Diese richteten in den böhmischen Ländern großen Schaden an und entschlossen sich 1640, den gerade tagenden Reichstag in Regensburg anzugreifen und Kaiser Ferdinand III. gefangenzunehmen. Das ist Banér zwar nicht gelungen39, aber bei seinem Rückzug über die Oberpfalz besetzte er eine Reihe von Städten, einige auch kampflos (der Kommandant von Cham wurde wegen seiner Kapitulation bald darauf hingerichtet40). Lange konnte er sich hier jedoch nicht halten, und im Frühjahr 1641 begann er sich nach Böhmen zurückzuziehen. Das gelang seiner Abteilung unter dem Kommando von Generalmajor Erik Slang aber nicht: Sie wurde bei Neunburg vorm Wald umzingelt und nach hartem Kampf zur Kapitulation gezwungen41. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges war für die Oberpfalz weniger dramatisch; die Schweden zeigten sich hier nur noch sporadisch (1645, 1647, 1648), und zu größeren Kampfhandlungen kam es nicht mehr, aber Neumarkt beispielsweise wurde erneut von den Schweden besetzt42, und Weiden wurde für lange Zeit zum schwedischen Rückhalt in der Region. Der Westfälische Frieden im Jahre 1648 bestätigte aus oberpfälzischer Sicht nur den Status Quo – während die Rheinpfalz den Nachkommen Friedrichs V. zurückgegeben wurde, blieb die Oberpfalz (ohne Weiden, das seit 1622 pfalz-neuburgisch war) dauerhaft im Besitz Maximilians von Bayern und seiner Nachfolger43. Die letzten Schweden zogen erst 1650 von hier ab44. III. Soldaten in oberpfälzischen Städten Soldaten hielten sich zwar schon vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges in oberpfälzischen Städten auf; hierbei handelte es sich aber um sporadische Aufenthalte, nach denen den Einwohnern ausreichend Zeit zur Regeneration gewährt wurde. Der Dreißigjährige Krieg hingegen mit seinen ständigen Truppenbewegungen und seiner langen Dauer brachte den Städten bisher unbekannte Belastungen. Nach Unterdrückung des böhmischen Aufstandes im Jahre 1620 verlagerten sich die Kampfhandlungen in die oberpfälzischen Besitzungen Friedrichs V. – und von diesem Augenblick an sollten auch die Städte in der Oberpfalz die nicht 38 ROBERT REBITSCH: Matthias Gallas (1588–1647). Generalleutnant des Kaisers zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Eine militärische Biographie, Münster 2006, besonders 184–203. 39 Vgl. LOTHAR HÖBELT: Ferdinand III. (1608–1657). Friedenskaiser wider Willen, Graz 2008, 176–182 (Kapitel „Des tollen Schweden letzter Streich“). 40 JOHANN BRUNNER: Geschichte der Stadt Cham, Cham 1919, 89. 41 MÄNNER, PROBST: 1000 Jahre (wie Anm. 32), 67. 42 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 107. 43 Vgl. FRITZ DICKMANN: Der Westfälische Friede, Münster 1959; HELMUT LAHRKAMP: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Frieden, Münster 1998 oder GERHARD IMMLER: Kurfürst Maximilian I. und der Westfälische Friedenskongress. Die bayerische auswärtige Politik von 1644 bis zum Ulmer Waffenstillstand, Münster 1992. 44 Zu den Ereignissen nach dem Frieden, in den Jahren 1648 bis 1650, ausführlich ANTJE OSCHMANN: Der Nürnberger Exekutionstag 1649–1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, Münster 1991.
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enden wollenden militärischen Aufenthalte erleben, sei es nur für wenige Stunden oder auch für mehrere Monate. Kriegserfahrungen im engeren Sinne machten sie zu Beginn der 1620er Jahre, als einige Garnisonen Friedrichs eine Kapitulation vor den ligistischen Truppen ablehnten und sich hier Scharmützel mit Mansfeld ereigneten; weiterhin in der ersten Hälfte der 1630er Jahre während der schwedischen Expansion nach Süddeutschland und in den 1640er Jahren bei wiederholten schwedischen Einfällen. Während in den frühen 1620er Jahren die oberpfälzischen Städte von Bayern dauerhaft besetzt wurden (falls diese Besatzungen nicht nach einiger Zeit vertrieben wurden), handelte es sich in den übrigen Fällen entweder um unterschiedlich lange Okkupationen oder um Plünderungen. Gründe zur Verlegung mehr oder weniger großer Truppenkontingente in die Städte gab es viele. Falls es sich um wichtige Festungsanlagen, Haupt- oder Residenzstädte handelte, durften hier keine permanenten Garnisonen fehlen, die im Fall einer realen Bedrohung meist zusätzlich verstärkt wurden. Das Leben in einer solchen Stadt während des Dreißigjährigen Krieges schildert Schönauer am Beispiel des bayerischen Ingolstadt, wo zur stabilen Garnison seit den 1630er Jahren ständig weitere Soldaten hinzukamen45. Ingolstadt blieben allerdings die Aufenthalte feindlicher Truppen erspart, was sich von den meisten oberpfälzischen Städten nicht sagen lässt. Ein Beispiel ist Cham, dessen strategische Lage an wichtigen Verbindungen nach Böhmen außergewöhnliches Interesse der kriegführenden Parteien erweckte. Im September 1621 wurde die Stadt mit einer starken Garnison unter dem Kommandanten schottischen Ursprungs Joseph Georg Peblis für den pfälzischen Kurfürsten gegen die Bayern verteidigt. Die veraltete Befestigung Chams und die effektive bayerische Artillerie, die zahlreiche Verteidiger tötete, nötigten schließlich Peblis zur Kapitulation. Im November 1632 wurde Cham von dem schwedischen Obristen Taupadel besetzt. Er bereitete sich hier anschließend auf die Belagerung durch die Kaiserlichen vor, indem er die Fortifikationen verbesserte und sowohl die Vorstadt als auch das gerade gegründete Franziskanerkloster vor dem Sandtor abreißen ließ. Die Stadt wurde erst nach anderthalb Jahren durch den kaiserlichen Befehlshaber Piccolomini befreit. Zu Beginn des Jahres 1641 wandte sich Banér, nachdem er bei Regensburg erfolglos geblieben war, nach Cham. Der bayerische (?) Kommandant Eck, der über eine Garnison von 200 Mann verfügte, übergab die Stadt bald dem Feind (wofür er kurz darauf hingerichtet wurde), und die Stadt erlebte eine ihrer schlimmsten Kriegsepisoden. Sie endete erst mit der Ankunft der kaiserlichen und bayerischen Armeen und dem Rückzug Banérs nach Böhmen ab Mitte März 164146. Danach erlebten Chams Bürger keine schwedischen Truppen mehr. Sehr harte Kämpfe wurden in den Jahren 1634 und 1635 um Weiden geführt, das damals zweimal seinen Besitzer wechselte; dagegen versuchte 1648 die dortige bayerische Garnison nicht einmal die Verteidigung gegen Königsmarck47. 45 SCHÖNAUER: Ingolstadt (wie Anm. 12). 46 BRUNNER: Geschichte der Stadt Cham (wie Anm. 40), 73–75 und 85–92. 47 HANS WAGNER (Hg.): Chronik des Weidener Bürgermeisters Jakob Schabner für die Jahre 1619–1663, Weiden 1928, 48–70 und 91–94.
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Wie wir im Falle Chams sehen konnten, war für die Stadt die Präsenz einer Militärgarnison, die sich gegen den Angriff des Feindes wehren wollte, verheerend und konnte zur vollständigen oder zumindest teilweisen Verwüstung ihrer Vorstädte und der näheren Umgebung führen. Das geschah nicht nur während der unmittelbaren Angriffe; zur Beseitigung von Gebäuden, die potentielle Gegner für weitere Vorstöße nutzen konnten, kam es präventiv schon vor Beginn der eigentlichen Belagerung. Zum Opfer fielen ihnen Häuser und Hütten der Vorstädte samt der Ländereien zahlreicher Bürger, Gewerbebauten wie Schmieden und besonders Mühlen, die für die Sicherstellung der Versorgung von zentraler Bedeutung waren. Es wurden Scheunen, Schuppen und Weinpressen zerstört, Bäume gefällt, ganze Obstgärten niedergemacht. In Cham wurde sogar das Franziskanerkloster niedergerissen. In Neumarkt wurde 1633 sukzessive die gesamte Vorstadt abgebrannt48. In Weiden ließen die Okkupanten, die Truppen Johann Vitzthums von Eckstädt, 1634 zur Verbesserung der Verteidigungsanlagen einige Gebäude abreißen oder niederbrennen, einschließlich des prächtigen Spitals. Aber auch dabei blieb es nicht; der Abriss der meisten Vorstädte wurde fortgesetzt, und auch die Bürger mussten mithelfen, wofür sie sich das Bauholz zu Heizzwecken nehmen konnten. Das Übrige nahmen sich die Soldaten und verkauften es. Bereits zuvor hatten die Kaiserlichen einen Teil der Vorstädte abgebrannt, als sie sich auf Vitzthums Angriff vorbereiteten49. Gerade die Vorstädte gehörten während des Krieges zu den am stärksten betroffenen Teilen der meisten Städte im Reichsgebiet. Sie wurden niedergebrannt, entvölkert, und es sollte Jahre, mitunter Jahrzehnte dauern, bevor zumindest eine teilweise Erneuerung erfolgte. Belagerungen bedeuteten für die Zivilisten Mangel an Lebensmitteln und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs; es verbreiteten sich Hunger und Krankheiten. Der eingeschlossenen Stadt, die neben ihren Bewohnern Soldaten und zahlreiche Flüchtlinge aus der Umgebung ernähren musste, gingen bald die Vorräte aus, und wenn es Ausfall- oder Hilfstruppen nicht gelang, die Stadt zu versorgen, konnte es für den betroffenen Ort zur Katastrophe kommen. Über Hungersnöte und die Angst davor wurde auch in den oberpfälzischen Städten wiederholt gesprochen50. Es gab hier zahlreiche Hungertote51, obwohl sich in der Region wahrscheinlich nicht solche Extremfälle abspielten wie in Augsburg oder Landshut, wo auch Kannibalismus belegt ist52. Die Soldaten schleppten zahlreiche ansteckende Krankheiten in die Städte ein, an erster Stelle die Pest. Die Soldateska mit ihrer hohen Fluktuation, Aufenthalten 48 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 87. 49 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 50 und 59. Siehe Stadtarchiv Weiden in der Oberpfalz, Akten, Nr. 112 – Demolierung der Häuser in der Vorstadt und Verteilung des Soldaten in die Quartiere (1634). 50 Z. B. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 110. 51 RANK: Sulzbach im Zeichen der Gegenreformation (wie Anm. 34), 82–83. Es ging um die exponierten Jahre 1632–1634, in denen die Stadt den Besitzer (Schweden, Bayern) wiederholt wechselte. 52 Vgl. ROECK: „Als wollt die Welt schier brechen“ (wie Anm. 8), 271–279 und EBERMEIER: Landshut im Dreißigjährigen Krieg (wie Anm. 14), 67.
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ohne Quarantäne an verschiedenen Orten und mit einem niedrigen Niveau persönlicher Hygiene war ein idealer Verbreiter. Besonders in den Städten des Reichs starben während des Dreißigjährigen Krieges viel mehr Menschen infolge tödlicher Epidemien als bei den Kampfhandlungen selbst. Im norddeutschen Wismar z. B. brach 1628 wegen der hohen Truppenkonzentration die Pest aus und dauerte drei Jahre lang53. In Böhmen wiederholten sich die Pestepidemien mit jedem Kriegsjahrzehnt; eine dieser Plagen ereignete sich im militärisch hektischen Jahr 1634. Damals überfiel die Pest auch die oberpfälzischen Städte, einschließlich der Hauptstadt Amberg. Der Weidener Chronist Jakob Schabner führt an, dass zwischen Mitte August und Anfang November in Weiden 1800 Personen gestorben seien, einschließlich Schabners Frau und vielen Offizieren und Soldaten der städtischen Garnison54. Ähnlich war die Situation in weiteren Städten – in Sulzbach sollen innerhalb von fünf Monaten mehr als tausend Personen umgekommen sein55, in Neumarkt von Februar bis November fast 50056. Die Pest verschonte weder Neunburg noch Cham57. Wir wissen nicht, ob die Pest auch bis Nabburg gelangte; das heißt aber nicht, dass die Stadt während des Dreißigjährigen Krieges dieser Katstrophe entgangen ist – im Jahre 1625 wurde die Epidemie aus Böhmen hierher eingeschleppt, und Ende der 1620er Jahre brach sie hier nochmals aus58. Neumarkt war ebenfalls wiederholt von der Pest betroffen, außer 1634 auch 1627 und 163059. Nachweise für weitere durch die Soldaten in die Städte eingeschleppte Krankheiten (Syphilis, Keuchhusten, Typhus, Fiebererkrankungen u. ä.) fehlen größtenteils; sicher kam es aber auch zu solchen Fällen. Im Regiment von Gil de Haas, das sich Ende 1644 in Neumarkt aufhielt, soll eine größere Anzahl von Soldaten von der Syphilis betroffen gewesen sein, und die Stadt mussten ihnen zu ihrem Transport fünfzehn Wagen zur Verfügung stellen. Später ließ sich hier wegen ähnlicher Probleme einer der niedrigen Offiziere vom örtlichen Bader behandeln60. Es bleibt jedoch offen, in welchem Maße die Soldaten durch ihre Kontakte mit Ortsansässigen die Syphilis in die städtische Gemeinde einschleppten. In diesem Fall sind die Quellen leider sehr diskret. Mitteilsamer sind sie im Falle der sog. „ungarischen Krankheit“, worunter sich meist das Fleckfieber verbarg, manchmal aber auch Typhus oder sogar die Syphilis. Im August 1633 z. B. zeigte sich im Zusammenhang mit einer großen Zusammenballung von Truppen die „ungarische Krankheit“ im bayerischen Wasserburg61, Verdacht darauf bestand auch in Neumarkt62. Fatale 53 54 55 56 57 58 59 60 61
TOBER: Wismar im Dreißigjährigen Krieg (wie Anm. 17), 104. WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 5, 60, 65. RANK: Sulzbach im Zeichen der Gegenreformation (wie Anm. 34), 85. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 90. MÄNNER, PROBST: 1000 Jahre (wie Anm. 32), 66; BRUNNER: Geschichte der Stadt Cham (wie Anm. 40), 88. ERNST DAUSCH: Nabburg. Geschichte, Geschichten und Sehenswürdigkeiten einer über 1000 Jahre alten Stadt, Regensburg 1998, 224. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 73. Ebenda, 104 und 106. WILDGRUBER: Die feste Stadt Wasserburg (wie Anm. 13), 96.
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Folgen konnten jedoch auch heute eher banale Krankheiten vom Typ verschiedener Darmbeschwerden, Viruserkrankungen und Grippe, mit denen die Soldaten (die zuvor schlechtem Wetter ausgesetzt gewesen waren) in die städtischen Wohnungen kamen, für deren Gastgeber haben – davon abgesehen, dass die Soldaten und ihre Befehlshaber mitunter selbst aktiv dazu beitrugen, dass sich Krankheiten in der Stadt verbreiteten. Im eroberten Landshut wurden Tote und Kadaver in die Brunnen geworfen, um sie zu vergiften, Apotheken zerstört und Wundärzte ermordet, damit sie den Kranken und Verletzten nicht helfen konnten63. Andererseits sollte nicht vergessen werden, dass die Städte und ihre Spitäler und Lazarette den Armeen zur Heilung und Regeneration kranker und verletzter Soldaten dienten. Vor allem nach den Schlachten und anstrengenden Feldzügen handelte es sich um Dutzende, ja Hunderte von Personen, die ärztliche Hilfe benötigten. In Nabburg wurden im Jahre 1634 im Spital zunächst kranke bayerische Soldaten behandelt, mit denen die Bürger Differenzen wegen der Verpflegung hatten; als die Stadt von den Schweden erobert wurde, wurden sie von kranken und verletzten schwedischen Reitern abgelöst, die die Stadt 812 Gulden kosten sollten64. Cham nahm kranke Soldaten noch 1648 auf und ließ sie behandeln65. In Neumarkt war 1647 im Zusammenhang mit der Belagerung von Weißenburg ein Feldlazarett errichtet worden, und die Verletzten wurden in vier dazu vorgesehenen Gebäuden untergebracht, einschließlich der örtlichen Lateinschule. Weitere wurden in Bürgerhäuser eingeliefert. Im Februar 1647 waren in den Bürgerhäusern 66 verletzte Soldaten untergebracht, in den Lazaretten 28. Alle Quartiergeber hatten den Anspruch auf finanzielle Kompensation66. Langfristige feindliche Okkupationen betrafen vor allem strategisch wichtige und gut befestigte Städte; die übrigen wurden geplündert und danach geräumt. Mitunter wurde aber auch eine sog. Salva guardia, eine Schutzwache eingerichtet, die die städtische Bevölkerung vor Plünderungen durch die dem Kommandanten unterstehenden Soldaten schützen sollte, der jene Salva Guardia, allerdings keinesfalls selbstlos, erteilte. In einigen Fällen handelte es sich nicht um eine Wache, sondern um einen Schutzbrief. Die Salva Guardia war weniger anonym als die meisten Garnisonen und knüpfte mit der städtischen Bevölkerung relativ bessere Kontakte. Nabburg zum Beispiel erhielt im Jahr 1621 eine Salva Guardia mit einem Wachtmeister an der Spitze von Ernst von Mansfeld und eine schriftliche von Königsmarck67. Zumindest aus Böhmen sind Beispiele bekannt, in denen sich die Soldaten der Salva Guardia wirklich bemühten, der Stadt gegen Störenfriede zu helfen. Sächsische Salvaguardianer aus Graupen verfolgten etwa im Frühjahr
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RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 74. EBERMEIER: Landshut im Dreißigjährigen Krieg (wie Anm. 14), 106. Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 46a, fol. 20 und Bd. 48, fol. 2 f.. Stadtarchiv Cham, Akten Sign. X 22 (J. 1648). RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 105 f. Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 40, fol. 44–46 und Bd. 53, fol. 194.
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1632 eine Truppe von Reitern, die den Ortsansässigen etliche Pferde gestohlen hatten, einige Kilometer bis hinter die Grenze, allerdings vergeblich68. Feindliche Militärangehörige konnten auch als Gefangene in die Städte kommen69; das betraf aber zumeist Offiziere, die ausgetauscht wurden. Einfache Soldaten wurden häufig in die Einheiten integriert, die sie gefangengenommen hatten. In strategisch weniger wichtigen Städten waren die längsten Militäraufenthalte mit den Winterquartieren verbunden; sie dauerten meist von Ende Herbst bis zum fortgeschrittenen Frühjahr. Die Soldaten sollten sich in den Städten ausruhen und für die Sommerkampagne Kräfte sammeln. Für die Stadtbevölkerung bedeutete dies eine extreme Belastung. Angesichts dessen, dass es keine Kasernen gab, bestand aber keine andere Möglichkeit, es sowohl den Männern als auch ihren Kommandeuren in Zeiten von Frost und rauher Witterung unter einem Dach am geheizten Kamin bequem zu machen. Falls ein Heer in der Winterzeit keine solche Unterbringung erhielt, drohte ihm der Kollaps und Zerfall70. Das Winterquartier von Soldaten in Weiden beschreibt Jakob Schabner in seiner Chronik detailliert: Der bayerische Oberst Kolb von Raindorf blieb hier mit seinen Männern vom 1. Januar bis zum 26. Juni 1639, wobei sein Aufenthalt die Stadt und ihre Bewohner mehr als 13 700 Gulden kostete (ohne Essen und Trinken!)71. Den ganzen Winter 1640/41 verbrachte in Weiden das Goldsche bayerische Regiment, dessen Kommandeur sich hier während der gesamten Zeit, ungeachtet des Frosts, intensiv der Erneuerung der Stadtbefestigung widmete72. Im Winter 1643/44 hielt sich hier der Wahlsche Hauptmann Michael Gräff auf, der sich laut dem Chronisten mehr um sein Vergnügen als um die Stadtbefestigung kümmerte; im folgenden Winter verweilte in der Wärme der Weidener Häuser Rittmeister Adam Julius von Löwenstein73. Andernorts dienten die Städte den Truppen als „Musterplatz“ oder „Sammelplatz“, d. h. als Platz für Miltitärparaden, die eventuell mit Musterungen verbunden waren, also der Bewaffnung und Ausstattung von Soldaten. Der berühmte bayerische General Johann von Werth wählte die Stadt Neumarkt aus, um Hunderte Dragoner zu sammeln und auszustatten74. Dass es sich dabei für die Stadt um eine anspruchsvolle und teure Angelegenheit handelte, belegen die Worte der Bewohner von Cham, die sich einem geplanten Aufenthalt von Soldaten mit dem Hinweis erwehrten, dass sie vor kurzem schweren Durchzügen ausgesetzt gewe68 Vgl. JAN KILIÁN (Hg.): Michel Stüelers Gedenkbuch (1629–1649). Alltagsleben in Böhmen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Göttingen 2014, 115. 69 Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 8 – Weigerung der Stadt, dem Oberstleutnant Leonhard Horb Boten zu stellen und gefangene Reiter nebst Pferden einzunehmen. 70 Vgl. REBITSCH: Matthias Gallas (wie Anm. 38), 288–294 – Zerfall der Armee von M. Gallas bei Magdeburg im Winter 1644/1645. 71 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 71 f. 72 Ebenda, 75. 73 Ebenda, 84 f. 74 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 103. Zu J. von Werth siehe HELMUT LAHRKAMP: Jan von Werth. Sein Leben nach archivalischen Quellenzeugnissen, Köln am Rhein 1988, oder WILLY DIETER OSTERBRAUCK: Johann Reichsfreiherr von Werth. Chronik eines umstrittenen Volkshelden, 1591–1652, Köln 1992.
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sen seien und ihre Stadt für einige Tage als Musterplatz gedient hätte75. Musterungen wurden nachweislich auch in Nabburg76 vorgenommen und sicher auch in den anderen hier behandelten Städten77. Nicht selten waren die städtischen Einwohner auch Zuschauer bei Hinrichtungen von Soldaten, die auf den Marktplätzen und andernorts von Henkern auf Befehl der höheren Befehlshaber wegen Desertion, Exzessen, Feigheit78 und anderen ernsthaften Vergehen hingerichtet wurden. Ein Grund für die Stationierung militärischer Einheiten in den Städten in der Oberpfalz, aber auch in den böhmischen Ländern, war Mitte der 1620er Jahre die gezielte, vom Herrscher angeordnete Rekatholisierung der Stadtbevölkerung. In die Häuser protestantischer Hausbesitzer wurden Soldaten in großer Zahl samt ihren Angehörigen einquartiert und blieben hier, solange der Bürger nicht konvertierte. Vorher hatten sich freilich die Katholiken über die gleichen Praktiken in protestantischen Städten beschwert79. Danach konnten die Soldaten zu einem anderen Protestanten oder in eine andere Stadt verlegt werden, wo es noch eine hohe Anzahl an Lutheranern und Calvinisten gab. Auf diese Art erfolgte die Rekatholisierung auch in Neumarkt; von dort wurden die Soldaten anschließend in das sich beständig widersetzende Waldmünchen verlegt80. Auch in Cham assistierten den in die Stadt gerufenen Jesuiten Soldaten bei der Rekatholisierung81. In Weiden sorgte dafür der Neuburger Vizekanzler Simon von Labrique, wobei ihm der Weihbischof von Regensburg und die Jesuiten halfen. In die Stadt rückten 300 Musketiere aus Regensburg ein, die die geschlossenen Tore bewachten; ihre Aufgabe war es auch, eventuelle Unruhen zu verhindern82. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass in den übrigen Städten der Oberpfalz die Situation wesentlich anders war. Übrigens war bereits unter militärischer Assistenz die Vertreibung der protestantischen Geistlichen aus den oberpfälzischen Städten erfolgt, wie das z. B. der Sulzbacher Pastor Johannes Braun für sich und seine Familie schilderte. In Sulzbach herrschte seit 1614 Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg, der nicht lange zuvor zum katholischen Glauben übergetreten war, hier aber die Re75 Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 2 – Bedenken des Stadtmagistrats gegen die beabsichtigte Einquartierung einer Kompanie Dragoner sowie von 5 Kompanien Altsächsischer Reiter (14. Mai 1633). 76 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 40, fol. 27 (J. 1621). 77 Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 6 – In Cham rekrutierte in den 40er Jahren des 17. Jahrhunderts der bayerische General Kratz. 78 Zu den bekannten Beispielen gehören die Exekutionen nach den Schlachten bei Lützen (1632) und Breitenfeld (1642). Dazu neu BASTIAN MUTH: „damit der Nahme dieses Regiments aus der löblichen Armada vertilget und außgerottet werde“. Eine quellenkritische Untersuchung der Hinrichtung des Regiments Madlo nach der Schlacht bei Breitenfeld im Jahre 1642. In: RALF PRÖVE, CARMEN WINKEL (Hg.): Übergänge schaffen. Ritual und Performanz in der frühneuzeitlichen Militärgesellschaft, Göttingen 2012, 81–108. 79 Wie z. B. im Jahre 1621 Konrad Forster, welcher in sein Haus zuerst zwei Soldaten und danach noch fünf Reiter bekam. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 60. 80 Ebenda, 68. 81 BRUNNER: Geschichte der Stadt Cham (wie Anm. 40), 77–80. 82 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 24–28.
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gierung seinem jüngeren Bruder August übertragen hatte. Dieser war jedoch nicht katholisch geworden und die Beziehungen zwischen den Brüdern verschlechterten sich, bis es 1627 zum offenen Konflikt kam, als Wolfgang Wilhelm, ein Schwager und enger Bundesgenosse Maximilians I. von Bayern, mit der Rekatholisierung von Sulzbach begann. Vor der Androhung, Soldaten aus der Amberger Garnison einzuquartieren, kapitulierten die Sulzbacher83. Die bayerischen Beamten versuchten anschließend, Pastor Braun zu inhaftieren. Aus Amberg seien nach Brauns Worten viele Soldaten nach Sulzbach aufgebrochen, die sein Haus mit angelegtem Gewehr und brennenden Lunten umzingelt hätten. Seine Frau und seine zwei Töchter seien sehr erschrocken gewesen; das Haus wurde durchsucht, aber als sie Braun, der beizeiten nach Kulmbach geflohen war, nicht fanden, hätten sie nur das Haus abgeschlossen und seien abgezogen84. Den ganzen Krieg über waren die Bewohner in Stadt und Land mit räuberischen Soldaten, sog. Marodeuren, konfrontiert, die ihre Einheiten mutwillig verlassen hatten, sich in Banden vereinigten und meist von Überfällen auf den Straßen und in Dörfern oder auch unbefestigten Städtchen lebten85. Einige dieser Horden, wie die sog. „Petrovský-Bande“ in Böhmen, waren so stark, dass sie auch reguläre Kriegsoperationen gefährden konnten. Wenn die Aktionen desertierter und räuberischer Soldaten selbst die Kommandeure fürchteten, ist verständlich, dass die Bewohner der Städte vor ihnen panische Angst hatten und es ablehnten, die relative Sicherheit ihres Heims zu verlassen. Im Reich dürfte es kaum eine Stadt gegeben haben, in der nicht wenigstens einige Bewohner auf Handelsreisen und amtlichen Missionen einen Überfall erlebt hatten. Im Jahre 1636 forderte die Amberger Regierung die Bewohner Weidens auf, nach Reitern zu fahnden, die in der Umgebung der Stadt plünderten86. Der Verkehr zwischen Neumarkt und Nürnberg war wegen Gewalttätigkeiten, die den Bürgern auf ihren Reisen von Soldaten zugefügt worden waren, massiv gestört. Den Nürnberger Händlern wurden nicht nur mit Waren, Bargeld oder Schmuck beladene Wagen ausgeraubt, sondern sogar die Schuhe weggenommen87. IV. Einquartierung und Versorgung Mit der Einquartierung trat der Soldat in die Sphäre des städtischen Bürgerhauses ein. Einige von ihnen wählten auch die Unterbringung in städtischen Gasthäusern, die zu diesem Zweck auch besser ausgestattet waren, doch fanden natürlich nicht alle dort Platz. Die Wohnungen der wohlhabendsten und angesehensten Bewoh83 GEORG CHRISTOPH SACK: Geschichte des Herzogthums Sulzbach nach seinen Staats- und Religions-Verhältnissen, Leipzig 1847, 231–238. 84 ALFRED ECKERT (Hg.): Nordgauchronik von Johannes Braun, Pastor und Superintendent zu Bayreuth. Anno 1648. Pfalzgraf Christian August gewidmet, Amberg 1993, 343–345. 85 Zu diesem Thema besonders ULRICH BRÖCKLING, MICHAEL SIKORA (Hg.): Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998. 86 Stadtarchiv Weiden, Akten, Nr. 158 (J. 1636). 87 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 57 f.
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ner, die sich meist am Marktplatz befanden, behielten sich in der Regel die Offiziere vor: Die einfachen Soldaten mussten sich mit bescheideneren Quartieren zufrieden geben. Nur wenige Bürger, namentlich hohe Vertreter der städtischen oder anderer Verwaltungen, konnten sich einer Einquartierung von Militärs (aber meist nur zeitweilig) entziehen88. Versuche, sich dieser Pflicht zu entledigen, waren kaum erfolgreich – wovon sich die findigen Neumarkter Bürger überzeugen konnten, als sie dem geplanten Aufenthalt von Reitern dadurch entgehen wollten, dass sie ihre Ställe voller Holz lagerten89. Nur wenige Häuser waren zur getrennten Unterbringung einer größeren Zahl von Personen eingerichtet, so dass sich die Soldaten inmitten der Intimsphäre des Hausherrn und seiner Familie befanden – und dies eventuell mit ihrer eigenen Familie. Um welche Zahlen es sich handeln konnte, wird anhand von Angaben aus dem bayerischen Wasserburg annäherungsweise deutlich, wo in der ersten Hälfte der 1630er Jahre 647 Militärangehörige von weiteren 373 Personen begleitet wurden: Frauen, Kindern und Bediensteten90. Die Offiziere, darunter nicht wenige Adlige, hatten nämlich oft ihre Diener (und natürlich auch Pferde) bei sich91. Die einfachen Soldaten pflegten ihre Frauen oder Geliebten bei sich zu haben, die sich während der Feldzüge um sie kümmerten – für sie kochten, wuschen, einkauften, ihnen aber auch bei Diebstählen oder der Durchsuchung der Schlachtfelder zur Verbesserung des „Feldhaushalts“ halfen92. Bei der fünfzigköpfigen Einheit des Hauptmanns Pürk etwa, die 1640 nach Neumarkt kam, befanden sich elf oder zwölf Frauen. Auch sie hatten Anspruch auf Versorgung, wenn auch nur zur Hälfte93. Während die Offiziere in bequeme und mit allem Komfort ausgestattete Wohnräume einzogen, die ihnen die Hausbesitzer gewollt oder ungewollt überließen, mussten sich gemeine Soldaten meist mit Mansarden oder Kammern begnügen, mitunter mit dem Stall oder der Scheune und in den wärmeren Monaten auch nur mit Zelten in den Gärten der Vorstadt. Falls eine ganze Armee in die Stadt einzog, gab es letztlich keine anderen Möglichkeiten. In Weiden übernachtete auf diese Art sowohl eine zahlreiche kaiserliche Armee im Mai 1622 als auch gegen Ende des Krieges Königsmarcks schwedisches Korps in Scheunen, Ställen und Gärten94. An88 Stadtarchiv Weiden, Akten, IV. Abteilung, A-IA, Nr. 146 – Verbot von der sulzbachischen Kanzlei in Nürnberg an die Stadt Weiden, das Haus des Richters Hans Zahn in Parkstein durch die Soldaten zu belästigen (J. 1633). 89 Sie mussten das Holz wegschaffen und die Soldaten einquartieren. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 77. 90 WILDGRUBER: Die feste Stadt Wasserburg (wie Anm. 13), 140. Siehe auch Stadtarchiv Weiden, Akten, Nr. 162 – Anfrage des Kommandeurs der Regimentsbagage des Generals Wahl hinsichtlich der Frauen und Knechte aus diesem Regiment, die in Weiden geblieben sind (J. 1638). 91 Wie z. B. ein polnischer Offizier, der im Jahre 1633 zusammen mit drei Dienern und vier Pferden Unterkunft bei dem Weidener Bürgermeister Schabner fand. WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 40. 92 Dazu z. B. JAN PETERS (Hg.): Peter Hagendorf – Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg, Göttingen 2012, passim. 93 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 101. 94 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 19 und 93.
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dererseits mussten sich Soldaten im Stall oder im Heu unter dem Dach nicht über Kälte beklagen, unter der sie in einer kalten, ungeheizten Kammer hätten leiden müssen. Im strengen Winter hatten sie allerdings Anspruch auf die Unterbringung in einem geheizten Raum95, was bedeutete, dass sie nicht selten gemeinsam mit dem Hausherrn und seiner Familie im selben Raum schliefen. Das war übrigens auch einer der wesentlichen Gründe für die Verbreitung ansteckender Krankheiten, wovon bereits die Rede war. Gerade Kranken musste ein Quartier in der Wärme garantiert werden. Der Soldat hatte auch Anspruch auf ein eigenes Bett, eine gewisse Menge an Kerzen zur Beleuchtung seines Zimmers und Zugang zur Küche, wo er sich selbst etwas kochen konnte, falls das nicht seine Lebensgefährtin (Ehefrau) für ihn machte oder er fertige Speisen aus dem Haushalt bekam. In der Praxis bedeutete das jedoch mehr oder weniger, dass sich der Soldat uneingeschränkt im ganzen Haus bewegte und sich hierher auch seine Kumpane einlud. Es sind sogar Fälle belegt, in denen sich Soldaten in die Betten der Hausherren legten und diese auf der Erde schliefen, oder in denen sie den Besitzer vertrieben und versuchten, das Haus zu verkaufen96. Ebenfalls in Weiden vertrieben die kaiserlichen Kroaten die Bewohner aus den Häusern, bevor ihr Oberst persönlich Ordnung schuf97. Besonders hart traf es diejenigen Bürger, die in ihrem Haus gleich mehrere Soldaten einquartieren mussten. Auch Pröve bemerkt, dass die Soldaten meist zu zweit oder zu dritt in den Häusern einquartiert wurden und sich dort gemeinsam ein Bett teilten98. Mitunter waren es aber noch wesentlich mehr. Und es war keineswegs selten, dass die Soldaten mit der Unterbringung unzufrieden waren und eine andere, bessere forderten99 ebenso wie eine höhere Zuteilung100. Nach kaiserlichen wie auch bayerischen Regierungsanordnungen hatten die Soldaten auf eine einheitliche tägliche Ration Anspruch, für die sie allerdings die Versorger bezahlen sollten (was nur sehr selten geschah). Diese bestand aus einer gewissen Menge Brot, Fleisch (meist ca. vier Pfund) und Bier (um die sieben Pinten)101, bei Reitern auch Stroh und Futter („Fourage“) für das Pferd102. Dazu ka95 96 97 98
PRÖVE: Der Soldat in der „guten Bürgerstube“ (wie Anm. 6), 199. Beides bei RIECK: Frankfurt (wie Anm. 18), 193. WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 37. Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 53, fol. 99 – Unzufriedenheit eines Oberstwachtmeisters mit seinem „Quartier“ (1647). 99 Siehe z. B RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 56 – Beide mansfeldischen Unteroffiziere beschweren sich wegen der zugewiesenen Ration und drohen, sich die Verbesserung mit Gewalt zu nehmen. 100 Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 1 – Verfügung der subdelegierten bayrischen Räte der Regierung in Amberg über die Verproviantierung der in Cham einquartierten Rosenhamrischen Kompanie durch die Bevölkerung der Grafschaft Cham, namentlich auch Kommissbrotlieferungen der Chamer Bäcker u. a. (04.12.1622). Die Aufschlüsselung der Pflichten, wie viel Fleisch, Bier und Brot den Soldaten jede Woche abgeführt werden soll, jedoch gegen Barzahlung. 101 Stadtarchiv Weiden, Akten, Nr. 149 – Gebot zur Lieferung von 56 Eimern Bier, des Hafers und 148 Gulden an die Lobkowitzische und polnische Reiterei (1633); vgl. WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 39 (Stroh und Hafer für zwei kaiserliche Kompanien) oder Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 40, fol. 29 (Bier und Hafer für mansfeldische Soldaten).
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men noch die sog. Servizien, ein Zuschuss an Naturalien (Kerzen, Holz, Salz), die oft in ein finanzielles Äquivalent überführt wurden103. So verkauften die Soldaten die von den Bürgern erworbenen Servizien häufig, um sich Bargeld zu beschaffen104. Besonders Bäcker und Metzger, aber nicht nur diese, hatten in der Zeit des Aufenthalts von Truppen alle Hände voll zu tun. In Nabburg sollten sich die Vertreter der genannten Handwerke 1621 um Brot und Fleisch für 1 000 in der Stadt einquartierte Musketiere kümmern105; in Cham arbeiteten die Bäcker Tag und Nacht für die Versorgung der Truppen mit einer ausreichenden Menge Kommissbrot106. Problematisch wurde die Situation, wenn wegen Missernten ein Mangel an Getreide herrschte – Bier wurde aus Gerste oder Weizen hergestellt, Brot meist aus Roggen107 – oder wenn die Fleischer von ihren Zulieferern, den Bauern aus der Umgebung, nicht genug Vieh bekommen konnten108. Fielen irgendwelche der genannten Lieferungen aus, drohten hohe Bestrafungen. Anstatt Rind- oder Schweinefleisch versuchten die Soldaten sich bisweilen auch mit Fisch aus den Flüssen, Bächen oder Teichen zu begnügen. Die Bewohner mussten den Soldaten Brot, Fleisch und Bier liefern; mit etwas anderem sollte die Soldateska ihre Gastgeber nicht belästigen. Doch sah die Realität völlig anders aus: Die Söldner verlangten von allem reichliche Mengen, und ihre Forderungen konnten mitunter absurde Formen annehmen. In Prag forderten die Soldaten sogar Südfrüchte und andere orientalische Delikatessen. Auch der Weidener Bürgermeister Schabner beschwerte sich, dass sich die Soldaten nicht mit Grundnahrungsmitteln zufrieden gaben, sondern mehr forderten109. Ähnliches war zu erwarten, wenn in die Stadt hohe Generäle oder Oberbefehlshaber der Armee kamen110. Besonders die Obris102 Vgl. Stadtarchiv Weiden, Akten, Nr. 149 – Gebot zur Lieferung von 56 Eimern Bier, des Hafers und 148 Gulden an die Lobkowitzische und polnische Reiterei (1633); oder WAGNER (Hg.), Chronik, 39 (Stroh und Hafer für zwei kaiserliche Kompanien) oder Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Band 40, fol. 29 (Bier und Hafer für mansfeldische Soldaten). 103 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 51, fol. 252 – Geld anstatt Servizien für den Leutnant, 27.03.1645. 104 Siehe z. B. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 82. 105 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 40, fol. 24 (19.03.1621). 106 Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 19 – Auftrag des Pflegamts Cham an die Stadt, zum Zwecke der Verproviantierung ankommender Truppen die Bäcker Tag und Nacht zum Backen von Kommissbrot anzuhalten, genügend Fleisch durch die Metzger bereitstellen zu lassen, sowie für Braunbier zu sorgen (1647). 107 Auch in der Stadt Basel, die durch den Krieg nur wenig betroffen wurde, reduzierte sich die Größe des Brotlaibes in Folge der Missernten und Teuerung des Roggens wesentlich. STRITMATTER: Die Stadt Basel (wie Anm. 14), 103. 108 Die Bürger aus Cham führten im Jahre 1633 an, dass es den Metzgern schlecht ginge, weil sie sich das Vieh aus großer Ferne besorgen müssten. In derselben Zeit ging es auch den dort ansässigen Bäckern schlecht, weil die Müller aus der Umgebung, also ihre Lieferanten, durch Hochwasser geschädigt waren. Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 2 – Bedenken des Stadtmagistrats gegen die beabsichtigte Einquartierung einer Kompanie Dragoner sowie von 5 Kompanien Altsächsischer Reiter (14.05.1633). 109 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 33. 110 Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 13 – Einquartierung des Erzherzogs Leopold Wilhelm von Österreich nebst Gefolge in Cham. Listen über den für die Küche benötigten täglichen Provi-
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ten forderten auch Geld (sog. „Diskretionsgeld“), und die Anwohner versuchten, nach Möglichkeit ihren Forderungen zu entsprechen111, auch wenn sie sich über ein solches Verhalten der Militärs natürlich beschwerten112. Nach wiederholten bayerischen und kaiserlichen Regierungsanordnungen nämlich sollten die Militärangehörigen kein Geld erhalten, sondern nur Servizien und Übernachtungsplätze. Alle Soldaten allerdings verlangten nach Alkohol, nach Wein oder größeren Zuteilungen an Bier113. Die Offiziere veranstalteten reiche Mahlzeiten, ungeachtet der schweren Zeiten und des überall herrschenden Mangels. Den Stadtbewohnern bereiteten sie mit diesen Forderungen nicht nur große Sorgen, sondern vor allem auch hohe Kosten, die sich während der Kriegsjahre auf Hunderte, ja Tausende von Gulden summieren konnten114. Ein bezeichnendes Beispiel dafür bietet der Aufenthalt bayerischer Soldaten unter Hauptmann Claudio Badandi im Jahre 1645 in Cham. Badandis Männer sollten in der Stadt eine Garnison zu deren Sicherheit bilden. Der Hauptmann kam jedoch nicht mit den avisierten 100, sondern mit 162 Männern, und obwohl er 30 von ihnen nach Furth im Wald schickte, wurden diese dort nicht aufgenommen, so dass auch sie nach zwei bis drei Tagen zurückkehrten. Dazu kamen kurz darauf noch weitere 38 Mann. Laut Vereinbarung sollten ihnen die Chamer nur die traditionellen Servizien geben (Holz, Kerzen, Salz); der Kommandant nötigte sie jedoch dazu, fünf Wochen lang seine Männer auch mit Essen und Trinken zu versorgen. Überdies quartierte sich der Oberstleutnant Beltin in der Stadt ein. Er behauptete zwar, dass er nur etwa drei Tage bleiben würde, war dann aber länger als einen Monat vor Ort. Die Chamer hatten also Ende März 1645 statt 100 insgesamt 250 Männer, für die sie sorgen mussten – und zusätzlich waren auch noch gewöhnliche Steuern und außergewöhnliche Abgaben zu leisten. Das veranlasste die armen Bürger dazu, dem bayerischen Kurfürsten eine Lamentation zu schreiben. Darin führten sie u. a. an, dass die einquartierten Offiziere auch in diesen schweren Zeiten sonderbare Stuben verlangten und nicht nur ein einfaches Quartier. Obendrein wären sie nicht mit den laufenden Servizien zufrieden, sondern der Oberstleutnant forderte zusätzlich Mehl, Öl und weiteren Bedarf zum Kochen. Über die Offiziere äußerten sie noch weitere Beschwerden – eine davon betraf die Befestigungsarbeiten, wobei es zum Abriss einiger Häuser und Scheunen und zur
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ant sowie eine Aufstellung der Unkosten (1645–1647); oder RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 63 – Tillys Aufenthalt in der Stadt und die Kostenrechnung darüber. In Nabburg (Juni 1644) sollte eine Kompanie des Generals Wahl 36 Gulden pro Monat bekommen. Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 51, fol. 164. Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 100 – Klagen über Erpressung von Servis- oder Diskretionsgeldern sowie deren Verabreichung überhaupt (1647). Obrist Münch verlangte im Jahre 1632 in Neumarkt als Geschenk sogar ein Fass Bier aus einer beliebten Brauerei, und die Ratsbürger gaben seinem Wunsch statt. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 111. Siehe z. B. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 85 (die Unkosten einer Witwe auf 26 Soldaten während drei Wochen; insgesamt 100 Gulden) und 111 (die Kriegsunkosten der Stadt Neumarkt 1631–1648; insgesamt 340 071 Gulden).
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Beschädigung weiterer Liegenschaften gekommen sei115. Ein weiteres Beispiel stammt aus Neumarkt während des Aufenthalts mehrerer bayerischer und kroatischer Einheiten, als sich in der Stadt 1 400 Mann (und 430 Pferde) aufhielten. In jedem Bürgerhaus sollten mindestens acht, mitunter aber auch bis zu 20 Soldaten untergebracht werden. Die Männer des Obristen Druckmüller sollten nur Kommissbrot erhalten, womit sich der Oberst aber nicht zufrieden geben wollte und auch Bier und Hafer forderte. Wenn die Soldaten ihren Proviant erhalten hatten, verbrauchten sie oft die zweitägigen Portionen an einem einzigen Tag und forderten für den nächsten Tag weitere Versorgung von den bürgerlichen Tafeln116. V. Zusammenarbeit Nicht immer und nicht für jeden Bürger musste die Präsenz von Soldaten eine Katastrophe bedeuten. Es gab auch Personen, die davon profitieren konnten, und Soldaten, die unter den Einheimischen Sympathien weckten, manchmal sogar eine Braut fanden und sich in der Stadt niederließen oder hierher nach dem Krieg mit ihrer Frau zurückkehrten117. Zu sexuellen Kontakten zwischen Soldaten und jungen Frauen kam es regelmäßig. Immerhin handelte es sich oft um junge und ansehnliche Männer, die die Welt kannten und mitunter auch über solide finanzielle Mittel verfügten. Nicht selten waren diese Männer gelernte Handwerker, denen sich die Möglichkeit bot, sich im Ort niederzulassen. In anderen Fällen folgte das Mädchen, das einen Soldaten geheiratet hatte, ihrem Mann auf die europäischen Schlachtfelder, wie die Frau des gebildeten Söldners Peter Hagendorf, dem sie die Kinder im wahrsten Sinne auf dem Marsch gebar und es noch dazu schaffte, sich um die Familie zu kümmern118. Die Soldaten und besonders die Offiziere wurden nicht selten Paten von Bürgerkindern; die Bürger und Bürgerinnen erwiderten ihnen diese Dienste. Eine besondere Rolle spielte dabei sowohl ethnische, sprachliche und konfessionelle Nähe als auch die Zugehörigkeit zum (ursprünglichen) sozialen Umfeld. Am meisten näherten sich die Bewohner denjenigen Soldaten an, die sich bei ihnen längere Zeit und in kleineren Gruppen aufhielten. Es gab auch Personen, die sich mit den Soldaten enger anfreundeten, sowie solche, die einen fähigen Kommandanten und die Qualität militärischer Verbände zu schätzen wussten. Der Weidener Jakob Schabner hob im Jahre 1622 besonders zwei Militäreinheiten, diejenigen des Herzogs von Holstein und Franz Albrechts von Sachsen-Lauenburg, hervor, die angeblich so „herrlichen“ Bataillonen angehörten, dass etwas Ähnliches nicht alle Tage zu sehen sei: Sie hatten „herrliche“ große Pferde, dekorative Waffen, Pisto115 Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 8 – Die Ratsbürger aus Cham an Kurfürst Maximilian I. von Bayern, 30.03.1645. 116 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 101 f. 117 So empfahl beispielsweise der Ratsbürger Großschedl aus Amberg den Kollegen aus Weiden im Jahre 1642 einen Korporal aus dem Regiment Mercy für die Position eines Stadtmusikers. Stadtarchiv Weiden, Akten, Nr. 181. 118 Vgl. PETERS (Hg.): Peter Hagendorf (wie Anm. 92).
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len, Kleidung, Musikinstrumente u. ä. Ebenso schätzte Schabner Oberstwachtmeister Bernhard Barrier, der Weiden tapfer gegen die Schweden verteidigt hatte, nachdem seine Vorgesetzten geflohen waren119. Der in Luxemburg geborene Barrier kehrte nach der schwedischen Okkupation nach Weiden zurück, verstarb hier im Jahre 1638 und wurde in Weiden beigesetzt120. Dort ließ sich später auch der bayerische Feldwebel Augustin Fritsch121 nieder, dessen Grabstein sich bis heute in der dortigen Pfarrkirche erhalten hat122. Zusammenarbeit entwickelte sich hauptsächlich auf der Basis von Geschäften und gegenseitigem Austausch. Die Städte dienten den Soldaten als ideale Plätze für den Verkauf von Waren, die sie sich auf dem Lande oder in anderen Städten angeeignet hatten. Besonders gern verkauften sie bei Juden, obwohl auch diese ihnen nicht den realen Preis ihrer Beute bezahlten. Aber auch zwischen Soldaten und christlichen Einwohnern herrschte ein reger Geschäftsverkehr. Einigen gelang es sogar, durch solche Handelsgeschäfte reich zu werden, da die Soldaten nur einen kleinen Teil ihrer Beute behielten. Interesse bestand an Pferden123, Vieh und Lebensmitteln124, ebenso an handwerklichen Gegenständen oder Dingen des täglichen Bedarfs. Die Einwohner wussten aus eigener Erfahrung genau, dass die Soldaten ihnen bis auf Ausnahmen (z. B. Kommissbrot oder Servizien125) gestohlene Waren verkauften. Dennoch scheuten sie sich nicht, diese von ihnen zu erwerben. Auch das war ein Ergebnis des moralischen Verfalls, der durch den langwierigen Krieg verursacht wurde. Den Käufern drohte zwar, dass sie erkannte Gegenstände ersatzlos dem ursprünglichen Besitzer zurückgeben mussten. Ein solches Risiko war jedoch angesichts des Umfangs der militärischen Diebstähle fast zu vernachlässigen und drohte eigentlich nur bei größeren Tieren oder bei Gegenständen, mit denen sich der neue Besitzer häufig in der Öffentlichkeit zeigte. Eine breite Palette der von Bürgern bei Soldaten gekauften Waren können wir in Nabburg in dem kurzen Zeitabschnitt von Juni bis November 1636 beobachten. Zunächst stahlen schwedische Reiter in der Umgebung zwei Ochsen und trieben diese in die Stadt, wo sie eine gewisse Frau Silbermann von ihnen kaufte. Dem ursprünglichen Besitzer gelang es jedoch, die Tiere ausfindig zu machen, und er forderte diese zurück. Es kam zu einem Gerichtsprozess, an dessen Ende die Familie 119 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 20 und 48. 120 Stadtarchiv Weiden, Akten, Nr. 167 – Bericht des Landesschreibers Michael Maier über Tod und Begräbnis des Oberstwachtmeisters B. Barrier in Weiden (1638). 121 Fritsch sollte (nach J. Schabner) am 8. April 1633 von Amberg als Kommandeur von 50 Musketieren in die Stadt kommen. WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 42. 122 Vgl. WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 45 – Am 13. Mai 1633 war es bei Weiden zu einem Scharmützel gekommen, in dem fünf Kroaten gestorben waren, die dann auf dem dortigen Friedhof beerdigt worden waren. 123 Stadtarchiv Weiden, Akten, Nr. 144 – Bittgesuch eines Bürgers aus Weiden an den kaiserlichen General Ernst Georg von Sparr um die Rückgabe der Kurierpferde (1632). 124 Eine Frau aus der Umgebung von Sulzbach wechselte mit Soldaten ihr Brot gegen nicht näher beschriebene Ware. Stadtarchiv Sulzbach-Rosenberg, Rechnungen, Sign. R 14, Rechnung 1633–1634, fol. 25. 125 In Neumarkt verkauften die Soldaten den Einwohnern nicht nur Kommissbrot, sondern auch Holz, das sie zur eigenen Nutzung bekommen hatten. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 82.
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Silbermann den ursprünglichen Besitzer finanziell befriedigte. Etwa zur selben Zeit entflammte ein Streit wegen einer Uhr, die einem Hammerschmied aus der Umgebung von den Schweden gestohlen und an einen Nabburger Büger verkauft worden war. Nach einer Entscheidung der Ratsbürger sollte man sich miteinander vergleichen. Erst zwei Jahre nach dem Diebstahl wurde hingegen der Fall einer Kuh geklärt, die in einem Dorf in der Nähe von Nabburg entwendet worden war und die kurz danach eine Bürgerin von dem Dieb erworben hatte. In dieser Angelegenheit wurden gleich drei Zeugen verhört. Das Ergebnis ist nicht bekannt; wenn aber dem Dorfbewohner der Nachweis gelungen war, dass das Tier ihm gehörte, ging er sicher nicht ohne Kompensation aus. Das Ergebnis eines Streits kennen wir auch nicht im Falle von zwei Nabburger Bürgern, die sich Ende 1636 um ein Fuhrwerk stritten, das sich General Vitzthum zweieinhalb Jahre zuvor samt zwei Pferden gewaltsam angeeignet hatte und das anschließend (durch Kauf?) in den Besitz eines anderen Nabburger Nachbarn gelangt war126. Die Ratsherren appellierten zwar an ihre Mitbürger, keine gestohlene Ware von Soldaten zu kaufen, sie hatten aber kaum die Mittel, dies zu verhindern. Die Neumarkter Ratsherren verboten 1632 unter Androhung von Sanktionen, gestohlenes Vieh in die Stadt zu bringen, was allerdings nicht bedeutete, dass dies nicht mehr geschah. Ebenso ergriff die Bevölkerung von Neumarkt die Möglichkeit, gestohlene Gegenstände von Kroaten zu kaufen, die diese zuvor in Schwabach geplündert hatten. Dafür erwartete sie allerdings Gefängnis und die strenge Auflage, sich dieser Gegenstände innerhalb von acht Tagen zu entledigen127. In den untersuchten oberpfälzischen Städten konnte ich allerdings, im Unterschied zu den böhmischen Ländern128, keinen Fall finden, in dem Bürgern für den Ankauf gestohlener Waren von Soldaten die Höchststrafe gedroht hätte. Im Gegenteil: Nach dem Krieg konnten die Stadtbewohner ihre materielle Situation ganz legal verbessern, als nicht mehr gebrauchte Waren zum Ausverkauf angeboten wurden. General Königsmarck schickte damals seinen Untergebenen in Weiden den Befehl, alles angesammelte Getreide zu verkaufen. Natürlich erwarben es wohlhabende Bürger, die noch Barschaft besaßen; es wurde aber sehr billig verkauft – um vieles billiger, als es z. B. in Zentralbayern verkauft wurde, wo eine große Teuerung herrschte. Und dieselben Bürger bereicherten sich dem Weidener Chronisten zufolge noch viel mehr129. Mitunter versuchten auch Marketender, in die
126 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 47, fol. 42–46 (Ochsen), 51 f. (Uhren), 59–65 (Kühe), 102 f. (Wagen). 127 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 80. 128 Eine Bürgerin aus Nachod/Náchod wurde für einen Aufkauf nicht nur mit Gefängnis, sondern sogar mit der Todesstrafe bedroht, falls sie sich in Zukunft einer ähnlichen Tat bewusst schuldig machen sollte. MARKÉTA ČESÁKOVÁ: Rychtářské manuály města Náchoda. Prameny k dějinám náchodské městské správy 1. poloviny 17. století [Handbücher des Richters der Stadt Nachod. Quellen zur Geschichte der Nachoder Stadtverwaltung in der ersten Hälfte des 17. Jh.], Prag 2013, 56. 129 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 94.
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Städte ihr Bier zu bringen; sie stießen dabei jedoch auf den Widerstand der Bürger, die ihre Schankprivilegien verteidigten130. Einige Stadtbewohner ließen sich auch von den Armeen anwerben. Die Motive, die sie dazu bewegten, kennen wir zwar nicht131, können aber annehmen, dass es das abenteuerliche Leben, die Reisen und besonders die Aussicht auf Reichtum waren. Andere wiederum versuchten sich dadurch unangenehmen Situationen, z. B. einer Inhaftierung zu entziehen. Allgemein galt, dass sich eher ledige Angehörige der niederen Schichten freiwillig zur Armee meldeten, obwohl es auch hier Ausnahmen hab. Einige wurden für den Militärdienst ausgewählt, obwohl sie diese Ehre gar nicht ersehnten. Fälle einer baldigen Desertion düften keineswegs ungewöhnlich gewesen sein. Im Jahre 1632 entschied sich der Sohn des Bürgermeisters von Cham nicht nur, in die ligistische Armee einzutreten, sondern es gelang ihm mit Hilfe der katholischen Geistlichen angeblich auch, weitere 150 junge Männer anzuwerben132. Ausgesprochen farbig war das Schicksal des Neumarkter Gastwirts Andreas Kränkl, der gleich 1618 in die Armee eintrat und ihr bis zum Prager Frieden 1635 angehörte (wobei er mindestens einmal genötigt war, das Bataillon zu wechseln). Danach kehrte er nach Hause zurück, allerdings ohne ordnungsgemäße Entlassung, wovon der Kommandant von Neumarkt erfuhr und ihm einen hohen Geldbetrag (60 Reichstaler) oder die Versorgung von sechs Soldaten abverlangte. Da Kränkl, bereits ein alternder Mann und Familienvater, nicht so viel Geld hatte, musste er sich mit einer Bitte an die Ratsherren wenden, die ihn tatsächlich unterstützten und eine bedeutende Verringerung der Forderung durchsetzten133. Viele hatten deutlich weniger Glück und bezahlten den Militärdienst mit ihrem Leben, so etwa der Nabburger Zimmermann Hans Richter, der im November 1620 in der Schlacht am Weißen Berg fiel134, oder der Bäckergeselle Martin Seiz aus Neumarkt, der noch früher, nämlich bei der militärischen Belagerung der böhmischen Stadt Pelhřimov (Pilgrams) an der ungarischen Krankheit starb135. In ähnlicher Weise kam es zu Kollaborationen oder direkt zum Eintritt ins feindliche Heer. Sicher war der genannte Kränkl nicht der einzige angeworbene oberpfälzische Bürger, der während seines Militärdienstes genötigt war, die Seite zu wechseln (oder dies freiwillig tat). Das war üblich und meist auch entschuldbar. Unentschuldbar jedoch waren Fälle von Kollaboration, in denen die Stadtbewohner ihre Kenntnis der lokalen Verhältnisse ausnutzten und dem Feind halfen, an Schwachstellen die Stadtbefestigung zu überwinden, oder wenn sie direkt den Feind riefen. Wegen eines solchen Verdachts wurde 1634 Johann Koch, der Neuburger Forstmeister in Weiden, inhaftiert, nachdem man ihn beschuldigte, die kaiserlichen Truppen zur Eroberung der Stadt herbeigerufen zu haben136. 130 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 46, fol. 59 (12.07.1632). 131 Das gilt übrigens auch für den bereits zitierten Peter Hagendorf. PETERS (Hg.): Peter Hagendorf (wie Anm. 92). 132 BRUNNER: Geschichte der Stadt Cham (wie Anm. 40), 84 f. 133 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 95 f. 134 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 47, fol. 311. 135 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 55. 136 Stadtarchiv Weiden, Akten, Nr. 113.
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Zu einer offenen Massenkollaboration kam es in Cham, vor dessen Stadtmauern im November 1632 Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar und der schwedische Oberst Georg Christoph Taupadel aufzogen. Nachdem sie die Stadttore verschlossen und die Bewohner zur Verteidigung bereit fanden, forderten sie die Chamer zur Kapitulation auf. Die Einwohner begaben sich daraufhin zur Beratung aufs Rathaus, aber inzwischen bemächtigten sich die feindlichen Dragoner mit Hilfe eines Teils der Bürger des Fleischtors und drangen ohne einen einzigen Schuss in die Stadt ein. Die Bewohner kehrten daraufhin bis auf die geborenen Katholiken und ca. zehn weitere Personen zum Luthertum zurück. Als bald darauf die kaiserliche Armee auftauchte, ermunterten angeblich die Bürger selbst die Okkupanten zur Verteidigung137. Der Schneidergeselle Erhard Urban, der aus Neumarkt stammte, gelangte auf seiner Wanderschaft in den Norden Deutschlands und kämpfte fast drei Jahre in Diensten des dänischen Königs, um sich anschließend in Kopenhagen niederzulassen, wo er seine Meisterprüfung absolvieren wollte. Er benötigte dazu aber aus seinem Heimatort Geburtsurkunde und Lehrbrief, so dass er sich 1626 auf den gefährlichen Weg nach Neumarkt begab. Dabei verhielt er sich sehr unvorsichtig und sprach sich sowohl gegen die Liga als auch für den dänischen König aus. Deswegen war es kein Wunder, dass er als angeblicher dänischer Spion inhaftiert wurde. Er konnte von Glück reden, dass es ihm gelang, ohne größere Nachteile entlassen zu werden138. Gelegen kam der städtischen Bevölkerung die Präsenz von Soldaten, respektive Garnison oder Salva Guardia, wenn sie Übergriffe seitens anderer Soldaten zu erleiden hatte. Den Soldaten wiederum kam die Stadt entgegen, falls diese ihre Angehörigen in Sicherheit bringen wollten. Der bayerische Obrist Druckmüller etwa brachte seine Familie nach Neumarkt, wobei er sich zuvor eine Genehmigung einholen musste, die er unter der Bedingung erhielt, dass er seine Familienangehörigen auf eigene Kosten versorgte139. Eine erzwungene Form der Zusammenarbeit von Stadtbewohnern und Soldaten bzw. deren Kommandanten betrifft die Fortifikationsarbeiten. Obwohl die Verteidigungsfähigkeit der Stadt im Interesse ihrer Bewohner lag, waren diese von dieser Tätigkeit nicht sonderlich begeistert. Das galt auch (und mit fortschreitenden Kriegsjahren immer mehr) für den gemeinsamen Kampf gegen die Angreifer. Als die Sulzbacher um 1636 aufgefordert wurden, sich an der Errichtung von Palisaden vor den Toren zu beteiligen, antworteten sie selbstbewusst, dass sie ihre
137 Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 3 – Bericht des kurfürstlichen Pflegers Johann Staudinger über das Verhalten von Rat und Stadt Cham den Schweden gegenüber (21.02.1636). Den Pfleger Staudinger hielten die Bürger aus Cham für „leichtfertig und rebellisch“. Ihn, seinen Schreiber und mehrere Katholiken beschimpften sie als „baptistische Hund“ und wollten sie aus der Stadt vertreiben oder sie töten lassen. Staudinger erlitt in dieser Zeit einen großen „Ruin“, als er, im Unterschied zu den Kollaborateuren, viele feindliche Soldaten unterhalten musste. 138 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 64. 139 Ebenda, 101.
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Privilegien hätten und sich zu solchen Arbeiten nicht zwingen ließen140. Signifikant ist ein Beispiel aus Weiden aus der Anfangszeit der schwedischen Okkupation, als bei einem Ausfall der Schweden gegen die Kaiserlichen die Stadtbürger das Gefühl hatten, dass wegen des Abtriebs ihres Viehs Alarm geschlagen worden sei, und so warfen sie sich an der Seite der Soldaten in den Kampf, wobei einige fielen141. VI. Diebstahl und Gewalt Von Soldaten verübte Diebstähle waren in den betroffenen Städten während des Dreißigjährigen Krieges an der Tagesordnung, und gemeinsam mit Gewalttaten stellten sie die Hauptursache der Konflikte zwischen ziviler und militärischer Bevölkerung dar142. Am häufigsten brachten die Soldaten ihre Opfer um ihre Pferde, eines der wertvollsten Besitztümer ländlicher wie städtischer Haushalte, das zudem leicht zu Geld zu machen war143. Nicht weniger oft stahlen die Soldaten Rinder und andere Nutztiere (Ziegen, Geflügel usw.), Getreide und Alkohol. Häufig eigneten sie sich auch Fische an, obwohl es Mühe kostete, die Teichwälle zu durchbrechen144. Gestohlen wurde im Prinzip alles, was sich stehlen bzw. zu Geld machen ließ – in oberpfälzischen Städten lässt sich der Diebstahl von Zunftkassen, Eisen, kleineren Glocken, Leder, Kannen, Wagen, Uhren, Färberbottichen, Musikinstrumenten, Schuhen und Bekleidung, Ketten und sogar kompletten Betten nachweisen. Diebstähle von Soldaten spielten sich nicht nur in der Dunkelheit, in Seitengässchen oder auf verlassenen Wegen ab, sondern auch am hellichten Tag im Zentrum der Stadt, wo Bürgerhäuser, Apotheken, Rathäuser, Kirchen, ja sogar Gräber ausgeraubt wurden. Ein umfangreiches Verzeichnis militärischer Diebstähle bietet Karl Ried in seiner Geschichte von Neumarkt. In dieser Stadt hatte ein Sextett einquartierter Soldaten erfahren, dass eine alte Bürgerin im Sterben lag; sie statteten sich mit Leitern und Stemmeisen aus und drangen in das Haus ein, wo sie in der Kammer alle Wertsachen entwendeten. Als der Sohn der sterbenden Frau davon erfuhr, alarmierte er die Wache, und die Diebe wurden inhaftiert. Einer Bestrafung ent140 RANK: Sulzbach (wie Anm. 34), 90. 141 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 64 f. 142 Vgl. ANDREAS KLINGER: Formen der Gewalt im Dreißigjährigen Krieg. In: GERHARD ARMANSKI, JENS WARBURG (Hg.): Der gemeine Unfrieden der Kultur. Europäische Gewaltgeschichten, Würzburg 2001, 107–124. 143 Zu demselben Schluss, aber in anderer Zeit und an anderem Ort, kam auch THOMAS JUST: Söldner vor Gericht. Verfahren gegen Landsknechte im Landgericht Grafenegg zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges (= Opera Historica 11), Ceské Budejovice 2006, 550. 144 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 48, fol. 47 f. Anfang 1640 gruben die Hatzfeldischen Soldaten den Damm des Teiches durch, der dem Nabburger Spital gehörte. Die Beschwerden über die Soldaten wegen Entwendung der Fische wiederholen sich in den Nabburger Archivalien. Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 42, fol. 23 (J. 1625); Bd. 51, fol. 148 (J. 1644) oder Bd. 53, fol. 87 (J. 1647).
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gingen sie allerdings. Ebenso blieben wohl auch diejenigen Soldaten straffrei, die dem Neumarkter Bäcker neben einer nicht geringen Barschaft das heiße Brot aus dem Ofen stahlen. Schlimmer sollte es einem Polen ergehen, der in der Stadt Leinen entwenden wollte, aber beim Diebstahl erwischt wurde und in Amberg zum Tod durch Erhängen verurteilt wurde. Er wurde aber begnadigt und kam mit einer öffentlichen Schandstrafe und einer Doppelschicht auf Wachtposten davon. Weniger Glück hatte der Korporal Jakob Düring, auf den der Verdacht eines nächtlichen Einbruchs im Hause Hans Castners fiel, dessen Besitzer gerade auf Reisen war. Castners Frau wurde bei dem Überfall gefesselt, und aus dem Haus wurden Barschaft und Wertsachen im Werte von 6 000 Gulden entwendet. Obwohl Döring die Tat leugnete, wurde er wegen anderer Verbrechen gehängt145. Was sich nicht stehlen ließ, wurde zumindest zerschlagen, was bereits eine Art physischer Aggression darstellt. Besonders häufig zerschlugen die Soldaten Fenster146, aber auch Türen und Möbel. Ein Kornett, der bei einem Neumarkter Bürger einquartiert war, ließ seinen Frust an den Öfen aus147. Die schrecklichsten Gewalttaten durch die Soldateska erlebte eine Stadt, die nach heftigem Widerstand eingenommen wurde. Nach geltendem Kriegsrecht hatte der Soldat dabei einen legitimen Anspruch auf Beute in Form jedweder beweglicher Gegenstände, deren er habhaft werden konnte148. Das Beste, was in der Stadt zu holen war, behielten allerdings die Kommandeure selbst. Mitunter waren auch Kirchen und kirchliche Institutionen von Plünderungen ausgenommen, wenn es sich um Glaubensgenossen handelte. Keine oberpfälzische Stadt erlitt zwar ein vergleichbares Schicksal wie das 1631 von Ligatruppen zerstörte Magdeburg, aber auch dort gab es bei einigen kriegerischen Aktionen hohe Verluste an Menschenleben. Neunburg vorm Wald wurde Anfang 1634 von Hans Vitzthum von Eckstätt angegriffen, einem sächsischen General in Diensten des Birkenfelder Pfalzgrafen, der ein Verbündeter der Schweden war. An der Verteidigung der Stadt an der Seite der kaiserlichen Garnison beteiligten sich auch Neunburger Bürger, und viele von ihnen fielen im Kampf; die eroberte Stadt wurde dementsprechend unbarmherzig geplündert. Der Hass der Bewohner gegen die Okkupanten fand seinen Höhepunkt, als sich die Kaiserlichen Neunburg näherten. Die Bürger überfielen die feindliche Garnison, und während erbitterter Straßenkämpfe gelang es ihnen, diese aus der Stadt zu vertreiben149.
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RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 61. Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 48, fol. 183 (J. 1641). RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 78 (J. 1631). Vgl. RALF PRÖVE: Violentia und Potestas. Perzeptionsprobleme von Gewalt in Söldnertagebüchern des 17. Jahrhunderts. In: MARKUS MEUMANN, DIRK NIEFANGER (Hg.): Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert, Göttingen 1997, 4–42. 149 MÄNNER, PROBST: 1000 Jahre (wie Anm. 32), 66 und Stadtarchiv Neunburg vorm Wald, Akten, J. 1634. Schwere Kämpfe um Neunburg gab es auch Anfang 1641, als sich dort das kleine schwedische Korps unter dem Kommando E. Slanges gegen die kaiserliche Armee unter dem Kommando Leopold Wilhelms wehrte.
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Besonders farbig schilderte der Weidener Chronist und Bürgermeister Schabner die Eroberung von Weiden, das damals von Hans Vitzthums Truppen okkupiert war, durch den Bayerischen Generalfeldmarschall Joachim Christian von Wahl im Mai 1635. Nach konzentriertem viertägigem Beschuss, der auch Opfer unter der Weidener Bevölkerung forderte, erfolgte der bayerische Sturm auf die Stadt. Die Angreifer überwanden die Stadtmauern an Schwachstellen, und die Bürger versteckten sich aus Angst vor ihnen in der Kirche, in ihren Häusern oder an anderen Orten, z. B. in Rinnen und unter Stegen über den Bach. Aber das half ihnen nichts, weil die Soldaten mithilfe von Lichtern und Fackeln die meisten Versteckten fanden. Durch physische Gewaltanwendung nötigten sie diese zu verraten, wo sie ihre Wertsachen verborgen hatten. Die Plünderungen erfolgten im großen Stil; mancher Soldat kam so zu einer Beute von Hunderten von Gulden. Besonders taten sich auch hier wieder die Offiziere hervor, die sich in den Häusern der reichsten Bürger bereicherten, im Rathaus (u. a. an der Waisenkasse) und am Besitz der Garnisonstruppen. Wahl selbst erbeutete angeblich 1 500 Gulden. Beute machten aber auch Zivilisten aus der Nachbarschaft, die sich den Eroberern angeschlossen hatten, etwa Knechte und Bauern, die die Kanonen beförderten, sowie die Marketender. Etliche Bürger starben während der Kämpfe und an den dabei erlittenen Verletzungen. Selbst die Kirchen boten keine Sicherheit – ein junger Rotfärber wurde im Chor vor dem Altar erschossen, ein Schustergeselle im Kreuzgang. Dem Chronisten zufolge wurde in den Kirchen wie auf dem Schlachtfeld geschossen, und sie wurden überdies von den Frauen der Soldaten besudelt. Eltern wurden von ihren Kindern getrennt, und niemand wusste, ob ihre Angehörigen noch am Leben waren, was auch Schabner und seine vier Kinder betraf. Die Plünderung dauerte ganze zwölf Stunden an, und den meisten Bürgern blieb danach weder Mantel noch Hut150. Falls es hingegen den Bürgern gelang, die Eroberer zu überzeugen, dass sie sich nicht an der Verteidigung der Stadt an der Seite der Garnison beteiligt hatten, konnten sie größeren Exzessen durch Bezahlung von „Brandschatzung“ entgehen. Zu einer solchen Situation kam es nach der Kapitulation der Garnison in Neumarkt vor Truppen des schwedischen Generals Horn. Seine Männer begannen zwar nach Überwindung der Stadtmauern zu plündern, ohne dass sie die Offiziere daran hindern konnten, doch hielten sich die Ausschreitungen in Grenzen. Die Stadt verteidigte sogar ihre Glocken, indem sie einen hohen Geldbetrag dafür zahlte. Manches Haus wurde damals unbewohnbar; über Verluste an Leben, ernsthafte Verletzungen oder Vergewaltigungen wissen wir jedoch nichts151. Dafür sind aus einigen anderen Städten Folterungen von Bewohnern bekannt, wofür vor allem die Schweden berüchtigt waren, die den sog. Schwedentrunk (Jauche) verwendeten, der den Opfern mit Gewalt eingeflößt wurde, oder auch Quetschverbände um den Kopf anlegten, wobei den Opfern das Blut aus Nase und Ohren floss152. In Kötzting hatten sie angeblich einen Bürger zwischen zwei Bret150 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 67–70. 151 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 87–92. 152 Vgl. ebenda, 88. Es geht aber um Dörfer in der Umgebung.
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ter gebunden und ihn danach mit einer Säge wie einen Baum halbiert153. Fatale Folgen konnten auch von Soldaten gelegte Brände haben, allerdings eher auf den Dörfern oder in den Vorstädten als in den Städten selbst154. Eine bewährte Strategie, um Geld einzutreiben, waren Entführungen von Stadtbewohnern und Lösegeldforderungen für ihre Entlassung. Ein beliebtes Ziel waren dabei vor allem Geistliche. So war der katholische Dechant von Cham wiederholt in schwedische Gefangenschaft geraten, der sich beim ersten Mal angeblich mit der enormen Summe von 30 000 Gulden freikaufen musste155. Entführt wurden auch Geistliche aus Altdorf oder der Dechant Mittner aus Neumarkt, dem es aber gelang, aus der Gefangenschaft zu fliehen. Aus Nabburg entführten die Schweden am Ende des Krieges vier Bürger nach Weiden als Garantie dafür, dass ihnen das geforderte Lösegeld gezahlt wurde. Dasselbe Verfahren hatten sie hier schon sieben Jahre zuvor praktiziert, um sich die in der Stadt hinterlegte Kontribution zu sichern156. Aus Altdorf entführten kroatische Soldaten die Ehefrau des Schulmeisters nach Neumarkt und ließen sie nach der Zahlung von zehn Talern Lösegeld wieder frei157. Bestandteil der militärischen Gewalt waren zudem Gewalttaten gegenüber Frauen, worüber die Quellen zwar nicht schweigen, aber selten nähere Informationen bieten. In den eroberten Städten konnten sich Frauen und Mädchen der Vergewaltigung nur selten entziehen. Die verwilderte Soldateska mit ihren primitiven sexuellen Bedürfnissen musste keinerlei Rücksichten nehmen. Vergewaltigungen gehörten daher zum Alltag des Dreißigjährigen Krieges. Es handelte sich gleichzeitig um eine Form der Erniedrigung des Gegners158. Besonders eindringlich schildert der Rüthener Bürgermeister Christoph Brandis in seiner Chronik die Vergewaltigung eines siebzehnjährigen Mädchens durch einen Soldaten159. In Landshut wurden zahlreiche Frauen ins schwedische Lager verschleppt und dort vergewaltigt160. In den untersuchten oberpfälzischen Städten konnte ich indessen nur einen einzigen Fall finden, der diese Problematik erhellt. Zu Beginn des Jahres 1647 kam es in Nabburg zu einem Verhör wegen angeblicher Vergewaltigung eines jungen Mädchens durch einen Reiter. Die Beschwerde hatten ein örtlicher Bürger, der Kürschner Mathes Peyrl, und seine Frau eingereicht, bei denen sich ein geflohenes, etwa zehnjähriges Mädchen aufhielt. Eines Abends kamen zwei 153 BRUNNER: Geschichte der Stadt Cham (wie Anm. 40), 91 f. 154 In Neumarkt brannten die Schweden im Jahre 1633 drei Kirchen außerhalb der Stadt nieder. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 88. 155 BRUNNER: Geschichte der Stadt Cham (wie Anm. 40), 91. 156 DAUSCH: Nabburg (wie Anm. 58), 224 f. 157 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 78 und 83 f. 158 Zu diesem Phänomen näher FRANCISCA LOETZ: Sexualisierte Gewalt 1500–1850. Plädoyer für eine historische Gewaltforschung, Frankfurt am Main 2012; KARIN JANSSON: Soldaten und Vergewaltigung im Schweden des 17. Jahrhunderts. In: MEDICK, KRUSENSTJERN (Hg.): Zwischen Alltag und Katastrophe (wie Anm. 7), 195–225. 159 HANS MEDICK, BENJAMIN MARSCHKE: Experiencing the Thirty Years War. A Brief History with Documents, Boston/New York 2013, 80 f. 160 EBERMEIER: Landshut im Dreißigjährigen Krieg (wie Anm. 14), 48.
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Reiter aus ihrem Quartier zu ihm ins Haus und tranken Bier. Als sie beim zweiten Maß waren, ging Peyrl zu seinem Nachbarn, so dass er nicht miterlebte, was dann geschah – im Unterschied zu seiner Frau Marie, die auch den Namen eines der Reiter nannte und den anderen als Burschen des Kornetts identifizierte. Der Reiter hätte dem Mädchen angeboten, mit ihm zu ziehen, aber das Mädchen habe sich geweigert. Daraufhin hätte es der zweite Mann, angeblich aus purem Vergnügen, auf sein Pferd gesetzt, und beide seien mit dem Mädchen in Richtung eines der Stadttore geritten. Nicht lange darauf kehrte das Mädchen zurück und beschwerte sich offenbar bei Peyrls Frau. Ob es sich um Vergewaltigung handelte, konnte wegen des Fehlens von Zeugen nicht bewiesen werden, so dass der Fall nicht weiter verfolgt wurde161. Physische und sexuelle Gewalt gegenüber den Bewohnern erlaubte sich ebenfalls das Heer des eigenen Landesherrn, wenn auch insgesamt in geringerem Maße. Die Situation erfasste der Sulzbacher Chronist Braun sicherlich zutreffend, als er schrieb, dass im Jahre 1632 die Bürger in große Not geraten seien, da sie Ziel von Plünderungen sämtlicher durchziehender Soldaten wurden162. Schon 1621 hatte der Weidener Jakob Schabner angegeben, in der Oberpfalz habe die Mansfelder Armee so übel gehauset, daß Niemand zu Haus wohnen und bleiben können163. Die Aggressionen konnten das Leben der Bürger akut bedrohen: Fälle von Mord und Totschlag durch verbündete Soldaten finden sich vielfach in den Quellen164. Physische Übergriffe waren an der Tagesordnung. Aber auch manche Bürger bewiesen, nicht zuletzt aufgrund eigener Erfahrungen im Umgang mit Waffen (in den Bürgerhäusern befand sich davon eine erhebliche Menge165), dass sie in direkter physischer Konfrontation mit Soldaten bestehen konnten. Als sich Ende 1647 einige entlassene Dragoner in der Umgebung von Neumarkt auf Raubzüge begaben, schritten die Bürger gegen sie rasch ein und brachten einige auf recht grausame Art um166. Anfang 1639 hielt sich in Nabburg das Horst’sche Regiment auf, dessen Korporal eine Beschwerde gegen den Knecht des Pfarrers und den Tagelöhner Michael Pauman aus dem Dorf Perschen erhob. Sie waren in ein Handgemenge mit dem Korporal geraten, wobei es zu blutigen Verletzungen auf beiden Seiten kam, als der Korporal die Klinge zog. Der Vorfall hatte sich zwar bei Tageslicht abgespielt, aber Alkohol spielte dabei natürlich ebenfalls eine Rolle – die Beklagten hatte Bier getrunken, und auch der Korporal war wohl nicht nüchtern, als er beide Männer mit Soldaten verwechselte und sich zu ihnen als 161 162 163 164
Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 53, fol. 67. RANK: Sulzbach (wie Anm. 34), 82. WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 11. Wie z. B. in Neumarkt, wo beim Abzug einer militärischen Abteilung ein Hütejunge erschossen wurde. RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 78 (J. 1631). 165 Vgl. z. B. die Situation in Neumarkt, wo bei der Entwaffnung der Bürger im Jahre 1621 11 Partisanen, 98 Hellebarden, 118 Rüstungen, 118 Sturmhauben, 118 Picken und 172 Musketen abgeliefert wurden. RIED, Neumarkt, 59. Oder in Nabburg – Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd 53, fol. 43 f. (Beschreibung der Ausrüstung in der Stadt): Waffen waren registriert bei 47 Bürgern (Musketen, Karabiner, Rohre usw.). 166 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 106.
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lustig Camerat begab, bevor er feststellte, dass es sich um Leute vom Lande handelte. Der Knecht soll gesagt haben, dass er früher auch Soldat gewesen sei. Im weiteren Verlauf kam es zu Missverständnissen zwischen den Beteiligten, woraufhin der Korporal die Waffe zog, während der Knecht auf der Straße einen Stein aufhob und diesen nach dem Korporal warf167. Zahlreiche Soldaten misshandelten Amtsträger und Bürger aller sozialen Schichten. Der Nabburger Bürger Erhard Gebhard wurde aus unbekannten Gründen von zwei Dragonern so geschlagen, dass er ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen musste, was ihn zwei Gulden kostete168. Unbarmherzig waren auch die Strafen, mit denen die Militärkommandanten die städtische Bevölkerung für nicht befolgte Befehle sanktionierten – einen Maurer und Zimmermann aus Cham ließen sie, angeblich unrechtmäßig, auf einen hölzernen Esel setzen169. Üblich waren natürlich auch gegenseitige Beleidigungen. Zum Beispiel wurde 1620 in Nabburg ein englischer Fähnrich von den Bürgern so beleidigt, dass sein Kommandeur beim Stadtrat Beschwerde einreichte170. Besonderen Schrecken, auch wegen der Sprachbarrieren171, riefen in deutschen Städten vor allem die Ungarn, Kroaten und Polen hervor. Seine Erfahrungen mit polnischen Soldaten im Jahre 1633 beschrieb wiederum Schabner. Zunächst wollten im Februar des genannten Jahres 600 Mann von ihnen gewaltsam durch das Nikolaus-Tor nach Weiden eindringen, in das sie eine Öffnung geschlagen hatten; als sie aber die Bürger kampfbereit sahen und ihnen ein Pferd erschossen wurde, zogen sie sich wieder zurück. Ein paar Wochen später jedoch kamen andere Polen, die hier offiziell Quartier nehmen sollten und die Schabner als unbändige Männer beschrieb, die den Bürgern großes Ungemach bereiteten. Jeder polnische Soldat kostete die Bürger angeblich Dutzende Gulden; überdies mussten sie ihnen die Hand küssen wie Herren, um Schäden und Schlägen zu entgehen. Laut dem Chronisten war es unbeschreiblich, in welcher Angst die Einwohner lebten. Einige führten zur Sicherheit ihre Frauen und Kinder auf das Schloss Parkstein, wo sich auch viele Jungfrauen versteckt hatten. Dass es zu keinen Exzessen kam, schrieb der Chronist nicht zuletzt dem Handeln eines Jesuitenpaters zu, der Einfluss auf die polnischen Offiziere hatte. Ähnliche Erfahrungen hatte man ein Jahr zuvor mit den Kroaten des Oberst Isolani gemacht, der unberechtigt in die Stadt eingedrungen war172. Überdies herrschte Gewalt in den Städten auch unter den Soldaten. Das ist nicht überraschend, wenn man sich bewusst macht, aus wie vielen Nationen und 167 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 47, fol. 277–279 (J. 1639). 168 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 51, fol. 251 (23.03.1645). Die Ausgabe wurde durch die Stadt übernommen. 169 Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 11 (J. 1645–1647). 170 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 40, fol. 14 (J. 1620). 171 Vgl. ANDREAS FLURSCHÜTZ DA CRUZ: Situationen des Sprachkontakts in Selbstzeugnissen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. In: HELMUT GLÜCK, MARK HÄBERLEIN (Hg.): Militär und Mehrsprachigkeit im neuzeitlichen Europa (= Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart 14). Wiesbaden 2014, 47–64. 172 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 41 f. und 37.
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Konfessionsparteien die damaligen Armeen bestanden. Jakob Schabner führt unter den 200 Soldaten des Oberwachtmeisters Peter Haas Deutsche, Italiener, Franzosen, Ungarn, Kroaten und sogar Griechen an; an anderer Stelle schreibt er, dass die Polen von den Deutschen getrennt werden mussten, um Konflikte zwischen ihnen zu vermeiden173. Besonders häufig brachen Konflikte aus, wenn die Soldaten unter Alkoholeinfluss standen. Der Nabburger Turmwächter Erhard Schrotterferdt bekam den strengen Befehl, den Soldaten tagsüber wie nachts den Zugang zum Turm und das Ausüben von Unzucht dort zu verwehren, und zwar bei Strafe eines dreistündigen Aufenthalts im Block174. Es bleibt jedoch offen, ob dies dem Türmer überhaupt gelingen konnte. Als nämlich in Neumarkt die Torwächter den Befehl bekamen, keinen Soldaten hinauszulassen, und sich bemühten, diesen einzuhalten, gab es etliche Soldaten, die sich durch Schläge den Weg freikämpften175. Die Befehlshaber wie auch die einfachen Soldaten setzten zur Erreichung ihrer Ziele häufig Drohungen ein, welche die Bürger durchweg ernst nahmen. In Neumarkt gerieten 1622 einige Soldaten des bayerischen Obristen Johann Aldringen in Streit mit Bürgern, wobei sie einen von ihnen verletzten und anschließend aus der Stadt verwiesen wurden. Die Soldaten drohten daraufhin jedoch, dass sie die Vorstadt und das Spital niederbrennen würden, so dass sich die Bürger bewaffneten und Wachen aufstellten. Eines Nachts ließ Aldringens Unteroffizier die Wache entwaffnen und schickte sie nach Hause, was nicht ohne Protest ablief; es sollen angeblich auch einige Schüsse gefallen sein. Die ganze Garnison wurde daraufhin auf dem Marktplatz in Bereitschaft versetzt, worauf sich unter den Bürgern Panik ausbreitete. Infolge dieser Begebenheit wurden den Bürgern die Waffen abgenommen und die Garnison verstärkt176. Unter Drohungen wurden aber vor allem Lösegelder und Kontributionen (evtl. auch Servizien und Diskretionsgelder177) erpresst, denen keine Stadt entging. Sie wurden von allen Seiten gefordert, und verbündete Armeen standen den feindlichen oft in nichts nach. Zum Beispiel nötigte Mansfeld den Neumarkter Stadtrat bei seinem Abmarsch im Jahre 1621 zur Aufbringung von 6 000 Gulden178. Der Oberstleutnant des Regiments von Wenzel Eusebius von Lobkowitz forderte in Weiden gewaltsam die Kontribution bei vier Bürgermeistern und dem Stadtschreiber ein179. Ansonsten taten sich hier die Schweden besonders hervor. Sie erzwangen nachweislich wiederholt Lösegeld von Nabburg180: 1648 musste die Stadt ihnen 4 000 Gulden Lösegeld zahlen und zusätzlich Naturalien in Form 173 174 175 176 177
Ebenda, 85 und 40. Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 51, fol. 273 (21.08.1645). RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 77. Ebenda, 59 f. Vgl. Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 100 – Klagen über Erpressung von Servis- oder Diskretionsgeldern, sowie deren Verabreichung überhaupt (1647). 178 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 58. 179 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 39. 180 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 47, fol. 16 (J. 1634) und Bd. 53, fol. 183–194 (J. 1648).
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von Getreide, Pferden Ochsen etc. entrichten181. Ähnlich erging es Sulzbach182 und Cham. Die Chamer sollten erstmals 1634 Lösegeld zahlen, doch war dieses viel niedriger als der Betrag, den Banér 1641 forderte. Die Schweden sprachen damals von 30 000 Talern Lösegeld; andernfalls drohten sie mit Feuer und Schwert. Der Stadtrat bat um eine Reduzierung dieser Forderung, weil sie unmöglich aufzubringen war. Banér gab sich schließlich mit der Hälfte zufrieden, wenn sie sofort ausgezahlt würde. Als sich die Chamer auch dieser Forderung widersetzten, wollte Banér die Ratsbürger und den Stadtschreiber sechs Tage lang einsperren lassen. Schließlich senkte er das Lösegeld auf 6 000 Taler. Zudem erhielten die schwedischen Offiziere und Beamten Geschenke in Form von Bargeld oder Wertgegenständen – besonders diejenigen, die für die Chamer vermittelt hatten. Aber auch auf diesem Wege konnte nicht die ganze Summe in bar beschafft werden, so dass die noch vorhandenen Wertsachen, vor allem diejenigen aus Silber, dafür verwendet werden mussten183. Davon, dass die Schweden keineswegs nur leere Drohungen aussprachen, überzeugten sich gegen Kriegsende die Neumarkter, als sie die Auszahlung der Kontributionen verzögerten. Der Feind setzte als Antwort darauf das nahe gelegene Dorf Lähr in Brand. Wenig später forderte hier General Königsmarck 2 500 Gulden und General Wrangel 4 000 Taler184. VII. Schluss Das Zusammenleben von Soldaten und Bürgern war während des Dreißigjährigen Krieges ausgesprochen konfliktträchtig. Konflikte konnten aus geringfügigen Anlässen entbrennen. Am häufigsten standen Diebstähle, Alkohol und wohl auch sexuelle Frustration im Hintergrund, aber ebenso entzündeten sie sich an übertriebenen Forderungen und der Störung der häuslichen Privatsphäre. So geläufig derartige Konflikte waren, so unterschieden sie sich doch in ihrer Intensität. Auf verbale Angriffe und Beleidigungen folgten physische Angriffe, und diese konnten mit ernsthaften Verletzungen oder Toten enden. Nicht wenige Stadtbewohner hielten allerdings den Soldaten durchaus Stand. Viele verfügten nämlich über eigene Kampferfahrungen. Angriffen größerer Gruppen konnten sie allerdings kaum widerstehen; ausrichten konnten sie allenfalls etwas mit einer Beschwerde an zuständiger Stelle. Falls sich eine Stadt gegen den angreifenden Feind wehrte und ihm unterlag, musste sie außer mit höheren Verlusten an Leben auch damit rechnen, den Soldaten zur Plünderung ausgeliefert zu werden. Ansonsten unterschieden sich die Pflichten der Städte gegenüber den „eigenen“ und feindlichen Armeen jedoch nur graduell. Beide Seiten forderten finanzielle, materielle und eventuell auch perso181 DAUSCH: Nabburg (wie Anm. 58), 225. 182 RANK: Sulzbach (wie Anm. 34), 96. 183 BRUNNER: Geschichte der Stadt Cham (wie Anm. 40), 88–90. Siehe auch Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 98 und X 99 (Brandschatzung der Stadt durch. J. Banér). 184 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 105 und 107.
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nelle Ressourcen. Androhungen harter militärischer Exekution im Falle einer Verweigerung oder Nichterfüllung der Forderungen kamen von beiden Seiten, ebenso wie beide Kontributionsforderungen erhoben. Schaden fügten sie den Bürgern nicht nur durch diese Forderungen zu, sondern auch durch Brandstiftung und Zerstörung185, Diebstahl und Raub, das Weiden ihrer Pferde u. ä.186. Ganz davon abgesehen verursachte die Anwesenheit von Truppen in der Region nicht nur eine größere Konzentration der Landbevölkerung in den Städten, einschließlich von Bettlern und anderen Randgruppen187, sondern die Soldaten schleppten auch wiederholt ansteckende Krankheiten ein, vor allem die Pest, so dass oft keine Märkte, Ratssitzungen oder andere Zusammenkünfte stattfinden konnten188. Für die meisten Bürger waren deswegen die Soldaten die Verkörperung des Unglücks – Schelme, Diebe, Mörder, Gewalttäter und Kriegstreiber. Deutlich äußerte sich in dieser Hinsicht ein Sulzbacher Bürger: selbige schlaffen, spazieren und hingegen die Bürger tribuliren189. Andererseits sollten wir nicht der Vorstellung verfallen, dass die Städte über keinerlei Möglichkeiten verfügt hätten, der Kriegsrealität zu begegnen. Die Bevölkerung musste sich anpassen und tat das auch. Die Soldaten gingen keineswegs immer straffrei aus; wegen Exzessen gegenüber der städtischen Bevölkerung konnten sie hart belangt werden, bis hin zur Todesstrafe. Das konkrete Strafmaß hing vom Kommandeur und der Disziplin in den Militäreinheiten ab. Zwischen den Städten intensivierte sich während des Krieges auch die Zusammenarbeit, vor allem auf der Basis von Informationsaustausch (und das sogar über Grenzen hinweg190), wobei es allmählich zur Ausarbeitung von Abwehrstrategien kam. Nur eine geringe Rolle spielten dabei bewaffneter Widerstand oder Flucht, obwohl einige Bürger schon zu Kriegsbeginn191 aus ihren Häusern flüchten wollten und solche Fälle im Laufe des Krieges zunahmen. Bezeichnend ist dafür das Beispiel des Ratsherrn Friedrich Weiße, der 1645 bekanntgab, dass er, obwohl er schon sechzehn Jahre Bürger in Weiden sei, nicht länger den schweren Kriegslasten standhalten könne und um Erlaubnis bat, die Stadt verlassen zu dürfen. Seine Mitbürger überredeten ihn aber, dass der Krieg bald enden würde (!) und ihm nach Möglichkeit geholfen werde, die Last zu tragen192.
185 Stadtarchiv Cham, Akten, Sign. X 25 – Plünderungs- und Brandschäden in der Stadt und Umgebung von Cham, angerichtet durch Freund und Feind in den Jahren 1632–1648, angemeldet auf Anforderung des Pflegerichts Cham (1650–1651). Der Gesamtschaden betrug 51 695 Gulden. 186 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 53, fol. 87 (06.06.1647). 187 Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 46a, fol. 29 (03.07.1634). 188 In Nabburg beispielsweise wurde die Weihe der St. Johannis-Kirche abgesagt (Juni 1621). Stadtarchiv Nabburg, Ratsprotokolle, Bd. 40, fol. 33. 189 Stadtarchiv Sulzbach-Rosenberg, Ratsprotokolle, Sign. B 11 (1636–Januar 1637), fol. 113 (02.10.1636). 190 Stadtarchiv Cham, Akten, X 17 – Anfrage der Stadt Klattau in Böhmen über den angeblichen Anmarsch der Schweden von Lindau nach Augsburg und Regensburg (J. 1647). 191 RIED: Neumarkt (wie Anm. 35), 56. 192 WAGNER (Hg.): Chronik (wie Anm. 47), 86.
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Die Städte waren sich ihrer ökonomischen Nützlichkeit wohl bewusst und auch der Tatsache, dass sie ein unabdingbarer Bestandteil des Wirtschaftssystems waren. Beschwerden, Mahnungen und Forderungen der städtischen Vertreter fielen zwar nicht immer auf fruchtbaren Boden, entwickelten sich aber zu einem wichtigen Druckmittel gegenüber der Regierung. Die aus den Städten an die Behörden adressierten Schriftstücke enthielten Standardformeln, in denen sich die Stadt zu einer äußerst verarmten, ausgeraubten, mitunter auch abgebrannten und dadurch höchst bedauernswerten Gemeinde stilisierte193. Sie wies auf die Prinzipien der christlichen Moral hin und flüchtete sich in die Drohung, dass die Bevölkerung die Stadt verlassen würde – wie z. B. in Cham, als man beschlossen hatte, einige Kompanien in der Stadt einzuquartieren. In diesem Fall müssten die Bürger Haus und Hof stehen lassen und mit lähren Händen darvon an den laidigen Pettelstab gehen194. Dies freilich würde zum Untergang der lokalen Wirtschaft führen, was natürlich nicht im staatlichen Interesse sein konnte. Innerhalb der städtischen Gemeinschaft wurden ebenfalls Strategien entwickelt, wie die Kriegszeit zu überstehen sei, und zwar auch während des Aufenthalts kaiserlichen Truppen oder in Zeiten der Okkupation. Es handelte sich dabei um Kollaboration, den Aufkauf von gestohlener Ware, um gegenseitige Solidarität, aber auch um Betrügereien. Alle anderen Überlegungen wurden letztlich der Ökonomie des Überlebens untergeordnet.
193 Vgl. ebenda, 90 (das arme Bürgertum; 1647). 194 Stadtarchiv Cham, Akten, X 2 – Bedenken des Stadtmagistrats gegen die beabsichtigte Einquartierung einer Kompanie Dragoner sowie von 5 Kompanien Altsächsischer Reiter (14.05.1633). In der Argumentation finden wir wieder Begriffe wie „arme Mitbürgerschaft“ oder „die arme Leuth“.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 37 (2019), S. 91–112
LANDESGESCHICHTE UND PUBLIC HISTORY Fachgeschichte und Perspektiven Lena Krull ABSTRACT Ausgehend von der Entstehung und Ausbreitung der Public History in den USA und Deutschland fragt der Beitrag nach dem Stellenwert der Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit in der universitären Landesgeschichte. Bereits die ersten Lehrstühle für Landesgeschichte bezogen seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein interessiertes Laienpublikum in ihre Überlegungen mit ein und nutzten ihre Erkenntnisse politisch. Sowohl innerwissenschaftliche Diskurse wie die (bundesdeutsche) Regionalgeschichte als auch gesellschaftliche Prozesse etwa im Rahmen der Neuen Geschichtsbewegung forderten in den 1970er und 1980er Jahren die Landesgeschichte heraus und regten vereinzelt einen mit der US-amerikanischen Public History vergleichbaren Umgang mit der Öffentlichkeit an. Spätestens seit den 1990er Jahren ist es innerhalb der universitären Landesgeschichte unumstritten, dass die Disziplin eine Art Dienstleistungs- und Beratungsfunktion für die jeweilige Region erfüllt; über akzeptable Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens und mögliche (negative) Folgen wird aber durchaus diskutiert. Abschließend zeigt der Artikel Potentiale auf, die eine als Public History verstandene Landesgeschichte bieten kann: Erstens eine wissenschaftshistorische Perspektive, bei der die Landesgeschichte ihren eigenen Umgang mit der Öffentlichkeit kritisch hinterfragt, zweitens eine studienorganisatorisch-praktische Sichtweise, vor deren Hintergrund landeshistorisch ausgerichtete Public History-Projekte realisiert werden, und drittens eine gesellschaftlich-partizipatorische Perspektive, in der z. B. durch Citizen Science Bürgerinnen und Bürger in Projekte eingebunden werden können. Based on the emergence and spreading of public history in the US and Germany, the article asks about the significance of dealing with the public in academic regional history („Landesgeschichte“). Since the beginning of the twentieth century, the first chairs of regional history started integrating an interested lay public into their concepts and making political use of their insights as well. Both inner-academic discourses such as the (West German) regional history („Regionalgeschichte“) as well as social processes in the context of the New History Movement challenged the „Landesgeschichte“ in the 1970s and 1980s and occasionally suggested an interaction with the public comparable to US public history. Within the academic regional history, it has therefore been undisputed at least since the 1990s that the discipline fulfills a kind of service and advisory function for the respective region. However, acceptable framework conditions of academic work and possible (negative) consequences are certainly being discussed. Finally, the article presents three angles on the potentials that a regional history understood as public history can offer: First, a historiographical perspective critically questioning regional history’s own dealings with the public; secondly, a practical, research-organizational perspective against which regional public history projects are realized; and third, a participatory perspective on, for example, the involvement of citizens in regional public history projects.
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I. Einleitung Public History und Landesgeschichte scheinen auf den ersten Blick nur wenige Gemeinsamkeiten zu haben: Auf der einen Seite steht ein expandierender Wissenschaftszweig zwischen Geschichtsdidaktik und Zeitgeschichtsforschung, der mit neuen Studienprogrammen und dem Interesse der Öffentlichkeit an seinen Produkten aufwarten kann; auf der anderen Seite die Landesgeschichte. In einschlägigen Aufsätzen aus der und über die Landesgeschichte wird immer wieder die zumindest selbst empfundene Rückständigkeit der Disziplin betont. Schon Ende der 1980er Jahre wurde Landesgeschichte vermeintlich als „antiquiert“1 betrachtet und musste sich gegen die seit den 1970er Jahren entstandene Regionalgeschichte behaupten; der epochen- und disziplinenübergreifende Ansatz der Landesgeschichte galt als überholt. Zwar erkannte man später innerhalb der Disziplin das gemeinsame Erkenntnisinteresse von Landes- und Regionalgeschichte weitgehend an, dafür bezeichnete man die Landesgeschichte seit der Jahrtausendwende zumindest in Teilen als „innovationsresistent“ und „prima vista völlig unverdächtig […], einen ‚cultural turn‘ der Geisteswissenschaften auch nur bemerkt zu haben“2. Weniger drastisch wurde immerhin diagnostiziert, die turns der vergangenen Jahrzehnte hätten die Landesgeschichte „in leichtes Schlingern versetzt, wenn auch nicht gerade ins Schleudern gebracht“3. Hinzu kommt der „kleinräumige“ Ansatz der Landesgeschichte, der auf den ersten Blick gar nicht mit dem aktuellen Trend zur Globalgeschichte in Übereinstimmung zu bringen zu sein scheint. Wenn es um globale Strukturen, transnationale Verflechtungen und weltweite Linien historischer Entwicklung geht, mutet die regionale Perspektive zunächst bedeutungslos an, und die Landesgeschichte könnte „zur provinziellen Nebendisziplin“4 werden, so die Befürchtung. In diesem Zusammenhang wird auch auf die immer wieder bedrohte Institutionalisierung der Landesgeschichte als „Kleines Fach“ an deutschen Universitäten verwiesen5. Sämtliche Internetlinks wurden zuletzt am 04.02.2019 überprüft. 1 WERNER FREITAG: Landesgeschichte als Synthese – Regionalgeschichte als Methode? In: Westfälische Forschungen 54 (2004), 291–205, hier 291. 2 FRITZ DROSS: Von der Erfindung des Rheinlands durch die rheinische Landesgeschichte. Eine Polemik. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 23 (2005), 13–34, hier 14. 3 WINFRIED SPEITKAMP: Stadt – Land – Fluss? Konfigurationen der Region – Perspektiven der Landesgeschichte. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 60 (2010), 127–148, hier 129. 4 MATTHIAS WERNER: Die deutsche Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. Aufbrüche, Umbrüche, Perspektiven. In: MANFRED GROTEN, ANDREAS RUTZ (Hg.): Rheinische Landesgeschichte an der Universität Bonn. Traditionen – Entwicklungen – Perspektiven, Göttingen 2007, 157–178, hier 159. 5 Vgl. ALEXANDER JENDORFF: Der Saurier und die Weltevolution. Historiographische Betrachtungen zum angeblich schwierigen Verhältnis zwischen Globalgeschichte und Landesgeschichte. In: DERS., ALEXANDRA PÜHRINGER (Hg.): Pars pro toto. Historische Miniaturen zum 75. Geburtstag von Heide Wunder, Neustadt a.d. Aisch 2014, 53–71. Zur Übersicht über die universitäre Landesgeschichte vgl. die Übersicht der Arbeitsstelle Kleine Fächer am Zentrum für Qualitätssicherung und -entwicklung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz:
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Vor diesem Hintergrund scheint es angebracht, die innovativen Potenziale der Landesgeschichte stärker in den Fokus der Geschichtswissenschaft wie auch der Landeshistorikerinnen und Landeshistoriker selbst zu rücken. Diesem Anliegen widmete sich 2013 die Tagung „Methoden und Wege der Landesgeschichte“, an die der vorliegende Beitrag anknüpfen möchte6. Geleistet werden kann dies an dieser Stelle nur für einen kleinen Teilbereich, konkret für die Überschneidungen zwischen Landesgeschichte und Public History. Zwar wird diese Schnittmenge hier vorwiegend aus Sicht der Landesgeschichte aufgezeigt, tatsächlich lässt sie sich aber aus beiden Richtungen denken. So formulierte Cord Arendes ein Plädoyer für „glokale“ Projekte in der Public History7: Diese seien besonders attraktiv, weil sie die Einbindung des Einzelnen in eine globalisierte Lebenswelt stärken könnten; zudem erleichtere die örtliche Anbindung die Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Das hier vorgebrachte Argument des lokalen Bezugs der Public History ist zwar nicht neu8, interessant ist es dennoch, weil es aus landeshistorischer Sicht die Frage eröffnet, wo der Unterschied zu machen sei zwischen einer häufig lokal und regional arbeitenden Public History und einer Landesgeschichte, die durch ihre regionale Vernetzung öffentlichkeitswirksame Projekte umsetzen kann. Von den Berührungspunkten beider Disziplinen könnten beide profitieren: Für die Landesgeschichte böte sich die Möglichkeit, an aktuelle Strömungen der Geschichtswissenschaft anzuknüpfen; für die Public History entstünde eine engere Anbindung an dieselbe über die heute noch in der Public History dominante Zeitgeschichtsforschung hinaus9. Hierzu sind zunächst einige Bemerkungen zum Ver-
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https://www.kleinefaecher.de/kartierung/kleine-faecher-von-a-z.html?tx_dmdb_monitoring% 5BdisciplineTaxonomy%5D=69&cHash=e5967e36989431176927a9ad22475bf1#overview. Vgl. SIGRID HIRBODIAN, CHRISTIAN JÖRG, SABINE KLAPP (Hg.): Methoden und Wege der Landesgeschichte (= Landesgeschichte 1), Ostfildern 2016; PETRA KURZ, GEORG WENDT: Tagungsbericht: Methoden und Wege der Landesgeschichte. 6.–8.6.2013, Tübingen. In: HSoz-Kult, 21.9.2013, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5037. Vgl. hierzu und zum Folgenden CORD ARENDES: Kommentar zu Serge Noiret: Internationalizing Public History. In: Public History Weekly 2 (2014) 34, https://public-historyweekly.degruyter.com/2-2014-34/internationalizing-public-history/. Zur „Glokalisierung” mit Bezug auf die Geschichtsdidaktik vgl. ANKE JOHN: Lokal- und Regionalgeschichte, Schwalbach/Ts. 2017, 7 u. 85 f.; mit Blick auf die Landesgeschichte vgl. SPEITKAMP: Stadt – Land – Fluss? (wie Anm. 3), 142. In den 1980er Jahren kam es in den USA zu einer Auseinandersetzung zwischen der in der American Association for State and Local History (AASLH) institutionalisierten Local History und der Public History, vgl. SIMONE RAUTHE: Public History in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, Essen 2001, 136 f. Gleichwohl nahmen Themen der Local History innerhalb der Public History einen wichtigen Stellenwert ein, vgl. MARTY A. MYRON: The Place of Local History in the Training of Public Historians. In: The Public Historian 5 (1983) 4, 77–87; RAYMOND STARR: The Role of the Local History Course in a Public History Curriculum. In: The Public Historian 9 (1987) 3, 80–95. Zur Frage des zeithistorischen Schwerpunkts in der Public History vgl. IRMGARD ZÜNDORF: Zeitgeschichte und Public History. Version 2.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 6.9.2016, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.699.v2 und den Kommentar hierzu von STEFANIE SAMIDA: Kommentar: Public History als Historische Kulturwissenschaft: Ein Plädoyer. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 17.6.2014, http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.575.v1.
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ständnis von Public History notwendig. Weiterhin widmet sich der Beitrag der Fachgeschichte der Landesgeschichte besonders mit Blick auf die Öffentlichkeit, um abschließend einige Perspektiven für eine Landesgeschichte als Public History aufzuzeigen. II. Public History in Deutschland Public History kann als angewandte, als öffentliche Geschichte sowie als Geschichte für die Öffentlichkeit umschrieben werden10, oder, wie Irmgard Zündorf formulierte: „Public History umfasst einerseits jede Form der öffentlichen Geschichtsrepräsentation, die sich an eine breite, nicht geschichtswissenschaftlich vorgebildete Öffentlichkeit richtet, und beinhaltet andererseits die geschichtswissenschaftliche Erforschung derselben.“11 Als Teilbereich der Geschichtswissenschaft reagiert Public History damit auf ein seit einigen Jahren weitgehend einmütig konstatiertes hohes öffentliches Interesse an Geschichte („Geschichtsboom“) und konzipiert entsprechend zielgruppenorientierte Produkte. Adressat ist explizit nicht die Fachöffentlichkeit, sondern eine als allgemein verstandene Öffentlichkeit. Akteure der Public History sind also auch Museen, Geschichtsagenturen, Geschichtsjournalisten und andere Produzenten von Geschichtsbildern. Als akademische Disziplin befasst sich Public History zudem wissenschaftlich mit der öffentlichen Darstellung von Geschichte. Ausschlaggebend für die noch in den Anfängen steckende Institutionalisierung im deutschsprachigen Raum ist einerseits die beginnende Rezeption der in den USA seit den 1970er Jahren bestehenden Public History, andererseits ist sie ein Resultat der Diskussion um Geschichtskultur in10 Vgl. zur Definition GREGOR HORSTKEMPER, ALEXANDRA SORBELLO STAUB: Public history – histoire publique – Geschichtskultur. Ein Thema mit vielen Variationen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60 (2009) 2, 116 f.; JULIANE TOMANN, JACQUELINE NIESSER, ANNA LITTKE, JAKOB ACKERMANN, FELIX ACKERMANN: Diskussion Angewandte Geschichte. Ein neuer Ansatz? Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 15.2.2011, DOI: http:// dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.310.v1; IRMGARD ZÜNDORF: Public History und Angewandte Geschichte. Konkurrenten oder Komplizen? In: JACQUELINE NIESSER, JULIANE TOMANN (Hg.): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit, Paderborn u. a. 2014, 63–76; DIES.: Zeitgeschichte (wie Anm. 9). Grundlegend zur Entwicklung in den USA: RAUTHE: Public History (wie Anm. 8). Weiterführend zu einzelnen Themen und zur Praxis der Public History: FRANK BÖSCH, CONSTANTIN GOSCHLER (Hg.): Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt/New York 2009; THOMAS CAUVIN: Public History. A Textbook of Practice, New York/London 2016; JAMES B. GARDNER, PAULA HAMILTON (Hg.): The Oxford Handbook of Public History, New York 2017; WOLFGANG HARDTWIG, ALEXANDER SCHUG (Hg.): History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart 2009; SABINE HORN, MICHAEL SAUER (Hg.): Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen 2009; CHRISTOPH KÜHBERGER, ANDREAS PUDLAT (Hg.): Vergangenheitsbewirtschaftung. Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, Innsbruck u. a. 2012; MARTIN LÜCKE, IRMGARD ZÜNDORF: Einführung in die Public History, Stuttgart 2018; NIESSER, TOMANN: Angewandte Geschichte (wie Anm. 10). 11 ZÜNDORF: Zeitgeschichte (wie Anm. 9).
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nerhalb der Geschichtsdidaktik12 sowie um öffentliche Geschichte und Berufsperspektiven für Historikerinnen und Historiker. Hintergrund der Entstehung der US-amerikanischen Public History13 in den 1970er Jahren war nämlich einerseits die Erkenntnis, dass Studierende auch für „non-teaching careers“ außerhalb von Schule und Hochschule vorbereitet werden müssten; andererseits der Wunsch, dass sich die Historikerzunft in den USA stärker an öffentlichen Debatten und Fragestellungen beteiligen möge14. Wegbereiter waren 1975/76 zunächst zwei Studienprogramme an der University of California in Santa Barbara (Public Historical Studies) sowie an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh (Applied History and Social Science). 1978 folgte die Zeitschrift The Public Historian, 1980 die Institutionalisierung im National Council on Public History (NCPH)15. Im Public Historian wurden auch erstmals acht typische Tätigkeitsfelder der Public History definiert: „Government“ (Politikberatung), „Business“ (Unternehmensgeschichte, Unternehmensberatung), „Research Organizations“ (zum Beispiel im Bereich Familiengeschichte, auch freiberufliche Tätigkeit), „Media“, „Historical Preservation“ (Denkmalpflege im weiteren Sinn), „Archives and Records Management“ sowie zuletzt „Teaching of Public History“16. In Deutschland bildete sich eine Public History erst wesentlich später heraus, wobei als einer der Startpunkte der gleichnamige Masterstudiengang an der Freien Universität Berlin in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam seit 2008 zu nennen ist17. Public History etablierte sich seitdem an mehreren Universitäten als Teil des Studiums (Hamburg18, Heidelberg19), als Studienrichtung (Köln20) oder Studiengang (Bochum21, Regensburg22). Die Einrichtung neuer Studiengänge oder -richtungen geht erwartungsgemäß mit der Etablierung von (Junior-)Professuren mit einer entsprechenden Denomination für Public History einher: Seit 2012 besteht eine Professur für Angewandte Geschichtswissenschaft/Public History in Heidelberg; Juniorprofessuren existieren in Bochum, Köln und Hamburg. Hinzu kommt Public History als ergänzender Schwerpunkt bei Professuren und Instituten im Bereich der Geschichtsdidaktik23. 12 Vgl. SIMONE RAUTHE: Geschichtsdidaktik – ein Auslaufmodell? Neue Impulse der amerikanischen Public History. In: Zeithistorische Forschungen 2 (2005), 287–291. 13 Grundlegend hierzu RAUTHE: Public History (wie Anm. 8). 14 Vgl. ebd., 87 f. 15 Vgl. ebd., 88–97. 16 G. WESLEY JOHNSON: Editor’s Preface. In: The Public Historian 1 (1978) 1, 4–10, hier 6 f. 17 Vgl. http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/phm/. 18 Vgl. https://www.geschichte.uni-hamburg.de/arbeitsbereiche/public-history.html. 19 Vgl. http://www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/philosophie/zegk/histsem/forschung/HPH_MA Programm.html. 20 Vgl. http://histinst.phil-fak.uni-koeln.de/1072.html. 21 Vgl. http://www.ruhr-uni-bochum.de/public-history/index.html.de. 22 Vgl. https://www.uni-regensburg.de/philosophie-kunst-geschichte-gesellschaft/geschichte/stu dieninteressierte/studiengaenge/m-a-public-history-und-kulturvermittlung/. 23 Z. B. in Flensburg: https://www.uni-flensburg.de/geschichte/wer-wir-sind/personen/prof-drastrid-schwabe/, München: http://www.did.geschichte.uni-muenchen.de/index.html oder Tü-
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2012 wurde zudem eine Arbeitsgemeinschaft Angewandte Geschichte/Public History im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands gegründet24. Trotz des Ausbaus der vergangenen Jahre befindet sich Public History als akademisches Feld in Deutschland weiterhin in einem Orientierungs- und Wachstumsprozess: Es wird debattiert, was darunter zu fassen sei, ob es eine eigenständige Methode gebe, wie das Verhältnis zur Öffentlichkeit beschaffen sein solle und welche Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft allgemein zu ziehen seien.25 Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie ähnliche Abgrenzungsprozesse und besonders die Frage nach der Öffentlichkeit die disziplinäre Entwicklung der Landesgeschichte seit dem 19. Jahrhundert prägten. Auf diese Weise sollen die Gemeinsamkeiten von Landesgeschichte und Public History herausgestellt werden. III. Landesgeschichte und Öffentlichkeit bis in die 1970er Jahre Der Entwicklungsstand der Landesgeschichte als Disziplin lässt sich seit den 1960er Jahren jeweils im Abstand von einem Jahrzehnt aus Tagungen bzw. daraus entstandenen Publikationen ableiten26: Eine Bonner Tagung von 196927 vertrat noch eine klassisch auf das Mittelalter fokussierte Landesgeschichte und zeigte keinerlei Problembewusstsein für die Rolle der Disziplin im Nationalsozialismus; ein Stand, der mit der Diskussion um die Abgrenzung von Landesgeschichte und geschichtlicher Landeskunde in einem von Pankraz Fried 1978 veröffentlichten Handbuch zu „Problemen und Methoden der Landesgeschichte“ nochmals zusammengefasst wurde28. Obwohl die dort enthaltenen Schriften zur Landesgeschichte teilweise bis in die 1920er Jahre zurückreichen, ist es durchaus möglich, hier erste Anklänge einer Art landesgeschichtlicher Public History herauszulesen. Explizit gilt dies für die Einleitung, wo Fried formulierte: „Auf der anderen Seite braucht sich die wissenschaftliche Landesgeschichte ihrer Nähe zur Heimatgeschichte nicht zu schämen und sich deswegen nicht von ihr, wie es bisweilen schon geschehen ist, zu distanzieren. Sie würde sich damit des emotionellen Wurzelbodens berauben, aus dem sie gewachsen ist und woraus sie ständig neue Nahrung er-
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bingen: https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/philosophische-fakultaet/fachbereiche/geschichts wissenschaft/seminareinstitute/geschichtsdidaktik-und-public-history/institut/. Vgl. http://www.historikerverband.de/arbeitsgruppen/ag-angewandte-geschichte.html. Pointiert: ZÜNDORF: Zeitgeschichte (wie Anm. 9). Grundlegender Überblick zur Disziplingeschichte im 20. Jahrhundert: MATTHIAS WERNER: Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. In: PETER MORAW, RUDOLF SCHIEFFER (Hg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert (= Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005, 251–364. „Stand, Aufgaben und Probleme der Landesgeschichte“, veranstaltet vom Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande (Edith Ennen), vgl. Rheinische Vierteljahrsblätter 34 (1970). Vgl. PANKRAZ FRIED (Hg.): Probleme und Methoden der Landesgeschichte (= Wege der Forschung 492), Darmstadt 1978.
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hält.“29 Das Zitat verdeutlicht auch, dass es gerade diese Öffentlichkeitsorientierung gewesen war, die der Landesgeschichte im Wissenschaftsbetrieb nachteilig ausgelegt wurde. Demgegenüber betonte Fried, das „Heimatschrifttum“ sei „oft der beste Ort, wissenschaftliche Erkenntnisse der Landesgeschichte zu popularisieren“, jedoch unter Beachtung einer nicht näher definierten „Trennungslinie zwischen wissenschaftlicher und populärer Darstellung“30. Landesgeschichte als historische Teildisziplin stand also für Fried in einem regen Austausch mit einer Öffentlichkeit, die in diesem Fall vor allem aus Akteuren der Heimat- oder Ortsgeschichte bestünde. Neben den Geschichts- und Heimatvereinen wurde hier an bestimmte Berufsgruppen (Lehrerinnen und Lehrer) und Familienforscherinnen bzw. -forscher gedacht, die nicht zwangsläufig über eine geschichtswissenschaftliche Ausbildung verfügten.31 Der grundsätzliche Öffentlichkeitsbezug der Landesgeschichte war dabei auch in den 1970er Jahren keineswegs neu, sondern die logische Konsequenz aus der Entwicklung der Disziplin: Die Landesgeschichte hatte sich im 19. Jahrhundert zwar als Teil der Geschichtswissenschaft herausgebildet; allerdings kam es zunächst nicht zu einer Institutionalisierung an den Universitäten. Orte landesgeschichtlicher Forschung waren vielmehr die neu entstehenden Geschichts- und Altertumsvereine, später die Landesmuseen und Archive32. Ab 1852 institutionalisierten sich diese Bestrebungen in der Gründung des Gesamtvereins der Deut-
29 PANKRAZ FRIED: Einleitung. In: DERS. (Hg.): Probleme und Methoden (wie Anm. 28), 1–12, hier 7. 30 Ebd. 31 Um zu verdeutlichen, um welche Zielgruppe es bei dieser ‚Heimatgeschichte‘ noch ging, sei hier der typische (männliche) Heimatforscher im Raum Niedersachsen in den 1980er Jahren holzschnittartig charakterisiert: „65 Jahre alt, wohnhaft in einem eingemeindeten Dorf, wirtschaftlich gut situiert, sozial abgesichert, gewisse Allgemeinbildung, sehr große Lernbereitschaft, langjähriges Interesse für Heimat und Geschichte, hohe Arbeitszeit- und Geldinvestition für die Heimatforschung“, CARL-HANS HAUPTMEYER: Heimatgeschichte heute. In: DERS. (Hg.): Landesgeschichte heute, Göttingen 1987, 77–96, hier 78 f. Zu etwas anderen Ergebnissen kommt für den Niedersächsischen Heimatbund UTE BERTRANG: Gibt es eine Typologie der Geschichtsvereine und der historisch arbeitenden Heimatforscher? In: Geschichtsvereine. Entwicklungslinien und Perspektiven lokaler und regionaler Geschichtsarbeit. Hg. v. der Thomas-Morus-Akademie Bensberg (= Bensberger Protokolle 62), Bergisch Gladbach 1990, 43–52. 32 Vgl. HERMANN HEIMPEL: Über Organisationsformen historischer Forschung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 189 (1959), 139–222, hier 190–215; DERS.: Geschichtsvereine einst und jetzt. In: HARTMUT BOOCKMANN (Hg.): Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 1), Göttingen 1972, 45–73 (Erstveröffentlichung 1963 als Vortragsmanuskript zum 70. Jubiläum des Göttinger Geschichtsvereins); WINFRIED SPEITKAMP: Grenzen der Landesgeschichte. Bemerkungen zu neuen Standortbestimmungen. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 51 (2001), 233–256, hier 245– 251; ALFRED WENDEHORST: 150 Jahre Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 138 (2002), 1–65.
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schen Geschichts- und Altertumsvereine, welcher auch die Blätter für deutsche Landesgeschichte herausgibt33. Nach der Reichsgründung und verstärkt um die Jahrhundertwende kam es zur Herausbildung regional spezialisierter, teils aus den Vereinen und teils staatlich begründeter Historischer Kommissionen beispielsweise für die Provinz Sachsen (1876), das Rheinland (1881, als Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde), Baden (1883), Württemberg (1891), Westfalen (1896), das Königreich Sachsen (1896), Thüringen (1896), Hessen und Waldeck (1897), Nassau (1897) oder Niedersachsen und Bremen (1910)34. Die Kommissionen fungierten quasi als wissenschaftlicher Zweig der Vereine und strebten zumeist an, ein ausführliches Forschungsprogramm umzusetzen. Die Tätigkeit der Kommissionen war und ist dabei ehrenamtlich fundiert; der begrenzte Kreis der fachlich ausgebildeten und tätigen Mitglieder vergrößert sich in der Regel durch Kooptation. Die Kommissionen befassen sich bis heute mit Projekten im Bereich der Grundlagenforschung – etwa der Herausgabe von Quelleneditionen, Lebensbildern oder Atlaswerken –, der Publikation wissenschaftlicher Studien, der Veranstaltung von Tagungen und anderen Dienstleistungen im wissenschaftlichen Bereich. Zeitlich später setzte die Begründung von universitär angebundenen Instituten und Lehrstühlen mit landesgeschichtlichen Denominationen ein35; exemplarisch genannt sei hier aufgrund seines Vorbildcharakters das 1920 begründete Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn36. Auch die universitäre Landesgeschichte besaß bezeichnenderweise eine Öffentlichkeitsorientierung: Der Mitbegründer Hermann Aubin hatte für das Bonner Institut bereits in den ersten Konzepten auch die Schulung geschichtsinteressierter Laien für
33 Umfasst heute über 200 Mitgliedsvereine und landeshistorische Institutionen, vgl. http:// www.gesamtverein.de. 34 Vgl. HEIMPEL: Organisationsformen (wie Anm. 32), 215–218; WALTER HEINEMEYER (Hg.): Hundert Jahre Historische Kommission für Hessen 1897–1997 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 61), Marburg 1997; BERND MÜTTER: Historische Wissenschaft und nationale Pädagogik. Heinrich Finke, Aloys Meister und die Anfänge der Historischen Kommission für Westfalen. In: Westfälische Forschungen 52 (2002), 159–183; DIETMAR VON REEKEN: „… gebildet zur Pflege der landesgeschichtlichen Forschung“. 100 Jahre Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen 1910–2010 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 255), Hannover 2010; SÄCHSISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN (Hg.): Geschichtsforschung in Sachsen. Von der Sächsischen Kommission für Geschichte zur Historischen Kommission bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 1896–1996 (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 14), Stuttgart 1996; WENDEHORST: 150 Jahre (wie Anm. 32), 36–38. 35 Vgl. WENDEHORST: 150 Jahre (wie Anm. 32), 44 f.; WERNER: Landesgeschichtsforschung (wie Anm. 4), 163–165. 36 Vgl. GROTEN, RUTZ: Rheinische Landesgeschichte (wie Anm. 4); WILHELM JANSSEN: Das Institut für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn nach der Ära Steinbach (seit 1961). In: WERNER BUCHHOLZ (Hg.): Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme – Analyse – Perspektiven, Paderborn u. a. 1998, 315–323; EDITH ENNEN: Hermann Aubin und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 34 (1970), 9–42.
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das Rheinland auf die Agenda gesetzt37 – ein Ziel, das ab 1922 mit mehrtägigen thematischen Ferienkursen verfolgt wurde38. Zudem bildete sich eine enge Verflechtung mit dem 1925 gegründeten Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande heraus39. Langfristig wurde die Öffentlichkeitsorientierung in Bonn jedoch unterschiedlich umgesetzt; so wurden die Ferienkurse in den folgenden Jahrzehnten immer wissenschaftlicher, „wenn sie nicht gar den Charakter eines wissenschaftlichen Kolloquiums von Fachleuten annahmen“40. Letztlich zeigte sich, dass die Kooperation mit der Lokal- und Heimatforschung in Abhängigkeit von den Lehrstuhlinhaberinnen und -inhabern in Bonn recht unterschiedliche Ausmaße annahm41; auch allgemein traten Spannungen zwischen außeruniversitärer und universitärer Landesgeschichte durchaus auf42. Landesgeschichtliche Forschung barg dabei in allen deutschen politischen Systemen seit der Reichsgründung ein hohes Potenzial zur politischen Instrumentalisierung, dem sich die Vereine, Kommissionen oder Institute nicht prinzipiell verschlossen. Landeshistoriker waren daher im Sinne einer direkten Politikberatung in die Debatten um die Reichsreform der 1920er Jahre sowie um den Zuschnitt der Bundesländer in den 1950er Jahren involviert43. Etliche waren auch mit dem Nationalsozialismus verflochten, wie im Kontext der Kulturraumforschung exemplarisch Aubin für die „Ostforschung“ oder Franz Petri für die „Westforschung“ zeigen44. Ein zentrales Beispiel für die Nutzbarmachung des 37 Vgl. ENNEN: Hermann Aubin (wie Anm. 36), 30 f. u. 36–42 (Denkschriften Hermann Aubins zur Konzeption des geplanten Instituts 1920). 38 Vgl. ENNEN: Hermann Aubin (wie Anm. 36), 20; JOCHEN HERMEL: Verzeichnis der Ferienkurse. In: GROTEN, RUTZ (Hg.): Rheinische Landesgeschichte (wie Anm. 4), 283–315. 39 Vgl. MARLENE NIKOLAY-PANTER: Der Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Gründung und frühe Jahre. In: GROTEN, RUTZ (Hg.): Rheinische Landesgeschichte (wie Anm. 4), 129–156. 40 JANSSEN: Institut (wie Anm. 36), 319. 41 Vgl. ENNEN: Hermann Aubin (wie Anm. 36), 30 f.; JANSSEN: Institut (wie Anm. 36), 319. 42 Vgl. WENDEHORST: 150 Jahre (wie Anm. 32), 45. 43 DROSS: Erfindung des Rheinlands (wie Anm. 2), 32; REEKEN: 100 Jahre (wie Anm. 34), 63– 69 u. 75–77. Vgl. ausführlich: Die Neugliederung des Bundesgebietes. Gutachten des von der Bundesregierung eingesetzten Sachverständigenausschusses. Hrsg. v. Bundesminister des Innern, Bonn u. a. 1955. 44 Vgl. zu Aubin und der „Ostforschung“: EDUARD MÜHLE: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung (= Schriften des Bundesarchivs 65), Düsseldorf 2005; DERS.: „…einfach dem Instinkte nach vertraut.“ Zum Wissenschaftsverständnis Hermann Aubins und seiner historischen Kulturraumforschung. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 139/140 (2003/2004), 233–266; WERNER: Zwischen politischer Begrenzung (wie Anm. 26), 318–322. Vgl. zu Petri und zur „Westforschung“: BURKHARD DIETZ, HELMUT GABEL, ULRICH TIEDAU (Hg.): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960) (= Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 6), 2 Bde., Münster 2003. Vgl. zur Landesgeschichte im Nationalsozialismus allgemein: WILLI OBERKROME: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101), Göttingen 1993; WINFRIED SPEITKAMP: Landesgeschichte und Geschichtsvereine in der NS-Zeit. In: Blätter
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Kulturraum-Ansatzes für politische Zwecke ist zudem das Ende der 1920er Jahre begründete Forschungsvorhaben „Der Raum Westfalen“, mit welchem der Provinzialverband der preußischen Provinz Westfalen (heute Landschaftsverband Westfalen-Lippe) seine politische Selbstständigkeit erfolgreich untermauerte45. Ungeachtet der hochgradig problematischen Verquickung von Landesgeschichte und Politik griff die Disziplin auch in der BRD wieder auf die öffentlichen Potenziale der Landesgeschichte zurück. 1961 betonte Ludwig Petry aus der Sicht des gerade gegründeten Instituts für geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz abermals die Vorteile, die eine Einbindung von Laien (Volksschullehrer, Schüler, „der in seinem Wein- und Ackerbau erdnahe Landwirt, der mit seinem Wald verwachsene Förster“) in landesgeschichtliche Projekte bringen könne46. Auf diese Weise könne auf dem Feld der Landesgeschichte „lähmendes Trennungsdenken“ zwischen akademischer Geschichtswissenschaft und außeruniversitärer Beschäftigung mit Geschichte überwunden werden, denn dass es hier zwangsläufig eine Kluft geben müsse, sei eine „Fiktion“. Dieser Standpunkt ist aus Sicht der Geschichtswissenschaft der 1960er Jahre sicherlich bemerkenswert; aus Sicht der Landesgeschichte zeigt er noch einmal in aller Deutlichkeit, dass Frieds Plädoyer von 1978 aus einer sehr viel längeren, nicht immer unproblematischen Tradition von Landesgeschichte in der Öffentlichkeit erwuchs. IV. Impulse durch neue Geschichtsbewegung und Regionalgeschichte Mit dem „Geschichtsboom“ der 1980er Jahre bildete sich eine „neue Geschichtsbewegung“47 heraus, die zur Herausforderung für die Geschichtswissenschaft für deutsche Landesgeschichte 141/142 (2005/2006), 1–18; WERNER: Zwischen politischer Begrenzung (wie Anm. 26). 45 Vgl. KARL DITT: Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes 1923–1945 (= Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volksforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 26), Münster 1988, 95–105; DERS.: Wissenschaft als politisches und soziales System. Der Volkstumsansatz in der Westfalenhistoriographie des 20. Jahrhunderts. In: JÜRGEN BÜSCHENFELD, HEIKE FRANZ, FRANK-MICHAEL KUHLEMANN (Hg.): Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen, Bielefeld 2001, 11– 37; ALFRED HARTLIEB VON WALLTHOR: Entstehung, Entwicklung und Inhalt des Werkes „Der Raum Westfalen“. In: Der Raum Westfalen. Bd. VI: Fortschritte der Forschung und Schlußbilanz. Zweiter Teil, Münster 1996, 327–380; BERND WALTER: 75 Jahre Westfälisches Institut für Regionalgeschichte. In: Westfälische Forschungen 54 (2004), 279–289. Zur niedersächsischen Reaktion: DIETMAR VON REEKEN: Wissenschaft, Raum und Volkstum: Historische und gegenwartsbezogene Forschung in und über „Niedersachsen“ 1910–1945. Ein Beitrag zur regionalen Wissenschaftsgeschichte. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 68 (1996), 43–90, hier 69–75. 46 Vgl. hierzu und zum Folgenden LUDWIG PETRY: In Grenzen unbegrenzt. Möglichkeiten und Wege der geschichtlichen Landeskunde. Institut für geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz, Jahresgabe 1960, Mainz 1961. Wiederabdruck in: FRIED (Hg.): Probleme und Methoden (wie Anm. 28), 280–304, hier 292 f. Dort auch die wörtlichen Zitate. 47 „Ein kräftiger Schub für die Vergangenheit“. SPIEGEL-Report über die neue Geschichtsbewegung in der Bundesrepublik. In: DER SPIEGEL Heft 23 (6.6.1983), 36–42.
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wurde. Diese Entwicklung wird auch in dem Band „Landesgeschichte heute“, herausgegeben 1987 von Carl-Hans Hauptmeyer, deutlich48. Entstanden aus einer Tagung des Niedersächsischen Heimatbundes und einer Arbeitsgemeinschaft Regionalgeschichte an der Universität Hannover im Jahr 1986, knüpfte der Band einerseits an die Diskussionen im Fach an und versuchte, die mittlerweile entstandene Spannbreite zwischen traditioneller Landesgeschichte und sozialgeschichtlich orientierter Regionalgeschichte zusammenzubringen49. Andererseits stellt dieser Band auch den Bezug zur (Landes-)Geschichte in der Öffentlichkeit her: Ausdrücklich wird das neue öffentliche Interesse an Geschichte als Anstoß genannt, auch über die Landesgeschichte neu nachzudenken. „Viele Menschen setzen sich neu mit der Geschichte, mit der Heimat oder mit beidem auseinander.“50 Anders als Fried 1978 dachte Hauptmeyer hier nicht mehr ausschließlich an die bereits bestehenden Geschichts- und Heimatvereine, sondern auch an die Geschichtswerkstätten mit ihrem Interesse an der Geschichte kleiner Räume51. Die Ursprünge dieser neuen Geschichtsbewegung liegen in gesellschaftlichen Entwicklungen wie der 68er-Bewegung und den Neuen Sozialen Bewegungen, aber auch in der durch die Kritik an der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung ausgelösten Hinwendung zur Geschichte „von unten“ und zur Alltagsgeschichte52. Geschichtswerkstätten setzten sich bewusst mit (vermeintlich) anderen Themen auseinander als die akademische Geschichtswissenschaft: mit der Geschichte der Verlierer, der Marginalisierten und der Frauen. Sie verwendeten andere Methoden (Oral History) und verstanden die Arbeit an der Geschichte als Beitrag zur politischen Bildung53. Besonders die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung vor Ort wurde zu einem zentralen Tätigkeitsfeld vieler Initiativen54. 48 Vgl. HAUPTMEYER: Landesgeschichte heute (wie Anm. 31). 49 Vgl. HAUPTMEYER: Zur Einführung. In: DERS. (Hg.): Landesgeschichte heute (wie Anm. 31), 5–15. 50 Ebd., 5. 51 Vgl. ebd., 5 f. 52 Als Überblick über die neue Geschichtsbewegung vgl. MAREN BÜTTNER: „Wer das Gestern versteht – kann das Morgen verändern!“ Deutsche Geschichtswerkstätten gestern und heute. In: HORN, SAUER (Hg.): Geschichte und Öffentlichkeit (wie Anm. 10), 112–120; EDDA GROTRIAN: Geschichtswerkstätten und alternative Geschichtspraxis in den 1980er Jahren. In: HARDTWIG, SCHUG (Hg.): History Sells! (wie Anm. 10), 243–253; VOLKER ULLRICH: Wie alles anfing. Die „neue Geschichtsbewegung“ der achtziger Jahre. In: Geschichtswerkstätten gestern – heute – morgen. Bewegung! Stillstand. Aufbruch? Hrsg. v. der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Galerie Morgenland und der Geschichtswerkstatt Eimsbüttel (= Hamburger Zeitspuren 2), Hamburg 2004, 21–29. Aus zeitgenössischer Sicht vgl. WILFRIED BUSEMANN: Geschichtswerkstätten und Geschichtsvereine. Kein Generationskonflikt?! In: Geschichtsvereine (wie Anm. 31), 87–96; HANNES HEER, VOLKER ULLRICH (Hg.): Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung, Reinbek 1985; PETER SCHÖTTLER: Die Geschichtswerkstatt e.V. Zu einem Versuch, basisdemokratische Geschichtsinitiativen und -forschungen zu „vernetzen“. In: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984) 3, 421–424. 53 Vgl. ADELHEID VON SALDERN: Stadtgedächtnis und Geschichtswerkstätten. In: WerkstattGeschichte 50/3 (2008), 54–68, hier 64–66. 54 Vgl. SALDERN: Stadtgedächtnis (wie Anm. 53), 60–63.
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Die Geschichtswerkstätten nutzten zur Kommunikation ihrer Ergebnisse ein breites Repertoire, in dem herkömmliche Formen wie Ausstellungen und Publikationen ebenso Platz fanden wie Puppenspiele, Kneipenlesungen und Ähnliches55. Organisiert über Vereine, waren viele, zumeist jüngere Historikerinnen und Historiker an der praktischen Arbeit der Geschichtswerkstätten beteiligt, die beispielsweise über Werkverträge und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert wurde. Dadurch entstanden auch Berufsperspektiven außerhalb der klassischen Karrieren56. Kommunale Einrichtungen wie Archive, Bibliotheken, Museen und Volkshochschulen wurden nach der Überwindung eventueller Widerstände vor Ort an Geschichtswerkstatt-Projekten beteiligt und schufen einen institutionellen und finanziellen Rahmen57. Der Gegensatz zwischen basisdemokratisch orientierten Laien und professionellen Historikerinnen und Historikern verursachte allerdings auch Spannungen58; teilweise kam es zu einer Entfremdung zwischen der Vereinsbasis und den Beschäftigten59. Schätzungsweise waren Mitte der 1980er Jahre etwa 300 Personen in rund 70 Geschichtswerkstätten aktiv60. Sie verfügten seit 1983 mit Geschichtswerkstatt e.V. über einen Trägerverein, der jährlich ein übergreifendes Geschichtsfest organisierte und die Zeitschrift Geschichtswerkstatt herausgab61. Die Geschichtswerkstätten grenzten sich bewusst von „konservativ-altbackener ‚Heimatgeschichte‘“62 ebenso wie von einer „Gefälligkeitsgeschichte für die kommunale Imagepflege und Tourismuswerbung“63 ab, die sie – auch wenn es nicht immer explizit artikuliert wurde – zumeist mit den bereits existierenden Geschichtsvereinen assoziierten. Die Werkstätten sprachen demzufolge auch ein anderes Publikum als die Vereine an, eines, das oftmals jünger, an der Geschichte des eigenen Wohnorts (und nicht unbedingt des Heimatorts oder der Herkunftsregion) interessiert sowie häufig geschichtswissenschaftlich vorgebildet war (Studierende und Absolventinnen bzw. Absolventen)64. Gerade für die Studierenden und die jungen Historikerinnen und Historiker boten die Geschichtswerkstätten einen Praxisbezug historischer Arbeit, der an der Universität fehlte65.
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Vgl. hierzu und zum Folgenden BUSEMANN: Geschichtswerkstätten (wie Anm. 52), 92 f. Vgl. GROTRIAN: Geschichtswerkstätten (wie Anm. 52), 247. Vgl. SALDERN: Stadtgedächtnis (wie Anm. 53), 56. Vgl. SCHÖTTLER: Geschichtswerkstatt e. V. (wie Anm. 52), 423; ULLRICH: Wie alles anfing (wie Anm. 52), 25; MICHAEL WILDT: Die große Geschichtswerkstattschlacht im Jahr 1992 oder: Wie WerkstattGeschichte entstand. In: WerkstattGeschichte 50/3 (2008), 73–81. Vgl. BUSEMANN: Geschichtswerkstätten (wie Anm. 52), 92. Vgl. SALDERN: Stadtgedächtnis (wie Anm. 53), 55. Vgl. SCHÖTTLER: Geschichtswerkstatt e. V. (wie Anm. 52). Seit 1992 erscheint die Zeitschrift in wissenschaftlicher Form als WerkstattGeschichte, Herausgeber ist der Verein für kritische Geschichtsschreibung (https://www.werkstattgeschichte.de/). SCHÖTTLER: Geschichtswerkstatt e. V. (wie Anm. 52), 422. BUSEMANN: Geschichtswerkstätten (wie Anm. 52), 95. Vgl. BERTRANG: Typologie (wie Anm. 31), 46. Vgl. GISELA WENZEL: „Grabe, wo du stehst“. Zwei Jahrzehnte Berliner Geschichtswerkstatt. In: Geschichtswerkstätten gestern – heute – morgen (wie Anm. 52), 45–58, hier 50.
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Tatsächlich gestaltete sich die Kommunikation zwischen Geschichtsvereinen und -werkstätten alles andere als spannungsfrei. Exemplarisch hierfür wird ein Beitrag von Hugo Stehkämper, dem Vorsitzenden des Gesamtvereins, herangezogen, der noch 1990 auf beiden Seiten keine wirkliche Basis für eine Zusammenarbeit sah66. Trotz der Betonung thematischer Überschneidungen kritisierte Stehkämper die Absicht der Geschichtswerkstätten, demokratische Potenziale zu stärken, als unangebrachte Instrumentalisierung: „Sie [die Geschichtswerkstätten, L.K.] gebrauchen Geschichte – nicht die ganze, sondern passend ausgewählte –, um vor sich selbst eine bestimmte weltanschauliche und/oder politische Überzeugung zu rechtfertigen, sich über deren Legitimation zu vergewissern und so den eigenen Standpunkt zu bestätigen.“67 Demgegenüber stehe, so Stehkämper, bei den Vereinen die Geschichtsarbeit als „Selbstzweck“68. Anders als Hugo Stehkämper und viele bundesdeutsche Historikerinnen und Historiker plädierte Hauptmeyer in dem genannten Band bereits 1987 für eine Öffnung gegenüber dieser Geschichtsbewegung und beklagte: „Zu der konventionellen Zusammenarbeit einiger Landeshistoriker der Museen, Archive und Universitäten mit einigen Heimatforschern ist wenig hinzugekommen. Vor allem Dingen sperrt sich die ‚Historikerzunft‘ gegen eine aktive Heimatgeschichte, wie sie z. T. in den Geschichtswerkstätten vorangetrieben wird.“69 Nicht nur die unterschiedlichen politischen Ziele beider Gruppen, sondern auch ein latent schwelender Generationenkonflikt würden dabei die Kommunikation erschweren, so Hauptmeyer70. Umso mehr galt dies, weil die Protagonisten von ihrem sozialen Hintergrund und ihren Zielen her sehr unterschiedlich ausgerichtet waren71. Aus heutiger Perspektive schwächte sich der Schwung der Geschichtswerkstätten bereits in den frühen 1990er Jahren erheblich ab, wenngleich einige Initiativen bis heute Bestand haben, wie etwa die in den 1980er Jahren sehr einflussreiche (West-)Berliner Geschichtswerkstatt72. Dabei fungieren sie heute oft „als eher linke Variante des herkömmlichen Geschichtsvereins.“73 Der Gegensatz zwischen Laien und ausgebildeten Historikerinnen und Historikern spielte in beiden Kontexten eine wichtige Rolle, ohne zufriedenstellend gelöst zu werden. Hauptmeyer plädierte in diesem Zusammenhang für eine partielle Verwissenschaftlichung der von Laien betriebenen Geschichte, ohne diese zur Wissenschaft werden zu las-
66 Vgl. HUGO STEHKÄMPER: Geschichtsvereine und Geschichtswerkstätten. Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In: Geschichtsvereine (wie Anm. 31), 73–84. 67 Ebd., 81 f. 68 Ebd., 81. 69 HAUPTMEYER: Heimatgeschichte (wie Anm. 31), 85. 70 Vgl. ebd., 85 f. 71 Vgl. ebd., 90 f. 72 Vgl. WENZEL: „Grabe, wo du stehst“ (wie Anm. 65); JENNY WÜSTENBERG: Vom alternativen Laden zum Dienstleistungsbetrieb: the Berliner Geschichtswerkstatt. A Case Study in Activist Memory Politics. In: German Studies Review 32 (2009) 3, 590–618. 73 MICHAEL ZIMMERMANN: Haben Geschichtswerkstätten Zukunft? In: Geschichtswerkstätten gestern – heute – morgen (wie Anm. 52), 79–89, hier 79.
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sen74; eine Perspektive, die innerhalb der neuen Geschichtsbewegung unter Umständen auf Kritik gestoßen wäre75. Der Überhang lokaler und regionaler Themen in der praktischen Arbeit der Geschichtswerkstätten lag dabei in den „bekannten räumlichen und oft personellen Dimensionen“ begründet, die Menschen zur Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Umwelt anregen konnten und sollten76. Region war damit „keineswegs Selbstzweck“77, sondern vor allem ein praktisch geeigneter Untersuchungsrahmen für die Initiativen. Trotz dieses prinzipiellen Gegensatzes zur Landesgeschichte und den geschilderten Kommunikationsschwierigkeiten mit den Geschichtsvereinen blieb die neue Geschichtsbewegung nicht ohne Einfluss auf die Disziplin und auch auf die Public History: In einer Entwicklungslinie mit der neuen Geschichtsbewegung sieht sich heute beispielsweise das 2001 gegründete Institut für angewandte Geschichte e. V. in Frankfurt/Oder, welches sich besonders Themen der deutsch-polnischen Erinnerungskultur widmet78. Verknüpfungen lassen sich auch zwischen Regionalgeschichte und neuer Geschichtsbewegung herstellen: Im Standardwerk der neuen Geschichtsbewegung fand 1985 die Regionalgeschichte mit einem eigenen Beitrag Eingang, der auf der Arbeit des Arbeitskreises für Regionalgeschichte in Konstanz basierte79. Gert Zang schildert hier die Aktivitäten der seit 1979 bestehenden außeruniversitären Gruppe, die thematisch und praktisch im Spektrum der Geschichtswerkstätten lagen, von Zang als universitär gebundenem Historiker aber explizit in den fachlichen Kontext der Regionalgeschichte gesetzt wurden. Damit fiel die neue Geschichtsbewegung mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung zusammen: der „Wiederkehr des Regionalen“80. Denn die 1970er und 1980er Jahre prägten die disziplinäre Entwicklung besonders durch das Aufkommen einer anders akzentuierten Geschichte kleiner 74 Vgl. HAUPTMEYER: Heimatgeschichte (wie Anm. 31), 79. 75 Vgl. GROTRIAN: Geschichtswerkstätten (wie Anm. 52), 247 f. 76 KLAUS PABST: Deutsche Geschichtsvereine vor dem Ersten Weltkrieg. In: Geschichtsvereine (wie Anm. 31), 11–32, hier 12. 77 SCHÖTTLER: Geschichtswerkstatt e. V. (wie Anm. 52), 421. 78 Die (universitär) ausgebildeten Mitglieder des Vereins beziehen bei ihren Projekten in stärkerem Maße Laien mit ein und verfolgen einen zivilgesellschaftlichen Ansatz. Sie verstehen deswegen den Ansatz der „Angewandten Geschichte“ explizit im Unterschied zur kommerzieller orientierten Public History. Ich folge allerdings ZÜNDORF: Public History (wie Anm. 10), und sehe beide Konzepte eher als Facetten einer Idee. Zum Frankfurter Ansatz vgl. NIESSER, TOMANN: Angewandte Geschichte (wie Anm. 10); TOMANN, NIESSER, LITTKE, ACKERMANN, ACKERMANN: Diskussion Angewandte Geschichte (wie Anm. 10). 79 Vgl. GERT ZANG: Reise in die Provinz. In: HEER, ULLRICH (Hg.): Geschichte entdecken (wie Anm. 52), 90–99. Der Arbeitskreis fand auch 1983 in den für die Geschichtsbewegung prägenden Spiegel-Artikel Eingang, vgl. „Ein kräftiger Schub für die Vergangenheit“ (wie Anm. 47), 37. 80 DETLEF BRIESEN: Region, Regionalismus, Regionalgeschichte. Versuch einer Annäherung aus der Perspektive der neueren und Zeitgeschichte. In: GERHARD BRUNN (Hg.): Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde (= Schriftenreihe des Instituts für Europäische Regionalforschungen 1), Baden-Baden 1996, 151–162, hier 160.
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Räume, der Regionalgeschichte, die sich teilweise bewusst von der Landesgeschichte abgrenzen wollte. Ziel der Regionalgeschichte war dabei, die Methoden und Theorien der Sozialgeschichte (vor allem Bielefelder Prägung) auf ein selbstgewähltes, begrenztes Untersuchungsgebiet, nämlich die Region, anzuwenden und dabei an französische Forschungstraditionen der Annales-Schule anzuknüpfen81. Region als Begriff hat damit „keinen spezifischen Inhalt“82 im Sinne der Auseinandersetzung mit einem konkreten Gebiet, sondern Untersuchungsregionen wurden pragmatisch und je nach Fragestellung abgegrenzt83. In der Praxis waren sie aber doch häufig deckungsgleich mit Verwaltungseinheiten unterhalb der nationalen Ebene (zum Beispiel Gemeinden, Kreisen, Regierungsbezirken, Provinzen). Der Bezug zum Untersuchungsgegenstand ‚Region‘ war also ein grundsätzlich anderer als der des Landeshistorikers zu „seinem“ Land (bzw. der Landeshistorikerin zu „ihrem“). Auf diese Weise ermöglichte Regionalgeschichte zunächst die Übertragung von modernisierungstheoretischen Modellen auf konkrete, überschaubare Gebiete sowie – in einem zweiten Schritt – den Rückschluss auf andere Regionen oder auch die Verallgemeinerung von Ergebnissen für die nationale Ebene84. Gemeinsam war Landes- und Regionalgeschichte die Ablehnung einer Hegemonie der Nationalgeschichte. Tatsächlich klangen die hier nur skizzierten Konflikte mit der Zeit ab, so dass Landes- und Regionalgeschichte heute nur noch selten als einander ausschließende Begriffe verstanden werden, ohne andererseits komplett identisch zu sein85. 81 Vgl. zur Genese der Regionalgeschichte BRIESEN: Region (wie Anm. 80); AXEL FLÜGEL: Chancen der Regionalgeschichte. In: EDWIN DILLMANN (Hg.): Regionales Prisma der Vergangenheit. Perspektiven der modernen Regionalgeschichte (19./20. Jahrhundert) (= Saarland Bibliothek 11), St. Ingbert 1996, 25–46; ERNST HINRICHS: Regionale Sozialgeschichte als Methode der modernen Geschichtswissenschaft. In: DERS., WILHELM NORDEN (Hg.): Regionalgeschichte. Probleme und Beispiele (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. Quellen und Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit 6), Hildesheim 1980, 1–20; ERNST HINRICHS: Regionalgeschichte. In: HAUPTMEYER (Hg.): Landesgeschichte heute (wie Anm. 31), 16–34; DERS: Landes- und Regionalgeschichte. In: HANS-JÜRGEN GOERTZ (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs. 3., erweiterte u. revidierte Aufl. Reinbek 2007, 611–627; WOLFGANG KÖLLMANN: Zur Bedeutung der Regionalgeschichte im Rahmen struktur- und sozialgeschichtlicher Konzeptionen. In: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), 43–50; SPEITKAMP: Grenzen (wie Anm. 32). 82 FLÜGEL: Chancen (wie Anm. 81), 26. 83 Vgl. FREITAG: Landesgeschichte (wie Anm. 1), 298 f; HINRICHS: Regionalgeschichte (wie Anm. 81), 22. 84 Vgl. BRIESEN: Region (wie Anm. 80), 156; FREITAG: Landesgeschichte (wie Anm. 1), 291 f. 85 Eine Annäherung der Konzepte registriert z. B. CARL-HANS HAUPTMEYER: Zu Theorien und Anwendungen der Regionalgeschichte. Warum sind Überlegungen zur Theorie der Regionalgeschichte sinnvoll? Auf welche Weise läßt sich Regionalgeschichte anwenden? In: Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde 21 (1997/1998), 121–130, hier 123, während WERNER BUCHHOLZ: Vergleichende Landesgeschichte und Konzepte der Regionalgeschichte von Karl Lamprecht bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1990. In: DERS. (Hg.): Landesgeschichte in Deutschland (wie Anm. 36), 11–60, hier 47–49, sogar für eine Gleichsetzung plädiert. Für WILHELM JANSSEN: Landesgeschichte und regionale Identität. In: Zeitschrift des Vereins für
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Teil der Kontroverse um die Regionalgeschichte waren auch Überlegungen, ob und wie diese öffentlich nutzbar zu machen sei. Zwar wandte sich Wolfgang Schmale noch 1998 explizit gegen eine solche Entwicklung und forderte sogar eine bewusste und stärkere Akademisierung der Regionalgeschichte86; damit blieb er aber eine Ausnahme. Hingegen registrierte die Regionalgeschichte durchaus den „Bedarf an Synthesen innerhalb der Wissenschaft wie für die allgemeine Öffentlichkeit“87, dem beispielsweise durch die von 1983 bis 2001 erarbeitete sechsbändige Geschichte des Kantons Basel-Landschaft begegnet wurde88. Bereits in den 1980er Jahren entstanden also Projekte für eine breitere Öffentlichkeit mit einem dezidiert regionalgeschichtlichen Hintergrund, so etwa ein Oral-HistoryProjekt „Spenger erzählen Geschichte“ über das ostwestfälische Amt Spenge in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, welches sich indirekt aus einem Bielefelder DFG-Projekt zur Protoindustrialisierung im Ravensberger Land entwickelt hatte89. Dieses Projekt nahm durch die Methode und das (von Bürgermeister und Stadtdirektor artikulierte) Ziel, „demokratische Geschichte“90 zu schreiben, gleichzeitig Anregungen der neuen Geschichtsbewegung auf. Tatsächlich fragte sich Ernst Hinrichs bereits 1980 vor dem Hintergrund eines Oldenburger Lehrprojekts, „ob und in welcher Weise die moderne Geschichtswissenschaft [= Sozialgeschichte und Regionalgeschichte als ihre Spielart, L.K.] ihrerseits in der Lage und bereit ist, der Region ihre Dienste anzubieten.“91 Hinrichs verwies in diesem Zusammenhang auf Archive, Geschichtsvereine und andere bereits existierende Strukturen im Bereich der Landes- und Ortsgeschichte, zu denen keine Konkurrenz aufgebaut werden solle, mit denen man aber fruchtbare
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Thüringische Geschichte 55 (2001), 7–14, hier 10, sind dies „weitgehend austauschbare Begriffe“. Gegen eine solche Gleichsetzung spricht sich wiederholt FREITAG: Landesgeschichte (wie Anm. 1), 293 u. DERS.: Regionalgeschichte, Landesgeschichte, Bundeslandgeschichte. Zu den Möglichkeiten sachsen-anhaltischer Landesgeschichtsforschung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Sachsen und Anhalt 24 (2002/2003), 73–82, hier 81, aus. Vgl. WOLFGANG SCHMALE: Historische Komparatistik und Kulturtransfer. Europageschichtliche Perspektiven für die Landesgeschichte. Eine Einführung unter besonderer Berücksichtigung der sächsischen Landesgeschichte (= Herausforderungen 6), Bochum 1998, 92; SPEITKAMP: Grenzen (wie Anm. 32), 253 f. AXEL FLÜGEL: Regionalgeschichte in Europa. Eine Nachlese. In: STEFAN BRAKENSIEK, AXEL FLÜGEL (Hg.): Regionalgeschichte in Europa. Methoden und Erträge der Forschung zum 16. bis 19. Jahrhundert (= Forschungen zur Regionalgeschichte 34), Paderborn 2000, 275–292, hier 290. Nah dran, weit weg. Geschichte des Kantons Basel-Landschaft. 6 Bde. Hg. v. Kanton BaselLandschaft, Liestal 2001 (Onlineportal: https://www.geschichte.bl.ch/). Vgl. MARTIN LEUENBERGER: Was bringt uns eine Kantonsgeschichte? Das Beispiel der Geschichte des Kantons Basel-Landschaft. In: Argovia 115 (2003), 10–16; DOROTHEE RIPPMANN, ALBERT SCHNYDER: Regionalgeschichte und Öffentlichkeit. Das Beispiel der Forschungsstelle Baselbieter Geschichte. In: BRAKENSIEK, FLÜGEL (Hg.): Regionalgeschichte in Europa (wie Anm. 87), 253–274. WERNER FREITAG: Spenge 1900–1950. Lebenswelten in einer ländlich-industriellen Dorfgesellschaft, Bielefeld 1988. Vgl. auch DERS.: Landesgeschichte (wie Anm. 1), 291. FREITAG: Spenge (wie Anm. 89), 7. HINRICHS: Regionale Sozialgeschichte (wie Anm. 81), 15.
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Kooperationen eingehen könne, „wenn sie frei von Lokalborniertheit und wissenschaftlicher Arroganz gehalten werden“92. Langfristig sah Hinrichs den Nutzen der von ihm skizzierten Regionalgeschichte aber besonders im Bereich der Regionalentwicklung und -planung, so dass er inhaltlich eine stärkere Fokussierung auf Phänomene der Proto-Industrie und (De-)Industrialisierung vorschlug93. Hinrichs dachte hier also an eine Regionalgeschichte, die Expertenwissen zur Verfügung stellt. Für eine derartige Verwendung regionalhistorischer Forschungsergebnisse im Bereich der Dorf- und Regionalentwicklung setzte sich seit den 1980er Jahren besonders der bereits erwähnte Carl-Hans Hauptmeyer im Rahmen eines Konzeptes von „Angewandter Regionalgeschichte“ ein94. Konkret geschah dieses beispielsweise mit einem Lehrprojekt über das Dorf Holtensen, an dessen Ende 1982 eine Dorfgeschichte stand95. Diese praxisnähere regionalgeschichtliche Ausbildung mit Lehrprojekten nahm – so zumindest die Ansicht des damals beteiligten Karl Heinz Schneider – einige Forderungen der Bologna-Reformen bereits in den 1980er Jahren vorweg und wird in Hannover von dem Genannten bis heute fortgesetzt96. Zentral für das hannoversche Konzept war zudem die Beteiligung von Historikerinnen und Historikern an dörflichen Planungsprozessen, in denen historisches Fachwissen nutzbar gemacht werden sollte – eine nicht immer unproblematische Aufgabe, da oftmals zwischen unterschiedlichen Interessen vermittelt werden musste97. In ähnlicher Weise wurde in der US-amerikanischen Public History-Debatte das Potenzial historischen Denkens für die Allgemeinheit hervorgehoben, indem man etwa davon ausging, dass eine Auseinandersetzung mit der Geschichte eines Stadtviertels innerhalb der Kommunalverwaltung die Akzeptanz des Erhalts historischer Bausubstanz sowie die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt fördern würde98. Dieses Beispiel aus dem Bereich der Stadtplanung lässt sich parallel zu den oben geschilderten Initiativen einer in die Regionalplanung involvierten Regi92 Ebd., 16. 93 Vgl. ebd., 15–20. 94 Vgl. HAUPTMEYER: Theorien (wie Anm. 85), 126–130; DETLEF SCHMIECHEN-ACKERMANN: Carl-Hans Hauptmeyer und die Kategorie der „Region“ – oder eine aus der Praxis gewonnene Antwort auf die Frage: Was ist und wozu betreiben wir Regionalgeschichte? In: CHRISTIANE SCHRÖDER, HEIKE DÜSELDER, DETLEF SCHMIECHEN-ACKERMANN, THOMAS SCHWARK, MARTIN STÖBER (Hg.): Geschichte, um zu verstehen. Traditionen, Wahrnehmungsmuster, Gestaltungsperspektiven. Carl-Hans Hauptmeyer zum 65. Geburtstag, Bielefeld 2013, 29–42; KARL H. SCHNEIDER: Angewandte Regionalgeschichte oder: Erinnerungen an die Anfänge. In: Ebenda, 43–54. 95 Vgl. SCHNEIDER: Angewandte Regionalgeschichte (wie Anm. 94), 44. 96 Vgl. ebd., 47, sowie die Homepage des Arbeitsbereichs Neuere und Neueste Regionalgeschichte an der Leibniz-Universität Hannover: http://www.hist.uni-hannover.de/regionalge schichte_neu_html.html und die Aktivitäten des Niedersächsischen Instituts für Historische Regionalforschung e.V.: http://regionalforschung-niedersachsen.de/. 97 Vgl. SCHNEIDER: Angewandte Regionalgeschichte (wie Anm. 94), 47–54. 98 Vgl. ROBERT KELLEY: Public History. Its Origins, Nature, and Prospects. In: The Public Historian 1 (1978) 1, 16–28, hier 16–19.
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onalgeschichte verstehen. Letztendlich wurden die deutschen Ansätze aber nicht so tiefgreifend wirksam wie die US-amerikanische Public History99, obwohl aus der „Angewandten Regionalgeschichte“ an der Universität Hannover zumindest ein Weiterbildungsprogramm entstand, welches Nicht-Historikern regionalgeschichtliche Kenntnisse für die praktische Anwendung vermitteln sollte100. Es lässt sich festhalten, dass parallel zur Debatte um die Regionalgeschichte sowie die neue Geschichtsbewegung auch das Feld der Landesgeschichte in der Öffentlichkeit eine Erweiterung erfuhr. Es erhielt eine neue Dynamik, da durch die Geschichtsbewegung neue Akteure, Themen und Methoden Eingang fanden. Es erhielt aber auch eine neue Qualität, denn es ging nicht mehr ausschließlich (wenngleich immer noch vorrangig) darum, Geschichte in verschiedenen Formen öffentlich zu vermitteln, sondern auch um weiterreichende Ziele: In der Geschichtsbewegung sollten politische Ideale vermittelt und die demokratische Teilhabe gestärkt, in der „Angewandten Regionalgeschichte“ die Einbringung historischer Expertise in Planungs- und Entwicklungsprozesse gewährleistet werden. An dieser Stelle sind deutliche Überschneidungen zur Entwicklung der Public History in den USA zu erkennen, ebenso wie bei der konkreten Berufsfeldorientierung beider Bereiche. Landesgeschichte in der Öffentlichkeit erfuhr damit in den 1980er und 1990er Jahren eine neue Wertschätzung, die auch dazu führte, die Berührungsängste der akademischen Akteure abzubauen und Synergieeffekte zu erzeugen101. V. Anschlussfähigkeit der Landesgeschichte seit den 1990er Jahren Einen weiteren Entwicklungsschub erfuhr die Landesgeschichte im Zuge der Wiedervereinigung, wo sie besonders „mit den Integrations- und Identitätsinteressen der Bundesländer an Wertschätzung gewonnen“ hatte102. Auf einer groß angelegten Greifswalder Tagung wurde 1995 der uneinheitliche status quo der Landesgeschichte im wiedervereinigten Deutschland zusammengefasst und die Entwicklung der DDR-Regionalgeschichte aufgearbeitet103. Mit den veränderten Rahmenbedingungen entstanden auch neue Lehrstühle, Kommissionen und Vereine für Landesgeschichte, wobei gerade die Professuren teilweise nur kurzlebig waren und zwischenzeitlich Sparzwängen zum Opfer fielen (Sachsen-Anhalt, Pommern). Abermals wurde nun die Frage akut, ob und in welcher Weise Landeshistorikerinnen und -historiker an der Schaffung einer Landesidentität für das jeweilige Bundesland mitarbeiten konnten oder auch sollten. Der Wunsch nach Förderung eines Landesbewusstseins war (und ist) dabei abhängig von der jeweiligen Landespolitik und auch von den historischen Voraus99 Heute 50 Studienprogramme, in den 1980er Jahren sogar mehr als 100, vgl. ZÜNDORF: Public History (wie Anm. 9), 65 f. 100 Vgl. HAUPTMEYER: Theorien (wie Anm. 85), 127. 101 Vgl. ebd., 126. 102 SPEITKAMP: Grenzen (wie Anm. 32), 234. 103 Vgl. BUCHHOLZ (Hg.): Landesgeschichte in Deutschland (wie Anm. 36).
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setzungen des jeweiligen Bundeslandes. „Bindestrichländer“ wie Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg stehen nach wie vor der Herausforderung gegenüber, heterogene territoriale Traditionen in einer kohärenten Geschichtserzählung zusammenbringen zu müssen, wie sich konkret zuletzt 2012 anlässlich der ‚Landesgeburtstage‘ (65 bzw. 60 Jahre) zeigte. In einem Band wie den „Badenwürttembergischen Erinnerungsorten“ führt diese Situation bereits in der Einleitung dazu, dass die Herausgeber „vorrechnen“, mit wie vielen Beiträgen Baden, Württemberg und Hohenzollern jeweils vertreten sind, und zwar in vorauseilendem Gehorsam für jene, „die landeskundliche Sammelbände zu BadenWürttemberg gerne daraufhin untersuchen, in welchem Proporz die alten Länder […] thematisch berücksichtigt sind“104. Auch bei der Arbeit an einem neuen landesgeschichtlichen Handbuch für Rheinland-Pfalz stellte sich das „Raumproblem“, dem die Herausgeber und Autoren begegneten, indem sie den Raum des Bundeslandes zum Ausgangspunkt machten, ohne die Heterogenität der Teilräume überformen zu wollen105. Langlebige Partikularinteressen lassen sich auch in Nordrhein-Westfalen feststellen, wo eine gemeinsame Identität erst spät mit Schwerpunkt auf der industriellen Entwicklung des Ruhrgebiets herausgebildet werden sollte106. Diese Tendenz setzte sich auch beim 70jährigen Jubiläum des Landes 2016/2017 fort107. Insgesamt erreichte die Geschichtspolitik in NordrheinWestfalen aber „nie die Wucht ihres bayerischen Pendants“108, u. a. weil die Interessen der Landesteile Rheinland und Westfalen (bzw. ihrer Landschaftsverbände) als Korrektiv fungieren. Die Crux scheint an dieser Stelle darin zu bestehen, welchen Ansprüchen von außen man als Landeshistoriker Genüge tun will109. Bundeslandgeschichte muss nicht bedeuten, Landesbewusstsein zu fördern oder gar zu schaffen110. Im Gegenteil hat auch eine „dienstleistende“ Landesgeschichte „nicht die Aufgabe, Identität und 104 REINHOLD WEBER, PETER STEINBACH, HANS-GEORG WEHLING: Baden-württembergische Erinnerungsorte. Einleitung der Herausgeber. In: DIES. (Hg.): Baden-württembergische Erinnerungsorte, Stuttgart 2012, 16–29, hier 29. 105 Vgl. MICHAEL KISSENER: Ein „Handbuch“ für Rheinland-Pfalz – zwischen Landes- und Regionalgeschichte, zwischen Wissenschaft und Identitätsstiftung. In: HIRBODIAN, JÖRG, KLAPP (Hg.): Methoden und Wege (wie Anm. 6), 41–50. 106 Vgl. CHRISTOPH CORNELISSEN: Der lange Weg zur historischen Identität. Geschichtspolitik in Nordrhein-Westfalen seit 1946. In: THOMAS SCHLEMMER, HANS WOLLER (Hg.): Bayern im Bund. Bd. 3: Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 54), München 2004, 411–484. 107 Vgl. z. B. die Internetseite der Landesregierung zum Thema: https://www.land.nrw/de/70. Zu früheren Jubiläen vgl. ULRICH REUSCH: 40 Jahre Nordrhein-Westfalen (1946–1986). Literatur und Kritik zum Landesjubiläum. In: Westfälische Forschungen 38 (1988), 342–357; HORST ROMEYK: 50 Jahre Nordrhein-Westfalen-Landesjubiläum in der Literatur. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 133 (1997), 283–291. 108 CORNELISSEN: Der lange Weg (wie Anm. 106), 482. 109 Vgl. CHRISTOPH NONN: Was ist und zu welchem Zweck betreibt man Landeszeitgeschichte? Zu Problemen und Perspektiven einer Landesgeschichte der Moderne. In: Geschichte im Westen 21 (2006), 155–171, hier 163. Wiederabdruck in: GROTEN, RUTZ (Hg.): Rheinische Landesgeschichte (wie Anm. 4), 233–250. 110 Vgl. NONN: Landeszeitgeschichte (wie Anm. 109), 164–166.
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Heimatliebe zu stiften“111, sondern sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Die Arbeit am kollektiven Gedächtnis einer Region oder eines Bundeslandes wäre somit eine der Mythendekonstruktion112. Für Winfried Speitkamp stiftet aber auch eine kritische Betrachtung wiederum Bewusstsein: „So entsteht erst in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Thüringen das Land Thüringen.“113 Die Landesgeschichte würde an dieser Stelle in dem Dilemma stecken, trotz einer kritischen und distanzierten Betrachtung ihres Gegenstandes Vorstellungen dieses Landes oder dieser Region ungewollt zu festigen und zu verstetigen.114 Trotz solcher selbstkritischen Überlegungen scheint es in der Landesgeschichte indessen keinen wesentlichen Zweifel daran zu geben, dass eine Öffentlichkeitsorientierung der Disziplin grundsätzlich gewünscht wird und auch notwendig ist. So hob Joachim Schneider hervor, dass die Servicefunktion der Landesgeschichte, verstanden „als ein positiver weicher regionaler ‚Standortfaktor‘, […] als neue Aufgabe bejaht [wird], weil auch und gerade öffentlich finanzierte Wissenschaft offenbar ohne instrumentelle politische Argumente nicht mehr auskommt und heute ihre Unverzichtbarkeit auf diese Weise nachweisen muß.“115 Diesen grundsätzlichen Befund bestätigte auch die bereits eingangs erwähnte, 2013 in Tübingen veranstaltete Tagung über „Methoden und Wege der Landesgeschichte“, die zugleich als Beginn einer stärkeren Vernetzung der universitären Landesgeschichte fungierte116. Ganz bewusst wurde darüber nachgedacht, wie sich die Landesgeschichte zwischen „öffentlichkeitswirksamen Projekten, gesellschaftlicher Serviceleistung, landespolitischem Auftrag und wissenschaftlichen Ansprüchen“117 positionieren solle118. Zusammenfassend lässt sich also formulieren, dass sich die Landesgeschichte ihrer öffentlichen Bedeutung seit den 1990er Jahren zunehmend bewusst wurde und diese hinterfragt. Gleichzeitig wird eine öffentlich wirkende Landesgeschichte, also eine Landesgeschichte als Public History, von großen Teilen der universitären Landesgeschichte als wünschenswert angesehen. 111 FREITAG: Regionalgeschichte (wie Anm. 85), 82. 112 WINFRIED SPEITKAMP: Thüringische Landesgeschichte und deutsche Erinnerungskultur. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 59/60 (2005/2006), 363–372, hier 372. 113 SPEITKAMP: Thüringische Landesgeschichte (wie Anm. 112). Mit ähnlicher Intention: „Wer über regionale Identität forscht, schafft unbewusst oftmals erst die Basis für ihr Fortleben.“, SPEITKAMP: Stadt – Land – Fluss? (wie Anm. 3), 140. 114 Vgl. zuletzt WINFRIED SPEITKAMP: Raum und Erinnerungsorte. Das Dilemma der Landesgeschichte. In: HIRBODIAN, JÖRG, KLAPP (Hg.): Methoden und Wege (wie Anm. 6), 81–93. 115 JOACHIM SCHNEIDER: Deutsche Landesgeschichte im Wandel? Programmatik in überregionalen Bestandsaufnahmen seit etwa 1970 und künftige Entwicklungschancen. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 70 (2007), 33–55, hier 51 f. 116 Vgl. HIRBODIAN, JÖRG, KLAPP (Hg.): Methoden und Wege (wie Anm. 6); KURZ, WENDT: Tagungsbericht (wie Anm. 6). 117 KURZ, WENDT: Tagungsbericht (wie Anm. 6). 118 Besonders bei OLIVER AUGE: Studium und Öffentlichkeit: Projektarbeit in der Landesgeschichte. In: HIRBODIAN, JÖRG, KLAPP (Hg.): Methoden und Wege (wie Anm. 6), 51–64; FERDINAND KRAMER: Methoden und Wege der Landesgeschichte. Zusammenfassung und Diskussionsbeitrag. In: Ebenda: Methoden und Wege (wie Anm. 6), 209–217; KISSENER: Handbuch (wie Anm. 105); SPEITKAMP: Raum (wie Anm. 114).
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VI. Landesgeschichte als Public History Daran anknüpfend bleibt abschließend zu überlegen, welche Folgen aus einer als Public History verstandenen Landesgeschichte erwachsen könnten. Dabei lassen sich drei Perspektiven unterscheiden: eine wissenschaftshistorische, eine studienorganisatorisch-praktische sowie eine gesellschaftlich-partizipative Perspektive. Die erste (wissenschaftshistorische) Perspektive knüpft an das wissenschaftliche Programm der Public History an, welches die öffentliche Darstellung von Geschichte in gegenwartsbezogener und historischer Sicht thematisiert. Diese Sicht eignet sich auch die Landesgeschichte an, wenn sie ihre eigene Rolle bei der öffentlichen Darstellung von Geschichte weiter reflektiert und historisiert. Auf diese Weise leistet die Landesgeschichte einen Beitrag zu ihrer eigenen Verortung in der Geschichtswissenschaft und vergewissert sich ihrer selbst als Teildisziplin. Die zweite, praktische Perspektive bezieht sich besonders auf Landesgeschichte im Geschichtsstudium: Studienreformprojekte zur beruflichen Orientierung etablierten seit den 1990er Jahren neben studentischen Praktika besonders Lehrprojekte als ein wichtiges Instrument zur Schaffung von Praxisbezug; oftmals explizit in einem lokalen, regionalen oder landesgeschichtlichen Kontext119. Beide Instrumente bleiben nach der Bologna-Reform höchst relevant und werden in landeshistorischen Kontexten erfolgreich eingesetzt120. Folgerichtig beruft sich die Landesgeschichte darauf, durch ihre Vernetzung und ihren regionalen Bezug in hohem Maße die dringend notwendige berufliche Orientierung von Studierenden fördern zu können121. Das landesgeschichtliche Netzwerk ist umgekehrt besonders 119 Vgl. MICHAELA HÄNKE-PORTSCHELLER: Berufswerkstatt Geschichte. Berufsorientiertes Studium der Geschichte an der Universität Bielefeld. In: Handbuch Hochschullehre, GS C 2.3; DIES.: Berufswerkstatt Geschichte. Lernorte für die Erinnerungskultur, Köln u. a. 2003; THOMAS HILL: Projekte an der Hochschule. Das Beispiel HIP: „Historiker in der Praxis“ (mit einem Erfahrungsbericht von Ole Hagemann). In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57 (2006), 237–246. 120 Vgl. AUGE: Studium und Öffentlichkeit (wie Anm. 118); JÜRGEN BÜSCHENFELD, LENA KRULL: Geschichtsstudium und Praxisbezug – eine unmögliche Verbindung? Kooperationsmöglichkeiten und Perspektiven an den Universitäten Bielefeld und Münster. In: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 85 (2016), 245–251; MARITA KRAUSS: „Public History“ – Geschichtsstudium und Praxisbezug. Ein Erfahrungsbericht. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2006), 498–509. Weiterführend zur Projektlehre: THORSTEN LOGGE, Universitäre Projekte im Fach Geschichte lehren (= Kleine Reihe Hochschuldidaktik), Schwalbach/Ts. 2017; ULRIKE SENGER, YVONNE ROBEL, THORSTEN LOGGE (Hg.): Projektlehre im Geschichtsstudium. Verortungen, Praxisberichte und Perspektiven, Bielefeld 2015; SIMONE LÄSSIG, KARL HEINRICH POHL (Hg.): Projekte im Fach Geschichte. Historisches Forschen und Entdecken in Schule und Hochschule, Schwalbach/Ts. 2007; THOMAS HILL, KARL HEINRICH POHL (Hg.): Projekte in Schule und Hochschule. Das Beispiel Geschichte, Bielefeld 2002. 121 So im Rahmen des Workshops „Landesgeschichte im Masterstudium“ der AG Landesgeschichte (20.02.2015); vgl. den Bericht von LENA KRULL: Kleinräumige Spezialisierung und transnationaler Vergleich – Landesgeschichte im Masterstudium. In: beruf:geschichte. Blog zur Praxis- und Berufsorientierung für Historikerinnen und Historiker (ISSN: 2366-3081), https://beruf.hypotheses.org/171.
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geeignet, um zur Konzeption und Umsetzung von Public History-Projekten noch stärker nutzbar gemacht zu werden als bisher. Landesgeschichte als Public History kann somit einen zentralen Beitrag zur Praxisorientierung geschichtswissenschaftlicher Studiengänge leisten. Drittens eröffnet Landesgeschichte als Public History eine partizipatorische Perspektive: „Dienstleister“ für eine Region zu sein bedeutet, in Kommunikation mit Geschichtsinteressierten auf allen Ebenen zu treten. Die Landesgeschichte steht damit einerseits vor der altbekannten Herausforderung, einem nicht-wissenschaftlichen Publikum wissenschaftliche Ergebnisse verständlich zu vermitteln; zukünftig nicht nur durch Vorträge und Publikationen, sondern auch über digitale Medien wie interaktive Projekthomepages122 und in sozialen Netzwerken, z. B. in „historisch-nostalgischen“ Gruppen123. Andererseits könnte der Austausch verstärkt auch in die andere Richtung funktionieren, nämlich im Sinne einer Citizen Science, die Bürgerinnen und Bürger vor dem Hintergrund digitalen Wandels zunehmend in Forschungsprozesse integriert124. Auch für solche Ansätze gibt es bereits landeshistorische Beispiele125, in Westfalen-Lippe etwa das Crowdsourcing-Projekt „JuWeL“ zur Erfassung der Juden- und Dissidentenregister der Region126. Landesgeschichte und Public History haben somit nicht nur mehr Gemeinsamkeiten, als man denkt; eine auch als Public History verstandene Landesgeschichte bietet die Möglichkeit, einem der grundlegenden Anliegen der Landesgeschichte mehr Gewicht zu verleihen und die Teildisziplin gleichzeitig an aktuelle Entwicklungen der Geschichtswissenschaft anzubinden.
122 Vgl. SINA SPEIT: Public History und historische Grundlagenforschung. Das Projekt „Die Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus“. In: KRISTIN OSWALD, RENÉ SMOLARSKI (Hg.): Bürger Künste Wissenschaft. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften, Gutenberg 2016, 119–137. 123 Ein konkretes Beispiel, die Facebook-Gruppe „Du lebst schon lange in Paderborn, wenn…“, behandelt MAREIKE MENNE: Die neuen Barfußhistoriker? In: Paderborner Historische Mitteilungen 29 (2016), 107–110. 124 Vgl. CORD ARENDES: Historiker als „Mittler zwischen den Welten“? Produktion, Vermittlung und Rezeption historischen Wissens im Zeichen von Citizen Science und Open Science. In: Heidelberger Jahrbücher online 2 (2017), 19–58, DOI: http://dx.doi.org/10.17885/heiup. hdjbo.2017.0.23691; OSWALD, SMOLARSKI (Hg.): Citizen Science (wie Anm. 122). 125 Vgl. KARL H. SCHNEIDER, ANNA QUELL: 30 Jahre Heimatforscherfortbildung in Niedersachsen. Bilanz und Ausblick. In: OSWALD, SMOLARSKI (Hg.): Citizen Science (wie Anm. 122), 103–117. 126 In Kooperation zwischen dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, der Westfälischen Gesellschaft für Genealogie und dem Verein für Computergenealogie: http://juwel.genealogy.net.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 37 (2019), S. 113–135
ERZIEHUNG ZUR MARKTWIRTSCHAFT Schleswig-Holstein als Pionier der deutschen Verbraucherpolitik nach 1945? Kevin Rick ABSTRACT Der vorliegende Beitrag untersucht anhand des Bundeslandes Schleswig-Holstein exemplarisch Kontinuitäten und Wandel der westdeutschen Verbraucherpolitik von 1945 bis in die 1970er Jahre. Dabei steht die Frage nach dem Spezifikum der Konsumpolitik des Bundeslandes in Abgrenzung zur Situation auf Bundesebene sowie dessen Verortung im föderalen Kontext im Vordergrund. Schleswig-Holstein war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Folge der außerordentlich starken Zuwanderung von Flüchtlingen und der einseitig ausgerichteten Wirtschaftsstruktur sowie Kriegsschäden von besonders starken Versorgungsproblemen betroffen. Bereits im ersten Nachkriegsjahr bildeten sich sogenannte „Verbraucherausschüsse“ zur gerechteren Verteilung von Nahrungsmittel- und Güter-Rationen. Aus diesen Ausschüssen entstanden Ansätze dezentraler, pluralistischer, vorwiegend konsumeristischer Selbstorganisationen der Konsumenten. In Abgrenzung zur Bundespolitik sowie anderen Bundesländern wird der Frage nachgegangen, warum diese bottom-up-Ansätze scheiterten und sich im Laufe der 1960er Jahre statt einer Blüte der Verbraucherselbstorganisationen eine Zentralisierung und Nivellierung von Verbraucherpolitik und Verbraucherarbeit auf die Verbraucherzentralen (VZ) sowie die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) vollzogen. Dabei werden insbesondere die Rolle der Frauen, die Entwicklung des föderalen Systems sowie die bisherige Forschung reflektiert, die in der Vergangenheit Ansätze einer westdeutschen bottom-up-Verbraucherpolitik augenscheinlich ignoriert hat. Using the state of Schleswig-Holstein as an example, the article examines continuities and changes in West German consumer policies between 1945 and the 1970s. It focuses on the characteristics of consumer policies on the state as opposed to the federal level, and outlines the state’s position within the federal context. At the end of the Second World War, Schleswig-Holstein experienced an extraordinary inflow of refugees and severe supply problems due to an unbalanced economic structure and severe wartime damages. Within a year after the war had come to an end, so-called consumer associations (Verbraucherausschüsse) were formed to ensure a more equitable distribution of food and other necessary goods. These associations promoted decentralized and pluralistic approaches to consumer self-organization. The article explores why these particular bottom-up-approaches failed and gave way to the centralization and standardization of consumer policies in West Germany during the 1960s, paying special attention to the role of women and the evolution of German federalism.
Verbraucherpolitik und Verbraucherschutz sind bislang verhältnismäßig wenig in den Fokus der historischen Forschung geraten. Die sozioökonomischen Grundlagen dieses zentralen Politikfeldes in der sich entfaltenden Konsumgesellschaft wurden
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in den letzten beiden Jahrzehnten zwar zunehmend intensiver besprochen1. Die Grundlagen für dessen Herausbildung – genau wie die Grundformen der verbraucherpolitischen Praxis, die Kontinuitäten und Brüche von Regierungshandeln und Konsumentscheidungen sowie ganz generell die Frage danach, wer überhaupt verbraucherpolitisch gehandelt hat und was zu welchem Zeitpunkt „Verbraucherpolitik“ eigentlich bedeutete – sind bislang noch kaum behandelt worden. Zu den offenen Fragen auf diesem Gebiet gehört sicher auch die nach dem Beitrag des föderalen Systems Westdeutschlands bzw. der Einteilung in Besatzungszonen nach dem Zweiten Weltkrieg: Können vor dem Hintergrund der je spezifischen nationalen Konsumtionsregimes der Besatzer auch unterschiedliche bundesdeutsche Verbraucherpolitiken nach dem Weltkrieg identifiziert werden? Wie lange setzten sich die zur Zeit der Siegermächte etablierten Praktiken der Konsumregulierung fort, welche Kontinuitäten und Brüche gab es? Fanden politische Transferprozesse bezüglich der ordnungspolitischen Thematisierung des Konsums überhaupt statt? Was bedeutete „Verbraucherpolitik“ nach dem Weltkrieg bis in die 1970er Jahre hinein? Der vorliegende Beitrag will auf diese Fragen hinweisen und für sie sensibilisieren, indem auf Grundlage der archivalischen Überlieferung exemplarisch der verbraucherpolitischen Situation in Schleswig-Holstein nach Kriegsende nachgegangen wird. Die Wahl des Untersuchungsraumes ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die holsteinische Praxis den Verbrauchervertretern auf Bundesebene offenbar als leitendes Vorbild und erfolgreiches Beispiel für funktionierende Verbraucherpolitik galt. In den Verbraucherausschüssen beim Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) und beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (BMELF) stellte man jedenfalls des Öfteren die Kieler Erfahrungen als „besonders“ in den Vordergrund. Im Folgenden wird daher der Frage nach dem Spezifikum dieser Entwicklungen nachgegangen, um auszuloten, ob man tatsächlich berechtigterweise von einer Pionierrolle der Verbraucherpolitik dieses Bundeslandes sprechen kann. 1
Vgl. beispielsweise HARTMUT BERGHOFF (Hg.): Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Christian KLEINSCHMIDT: „Konsumerismus“ versus Marketing. Eine bundesdeutsche Diskussion der 1970er Jahre. In: DERS., FLORIAN TRIEBEL (Hg.): Marketing: Historische Aspekte der Wettbewerbs- und Absatzpolitik (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 13), Essen 2004, 249– 260; CHRISTIAN KLEINSCHMIDT: Konsumgesellschaft, Verbraucherschutz und Soziale Marktwirtschaft. Verbraucherpolitische Aspekte des „Modell Deutschland“ (1947–1975). In: DERS. (Hg.): Verbraucherschutz in internationaler Perspektive/Consumer Protection in International Perspective (= Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2006/1), Berlin 2006, 13–28; GUNNAR TRUMBULL: National Varieties of Consumerism. In: Ebenda, 77–98; DERS.: Consumer Capitalism. Politics, Product Markets, and Firm Strategy in France and Germany (Cornell studies in political economy), Ithaca, N.Y. 2006; MATTHEW HILTON: Consumers and the State since the Second World War. In: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 611/1 (2007), 66–81; NEPOMUK GASTEIGER: Der Konsument. Verbraucherbilder in Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz 1945–1989, Frankfurt a. M. 2010; JAN L. LOGEMANN: Trams or Tailfins? Public and Private Prosperity in Postwar West Germany and the United States, Chicago 2012.
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I. Die ersten Nachkriegsjahre Das heutige Schleswig-Holstein stand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter britischer Besatzung. Der Luftkrieg hatte die ländlichen Gebiete der ehemaligen preußischen Provinz zwar insgesamt verhältnismäßig wenig getroffen. Städte wie Kiel, Lübeck oder Flensburg waren aufgrund kriegswichtiger Anlagen allerdings besonders starken Angriffen und Zerstörungen ausgesetzt gewesen2. Durch die strategisch günstige Lage war das Land zwischen Nord- und Ostsee schon während des Krieges zum Ziel größerer Flüchtlingsströme geworden, die sich allerdings ab 1944 durch das Vorrücken der Roten Armee nach Westen noch erheblich verstärkt hatten. Darüber hinaus suchten deutsche Truppen und politische Funktionäre im Frühjahr 1945 Zuflucht in Schleswig-Holstein – „der ganze Bodensatz des nationalsozialistischen Regimes versuchte, in die noch verbleibende freie Zone auszuweichen“3. Im Vergleich zu den übrigen Weststaaten war dort der Anteil von Flüchtlingen an der Gesamtbevölkerung am höchsten: Während 1939 noch 1,589 Millionen Menschen bei der Volkszählung erfasst wurden, waren es 1950 2,595 Millionen, von denen 1,16 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene waren4. Aufgrund des allgemeinen Zusammenbruchs und der ohnehin problematischen, stark einseitigen Wirtschaftsstruktur des dünn besiedelten Landes war dies, so hat es Peter Wulf formuliert, „eine kaum zu tragende Belastung“5. Nahrungsmittel waren genauso knapp wie Brennstoffe; es fehlte an fast allem, und so beschlossen die Besatzungsmächte kurzerhand, die seit 1939 gängige Praxis der Lebensmittelrationierung weiterzuführen6. Die staatliche Ein- und Zuteilung der meisten Güter – nicht nur der Nahrungsmittel – war allerdings vor allem in den ersten beiden Nachkriegsjahren eine reine Mangelverwaltung, die von der Bevölkerung oft als ungerecht empfunden bzw. deren generelle Sinnhaftigkeit stark von den Verhältnissen vor Ort geprägt wurde7. Gabriele Stüber hat in diesem Zusammenhang über die illegalen Einkäufe einzelner britischer Offiziere berichtet – „bisweilen konnte in kleineren Ortschaften dadurch für Tage zum Beispiel kein Fisch ausgeteilt werden“8. Diebstähle, Veruntreuungen, Ernteausfälle, mangelnde Einfuhren und weitere, unberechenbare Krisenfaktoren kamen erschwerend hinzu9.
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GABRIELE STÜBER: Der Kampf gegen den Hunger 1945–1950. Die Ernährungslage in der britischen Zone Deutschlands, insbesondere in Schleswig-Holstein und Hamburg (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 6), Neumünster 1984, 59–65. PETER WULF: Die Flüchtlinge in Schleswig-Holstein 1945–1955. Belastungen und Chancen. In: ROBERT BOHN, JÜRGEN ELVERT (Hg.): Kriegsende im Norden, Stuttgart 1995, 95–104, hier 95. WULF: Flüchtlinge (wie Anm. 3), 96. Ebenda, 97. STÜBER: Kampf (wie Anm. 2), 93–105. Vgl. ebenda, 70–76, 106 f. Ebenda, 87. Ebenda, 148.
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Mit Blick auf die problematische Versorgungssituation einzelner Verbrauchergruppen – insbesondere der Flüchtlinge – bei Essen, Kleidung und weiterem wichtigen Material traten seit dem Sommer 1946 in zunehmender Zahl und auf eigene Initiative der Bevölkerung sogenannte „Mangelwaren-Ausschüsse“ zusammen, die in den überlieferten Akten öfters auch als „Verteilerausschüsse“, „Kreiswirtschaftsausschüsse“ oder „Verbraucherausschüsse“ bezeichnet wurden. Sie waren in der Regel bei den Kreiswirtschaftsämtern bzw. den Kreisernährungsämtern angesiedelt. Die Aufgabe dieser Gremien beschreibt eine Mitteilung des Commerce Branch Headquarters vom März 1948 wie folgt: The object [...] is when the Landwirtschaftsamt send coupons for the break-down of consumer goods to Kreisämter, a representative council of the Kreis must be able to decide how to break down the allotment to Gemeinden. In most cases the break-down will be on a percentage of the population basis. However, certain sections of the community may consider that a proportion of an allotment of consumer goods should go to a certain very needy section of the community. It is, therefore, desirable that these councils should meet and share in the responsibility of the distribution of consumer goods10.
Allgemein gesprochen hatten solche Verbraucherausschüsse also die Aufgabe, benachteiligte oder besonders hilfsbedürftige Konsumentengruppen zu benennen und die auf dem allgemeinen Verwaltungsweg nur eingeschränkt vorhandene Möglichkeit der Berücksichtigung individueller Bedürfnisse um eine persönlichsubjektive zu erweitern. Sie bestanden auf verschiedenen Ebenen der Landes- und Kommunalverwaltung und hatten keinen einheitlichen Aufbau. Wenn die Rede davon ist, dass bestimmte Teile der community die formale Zuteilung von Gütern durch generelle Verteilungsschlüssel ablehnten und dass eben aus diesem Grund die Arbeit der Verbraucherausschüsse wünschenswert sei, deutet sich damit bereits in dieser Mangelzeit die integrierende politische Rolle des Konsums in der sich entfaltenden Konsumgesellschaft an11. Man betonte wiederholt, dass die Verteilung der Bezugsmarken so gerecht wie möglich vorgenommen werden sollte12. Als anzustrebendes Ziel galt eine möglichst demokratische und durch parlamentarische Überwachungsausschüsse kontrollierte Bewältigung der Versorgungsproblematik13. Gleichzeitig ist freilich Gabriele Stübers Beobachtung zuzustimmen, dass „die Lage der Bevölkerung sich jedoch nicht 10 Schleswig, Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH) Abt. 691, Nr. 14192, Mitteilung des Commerce Branch Headquarters Schleswig-Holstein betr. Consumer Goods Councils at Kreise & Gemeinden Level, 01.03.1948. 11 Vgl. MATTHEW HILTON: Die Globalisierung der Verbraucher. Zur Geschichte des Konsumerismus als sozio-politische Bewegung. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 18 (2005), 18–29. 12 LASH Abt. 691, Nr. 14192, Schreiben des Kreiswirtschaftsamtes der Landkreisverwaltung Rendsburg an die Bürgermeister des Landkreises Rendsburg betr. Verteilung der Bezugsrechte für Ge- und Verbrauchsgüter, hier: Zusammensetzung der Verteilerausschüsse, 12.04.1947; zit. LASH Abt. 691, Nr. 14192, Schreiben des Wirtschaftsamtes der Stadt Neumünster an das Schleswig-Holsteinische Ministerium für Wirtschaft und Verkehr betr. Verbraucherausschüsse, Bezug auf Runderlass Nr. 76/48 WA vom 15.03.1948, 06.04.1948. 13 STÜBER: Kampf (wie Anm. 2), 196.
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[verbesserte], da sich die Gesamtmenge der Lebensmittel nicht vermehrt hatte, sondern nur eine Verschiebung der Rationen von einer Verbrauchergruppe auf eine andere vorgenommen wurde“14. Mit §15 der 1. Durchführungsverordnung zum Bewirtschaftungsnotgesetz vom 18.12.1947 konnten sich die vorher weitgehend inoffiziell arbeitenden Ausschüsse zur Kontrolle der Verteilung von bewirtschafteten Rohstoffen und Waren bei den Verteilungsstellen aller Stufen im „Hungerwinter“ auf eine offizielle Grundlage berufen. Die britische Control Commission for Germany (CCG) hatte im darauf folgenden Frühjahr vom Ministerium für Wirtschaft und Verkehr resümierende Informationen über die Verbraucherausschuss-Arbeit erbeten, die dieses kurz darauf per Runderlass Nr. 76/48 WA von den Kommunal- und Kreisverwaltungen einholte15. Dabei steht die Mitteilung des Wirtschaftsamtes der Stadt Neumünster weitgehend exemplarisch für die Antworten, die als Reaktion auf den Erlass im Ministerium eintrafen: Die wenigen zur Verteilung gelangenden Bezugsmarken und die herrschende große Not unter der Bevölkerung und besonders unter den Flüchtlingen haben das Stadtwirtschaftsamt bereits vor langer Zeit veranlasst, die Verantwortung für die Genehmigung von Bezugsrechten nicht allein zu tragen, sondern die Kontrolle und die Genehmigung der Verteilung der Bezugsrechte den parlamentarischen Überwachungsausschüssen zu übertragen16.
Hinweise auf Verbraucherausschüsse finden sich nach dem Runderlass u. a. in Oldenburg, Plön, Pinneberg, Storman, Lauenburg, Husum, Flensburg, Eutin, Steinburg, Lübeck, Rendsburg, Südtondern, Eiderstedt, Schleswig, Kiel und Süderdithmarschen. Obwohl die Kernaufgabe der Ausschüsse in den Gebieten die gleiche war – in eigener Zuständigkeit über die Verteilung der Ge- und Verbrauchsgüter zu entscheiden – arbeiteten sie in regional unterschiedlichen Zusammensetzungen17. Der Verbraucherausschuss beim Stadtwirtschaftsamt Flensburg bestand zum Beispiel aus neun Mitgliedern, von denen mindestens die Gewerkschaften, das Handwerk, der Handel und die Industrie repräsentiert werden sollten, damit alle Interessen der Verbraucher und Berufsgruppen durch Vertreter wahrgenommen werden konnten18. Hier kamen alle grundsätzlichen Bewirtschaftungs- und Verteilungsangelegenheiten zur Vorlage, während die individuellen Verteilungsbeschlüsse für einzelne Verbraucheranträge von den kommunalen Ausschüssen ge14 Ebenda, 158. 15 LASH Abt. 691, Nr. 14192, Runderlass Nr. 76/48 WA des Schleswig-Holsteinischen Ministeriums für Wirtschaft und Verkehr betr. Verbraucherausschüsse, 15.03.1948. 16 LASH Abt. 691, Nr. 14192, Schreiben des Wirtschaftsamtes der Stadt Neumünster an das Schleswig-Holsteinische Ministerium für Wirtschaft und Verkehr betr. Verbraucherausschüsse, Bezug auf Runderlass Nr. 76/48 WA vom 15.03.1948, 06.04.1948. 17 LASH Abt. 691, Nr. 14192, Schreiben des Kreiswirtschaftsamtes der Landkreisverwaltung des Kreises Süderdithmarschen an das Schleswig-Holsteinische Ministerium für Wirtschaft und Verkehr betr. Verbraucherausschüsse, 20.04.1948. 18 LASH Abt. 691, Nr. 14192, Schreiben der Stadtverwaltung Flensburg (Stadtwirtschaftsamt) an die Landesregierung Schleswig-Holstein, Ministerium für Wirtschaft und Verkehr, betr. Verbraucherausschüsse, Vorg.: Runderlass 76/48 Wa – 5100 – vom 15.03.1948, 22.04.1948.
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troffen wurden19. Bei der Kreisverwaltung Rendsburg setzte sich der Verbraucherausschuss aus Mitgliedern des Kreistages zusammen (u. a. dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses, Vertretern von Flüchtlingen, Handwerk und Bürgermeister). Es gab allerdings mehrfach Beschwerden bestimmter Berufsgruppen, die sich nicht ausreichend repräsentiert fühlten20. Das Kreisernährungs- und Wirtschaftsamt Eckernförde berichtete dagegen von Gemeindewohlfahrtsausschüssen in seinem Bezirk, die mit der Verteilung der bewirtschafteten Rohstoffe und Waren beauftragt waren und sich aus Vertretern von Arbeiterwohlfahrt, Caritasverband, Deutschem Roten Kreuz, Evangelischem Hilfswerk, Repräsentanten der Einheimischen sowie der Flüchtlinge zusammensetzten21. In Neumünster bestanden die Kontrollausschüsse aus Mitgliedern der Parteien und Gewerkschaften, schlossen also die verbraucherorientierten Wohlfahrtsverbände nicht mit ein22. Das heterogene Bild der Strukturen dieser Verbraucherausschüsse erweckt insgesamt den Eindruck, dass ein möglichst breites Spektrum von Konsumentenund Berufsgruppen in den Ausschüssen repräsentiert werden sollte. Die britischen Besatzer unterstützten diese Arbeit auf Kommunal- und Kreisebene; sie machten aber unter anderem zur Bedingung, dass mindestens ein Delegierter der Gewerkschaften in jedem Ausschuss vertreten sein möge23. Hinweise auf transnationale Transferprozesse von Großbritannien nach Deutschland lassen sich daraus aber nur bedingt ableiten; die weitgehend autonome Bildung der Ausschüsse deutet zumindest in der Frühphase nach dem Krieg nicht auf ein gezieltes verbraucherpolitisches Engagement der Briten in diese Richtung hin. In einer Mitteilung des schleswig-holsteinischen Amtes für Wirtschaft in Schleswig an die Preisbehörden der Stadt- und Landkreisverwaltungen wurde um die Jahreswende 1946/47 des Weiteren vorgeschlagen, dass Delegierte von Frauenvereinen und Gewerkschaften als Verbrauchervertreter mit Repräsentanten des Handels und des Gewerbes zusammenarbeiten sollten, um Verstöße gegen Preisvorschriften, Qualitäts- und Quantitätsmangel, Preisauszeichnungsverstöße, Verletzungen der Bestimmungen über das Kopplungsverbot und dergleichen zu be19 Vgl. ebenda: Verteiler-(Verbraucher-)Ausschüsse sind daneben nicht eingesetzt. [...] In kleinen Gemeinden ist nach Ansicht der Kommission die Tätigkeit von Verbraucherausschüssen durchzuführen. 20 LASH Abt. 691, Nr. 14192, Schreiben des Kreiswirtschaftsamtes der Landkreisverwaltung Rendsburg an das Schleswig-Holsteinische Ministerium für Wirtschaft und Verkehr betr. Verbraucherausschüsse – Runderlass Nr. 76/48 WA vom 15.03.1948, 19.03.1948; LASH Abt. 691, Nr. 14192, Schreiben des Kreiswirtschaftsamtes der Landkreisverwaltung Rendsburg an die Bürgermeister des Landkreises Rendsburg betr. Verteilung der Bezugsrechte für Ge- und Verbrauchsgüter, hier: Zusammensetzung der Verteilerausschüsse, 12.04.1947. 21 LASH Abt. 691, Nr. 14192, Schreiben des Kreisernährungs- und Wirtschaftsamtes der Landkreisverwaltung Eckernförde betr. Runderlass Nr. 76/48 WA vom 15.03.1948 – Verbraucherausschüsse, 22.04.1948. 22 LASH Abt. 691, Nr. 14192, Schreiben des Wirtschaftsamtes der Stadt Neumünster an das Schleswig-Holsteinische Ministerium für Wirtschaft und Verkehr betr. Verbraucherausschüsse, Bezug auf Runderlass Nr. 76/48 WA vom 15.03.1948, 06.04.1948. 23 LASH Abt. 691, Nr. 14192, Schreiben des Commerce Branch Headquarters Schleswig-Holstein betr. Consumer Goods Councils at Kreise & Gemeinden Level, 01.03.1948.
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obachten, zur Kenntnis der Behörden zu bringen und diesen Vorschläge zu Gegenmaßnahmen zu unterbreiten24.
Ein solcher Ausschuss entfaltete z. B. in Kiel rege Betriebsamkeit, musste von der Landesregierung aber mehrfach darauf hingewiesen werden, dass er in seiner Tätigkeit […] an Weisungen der Landesregierung gebunden bleibe und seine Aufgabe nicht darin liege, Preise zu bilden, sondern diese zu kontrollieren25. Zwar kann bislang nicht abschließend beurteilt werden, inwiefern Verbraucher- und Preisausschüsse in Schleswig-Holstein personell bzw. strukturell verflochten waren – es fehlen schlichtweg die entsprechenden Quellen. In ihrer gemeinsamen verbraucherorientierten Ausrichtung ist allerdings ein Hinweis auf die aktive Rolle des Konsumenten zu sehen, die nach der schrittweisen Überwindung des Mangels und der Entfaltung der freien Marktwirtschaft noch stärker betont werden sollte26. Dabei war die Einforderung von Verbraucher-Engagement keineswegs auf Schleswig-Holstein beschränkt: Im 1946 gegründeten Land Nordrhein-Westfalen bildeten sich spätestens im zweiten Nachkriegsjahr Verbraucherausschüsse zur demokratischen Kontrolle der Kreiswirtschaftsämter, die diese durch Beobachtung und Beratung in allen Fragen der Versorgung der Bevölkerung mit bewirtschafteten Verbrauchsgütern unterstützen sollten27. Anders als im Norden geschah dies dort allerdings „von oben“ durch einen Runderlass des Wirtschaftsministeriums. In Niedersachsen entwickelte sich die Situation analog, wobei das zuständige Landwirtschaftsamt im Sommer des Jahres sogar standardisierte Statuten bzw. genormte Satzungen für die Arbeit der Ausschüsse auf Kreis-, Stadt- und Gemeindeebene herausgab28. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen konnten die drei britisch besetzten Gebiete Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen im Herbst 1950 an das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Bonn melden, dass bei ihnen schon seit einiger Zeit institutionelle Stellen für Verbraucherangelegenheiten in den Landesverwaltungen geschaffen worden
24 Kiel, Stadtarchiv (StAKi) Nr. 34697, Mitteilung des schleswig-holsteinischen Amtes für Wirtschaft in Schleswig an die Stadt- und Landkreisverwaltungen (Preisbehörden) des Landes betr. Ausschüsse für die Preisüberwachung, [12.1946]. 25 StAKi Nr. 34697, Niederschrift über die zweite Sitzung des Ausschusses für Preisüberwachung am 25.04.1947. Als Mitglieder werden hier aufgezählt: Kommunalvereine, Großhandel, Konsumvereine, Bund Kieler Hausfrauen, Kreishandwerkerschaft, Einzelhandelsverband, Gewerkschaften, Arbeiterwohlfahrt. 26 GASTEIGER: Der Konsument (wie Anm. 1), 66–68. 27 LASH Abt. 691, Nr. 14192, Runderlass Nr. B 57/47 des Wirtschaftsministers des Landes Nordrhein-Westfalen betr. Kreisverbraucherausschüsse, 10.05.1947. 28 Unter den je sieben bis 13 Mitgliedern sollten sich jeweils mindestens ein Vertreter der Gewerkschaften, der freien Wohlfahrtsverbände, des örtlichen Flüchtlingsamtes, der Hausfrauen, der Schwerkriegsbeschädigten sowie der Verfolgten des Naziregimes befinden. Die Mehrzahl der Vertreter musste dem Kreis der Arbeitnehmer angehören. Vgl. LASH Abt. 691, Nr. 14192, Runderlass Nr. 18/47 des niedersächsischen Ministers für Wirtschaft und Verkehr betr. Verbraucherausschüsse, 19.07.1947.
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waren29. Angestoßen durch die Arbeit der Verbraucherausschüsse hatte man den Verbraucherinteressen zwar keinen zentralen, aber zumindest in Ansätzen einen festen institutionellen Platz eingeräumt. Dagegen befand sich ein Verbraucherausschuss im ebenfalls britisch besetzten Hamburg zu dieser Zeit erst in Bildung, wurde kurze Zeit später aber sehr aktiv30. Der ebenfalls mit Verbraucherfragen befasste Ernährungswirtschaftliche Beirat in Württemberg-Hohenzollern war seit dem Ende der Nahrungsmittelrationierung nicht mehr zusammengetreten31. In den anderen Bundesländern waren bis dato überhaupt keine Verbraucherausschüsse, Verbraucherreferate bzw. generell besondere Anlaufpunkte für die Verbraucher bei den Regierungen und Landesverwaltungen geschaffen worden32. Die außerordentlich stark ausgeprägte Flüchtlings- bzw. Versorgungsproblematik in Schleswig-Holstein kurz nach dem Ende des Krieges liegt als Erklärung für diesen Befund nahe. Die fehlende Verbraucher-Infrastruktur in den anderen westdeutschen Gebieten außer Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen weist darüber hinaus auf eine direkte Beziehung zur britischen Besatzungsmacht hin, die diese Gremien dort initiieren ließ bzw. zumindest duldete. Die Konsumpolitik kurz nach dem Krieg war demnach unmittelbar mit der Situation der Verbraucher vor Ort verknüpft, wurde aber offensichtlich auch in Ansätzen von der britischen Regierung beeinflusst. 29 BArch B116/431, Schreiben von Dr. Baath (III B (III A 4c) BMELF) an den Minister für Ernährung, Landwirtschat und Forsten des Landes Nordrhein-Westfalen betr. Lenkung von Produktion und Verbrauch von Nahrungsgütern, Bezug auf Schreiben vom 30.08.1950, 14.10.1950, BArch B116/431, Schreiben von Anneliese Spies (III B 5a, BMELF) an den Niedersächsischen Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, an das Ministerium für Landwirtschaft, Weinbau und Forsten Rheinland-Pfalz, das Badische Ministerium der Landwirtschaft und Ernährung und das Landwirtschaftsministerium des Landes Württemberg-Hohenzollern betr. Verbraucherausschuss, 21.12.1950, BArch B116/431, Schreiben des schleswig-holsteinischen Landesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten an die Verwaltung für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, z.Hd. Frl. Spies, betr. Verbraucherausschuß, 15.02.1950. 30 BArch B116/431, Schreiben von Regierungsrat Krob von der Behörde für Ernährung und Landwirtschaft der Hansestadt Hamburg an den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betr. Verbraucherausschuß, 11.12.1950. 31 BArch B116/431, Schreiben des Landwirtschaftsministeriums des Landes WürttembergHohenzollern an den Herrn Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betr. Verbraucherausschuß, Bezug auf Schreiben III B (III A 4 c) -3467-570/50 vom 06.11.1950, 30.11.1950. 32 BArch B116/431, Schreiben des Hessischen Ministers für Arbeit, Landwirtschaft und Wirtschaft an den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betr. Verbraucherausschuss, 16.11.1950; BArch B116/431, Schreiben des Badischen Ministeriums für Landwirtschaft und Ernährung, Abteilung Landwirtschaft, an das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betr. Verbraucherausschuss, 18.11.1950; BArch B116/431, Schreiben der Abteilung II C – Marktwirtschaft – des Ministeriums für Landwirtschaft, Weinbau und Forsten Rheinland-Pfalz an das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betr. Verbraucherausschuß, Bezug auf Schreiben III B (III A 4 c) -3467570/50 vom 06.11.1950, 15.11.1950; BArch B116/431, Schreiben des Senators für Ernährung und Landwirtschaft der Freien Hansestadt Bremen an den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betr. Verbraucherausschuss, 08.12.1950.
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II. Verbraucherpolitik als Verbraucheraufklärung Die erste Zäsur für die bundesdeutsche Verbraucherpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg stellt das sukzessiv ab der zweiten Jahreshälfte 1948 durchgesetzte Ende der Nahrungsmittelrationierung dar. Hatten bis dahin Verteilungs- und Lenkungsfragen im Vordergrund gestanden, sollten die Verbraucher nun kompetent für die Marktwirtschaft gemacht werden33. Sie sollten die Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage kennenlernen, ihre Ressourcen rationell nutzen und sich ihrer Macht als Marktpartner bewusst werden, aber natürlich auch bislang meist aus Unkenntnis gemiedene Produkte kaufen und damit die heimische Wirtschaft unterstützen: Nach Aufhebung der Rationierung wird eine Beratung und Aufklärung der Hausfrauen auf breiter Grundlage einsetzen müssen, schrieb das schleswigholsteinische Landwirtschaftsministerium im Februar 1950 an das BMELF und zeigte damit gleichzeitig, dass die Begriffe „Hausfrau“ und „Verbraucher“ von vielen weitgehend synonym gebraucht wurden34. Nach Überwindung der Jahre des existenziellen Mangels galt es, eine Versöhnung mit der Marktwirtschaft und dem ihr immanenten Druck zur Entscheidung und individuellen Verantwortung für das eigene Verhalten und das gesellschaftliche, wirtschaftliche sowie politische System herbeizuführen35. Dies bedeutete nicht zuletzt, ein demokratisches, von (Wahl-)Freiheit geprägtes und damit auch klar vom Sozialismus unterscheidbares Verbraucherbewusstsein zu entwickeln. Hierfür brauchte es eine spezifische politische Infrastruktur: Im Gegensatz zu der Planwirtschaft, bei der von einer Stelle aus die Produktion geplant werde und dann der Verbraucher abnehmen müsse, was hiernach produziert worden ist, liege in der sozialen Marktwirtschaft alles Planen beim Verbraucher, der mit seinen Bedürfnissen und Wünschen tausendfältig bestimme, welche Ware gebraucht werde und darum hergestellt werden müsse. In diesem Sinne sei der Verbraucher der Auftraggeber […] der Gesamtwirtschaft. Das sei der Grund, weshalb Bundesminister Prof. Dr. Erhard so großes Gewicht […] darauf lege, der Wirtschaft einen gut unterrichteten und einsichtigen Verbraucher als Partner zu geben36.
33 Vgl. TRUMBULL: Consumer Capitalism (wie Anm. 1), 163. 34 BArch B116/431, Schreiben des schleswig-holsteinischen Landesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten an die Verwaltung für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, z. Hd. Frl. Spies, betr. Verbraucherausschuß, 15.02.1950. Vgl. KATHERINE PENCE: From Rations to Fashions: The Gendered Politics of East and West German Consumption, 1945–1961, Dissertation, University of Michigan, Ann Arbor, MI 1999, 380 f.; ELKE SCHÜLLER, KERSTIN WOLFF, Fini Pfannes (1894–1967): Protagonistin und Paradiesvogel der Nachkriegsfrauenbewegung (= Frauen und Politik in Hessen), Königstein 2000, 138. 35 BArch B102/35996, Besprechungsunterlage zum Thema Verbraucherunterrichtung (II C 4), 21.01.1953: Dem Verbraucher soll […] klargemacht werden, dass die deutsche Wirtschaftspolitik das Ziel hat, ihm zu nützen. Alle Massnahmen, Erwägungen, Gesetze, Verordnungen der Bundesregierung auf dem Gebiete der Wirtschaft gelten diesem Ziele. Der Verbraucher soll seiner Stellung im Wirtschaftsleben bewusst werden und danach handeln. 36 BArch B102/35976, Protokoll über die Sitzung der Vertreter der Wirtschaftsminister (Senatoren) der Länder über Verbraucherfragen vom 04.07.1956 im BMWi, 11.07.1956, 1.
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Kurze Zeit nach dem oben zitierten Schreiben aus Kiel erreichte das BMELF von dort die Meldung, dass neuerdings in jedem Ministerium ein besonderes Referat für Frauenangelegenheiten eingerichtet und diesem Referat [d. h. dem Frauenreferat im Ernährungsministerium; KR] die Geschäftsführung der Verbraucherausschüsse unseres Landes eingegliedert worden sei37. Die zentrale Steuerung der Verbraucherausschüsse versetzte die Kieler Landesregierung in die Lage, zum Zweck der Verbraucherlenkung und -aufklärung auf bereits bestehende und sich weitgehend als funktional erweisende Strukturen zurückzugreifen. Deren Arbeit habe sich schließlich, so die Protokolle des Verbraucherausschusses im BMELF, in der Aufklärung günstig ausgewirkt38 und sich zu einer tatsächlichen Vorarbeit mit Erfolgsberichten39 entwickelt. Der Tätigkeitsbericht des Allgemeinen Frauenreferates der schleswig-holsteinischen Landesregierung für 1950 vermerkte zur Arbeit der Verbrauchergremien ebenfalls ihre besondere Vorbildfunktion für die anderen Bundesländer und wies damit gleichzeitig auf die potenzielle Instrumentalisierbarkeit für die eigene Politik hin: Allein in diesem Jahr habe man in 20 Kreisen die leitenden Frauen der bestehenden großen Frauenorganisationen in Ausschüssen zusammengefasst und sich damit die einzigartige Möglichkeit geschaffen, wirtschaftspolitische Maßnahmen schnell und mit Erfolg an den Verbraucher und speziell an die Frauen heranzubringen40. Die Bundesregierung unterhielt unterdessen zu Beginn der 1950er Jahre sowohl beim BMWi als auch beim BMELF einen Verbraucherausschuss, in dem auch Delegierte der Länder zu Wort kamen. Ihre Aufgabe war eine doppelte: Einerseits sollten die versammelten Verbrauchervertreter aus den Reihen der Konsumgenossenschaften, Hausfrauenverbände, Vertriebenen, Flüchtlinge und der konfessionellen Gruppen die Probleme und Stimmungen der Konsumenten in die Ministerien tragen41. Andererseits sollten die vertretenen Organisationen Überlegungen und Ansichten des Ministeriums an breite Verbraucherkreise weitergeben, also mittels Verbandspublikationen, Versammlungen und Vortragstätigkeit als Multiplikatoren für die staatliche Konsumpolitik fungieren42. Diese Mittlerfunktion der verbraucherorientierten Verbände wurde in den Ministerien insbesondere vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der staatlichen Pro37 BArch B116/431, Schreiben der Abteilung III des Landesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Schleswig-Holstein an den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, betr. Verbraucherausschuss, 06.12.1950. 38 BArch B116/432, Kurzniederschrift über die Sitzung des Verbraucherausschusses beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten am 28.02.1951, 03.03.1951, 4. 39 BArch B116/432, Schreiben des Allgemeinen Frauenreferates des Landesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Schleswig-Holsteins an Anneliese Spies (BMELF) betr. Verbraucherausschüsse im Landes Schleswig-Holstein, 16.01.1951: Gleichzeitig kann mitgeteilt werden, daß die Arbeit in den Kreisverbraucherausschüssen sich allerbestens bewährt. 40 BArch B116/432, Tätigkeitsbericht des Referats III/513 bzw. 534a und des Allgemeinen Frauenreferats III/190 beim Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten SchleswigHolsteins für 1950, 12.01.1951, 1. 41 BArch B102/35976, Protokoll über die Sitzung der Vertreter der Wirtschaftsminister (Senatoren) der Länder über Verbraucherfragen vom 04.07.1956 im BMWi, 11.07.1956, 3. 42 Ebenda, 4.
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paganda im Nationalsozialismus betont: Eine Erziehung erwachsener Menschen, formulierte ein Vermerk aus dem BMWi von 1953, hinterlasse beim Volk schließlich stets einen fatalen Beigeschmack43. Trotzdem war man sich auch hier darüber im Klaren, dass die Unterrichtung der Verbraucher eine notwendige Aufgabe von ganz wesentlich psychologischer Natur sei und neben dem bloßen Verteilen von Informationen durch immer wiederholte persönliche Einwirkung auf alle Personen und Stellen erreicht werden [müsse], die dem Verbraucher nahestehen. Allerdings war die Regierung nicht bloß auf die Kooperation mit nichtstaatlichen Stellen angewiesen, um etwaige Manipulationsvorwürfe zu vermeiden44. Die für Verbraucheraufklärung verfügbaren Bundesmittel waren bis in die 1960er Jahre hinein ohnehin zu gering, um an eine ausschließlich staatliche Initiative denken zu können45. Andererseits erschien eine institutionalisierte politische
43 BArch B102/35996, Mitteilung von Hösel (II C 4) an Kattenstroth (Leiter der Abt. II, BMWi), 25.02.1953, 2. Vgl. GASTEIGER: Der Konsument (wie Anm. 1), 60–62. 44 BArch B116/24254, Vermerk von Rogge (III B 1, BMELF) an den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten betr. Verbraucheraufklärung über Fernsehen, 04.02.1965. 45 BArch B102/168507, Schreiben von Dr. Britsch (Leiter der Abteilung II, BMWi) an Herrn Staatssekretär Dr. von Dohnanyi betr. IMA, Bezug auf Vorlage vom 10.05.1968, 31.05.1968, 3: Die Mittel des BMWi sind an sich zu beschränkt, um eine echte Breitenwirkung zu erzielen. Vgl. BArch B102/168669, Schreiben des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Schwarz, an die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, betr. Memorandum zur Verbraucherpolitik in der Marktwirtschaft vom 21.03.1961, Durchschrift für die Abteilung II B 4 des Bundeswirtschaftsministerium, 26.06.1961. Hier werden für 1957 und 1958 je 625 000 DM, 1959 und 1960 je 875 000 DM für diesen Titel im BMELF angegeben. Dagegen standen im BMWi 1956/57 nur 31 500 DM zur Unterrichtung der breiten Öffentlichkeit, insbesondere der Verbraucher, über allgemeine Marktfragen zur Verfügung. 1957/58 wurde der Titel immerhin auf 141 000 DM erhöht. Siehe BArch B102/35996, Schreiben von Dr. Leitreiter (II C 4, BMWi) an Dr. Bethke, Institut für Agrarpolitik und Ernährungswirtschaft Stuttgart-Hohenheim, betr. Verbraucheraufklärung mit Bezug auf Schreiben vom 26.06.1957, 04.07.1957. In der Anlage 2 zur Bundestag-Drucksache Nr. 850 vom 16.02.1959 werden für 1953 1,2 Millionen DM, 1954 1,1 Millionen DM und 1955 1,5 Millionen DM für die Verbraucheraufklärung des Bundes genannt. Die verhältnismäßig hohen Mittel für Verbraucheraufklärung beim BMELF führten teilweise zu Streit zwischen den Häusern. Vgl. BArch B116/24240, Vermerk von Dr. Richnow (VI B 1, BMELF) für Herrn Staatssekretär betr. IMA, hier: Bildung einer Arbeitsgruppe zur Koordinierung der Verbraucherarbeit der Bundesregierung, 21.06.1967: Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß die sogenannte Koordinierung und Erarbeitung von entsprechenden Richtlinien im Endergebnis darauf hinausläuft, die Verteilung der Haushaltsmittel für Verbraucheraufklärung auf die einzelnen Ressorts ins Gespräch zu bringen. Das liegt nahe, weil nur das BML über beachtliche Haushaltsmittel (2,8 Millionen DM) für diesen Zweck verfügt, während BMWi seit Jahren lediglich etwa 0,9 Millionen DM für die Verbraucherzentralen und hauswirtschaftlichen Beratungsstellen bereitstellen kann und das BMGes ebenso wenig wie die übrigen Ressorts Mittel für Verbraucheraufklärung in Ansatz gebracht hat. Es ist auch nicht damit zu rechnen, daß BMF bei der derzeitigen Haushaltslage den anderen Ressorts zusätzliche oder neue Mittel für diese Zwecke bewilligt. Es besteht deshalb die Gefahr, daß über den angegebenen Weg versucht wird, eine Neuverteilung der insgesamt vorhandenen Mittel für Verbraucheraufklärung zu Lasten des BML vorzunehmen.
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Partizipation der Konsumenten mit Blick auf die demokratischen Grundprinzipien der Konsumgesellschaft von integraler Bedeutung46. Vor diesem Hintergrund galt die schleswig-holsteinische Beteiligung von Verbrauchervertretern in den Ausschüssen als herausragendes Beispiel für funktionierende Verbraucherpolitik in der jungen Bundesrepublik. Nachdem die Ausschüsse in Schleswig-Holstein anfangs ausschließlich mit Verteilungs- und existenziellen Versorgungsfragen befasst waren, weiteten sie ihre Tätigkeit nach und nach auf die Beratung und Aufklärung der Konsumenten aus. Konkret setzten sie sich etwa für das Zusammenbringen der Wirtschaftspartner ein, indem Erzeuger, Händler und Konsumenten zum Beispiel gemeinsam neue, bislang eher gemiedene Kartoffelsorten testeten oder bestimmte Meinungsverschiedenheiten zwischen den Wirtschaftsstufen schneller und reibungsloser in gemeinsamen Gesprächsrunden aus dem Weg geräumt wurden47. Die Landtagsabgeordnete Emmy Lüthje aus Kiel, die u. a. den Deutschen Hausfrauenbund im Verbraucherausschuss des BMWi vertrat, berichtete 1951 bei einer Sitzung der Arbeitsgemeinschaft Hauswirtschaft im Wirtschaftsministerium von erheblichen Erfolgen auf dem Gebiet der Preisregulierung durch ein überlegtes und organisiertes Auftreten der Verbraucher48. Als Ergebnis der anschließenden Aussprache wurde dementsprechend festgehalten, dass der Verbraucher nur dann seine Stimme zur Geltung bringen [könne], wenn örtliche Ausschüsse der Verbraucherschaft ins Leben gerufen würden. Es sei zweckmäßig, auf der Landesebene, der Kreisebene und auf der Ebene der Gemeinde derartige Ausschüsse zu bilden.
Solchen konkreten Anregungen zur dezentralen, konsumeristischen Aktion war allerdings kaum Erfolg beschieden; es finden sich keine Hinweise auf die Gründung von Verbraucherausschüssen in den übrigen Bundesländern aufgrund des schleswig-holsteinischen Beispiels. Die Länder verfolgten stattdessen weiterhin ihre eigenen verbraucherpolitischen Linien, ohne auf die Erfahrungen im Norden zurückzugreifen. Grundsätzliche Beschlüsse wie der oben zitierte fielen nicht auf fruchtbaren Boden. Zwar fasste man z. B. im gleichen Jahr im Verbraucherausschuss des BMELF einen Beschluss, in jeder Sitzung eine Liste der Lebensmittel bekanntzugeben, an deren höherem oder niedrigerem Verbrauch Interesse bestehe, sei es aus Gründen einer zweckmäßigeren Volksernährung oder anderen im Interesse der Volkswirtschaft liegenden Gegebenheiten49.
46 Vgl. GASTEIGER: Der Konsument (wie Anm. 1), 59. 47 BArch B116/5160, Niederschrift über die 12. Sitzung des Verbraucherausschusses am 14. Januar 1954 in Bonn, 12.02.1954, 6; BArch B116/3166, Niederschrift von Rogge (III B 5, BMELF) über die 10. Sitzung des Verbraucher-Ausschusses am 19. Februar 1953 in Bonn, 10.03.1953 (zitiert). 48 BArch B102/168705, Protokoll über die Sitzung der Arbeitsgemeinschaft Hauswirtschaft am 02.02.1951 im BMWi, 02.02.1951, 10. 49 BArch B116/432, Kurzniederschrift über die Sitzung des Verbraucherausschusses bei Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten am 28.02.1951, 03.03.1951, 4 f. Bei dieser Aufgabe müsse man, so Ministerialrat Rosenbrock, mit psychologischem Geschick und äußerster Vorsicht verfahren. Andere wiesen darauf hin, dass es Sache der Organisatio-
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Dies erinnerte im Prinzip an die Tätigkeit der schleswig-holsteinischen Ausschüsse, hatte aber auf Bundesebene einen dezidiert erzeugerorientierten Hintergrund im Sinne der Verbrauchslenkung zugunsten der Landwirtschaft. In Kiel unterhielt der Kreisverbraucherausschuss mit finanzieller Unterstützung der Stadt indes eine Frauenberatungsstelle, die u. a. Kochkurse, Vorführungen von Haushaltsgeräten und Vorträge veranstaltete und intensiv Verbraucheraufklärung betrieb50. Er bildete damit so etwas wie den Idealtypus des schleswigholsteinischen Verbraucherausschusses und bot in diesem Sinne – zumindest dem äußeren Anschein nach – eine von direkter staatlicher Beeinflussung unabhängige Plattform zur Kommunikation und Kooperation im Interesse der Konsumenten. Verbraucherpolitik stellte sich aus dieser Perspektive als eine im Grunde marktkonforme bzw. marktkomplementäre Wettbewerbspolitik dar und entsprach voll und ganz der politischen Linie der Sozialen Marktwirtschaft51. Offiziell lieferten staatliche Stellen dabei nur den Rahmen und gaben Hilfestellungen, während prinzipiell Abstand von direkter Intervention und Lenkung genommen wurde. III. Die Denkschrift des Kieler „Verbandes für Verbraucher- und Familienberatung e. V.“ 1956 Seit der Währungsreform 1948 und insbesondere in Folge des Korea-Booms 1950/51 erlebte die junge Bundesrepublik das viel beschworene „Wirtschaftswunder“; die Gesellschaft erreichte im Wiederaufbau der 1950er Jahre ein bis dato „neues Wohlstandsniveau“, was manche Historiker trotz der weiterhin bestehenden sozialen Unterschiede sogar von einer „Wohlstandsexplosion“ hat sprechen lassen52. Als deutlicher Ausdruck des steigenden Wohlstands sank in den 1950er Jahren der durchschnittliche Anteil der Haushaltsausgaben für Nahrungs- und Genussmittel sehr rasch, während die anteiligen Ausgaben für Körper- und Gesundheitspflege, Bildung/Unterhaltung sowie Verkehr und Nachrichtenübermittlung
nen sei, in werbe-psychologisch geschickter Form den Verbraucher an seinen eigenen Interessen zu packen. ( 4). Vgl. z. B. die Aufzählung verschiedener Erntezeiten bei Gemüsen und folgenden Kommentar in BArch B116/432, Vermerk von Klinkmann (III B 12, BMELF) an Anneliese Spieß (III B 5c, BMELF) betr. Verbrauchslenkung, 24.04.1951: Es wäre sehr erwünscht, wenn die Hausfrauen mit dem Gemüseverzehr auf diese Erntezeiten Rücksicht nehmen. Sie würden dann auch preislich günstiger kaufen. 50 StAKi, Nr. 52337, Vermerk betr. Kreisverbraucherausschuß, 10.07.1956. 51 Vgl. STEFAN MITROPOULOS: Verbraucherpolitik in der Marktwirtschaft. Konzeptionen und internationale Erfahrungen (= Veröffentlichungen des Forschungsinstituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz 55), Berlin 1997, 17–29, GASTEIGER: Der Konsument (wie Anm. 1), 64 f. 52 AXEL SCHILDT: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90 (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte 80), Oldenburg 2007, 22 f., WERNER PLUMPE: Alltag bei Kriegsende: Überlebensstrategien der Bevölkerung und Wirtschaft im Übergang 1945/56. In: JAN-PETER BARBIAN, LUDGER HEID (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen. Kriegsende und Wiederaufbau im Ruhrgebiet, Essen 1995, 158–171.
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stetig stiegen53. Die Haushalte – der zentrale Bereich der Verbraucherpolitik der 1950er Jahre – entwickelten sich in dieser Zeit aufgrund der Verbilligung vormaliger Luxusgüter wie Kühlschränken oder Waschmaschinen sowie steigender Einkommen zu wahren „Maschinenparks“54. Eine Denkschrift des Kieler „Verbandes für Verbraucher- und Familienberatung e.V.“ (VVF) thematisierte dies 1956 als ein zentrales Problem konsumpolitischen Arbeitens: Der Einbruch der Wissenschaft und Technik in die bisher von Brauch und Herkommen bestimmte Hauswirtschaft hat bewirkt, daß hauswirtschaftliche Kenntnisse und Fertigkeiten nur noch in sehr beschränktem Umfange im Haushalt selbst erworben werden können. Wissenschaft und Technik schreiten auch in der Hauswirtschaft so schnell voran, daß die Töchter es nicht mehr so machen können, wie es die Mutter sie gelehrt hat. […] Der Haushalt selbst ist zu einem Betrieb geworden, in dem mit Hilfe zahlreicher, nicht ungefährlicher Maschinen und Geräte in möglichst kurzer Zeit die Lebensbedürfnisse befriedigt werden sollen55.
Die industrielle Massenproduktion habe darüber hinaus das Angebot für die Käufer nahezu unüberschaubar gemacht, Zeit sei ohnehin eine zunehmend knapper werdende Ressource der Hausfrauen, und deren Arbeitsbelastung durch Rationalisierung der Hauswirtschaft zu verringern, ist eine Notwendigkeit, postulierte die Denkschrift. Zu einem funktionalen Beratungswesen für Verbraucher gehöre allerdings auch ihre Sensibilisierung dafür, dass der Haushalt der wichtigste Teil der Marktwirtschaft ist, ohne den sie ihren letzten Sinn verlöre. Die Beratung und Aufklärung dürfe sich demnach nicht nur auf Koch- und Nähkurse beschränken, wie dies in den vorangegangenen Jahren der Fall gewesen sei, sondern müsse sich vor allem auf die Verbraucher als Träger der Hauswirtschaft in ihrer Beziehung zum Markt entfalten, dürfe nicht nur sozusagen innerbetriebliche, sondern auch und gerade außenwirtschaftliche Beratung sein. Der Verband nannte als wichtigste Gegenstände einer solchen Beratung Ernährungslehre, Waren- und Gerätekunde, Arbeitsmethodenlehre mit praktischen Kursen, Gesundheitslehre, Einrichtungskunde, Waren- und Geräteprüfung, Marktbeobachtung und Marktkritik, Einkaufsberatung sowie allgemeine Aufklärung. Der Erfolg einer in diesem Sinne ausgerichteten verbraucherpolitischen Praxis hänge, so die Denkschrift, entscheidend davon ab, wer ihr Träger ist56. Dies sollte explizit nicht der Staat oder eine seiner Behörden sein, auch keine zentral geleitete Organisation mit spezieller Interessenrichtung, sondern eine private Vereinigung der zu Beratenden selber. Schließlich habe die wachsende Kritik der Öffentlichkeit an der nach Ansicht des Verbands äußerst tendenziösen Verbrau53 SCHILDT: Sozialgeschichte (wie Anm. 52), 24. 54 Vgl. KLEINSCHMIDT: Konsumgesellschaft (wie Anm. 1), 131–144. 55 Hier und im Folgenden siehe: StAKi Nr. 52337, Denkschrift „Über den Aufbau eines hauswirtschaftlichen Beratungswesens in Schleswig-Holstein“, Anlage zu einem Schreiben des Verbandes für Verbraucher- und Familienberatung e. V. an den Bürgermeister der Stadt Kiel, 22.06.1956, 1. 56 Ebenda, 3: Nur eine private, nach allen Seiten unabhängige Vereinigung von Einzelpersonen und Organisationen aller Interesseneinrichtungen, die nicht ihre Macht in die Waagschale werfen, sondern ihre Sachkunde zur Verfügung stellen wollen, kann eine umfassende und objektive Beratung gewährleisten.
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cherberatung von Bundes- und Landesregierung bereits zur Selbstauflösung von sogenannten Verbraucherausschüssen, die reine Lenkungsorgane sind, geführt. Auch die formale Übertragung auf die bzw. Zentralisierung der Ernährungs- und Haushaltsberatung bei der größtenteils durch Bundesmittel finanzierten Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) in Frankfurt am Main sei bloß die alte Lenkungsabsicht in leichter Verbrämung. Mehrfach betont der Text, dass auch die Behörden bislang kein Hehl daraus [machen], daß sie das hauswirtschaftliche Beratungswesen nicht anders auffassen können als eine Lenkungsaufgabe im Sinne bestimmter Erzeugerinteressen. Für den Verband stehe ein derartiges Engagement der Bundes- und Landesregierung gegen jede Möglichkeit, aus dem spontanen Handeln der Bevölkerung Formen lebendiger Demokratie zu entwickeln und Kreise, die sonst abseits stehen, für eine öffentliche Wirksamkeit zu gewinnen; Verbraucherberatung müsse von unten nach oben, nicht umgekehrt aufgebaut werden und dabei die bunte Fülle der landschaftlichen und örtlichen Lebens-, insbesondere Verbrauchsgewohnheiten berücksichtigen. Der VVF war im Oktober 1955 in Kiel gegründet worden. Er vereinte als Dachverband 18 verbraucherorientierte Organisationen und eine unbekannte Anzahl von Einzelpersonen57. In seiner Geschäftsstelle beim Kieler Gesundheitsamt unterhielt er u. a. eine hauswirtschaftliche Beratungsstelle mit Lehrküche und veranstaltete regelmäßig Vorträge und Ausflüge. Die Mitglieder engagierten sich laut Selbstdarstellung bei der Landwirtschaftskammer und kooperierten mit Vereinigungen des Groß- und Einzelhandels in ganz Schleswig-Holstein. Damit stelle der Verband, so die zitierte Denkschrift, die einzige von gewerblichen Einzelinteressen völlig unabhängige Verbrauchervereinigung im Landesgebiet dar. Finanziert wurde die Institution vor allem durch Zuschüsse der Stadt Kiel sowie Mitgliedsbeiträge, während die Kieler Stadtwerke und einige lokale Firmen für die Ausstattung der Räume mit Einrichtungsgegenständen und Haushaltsmaschinen sorgten. Außer der Denkschrift von 1956 und den Gründungsstatuten konnten bislang keine weiteren Unterlagen zur Verbandsgeschichte gefunden werden. Allein aus den bis dato gewonnenen Informationen erschließen sich allerdings die spärlichen Hinweise aus den Akten des BMELF, dass man Mitte der 1950er Jahre eine negative Entwicklung der Verbraucherausschüsse in Schleswig-Holstein mit deutlichem Bedauern zur Kenntnis nehme: Die Ausschüsse verloren zunehmend an
57 StAKi Nr. 52337, Satzung des Verbandes für Verbraucher- und Familienberatung e. V. in Kiel, 24.10.1955. Der Verband bestand 1956 aus folgenden Mitgliedern: 1. Verband Deutsche Frauenkultur, 2. Bund Kieler Hausfrauen, 3. Caritasverband, 4. Kath. Frauen- und Müttergemeinschaft, 5. W.O.M.A.N., Arbeitsgruppe Kiel, 6. SPD Frauengruppe, 7. FDP Frauengruppe, 8. CDU Frauengruppe, 9. Frauenbildungsverein, 10. BHE Frauengruppe, 11. Deutscher Frauenring, 12. Schleswig-Holstein-Block, 13. Einzelhandelsverband, 14. Reichsbund der Kriegs- und Zivilgeschädigten, 15. Landsmannschaft der Pommern, 16. Deutscher Beamtenbund, Kreisausschuß Kiel, 17. Landsmannschaft der Oberschlesier, 18. Deutsche Frau.
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Bedeutung58. Aus den Reihen der Verbraucher wehrte man sich – wie bereits früher in den Ministerien befürchtet worden war – gegen die scheinbaren Manipulations- und Lenkungsbestrebungen im Interesse der Erzeuger. Gefordert wurde nun auch auf Bundesebene eine objektive Aufklärung, im Interesse der souveränen Konsumenten und als Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft59. Die Verbraucher verloren ihr Interesse an Kompromissen und Veranstaltungen zum Wohle der Erzeuger, die nun zunehmend als eigentliche Profiteure der Ausschussarbeit ausgemacht wurden. Insofern steht die Denkschrift des VVF exemplarisch für die Kritik an einer zu einseitigen staatlichen Verbraucherpolitik. IV. Misstrauen gegenüber dem Staat: Verbraucherpolitik zu Beginn der 1950er Jahre Auf Bundesebene hatte sich in der Zwischenzeit 1953 die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) als Verbraucher-Spitzenverband gegründet und sich unter anderem eine sukzessive Politisierung der Verbraucherpolitik auf die Fahnen geschrieben60. Mittels geschickter Lobbyarbeit bei den Ministerien und taktisch gut platzierter publizistischer Kampagnen konnte die AgV ihren Einfluss auf politische und wirtschaftliche Institutionen rasch ausdehnen. 1958 umfasste die Arbeitsgemeinschaft bereits 19 verbraucherorientierte Verbände und leitete daraus einen strengen Alleinvertretungsanspruch der deutschen Verbraucherschaft ab61. Die als Einzelorganisationen autonom bleibenden Gründungsverbände der AgV hatten sich noch Anfang der 1950er Jahre vehement gegen eine durch das BMELF geplante Zusammenfassung in einer „Verbrauchergemeinschaft Ernährung“ gesträubt62. Der Verein sollte, so hatte das ministerielle Konzept vorgesehen, Bundes- und Länderregierungen verbraucherpolitische Vorschläge, Anregungen und Gutachten unterbreiten sowie Sachverständige zur Wahrnehmung der allgemeinen Interessen der Verbraucher zur Verfügung stellen63. Das Ministerium hatte insgeheim einen dezidierten Plan zur Organisation und Bündelung der zu dieser Zeit stark zersplitterten Vereinigungen entworfen, die sich alle mehr oder weniger explizit die Vertretung von Verbraucherinteressen auf 58 BArch B116/3166, Niederschrift von Rogge (III B 5, BMELF) über die 15. Sitzung des Verbraucherausschusses für Ernährungsfragen am 31. Januar und 1. Februar 1955 in Berlin, 05.05.1955, 6. 59 Vgl. TRUMBULL: Consumer Capitalism (wie Anm. 1), 7. 60 Vgl. ebenda, 50–54; HILTON, Consumers (wie Anm. 1), 69 f., GASTEIGER: Der Konsument (wie Anm. 1), 58–63. 61 ERIKA BECKER: Verbraucherzusammenschlüsse. In: JOSEF BOCK, KARL GUSTAV SPECHT (Hg.): Verbraucherpolitik, Köln 1958, 70–87, hier 76. 62 BArch B116/431, Schreiben von Spies (III B (III A 4 c) BMELF) an Professor Dr. Lehmann, Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie Dortmund, betr. Verbrauchergemeinschaft Ernährung, 30.06.1950. 63 BArch B116/431, Entwurf eines Schreibens von Dr. Staab (III B (III A 4c) BMELF) betr. Gründung einer Verbrauchergemeinschaft Ernährung, 29.06.1950.
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die Fahnen geschrieben hatten. Die Verbrauchergemeinschaft sollte langfristig die Arbeit des ministeriellen Verbraucherausschusses übernehmen. Dieser sei schließlich seinerzeit, so führte der zuständige Staatssekretär Theodor Sonnemann bei einer Sitzung im Juli 1950 aus, unter dem Eindruck der öffentlichen Bewirtschaftung der Nahrungsmittel gegründet worden64. Die damit verbundenen Probleme seien ein Jahr nach Gründung der Bundesrepublik gar nicht mehr akut. Natürlich wolle man zwar die Meinung der Verbraucher hören, um seine Maßnahmen möglichst den Interessen der Verbraucher anzugleichen. Diese bekäme man allerdings schon in drastischer Form und papierkörbeweise zu hören; man wolle außerdem den Leidensweg der Marktordnungsgesetze nicht noch weiter durch eine institutionalisierte Mitsprache der Verbraucher verlängern. Aus diesen Gründen sollte der Zusammenschluss als Verein und die Auflösung des Ausschusses beim BMELF erfolgen. Der Verein würde dann durch seine Mitglieder in der Lage sein, die gemeinsam erarbeiteten Grundsätze an die Verbraucher heranzutragen. Sonnemann fand deutliche Worte für dessen Aufgabe, nämlich weniger die Meinung der Verbraucher zu sammeln und konzentriert an das Ministerium heranzubringen, als umgekehrt darin, daß eine Auffassung des Ministeriums über die volkswirtschaftliche Lenkung durch die Mitgliederverbände des Vereins auf dem Wege der Aufklärung durch die Presse, Broschüren, Flugblätter usw. den Verbrauchern verständlich gemacht wird65.
Begreiflicherweise opponierten die im Verbraucherausschuss versammelten Vertreter von Konsumgenossenschaften, Hausfrauenverbänden und anderen verbraucherorientierten Vereinen – unter anderem auch Emmy Lüthje aus Kiel – gegen eine so offensichtliche Instrumentalisierung ihrer Organisationen. Sie schlossen sich stattdessen 1953 in der AgV zu einer von staatlichen Stellen weitgehend unabhängigen Vereinigung zusammen, deren anfänglicher Impetus in komsumeristischer Manier als eher anti-staatlich bezeichnet werden kann66. Analog zu den skizzierten Verhältnissen in Schleswig-Holstein versuchten sich also auch auf Bundesebene die Verbände vom Einfluss der staatlichen Stellen zu emanzipieren und sich das Politikfeld „Verbrauch“ anzueignen. Die verbrauchslenkende Intention der Ministerien hatte sich für die Verbrauchervertreter zunehmend als untragbar erwiesen; für viele Ministerialbürokraten hatte es schließlich außer Frage gestanden, dass dem Verbraucher an sich jegliche Richtschnur fehle und er ohne staatliche Hilfestellungen kaum rational konsumieren könne67. Es komme bei der Verbraucherpolitik doch schlechterdings darauf an, durch Verbraucherorganisationen einen bestimmten Zweck zu erreichen, heißt es in einem Schriftwechsel aus dem BMELF, nämlich einen verbrauchslenkenden
64 BArch B116/431, Niederschrift über die Sitzung beim BMELF zur Gründung einer Verbrauchergemeinschaft Ernährung am 07.07.1950, 13.07.1950, 2 f. 65 BArch B116/431, Niederschrift über die Sitzung beim BMELF zur Gründung einer Verbrauchergemeinschaft Ernährung am 07.07.1950, 13.07.1950, 3. 66 Vgl. KLEINSCHMIDT: Konsumgesellschaft, Verbraucherschutz (wie Anm. 1), 21. 67 BArch B116/432, Kurzniederschrift über die Sitzung des Verbraucherausschusses bei Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten am 28.02.1951, 03.03.1951, 4.
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Einfluss auf die Verbraucherschaft68. Raum für demokratische Konsumentensouveränität ließ eine solche Sichtweise – zumindest auf den ersten Blick – kaum. Freilich repräsentieren diese Äußerungen nicht den gesamten Regierungsapparat. Ein gewisses Misstrauen gegenüber der Verbraucheraufklärung und -lenkung durch staatliche Stellen machte sich allerdings trotzdem allgemein bemerkbar, sowohl auf Bundes- als auch auf der Landesebene in Schleswig-Holstein. V. Die Verbraucherzentralen als verbraucherpolitische Agenturen Zwar bedeutete das Ende der Verbraucherausschüsse in Schleswig-Holstein sowie die Gründung von verbraucherorientierten (Dach-)Verbänden auf Landes- und Bundesebene prima facie eine Abkehr von staatlicher Verbraucherpolitik als Verbrauchslenkung, was insgesamt eine deutliche Politisierung dieses Politikfeldes nach sich zog69. Eine Verminderung staatlichen Engagements ging damit aber nicht unmittelbar einher, ganz im Gegenteil: Auf Initiative des BMWi und der Länderwirtschaftsministerien wurden ab Ende der 1950er Jahre in jedem Bundesland „Verbraucherzentralen“ (VZ) mit angegliederten Beratungsstellen gegründet, die auf Landesebene einen Großteil derjenigen Verbände bündelten, die die AgV bereits auf Bundesebene vertrat70. Finanziert wurden die VZ aus Bundes- und Landesmitteln, und sie agierten weitgehend unabhängig voneinander in der Verbraucherarbeit und -politik der jeweiligen Länder. Ein Bericht über ein Treffen mit Vertretern aller VZ beim BMWi im November 1961 deutet darauf hin, dass sich der oben skizzierte „Sonderweg“ SchleswigHolsteins weiter fortsetzte: 68 BArch B116/431, Vermerk von Dr. Rosenbrock für Herrn Dr. Staab (BMELF) betr. Bericht des Herrn Dr. Leitreiter an den Abteilungsleiter Dr. Kattenstroth (BMWi) 6+7, 13.03.1951, 2. 69 Vgl. TRUMBULL: Consumer capitalism (wie Anm. 1), 8: „The impact of the new consumerist discourse was not limited to policies specifically designed to address consumer protection. Under the influence of the growing public policy emphasis on consumer welfare, a new paradigm of government administration, one grounded on the idea of maximizing the consumer interest, came to dominate policy formation across a broad range of traditional government economic policies“. 70 BERND BIERVERT, WOLF F. FISCHER-WINKELMANN, REINHARD ROCK: Grundlagen der Verbraucherpolitik. Eine gesamt- und einzelwirtschaftliche Analyse (= Rororo Studium 113), Reinbek bei Hamburg 1977, 19. Hinweise auf eine bedeutende Rolle des BMWi bei der Errichtung der VZ ergeben sich z. B. aus BArch B102/35987, Schreiben von Dr. Voigt (II C 4, BMWi) an die Landesarbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände NRW betr. Einladung zur Kundgebung am 11.12.1958, 08.12.1958. Vgl. auch BArch B102/168504, Schreiben von Dr. Baetzgen (Leiter der Abteilung II BMWi) an Staatssekretär Dr. Neef betr. Interministerieller Ausschuß für Verbraucherfragen, 12.04.1966, 1: Auf Veranlassung des BMWi waren in Zusammenarbeit mit den Wirtschaftsressorts der Länder Verbraucherzentralen in den jeweiligen Bundesländern gegründet worden, denen Beratungsstellen angegliedert sind. BArch B102/168507, Schreiben von Dr. Britsch (Leiter der Abteilung II, BMWi) an Herrn Staatssekretär Dr. von Dohnanyi betr. IMA, Bezug auf Vorlage vom 10.05.1968, 31.05.1968, Anlage 2 f.: Die Federführung liegt beim BMWi, von dem auch die Initiative zur Bildung dieser Vereinigungen ausgegangen war.
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Aus der historischen Entwicklung heraus weicht die Arbeit der Verbraucherzentrale Schleswig-Holstein (11 Mitgliedsverbände) von der der anderen erheblich ab. Die örtlichen Verbrauchergemeinschaften bestanden vor Bildung der Verbraucherzentrale und arbeiten praktisch unabhängig von dieser weiter. Entsprechend werden auch die Zuschüsse vom Land direkt an die Verbrauchergemeinschaften verteilt71.
Für die staatlichen Stellen waren die VZ relativ eigenständige, im Gegensatz zur AgV aber trotzdem sehr verlässliche und berechenbare verbraucherpolitische Agenturen. Sie wurden als vertrauensvoller wahrgenommen, als funktionaler in der Verbraucherarbeit und besser im Sinne der verbraucherpolitischen Vorstellungen der Ministerien einsetzbar und kontrollierbar72. Aus diesem Grund wurden sie nicht nur von den Agrar- und Wirtschaftsressorts gefördert und genutzt, sondern ebenfalls zu Zwecken der Gesundheitserziehung und Wohnberatung73. Im Laufe der 1960er Jahre wurden die Verbraucherzentralen zu einem zentralen Kristallisationspunkt der bundesdeutschen Verbraucherpolitik. In Schleswig-Holstein waren die ursprünglichen konsumpolitischen Strukturen zu dieser Zeit noch deutlich spürbar: Während in den meisten anderen Bundesländern die Verbraucherarbeit der verbraucherorientierten Verbände in den VZ aufging, war z. B. der Kieler Verband für Verbraucher- und Familienberatung trotz aller Kooperationsbereitschaft sehr darauf bedacht, nur dann von der VZ unterstützt [zu werden], wenn eine solche Unterstützung ausdrücklich gewünscht wurde74. Im Protokoll einer Mitgliederversammlung der VZ von 1969 ist außerdem die Rede von diversen lokalen „Verbrauchergemeinschaften“, die unabhängig von der VZ Ausstellungen und Vorträge durchgeführt hätten75. Sieben Jahre zuvor war in der Einleitung des Tätigkeitsberichtes der VZ Schleswig-Holstein darauf hingewiesen worden, dass dieser
71 BArch B102/105567, Bericht über die Besprechung mit den Vertretern der Verbraucherzentralen beim BMWi am 06.11.1961, 6. 72 BArch B102/168670, Vermerk von Voigt betr. Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, hier: Stand der derzeitigen Lage, 08.02.1965, 1: Die AGV beabsichtigt nicht, so wie es etwa die Verbraucherzentralen tun, ihre Finanzlage dem Haus gegenüber mit der notwendigen Offenheit darzulegen, um dadurch Bundeszuschüsse für ihre Arbeit zu erhalten. Offensichtlich fließen ihr nach wie vor Gelder der Wirtschaft zu, von denen sie nicht sprechen will. Vgl. BArch B116/24254, Schreiben von Martens (BMELF, UAL VI B) an die Bayerische Verbrauchergemeinschaft e. V. – Verbraucherzentrale, betr. Verbraucheraufklärung, hier: Marktund Preisbericht, 28.07.1966; B102/168504, Schreiben von Dr. Baetzgen (Leiter der Abteilung II BMWi) an Staatssekretär Dr. Neef betr. Interministerieller Ausschuß für Verbraucherfragen, 12.04.1966. 73 BArch B102/168505, Schreiben des Bundesministers für Wirtschaft (II B 4, Dr. Goldschmidt) an die elf Verbraucherzentralen betr. 21. Arbeitstagung mit Vertretern der Verbraucherzentralen und den Verbraucherreferenten der Länder, 03.05.1966. 74 Kiel, Verbraucherzentrale (VZ Kiel), Ordner II 1970/72, Entwurf einer Vereinbarung zwischen der VZ Schleswig-Holstein und ihrem Mitgliedsverband „Verband für Verbraucher und Familienberatung Kiel“ (VVF) [1970/71], 2. 75 VZ Kiel, Ordner II 1970/72, Protokoll der Mitgliederversammlung der VZ Schleswig-Holstein am 03.02.1969 in Kiel, 06.03.1969.
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Kevin Rick keinerlei Auskunft über Art und Umfang der ausgedehnten Verbraucherberatung in Schleswig-Holstein [gibt], da diese bisher ausschließlich von den [...] Verbrauchergemeinschaften (Bad Segeberg, Flensburg, Itzehoe, Kiel, Lübeck, Neumünster, Schleswig) durchgeführt wird. Die Verbrauchergemeinschaften arbeiten selbständig76.
Wie bedeutsam diese Trennung zwischen „Politik“ und „Beratung“ allerdings tatsächlich war, kann anhand des verfügbaren Quellenmaterials nicht mehr genau rekonstruiert werden. Tatsachen wie etwa die einheitliche Erledigung der Buchführung der Verbrauchergemeinschaften durch die VZ (was eine erhebliche Arbeit mit sich bringt) deuten aber darauf hin, dass die wechselseitige Kooperation und Abstimmung zwischen Zentrale und Mitgliedern sehr intensiv waren77. Trotz gewisser Tendenzen zur stärkeren Koordinierung und Zentralisierung scheint die schleswig-holsteinische Verbraucherpolitik in den 1960er Jahren aufgrund der zahlreichen Verbrauchergemeinschaften insgesamt von einer grundlegenden Befürwortung dezentraler, pluralistischer und konsumeristischer bottomup-Organisation geprägt gewesen zu sein. Auch wenn die ursprünglichen Verbraucherausschüsse längst nicht mehr bestanden, hatten vielerorts die Selbstorganisationen der Verbraucher „überlebt“ und waren weiterhin aktiv. Sie betrieben Verbraucheraufklärung unabhängig von staatlichen Stellen und mit einem von der „großen Politik“ weitgehend abgekoppelten, lokal bzw. regional beschränkten Fokus – beanspruchten teilweise aber (wie der Kieler VVF) ganz klar einen Status als politische Interessenvertretung ihrer Mitglieder und Klienten. Streng genommen war die Existenz solcher Konsumentengruppen in Schleswig-Holstein zwar kein Einzelfall. Lokale Verbrauchergemeinschaften gab es auch an anderen Orten im Bundesgebiet. Der Geschäftsbericht der VZ Baden-Württemberg für 1966 benennt solche Zusammenschlüsse etwa in Pforzheim, Ulm, Freiburg und Heidelberg78. Diese Gemeinschaften hatten aber kaum politische Ambitionen, beschränkten sich meist auf ehrenamtliche Verbraucherberatung und standen in einem finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zur VZ, die in Eigenverantwortung die Bundes- und Landesmittel zu verwalten hatte79. Mitte der 1970er Jahre gehörten die Vertreter des Landes Schleswig-Holstein beim Verbraucherausschuss des BMWi jedenfalls immer noch – neben den Delegierten aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, also erstaunlicherweise wiederum den ehemals britischen Besatzungszonen – zu den schärfsten Kritikern des um sich greifenden Zentralisierungsgedanken[s] in der Verbraucherpolitik80. Poli76 Duisburg, Landesarchiv NRW (LAV NRW), RW 0290, Nr. 662, Tätigkeitsbericht der VZ Schleswig-Holstein für 1962, 1. 77 LAV NRW, RW 0290, Nr. 662, Tätigkeitsbericht der VZ Schleswig-Holstein für 1963, 7. 78 LAV NRW, RW 0290, Nr. 658, Geschäftsbericht der VZ Baden-Württemberg für 1966, 6. 79 LAV NRW, RW 0290, Nr. 658, Geschäftsbericht der VZ Baden-Württemberg für 1965, 2. 80 BArch B102/256640, Protokoll der Sitzung der Verbraucherreferenten der Länder Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein in Kiel am 07.11.1975, 3: Unter der Voraussetzung, daß die primäre Zuständigkeit für die Verbraucherarbeit bei den Ländern liegt, sollte jedes Land von einer eigenen Konzeption ausgehen. Die Konzeption des Bundes ist für die Bundesländer nicht geeignet, weil in dieser Konzeption der BMWi zu sehr auf die Zentralisierung wichtiger Funktionen bei Bundesstellen abgestellt hat. Niedersachsen und
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tik für die Verbraucher sei schließlich in erster Linie Ländersache, argumentierte man, die Bundesregierung könne zudem nicht einseitig die Erfüllung [ihrer] Zielsetzungen für die Ausrichtung der Arbeit der VZ verlangen81. Die Verbraucherreferenten der drei Länder sahen in dem Streben nach Vereinheitlichung der konsumpolitischen Linie und Praxis eine große Gefahr und befürchteten, daß die Eigeninitiative wie auch die Möglichkeit der Selbstdarstellung der Bundesländer zu stark beeinträchtigt wird. Zwar müssten erst weitere Untersuchungen belegen, dass solche Stellungnahmen mehr im konsumpolitischen und nicht etwa im zu dieser Zeit ebenfalls virulenten Föderalismus-Diskurs verortet werden können. Der Widerstand SchleswigHolsteins gegen eine Nivellierung der bundesdeutschen Verbraucherpolitik „nach dem Boom“ zeigt sich aber bereits in diesen kurzen Zitaten recht deutlich. VI. Fazit Bis zum Ende der 1970er Jahre entstanden in Schleswig-Holstein fünf weitere stationäre Verbraucherzentren (Kiel, Lübeck, Norderstedt, Flensburg, Heide) sowie zahlreiche weitere Beratungsstellen der VZ in kleineren Orten82. Ein Verbraucherbus nahm als mobile Verbraucherberatungsstelle seine Arbeit auf, der Verbraucher-Vortragsdienst der VZ wurde aufgebaut. Die Verbrauchergemeinschaften bestanden zwar weiterhin, richteten sich aber zunehmend stärker an der Linie der VZ aus. Den allgemeinen konsumpolitischen Vereinheitlichungsbestrebungen konnte man sich in den späten 1970er Jahren auch in Schleswig-Holstein nicht mehr entziehen: Die für die VZ verfügbaren Mittel wurden aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken nach dem Finanzreformgesetz gegen eine gleichzeitige Finanzierung durch Bund und Länder eingefroren und drohten gänzlich wegzufallen; die VZ sahen sich bundesweit in ihrer Existenz bedroht83. Ihnen kam in dieser Situation allerdings zugute, dass sie zu diesem Zeitpunkt durch die Kooperation und letztliche FuNRW wurden zu dieser Zeit durch eine SPD-Regierung geführt, Schleswig-Holstein durch die CDU. 81 Hier und im Folgenden BArch B102/256640, Vermerk betr. Sitzung des Länderausschusses für Verbraucherfragen am 20.01.1976, hier: Mitfinanzierung der VZ durch das BMWi, 16.02.1976. 82 VZ Kiel, Ordner II Mitgliedersatzung 1970/72, Vortragsmanuskript „Verbraucherzentrale, Aufbau und Aufgaben“, März 1979. 83 Das Finanzreformgesetz vom 14.05.1969 (BGBl I Nr. 37, 14.05.1969) trat zum 01.01.1970 in Kraft und regelte die Finanzierungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Die darin zugestandenen Freiräume sollten durch Verwaltungsvereinbarungen geregelt werden, was im Laufe der 1970er Jahre jedoch zu erheblichen Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern führte. Vgl. BArch B102/219178, Schreiben II 1 an Abteilungsleiter II betr. Zuständigkeitsabgrenzung Bund/Länder im Bereich der Verbraucherberatung, Bezug auf Gespräch mit Dr. Walter am 17.03.1971, 17.03.1971; BArch B102/219178, Vermerk betr. Finanzierung der Verbraucherzentralen, hier: verfassungsrechtliche Aspekte, Bezug auf Besprechung im BMJ am 15.01.1976, 27.01.1976.
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sion mit der AgV einen Alleinvertretungsanspruch als politische Verbraucherinteressenvertretungen auf Bundes- wie Landesebene hatten aufbauen und etablieren können. Sie hatten es geschafft, die Rolle der übrigen Verbrauchergemeinschaften zu absorbieren. Als gangbarer Ausweg aus dem haushaltsrechtlichen Problem erschien schließlich die Umstellung von institutioneller auf projektbasierte Finanzierung durch den Bund unter Beibehaltung der institutionellen Länderfinanzierung, wie sie heute größtenteils noch praktiziert wird, sowie eine Zentralisierung und enge Koordinierung sämtlicher verbraucherpolitischer Maßnahmen84. Trotz der anfänglichen Widerstände bedingte die finanzielle Situation von Bund, Ländern und Verbraucherverbänden auch in Schleswig-Holstein eine Rationalisierung und Zusammenfassung der verbraucherpolitischen Tätigkeiten von Regierung und nicht-staatlichen Organisationen sowie eine zunehmende Ausrichtung auf die Politik des Bundes unter Federführung des Wirtschaftsressorts. Die schleswig-holsteinische Entwicklung war allerdings, so zeigten die obigen Ausführungen, noch zu Beginn der 1970er Jahre – zumindest gewissen Teilen – durch die Situation des Landes kurz nach Kriegsende bestimmt, beispielsweise in der Bevorzugung einer landesspezifischen, dezentral aufgestellten Verbraucherpolitik und Verbraucherarbeit. Der Weg von den Verbraucherausschüssen im ersten Nachkriegsjahr zur Verbraucherzentrale verlief keineswegs linear. Ungeachtet der oft innovativen Gestaltung der Verbraucherpolitik liefen viele Anregungen der Landesvertreter auf Bundesebene zwar ins Leere. Schleswig-Holstein hätte durchaus mehr Potenzial gehabt, zum Vorbild der bundesdeutschen Konsumpolitik zu avancieren. Die Debatten um die Legitimation staatlichen Engagements, die starke Prägung dieses Politikfeldes durch die Bundesregierung, der zunehmend schärfer formulierte Alleinvertretungsanspruch der AgV als politische Verbrauchervertretung sowie die föderalen Abgrenzungsversuche der Bundesländer zueinander standen einer solchen Entwicklung allerdings genauso im Wege wie die wirtschaftliche Situation ab Ende der 1960er Jahre. Sofern also mit einer verbraucherpolitischen Pionierrolle Schleswig-Holsteins, nach der eingangs gefragt wurde, die Ausstrahlung vorhandener Innovationspotenziale auf andere Bundesländer und die Bundeebene gemeint sein soll, kann diese angesichts der vorangegangenen Ausführungen zumindest teilweise bestätigt werden. Eine Vorreiterrolle kam dem Bundesland zwar in Bezug auf die vorhandene institutionelle Verankerung von Verbraucherinteressen kurz nach dem Kriege zu. Auch die pluralistisch-dezentrale Prägung der Konsumentenvertretungen in den 1960er Jahren deutete auf eine solche Rolle hin. Dennoch fehlen weitgehend stichhaltige Belege für eine messbare Strahlkraft dieser Institutionen, Organisationen und Strukturen auf andere Gebiete. So gibt es nur spärliche Hinweise darauf, dass Schleswig-Holstein tatsächlich ein rezipiertes Vorbild für andere verbraucherpolitische Akteure darstellte, wenngleich durchaus (ex post) ein theoretisches. Insofern stellen die schleswig-holsteinischen Entwicklungen eine spezifische Ausprägung des bundesrepublikanischen Konsumtionsregimes dar, die bis84 BArch B102/371332, Niederschrift über die Sitzung des Länderausschusses für Verbraucherfragen am 28.04.1983 in Bonn.
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lang aufgrund des größtenteils auf die Bundesebene beschränkten Fokus der Geschichte der Verbraucherpolitik augenscheinlich ignoriert wurde.
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JÜDISCHE GESCHICHTE UND REGIONALGESCHICHTE – EINE BESTANDSAUFNAHME NEUERER PUBLIKATIONEN Michaela Schmölz-Häberlein Zugleich eine Besprechung der folgenden Publikationen: MANFRED KELLER, JENS MURKEN (Hg.): Jüdische Vielfalt zwischen Ruhr und Weser. Erträge der Biennale: Musik & Kultur der Synagoge 2012/2013 (= Zeitansage. Schriftenreihe des Evangelischen Forums Westfalen und der Evangelischen Stadtakademie Bochum 7), Berlin: LIT, 2. Aufl. 2014, 392 S., (ISBN 978-3-64312334-3), 34,90 EUR. MONIKA MÜLLER: Judenschutz vor Ort. Jüdische Gemeinden im Fürstentum Pfalz-Neuburg (= Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 5), Augsburg: Wißner 2016, 451 S., 9 Grafiken, 2 Karten, (ISBN 978-3-95786094-1), 34,80 EUR. TORBEN STRETZ: Juden in Franken zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Die Grafschaften Castell und Wertheim im regionalen Kontext (= Forschungen zur Geschichte der Juden. Abt. A: Abhandlungen 26), Wiesbaden: Harrassowitz 2016, 606 S., 9 Karten, (ISBN 978-3-447-10768-6), 89,00 EUR. GISELA NAOMI BLUME: Uehlfeld. Jüdisches Leben und Häuserchronik (= Freie Schriftenfolge der Gesellschaft für Familienforschung in Franken 25), Nürnberg: Gesellschaft für Familienforschung in Franken 2017, 844 S., über 650 farb. Abb, 75 hist. Pläne, Karte, (ISBN 978-3-929865-70-7), 39,00 EUR. STEFANIE FISCHER: Ökonomisches Vertrauen und antisemitische Gewalt. Jüdische Viehhändler in Mittelfranken 1919–1939 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden XLII), Göttingen: Wallstein 2014, 368 S., 22 Abb., (ISBN 978-3-8353-1239-5), 34,90 EUR. CORNELIA AUST: The Jewish Economic Elite. Making Modern Europe (= German Jewish Studies Culture). Bloomington: Indiana University Press 2018, 272 S., 13 s/w Abb., 3 Karten, (ISBN 9780253032164), 30 USD (Paperback), 80 USD (Hardcover). LINA-MAREIKE DEDERT: Durch Zeit und Raum. Die Familie Weill-Sonder zwischen Emanzipation und Restitution, Berlin: be.bra Wissenschaftsverlag 2014, 336 S., 34 Abb., (ISBN 978-3-95410-044-6), 36,00 EUR. MARTINA G. HERRMANN: Sophie Isler verlobt sich. Aus dem Leben der jüdischdeutschen Minderheit im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2016, 375 S., 18 Abb., (ISBN 978-3-412-50157-0), 40,00 EUR. MICHAŁ SZULC: Emanzipation in Stadt und Staat. Die Judenpolitik in Danzig 1807– 1847 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden XLVI), Göttingen: Wallstein 2016, 352 S., 1 Abb., (ISBN 978-3-8353-1853-3), 34,90 EUR.
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HANNELORE BURGER: Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart (= Studien zu Politik und Verwaltung 108), Wien/Köln/Graz: Böhlau 2014, 274 S., 22 s/w Abb., (ISBN 978-3-20579-495-0), 40,00 EUR. MANFRED BOSCH, OSWALD BURGER (Hg.): „Es war noch einmal ein Traum von einem Leben.“ Schicksale jüdischer Landwirte am Bodensee 1930–1960, Konstanz: UVK 2015, 240 S., (ISBN 978-3-86764-630-7), 24,99 EUR. HANS-JOACHIM HAHN, TOBIAS FREIMÜLLER, ELISABETH KOHLHAAS, WERNER KONITZER (Hg.): Kommunikationsräume des Europäischen. Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen (= Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 8), Leipzig: Universitätsverlag 2014, 301 S., (ISBN 978-3-86583-649-6), 49,00 EUR. Die Erforschung der Geschichte der Juden in Mitteleuropa war in der Bundesrepublik Deutschland lange auf die Zeit des Nationalsozialismus und der Shoah konzentriert. Erst allmählich entwickelte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Forschungslandschaft, die auch die Zeit vor 1933 und nach 1945 stärker in den Blick nahm. 1966 wurde mit dem „Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg“ (IGdJ) eine Einrichtung gegründet, die sich der Erforschung der gesamten deutsch-jüdischen Geschichte widmet und inzwischen auf mehr als 50 Jahre Forschungsarbeit zurückblicken kann1. Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre legten der Volkskundler Utz Jeggle seine Pionierstudie zu Judendörfern in Württemberg und Monika Richarz ihre wegweisende Arbeit zum Eintritt der Juden in akademische Berufe vor2. Zwischen 1976 und 1982 erschien sodann die von Richarz herausgegebene dreibändige Sammlung „Jüdisches Leben in Deutschland: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte von 1780 bis 1945“. Erst in den 1980er Jahren begann sich die Forschung jedoch intensiver der Zeit vor 1900 zuzuwenden. 1985 rief der Volkskundler Klaus Guth die „Forschungsstelle Landjudentum“ an der Universität Bamberg ins Leben, die sich mit der Geschichte und Kultur ländlicher Judengemeinden in Franken vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre beschäftigte3. Im folgenden Jahr wurde das „Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte e. V.“ in Düsseldorf gegründet, das sich der Erforschung der Kultur-, Religions-, Literatur- und Ereignisgeschichte der Juden im deutschen Sprachraum widmet4. Dessen Datenbank epidat ermöglicht den Zugriff auf Tausende jüdische Grabsteine und 1
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50 Jahre ׀50 Quellen. Festschrift zum Jubiläum des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden. Hrsg. vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg 2016. Vgl. die Homepage des Instituts: http://www.igdj-hh.de/IGDJ-home.html. UTZ JEGGLE: Judendörfer in Württemberg, Tübingen 1969; MONIKA RICHARZ: Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe, Tübingen 1974. Vgl. KLAUS GUTH, EVA GROISS-LAU, ULRIKE KRZYWINSKI (Hg.): Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800–1942). Ein historisch-topographisches Handbuch. Bd. 1 [mehr nicht erschienen], Bamberg 1988. Homepage: http://www.steinheim-institut.de/wiki/index.php/Hauptseite.
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leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Sicherung des Wissens um jüdische Friedhöfe und die darauf bestatteten Personen5. Alfred Haverkamp, damals Inhaber des Lehrstuhls für mittelalterliche Geschichte an der Universität Trier, gründete 1987 die „Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden“ (GEGJ)6 und 1996 das „Institut für Geschichte der Juden“ (seit 1998 „Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden“ [AMIGJ])7, die sich die Erforschung jüdischen Lebens im Alten Reich im Mittelalter und der Frühen Neuzeit zum Ziel gesetzt haben. Eng mit dem Arye Maimon-Institut verbunden ist das Akademieprojekt „Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich“8. 1988 entstand in St. Pölten das Institut für Jüdische Geschichte Österreichs (INJOEST), das 2011 mit dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung verbunden wurde9. Ziel dieser Institution ist die umfassende Erforschung der Geschichte der österreichischen Juden vom Mittelalter bis in die Gegenwart10. 1995 wurde in Leipzig das „Simon-Dubnow-Institut“, das heutige „Leibniz-Institut für Jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow“ (DI), ins Leben gerufen, das sich mit den jüdischen Lebenswelten in Mittel- und Osteuropa vom Mittelalter bis in die Gegenwart in einer gesamteuropäischen Perspektive auseinandersetzt. Im Zentrum der dortigen Untersuchungen stehen Politik- und Diplomatiegeschichte, Migrations- und Wissenschaftsgeschichte, aber auch die klassische Geistes- und Ideengeschichte11. J. Friedrich Battenberg in Darmstadt leistete mit Quelleneditionen für den hessischen Raum Pionierarbeit und hat auch mehrere Überblickswerke zur Geschichte der deutschen und europäischen Juden vorgelegt12. Seit den 1990er Jahren befassten sich Rolf Kießling und zahlreiche seiner Schüler und Schülerinnen an der Universität Augsburg mit der Erforschung jüdischen Lebens im heutigen Regierungsbezirk Bayerisch-Schwaben13. Neben der akademischen Forschung an 5 6 7 8 9 10
http://www.steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat [24.01.2019]. Homepage: https://gegj.de/. Homepage: https://www.uni-trier.de/index.php?id=7022. Homepage: http://www.medieval-ashkenaz.org/. Homepage: http://www.injoest.ac.at/ Exemplarisch sei hier auf eine der jüngst erschienenen Publikationen verwiesen. EVELINE BRUGGER, BIRGIT WIEDL (Hg.): Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich. Bd 4: 1387–1404, Innsbruck u. a. 2018. 11 HANS-JOACHIM HAHN, EVA BORMANN, NICOLAS BERG (Hg.): Simon-Dubnow-Institut für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, Leipzig 2008. Homepage: http://www.dubnow.de/institut/. 12 Vgl. u. a. J. FRIEDRICH BATTENBERG (Hg.): Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1080–1650 (= Quellen zur Geschichte der Juden in hessischen Archiven 2), Wiesbaden 1995; DERS.: Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. 2 Bde., Darmstadt 1990; DERS.: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte 60), München 2001. 13 Vgl. u. a. ROLF KIEßLING (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches (= Colloquia Augustana 2), Berlin 1995; DERS., SABINE ULLMANN (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit (= Colloquia Augustana 10), Berlin 1999; SABINE ULLMANN: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650–1750 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Ge-
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den genannten Lehrstühlen und Instituten entstanden zahlreiche Projekte und Publikationen im Rahmen von lokalen Geschichtswerkstätten und Initiativen, die häufig von interessierten Laien getragen wurden. In den letzten 25 Jahren erschienen zudem neue Gesamtdarstellungen und Synthesen der Forschung. Das „Leo-Baeck-Institut“ brachte in den 1990er Jahren die vierbändige Überblicksdarstellung „Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit“ heraus14. Wenig später folgte eine von Marion Kaplan herausgegebene Alltagsgeschichte des deutschen Judentums15. Michael Brenner veröffentlichte 2012 eine „Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945“16. In den letzten Jahren kam die ebenfalls von Brenner herausgegebene Reihe „Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern“ auf den Markt, die den Forschungstand zur Geschichte der bayerischen Regionen Schwaben, Franken und Oberpfalz zusammenfasst17. In den Bereich der Überblickswerke fällt auch die auf sieben Bände angelegte Reihe „Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte“, die seit 2012 erscheint und deren letzter Band zu Wirtschaft und Ungleichheit noch aussteht18. Die Reihe nähert sich der Geschichte der deutschen Juden über thematische Schwerpunkte, die jeweils mittels eines Begriffspaars im Titel der Einzelbände angezeigt werden. In knapper Form und für ein breites Publikum geschrieben, spiegelt die Reihe den aktuellen Forschungsstand zur deutsch-jüdischen Geschichte vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart wider und bezieht auch transregionale und transnationale Aspekte mit ein.
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schichte 151), Göttingen 1999; JOHANNES MORDSTEIN: Selbstbewusste Untertänigkeit. Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637–1806 (= Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 2), Epfendorf 2005; TILL STROBEL: Jüdisches Leben unter dem Schutz der Reichserbmarschälle von Pappenheim 1650–1806 (= Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 3), Epfendorf 2009. MICHAEL A. MEYER, MICHAEL BRENNER, MORDECHAI BREUER (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4 Bde., München 1996. MARION KAPLAN (Hg.): Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland: Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003. MICHAEL BRENNER (Hg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft, München 2012. MICHAEL BRENNER, DANIELA F. EISENSTEIN (Hg.): Die Juden in Franken (= Studien zur Jüdischen Geschichte und Kultur in Bayern 5), München 2012; DERS., RENATE HÖPFINGER (Hg.), Juden in der Oberpfalz (= Studien zur Jüdischen Geschichte in Bayern 2), München 2012; DERS., SABINE ULLMANN (Hg.): Die Juden in Schwaben (= Studien zur Geschichte und Kultur der Juden in Bayern 6), München 2013. TOBIAS BRINKMANN: Migration und Transnationalität, Paderborn u. a. 2012; STEVEN LOWENSTEIN: Religion und Identität, Paderborn u. a. 2012; KLAUS HÖDL: Kultur und Gedächtnis, Paderborn u. a. 2012; STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM: Geschlecht und Differenz, Paderborn u. a. 2014; UFFA JENSEN: Politik und Recht, Paderborn u. a. 2014; MIRIAM RÜRUP: Alltag und Gesellschaft, Paderborn u. a. 2016; RAINER LIEDTKE: Wirtschaft und Ungleichheit, Paderborn u. a. 2019. Vgl. dazu die Sammelrezension der ersten fünf Bände von KERSTIN VON DER KRONE: Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte. Sammelrezension. In: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 10 (2016) 18, 1–7, URL: http://www.medaon.de/pdf/medaon_18_vonderKrone.pdf [12.12.2018].
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Dieser knappe und sicherlich unvollständige Abriss der Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte spiegelt auch die Bandbreite der hier zu besprechenden Darstellungen wider, die teils von interessierten Laien, teils von Fachwissenschaftlern verfasst wurden und sich thematisch, methodisch und zeitlich schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Zugleich zeigt er, dass die jüdische Regionalgeschichte von Anfang an einen Schwerpunkt der Forschungen bildete. Sowohl die Struktur der Quellenüberlieferung als auch die territorial und regional höchst unterschiedlichen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen sich jüdisches Leben in Mitteleuropa entwickeln konnten, legen bis heute eine regionalgeschichtliche Zugangsweise nahe. Eine Synopse der Entwicklung jüdischen Lebens in Westfalen bietet der Sammelband „Jüdische Vielfalt zwischen Ruhr und Weser“, der in 25 von namhaften Experten verfassten Beiträgen vielfältige Aspekte der Geschichte und Kultur dieser Minderheit zwischen Mittelalter und Gegenwart behandelt. Im ersten Teil des Bandes setzen sich fünf Aufsätze überblicksartig mit der Entwicklung jüdischen Lebens auseinander, die anschließend in acht Detailstudien vertieft wird. Im zweiten Teil geht es um Entwicklungen im Bereich der Kultur. Fünf Beiträge widmen sich dem Thema Synagoge, vier dem Musikleben, zwei der Literatur und zwei der bildenden Kunst. Ziel des Bandes ist es, so der Mitherausgeber Jens Murken, „die Unterscheidung von Juden und Nichtjuden sowie die Ausgrenzung der deutschjüdischen Geschichte aus der deutschen Geschichte aufzuheben“ und der Frage nachzugehen, inwiefern „Juden wirklich als Juden, somit aus dem Judentum schöpfend, der nichtjüdischen Gesellschaft etwas vermittelt“ haben – „oder haben sie nicht vielmehr als Deutsche an der Gestaltung der deutschen Geschichte und Kultur mitgewirkt?“ (9) An Diethard Aschhoffs Überblick über die Juden im Mittelalter schließt sich Arno Herzigs Darstellung der westfälischen Juden im Modernisierungsprozess an, die die Umbruchphasen der Napoleonischen Ära, der Restaurationszeit und der Hochindustrialisierung nach der Reichsgründung ins Zentrum stellt. Anschließend zeigt Uri R. Kaufmann Entwicklungen seit der jüdischen Aufklärung (Haskala) auf, und Joseph Heid widmet sich den Ostjuden, die sich in Ostwestfalen niederließen. Die seit Ende des 19. Jahrhundert infolge von Pogromen in die Region einwandernden Juden unterschieden sich in kultureller Hinsicht deutlich von den bürgerlichen Juden des Kaiserreichs, die zunächst auf die Zuwanderer herabschauten. Anhand individueller Lebensläufe zeichnet Heid überdies deren Schicksal in den 1940er Jahren nach. Die Zuwanderung von Juden als Kontingentsflüchtlinge seit den 1990er Jahren wird hingegen nur allgemein behandelt. Franz-Josef Jakobi und Wilfried Reininghaus stellen das Projekt des „Historischen Handbuchs der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe“ vor, das zwischen 2008 und 2016 als Dokumentation jüdischen Lebens in der Region in vier Bänden mit insgesamt 2 890 Druckseiten veröffentlicht wurde19. Sie konstatieren, „dass jüdische Geschichte auf lokaler und regionaler Ebene nicht als anonyme 19 Das Handbuch besteht aus einem Grundlagenband und drei Regionalbänden; vgl. die Rezension von SABINE ULLMANN in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 36 (2018), 184–186.
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Strukturgeschichte betrieben werden kann. Vielmehr muss sie immer wieder der handelnden (und leidenden) Menschen gedenken und müssen die christliche Mehrheitsbevölkerung und ihre Aktionen und Reaktionen einbezogen werden.“ (98) Unter der Überschrift „Detailstudien“ fasst zunächst Dina von Faassen die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Juden im Hochstift Paderborn in der Frühen Neuzeit zusammen20. Heinrich Stiewe greift mit seinem Beitrag zur Wohn- und Alltagskultur ländlicher Juden zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert in Ostwestfalen-Lippe, die er am Beispiel des Hauses Uhlmann aus Ovenhausen, das heute im LWL-Museum in Detmold zu sehen ist, exemplarisch vertieft, die aktuelle Diskussion zu materiellen Kulturen des Judentums auch jenseits der religiösen Sphäre auf21. Die Geschichte lokaler jüdischer Gemeinden vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert stellen Klaus Basner für Unna und Fritz Ostenkämper für Höxter dar. Christoph Laue behandelt das Ringen um eine adäquate Gedenkkultur in Herford und die langwierige Suche nach geeigneten Gedenkorten, die schließlich in pluraler Weise umgesetzt wurde. So wurde die „Gedenkstätte Zellentrakt“ ins Leben gerufen, zahlreiche Erinnerungstafeln an Orte jüdischen Lebens finden sich an städtischen Gebäuden, und die jüdische Gemeinde finanzierte ein eigenes Mahnmal. Hubert Schneider thematisiert die Erfahrungen von Juden, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Bochum zurückkehrten oder sich dort neu niederließen. Er behandelt die Diskussion um die Frage des Bleibens oder Auswanderns, die Neukonstituierung religiösen Lebens, die Problematik der Restitution von Besitz – ein Thema, das auch in der im Folgenden zu besprechenden Publikation von Manfred Bosch und Oswald Burger angesprochen wird – sowie das Verschweigen jüdischer Identität in der Zeit des Wirtschaftswunders. Abgerundet wird der historische Teil des Sammelbandes zum westfälischen Judentum mit einem Beitrag zur Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland im Kontext der Zuwanderung russischer Kontingentsflüchtlinge und einem Interview mit der aus Charkow stammenden Alexandra Khariakova, die 1995 aus der Ukraine nach Deutschland übersiedelte und sich für die Neugründung der jüdischen Gemeinde „ha Kochaw“ in Unna im Jahre 2007 einsetzte. Das Buch vermittelt einen guten Überblick über die vielfältigen Ausprägungen deutsch-jüdischer Geschichte und Kultur in Westfalen und weist ähnliche Schwerpunktsetzungen auf, wie sie auch in Publikationen zu anderen Regionen Deutschlands erkennbar sind. Dass die Anmerkungen zu den einzelnen Aufsätzen komprimiert am Ende des Bandes stehen, ist für Benutzer allerdings eher umständlich, da das Überprüfen der Belege viel Zeit erfordert. 20 Vgl. DINA VAN FAASSEN: „Das Geleit ist kündbar“. Quellen und Aufsätze zum jüdischen Leben im Hochstift Paderborn von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1802 (= Historische Schriften des Kreismuseums Wewelsburg 3), Essen 1999. 21 Vgl. hierzu jüngst NATHANAEL RIEMER: Das jüdische Haus in seiner Materialität. In: DERS. (Hg.): Einführungen in die Materiellen Kulturen des Judentums (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur 31), Wiesbaden 2016, 31–72. Der Band beinhaltet u. a. Beiträge zu Synagogen, Friedhöfen, Mikwen und zum Musikleben. Vgl. die Rezension von CORNELIA AUST in: PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e.V. 24 (2018), 166–168.
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Aus der bereits erwähnten Schule von Rolf Kießling hervorgegangen ist Monika Müllers Dissertation zum Problem des Judenschutzes in den jüdischen Gemeinden im Fürstentum Pfalz-Neuburg vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des Alten Reiches. Nach einem kurzen Forschungsüberblick und knappen historischen Hintergrundinformationen geht die Autorin direkt in medias res. In akribischer Kleinarbeit rekonstruiert Müller die Siedlungsgeschichte der kleinstädtischen Juden, die sich wandelnde Praxis der Schutzaufnahme sowie die Ausweisung der Juden aus Pfalz-Neuburg 1552, die im Kontext der Einführung der Reformation und des Versuchs von Pfalzgraf Ottheinrich stand, sein Territorium als protestantischen Musterstaat zu inszenieren. Die Konversion Wolfgang Wilhelms von PfalzNeuburg zum katholischen Glauben 1613 veränderte die konfessionellen Verhältnisse ein weiteres Mal von Grund auf: Nachdem kurzzeitig ein Simultaneum der beiden christlichen Konfessionen bestand, erfolgte ab 1618 die vollständige Rekatholisierung des Territoriums. Im Zusammenhang mit Wolfgang Wilhelms Auseinandersetzung mit den Landständen und der Notwendigkeit, das Steueraufkommen zu erhöhen, erfolgte wohl auch die Wiederzulassung jüdischen Lebens in den Kleinstädten Pfalz-Neuburgs. Welche Rolle dabei die Widerständigkeit der Untertanen gegen die verordnete Konversion spielte, wäre durchaus einer intensiveren Betrachtung wert gewesen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg setzte eine relativ stabile Phase jüdischen Lebens ein, die allerdings wiederholt vom Auszug der Juden aus einzelnen Orten kurzfristig unterbrochen wurde. 1741 wurden die Juden auf Druck der Bevölkerung und der Beamtenschaft erneut des Landes verwiesen; ab den 1760er Jahren siedelten sich dann wieder vereinzelt Familien an. Insgesamt zeigt sich, dass „die ultima ratio schutzherrlichen Entscheidens in Pfalz-Neuburg sich nie nur als bloße Drohung, sondern häufig genug als realistische, über eigene Traditionen verfügende Handlungsoption zeigte – ein Aspekt, der sich in den Nachbarterritorien des Fürstentums in dieser Kontinuität nicht ausprägte.“ (393) Die Rekonstruktion christlich-jüdischen Zusammenlebens in den pfalz-neuburgischen Städten – Handel und Geldgeschäft, gemeinsame Nutzung von Gemeinderessourcen, gemeinsame Wirtshausbesuche, Feiern, Tanzveranstaltungen und Kartenspiele sowie gegenseitige Unterstützung von Christen und Juden im Alltag – weist deutliche Parallelen zu anderen, insbesondere den von Müller häufig zu Vergleichszwecken herangezogenen schwäbischen Territorien auf. Ein zentrales Thema der Arbeit ist das wechselseitige Verhältnis von Raum und Zeit: Ausführlich erörtert werden die Wechselfälle jüdischen Lebens in einem von territorialer Kleinkammerung geprägten Raum sowie Prozesse des Aushandelns von Lebens-, Handels-, Migrations- und Sakralräumen, die gemeinsam genutzt wurden, sich überlappten, gegeneinander abgegrenzt, aber auch immer wieder überschritten wurden. Die jüdischen Protagonisten und ihre Familien bleiben dabei leider ziemlich blass, was den Quellen geschuldet sein mag. Die Frage beispielsweise, wie familiäre Netzwerke Räume prägen konnten, spielt kaum eine Rolle. Die etwa zeitgleich entstandene Trierer Dissertation von Torben Stretz beschäftigt sich mit jüdischem Leben in Mainfranken vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Einleitend führt Stretz in Themenstellung, Methodik
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und Vorgehensweise seiner Arbeit ein, indem er die Frage aufwirft, was eigentlich mit „Juden auf dem Land“ angesichts einer nicht weniger als 152 Städte – darunter die Residenzstadt Wertheim am Zusammenfluss von Tauber und Main – umfassenden Landschaft gemeint sein könnte. Erkenntnisleitend für seine Arbeit sind die Begriffe Inklusion und Exklusion, die eine andere Sichtweise auf die jüdische Geschichte als das Begriffspaar Integration/Segregation ermöglichen. Anschließend gibt Stretz einen umfassenden Überblick über den Forschungsstand, der auch Forschungsergebnisse jenseits des eigentlichen Untersuchungsraums berücksichtigt. Die Arbeitet gliedert sich in fünf Kapitel. Zunächst untersucht Stretz die Rahmenbedingungen jüdischer Existenz, indem er die Herrschaftsverhältnisse und politischen Strukturen des Untersuchungsraumes, der Grafschaft Castell und der Grafschaft Wertheim, erläutert. Daraufhin rekonstruiert er die Siedlungsgeschichte der Juden in der Region. Die Ergebnisse, die in 50-Jahres-Schritten erarbeitet werden, sind zudem in Form von fünf Karten im Anhang visuell aufbereitet. Anschließend werden Reformation und Konfessionalisierung in ihren Auswirkungen auf das christlich-jüdische Zusammenleben in den Blick genommen. Wertheim wurde in der Reformationszeit zunächst evangelisch, nach der Konversion eines Mitglieds des Grafenhauses zum Katholizismus um 1600 aber als Kondominat von Landesherren beider Konfessionen gemeinsam regiert. In der Grafschaft Castell wurde zwischen 1546 und 1559 ebenfalls die Reformation eingeführt; die Grafen orientierten sich eng an Württemberg und wiesen in der Folgezeit die Juden aus dem Territorium aus. Angesichts zahlreicher überlappender Herrschaftsrechte in reichsritterschaftlichen Dörfern stellte der Judenschutz jedoch ein wichtiges Mittel der Herrschaftssicherung dar, und so war jüdisches Leben in der Region weiterhin möglich. Im folgenden Kapitel über Juden als Objekte herrschaftlichen Interesses wendet sich Stretz den rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen zu, unter denen eine Niederlassung möglich war. Anschließend behandelt er die Rolle der Juden in der dörflichen Gemeinschaft. Dabei legt er den Schwerpunkt auf Viehhandel, Weinbau sowie jüdische Handwerke und Ärzte. Ein weiterer Aspekt der Untersuchung ist die Haltung protestantischer Geistlicher gegenüber den Juden. Unter der Überschrift „Exklusion in Fremdzuschreibung und Gewalt“ werden die wirkmächtigen Stereotype Hehlerei, Wucherkontrakte und Viehbetrug, der Topos jüdischer „Landesverderber“ sowie Fälle verbaler und physischer Gewalt untersucht. Inklusionsstrategien werden anhand der Wohnortwahl in den Kondominatsorten, des Judenzolls und der sogenannten Judenwege – Routen abseits der üblichen Handels- und Geleitstraßen – untersucht. Am Beispiel der Familie Öhringer und der Familie des Calman von Lorch stellt Stretz die Genese von Verwandtschaftsnetzen dar. Abschließend befasst er sich mit den sogenannten Hofjuden und den Vorstehern als Vermittlern zwischen Herrschaft und Gemeinde sowie mit der Rolle der Rabbiner. Insgesamt hat Stretz eine wichtige Untersuchung zur jüdischen Geschichte im mainfränkischen Raum vorgelegt, die erstmals die Komplexität jüdischen Lebens in dieser Region zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit auf breiter Quellenbasis vor Augen führt.
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Mit einer mittelfränkischen Gemeinde, der heutigen Marktgemeinde Uehlfeld im Landkreis Neustadt an der Aisch–Bad Windsheim, befasst sich Gisela Naomi Blumes historisch-topographische Rekonstruktion eines lokalen jüdischen Raums. Blume gibt einleitend einen kurzen Abriss der Geschichte dieser Gemeinde, die wohl schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts jüdische Familien beherbergte. Denn 1583 verfügte Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach die Ausweisung der dort lebenden Juden; erst nach der Herrschaftsübernahme durch Markgraf Joachim Ernst 1603 konnten diese wieder zurückkehren. Zwischen 1633 und 1676 gibt es keine Belege für die Anwesenheit von Juden, doch von den späten 1670er Jahren an ist jüdisches Leben in Uehlfeld bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein kontinuierlich belegt. Das besondere Augenmerk des Buches gilt zwei Typen jüdischer Räume: dem Friedhof als Ort der Verstorbenen und den Wohnhäusern als Orten der Lebenden. Zunächst rekonstruiert Blume die Geschichte des jüdischen Friedhofs, beschreibt die noch vorhandenen Grabsteine und bietet eine Übersetzung der Inschriften. In Form von Stammtafeln stellt sie die in Uehlfeld lebenden Familien vor. Ausgehend vom Katasterplan von 1828 entwickelt sie anschließend eine Häuserchronik von Alt-Uehlfeld, in der die Geschichte der einzelnen Gebäude und ihrer Eigentümer nachvollziehbar wird. Das Buch ist ein umfassendes Nachschlagewerk zu den jüdischen Familien des Ortes sowie ihren Heirats- und Migrationsmustern. Es spiegelt überdies die enge Verflechtung christlicher und jüdischer Lebenswelten wider, die typisch für fränkische Gemeinden vor der Shoah war. Mit diesem Band geht Blume im Vergleich mit ihrer 2013 erschienenen Bestandsaufnahme des Friedhofs von Obernzenn22 noch einen Schritt weiter. Hier wie dort wird wichtiges prosopographisches Material für die jüdische Geschichte des mittelfränkischen Raums bereitgestellt, doch mit der Uehlfelder Häuserchronik wird überdies die lokale christlich-jüdische Topographie detailliert erschlossen. Mittelfranken bildet auch das Untersuchungsgebiet von Stefanie Fischers Berliner Dissertation „Ökonomisches Vertrauen und antisemitische Gewalt“. Im Zentrum steht ein wichtiges Thema deutsch-jüdischer Geschichte, der jüdische Viehhandel auf dem Lande, der hier aus kultur- und wirtschaftshistorischer Perspektive beleuchtet wird. Während ein geringer Teil der von der Autorin dem Landjudentum zugeordneten Gruppe als „Schmuser“ tätig war und nur kleinere Geschäfte im Umfang von ein bis zwei Tieren pro Woche tätigte, handelte es sich bei der Mehrzahl der Händler um mittelständische Unternehmer, und einige können sogar als Großhändler gelten. Sie ermöglichten den Bauern durch das Einstellen von Vieh dessen Nutzung, sie kauften und verkauften Tiere, belieferten Metzger in Stadt und Land und versorgten ihre Kunden mit Informationen, aber auch mit Krediten innerhalb einer eng begrenzten Region. Mittelfranken eignet sich in mehrfacher Hinsicht als Untersuchungsgebiet für eine Studie zum jüdischen Viehhandel. Die strukturschwache Agrarregion mit meist kleinbäuerlichen Höfen und einer überwiegend protestantischen Einwohner22 GISELA NAOMI BLUME: Der jüdische Friedhof in Obernzenn 1613–2013 (= Freie Schriftenfolge der Gesellschaft für Familienforschung in Franken 24), Nürnberg 2013.
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schaft sowie einer seit Jahrhunderten ansässigen jüdischen Bevölkerung zeigte unter Gauleiter Julius Streicher schon frühzeitig eine hohe Affinität zum Nationalsozialismus. Allerdings konnten die Nationalsozialisten auch in dieser Region erst nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise auf breiter Basis Fuß fassen. Seit Ende der 1920er Jahre verzeichnete die NSDAP hier überdurchschnittliche Wahlergebnisse, und schon zu dieser Zeit fanden erste antijüdische Hetzjagden statt. In Gunzenhausen beispielsweise erhielt die Partei 1933 über 67 Prozent der Stimmen – ein Ergebnis, das 20 Prozentpunkte über dem Reichsdurchschnitt lag23! 1930 veröffentlichte der „Stürmer“ einen Artikel über die „Kipperjuden“, die die Bauern angeblich betrügen und christliche Frauen vergewaltigen würden. Namentlich genannt wurde hier u. a. Falk Stern, der Großvater des 1923 geborenen späteren amerikanischen Außenministers Henry Kissinger (189). Die Gewaltaktionen der Nationalsozialisten im evangelischen Franken fielen besonders exzessiv aus, so dass die ländliche jüdische Bevölkerung zwischen 1933 und 1939 um 95,2 Prozent zurückging, was weit über dem bayerischen Durchschnitt von 41 Prozent lag (287). Warum die Zuspitzung antisemitischer Gewalt ausgerechnet in einer Region stattfand, in der jahrhundertelang Christen und Juden auf engstem Raum zusammengelebt hatten, ist eine Frage, auf welche auch die vorliegende Arbeit letztlich keine Antwort geben kann. Fischers spannende und lesenswerte Untersuchung leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des christlich-jüdischen Mit- und Gegeneinanders vor der Shoah. Ihr gelingt es, die Rolle der Viehhändler in einer seit Jahrhunderten von jüdischen Menschen besiedelten ländlichen Region über zwanzig entscheidende Jahre hinweg plastisch darzustellen und die Inklusions- und Exklusionsmechanismen klar herauszuarbeiten. Die exemplarisch dargestellten Schicksale einzelner Familien, ihre gesellschaftliche Ausgrenzung und ihr Überlebenswille spiegeln die ganze Bandbreite jüdischer Existenz in der Zeit des Nationalsozialismus wider. Ein Ausblick auf die weiteren Lebenswege derjenigen Individuen und Familien, denen die Flucht gelang, rundet das Buch ab. Mit Aspekten jüdischer Wirtschaftsgeschichte beschäftigt sich auch die an der University of Pennsylvania entstandene Dissertation von Cornelia Aust. Sie tut dies allerdings aus einer geographisch weiter gefassten mitteleuropäischen Perspektive und für die Vor- und Frühmoderne. Aust stellt sich die Frage, wie es Juden im 19. Jahrhundert möglich war, im Bankwesen Zentral- und Osteuropas eine prominente Rolle einzunehmen. Wo lag der Ursprung dieser Entwicklung, der zugleich den Übergang vom frühneuzeitlichen Hofjudentum zu einer neuen Handels- und Bankenelite markierte? Ziel ihrer Studie ist es, die Rolle jüdischer Kaufleute und Unternehmer in der europäischen Wirtschaft aufzuzeigen und gleichzeitig deren Strategien beim Auf- und Ausbau geschäftlicher Beziehungen zu unter23 Vgl. zur Region auch GUNNAR OCH, HARTMUT BOBZIN (Hg.): Jüdisches Leben in Franken. Aneignung – Abgrenzung – Gegenentwürfe, Würzburg 2002; THOMAS MEDICUS (Hg.): Verhängnisvoller Wandel. Ansichten aus der Provinz 1933–1949, Hamburg 2016; WOLFGANG MÜCK: NS-Hochburg in Mittelfranken. Das völkische Erwachen in Neustadt an der Aisch 1922–1933, Neustadt an der Aisch 2014.
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suchen. Als Quellen dienen ihr obrigkeitliches und notarielles Schriftgut aus zahlreichen polnischen, deutschen und niederländischen Archiven sowie den „Central Archives of the History of the Jewish People“ in Jerusalem und der „Maimonides Library“ in Tel Aviv. Außerdem wertet sie Familienpapiere der Familie Schlesinger aus Frankfurt an der Oder aus. Den Verflechtungen innerhalb der jüdischen Wirtschaftselite in der zweiten Hälfte des 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geht Aust anhand einzelner Familien sowie ihrer verwandtschaftlichen und geschäftlichen Netzwerke nach. Ihr wirtschaftliches Betätigungsfeld dehnte sich, ausgehend von Amsterdam, im Laufe der Zeit immer weiter ostwärts aus: zunächst nach Frankfurt an der Oder, dann in die Grenzregionen der im Zuge der Teilungen Polens von Preußen annektierten Gebiete, anschließend nach Praga, einer kleinen Stadt an der Vistula, und schließlich auf die andere Seite des Flusses in die polnische Hauptstadt Warschau. Hier – wie auch im Buch von Stefanie Fischer – spielt der Faktor Vertrauen eine zentrale Rolle, denn die Bedeutung von Vertrauen, das stabile Handelsbeziehungen über größere Distanzen erst ermöglicht, ist spätestens seit Francesca Trivellatos Buch über die Beziehungen eines sephardischen Handelshauses in Livorno24 und eines internationalen Sammelbandes zum Verhältnis von Handel und Religion25 ein zentrales Thema auch der jüdischen Wirtschaftsgeschichte. Aust greift dieses Thema auf und erweitert das in diesen Studien formulierte Konzept des sozialen und kulturellen Kapitals um den Aspekt der familiären und religiösen Zusammengehörigkeit der aschkenasischen Juden, die erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts brüchig zu werden begann. Die Heiratsverbindungen, welche die Basis von Vertrauensbeziehungen bildeten, folgten sorgfältigen finanziellen und persönlichen Erwägungen. Sie dienten neben der ökonomischen auch der rechtlichen Absicherung (in Form des Schutzstatus) und ermöglichten die Migration einzelner Familienmitglieder, durch deren Neolokalität wiederum neue Märkte erschlossen werden konnten. Religiöse Aspekte beeinflussten diese Allianzen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert jedoch in zunehmendem Maße. Einzelne Protagonisten schlossen sich der Haskala an, andere fühlten sich eher den Chassidim zugehörig, während wiederum andere konvertierten. Dass diese divergierenden Entscheidungen mitunter innerhalb ein und derselben Familie getroffen wurden und diese dadurch in religiöser Hinsicht gespalten werden konnte, wird exemplarisch an der Familie Jakubowiczo gezeigt. Mit ihrer transnational und transregional ausgerichteten Untersuchung zur Übergangsphase zwischen Merkantilismus und beginnendem Kapitalismus ist Cornelia Aust eine Pionierstudie der modernen jüdischen Wirtschaftsgeschichte gelungen. Lina Mareike Dederts Potsdamer Dissertation verfolgt die Geschichte der jüdischen Familie Weill-Sonder vom 18. Jahrhundert bis in die 1990er Jahre und 24 FRANCESCA TRIVELLATO: The Familiarity of Strangers. The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period, New Haven/London 2009. 25 FRANCESCA TRIVELLATO, LEOR HALEVI, CÁTIA ANTUNES (Hg.): Religion and Trade. CrossCultural Exchanges in World History, 1000–1900, Oxford 2014.
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vom badischen Kippenheim, wo sie im 18. und 19. Jahrhundert ansässig war, über Mannheim nach New York. Dabei versucht sie, „auf fruchtbare Weise Sozial-, Mentalitäts- und Alltagsgeschichte mit einer Familienhistorie“ zu verbinden, was trotz einer breiten Quellenbasis jedoch nicht wirklich gelingt. Dazu wird diese interessante transatlantische Familiengeschichte viel zu allgemein und unspezifisch kontextualisiert; die Ausführungen wirken oft unzusammenhängend und verbleiben mitunter im Spekulativen. Immerhin gibt die Arbeit einige Anregungen, wie eine jüdische Familiengeschichte Migrations- und soziale Aufstiegsprozesse exemplifizieren könnte. Wie Dedert verfolgt auch Martina G. Herrmanns Buch „Sophie Isler verlobt sich“ einen familiengeschichtlichen Ansatz. Der pensionierten Gymnasiallehrerin ist damit ein wunderbares Buch gelungen, das trotz seines wissenschaftlichen Anspruchs fast romanhafte Züge trägt. 4 000 Familienbriefe, die zwischen 1827 und 1888 entstanden und sich im Privatbesitz der weiteren Familie der Autoin befanden, heute aber in den „Central Archives for the History of the Jewish People“ in Jerusalem und als Transkriptionen im „Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg“ liegen, bilden die Grundlage dieses Werks. Im Zentrum stehen die Brautbriefe der Hamburgerin Sophie Isler (1840–1920) und ihres späteren Mannes, des Braunschweiger Juristen Otto Magnus (1836–1920), aus dem Jahr 1867. Um diese Korrespondenz herum entwickelt Herrmann eine Familiengeschichte, die den Akkulturationsprozess der jüdischen Oberschicht auf dem Weg ins deutsche Bürgertum exemplarisch am Beispiel dreier Generationen erzählt. Dreh- und Angelpunkt der Erzählung ist die Mutter der Braut, Emma Isler (1816– 1886), deren Emanzipationsbestrebungen für Frauen des 19. Jahrhunderts wegweisend waren und die sowohl der Gleichstellung von Mann und Frau als auch der intellektuellen und beruflichen Ausbildung von Mädchen zentrale Bedeutung beimaß. Ihre Tochter wurde in diesem Sinne erzogen und vollzog mit ihrer Eheschließung den Schritt in eine weibliche bürgerliche Existenz, die der Prozess der Judenemanzipation ihr und später ihren Kindern ermöglichte. Die Quellengattung der Familienbriefe erschließt eine Vielfalt an Themen, die in Form von Vor- und Rückblenden aufgegriffen werden. Eheanbahnung, Verlobungszeit und die Planung eines eigenen Hausstandes werden hier ebenso thematisiert wie familiäre Konstellationen, der Wandel der Frauen- und Mädchenbildung, religiöse Einstellungen, politische Konflikte sowie die Chancen und Grenzen der Akkulturation in die christliche Mehrheitsgesellschaft. Politische und gesellschaftliche Entwicklungen werden aus der Perspektive einer jüdischen Familie plastisch reflektiert. Die farbliche Hervorhebung der Quellenzitate im Fließtext lässt schon auf den ersten Blick erkennen, wo die Narration der Autorin mit dem O-Ton der Quellen abwechselt. Generell ist das Buch überaus ansprechend gestaltet. Kurzbiographien von Frauen aus dem Umkreis Sophie Islers sowie ein Stammbaum im Anhang erleichtern dem Leser die Einordnung der erwähnten Personen. Eine völlig andere Perspektive auf die Thematik der Judenemanzipation eröffnet die Potsdamer Dissertation von Michał Szulc (Michael K. Schulz) zur Judenpolitik zwischen 1807 und 1847 in Danzig, damals einer der bevölkerungsreichsten Städte Mitteleuropas. Wie andernorts in Mitteleuropa verlief die Emanzipation hier
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nicht geradlinig, sondern zog sich in einer Reihe von Einzelschritten über mehrere Jahrzehnte hin. Das preußische Judenedikt von 1812, das nach der Wiedereingliederung Danzigs auch auf die Stadt übertragen wurde, sicherte den Juden Freizügigkeit und Gewerbefreiheit zu – Freiheiten, die sich jedoch nicht mit den Vorstellungen der Stadtverwaltung deckten, die die Juden für den „Untergang“ des polnischen Stadtbürgertums und den Zerfall Polens mitverantwortlich machte. In einer revisionistischen Phase ab 1818 kam es zur Einschränkung des Niederlassungsrechts für Juden und zur Beschränkung ihrer Handelstätigkeit. Konflikte zwischen jüdischen und christlichen Besuchern des Dominik-Marktes, die seit längerem schwelten, brachen 1819 in den antijüdischen Hep-Hep-Unruhen, die sich von Süddeutschland aus nach Norden ausbreiteten und im September Danzig erreichten, offen aus. 1821 kam es erneut zu lokalen Ausschreitungen gegen die jüdische Minderheit, die sich gegen deren sozialen Aufstieg, wirtschaftlichen Einfluss und politische Gleichberechtigung richteten. In den folgenden Jahren wurden intensive Debatten über die Integrationsfähigkeit der jüdischen Bevölkerung geführt, ab 1830 zunehmend auch im öffentlichen Raum. Hierbei spielte die Presse eine wichtige Rolle. Im Laufe dieser Debatten zeichnete sich allmählich eine wachsende Akzeptanz der Juden als gleichwertige Mitglieder der Danziger Stadtgesellschaft und eines religiös pluralistischen städtischen Raums ab. Rechtliche Aspekte jüdischer Existenz stehen im Zentrum der Arbeit der 2017 verstorbenen Wiener Historikerin Hannelore Burger, die einen Überblick über die Entwicklung des Staatsbürgerschaftsrechts österreichischer Juden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vorgelegt hat. Ihre Studie beginnt mit einem Rückblick auf die Stellung der Juden in Mittelalter und Früher Neuzeit, wobei die Verwendung des Begriffs „Antisemitismus“ für diese Zeit irritiert (22). Die Toleranzpatente Kaiser Josephs II. bewirkten in den 1780er Jahren erste Verbesserungen der Rechtsstellung der jüdischen Bevölkerung, die jedoch in den einzelnen Ländern der Habsburgermonarchie unterschiedlich umgesetzt wurden. Daraufhin setzte ein Prozess der Assimilation ein, der wie in Deutschland von zahlreichen Konversionen zum Christentum begleitet war. Im Zuge der Revolution von 1848/49 verbesserten sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für die jüdische Bevölkerung nur kurzfristig, da die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Gleichstellung der Konfessionen mit dem Reichsbürgerschaftsrecht wieder beschnitten wurden. Erst seit 1859 durften Juden Grundbesitz erwerben, und erst mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 und den interkonfessionellen Gesetzen des folgenden Jahres erhielten sie die vollen staatsbürgerlichen Rechte. Der Zuzug von Juden in die Großstädte wird am Beispiel Wiens analysiert, wobei Burger vor allem statistisches Material heranzieht, das 1908 vom Bureau für Statistik der Juden herausgegeben wurde. Insbesondere die Migration ungarischer Juden, die sich einbürgern ließen und das Heimatrecht erwarben, führte zu einem signifikanten Anstieg des jüdischen Bevölkerungsteils Wiens. Das Staatsbürgerrecht förderte in dieser Phase die Identifikation jüdischer Menschen mit der Donaumonarchie. Der wachsende Nationalismus und die Auflösung des Habsburger Vielvölkerstaates 1918 stellten die Zugehörigkeit der jüdischen Bevölkerung allerdings in Frage, und die Juden waren gezwungen, sich einer bestimmten Sprachgemeinschaft
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und Nationalität zuzuordnen. Am Beispiel Franz Kafkas wird das Problem der sprachlichen Zugehörigkeit analysiert, und anhand der Armenfürsorge – die an das Heimatrecht gekoppelt war, was zu fehlender Rechtssicherheit führte – zeigt sich ein zentrales Dilemma des sich entwickelnden modernen Staates. An die Analyse der Aus- und Einbürgerungen im österreichischen Ständestaat schließt sich eine umfangreiche Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus an. Entrechtung und Ausbürgerung setzten laut Burger eine „in einem Zeitraffer vorgenommene Umkehrung des Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden Emanzipationsprozesses“ (12) in Gang, der in Enteignung und physischer Vernichtung kulminierte. Die Ausbürgerung der österreichischen Juden durch das NS-Regime erschwerte diesen auch nach Kriegsende die Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft und die Restitution ihres Vermögens. Das Schicksal der „Staatenlosen“ nach dem Zweiten Weltkrieg wird unter anderem anhand der Schriftsteller Elias Canetti und Manès Sperber veranschaulicht. Burgers Buch bietet eine systematische Zusammenfassung ihrer jahrelangen Forschungen und ist für das Verständnis der rechtlichen Situation mitteleuropäischer Juden von großer Bedeutung. Eher in den Bereich der regionalen Erinnerungsarbeit lässt sich der Band „Es war noch einmal ein Traum von einem Leben“ des Publizisten Manfred Bosch und des pensionierten Lehrers und Kommunalpolitikers Oswald Burger einordnen, der sich den Schicksalen jüdischer Menschen im Bodenseeraum in den 1930er Jahren widmet. In dieser Zeit wurde die Region um den Bodensee, besonders die Halbinsel Höri, zur Zufluchtsstätte zahlreicher von den Nationalsozialisten verfemter Künstler wie Heinrich Nauen, Ewald Mataré, Helmut Macke, Erich Heckel und Max Ackermann. In Hemmendorf lebte seit 1933 der von den Nationalsozialisten entlassene Leiter der Düsseldorfer Kunstakademie Walter Kaesbach, und 1936 ließ sich der Maler Otto Dix dort nieder. Die Nähe zur Schweiz schien den vom Nationalsozialismus aus ihrer beruflichen Bahn Geworfenen einen Ausweg zu eröffnen, falls der Druck des Regimes unerträglich wurde. Weniger bekannt ist der Zuzug von Künstlern, Kaufleuten und Intellektuellen mit jüdischen Wurzeln, darunter der katholische Kunsthistoriker, Schriftsteller und Maler Kurt Badt, der 1932 nahe Salem das Gut Rimpartsweiler erwarb, um dort Obstbau und Landwirtschaft zu betreiben. Manfred Bosch und Oswald Burger, die sich beide um die Aufarbeitung der (vor allem jüdischen) Geschichte der Region verdient gemacht und mit einer Ausnahme alle Kapitel des Bandes verfasst haben, erinnern an das Schicksal dieser Personen jüdischer Herkunft. In der Einleitung wenden sie sich zunächst allgemein dem Thema „Juden und Landwirtschaft“ zu. Dass nur wenige Juden diese Erwerbsform wählten, führen sie auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse nach der Emanzipation und die Abwanderung aus den Judendörfern in die Städte zurück. Das Landjudentum sei damit „zum historischen Verlierer“ und zur „ungeliebten Erinnerung an die eigene Herkunft“ (11) geworden. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Wiederentdeckung ländlicher Lebensformen durch bildungsbürgerliche und akademisch geprägte Schichten, die sich intensiv mit Jugendbewegung, Lebensreform, Vegetarismus und Naturschutz auseinandersetzten. Burger und Bosch bezeichnen ihr Buch als „notwendigerweise unsyste-
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matische Überblicksdarstellung“, die „zugleich aber eine erste regionale Annäherung an ein Thema [sei], das bislang ein Desiderat soziologischer Judentumsforschung“ darstelle (149). Die Annäherung an das Thema erfolgt über neun Portraits, von denen hier drei exemplarisch vorgestellt werden. Boschs Beitrag über den Juristen, Kunstsammler und Zeitungsverleger Udo Rukser und seine jüdische Frau Dora Richter-Rothschild stellt ein Ehepaar vor, das sich nach der NS-Machtübernahme auf den Schienerberg bei Radolfzell zurückzog, wo sie sich dem Obstbau widmeten und ein offenes Haus führten. Zu den regelmäßigen Gästen gehörten Walter Kaesbach, Heinrich Nauen und Ewald Mataré. Der jüdische Zeichner Walter Trier, der u. a. im „Simplicissimus“ veröffentlicht hatte, und seine Tochter Gretel fanden vor ihrer Emigration hier Unterschlupf. Nach den Pogromen im November 1938 verließ das Ehepaar Deutschland in Richtung Chile, wo sie sich auf einer Farm niederließen und die „Deutschen Blätter“ gründeten. Oswald Burger beschreibt den Lebensweg des jüdischen Gärtners Julius Ehrlich und seiner Frau, der im evangelischen Glauben erzogenen Lilli, geb. Landé, die von 1924 bis zu ihrer Emigration 1937 im Winkelhof bei Untersiggingen ein Kinderheim im Geist der Lebensreformbewegung betrieben. Unter dem Einfluss von Reformpädagogik, Wandervogelbewegung und Vegetarismus hatte Lilli, die ausgebildete Lehrerin und Erzieherin war, im Ersten Weltkrieg ein Landerziehungsheim für Pflegekinder im Landkreis Neumark geführt, das 1918 nach Buchenbach im Schwarzwald verlegt wurde, weil die Region an Polen fiel. 1921 gründete sie mit Käthe Hamburg den „Verein für Kinderlandheime“. Nach einer Zwischenstation in Unterbaldingen und ihrer Heirat zog sie mit ihrem Mann nach Untersiggingen, wo sie die schulpflichtigen Kinder selbst unterrichtete. 1937 verkaufte das Ehepaar sein Anwesen und wanderte mit den beiden eigenen sowie einem Pflegekind nach Palästina aus. Der Herforder Lehrer Christoph Knüppel schließlich stellt den aus einer Familie von Textilkaufleuten stammenden Hugo Landauer (1868–1933) vor. Dieser hatte 1902 das Gut Höllwangen bei Überlingen erworben, verkaufte dieses aber bereits nach drei Jahren wieder und kehrte in seinen Beruf als Kaufmann zurück. 1917 erwarb er den Hombergerhof bei Überlingen sowie das Daisendorfer Gut und 1919 den Löwenhof in Stadel bei Markdorf. Während letzterer von seinem Stiefsohn Hermann Landauer bewirtschaftet wurde, wurden die anderen Güter in Obstbaubetriebe umgewandelt. Landauer beschäftigte u. a. einen Chauffeur, einen Gärtner, eine Hauslehrerin, eine Köchin und kaufmännische Angestellte. Zudem gab er seit 1920 eine landwirtschaftliche Zeitung heraus, die aber aufgrund geringer Absatzzahlen bereits ein Jahr später eingestellt wurde. Der Beitrag rekonstruiert zudem die familiären Beziehungen der weitverzweigten Familie Landauer, zu der auch der 1919 von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten in Stadelheim ermordete sozialistische Schriftsteller Gustav Landauer (1870–1919), ein Bruder Hugos, gehörte. Die weiteren Kapitel widmen sich den Lebensgeschichten von Erich und Lisel Bloch, Werner Haberland, Eva und Georg Licht, Fritz und Johanna Wohlgemuth, Kurt Badt sowie Ludwig und Fanny Erlanger. Jedes dieser Lebensschicksale ist es zweifellos wert, festgehalten zu werden; die Form der Darstellung erscheint je-
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doch problematisch. Den Beiträgen fehlt eine wissenschaftliche Fragestellung und die Verortung in der modernen Forschung. Verbindungen zwischen den einzelnen Biographien werden nicht systematisch gezogen, was zu zahlreichen Redundanzen und Wiederholungen führt. Strukturelle Aspekte wie die Herkunft aus dem Bildungsbürgertum, die gemeinsamen Erfahrungen und gegenseitigen Kontakte der Protagonisten oder die Erwartungen, die sie mit dem Rückzug an den Bodensee verbanden, hätten viel deutlicher herausgearbeitet werden können. Die Problematik, dass zum Christentum konvertierte Juden im Nationalsozialismus wieder als „jüdisch“ galten, wird sprachlich mitunter unglücklich ausgedrückt (204). Das Buch hinterlässt somit einen ambivalenten Eindruck. Die individuellen Portraits sind äußerst interessant, doch handelt es sich m. E. nicht um „Schicksale jüdischer Landwirte“, sondern um jüdische Deutsche – oder christliche Deutsche mit jüdischen Vorfahren – aus dem gebildeten Bürgertum, die einen ländlichen Rückzugsraum suchten. Gemeinsam mit den verfemten Künstlern, die sie zum Teil persönlich kannten und deren Werke sie mitunter sammelten, hofften sie ein Refugium im abgelegenen deutschen Südwesten zu finden. Die jüdischen Deutschen waren allerdings spätestens nach der Reichspogromnacht auch hier nicht mehr sicher und entschlossen sich daher zur Auswanderung. Hier wäre eine stärkere Kontextualisierung nötig gewesen. Die Darstellung ihres Kampfes um die Restitution ihres Vermögens hätte deutlich gestrafft werden können. Eine Analyse der Problematik des Verlusts des Staatsbürgerrechts, wie sie Hannelore Burger für Österreich bietet, fehlt hingegen ganz, so dass die individuellen Schicksale für sich stehen bleiben. Die Literaturbasis schließlich ist äußerst selektiv und nicht auf dem Stand der aktuellen Forschung. Einen Einblick in die Arbeit des Simon-Dubow-Instituts in Leipzig vermittelt schließlich der Sammelband zu jüdischen Wissenskulturen. Er fasst die Ergebnisse eines durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Teilprojekts des Verbundprojekts „Kommunikationsräume des Europäischen“ zusammen, die 2009 auf einer Tagung in Leipzig vorgestellt wurden. 15 Beiträge widmen sich aus interdisziplinären Perspektiven transterritorialen jüdischen Netzwerken, die Wissensbestände über geographische Distanzen und kulturelle Grenzen hinweg transportierten. Simone Lässig beschreibt die Integration der Juden in das Bürgertum zwischen 1750 und 1850 und betont dabei die Rolle der Freischulen, die den männlich und religiös konnotierten Raum der Schule in einen stärker individuellen Lernraum transformierten. Miriam Tulin beschäftigt sich mit jüdischen Gelehrtennetzwerken, die Kommunikation über weite Distanzen und kulturelle Grenzen hinweg pflegten und damit Teil einer allgemeinen europäischen Entwicklung waren. Die vier folgenden Beiträge behandeln Aspekte europäischer Wissenskulturen um 1900. Judith Ciminski thematisiert die Entstehung der jüdischen Statistik und ihre Bedeutung für die Definition jüdischer Identität. Tobias Metzler analysiert am Beispiel des Londoner East End die Inklusions- und Exklusionsmechanismen gegenüber osteuropäischen Juden. Olaf Terpitz zeigt anhand russischer Feuilletons die Rolle jüdischer Journalisten und die Rezeption ihrer Texte auf. Hansjakob Ziemer zeichnet nach, wie der Musikkritiker Paul Bekker das Feuilleton als Medium der Weltbeschreibung und Welterklärung nutzte.
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Hans-Joachim Hahn behandelt unter der Überschrift „Athen und Jerusalem“ den Wandel jüdischer Europa- und Palästinadiskurse im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei zeigt er, wie ein positives Bild von Europa als Ort der jüdischen Diaspora infolge des Holocaust brüchig wurde. Susanne Marten-Finnis stellt die Medienlandschaft in Czernowitz zwischen 1918 und 1940 sowie die sich darin spiegelnde jüdische Teilöffentlichkeit vor. Johannes Wiggering beleuchtet die Rolle der Juden in der Bildungslandschaft der Weißrussischen Sozialistischen Republik. Die sechs folgenden Aufsätze setzen sich mit den Auswirkungen der Zerstörung jüdischer Wissenskulturen im Zweiten Weltkrieg auseinander. Im Einzelnen befassen sie sich mit den jüdischen Gemeinden und dem jüdischen Kulturerbe in Frankfurt am Main (Tobias Freimüller) und Leipzig (Hendrik Niether), dem Soziologen und Philosophen Helmuth Plessner (Monika Boll), den Beziehungen zwischen Max Horkheimer und Jürgen Habermas (Werner Konitzer) und der Rezeption der Kritischen Theorie in den Vereinigten Staaten (Robert Zwarg). Elisabeth Kohlhaas zeigt Defizite in den Lehrplänen und Schulbüchern zur europäischjüdischen Geschichte, vorwiegend anhand sächsischer Schulbücher und Curricula, auf. „Europa als ein nicht territorial gedachter Raum der Vernetzung und der Differenz“ (291) finde darin kaum Widerhall. Unterm Strich geben die Beiträge zahlreiche Denkanstöße zu einer transnationalen Geschichte jüdischer Wissenskulturen und erhellen dieses Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Das Spektrum aktueller Forschungen und Publikationen zur jüdischen Geschichte Mitteleuropas ist somit denkbar breit und reicht von – im positiven Sinne – heimatkundlichen Arbeiten, die substantielle Beiträge zur lokalen und regionalen Erinnerungsarbeit leisten, über (familien)biographische, wirtschafts-, rechtsund sozialgeschichtliche bis zu kultur- und wissenshistorischen Studien. Während sich viele Arbeiten nach wie vor an lokalen, territorialen und nationalen Grenzen orientieren – was bei Themen wie dem frühneuzeitlichen Judenschutz oder der Entwicklung des modernen Staatsbürgerrechts naheliegt –, ist auch ein wachsendes Interesse an transregionalen und transnationalen Verflechtungen zu beobachten, die sich häufig in Familienbiographien exemplarisch widerspiegeln. Im Wechselspiel lokaler, territorialer, regionaler, nationaler und transnationaler Perspektiven wird nicht zuletzt die Eigenlogik und Dynamik jüdischer Räume deutlich, die eine wichtige und spannende Forschungsaufgabe bleibt.
REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN
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1. Epochenübergreifend MARK HÄBERLEIN, ROBERT ZINK (Hg.): Städtische Gartenkulturen im historischen Wandel (= Stadt in der Geschichte 40). Ostfildern: Thorbecke 2015, 240 S., 38 teilw. farb. Abb., (ISBN 978-3-7995-6440-3), 29,00 EUR. Der Band mit den Berichten der 51. Arbeitstagung des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung aus dem Jahre 2012 enthält nach einer Einführung von Mark Häberlein und einem Essay von Marie-Theres Tinnefeld neun Artikel zu Gärten vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart; am Ende finden sich Kurzbiographien der AutorInnen, ein Orts- und Personenregister. Der Tagungsort Bamberg weist mit den Klosterund Residenzgärten ein reiches gartenhistorisches Erbe auf – wie u. a. den Prachtcodex des Hortus Eystettensis in der Staatsbibliothek (62, 86). In seiner Einführung bietet Häberlein eine ausführliche Bibliographie zur Gartenkunst seit der Renaissancezeit, mit wenigen Titeln zur Mediävistik. Er nimmt Bezug auf interdisziplinäre Forschungen zu künstlerischen und literarischen Gartendiskursen, zur Landschaftsarchitektur und Rekonstruktion historischer Gärten, zu den klassischen Themen der Gärten und Parks als Orten der Produktion und der Rekreation. Die neun Artikel gliedern sich in drei Themenkomplexe: I. Gärten als Bildungs- und Wirtschaftsräume (Michaela Schmölz-Häberlein, Jochen Alexander Hofmann, Hubertus Habel), II: Gärten als Räume der Kunst und Erholung (Christiane Lauterbach, Ulrich Rosseaux, Stefan Schweizer und Catharina Raible); III. Gärten als Lebensräume (Gisela Mettele und Marie-Luise Egbert). Mit der Entdeckung der Neuen Welt und den Transatlantikfahrten tritt in den Gärten als Laboratorien für Neuzüchtungen und Pflanzenverbesserung ein markanter Wandel ein, dem sich Michaela Schmölz-Häberlein widmet: „Außereuropäische Pflanzen in realen und imaginären Gärten des 16. Jahrhunderts“. Der materialreiche Artikel beginnt mit dem Samentausch unter Kaufleuten und Wissenschaftlern am Beispiel einer Samenbestellung des Augsburgers Hans Fugger in Italien und berührt den in der Römerzeit (in der die Bitterorange und Zitronatszitrone schon bekannt waren, siehe etwa Palladius) und erneut im Mittelalter erkennbaren Transfer mediterraner Pflanzen in den süd- und mitteleuropäischen Raum. Bezüglich der Systematik der Herbarbücher des 16. Jahrhundertds müsste m. E. aus interdisziplinärer Sicht, welche die Botanik einschließt, genauer nach der Qualität des Wissenszuwachses gefragt werden. Denn dieser war, wie schon Greene feststellte, nicht lediglich eine Folge der exponentiellen Zunahme „neuer“ Pflanzen, sondern veränderter – d. h. u. a. auf morphologische Details der Pflanzen, den Wachstumszyklus wie auch ihre Ansprüche und ihr Habitat gerichteter – Beobachtungs- und Ordnungskriterien (EDWARD LEE GREENE: Landmarks of Botanical History. Hg. von FRANK N. EGERTON. 2 Bde., Stanford 1983). Jochen Alexander Hofmann setzt das Thema der Pflanzeninnovation am Beispiel der Kartoffel und des Tabaks fort. Er führt den Leser in die Gärten und den Gartengürtel im städtischen Vorland u. a. Nürnbergs und diskutiert die konfligierenden Interessen von Akteursgruppen. An dem bekannten Beispiel eines Zehntstreits zwischen Bauern und dem Ortspfarrer in Pilgramsreuth zeigt er auf, welche agrartechnischen und nutzungsrechtlichen Umwälzungen mit der nach 1648 erfolgten Einführung dieses Nachtschatten-
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Rezensionen und Annotationen
gewächses (zuerst nur Viehfutter) verbunden waren. Die mehrschichtigen Probleme (wie die Zehntpflicht) entstanden am Übergang vom privaten Anbau in Gärten zum feldmäßigen Anbau. Wurde die Kartoffel auf der Brache angebaut, so tangierte dies die Praxis der Brachweide in dieser Nutzungszone. Nach Ansicht der Rezensentin ist die Erforschung der Sozialgeschichte und der ökonomischen Praxis des städtischen Gartenbaus nach wie vor ein Desiderat; umso relevanter ist Hubertus Habels Untersuchung des Bamberger Gärtnerhandwerks zwischen 1600 und 1900, von den Anfängen der Zunftbildung bis hin zur Deklarierung der Gärtnerei als freies Gewerbe und der Gründung eines die Gärtner aller Stadtteile umfassenden Vereins 1863. Mit ihren Spezialitäten, der Produktion von Samen (Zwiebeln etc.) wie auch von Süßholz, stellten die Bamberger Gärtner ein Exportgut von Renommee her, und es galt, die Konkurrenz durch Stümpler, die minderwertige Produkte vermarkteten, zu verhindern und obrigkeitlich legitimierte, gültige Satzungen zu entwickeln. Der im Band relativ isoliert stehende Beitrag Habels ruft nach reichsweiten Vergleichen – etwa mit Blick auf Städte wie Straßburg und Colmar, deren Gewerbeprofil ebenfalls auf den Export mit Nahrungs- und Gewerbepflanzen und insbesondere Wein ausgerichtet ist (vgl. jüngst auch NIELS PETERSEN: Die Stadt vor den Toren. Lüneburg und sein Umland im Spätmittelalter, Göttingen 2015). Zur Stadt-Land-Beziehung nimmt Christiane Lauterbach in ihrer kunstgeschichtlichen Untersuchung Stellung. Im Goldenen Zeitalter der Niederlande kommt dem Landgut in der Raumorganisation des städtischen Umlands eine auch literarisch gerühmte Rolle als Ort der Repräsentation städtischer Eliten zu. Im Vollzug des „glückseligen Landlebens“ und bei genauer Naturbetrachtung widmet der Städter den Naturphänomenen eine erhöhte Aufmerksamkeit. Im moralisch-ethischen Wertesystem erscheint ihm das Land im Rückgriff auf antike Topoi (bei Plinius d. J., Horaz und Seneca) als Gegenentwurf zur Enge des „städtischen Kerkers“ und zum Sittenverfall in den überfüllten Städten (Justus Lipsius, 1547–1606). Das Landleben, welches die Humanisten in ihre Gärten verpflanzten (137), dient als Folie für Stadtkritik und einen Diskurs über Weisheit und Sittlichkeit. Sachlich und chronologisch schließt Ulrich Rosseaux mit seinem Artikel „Naturgenuss und Sommerpläsier: Städtische Gärten um 1800 als Erholungs- und Unterhaltungsräume“ an. Er widmet sich der Entwicklung neuer Nutzungsformen urbaner Gärten, mit dem Fokus auf stadtnahen Gärten und Parks (Wiener Prater, Linkesches Bad in Dresden, die Vauxhalls und Tivolis in Hannover, Frankfurt a. M. usw.) sowie der neuen städtischen Lebensform mit sommerlichen Landaufenthalten der Familie im stadtnahen Gebiet. Sein Thema ist die räumliche Institutionalisierung von Freizeitvergnügungen in schöner landschaftlicher Umgebung. Er sieht die Parks und multifunktionalen Unterhaltungs- und Erholungsgärten als „Signal eines grundlegenden Wandels“, der zur modernen Freizeitkultur hinführte. Stefan Schweizer bespricht „Die Entfestigung deutscher Städte als gartenkünstlerische Aufgabe im 18. und 19. Jahrhundert“, die nota bene ebenfalls mit neuen Praktiken wie dem Spaziergang entlang der alten Wälle verbunden war. Entfestigung rief einen Planungsbedarf hervor, die Transformation eines breiten Stadtgürtels. Den Grünflächen und ihrer sinnvollen Erschließung kam nun im Stadtgefüge ein vorher nicht gekannter Stellenwert zu. Zunehmend sahen sich die – von französischen Vorbildern wie Le Nôtre geprägten – Gartenbaukünstler (Sckell, von Klenze, Lenné) als Kreateure urbanistischer Gesamtkonzepte, die
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Profession des Gartenbauintendanten wandelte sich zum städtischen Raumplaner. Am Fallbeispiel Stuttgarts verfolgt Catharina Raible die Gestaltung des Schlossparks in den Zeiten des württembergischen Herzogtums, bis zu Friedrich II. (seit 1803 Kurfürst, 1806 zum König von Württemberg aufgestiegen), der seinen Hofbaumeister Nikolaus Friedrich von Thouret eine neu angegliederte Fläche gestalten ließ. Es handelte sich um Marstallgebäude und einen Landschaftsgarten mit Alleen und einem See samt botanischem Garten. Der Geist der Französischen Revolution und die Anspruchshaltung eines selbstbewussten Bürgertums schimmern durch, wenn der Stuttgarter Schlossgarten seit 1808 als eine Art Volksgarten den Bürgern geöffnet wurde, die ihn „zu Promenaden sowohl zu Fuß als im Wagen und zu Pferd“ nutzen konnten. Eine andere Geschichte ist das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ … Teil III des Bandes nimmt Gärten als Lebensräume in den Blick. Gisela Mettele behandelt das auf Ebenezer Howard zurückgehende Modell der Gartenstadt, das eine Antwort auf die unhygienischen, gesundheitsschädlichen Umweltbedingungen in den (Groß-)Städten gab. Wie sie zeigt, setzte Howard nicht einzig auf das Grün der Gartenstadt; vielmehr verband er die Idee einer neuen Siedlungsform mit einer neuen Sozialform und erwartete einen sozialreformerischen Impetus (Gemeinschaftsküchen, Gemeinschaftsgärten). Am Beispiel der in Deutschland auf dem egalitären Freiraumkonzept u. a. Leberecht Migges beruhenden Gartenstadtbewegung wird jedoch klar, dass in der Realität die Konzepte der Gemeinschaftsnutzung wenig Zuspruch fanden, in vielen Siedlungen die Einfamilienhäuser überwogen und das soziale Leben den Frauen de facto weniger Einfluss und Mitbestimmung erlaubte, als das Howard gedacht hatte. Die verschiedenen Ursprünge von Kleingärten (wie der Leipziger Schrebergarten und die Berliner Laubenkolonie) skizziert Marie-Luise Egbert. Der Weg führt „vom kleinen Glück in der Gartensparte“ bis zu den politischen Rahmenbedingungen für die Kleingartenvereine in der DDR. Fast argwöhnisch schaute der SED-Staatsapparat auf die Kleingärten, die als Relikte aus den kapitalistischen Zeiten der Weimarer Republik gesehen wurden, während man meinte, sie würden mit dem Aufbau sozialistischer Städte ihre Daseinsberechtigung einbüßen. An den Anfang der Aufsätze ist Marie-Theres Tinnefelds lesenswerter Essay „Der Garten als Ort der Privatheit – Ein Entwurf am Anfang der Menschheitsgeschichte“ gestellt, in dem aus philosophischer und rechtsphilosophischer Sicht Konzepte diskutiert werden, die in den meisten Artikeln eine Rolle spielen: der Garten als Ort des Genusses und der Lust, der synästhetischen Wahrnehmung schöner Empfindungen, als Ort der Privatheit und der Geselligkeit, der Muße und der Freiheit. Als Refugium und Ort des offenen Gesprächs haben totalitäre Regime wie das Dritte Reich solche „Freiräume“ zur Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen benutzt, wie die brutale Verdrängung von Juden aus ihren Gärten bezeugt (etwa der jüdische Künstler Max Liebermann). Wichtig ist der Hinweis darauf, dass der Garten als Raum der Privatheit durch das Grundgesetz, die Europäische Menschenrechtskonvention und die EU-Grundrechte-Charta geschützt ist. Dorothee Rippmann
Itingen/BL
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THOMAS ADAM: Feuer, Fluten, Hagelwetter. Naturkatastrophen in Baden-Württemberg, Darmstadt: Theiss: 2015, 223 S., 44 s/w Abb., (ISBN 978-3-8062-3156-4), 24,95 EUR. „Katastrophen machen Geschichte“: Nachdem in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Nachhall der Tschernobyl-Katastrophe technische Katastrophen der Seefahrt, des Land- und Luftverkehrs thematisiert wurden, nahmen chronologische Zusammenstellungen von Naturkatastrophen und Klimawandel, beginnend mit Josef Nussbaumer (1996) und Rüdiger Glaser (2001) den Stab auf, und auch in der institutionalisierten Forschung begannen, z. B. mit dem inzwischen geschlossenen Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen und dem Graduiertenkolleg „Interdisziplinäre Umweltgeschichte“ am selben Ort, intensive Forschungen zur Einordnung des Katastrophengeschehens. Der vorliegende Band von Thomas Adam widmet sich mit der Region Baden-Württemberg einem überschaubaren Gebiet, das seit dem Mittelalter zahlreiche als katastrophal wahrgenommene Ereignisse erlitt. Bereits in der Einführung verweist er auf den globalen Horizont der von ihm dargestellten lokalen und regionalen Begebenheiten und der Lösungsstrategien, die die Betroffenen ersannen. Dieser ersten Übersicht folgt ein umfangreiches Kapitel, das sich ausführlich den verfügbaren Quellengattungen und dem methodischen Zugang des Historikers auf diese zuwendet. Die Darstellung ist grundsätzlich chronologisch angelegt, setzt aber inhaltlich differenzierte Schwerpunkte und fragt insbesondere danach, welche Naturgewalten die Menschen in Baden und Württemberg in der Vergangenheit gefährdeten, wie diese wahrgenommen und gedeutet wurden, und welche Vorbeugemaßnahmen getroffen wurden (14). Erdbeben, Überschwemmungen und Feuersbrünste des Spätmittelalters mit einem lokalen Schwerpunkt auf Basel im Jahr 1356 bilden den Ausgangspunkt des Kapitels, das mit dem Einschlag des Kometen von Ensisheim im Elsass 1492 endet und damit regional eine Epochenwende markiert. Eine klimatologische Epoche bildet den Kern des folgenden Kapitels: die so genannte „Kleine Eiszeit“. Zwischen dem 14. und dem 19. Jahrhundert gab es eine Vielzahl extremer Wetterereignisse, darunter lange Dürrezeiten, Hagelstürme, Orkane und überlange, kalte Winter. Folgen waren Ernteausfälle, Hungerkrisen und, sobald die gefrorenen Flüsse auftauten, verheerende Überschwemmungen. Das Pendel der Extreme führte dazu, die Ursachen für die „Strafen Gottes“ in den Sünden der Menschen und, im Extremfall, in Hexerei und Schadenszauber zu suchen. Fünf von sieben Kapiteln, die jeweils besondere Naturereignisse thematisieren, behandeln diese Naturgewalten durchweg in engem Zusammenhang mit Kirche, Glauben und religiösen Deutungen; zuweilen ist auch die angesprochene Naturgewalt lediglich Anlass für umfängliche Auslegungen zeitgenössischer religiöser Praxis. In diesem Zusammenhang stören die Sprünge in der Chronologie sowie zwischen verschiedenen Orten den Lesefluss. Die Fokussierung auf das beschriebene Ereignis ist nur eingeschränkt möglich, da der Leser mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interpretationen zwischen Epochen und Regionen konfrontiert wird. Es fehlt insgesamt an Quellen für die Region Baden-Württemberg, so dass wiederholt auf Ereignisse in Nachbarregionen zurückgegriffen werden muss. Bei näherer Betrachtung stellt sich zudem heraus, dass zwischen den lokalen oder regionalen Einzelereignissen viele Jahrzehnte, teils Jahrhunderte, der Ruhe lagen, so dass auch die Frage nach der Vorsorge von Bevölkerung, Stadt und Territorialstaat ein wenig ins Leere geht.
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Insgesamt ist das Werk als Sachbuch mit einem ausführlichen, thematisch gegliederten Verzeichnis weiterführender Literatur sowie einem Ortsregister für einen breiten Leserkreis konzipiert: Fachtermini und aktuelle wissenschaftliche Fachdiskurse werden ebenso gemieden wie Fußnoten, mit denen gewöhnlich Ereignisse und Belegstellen nachgewiesen werden. Klaus Schlottau
Hamburg
SIGRID HIRBODIAN, SABINE KLAPP, TJARK WEGNER (Hg.): Frauen in Württemberg (= Landeskundig. Tübinger Vorträge zur Landesgeschichte 1), Ostfildern: Thorbecke 2016, 176 S., 58 Abb., (ISBN 978-3-7995-2070-6), 16,95 EUR. Das vorliegende Buch ist im Rahmen einer Ringvorlesung zu „Frauen in Württemberg“ des Tübinger Studium Generale entstanden. Es richtet sich explizit auch an ein Laienpublikum. Die Herausgeber möchten auf „die Lebensbedingungen der Frauen insgesamt“ eingehen und verzichten auf „ausführliche Theorie- und Spezialdiskussionen“ (8 f.). Somit wird der Wandel einer Frauen- zur Gendergeschichte seit Ende des 20. Jahrhunderts in der Einleitung zwar erwähnt, der Genderbegriff und sein theoretischer Rahmen jedoch aus dem programmatischen Rahmen des Sammelbandes weitgehend ausgeklammert. Die Beiträge sind in der Zeit vom dritten bis in das 18. Jahrhundert angesiedelt. Im ersten Kapitel widmen sich die Archäologen Jörn Staecker und Felicia Stahl alamannischen Frauengräbern des 3. bis 8. Jahrhunderts n. Chr. Die ausgewerteten Gräber werden dabei weniger als „Spiegel des Lebens“ betrachtet denn als Ausdruck der „Vielfalt unterschiedlichster Akteure“, die an einer Grablege beteiligt waren (13). Die Autoren stellen eine klare Geschlechtertrennung in den Grabbeigaben von Männern und Frauen fest; allerdings wurden mit der frühen Christianisierung beide Geschlechter gleichermaßen als Stifterinnen und Stifter im Kirchenraum beigesetzt. Ein weiterer Fokus des Beitrags liegt auf den Grabbeigaben eines Frauengrabes in Wittisingen, besonders einer prachtvollen Bügelfibel und seiner rätselhaften lateinischen Inschrift, die dem Laien spannende Einblicke in die anspruchsvolle Deutungsarbeit der Archäologen bietet. Peter Hilsch gibt einen Einblick in das Leben der Gräfin Agnes, der Ehefrau des Grafen Ulrich I. von Württemberg, deren Grabmal in der Stiftskirche in Stuttgart besichtigt werden kann. Gräfin Agnes war – ungewöhnlich für die um ein innerschwäbisches Netzwerk bemühten Württemberger Grafen der Zeit – eine Tochter des Herzogs von Polen und stand damit standesmäßig über ihrem Mann. Frauen im mittelalterlichen Winnenden stehen im Fokus des Aufsatzes von Ellen Widder. Die Autorin stellt die Frage, wann und wie Frauen in den mittelalterlichen Quellen der Stadt erscheinen. Dabei offenbart sich eine große Bandbreite: So treten Frauen als geistliche Stifterinnen, als Beteiligte an Rechtsstreitigkeiten, in den Überlieferungen der Nonnenklöster sowie als Geschäftsfrauen und Grundbesitzerinnen in Erscheinung. Ferner lassen sich kunstgeschichtliche Leitbilder von Frauen fassen, etwa in Heiligenbildern, in den Portraits der Stifterinnen oder den Heiligengeschichten der Altarbilder. Neben dieser Vielzahl weiblicher Rollen existierte in Winnenden ein Beginenkonvent, in welchem Frauen, besonders Witwen, ihr Leben dem karitativen Engagement widmen konnten. Die
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Verknüpfung verschiedener Quellen offenbart damit, so die Autorin, „ein ganzes Spektrum weiblicher Lebensentwürfe“ (76). Dass Frauen auch ganz konkret mit geistlicher und weltlicher Macht ausgestattet sein konnten, zeigt Sabine Klapp in ihrem spannenden Beitrag über die Äbtissinnen von Buchau in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hierbei handelt es sich nicht um ein Kloster, sondern um ein freiweltliches Damenstift. Die im historischen Gedächtnis ebenso wie in der Forschung oftmals vernachlässigten Stiftsdamen verfügten über reichlich Grundbesitz, übten Herrschaftsrechte aus, pflegten einen distinktiven adligen Lebensstil und besaßen eigenes Vermögen. Sie stellten eine selbstbewusste weibliche Lebensform dar, die von kirchlicher Seite immer wieder unter Druck geriet, etwa durch ein Verbot der Kanonissinnen auf der Lateransynode 1059. Nichtsdestotrotz konnte sich das Buchauer Stift halten. Der Einfluss der Äbtissinen wird, wie die Autorin zeigt, nicht zuletzt am Bemühen der führenden Familien der Region deutlich, den Posten für Familienmitglieder zu sichern. Peter Rückert nimmt das höfische Leben in den Fokus, indem er sich den materiellen und archivalischen Überlieferungen um die beiden italienischen Prinzessinnen Antonia Visconti und Barbara Gonzaga widmet. Beide wurden im Spätmittelalter an den württembergischen Hof vermittelt. Diese Überlieferung, so der Autor, bietet Stoff für dynastie-, kommunikations- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen. Dem Beitrag gelingt es, verschiedene Quellen (Aussteuerverzeichnisse, Briefe der Prinzessinnen und ihres Umfelds, Inventare, Bilder) so miteinander zu verknüpfen, dass ein lebendiges Portrait der beiden Frauen entsteht. Joachim Kremer stellt diesen Prinzessinnen mit der Herzogswitwe Magdalena Sibylla von Württemberg eine weitere höfische Frau zur Seite, diesmal eine des 18. Jahrhunderts. Als Verfasserin pietistischer Erbauungsliteratur und religiöser Liedtexte hat sie einen umfangreichen Quellenschatz hinterlassen; ferner sind von ihr mehrere Leichenpredigten erhalten. Aufschlussreich ist dabei vor allem die vom Autor herausgearbeitete Selbstinszenierung als Maria Magdalena sowie die konsequente pietistische Selbst- und Fremddeutung ihres Lebenslaufs. Erbauungsschriften werden hier zum Mittel der Selbstbildung. Der Sammelband schließt mit einem von Benigna Schönhagen verfassten Beitrag über Karolina Kaulla aus Hechingen, der dem Titel zufolge „ersten Unternehmerin in Südwestdeutschland“. Als Tochter eines „Hofjuden“ übernahm Karolina Kaulla die väterlichen Geschäfte und gründete schließlich eine Dynastie württembergischer Hofbankiers. Die Autorin nähert sich der Unternehmerin sowohl über die schriftliche Hinterlassenschaft als auch über Portraits und die materielle Überlieferung, etwa ein Grabmal und ein Kaffeeservice. Der Beitrag zeigt eindringlich, unter welchen Umständen eine derart außergewöhnliche Karriere im 18. Jahrhundert gelingen konnte. Wie bereits in der Einleitung betont, handelt es sich bei dem vorliegenden Sammelband nicht um eine methodisch und theoretisch ausgefeilte Studie im Rahmen der Genderforschung. Eine umfassende kritische Auseinandersetzung mit den Kategorien Frau und Geschlecht sucht man daher vergeblich. Historiker wie interessierte Laien erwartet hingegen ein Lesebuch, das auf die Vielfalt weiblicher Lebensentwürfe in Mittelalter und Früher Neuzeit nicht nur in Württemberg aufmerksam macht. Der Quellenlage geschuldet stehen freilich adlige, geistliche und – im Falle der Karolina Kaulla – großbürgerliche Frauen im Mittelpunkt. Ein kurzer Hinweis auf durch die Quellenlage bedingt schwerer zugängliche
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Sozialgruppen – etwa Bauersfrauen, Kleinbürgerinnen oder Frauen aus der Unterschicht – denen doch das Gros der Frauen angehörte, wäre in der Einleitung wünschenswert gewesen. Die Stärke des vorliegenden Sammelbandes liegt in der Vielfältigkeit der ausgewerteten Quellen: Es werden Briefe, Inventare, Gräber, Artefakte, Musikalien, Portraits und viele andere Formen der historischen Überlieferung vorgestellt und auch über die umfangreiche Bebilderung vermittelt. Der Band sei daher allen, die einen Eindruck von der Buntheit historischer Überlieferung bekommen möchten, ans Herz gelegt. Jessica Cronshagen
Oldenburg
OLIVER AUGE, NORBERT FISCHER (Hg.): Nutzung gestaltet Raum. Regionalhistorische Perspektiven zwischen Stormarn und Dänemark (= Kieler Werkstücke, Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte 44), Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2017, 241 S., 35 s/w Abb., (ISBN 978-3-631-67353-9), 30,00 EUR. Im südlichen Holstein zwischen Hamburg und Lübeck erstreckt sich mit Stormarn eine historische Region, von der seit dem Mittelalter immer wieder wichtige Impulse für die Entwicklung des nordelbischen Raumes ausgegangen sind. Die Versorgung der beiden weit ausstrahlenden Metropolen mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, die Vermittlung von Waren und Menschen zwischen Ostseeraum und Nordseeraum, das Ringen um territoriale Machtentfaltung, frühe Ansätze zur Industrialisierung und die Entwicklung der modernen Metropolregion Hamburg sind große Themen der Geschichte des Stormaner Raumes. Der vorliegende Band umfasst zehn Beiträge einer wissenschaftlichen Tagung, die am 28. und 29. März 2014 anlässlich der 700-Jahr-Feier Ahrensburgs ebendort abgehalten wurde. In vier Sektionen behandeln die Beiträge zentrale Aspekte der Geschichte des Stormarner Raumes aus lokal-, regional- und landeshistorischer Perspektive und betten sie in übergeordnete Kontexte ein. Im Spannungsfeld von Mittelalterarchäologie, klassischer Geschichtswissenschaft sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte werden dabei im interdisziplinären Dialog Antworten auf vielfältige Fragen gesucht. Diese reichen von der territorialen Erschließung der Landschaft im Mittelalter bis hin zu Fragen der modernen Raumplanung. Im Anschluss an ein Grußwort der Stadt Ahrensburg und ein Vorwort der Herausgeber Oliver Auge und Norbert Fischer beschäftigt sich Angela Behrens in der ersten Sektion (Landschaft, Nutzung, Raum) zunächst mit der räumlichen Entwicklung Ahrensburgs in seinen Anfängen, die sich aus der Geschichte des gleichnamigen Gutes seit dem 16. Jahrhundert herleiten, letztlich aber auf das 1314 erstmals erwähnte Dorf Woldenhorn zurückverweisen. Noch weiter zurück wendet sich Günther Bock, der den Stormarner Raum und seine mittelalterliche Siedlungs-, Wirtschafts- und Herrschaftsgeschichte in den Blick nimmt. Sodann behandelt Martin J. Schröter die Vorgeschichte des Gutes und die Verflechtung zwischen dem Zisterzienserkloster Reinfeld und dem Raum um Dorf bzw. Klostervogtei Woldenhorn zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert. Im abschließenden Beitrag der Sektion beschäftigt sich Oliver Auge mit der Region Stormarn im Spiegel von Heinrich Rantzaus Beschreibung der Kimbrischen Halbinsel aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert.
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Im ersten Beitrag der zweiten Sektion (Grenzen und Entgrenzung) befasst sich Stefanie Rüther mit der territorialpolitischen Rolle der Hansestädte Hamburg und Lübeck im Raum zwischen Elbe und Lübecker Bucht. Anschließend behandelt Steen Bo Frandsen die heute weitgehend vergessenen Verbindungen zwischen Holstein und Dänemark, die seit 1460 für über 400 Jahre in Personalunion miteinander verbunden waren. Während dies aus nationalen bzw. regionalen Geschichtsdiskursen nördlich und südlich der heutigen deutsch-dänischen Grenze weitgehend ausgeblendet wird, ist ein vertieftes Verständnis der Geschichte Schleswig-Holsteins und seiner Regionen nur aus einer grenzüberschreitenden Perspektive zu erlangen. So macht es durchaus Sinn, bei der Untersuchung des nördlichen Ausstrahlungsraumes der Elbmetropole Hamburg neben der lokalen und regionalen auch die nationale Perspektive im Spannungsfeld der deutsch-dänischen Beziehungsgeschichte zu beachten. Dass es sich dabei keinesfalls nur um eine Geschichte von Konflikt und Konfrontation handelte, wird bei der Betrachtung der gesamtstaatlichen Zeit im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert deutlich, als es durchaus Sinn machte, von Holstein als dem „deutschen Ende Dänemarks“ zu sprechen. Ob es umgekehrt sinnvoll ist, den holsteinischen Raum als „dänisches Ende Deutschlands“ zu charakterisieren und auf diese Weise eventuell zu einer neuen Sicht auf den Gegenstand zu gelangen, wäre zumindest zu prüfen. Was Sprache und Mentalität angeht, hat Holstein Dänemark zumindest nicht so nahe gestanden wie Schleswig. In der dritten Sektion (Erschließung und Neuordnung der Region) lenkt Frederic Zangel den Blick auf die mittelalterliche Territorialpolitik im Raum zwischen Unterelbe und südwestlicher Ostsee. Dabei geht es um die Rolle von Burgen, die für Niederadel, Landesherren und Hansestädte wichtige Stützen bei der Behauptung territorialpolitischer Positionen boten. Wer Zoll einnehmen, zinspflichtige Bauern nachhaltig in die Pflicht nehmen und seinen Anspruch auf die Nutzung von Regalien durchsetzen wollte, für den war es äußerst wichtig, die Kontrolle über die Burgen innerhalb des eigenen Territoriums zu behaupten und überdies dafür zu sorgen, dass in benachbarten Herrschaften keine entsprechenden Ansatzpunkte fremder Herrschaft bestanden. Über die Errichtung und den Ausbau von Burgen eröffnete sich nicht zuletzt die Kontrolle über Handelswege. Damit verbunden war der Anspruch auf Herrschaft in der Fläche, was auch erklärt, warum zwischen den unterschiedlichen Herrschaftsträgern bisweilen hartnäckig um entsprechend befestigte Orte gerungen wurde. Anschließend beschäftigt sich Klaus Schlottau in einem quellennah gearbeiteten wirtschaftshistorischen Aufsatz mit den unterschiedlichen Arten von Wasser- und Windmühlen sowie ihrem raum- und landschaftsprägenden Charakter. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Strukturgeschichte des vormodernen Stormarner Raums. Die weitere Entwicklung dieser historischen Kulturlandschaft im 20. und 21. Jahrhundert rückt die vierte Sektion (Infrastruktur und Raumplanung) in den Fokus. Hier beschäftigt sich zunächst Dirk Schubert mit der Raumplanung im Gebiet zwischen Geesthacht und Elbmündung sowie Harburg und dem nördlichen Hamburger Speckgürtel. Klar hervor treten dabei die prägenden Entwürfe Fritz Schumachers (1869–1947), der als Spiritus Rector der Hamburger Stadtplanung bis in die späten 1920er Jahre insbesondere als Meister der Argumentation für die von ihm entwickelten Modelle hervortritt. Dass sich hier die Planungen und Konzeptionen für Hamburg und seine Nachbargemeinden Harburg, Wandsbek und Altona (mit Ottensen) überlagerten und zum Teil gegenseitig konterkarierten, lässt die stadtplanerische Entwicklung der Metropole im Stromspaltungsge-
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biet im Vorfeld des Groß-Hamburg-Gesetzes von 1937 phasenweise geradezu dramatische Züge annehmen. Entsprechende Beobachtungen werden von Norbert Fischer für die Zeit danach bis in die Gegenwart fortgeführt. In der Summe ist aus der Ahrensburger Tagung ein Band erwachsen, den man nicht nur in Hamburg und Umgebung mit Gewinn zur Hand nehmen wird. Wer sich für die Entwicklung von Wirtschaft, Siedlung, Bevölkerung und Infrastruktur im Spannungsfeld von agrarisch geprägter Sphäre und an den Welthandel angebundener Metropole interessiert, wird hier wertvolle Anregungen finden. Detlev Kraack
Plön
HERBERT BOCK: Begehrt und umstritten. Der mittlere Hunteraum vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. Kiel: Solivagus 2016, 432 S., (ISBN 978-3-943025-31-6), 29,00 EUR. Die beiden Kirchspiele Harpstedt und Colnrade, südwestlich von Bremen zwischen Wildeshausen und Delmenhorst gelegen, sind Gegenstand dieser Dissertation, die an der Universität Vechta entstanden ist. Erkennbar ist die Arbeit von einem lokalhistorischen Interesse getragen. Ihr Hauptanliegen ist es zu zeigen, wie sich die allgemeine politischhistorische Entwicklung in diesen Kirchspielen niederschlug. Mit etwas anderer Gewichtung könnte man von einer Studie zur ‚Glokalisierung‘ sprechen, dem methodischen Versuch, globale, gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in ihrer konkreten Form vor Ort zu untersuchen. Tatsächlich aber muss der Autor sich überlieferungsbedingt auf die militärischen Vorgänge des 15. bis 17. Jahrhunderts beschränken, d. h. dass der Bogen von den Fehden Graf Gerds des Mutigen von Oldenburg in den 1470er und 80er Jahren bis zur kurzzeitigen Besetzung durch französische Truppen 1679 (im Krieg gegen Dänemark) gespannt wird. Die Konflikte dieser Zeit sind es, welche die Entstehung der Quellen bedingten, die heute noch ausgewertet werden können. An einer Stelle, um es gleich vorweg zu nehmen, gelingt dem Autor ein regelrechtes Kabinettstückchen, nämlich interessante und weiterführende Aussagen zum Besuch ländlicher Schulen anhand des gräflich-oldenburgischen Seelenregisters von 1662 (247–251). Als weitere Besonderheit sei die Überlieferung eines Hofarchivs herausgestellt, das des Hofes Spradau, dem u. a. zu entnehmen ist, dass es 1641, inmitten der Wirren des Dreißigjährigen Kriegs, zu einem Hofkauf kam (202, 280–282). Mitunter reichen auch die Bestände des Harpstedter Samtgemeinde-Archivs bis in das 17. Jahrhundert zurück (216). Eine wichtige Quelle sind die Collectaneen des Amtsschreibers Johann Heinrich Redecker, die in einem Exkurs quellenkritisch befragt werden. Diese Sammlung lässt sich in einem weiteren Sinn als Selbstzeugnis verstehen, da der Amtsschreiber teilweise in der Ich-Form von den Zuständen im Amt Harpsedt berichtet, wobei er gelegentlich so etwas wie Heimatliebe in den Text einflicht (286–303). Der Autor geht in Anlehnung an die ältere Landesgeschichte vor, indem der Raum zunächst in physisch-landeskundlicher Hinsicht vorgestellt wird (Kapitel 2, 24–66), woraufhin in Kapitel 3 eine breite politisch-militärische Ereignisgeschichte geboten wird (68–224). Meines Erachtens ist Kapitel 4 von höherem Interesse, da hier die Quellen – die vor allem in der Frühen Neuzeit angelegten Vieh- und Pflugschatzregister, Einwohnerzählungen usw.
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– detailliert im Hinblick auf eine Sozial- und Kulturgeschichte ausgewertet werden (225– 285). Als wichtige, die allgemeine Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte voranbringende Ergebnisse lassen sich festhalten, dass es auch in diesen ländlichen Gemeinden reiche Witwen gab, die zu Krediten an den Landesherrn bereit waren (oder dazu gezwungen wurden?). So wird eine Witwe namens Agnes Kobrink erwähnt, die dem Grafen Rudolf von Diepholz 125 Gulden geliehen hatte und 1488 einen Zehnten zur Tilgung des Kredits verpfändet bekam (85); ob sie das vom Landesherrn verliehene Recht durchsetzen konnte, ist nicht überliefert. Ein interessanter Niederadliger scheint Wilhelm vom Busche gewesen zu sein, dem Bischof Heinrich III. von Münster das Amt Harpstedt verpfändete (98). Zu ihm, allerdings als Pfandinhaber von Wildeshausen, heißt es in einer Quelle (JOHAN RENNER: Chronica der Stadt Bremen. Hg. von LISELOTTE KLINK, Bremen 1995, Teil 2, 19) zum Jahr 1523, dass er sinen trometer Andres nach Bremen schickte, als er krank war, was ein Indiz für eine auch vom Niederadel dieses Raums gepflegte Hofkultur darstellt. Organisationsgeschichtlich bedeutsam ist noch, dass es eine Landwehr gab, zu der sich die Einwohner zusammenschlossen und die nicht nur leichten Widerstand gegen fremde Truppen im Dreißigjährigen Krieg leistete, sondern auch Papageienschießen veranstaltete (205–207). Nicht verhehlen lassen sich eine Reihe von Ungeschicklichkeiten, die bei der Lektüre auffallen. Die auf Seite 118 erwähnte älteste Einwohnerübersicht von 1534 (angefertigt im Rahmen des Kriegs zur Befreiung Münsters von den Täufern) wird leider nicht ausgewertet. Der Abschnitt über die Anwesenheit der Mansfelder Soldateska im Oldenburger Raum 1622/23 (163–169) verfällt ins Kompilatorische. Die Begriffe Meyer, Köter und Brinksitzer, die bei der Beschreibung der Besitzverhältnisse der ländlichen Gesellschaft (255–257) verwendet werden, hätten genauer erklärt werden können. Und nicht zuletzt hätte das große Kapitel 3 konziser gehalten werden können; das Gemälde Kaiser Karls V. in der Schlacht von Mühlberg hat rein illustrativen Charakter und hätte wie manches andere entfallen können, ohne den Wert der Arbeit zu schmälern. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass der Verfasser letztlich eine Landesbeschreibung bietet und weniger nach Dorf- bzw. Kirchspieleinwohnern als Akteuren fragt. Letzterer Aspekt kommt nur gelegentlich zur Sprache, insbesondere bei Weigerungen, die von den Kriegsherren im Dreißigjährigen Krieg auferlegten Kontributionen zu bezahlen, was mit Strafen (Zerstörung der Höfe) geahndet wurde (204 f.). Auch das teilweise bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende Hofarchiv Spradau gefunden und ausgewertet zu haben, stellt eine Besonderheit dar, was der Arbeit bleibenden Wert für die nordwestdeutsche Landesgeschichte verleiht. Harm von Seggern
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JÖRG ROGGE, KRISTINA MÜLLER-BONGARD (Hg.): Recounting Deviance. Forms and Practices of Presenting Divergent Behaviour in the Late Middle Ages and Early Modern Period (= Mainz Historical Cultural Sciences 34), Bielefeld: Transcript 2016, 208 S., (ISBN 978-3-8276-3588-1), 29,99 EUR. Dass abweichendes Verhalten für die Geschichtswissenschaft ein methodisch schwieriges Thema ist, zeigen einmal mehr die Beiträge dieses Sammelbandes, in dem die Vorträge
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einer kleinen, vom 18. bis 20. Februar 2015 am Centro Tedesco di Studi Veneziani abgehaltenen Tagung publiziert werden. Die Schwierigkeiten manifestieren sich bereits in dem Umstand, dass die Normen in der Vergangenheit nicht bereits gegeben sind, sondern von der Wissenschaft erst etabliert werden müssen. Vor dieser konstruierten (bzw. aus den Quellen rekonstruierten) Folie ist sodann das deviante Verhalten nachzuzeichnen, wobei je nach Zeit, Ort und der Person des Sprechers unterschiedliche Maßstäbe gelten konnten. In der soziologischen Forschung hat sich mit Blick auf die Gegenwart der labelling approach als geeignet erwiesen, die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Klassifizierung und dem Selbstverständnis eines Individuums genauer zu erforschen. Dass dieses Thema und dieser methodischer Zugriff von Bedeutung sein können, zeigen für die Vergangenheit leicht einsichtig die Hexen und Hexenmeister sowie die unschuldig Verurteilten. Nicht verschwiegen werden darf, dass der labelling approach bei zu Recht Verurteilten auch zu einem Relativismus führen kann, bei dem der Verurteilte zu einem Opfer werden kann. Im Vordergrund der Beiträge stehen zum Teil venezianische Beispiele, die Genderaspekte beleuchten. Nach einer Einleitung von Jörg Rogge, in der der labelling approach näher vorgestellt wird, behandelt Regina Schäfer zunächst Beleidigungsklagen vor dem Ingelheimer Hofgericht, die höchstwahrscheinlich als Ereignisse in länger bestehenden Konflikten zu verstehen sind und nicht als unvermittelt, beispielsweise aus Trunkenheit heraus entstandene Straftaten. Die Chronik der englischen Abtei Crowland, die bis ins 15. Jahrhundert von zwei Chronisten fortgesetzt wurde, wird von Sebastian Becker im Hinblick auf eine politische Krise (unter König Richard III.), das Vorgehen der Äbte und einige Streitfälle mit benachbarten Niederadligen hin untersucht, um die Mittel der sprachlichen Bewertung, aber auch die sachlichen Darstellungsabsichten der beiden Kontinuatoren genauer herauszuarbeiten. Deviantes Verhalten war von besonderem Interesse für die hoch- und spätmittelalterliche Kirche, die sich selbst unter Zugzwang gesetzt hatte, gegen tatsächliche und vermeintliche Abweichler vorzugehen, und hierzu eigens die Inquisition als Einrichtung schuf, die vor allem in Spanien einen festen Platz erhielt. Deren Überlieferung gewährt durch die Befragung von Familienmitgliedern, Nachbarn usw. tiefe Einsichten in das Funktionieren der Gesellschaft. Drei frühneuzeitliche Fälle wertet Monika Frohnapfel-Leis aus. Beispiele aus dem Venedig des 17. Jahrhunderts gewähren Luca Vettore Einblicke in die sozialen Verhältnisse, wodurch er unter anderem ein enges Verhältnis zwischen einem 23-jährigen Glücksspieler aus einer angesehenen Handwerkerfamilie (Herstellung falscher Perlen) und einer 62-jährigen Prostituierten feststellen kann, von denen nur der Mann wegen Blasphemie angeklagt wurde, obwohl beide Liebeszauber vertrieben. Sachlich eng verwandt damit ist die Untersuchung von Giulia Morosini, die ebenfalls am Beispiel Venedigs im 17. Jahrhundert nach Hexerei und dem erst spät geschaffenen Straftatbestand des Liebeszaubers fragt, wobei erneut Prostituierte und Konkubinen eine Rolle spielen (sie wurden zunehmend kriminalisiert). Unter anderem thematisiert sie dabei das Problem der Falschanklagen, Gerüchte und Vorurteile, das den Juristen wohl bewusst war (137). Zum dritten führt Federico Barbierato in das frühneuzeitliche Venedig, indem er nach Frühformen libertinen Denkens von Frauen fragt, die als Indizien eines Feminismus gelten könnten und die Aufmerksamkeit der von Männern nach männlichen Mustern geführten Strafrechtsbehörden auf sich zogen. Reiseberichte,
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insbesondere britischer Reisender des 18. Jahrhunderts, sind Gegenstand der Überlegungen Sebastian Beckers. Dabei sieht er sich einem doppelten Quellenproblem gegenüber, da das, was die Reisenden nach englischem Verständnis als deviant empfanden, in den von ihnen bereisten Ländern nicht deviant gewesen sein muss. Weiterhin kommt hinzu, dass einige der Reisenden sich selbst als fremd, mithin als deviant empfanden. Insgesamt sind die Beiträge (auch rein kulturgeschichtliche wie derjenige über die Reiseberichte) wichtig für das Verständnis der Rechtskultur, d. h. für die tatsächlich gelebte Rechtspraxis, da sie belegen, dass abweichendes Verhalten von den (männlichen) Behörden durchaus differenziert wahrgenommen wurde. Harm von Seggern
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EVA JULLIEN, MICHEL PAULY (Hg.): Craftsmen and Guilds in the Medieval and Early Modern Periods (= VSWG-Beiheft 235), Stuttgart: Steiner 2016, 316 S., 5 s/w und 5 farb. Abb, 20 Tab., (ISBN 978-3-515-11235-2), 54,00 EUR. Seit drei Jahrzehnten hat die Historiographie der Zünfte und Korporationen einen grundlegenden Wandel erfahren. In der dominanten Sichtweise galten die Zünfte als fortschrittshemmende und konservative Institutionen, die einerseits im Gegensatz zu marktorientierten Wirtschaftsweisen standen, andererseits durch tatkräftige Ausschlussmechanismen (sei es gegen Frauen, Fremde oder nichtzünftige Arbeiter) die privilegierte Stellung der Zunftmeister stärkten. Inzwischen haben zahlreiche Studien die Flexibilität der Zünfte sowie die wichtigen ökonomischen Funktionen unterstrichen, die sie übernahmen. Der hier zu besprechende Sammelband fügt sich in diese neuere Sichtweise ein. In ihrer Einleitung weisen Eva Jullien und Michel Pauly darauf hin, dass die Zünfte Arbeitsteilung und technische Innovationen begünstigen und dementsprechend positive wirtschaftliche Auswirkungen haben konnten. Die Zunftforschung sei aber nicht mehr ausschließlich auf wirtschaftliche Fragestellungen ausgerichtet, weil sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze zu neuen Erkenntnisinteressen geführt hätten. Anschließend nimmt Rudolf Holbach diverse wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Theorieangebote in den Blick, die in der mittelalterlichen Zunftforschung benutzt werden (könnten). Einige dieser Ansätze müssen aber behutsam angewandt werden, wenn sie von einer statischen Vorstellung des ‚homo oeconomicus‘ ausgehen, zumal verallgemeinernde Urteile über die mittelalterlichen Zünfte angesichts der Vielfalt der nationalen und lokalen Kontexte kaum möglich sind. Bei den dreizehn folgenden Aufsätzen handelt es sich um Fallstudien, die die Zünfte und die städtische handwerkliche Arbeiterschaft in West-, Mittel- und Nordosteuropa untersuchen. Das in der Einleitung formulierte Anliegen, die Grenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit zu überwinden, wird berücksichtigt, denn die hier vorgelegten Aufsätze decken einen langen Zeitraum vom 13. bis zum 18. Jahrhundert ab. Ein erstes Hauptthema betrifft das Verhältnis der Zünfte zu den staatlichen und städtischen Obrigkeiten. In Gent, Florenz und London waren ab dem 13. Jahrhundert die Zünfte in die politische Verfassung der Stadt integriert. Dennoch war ihr Verhältnis zu den Obrigkeiten keineswegs konfliktfrei, denn Spannungen ergeben sich aus der obrigkeitlichen Absicht, die Zünfte unter ihre Kontrolle zu bringen, z. B. in Florenz mit der Reform von 1414 oder in Gent mit der Concessio Carolina von 1540 (Arie van Steensel). Der Prozess der
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Staatsbildung konnte auch wirtschaftliche Auswirkungen auf die Zünfte haben, wie in Gent, wo die Herrscher durch ihre Aufträge für Baumaßnahmen einen erheblichen Einfluss auf die Tätigkeit der Zimmerer- und Maurerzunft ausübten (Tineke van Gassen). Ein wichtiges Thema dieser Auseinandersetzungen war die Autonomie der Zünfte, d. h. ihre Fähigkeit, sich selbst zu regulieren. Sie wurde manchmal mit Erfolg verteidigt, wie der Fall der veedores – die mit der Qualitätskontrolle der Waren beauftragt waren – im mittelalterlichen Spanien verdeutlicht (Ricardo Córdoba de la Llave). Zweitens werden die wirtschaftliche Dynamik und die Anpassungsfähigkeit der Zünfte und Handwerker herausgearbeitet. Im spätmittelalterlichen Florenz übten die Goldschmiede wichtige unternehmerische Tätigkeiten aus (Katalin Prajda): Einerseits koordinierten sie die unterschiedlichen Phasen des Produktionsprozesses, andererseits kooperieren sie mit Seidenproduzenten und trugen damit zum Aufschwung der Seidenindustrie bei. Außerdem wiesen die Büchsenmeister im Spätmittelalter einen hohen Grad an geographischer Mobilität auf, so dass sie die Zirkulation neuer Kenntnisse stimulierten (Knut Schulz). Da ihr Fachwissen sehr begehrt war, konnten sie sich als (mobile) Experten bzw. Ingenieure profilieren. Was den Bereich der Lohnbildung angeht, waren die Zünfte keineswegs auf den Zeitlohn ausgerichtet, wie es die Historiographie in Anschluss an Werner Sombart lange behauptet hat (Reinhold Reith). Selbst wenn der ab 1770 unternommene Versuch, den Zeit- oder den Stücklohn zu verallgemeinern, gescheitert ist, zeigen die Stellungnahmen der Bamberger Meister und Gesellen, dass es für sie üblich war, „Lohn und Leistung in Beziehung zu setzen“ (259). Die Zünfte waren in einen dynamischen überregionalen Arbeitsmarkt eingebettet, wie die Studien von Eleonora Canepari über die handwerkliche Arbeiterschaft in Rom und von Nicoletta Rolla über das Turiner Baugewerbe im 18. Jahrhundert bestätigen. In beiden Städten rekrutierten sich die Arbeiter aus Einwanderern, wobei die Konkurrenz zwischen den Meistern um deren Anwerbung scharf war. Spielten in Turin die Zünfte und Bruderschaften eine wichtige Rolle bei der Integration dieser Arbeiter in die städtische Gesellschaft, so gab es doch Spannungen, und zwar sowohl um die Verteilung der Arbeiterschaft und der Aufträge (Rolla) als auch weil diese Arbeiter häufig dauerhaft im Lohnverhältnis – als Lehrling oder als Geselle – verblieben (Canepari). Die italienischen Zünfte waren also durch sozioökonomische Gegensätze gekennzeichnet. Dieses Fazit gilt auch für die Malerzünfte im südlichen und westlichen Teil des Alten Reichs: Danica Brenner hebt insbesondere die wirtschaftliche Heterogenität der Augsburger Malerzunft hervor, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer deutlicher zum Vorschein kam. Schließlich behandeln mehrere Aufsätze den Status von Frauen in den Zünften. In den spätmittelalterlichen deutschen Städten spielten die Frauen eine wichtige Rolle in der Familieneinheit, egal ob sie in der Zunft ihres Ehemannes oder in anderen Sektoren tätig waren. Da das auch für die Kinder des Vaters galt, lässt sich eine „Strategie einer breiten Streuung des wirtschaftlichen Engagements“ (173) konstatieren (Sabine von Heusinger). Die Tätigkeit der Frauen in den Zünften des Textilsektors wird auch von François Rivière für Rouen im 14. und 15. Jahrhundert festgemacht, selbst wenn Männer diese Zünfte häufig dominierten und Frauen selten als unabhängige Meisterinnen in Erscheinung traten. Auch in den nordosteuropäischen Städten nahmen Frauen zwischen 1350 und 1650 keineswegs einen untergeordneten Platz ein. Anhand verschiedener Zunftordnungen und Fallbeispiele weist Maija Ojala nach, dass Witwen eine aktive Rolle spielten, insbesonde-
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re weil sie mit Hilfe der Zünfte Gesellen anstellten. Muriel González Athenas formuliert ähnliche Ergebnisse für Köln im 18. Jahrhundert: Die Frauen spielten hier zeitweise eine aktive Rolle in den Zünften, und ihr Status hing weniger von ihrem Geschlecht als von sozialen und rechtlichen Kriterien ab. Dieser Sammelband bietet gründliche und quellensättigte Fallstudien und ist auch dank der thematischen, räumlichen und chronologischen Vielfalt der darin versammelten Aufsätze zu empfehlen. Guillaume Garner
Lyon
MARCO BELLABARBA, HANNES OBERMAIR, HITOMI SATO (Hg): Communities and Conflicts in the Alps from the Late Middle Ages to Early Modernity (= Annali dell’Instituto storico italio-germanico in Trento, Contributo/Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Beiträge 30), Berlin: Duncker & Humblot 2015, 251 S., (ISBN978-88-15-253835), 22,00 EUR. Der vorliegende Band versammelt die Beiträge einer Tagung des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient vom März 2014. Sie stellen zum Teil die Ergebnisse eines Forschungsprojekts über politische und rechtliche Organisationsformen im Alpenraum zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit dar – ein gemeinsames Projekt des Trientiner Instituts mit einer Gruppe japanischer Wissenschaftler, die von Yoshihisa Hattori (Universität Kyoto) koordiniert wurde. Diese recht ungewöhnliche Kooperation verweist auf einen interessanten Aspekt des Buches, zeigt sich doch darin, welche Ausdehnung heute wissenschaftliche Forschungsnetzwerke unabhängig vom behandelten Untersuchungsgegenstand haben können. Die insgesamt 14 Beiträge bieten eine breite Vielfalt an Ansätzen und Inhalten. Miteinander verknüpft sind sie durch das Aufgreifen eines seit einigen Jahren in der historiographischen Debatte zentralen Themas, nämlich Konflikte und ihre Lösungen, hier mit besonderer Berücksichtigung des Alpenraums. Die den meisten Aufsätzen zugrundeliegende Idee begreift den Alpenbogen als Begegnungsraum, in welchem sich nicht selten hybride Formen von Rechtprinzipien und Machtausformungen herausgebildet haben. Für diese Prozesse machen die Aufsätze verschiedene Akteure aus, etwa die eng an das italienische Kommunalmodell angelehnten Städte, die ländlichen Gemeinden, aber auch mit dem Reich verbundene Adlige oder weltliche und kirchliche Territorialherren; alle waren sie bestrebt, ihre Vorrechte in Kontexten geltend zu machen, in denen Befugnisse und Kompetenzen in komplexer Weise miteinander verflochten waren. Dadurch sahen sich diese Akteure kontinuierlich mit Ansprüchen und Forderungen konfrontiert, aus denen in vielen Fällen Vermittlungsprozesse entstanden. Aus diesen Konfliktsituationen heraus entwickelten sich zweifelsohne bedeutende Stressfaktoren; andererseits ging daraus unvermeidlich und sogar notgedrungen die Bestätigung von Vorrechten der betroffenen Akteure hervor. Unter diesem Blickwinkel bietet Yoshihisa Hattori zunächst eine vergleichende Zusammenschau von Kommunikations- und politischen Integrationsprozessen in Gemeinden des Alpenraums und stützt sich dafür auf das Kommunalismuskonzept von Peter Blickle sowie auf Untersuchungen von Jon Mathieu, Fabrice Mouthon und anderen.
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Acht der vierzehn Beiträge befassen sich mit Räumen des historischen Tirol. Marco Bellabarba arbeitet die Folgen heraus, die sich durch das Aufeinandertreffen und die Überlagerungen der traditionellen Rechtsmodelle der Region mit dem ius commune italienischen Ursprungs im frühen 16. Jahrhundert ergaben. Ein weiterer Herausgeber des Bandes, Hannes Obermair, unterstreicht hingegen, wie wichtig es sei, die Rolle historischer Akteure nicht ausschließlich auf ihre Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen zu reduzieren. Er behandelt die Themen Konflikt, Schriftlichkeit, Erinnerung und Wahrnehmung anhand krimineller Handlungen in einigen Gemeinden des deutschsprachigen Teils der Diözese Trient im Spätmittelalter. Das Gebiet zwischen Bozen und Meran wird auch von Hitomi Sato einer näheren Betrachtung unterzogen. Sie untersucht, wie der lokale Adel, die aufstrebenden städtischen Bürger und die Gemeinden interagierten, um Konflikte bezüglich der Nutzung von Ressourcen und der Erhebung von Mautgebühren im ausgehenden Mittelalter zu bewältigen. In den Aufsätzen von Marcello Bonazza und Katia Occhi schlagen sich intensive Recherchen zu Wirtschaftsfragen im Tiroler Raum nieder. Während Bonazza für das Gebiet des heutigen Trentino eine Karte der Konfliktlagen auf Mikroebene entwirft, die in steuerlicher Hinsicht die schrittweise Stärkung der Kompetenzen der mächtigsten politischen Akteure darstellt, widmet sich Occhi den nicht immer einfachen Beziehungen zwischen territorialen Machtzentren, Wirtschaftsakteuren und Gebietskörperschaften in Bezug auf den für Tirol so wichtigen Holzexport. In seinem Beitrag entwirft Emanuele Curzel eine interessante Perspektive zu Konflikten zwischen den wichtigsten kirchlichen Institutionen, dem vor Ort tätigen Klerus und den lokalen Gemeinschaften. Dabei kommt dem Fall des Lynchmordes eines Kaplans in Storo, der vom Fürstbischof von Trient relativ mild bestraft wurde, eine besondere Bedeutung zu. Carlo Taviani untersucht die Beziehungen zwischen der Gemeinden des Fleimstals, dem Hauptmann, der den Bischof vertrat, und dem Bischof selbst am Beispiel eines Hexenprozesses, in welchem die Spannungen zwischen der lokalen Bevölkerung, dem Bischof und seinen Vertretern kulminierten. Der letzte Aufsatz zum Tiroler Raum, aus der Feder von Alessandro Paris, ist inhaltlich anders gelagert: Er widmet sich dem politischen Aufstieg der Grafen von Arco an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert und fokussiert dabei die Machtkonflikte innerhalb der Familie sowie ihre Strategien für eine vorteilhafte Positionierung im Spannungsfeld zwischen dem Reich und der Republik Venedig in einer Zeit großer Instabilität. Luigi Provero analysiert politische Aktionsweisen und Konflikte im Rahmen der Nutzung der Ressourcen einiger Täler in den Westalpen – Stura und Susa – im 13. Jahrhundert und hebt hervor, wie das Zusammenspiel verschiedener Mächte in dieser Region zu dem geführt hat, was er als “non-conflictual cohabitation of a plurality of nonexclusive political identites” bezeichnet. Die lombardischen Zentralalpen, insbesondere das Gebiet der Diözese Como, sind Gegenstand der dichten Darlegungen von Massimo Della Misericordia, der aufschlussreiche Interpretationslinien für die Interaktion zwischen der sich vor allem rituell manifestierenden religiösen Dimension und den symbolisch stark aufgeladenen sozialen Praktiken der Aus- und Eingrenzung bietet. Vincenzo Lavenia beschließt den Teil zum Alpenraum mit umfassenden Überlegungen zu den alpinen Hexenprozessen und ihren Besonderheiten und zeigt dabei auf, wie sich hier in der Frühen Neuzeit Konflikte um die Gerichtsbarkeit mit sozialen Konflikten überlagerten.
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Das Buch wird durch zwei Aufsätze vervollständigt, die das übergeordnete Thema aufgreifen, sich hinsichtlich der geografischen Verortung des Untersuchungsraumes aber abheben. Taku Minagawa beschäftigt sich mit der vom Spätmittelalter bis in die Frühe Neuzeit andauernden Auseinandersetzung über die Festlegung der Grenze zwischen Böhmen und Bayern. Hier war die Schwierigkeit der Konfliktlösung auch von den auf beiden Seiten unterschiedlichen Schlichtungskulturen geprägt. Der Band schließt mit dem Aufsatz von Toshiyuki Tanaka, der sich mit der komplexen Stellung des habsburgischen Adels im Kontext der Ausdehnung der Stadt Basel ins Umland (Basel-Land) und der Ausweitung der Zuständigkeitsbereiche des lokalen Landgerichts befasst. Aus diesem kurzen Überblick lassen sich bereits die Schwächen und Stärken des Bandes erahnen. Das breite Spektrum der behandelten Themen und Ansätze erschwert bisweilen die Konzentration auf die gemeinsamen Merkmale, die keineswegs fehlen. Diesbezüglich wäre eine breiter angelegte Einleitung sinnvoll gewesen, die explizit den konzeptionellen Rahmen des Bandes hätte umreißen können. Des Weiteren zeichnet er sich durch eine starke Konzentration auf das Tiroler Gebiet aus; auch die Einbindung italienischer Alpenregionen und nicht-alpiner Räume in einigen Beiträgen kann diese Lücke nicht schließen, denn die nördlichen und östlichen Teile des Alpenbogens bleiben ausgeblendet. Hingewiesen sei auch auf manche sprachliche und begriffliche Ungenauigkeiten sowie auf einige Druckfehler. Ein Vorzug dieses Klaus Brandstätter gewidmeten Bandes, der die Lebendigkeit der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung zum Alpenraum widerspiegelt, liegt gewiss im breiten Panorama aktueller Forschungen zur Frage der Konfliktlösung. Die Alpen als Ganzes erweisen sich als interessanter Untersuchungsraum, um das Aufeinandertreffen und die Überlagerung unterschiedlicher rechtlicher und politischer Modelle zu analysieren. Ein nicht zu vernachlässigendes Buch also, dessen Lektüre durchaus zu empfehlen ist. Andrea Bonoldi
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MARKUS A. DENZEL, ANDREA BONOLDI, ANNE MONTENACH, FRANÇOISE VANNOTTI (Hg.): Oeconomia Alpium I: Wirtschaftsgeschichte des Alpenraums in vorindustrieller Zeit. Forschungsaufriss, -konzepte und -perspektiven, Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, 321 S., (ISBN 978-3-11-051987-7), 99,95 EUR. Die Vernachlässigung des vorindustriellen Alpenraums als Gegenstand einer systematischen wirtschaftshistorischen Forschung wurde in den letzten Jahrzehnten häufig beklagt, so insbesondere vom Braudel-Schüler Jean-François Bergier (1931–2009). Und in der Tat: Während man seit der Jahrtausendwende einen Boom der sogenannten Atlantic History oder seit kurzem auch einer erneuerten Mediterranean History feststellen konnte, kann dasselbe bezüglich einer Alpine History nicht gesagt werden. Daran hat auch die Existenz einer eigenen Fachzeitschrift „Histoire des Alpes – Storia delle Alpi – Geschichte der Alpen“ seit 1996 bislang nicht viel zu ändern vermocht. Einen Stimulus für die vertiefte wirtschaftshistorische Erforschung des vorindustriellen Alpenraums will die auf drei Bände angelegte Reihe „Oeconomia Alpium“ geben, für die seit 2012 Planungen laufen. Der erste, hier vorliegende Band basiert auf einer Ta-
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gung, die vom 19. bis 21. März 2015 in Hall in Tirol stattgefunden hat. Er behandelt das Themenfeld „Der Raum und seine Menschen“, während die nächsten zwei Bände sich den Bereichen „Der Alltag“ und „Handel, Migration und Kommunikation“ widmen sollen. Diese Reihe soll mehr als eine „Synopse der bisherigen Forschung“ bieten (4). Daher waren die Autoren offenbar ausdrücklich aufgefordert, weniger spezialisierte Aufsätze zu verfassen als vielmehr grundlegende Themen aufzugreifen und hierzu weitergehende Überlegungen zur Geschichte des Alpenraums zu entwickeln. Den Band eröffnet Markus A. Denzel mit konzeptionellen Überlegungen zu einer Wirtschaftsgeschichte des Alpenraums in vorindustrieller Zeit. Leitmotiv einer besonderen Fokussierung des Alpenraums bildet die Beobachtung, dass dieses Gebirge seit über zwei Jahrtausenden stets mehr ein Durchgangsgebiet als eine Barriere gewesen ist. Es folgt ein Text von Gabriel Imboden über das Konzept des „alpenländischen Kapitalismus“. Anregend ist hier die Beobachtung, dass aufgrund von insgesamt geringeren Handelsvolumina die alpinen Unternehmer insbesondere als Einzelfiguren im Schutz von oligarchischen Herrscherzirkeln operierten. Andrea Bonoldi betont die institutionellen Aspekte der alpinen Ökonomie. Beleuchtet werden unter anderem unterschiedliche Formen der Grundherrschaft, der Agrarverfassung mit ihren spezifischen Erbteilungsregeln, der Organisation von Familien und ihren Netzwerken, der Transportgenossenschaften und der unterschiedlichen Staatsformen mit ihren diversen Rechtsformen und -entwicklungen. Alessio Fornasin kritisiert die bisherigen Modelle der demographischen Entwicklung im vorindustriellen Alpenraum. Zur Erklärung eines inzwischen hinreichend verifizierten Bevölkerungswachstums von 2,9 Mio. auf 7,9 Mio. zwischen 1500 und 1900 zeichnet er die noch zu füllenden Umrisse eines Fruchtbarkeitsregimes im Alpenraum, welches sich durch geringe Sterblichkeitsziffern und ein besonders stark an die Konjunktur angepasstes, langsames, aber stabiles demographisches Wachstum auszeichnete. Christian Rohr beleuchtet den Einfluss von Klima und Umwelt als Rahmenbedingungen der alpinen Wirtschaft. Die Besiedlung des Alpenraums, der durch Säumer betriebene transalpine Handelsverkehr und die besonders stark saisonbedingten Tätigkeiten erweisen sich grundsätzlich als vom alpinen Klima bedingt, wobei hier Katastrophen wie Lawinen oder Heuschreckenplagen ein weiteres, besonders unberechenbares Gefahrenelement bildeten. Gerhard Siegl widmet sich dem Themenfeld der ländlichen Gemeingüter im Alpenraum. Er kritisiert die ältere Literatur mit ihrer Betonung der anachronistischen Elemente solcher Besitzungen und kann Studien und Ansätze einer Neubewertung des Phänomens und seiner teilweisen Persistenz bis in die Gegenwart vorstellen. Katia Occhi schließt mit einem Beitrag zu den Wirtschaftsbeziehungen der Republik Venedig und ihrer nordwestlichen Nachbaren Tirol und Trient an, die vordringlich durch den Holzhandel bedingt waren. Der Holzhandel über die Flüsse bedingte ein Ökomodell enger gegenseitiger Abhängigkeit und einer überregionalen Arbeitsteilung von Roh-, Agrar- und Fertigprodukten. Reinhold Reith stellt Überlegungen zum alpinen Gewerbe an. In den Blick nimmt er vor allem Sekundärindustrien für den Bergbau, eine bedeutende Arbeitsmigration professioneller Fachkräfte – vor allem von im Bauwesen tätigen Tirolern – und die seines Erachtens zu Unrecht unterschätzten alpinen Gebirgsmühlen. Er schließt mit einer Kritik an Überlegungen der historischen Nationalökonomie, die die aktiven Kräfte der Arbeiter in der Gewerbegeschichte, nicht nur der Alpen, tendenziell zugunsten der Verleger und Unternehmer übersehen haben. Luigi Lorenzetti widmet sich
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der saisonalen Arbeitsmigration und ihrem wirtschaftlichen Kontext im alpinen Raum. Das simple Modell von alpiner Peripherie und wirtschaftlichen Zentren der Ebene, welche eine Migration zur Subsistenz bedingten, wird von ihm großenteils abgelehnt und stattdessen eine Reihe von Push- und Pullfaktoren sowie komplexen Rückwirkungen der Migration auf Herkunfts- wie auch Zielraum betont. Louiselle Gally-de Riedmatten beleuchtet den „Fremdendienst“, also die dauerhafte Vermietung von Soldaten des Wallis in französische Militärdienste in der Frühen Neuzeit. Auch hier verweist sie auf die Komplexitäten, die sich als Resultat der entsprechenden Zahlungsströme ergaben, so für den Handel, die Salzversorgung, die diplomatischen Beziehungen sowie für Politik und Verfassung im Wallis. Sie mahnt angesichts der Heterogenität der Schweizer Kantone weitere vergleichende Studien zu diesem Thema an. Cinzia Lorandini zeigt Grundkonstanten des Handels im frühneuzeitlichen Tirol auf, welche von einer spezifischen und deutlich trennbaren Import-, Export- und Transitstruktur gekennzeichnet waren. Tirol zeigt sich als ein besonders stark von einem spezialisierten Handel mit Bergwerksprodukten, Seide, Holz und anderen Gütern gekennzeichnetes Land, welches dadurch in vielfältiger Weise an die Entwicklungen seiner Nachbarn gekoppelt war. Mark Häberlein illustriert am Beispiel der Welser und herausgehobener Unternehmungen im Safran-, Kupfer- und Textilhandel in Österreich, der Schweiz und Norditalien, wie die oberdeutsche Hochfinanz des frühen 16. Jahrhunderts durch ihre Aktivitäten im Alpenraum zu einer vertieften ökonomischen Integration desselben in die überregionalen Wirtschaftskreisläufe beitrug. Anne Montenach beleuchtet Formen des Schmuggels als endemisches Phänomen und integralen Bestandteil des Wirtschaftssystems im Alpenraum gerade für wirtschaftliche Aktivitäten im kleineren Rahmen. Die stillschweigende Toleranz eines gewissen Ausmaßes an Schmuggel durch die Obrigkeit trug in vielen Fällen zur Konsolidierung der staatlichen Autorität im Gebirge bei, da die Zulassung von Subsistenzschmuggel nur bei prinzipieller Akzeptanz der staatlichen Zollhoheit gewährt wurde. Philipp R. Rössner bietet interessante Beobachtungen zu Montanregionen im Europa der Jahrzehnte um 1500. Unter Bezugnahme auf Sachsen und Tirol zeigt er Modernisierungseffekte des Bergbaus auf, die von zentraler Bedeutung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Frühen Neuzeit waren. Mechthild Isenmann vergleicht die Ansichten und Äußerungen von Geistlichen und Unternehmern zur Wirtschaftsethik in Süddeutschland und Italien im Mittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit. Dabei zeigt sich eine weitgehende Ähnlichkeit der zentralen Kategorien der Reputation, die durch möglichst ehrliche Geschäftspraktiken und ostentativ zur Schau gestellte Philanthropie gesichert werden sollten. Markus A. Denzel beschließt den Band mit einer Zusammenfassung der Beiträge und Schlussfolgerungen, die sich aus diesen für eine künftige, methodologisch stärker reflektierte Forschung zur alpinen Wirtschaftsgeschichte ergeben. Der Eindruck des Bandes ist rundum positiv. Die facettenreichen Beiträge sind von anerkannten Spezialisten in ihrem Feld verfasst und geben profunde Einblicke in den Forschungsstand des jeweiligen Bereichs und darüber hinaus Anregungen und Ansätze zur weiteren Vertiefung. Es steht zu hoffen, dass die Erforschung der Wirtschaftsgeschichte des vorindustriellen Alpenraums durch diesen Band tatsächlich einen bedeutenden Stimulus erhält. Magnus Ressel
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MARIANNE ACQUARELLI: Die Ausbildung der Wundärzte in Niederösterreich. Unter der Herrschaft der Habsburger vom 18. bis zum 19. Jahrhundert (= Schriften des Archivs der Universität Wien 22). Göttingen: V&R unipress 2017, 242 S., 52 Abb., (ISBN 978-38471-0753-8), 40,00 EUR. Mit der Ausbildung von Wundärzten wendet sich Marianne Acquarelli einem Thema zu, das in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft bislang wenig bearbeitet worden ist. Sieht man von Sabine Sanders grundlegender Studie zu Württemberg ab (Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe, Göttingen 1989), gilt Ähnliches auch für den untersuchten Zeitraum von den 1770er bis in die 1870er Jahre und für die Frage, warum dieses Arzt-Handwerk abgeschafft wurde. Die Arbeit schlägt einen Bogen von der Förderung des Wundarztberufes durch Maria Theresia und Joseph II. (bei gleichzeitiger De-Zentralisierung der Ausbildung) zur zentralstaatlichen Abschaffung des Berufes hundert Jahre später, im Jahr 1873. Der historische Rückblick auf den Wundarztberuf (Kapitel 2) ist geprägt von Prämissen, die aus Quellen des späten 18. und 19. Jahrhunderts abgeleitet wurden. Acquarelli zeichnet Änderungen der beruflichen Normen ab den 1770er Jahren nach, ausgehend von der Normierung der Bezeichnungen (49) und fortgesetzt in vielfältigen, mehr oder minder erfolgreichen Versuchen in den nächsten Jahrzehnten, Praxis und Ausbildung zentral zu regulieren. In ihrem Überblick über die verschiedenen ärztlich-chirurgischen Berufe (55) zeigt die Autorin, wie stark noch im 19. Jahrhundert Kompetenzen, Bezeichnungen und Ausbildungsmethoden schwankten. Abschließend wird deutlich, dass der Bedarf an Wundärzten für das Kriegswesen zu außeruniversitären Studienmöglichkeiten für Chirurgen handwerklicher Herkunft führte (54–57). Mit der Frage nach der schulischen Vorbildung (Kapitel 3) führt Acquarelli die Unterscheidung zwischen der „niederen und der höheren Wundarzneikunst“ (59) ein, die sie aus Gesetzestexten von 1789 ableitet. Leider gibt sie keine Quellen für ihre Aussage an, dass diejenigen, die eine Wundarztlehre begannen, zuvor eine „Haupt- oder Normalschule“ besucht haben mussten (60). Aus Biographien und Autobiographien von Reichsstadtbürgern geht nämlich hervor, dass die meisten Wundärzte, die Ämter bekleideten, im 17. und 18. Jahrhundert einen gymnasialen Abschluss besaßen (vgl. ANNEMARIE KINZELBACH: Erudite and Honoured Artisans? Performers of body care and surgery in early modern German towns. In: Social History of Medicine 27 [2014], 668–688). Die Ausführungen über Veränderungen des Schulsystems stellen keinen Zusammenhang mit den Wundärzten her. Die Unterscheidung zwischen einer „niederen“ und einer „höheren“ Wundarzneikunst hat die Autorin nicht zuletzt von einem studierten Arzt, Joseph Jakob Plenck (1738–1807), übernommen (Kapitel 4), ohne dessen Motivation für seine 1778 publizierte Einteilung zu hinterfragen. Die Ausführungen über die Ausbildung orientieren sich ausschließlich an Normen. Es handelt sich um keine Neuerung, wenn die Aufnahme eines Lehrlings von einem chirurgischen Gremium genehmigt werden musste (76 f.); vielmehr wurde damit ein tradierter Zunftbrauch fortgeführt. Autobiographien zeigen überdies, dass in Gymnasien des Heiligen Römischen Reiches seit dem 17. Jahrhundert Vorlesungen über Chirurgie und Anatomie gehalten wurden, die Wundärzte als Schüler besucht hatten, und Gesellen an der Universität Straßburg Vorlesungen hörten. Neu war dagegen die 1785 per Dekret eingeführte Verpflichtung für Wundärzte, sich in Geburtshilfe ausbilden zu lassen (78). Ansonsten sind die Unterschiede zur traditionell üblichen Ausbil-
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dung vom Lehrling über den wandernden Gesellen zum Abschluss, dem eine kurzfristige Einschreibung an einer medizinisch-chirurgischen Lehranstalt oder einer Universität vorausgehen konnte, gering (83). Aus dem Abschnitt über die Meisterprüfung geht hervor, dass sich die medizinische Fakultät der Universität Wien lange bemühte, die Meisterprüfung für Wundärzte an sich zu ziehen (84 f.). Sie erzielte mit einer „Lehrkanzel für die praktisch-chirurgische Ausbildung“ (86) einen Teilerfolg, da die Absolventen mit einer Meisterprüfung abschlossen. Spannend zu lesen ist der Abschnitt über die Etablierung der chirurgischen Ausbildung an Lyzeen und degradierten Universitäten durch Joseph II. und das sogenannte „niedere“ chirurgische Studium (86–111), der sogar aus dem Blickwinkel der Normen einen beständigen Wandel dokumentiert. Ausschließlich aus dem Blickwinkel normativer Quellen stellt die Autorin die Ausübung der Heiltätigkeit (Kapitel 5) dar. Dasselbe gilt für Kapitel 6 über die „höhere Wundarzneikunst“. Im Mittelpunkt steht hier die Entwicklung zum chirurgischen Medizinstudium, das schließlich 1872 in den „Doktor der gesamten Heilkunde“ integriert wurde (149– 151). In Kapitel 7 beschreibt Acquarelli die „Josephsakademie“ und schildert deren Gründung als Folge militärischen Bedarfs, insbesondere der Unterversorgung mit Chirurgen, die einen Universitätsabschluss vorweisen und als Regiments- und Stabschirurgen dienen konnten (153 f.). In einem kleinen Militärspital und eigens dafür errichteten Lehrgebäuden wurden militärische Wundärzte seit 1781 in zweieinhalb Jahren zum „Medico-Chirurgen“ ausgebildet. Kurze Zeit später setzte der Oberstabschirurg Giovanni Alessandro Brambilla (1728–1800) einen aufwendigen Neubau der „anatomisch-medizinisch-chirurgischen Schule“ nahe dem Allgemeinen Krankenhaus durch (159 f.). Deren „Militair-Hauptspital“ diente der Unterweisung angehender Chirurgen; bis zu 1200 Soldaten bzw. deren Ehefrauen konnten dort kostenlos behandelt werden (160). Im Kapitel 8 stellt die Autorin dar, wie der Prozess der Abschaffung im 19. Jahrhundert verlief. Sie erwähnt, dass Wundärzte zunächst begrifflich eingeschränkt und streng von ihren ausschließlich an der Universität ausgebildeten Kollegen getrennt wurden, denen amtlich die Bezeichnung „Chirurg“ vorbehalten war (205 f.). Allerdings entgeht ihr, dass sich diese begriffliche Einschränkung an der Universität abspielte, die schon aus Eigeninteresse die Bedeutung eines vollständigen Studiums unterstreichen wollte. Überdies gibt sie nebenbei selbst ein Beispiel dafür, wie diese begriffliche Trennung in der Praxis unterlaufen wurde (206). Schließlich stellt die Autorin die Abschaffung des „niederen“ Studiums der Wundarznei an den Universitäten Prag und Wien sowie am Josephinum und in Graz in den Kontext der „Restauration“ ab 1848 (209). Kurz geht sie auf die fortwährende Verunglimpfung, Bekämpfung und Verdrängung des sogenannten „niederen“ Chirurgenstandes durch prominente studierte Ärzte ein (209 f.) und skizziert den Versuch der Wundärzte, sich gemeinsam dagegen zu wehren (210 f.). Schon die Einleitung macht allerdings eine Schwäche dieser Dissertation deutlich, die sich zu stark auf Normen stützt und nur im Ausnahmefall nach deren Umsetzung fragt oder einen Blick auf die Praxis wirft. Acquarelli trennt die Ärzteschaft in Anbieter von „inneren“ und „äußeren Kuren“ (11), wie es die Normen der Universitäten und einer wachsenden Zahl von Städten seit dem späten Mittelalter vorsehen. Wie wenig solche Normen der Praxis entsprachen, hat die sozialhistorische Forschung hinreichend gezeigt. Außerdem häufen sich Widersprüche wie das Postulat der Meisterprüfung an der Universität als allgemeine Regel (12), die – wie die Autorin selbst zeigt (85 f.) – keineswegs allgemein etabliert war.
Epochenübergreifend
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Auch ihre Aussage, Wundärzte und Chirurgen seien „später“ aus den Berufen Bader und Barbier hervorgegangen (11) und hätten unter Maria Theresia und Joseph II. an Bedeutung und Zahl zugenommen (12), deutet darauf hin, dass Acquarelli nicht versucht hat, ihre Perspektive durch Vergleiche mit anderen Studien zu erweitern; sonst hätte sie auch ihre Tabelle der Berufsbezeichnungen (32) anders gestaltet. Außerdem ist nicht zu übersehen, wie der Schwerpunkt der Quellenlektüre – Ausführungen von studierten Ärzten und Akten, die im Kontext der medizinischen Fakultät in Wien entstanden sind – die Darstellung prägt. Dies zeigen Sätze wie: „Es lag auch im staatlichen Interesse, das Niveau der Wundärzte anzuheben und anzugleichen“ (86) oder Acquarellis aus einem Genrebild abgeleitetes Verdikt über Wundarztpraxen in „fragwürdig eingerichteten […] unaufgeräumten Räumen“ (129). Hätte sie für ihren Abschnitt zur wirtschaftlichen Situation der Wundärzte (126–130) anderes Quellenmaterial benutzt, beispielsweise Dokumente über Grund- und Hausbesitz, Schuldverschreibungen oder Testamente und Stiftungen, wäre ihr vielleicht eine differenziertere Darstellung gelungen. Annemarie Kinzelbach
München
WOLFGANG BEHRINGER, SÖNKE LORENZ (†), DIETER R. BAUER (Hg.): Späte Hexenprozesse. Der Umgang der Aufklärung mit dem Irrationalen (= Hexenforschung 14), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2016, 432 S., 3 s/w Abb., (ISBN 978-3-89534-1), 29,00 EUR. Die 22 Beiträge dieses Bandes sind überwiegend aus einer Tagung der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Verbindung mit dem Arbeitskreises für Interdisziplinäre Hexenforschung (AKIH) im Kloster Weingarten 2005 hervorgegangen. Vor diesem Hintergrund ist das Vorwort zu verstehen, in dem Wolfgang Behringer und Sigrid Hirbodian die Entwicklung des AKIH und der Publikationsreihe „Hexenforschung“ rekapitulieren. Wesentlich für die darin sichtbare Erfolgsbilanz war die Unterstützung seitens des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Tübingen, namentlich des leider 2012 verstorbenen Lehrstuhlinhabers Sönke Lorenz, sowie der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart mit ihrem engagierten Akademiereferenten Dieter R. Bauer. Die Beiträge zum Thema des Bandes lassen sich in fünf Gruppen aufteilen (was so leider nicht auf den ersten Blick erkennbar ist). Eine erste Gruppe behandelt den zeitgenössischen Hexereidiskurs. Dabei fokussiert Wolfgang Behringer insbesondere den schroffen Gegensatz zwischen selbstgefälligem Aufklärungspathos und dem Beharrungsvermögen des Hexenglaubens in Verbindung mit einer entsprechenden Verfolgungsmentalität im 18. Jahrhundert. Das moderne Pendant dazu stellt aus seiner Sicht die Koexistenz von Moderne bzw. Postmoderne und anhaltenden Hexenverfolgungen in Teilen Afrikas, Südamerikas und Asiens dar. Dries Vanysacker vertieft diese Befunde anhand der zeitgenössischen Diskussionen im Italien des 18. Jahrhundert und ihrer Wirkungen auf die Eliten in Spanien, Frankreich, dem Reich und Österreich. Demnach stellte die Verbindung von theologischem Teufelsglauben und Providenzlehre das zentrale Hindernis für eine über prozessuale Bedenken hinausgehende Kritik an der Dogmatik des Hexereideliktes in kirchlichen Kreisen dar.
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Rezensionen und Annotationen
Eine zweite Gruppe von Beiträgen befasst sich mit einzelnen Prozessen im deutschen Sprachraum, so in Düsseldorf 1737/38 (Erika Münster-Schröer), Eglofs/Allgäu 1743 (Johannes Dillinger), der Reichsabtei Marchtal 1745–1757 (Constanze Störk-Biber), Endingen 1751 (Klaus Graf), der Fürstabtei Kempten 1775 (Wolfgang Petz), Glarus (Schweiz) 1782 (Walter Hauser), Tinzen und Glarus (Schweiz) 1780 und 1782 (Rainer Decker) sowie in der Innerschweiz (Zug, Luzern, Schwyz) 1737/38, 1747/48 und 1753/54 (Philipp Bart). Beschuldigungen aus der Bevölkerung spielten in allen Fällen eine Rolle (65, 160 u. ö.), während die gerichtlichen Autoritäten sich zwar einerseits in anachronistisch anmutender Weise verhielten, zugleich aber auch das einem Verfahren innewohnende Potential eingrenzten. Eine dritte Gruppe von Beiträgen stellt Prozesse und Verfolgungen in Osteuropa dar, so in den böhmischen Ländern der Habsburgermonarchie und der heutigen Slowakei (für die Petr Kreuz das Phänomen weit über den zeitlichen Rahmen der Aufklärung zurückgehend von den frühesten Belegen im Mittelalter bis in die Neuzeit thematisiert), in Polen 1747–1799 (Jacek Wijazka) und in Ungarn mit Siebenbürgen 1740–1848, wobei Lilla Krász und Péter Tóth G. mit der Darstellung der Bemühungen Maria Theresias und Josephs II. um „Dekriminalisierung der Magie“ und Zurückdrängung des Aberglauben eine über Einzelfallanalysen hinausgehende Perspektive einnehmen. Mit der dabei berührten Diskursebene ist ein Übergang zur vierten Gruppe von Beiträgen geschaffen. Darin thematisiert H.C. Erik Midelfort die Rolle, die der Pfarrer und professionelle Exorzist Johannes Joseph Gassner in Vorarlberg im 18. Jahrhundert bei der „Entzauberung“ von Fällen von Besessenheit spielte, indem er sich um deren rationalen Nachweis im Unterschied zum eingebildeten Hexereidelikt bemühte. Aus juristischer Perspektive thematisiert Wolfgang Schild die Konsequenzen der Aufgabe des materiellen Hexereideliktes mit der Frage, welche Strafbarkeit dem weiterhin möglichen, wenn auch für untauglich gehaltenen Versuch der magischen Schadenszufügung zustehe. Rainer Decker versucht anhand eines Überblicks über die Tätigkeit der ab 1814 mit dem Kirchenstaat restaurierten päpstlichen Inquisition zu klären, welche strafrechtliche Behandlung diese Behörde den nach wie vor existierenden Delikten des Aberglaubens, der Wahrsagerei und des Schadenszaubers zukommen ließ, nachdem gerade die Päpste schon ab dem 16. Jahrhundert bemüht waren, Hexenprozesse einzudämmen. Die vier Beiträge der fünften Gruppe greifen das Phänomen des Hexenglaubens und der Hexenverfolgung in außereuropäischen Herrschafts- und Kulturkreisen auf. Letzteres gilt allerdings für das zaristische Russland (Christine D. Worobec) nur teilweise. So waren vorwiegend westliche Landesteile betroffen, und zudem kann die Autorin zeigen, dass gerade mit der Ausrichtung Peters I. nach Westen Elemente des kerneuropäischen Hexenglaubens ihren Weg nach Osten fanden, ebenso wie die Bemühungen der Zarin Katharina II. (1762–1796), Hexereianklagen im Sinne der Aufklärung durch Zweifel an der materiellen Möglichkeit von Zauberei zu entkriminalisieren, unter dem Einfluss der Aufklärung standen. Während ihre Vorgängerinnen bis zurück zu Peter I. in Magie, ähnlich wie in der römischen Spätantike, eine Gefährdung für Herrscher und Staat erblickten, sah Katharina eher aus der betrügerischen Qualität magischer Praktiken und dem darin liegenden Verstoß gegen religiöse Gebote Gefahren für das Gemeinwesen erwachsen. Gleichzeitig blieben bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts im Umfeld der orthodoxen Kirche Vorstellungen wirksam, welche den Glauben an die Wirkmächtigkeit dämonischer Mächte und damit auch volkskulturelle Überzeugungen von der Realität magischer Praktiken bewahrten.
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Mit dem Beitrag von Barend J. Ter Haar zur Bedeutung von Hexerei in der chinesischen Geschichte verlässt der Band den von christlicher Religiosität geprägten Kulturkreis. Weder die buddhistische Religion noch der Taoismus unterstützten den auch hier vorhandenen Glauben an die Möglichkeit von Schaden durch Magie und böse Geister, darunter als schlimmste Form der Seelendiebstahl, und die Behörden sahen eher in religiösen Verschwörungen eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung. Schadenszaubervorwürfe waren somit eher ein lokales Ereignis, das aus der Bevölkerung hervorging, nicht selten in Verbindung mit betrügerischen Praktiken. Auch konnten derartige Vorwürfe genutzt werden, um andere zu schädigen oder gar zu töten. Einen Überblick über die Forschung zur Hexerei in Afrika auf nur wenigen Seiten zu geben (Stephen Ellis und Gerrie Ter Haar), ist trotz der Vielzahl regionaler Kulturen und der Komplexität der Entwicklungen hin zur Moderne ein wichtiger Beitrag. Zwar entspricht die spirit world des traditionellen Afrika nicht unbedingt der ‚magischen Welt‘ des vormodernen Europa, doch haben sich unter dem Einfluss des Kolonialismus hier Mechanismen der Verbindung von Macht und Magie sowie der Instrumentalisierung von Schadenszauberbeschuldigungen entwickelt, die durchaus mit zentralen Wirkmächten der europäischen Hexenverfolgungen verglichen werden können. Die Intrige, mittels der die Familie Tschudi im Kanton Glarus 1782 ihre Interessen durch den Hexenprozess gegen Anna Göldi zu schützen wusste (125 f.), ähnelt in frappierender Hinsicht machtpolitisch motivierten lokalen Umtrieben in afrikanischen Hexenverfolgungen der Moderne (343). Noch deutlicher ist der Kulturtransfer von Europa nach Übersee für das Phänomen von Magie- und Hexereiverfahren in Mittel- und Südamerika zu fassen, das Iris Gareis in einem Überblick für das Wirken der spanischen Inquisition in Peru und Mexiko sowie für die portugiesische Inquisition in Brasilien darstellt. Magie- und Hexereivorstellungen kursierten hier in Überschneidungen indianischer, afrikanischer und europäisch-christlicher Ursprünge. Dabei ist ein Schwinden des dämonologischen Konzepts zugunsten der Sanktionierung ritueller Individualmagie festzustellen. Eine Zunahme der Prozesse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Brasilien korrespondiert mit der wachsenden Furcht der Großgrundbesitzer vor einer Konspiration ihrer Sklaven. Generell war die Behandlung solcher Fälle durch die Inquisition von Vorsicht, Freisprüchen und milden Urteilen bzw. dem Verzicht auf Hinrichtungen gekennzeichnet. Eine von Wolfgang Behringer erstellte Liste „später“ Hexenprozesse für den Zeitraum 1700–1911 beleuchtet trotz ihres Umfangs von über 60 Seiten nur „die Spitze eines Eisbergs“. Immerhin dokumentiert sie Hinrichtungen vermeintlicher Hexen noch für das ganze 19. Jahrhundert – vorwiegend in Osteuropa, aber auch in afrikanischen und indianischen Stammesgebieten im Süden der USA –, zugleich Fälle von Lynchjustiz in Frankreich, Belgien und Irland. Hinzufügen möchte man angesichts der nicht weiter erklärten zeitlichen Beschränkung, dass es einerseits in Europa auch nach 1911 noch zu Fällen von Lynchjustiz gegen vermeintliche Hexen kam, andererseits bis heute Hexenhinrichtungen in zum Teil erheblichem Umfang nicht nur, in Afrika, sondern auch in asiatischen Ländern, allen voran in Indien, stattfinden. Dem Phänomen „später“ Hexenverfolgungen in Europa entspricht eine anhaltende und bedrückende Aktualität in diesen Erdteilen. Walter Rummel
Speyer
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2. Mittelalter HARALD DERSCHKA, JÜRGEN KLÖCKLER, THOMAS ZOTZ (Hg.): Konstanz und der Südwesten des Reiches im hohen und späten Mittelalter. Festschrift für Helmut Maurer zum 80. Geburtstag (= Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 48), Ostfildern: Thorbecke 2017, 248 S., 30 Abb., (ISBN 978-3-7995-6848-7), 28,00 EUR. Seit einem halben Jahrhundert zählt Helmut Maurer zu den maßgeblichen Landeshistorikern in Südwestdeutschland. Als langjähriger Konstanzer Stadtarchivar, Lehrbeauftragter und Honorarprofessor der Universität Konstanz sowie als Mitglied zahlreicher gelehrter Gesellschaften generierte er ein respektgebietendes Œuvre, darunter als Alleinautor nicht zuletzt den unmittelbar vor dem Abschluss stehenden Baden-Württemberg-Band des Repertoriums der deutschen Königspfalzen. Ein klassischer Historiker-Archivar bester Tradition, dem die geschichtliche Landeskunde im Bodenseeraum und weit darüber hinaus viel zu verdanken hat! Anlässlich von Maurers 80. Geburtstag richteten Schüler und Freunde des Jubilars im Mai 2016 mit Unterstützung des Stadtarchivs Konstanz, des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte, des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung sowie der Universität Konstanz in der Stadt am See ein wissenschaftliches Kolloquium aus, dessen Vorträge in diesem Band vereinigt sind. Die behandelten Themen sind von großer Vielfalt; gemeinsam ist ihnen indessen der Bezug auf den Bodenseeraum. Unter dem Titel ,Geschichtliche Wahrheit oder erfundene Tradition?‛ untersucht Fredy Meyer ausgehend von der Schaffhauser Stifterchronik die Verehrung Graf Eberhards († 1078/80) des Seligen von Nellenburg und kommt zu dem Ergebnis, dass diese Verehrung wahrscheinlich schon bald nach dem Tod des Grafen bei dessen Grab im Kloster Allerheiligen zu Schaffhausen begann. Für das 12. und 13. Jahrhundert fehlen entsprechende Nachweise, aber im 14. Jahrhundert gibt es einen Beleg aus Rheinau; während des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit bestehen an der Eberhard-Verehrung in Schaffhausen und Rheinau keine Zweifel, und seit 1955 hat die Stuttgarter Konkathedrale den Seligen als Konpatron. Claudia Zey betrachtet am Beispiel Bischof Gebhards III. von Konstanz (1084–1110), eines Zähringers, das Wirken und die Wirkung päpstlicher Legaten im Investiturstreit; ferner geht sie der Frage nach, welche zusätzlichen Wirkungsmöglichkeiten ein Reichsbischof um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert aufgrund der ihm vom Papst verliehenen Legatenwürde in einem die damalige Welt bewegenden Konflikt hatte. Die Antwort fällt zwiespältig aus: Zwar gewann der Bischof mit der Legation an Einfluss im Reich und darüber hinaus, zudem stärkte sie seine Stellung in der eigenen Diözese, aber im Konflikt zwischen Kaiser und Papst vermochte er letztlich doch nicht viel zu bewirken. Dem „herrschaftlichen Neustart“ Herzog Konrads von Zähringen († 1152) im Schatten des Wormser Konkordats widmet sich Thomas Zotz (,Audite karissimi membra Christi et matris catholicae ecclesiae filii‘) und verdeutlicht, wie die eigentliche territorialpolitische Offensive der Zähringer tatsächlich erst nach 1122 begann. Harald Derschka wirft mit einem Aufsatz über den Reichenauer Lehnhof um die Mitte des 15. Jahrhunderts Schlaglichter auf den Ertrag seiner kürzlich als Band A61 in der Quellenreihe der baden-württembergischen historischen Kommission erschienenen
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Edition der Kloster Reichenauer Lehnbücher von 1402/27 und 1428/53. Unter dem Titel ,Mehr Fenster, mehr Licht, mehr Luft‘ präsentiert Gabriela Signori vor einem weiteren Horizont „erhellende Einsichten“ aus dem ältesten Konstanzer Baumeisterbüchlein (1452/70). Brigitte Hotz (,Der Konstanzer Stadtschreiber Nikolaus Schulthaiß auf Richtersuche in Augsburg‘) veranschaulicht anhand des Karlsruher Kopialbuchs GLA 67 Nr. 1491 Schnittstellen kommunal-kirchlicher Sphären um 1400 und plädiert dafür, diese mindestens bis in die 1460er Jahre reichende „veritable Fundgrube zu Ämtern und Funktionen, Auftragsreisen und sonstigen Unternehmungen des kompilatorischen [Konstanzer] Stadtschreibers oder auch seiner Verwandten“, mit der auch Helmut Maurer sich verschiedentlich befasste, weiter zu untersuchen und zu erschließen – weshalb nicht gleich zu edieren? Schließlich betrachtet Stefan Sonderegger den ,Austausch über den Bodensee im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit‘, eröffnet damit Perspektiven auf eine Edition von Missiven der ehemaligen Reichsstadt St. Gallen und thematisiert zugleich ein Anliegen, das den mit diesem Band Geehrten schon immer bewegt hat. Alles in allem: ein ebenso buntes wie anregendes Gebinde. Den Band beschließen drei Beiträge, die Helmut Maurer als Stadtarchivar (J. Klöckler), als Forscher (Th. Zotz) und als akademischen Lehrer (B. Kata) würdigen. Darauf folgt noch ein sehr hilfreiches Schriftenverzeichnis des Jubilars mit nicht weniger als 580 Nummern (H. Derschka und J. Schwarz). Kurt Andermann
Stutensee (Blankenloch)
LUCAS WÜSTHOF: Schwabenspiegel und Augsburger Stadtrecht (= MGH Schriften 73), Wiesbaden: Harrassowitz 2017, 367 S., (ISBN 978-3-447-10840-9), 74,00 EUR. Das Stadtrecht der aufstrebenden Stadt Augsburg, die sich sukzessive aus der Stadtherrschaft des örtlichen Bischofs zu emanzipieren suchte, wozu wohl nicht zuletzt eben jenes Recht, das König Rudolf von Habsburg der Stadt 1276 gewährte, wesentlich beitrug, gehört nicht zu den wissenschaftlich intensiv diskutierten Rechtstexten im Übergang vom Hochzum Spätmittelalter. Dies mag damit zusammenhängen, dass sich die Augsburger Quelle den gängigen chronologischen Schemata, nach denen die europäische Rechtsgeschichte des Mittelalters, die Stadtrechtsgeschichte zumal, erzählt wird, etwas entzieht bzw. quer dazu liegt. Es hat sicher auch seinen Hintergrund darin, dass andere im weiteren Sinne zeitgenössische Normtexte, das Magdeburger Stadtrecht etwa, vor allem aber die Spiegelrechte, insbesondere natürlich der Sachsenspiegel, der rund ein halbes Jahrhundert älter sein dürfte als das fragliche Augsburger Recht, die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf sich gezogen haben. Allein schon vor diesem Hintergrund ist es verdienstvoll, dass sich Lucas Wüsthof für seine Bayreuther Dissertation des Augsburger Stadtrechts von 1276 annimmt und es mit der etwas prominenteren jüngeren Schwester des Sachsenspiegels vergleicht: dem Schwabenspiegel, der zeitlich etwa parallel zum Augsburger Stadtrecht entstanden sein dürfte. Doch dies ist nicht der einzige Vorzug des Buches, das in der renommierten Schriftenreihe der Monumenta Germaniae Historica erschienen ist. Der Autor gliedert seine Studie in drei größere Komplexe: Zunächst nähert er sich über eine Bestandsaufnahme hinsichtlich des Forschungsstandes zu beiden Rechtstexten seinem Gegenstand an und referiert namentlich die Positionen zum Verhältnis von
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Schwabenspiegel und Augsburger Stadtrecht. Etwas schematisch fallen die vier Varianten aus, die der Autor hinsichtlich der Einordnung des Verhältnisses von Schwabenspiegel und Augsburger Stadtrecht aus der Forschungsliteratur herausgelesen hat und etwas kraftvoll-martialisch als „Stoßrichtungen“ bezeichnet, die in „Zwietracht“ miteinander lägen (5–7). Unklar bleibt in dieser Erörterung, ob sich alle Bewertungen in der Wahrnehmung des Verfassers eher ausschließen oder ob auch Positionen dazwischen möglich wären. Dies betrifft insbesondere die „Variante 4“ (6), wonach die Kernschöpfung des Schwabenspiegels in Regensburg angenommen wird. Schlösse das Einflüsse und Beeinflussung des Augsburger Stadtrechtes aus oder gäbe es auch hier Verbindungswege? Auch wenn die referenzierten Werke, die zur Stützung möglicher Einordnungen angeführt werden, von unterschiedlichem Zuschnitt und Nachweiswert sind, liest sich die grundsätzliche erste Verhältnisbestimmung der Meinungen zueinander (6 f.) sehr ansprechend und weckt Interesse am Fortgang der Untersuchungen, die der Verfasser anstellt. Etwas erratisch nimmt sich aber im einleitenden, das Forschungsmaterial gruppierenden Teil der Abschnitt aus, in dem abstraktere Gedanken zur Frage von Textverwandtschaften und wechselseitiger Beeinflussung von Quelltexten auf knappem Raum zusammengestellt werden. Diese Überlegungen wären wohl treffender zu Anfang des zweiten größeren Abschnitts eingereiht worden, der sich breit und facettenreich dem direkten Vergleich von Schwabenspiegel und Stadtrecht widmet und zunächst nach den Stadtrechtsteilen gegliedert ist, um dann vier Auswahlkomplexe anzuschließen. Eine breite Zusammenstellung der erzielten Ergebnisse beschließt die Schrift. Hoch zu loben ist das Fundament, auf das Lucas Wüsthof seine Untersuchung gestellt hat. Die Quellen- und Literaturbasis ist in ihrer Vielfalt und Breite nicht nur für einen akademischen Erstling vorbildlich und außergewöhnlich. Eine bloße Zahl vermittelt eine Ahnung davon: Das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst 31 eng bedruckte Seiten und vermag damit auch allgemeines bibliographisches Interesse zu hoch- und spätmittelalterlichen Rechtstexten des oberdeutschen Raumes zu befriedigen! Ihren inhaltlichen Ausgang nimmt die Schrift von der wissenschaftlichen Bestandsaufnahme, die Wüsthof auf den ersten 74 Seiten vornimmt und bei der er die wesentlichen Forschungsfragen zielgerichtet herausarbeitet (49 f. und 73 f.). Dies sind beim Schwabenspiegel die Fragen der Autorschaft und – in enger Verwandtschaft damit – seines Entstehungsorts, beim Augsburger Stadtrecht das textliche Verhältnis zum Schwabenspiegel. Diesen Fragestellungen spürt der Autor auf den etwa 245 Seiten des Hauptteils nach, der dem Vergleich der beiden Rechtstexte gewidmet ist. Bei seiner Betrachtung des ersten Stadtrechtsteils (76–131), der sich – obschon moderner Systematik entratend – grundlegenden Fragen der Rechtsgemeinschaft widmet, erreicht der Autor ein durchaus ansprechendes Diskussionsniveau, wenn er etwa die konkreten Vergleiche zum Münzrecht (96–104) oder zum Judenrecht (104–130) mit eher abstrakten Erörterungen kontrastiert, z. B. in seiner Annäherung an den zeitgenössischen Rechtsbegriff (77–80) oder hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis eines Stadtrechts zu einem Landrecht (86–90). Die Einlassungen zum zweiten (131–224) und dritten (224–246) Stadtrechtsteil sind – sicher den dort zusammengestellten Inhalten geschuldet – vordergründig gegenstandsbezogen angelegt. Nicht immer wird dabei die aktuelle Literatur zu einzelnen Bezügen herangezogen, sondern teilweise ältere Werke referenziert. So fehlt etwa bei der Erörterung der Haftung für das Verhalten von Tieren (158–164) der Beitrag „Tierschaden – Über den Zu-
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sammenhang augsburgischen und gemeinen Rechts am Beispiel menschlicher Haftung für vom oder am Tier verursachte Schäden“ von Christoph Becker in der Festschrift für Rolf Kießling, was angesichts der Literaturfülle, die der Autor ansonsten heranzieht, bedauerlich ist. Warum der Autor nach seinem Durchgang durch die Teile des Stadtrechts noch gesonderte Themenbereiche zusammenstellt und anfügt (246–321), könnte etwas deutlicher hervortreten; hier wird der Leser hinsichtlich der Gliederung etwas im Unklaren gelassen. Inhaltlich bieten die Unterkapitel wie der gesamte Hauptteil ein vielfältiges Informationstableau, das in fleißiger Detailrecherche dicht gearbeitet ist. Der Vergleich, den Lucas Wüsthof zwischen Augsburger Stadtrecht und Schwabenspiegel anstellt, ist in seiner Grundsätzlichkeit der Fragestellung wie in seiner Breite der Ausarbeitung im Detail ein bemerkenswerter Beitrag zur Erforschung der oberdeutschen Rechtsgeschichte des Hoch- und Spätmittelalters, dem umfassende Beachtung zu wünschen ist. Die Monographie ist mit großem Fleiß erarbeitet worden, durchdringt das Material in bemerkenswerter Tiefe und hält zahlreiche Anregungen für die weitere Beschäftigung mit den beiden untersuchten Rechtstexten bereit. Peter Kreutz
Berlin/Augsburg
CLAUDIA ESCH: Zwischen Institution und Individuum. Bürgerliche Handlungsspielräume im mittelalterlichen Bamberg (= Stadt und Region in der Vormoderne 4/ Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 23), Würzburg: Ergon 2016, 576 S., mehrere Abb., (ISBN 978-3-95650-131-9), 72,00 EUR. Claudia Esch nimmt in ihrer an der Universität Bamberg entstandenen Dissertation die „Handlungsspielräume“ der Bürger im spätmittelalterlichen Bamberg in den Blick. Sie untersucht das politische Verhältnis zwischen den Bürgern des Stadtgerichts einerseits und den Immunitäten andererseits – Bezirken, die nicht der Herrschaft des bischöflichen Stadtherrn unterstanden, sondern eigene Rechtsbezirke innerhalb der Stadt darstellten, die verschiedenen geistlichen Institutionen unterstanden. Das Buch gliedert sich in eine 366 Seiten starke Abhandlung (inklusive Quellen- und Literaturverzeichnis) und einen 200seitigen Anhang, in dem Quellenangaben zu abgekürzt zitierten Urkunden sowie Amtsträger in den Immunitäten und im Stadtgericht, einmal nach Jahren und einmal nach Personennamen sortiert, aufgelistet werden. Mit ihrer Abhandlung wendet sich die Verfasserin gegen den verbreiteten Common Sense, der von einer „negative[n] Auswirkung der Immunitäten auf die Stadtentwicklung“ ausgeht (13), dabei jedoch den anachronistischen Idealzustand der städtischen Einheit als Maßstab anlegt. Sie nimmt damit Bezug auf die jüngere Forschung, welche die Immunitäten „nicht als gesonderte geistliche Bezirke, sondern als eine Form von städtischem Sonderrechtsbereich“ interpretiert (20). Die Verfasserin fragt daher nicht nach positiven oder negativen Auswirkungen der Immunitäten auf die Stadtentwicklung, sondern danach, „welche politischen Spielräume der Bürger sich gegenüber dem Bischof und den Immunitätsherren in den Quellen erkennen lassen und wie sich diese vom 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts entwickelten“ (15). Hierfür hat Esch eine umfassende und
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gründliche Analyse diverser Rechts- und Verwaltungsbücher der Stadt Bamberg sowie einer großen Anzahl an Urkunden durchgeführt. An die Erläuterung der Untersuchungskriterien in der Einleitung schließt sich der erste Abschnitt an, der sich mit dem spannungsreichen Verhältnis zwischen der Bürgerschaft des Stadtgerichts, dem Bischof sowie dem Domkapitel als den entscheidenden politischen Akteuren in ihrem Ringen um Einfluss in der Stadt und in ihrem Zusammenwirken beschäftigt. Esch erliegt nicht der Versuchung, die Akteure ausschließlich als Vertreter gegensätzlicher Interessen zu schildern, sondern stellt die Beziehungen in all ihren Schattierungen dar. Oftmals handelte es sich bei der innerstädtischen Politik eben nicht um die bloße Durchsetzung individueller Interessen durch die Akteure; bei ähnlich gelagerten Interessen taten sie sich situativ in verschiedenen Konstellationen zusammen, konnten bereits beim nächsten Mal aber durchaus gegensätzliche Positionen vertreten. Im zweiten Abschnitt widmet sich die Verfasserin den Steuern, mit denen sich die bisherige Forschung nicht intensiv auseinandergesetzt hat. Die Auswahl dieses Themenfelds begründet Esch mit dessen Eignung für die Untersuchung bürgerlicher Handlungsspielräume, da sie „das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen Steuerherrn und Bürgern“ darstellten (136). So rückt sie die Verhandlungen (bzw. deren Ergebnisse) über Laufzeiten, Höhen und unterschiedliche Kompetenzen bei der Eintreibung der Steuern, deren Rechnungslegung und die Beteiligung der Akteure in den Mittelpunkt. Das vermag die unterschiedlichen Interessen (sowie deren Überschneidungen) und Aktionsradien der Akteure im Wettstreit um Einfluss und Einnahmen besonders gut zu veranschaulichen. Während sich die ersten beiden Abschnitte entsprechend dem Titel den Institutionen oder kollektiven Interessen widmen, steht im dritten Abschnitt eher das Individuum im Mittelpunkt. Ausgehend von einer datenbankgestützten quantitativen Erfassung der Amtsträger im Stadtgericht und in den Immunitäten deckt Esch zahlreiche individuelle Verflechtungen zwischen den „Eliten“ (232–234) der verschiedenen Bezirke auf. Zahlreiche dieser Amtsträger hatten sowohl Funktionen im Stadtgericht als auch in einer oder mehreren Immunitäten inne. ‚Bezirksübergreifende‘ Karrieren waren bereits Gegenstand bisheriger Forschung; Eschs Verdienst liegt indessen in der erstmaligen systematischen Erfassung und auch quantitativen Analyse, durch die sie (bei aller methodischer Vorsicht) Wechselwirkungen zwischen den in den ersten beiden Teilen behandelten Themenfeldern und den personellen Zusammensetzungen der Institutionen sowie eine zeitliche Differenzierung herausarbeiten kann. Zugleich setzt an diesem Zugang aber auch die Kritik an Eschs Vorgehensweise ein: In Anbetracht des Titels „Zwischen Institution und Individuum“ ist zu konstatieren, dass Letzteres in der Darstellung zu kurz kommt. Das ist gewiss den Quellen geschuldet, treten in ihnen ‚die‘ Bürger doch meist nur als Kollektiv oder durch ihre Institutionen vertreten hervor. Doch auch wenn Namen greifbar sind, stehen in Eschs Werk oftmals institutionsgeschichtliche Fragestellungen im Mittelpunkt, wie etwa die Praxis der Ämterbesetzung. Da die einzelnen Personen hierbei außerdem nach verschiedenen Kriterien gruppiert werden, tritt das Individuum meist hinter die analytischen Kategorien zurück. Teilweise zu relativieren ist diese Kritik angesichts des Anhangs, in dem die Amtsträger erfasst sind, so dass individuelle Karrierewege greifbar werden. Neben der Auswertung auf Grundlage der Personennamen hätte eine qualitative Analyse einzelner Karrierewege unter Ausweitung des Quellenspektrums die Beschaffenheit individueller bürgerlicher Handlungsspielräume und
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die sich hieraus ergebenden unterschiedlichen Handlungsoptionen zusätzlich verdeutlichen können. In Anbetracht des von der Verfasserin geleisteten, beachtlichen Arbeitsaufwands wäre dies unter den eng gesteckten Rahmenbedingungen eines Dissertationsprojekts jedoch kaum möglich gewesen. Zudem wird dieser Kritikpunkt durch die Qualitäten der Abhandlung aufgewogen, insbesondere ihre Quellennähe. Eschs Kenntnis der Quellen ermöglicht ihr, en passant zahlreiche Fragen der Bamberger Stadtgeschichte (z. B. nach der institutionellen Verfasstheit des Rats) mitzubehandeln. Der Verfasserin gelingt es, nicht nur mit überkommenen Vorstellungen zu brechen, sondern auch überzeugende Gegenentwürfe zu liefern. Die Feststellung, dass es sich bei den Immunitäten nicht um isolierte Fremdkörper innerhalb Bambergs handelte, sondern dass zahlreiche Verbindungen zwischen den politischen Akteuren auf personeller und institutioneller Ebene existierten, ist nur ein Beispiel dafür. Doch nicht nur wegen ihrer Relevanz für die Bamberger Stadtgeschichte ist Eschs Dissertation eine breite Rezeption zu wünschen; sie widmet sich einem für die spätmittelalterliche Stadtgeschichte allgemein zentralen Thema – und dies mit einer innovativen, quellennahen, scharfsinnigen und für verschiedene Lesergruppen mit großem Gewinn zu lesenden Analyse. Kilian Baur
Eichstätt
JENS KLINGNER, BENJAMIN MÜSEGADES (Hg.): (Un)Gleiche Kurfürsten? Die Pfalzgrafen bei Rhein und die Herzöge von Sachsen im späten Mittelalter (1356–1547) (= Heidelberger Veröffentlichungen zur Landesgeschichte und Landeskunde 19), Heidelberg: Winter 2017, 280 S., (ISBN 978-3-8253-6764-0), 45,00 EUR. Hervorgegangen aus einer Dresdner Tagung 2015, haben es sich die dreizehn, durch ein Orts- und Personenregister zu erschließenden Beiträge zum Ziel gesetzt, auf Grundlage einer Verflechtungsgeschichte und mittels vergleichender Phänomenologie die wittelsbachischen und wettinischen Kurlinien zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert gegenüberzustellen. Die Schwerpunkte liegen hierbei, wie die beiden Herausgeber in ihrer Einleitung skizzieren, auf den Feldern Rang, Familienordnung und Herrschaftspraxis und folgen damit den wegweisenden Arbeiten von Peter Moraw und Karl-Heinz Spieß. Letzterer erkennt für das 15. Jahrhundert eine deutliche Steigerung und Intensivierung des Zeremoniellen, welches sich in einem „Wetteifern um einen angemessenen Rangplatz“ (118) ausdrückte. Nur mit Kursachsen bzw. der Kurpfalz beschäftigen sich die Aufsätze Joachim Schneiders und Kurt Andermanns. Dieser zeichnet in einem breiten zeitlichen Ansatz das wittelsbachische Instrumentarium nach, durch das die Kurpfälzer versuchten, den Ritteradel zu binden. Jener setzt Joseph Morsels ebenso berühmter wie umstrittener These, der Adel sei um 1450 erfunden worden, für den Niederadel den besonders auf Lehnrecht und Fürstendienst gründenden Terminus der „ehrbaren Mannschaft“ entgegen. Die weiteren Beiträge suchen konsequent die komparatistische Perspektive. Einer kirchengeschichtlichen Fragestellung folgen hierbei Jasmin Hoven-Hacker, Beate Kusche und Stephan Flemmig. Letzterer geht den Beziehungen zum Deutschen Orden zwischen 1410 und 1525 nach, die insgesamt nach einer relativ intensiven frühen Phase bis 1435 eher reaktiv gewesen seien. Die Kurfürsten hätten den Ritterorden „primär als Spital des
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Rezensionen und Annotationen
deutschen Adels“ (261) angesehen. Ein in kirchenpolitischer Hinsicht konstant enges Verhältnis der durch Verwandtschaft, Freundschaft, Verträge und sonstige Dienste verbundenen Dynastien macht Kusche in zwei Untersuchungsphasen (1518–1525, 1525– 1532) aus. Hoven-Hacker überprüft die Versorgungs-, Memoria- und Bildungsthese für die geistlichen Töchter und kann weder eine Vorliebe für bestimmte Orden noch eine grundsätzliche Linie feststellen; dem Kloster- bzw. Stiftseintritt sei vielmehr jeweils eine Einzelfallentscheidung vorausgegangen. Anhand zweier Beispiele von 1527 und 1535 interpretiert Marco Neumaier in üblicher Weise Eheschließungen als „Elemente machtpolitischer Strategien“ (158), wobei sein Interesse vor allem den prunkvollen Inszenierungen im Umfeld gilt. Einen weitgehend vergleichbaren Umgang mit der Nachfolgefrage zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert, die dritt- und viertgeborene Söhne in Richtung geistlicher Karriere drängte, attestiert Benjamin Müsegades. Sein Mitherausgeber Jens Klingner stellt die politisch-konfessionelle Amalgamierung um die Königswahl von 1531 heraus, bei der weder Wittelsbacher noch Wettiner ein konzertiertes Vorgehen innerhalb ihrer Familien praktizierten. Die oft thematisierte Frage nach dem Wesen des „Kurfürstlichen“ stellt auch Julia Burkhardt, die sich vor allem der symbolischen Kommunikation auf den von Kurfürsten organisierten Reichsversammlungen des 15. Jahrhunderts annimmt. Hierbei macht sie eine zunehmende Ausdifferenzierung hin zu einer eigenständigen Politik aus. Dem Beitrag ist eine praktische Tabelle zur kurfürstlichen Anwesenheit auf Versammlungen zwischen 1414 und 1471 beigefügt (105–107). Andreas Büttner trägt in seiner Untersuchung der Wahl- und Krönungsvorgänge zwischen 1376 und 1519/20 Quellenbelege vornehmlich aus den Reichstagsakten zusammen und charakterisiert die sächsischen Kurfürsten und die Pfalzgrafen bei Rhein als (nach den geistlichen Kurfürsten) „die ersten aus der zweiten Reihe“ (65). Gegen monokausale Aufstiegserklärungen wendet sich zuletzt Stefan Burkhardt, der die Kurwürde von den Parametern Rang und Funktion bestimmt sieht und die jeweiligen historisch-politischen Kontexte sowie die Dynamiken innerhalb der verschiedenen Häuser betont. Der Sammelband ist vor allem wegen der angewandten Methode interessant. Die Ergebnisse und Interpretationen überraschen hingegen selten, vor allem weil nur von wenigen Autoren bisher unbekanntes Quellenmaterial herangezogen wird. Deutlich zeigt sich, wie wichtig künftig die Ausbildung einer Fachsprache des Vergleichbaren ist. Ein erster Schritt hierzu könnte sein, den kurfürstlichen Linien der Wittelsbacher und Wettiner eine methodisch vergleichbar instruktive Studie zu den Herzögen der jeweiligen Dynastien an die Seite zu stellen. Christof Paulus
Seehausen am Staffelsee
JOHANNES PROBUS: Cronica monasterii beati Meynulphi in Bodeken. Aufzeichnungen aus dem Kloster Bodeken 1409–1457. Hg. und übs. v. HEINRICH RÜTHING (†) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Neue Folge 36), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2016, 506 S., 3 s/w u. 15 farb. Abb., (ISBN 978-3-73951036-1), 49,00 EUR. Böddeken, eine der frühesten Klostergründungen im Hochstift Paderborn, geht auf den Paderborner Archidiakon Meinolf zurück. Der später als heilig verehrte Kleriker richte-
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te dort im Jahr 836 oder kurz danach ein Frauenstift ein. Im 14. Jahrhundert gerieten die Kanonissen in eine personelle, geistliche und wirtschaftliche Krise; das Stift zerfiel. Aufgebaut wurde Böddeken erneut seit Anfang des 15. Jahrhunderts, als es Augustinerchorherren der Windesheimer Kongregation anvertraut wurde. Nach mühsamen Anfangsjahren entwickelte sich Böddeken zum wichtigsten Zentrum einer klösterlichen Reformbewegung in Deutschland, die eng mit der von den Niederlanden ausgehenden Laienbewegung der Brüder vom gemeinsamen Leben und der Spiritualität der Devotio moderna verbunden war. Von Böddeken gingen wichtige Impulse für die Reform anderer Klöster aus, von Segeberg im Norden bis nach Basel und Zürich. Die Geschichte Böddekens jener Jahre schrieb der aus Paderborn stammende Kleriker Johannes Probus, der zwischen 1409 und 1457 im Konvent lebte. Er machte sich bis zu seinem Tod um die liturgische, aber auch pragmatische Schriftlichkeit des Klosters verdient. Zu seiner literarischen Hinterlassenschaft gehört die nun ediert vorliegende Cronica monasterii beati Meynulphi in Bodeken. Anfang des 18. Jahrhunderts hatten die gelehrten Benediktiner Edmond Martène und Ursin Durand die Böddeker Chorherren auf den historiographischen Schatz ihres Klosters hingewiesen und seine Veröffentlichung empfohlen. Es ist das Verdienst des in Paderborn geborenen und unweit Böddekens in Lichtenau aufgewachsenen Historikers Heinrich Rüthing († 2017), dass die Chronik des Johannes Probus nunmehr in einer vollständigen modernen Edition vorliegt. Johannes Probus formulierte in seiner Vorrede, er wolle all das festhalten, was den zukünftigen Böddeker Chorherren in ihrem klösterlichen Leben helfen sollte. Dies gelte sowohl für die Darstellung vermeidenswerter als auch nachahmenswerter Dinge. Notwendig für ein wohlgeordnetes klösterliches Leben waren dem Chronisten zufolge der Gehorsam der Konventualen gegen ihre Prioren und die Eintracht der klösterlichen Gemeinschaft. Die Auseinandersetzungen, in die das Kloster Böddeken mit seiner näheren und weiteren Umwelt involviert war, verschweigt Probus nicht. Dabei geht es dem Chronisten um die Darstellung seines Klosters als bedrängte Gemeinschaft, die aufgrund ihrer Regelstrenge in allen Auseinandersetzungen auf die Hilfe Gottes und der Heiligen vertrauen konnte. Der Herausgeber weist zu Recht darauf hin, dass man der Chronik des Johannes Probus, der am Anfang der Geschichtsschreibung einer religiösen Reformbewegung stand, zu der die Frenswegener Chronik oder die historiographischen Arbeiten eines Thomas von Kempen und Johannes Busch zu zählen sind, viel mehr entnehmen kann als nur die Geschichte eines Klosters in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Lese man sie „gegen den Strich“ (21), trage sie dazu bei, Sachverhalte „nicht nur des monastischen, sondern des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens im Paderborner Land und darüber hinaus zu erhellen“ (28). Konturen gewinnt mit der Chronik auch ihr Verfasser selbst. In seiner kurz gehaltenen Einleitung weist Heinrich Rüthing auf die persönliche Frömmigkeit von Probus hin. Sein Wirken zeigt sich aber nicht nur in den inhaltlichen Teilen der Cronica monasterii beati Meynulphi, sondern auch im Entstehungsprozess der Handschrift, den Rüthing kenntnisreich skizziert. Sichtbar wird in einem „Arbeitsexemplar“ (29), wie der Herausgeber das Autograph bezeichnet, ein akribisch arbeitender Schreiber. Probus nahm ständig kleinere oder größere Korrekturen vor, strich Manches aus oder überklebte es, ersetzte dabei vorhergegangene Aufzeichnungen durch andere oder ergänzte das zuvor Geschriebene. Er behalf sich dabei nicht selten kleiner Papierzettel oder ganzer Seiten, die er in und zwischen die 13
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ungleich starken Papierlagen einband. So entstand, ohne die Einschübe zu rechnen, eine Chronik, die nach neuer Paginierung 284 Seiten umfasst. Probus versah seine Umstellungen und Ergänzungen mit Zeichen, die die von ihm beabsichtigte Ordnung des Textes gewährleisten sollten. Er selbst hoffte auf eine editio definitiva, bei der der Text von Papier auf Pergament ins Reine gebracht werden sollte. Dieser Wunsch erfüllte sich nicht in dem von ihm beabsichtigten Kontext seiner Gemeinschaft. Ins Werk setzte ihn mehr als 550 Jahre später erst Heinrich Rüthing. Er tat dies mit souveräner Hand, sowohl hinsichtlich der Einordnung der Chronikinhalte als auch mit Blick auf die Anforderungen an moderne Editionsvorhaben. Die ganzseitigen Farbabbildungen im Anhang vermitteln einen anschaulichen Eindruck von der Materialität und dem Zustand der Handschrift; die Karten verorten Böddeken in der Reformlandschaft der Zeit. Im Editionsteil glückt Rüthing die Symbiose von möglichst buchstabengetreuer Wiedergabe des Autographs und lesbarem Text. Bei der Lektüre kann sich der Leser auf einen profunden textkritischen Apparat ebenso stützen wie auf einen Sachkommentar, der die historiographischen Aufzeichnungen des Johannes Probus in seinen geschichtlichen Kontexten verstehbar macht. Der Orientierung im Text hilft zudem eine vom Herausgeber aus den Zwischenüberschriften der Cronica zusammengefügte und der Vorrede mit Seitenzahlen vorangestellte tabula titulorum, die auf die entsprechenden Passagen im Text verweist. Rüthings Übersetzung des lateinischen Textes ins Deutsche lässt die Chronik für ein breites Publikum zu einem Lesevergnügen werden. Ein Orts- und Personenregister sowie ein auch bei modernen Quelleneditionen nicht selten fehlendes Themen- und Sachregister runden die Arbeit ab. Heinrich Rüthing hat sich auf vielfältige Weise um die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte im Allgemeinen und der westfälischen Landesgeschichte im Besonderen verdient gemacht. Nach der Chronik Bruder Göbels (Die Chronik Bruder Göbels. Aufzeichnungen eines Laienbruders aus dem Kloster Böddeken [1502–1543]. Hg. v. HEINRICH RÜTHING, Bielefeld 2005) legte er ein Werk vor, das Böddeken als Reformzentrum in den Mittelpunkt rückt, gleichzeitig aber auch das Paderborner Land anschaulich beschreibt. Ein unbekannter Böddeker Chorherr schrieb Anfang des 18. Jahrhunderts auf eine Abschrift der Chronica monasterii beati Meynulphi in Bodeken: Liber hic et lectionem et relectionem mereretur. Dies gilt mehr noch für die vorliegende Edition: Dieses Buch verdient es, wieder und wieder gelesen zu werden. Anne Diekjobst
Konstanz
SIGRID HIRBODIAN, PETER RÜCKERT (Hg.): Württembergische Städte im späten Mittelalter. Herrschaft, Wirtschaft und Kultur um Vergleich (= Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 26), Ostfildern: Thorbecke 2016, 364 S., 139 z. T. farb. Abb., (ISBN 978-3-79 95-5527-2), 35,00 EUR. Der Sammelband vereint elf Beiträge, die 2014 auf einer Tagung anlässlich des 650-jährigen Stadtjubiläums von Bietigheim gehalten wurden. Der lokale Festtag bot den Anlass, um aus interdisziplinärer Perspektive über württembergische Städte im späten Mittelalter nachzudenken. Die Verbindung lokaler Fallbeispiele mit übergreifenden Fragestellungen kennzeichnet dementsprechend den Band, was gerade aus stadtgeschichtlicher Per-
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spektive interessante Ergebnisse erwarten lässt. So bieten etliche Beiträge Anknüpfungspunkte, die weit über die württembergische Landesgeschichte hinaus reichen, wobei der kritischen Würdigung etablierter Quellenkorpora eine wichtige Rolle zukommt. Den Anfang macht Ellen Widder, die den Begriff der „Städtelandschaft“ als Kategorie geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen dekonstruiert. Anhand der Forschungsgeschichte zeigt sie auf, dass die in den 1930er Jahren liegenden Wurzeln des Konzepts von einem statischen Stadtbegriff geprägt sind. Zur Analyse von Städtelandschaften werden bis heute etliche in dieser Zeit initiierte kartographische Großprojekte und enzyklopädische Überblicke wie das Deutsche Städtebuch genutzt. Diese ermöglichen zwar mit ihrer Materialfülle einen vergleichenden Zugang zu den zahlreichen Kleinstädten des südwestdeutschen Raums, tradieren aber auch mittlerweile überholte Stadtgeschichtskonzepte. Gemeinsame Merkmale oder Beziehungsgeflechte zwischen Städten, die auf dieser Grundlage postuliert werden, sind damit weitgehend Forschungskonstrukte. Widder plädiert dafür, einen neuen Zugang zum Konzept der Städtelandschaften zu etablieren, der auf der Erschließung neuer Quellen sowie kulturgeschichtlichen und netzwerkanalytischen Studien aufbaut. Wie die Erschließung neuer Quellenbestände aussehen kann, verdeutlichen die folgenden beiden Beiträge. Volker Trugenberger fasst anhand der Listen der wehrfähigen Männer die Einwohnerzahlen der württembergischen Amtsstädte genauer, wobei bis auf Stuttgart und Tübingen alle Orte zu den Kleinstädten mit weniger als 2 000 Einwohnern zu zählen sind. Manfred Rösch analysiert anhand archäobotanischer Quellen die landwirtschaftliche Produktion im südwestdeutschen Raum und kann dadurch die Agrar- und Bevölkerungskrise des 14. Jahrhunderts nachweisen. Die Ausschläge sind jedoch mäßig, so dass von einer erfolgreichen Bewältigung der Krise ausgegangen werden kann. Tilmann Marstaller untermauert anhand baugeschichtlicher Untersuchungen die These, dass die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen Städten eines Herrschaftsgebiets mit Vorsicht erfolgen muss. Eine „typisch württembergische“ Bauweise kann er bei Bürgerhäusern nicht nachweisen; vielmehr war der Einfluss der Herrschaft gegenüber regionalen Gepflogenheiten und topographischen Gegebenheiten marginal. Das gilt bemerkenswerterweise selbst für die Rathäuser. Lediglich in Tübingen und Cannstatt lassen sich hier Impulse der herrschaftlichen Werkmeister nachweisen. Dass für herrschaftliche Bauten in den Amtsstädten dagegen die herrschaftlichen Baumeister bei der Konzeption eine zentrale Rolle spielten, zeigt Ulrich Knapp auf. Sie waren auch für technische Innovationen verantwortlich, welche die großangelegte Bautätigkeit der Grafen bei begrenzten Finanzmitteln erst ermöglichten. Nina Kühnle problematisiert eine starre Kategorisierung von Städten, indem sie auf einen bislang weitgehend blinden Fleck der Stadtgeschichtsforschung verweist: das Phänomen der Deurbanisierung. Siedlungen, die im Laufe ihrer Geschichte ihren Stadtstatus verloren, fallen oft aus den üblichen Analyserastern, ermöglichen jedoch – wie Kühnle an vier württembergischen Beispielen zeigt – spannende Einblicke in die Möglichkeiten und Grenzen von Urbanisierungsprozessen. Dabei macht sie ein Bündel an Faktoren ausfindig, die zum Verlust urbaner Qualität führten. Die strukturellen Bedingungen für die Stadtwerdung waren für alle vier Orte von Anfang an nicht ideal, sei es durch die geographische Lage oder die begrenzten finanziellen Mittel ihrer vorwürttembergischen Herren. Nach dem Übergang an Württemberg konnten die wenig entwickelten Städte in der direkten Konkurrenz zu den Amtsstädten kaum bestehen, vor allem wenn weitere Faktoren wie
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Verpfändungen hinzukamen. Lediglich administrative Zentralfunktionen konnten den Verlust des Stadtstatus hinauszögern. An einem letztlich erfolgreichen Beispiel veranschaulicht auch Stefan Benning, dass der Prozess der Stadtwerdung komplex war. Die 1364 den Grafen von Württemberg gewährte Erhebung des Ortes zur Stadt – deren Jubiläum Anlass der Tagung war – sicherte diesen langfristig die ungeteilte Herrschaft über Bietigheim, resultierte aber zunächst nur in einer Befestigung als Merkmal urbaner Qualität. Erst die Überschreibung des Ortes an Antonia Visconti, der Ehefrau Graf Eberhards III., und deren Förderung einschließlich der Etablierung eines Wochenmarktes führte zum ökonomischen Aufschwung Bietigheims und zum Abschluss der Stadtgenese. Mit Blick auf den Beitrag von Nina Kühnle ließe sich hier festhalten, dass ohne den Übergang an Antonia Visconti durchaus auch Bietigheim dem Schicksal einer Statuswüstung hätte anheimfallen können. Mit dem Einfluss der Privilegien Kaiser Karls IV. auf die Stadtgenese befasst sich Erwin Frauenknecht. Am Beispiel dreier Privilegierungen verdeutlicht er die komplexen Interessenlagen, die jeweils die Verleihung sowie die Nutzung der Rechte beeinflussten. Auf detaillierte Urkundenanalysen gestützt kann er plausibel machen, dass im Falle der zeitgleich ausgestellten Privilegien an die Grafen von Württemberg für Bietigheim und Laichingen ersteres von den Grafen aus konkreten militärischen Überlegungen, letzteres dagegen eher vorausplanend ersucht wurde. Die Erhebung von Aalen zur Reichsstadt 1360 war dagegen Teil eines komplexen Tauschprozesses, der letztlich der Arrondierung von Karls Herrschaftsgebieten in der Oberpfalz diente. Das Privileg für Langenau wiederum, das 1376 Graf Heinrich III. von Werdenberg als Dank für seine Unterstützung des Kaisers erhielt, ersetzte ein schon vorhandenes älteres Stadtrechtsprivileg. Dies sollte der Stadtentwicklung eine neue Stoßrichtung geben, war aber aufgrund der folgenden finanziellen Probleme der Werdenberger langfristig nicht erfolgreich. Auch hier begegnet also wieder eine „gescheiterte“ Stadtwerdung, die die Diskrepanz zwischen rechtlicher Privilegierung und Stadtentwicklung nochmals vor Augen stellt. Peter Rückert geht der Herrschaftsrepräsentation der Grafen von Württemberg in ihren Städten nach, wobei er den Schwerpunkt auf die Repräsentation des Grafenhauses bei besonderen Anlässen wie kaiserlichen Besuchen oder Hochzeitsfeierlichkeiten legt. Nicht nur bei der außergewöhnlich gut dokumentierten Hochzeit Eberhards V. mit Barbara Gonzaga spielten die Städte als Bühne für die Präsentation adeliger Lebensweise eine wichtige Rolle. Roland Deigendesch gibt anschließend einen Überblick über Erwerb und Gebrauch von Schriftlichkeit in süddeutschen Städten. Beides ist keineswegs identisch, denn die vereinzelt bereits Ende des 12. Jahrhunderts belegten städtischen Lateinschulen waren vorwiegend zur Ausbildung des zukünftigen Klerus und zu dessen Vorbereitung auf die Universität gedacht. Im städtischen Alltagsleben besaßen dagegen die Stadtschreiber als schrift- und rechtskundige Personen eine zentrale Rolle. Sigrid Hirbodian schließlich beweist, wie gewinnbringend selbst negative Befunde sein können. Ausgehend von dem Befund, dass sich in den insgesamt nur sparsam mit geistlichen Institutionen ausgestatteten württembergischen Städten kaum Frauenklöster nachweisen lassen, umreißt sie alternative Lebensformen für geistliche Frauen in diesen Städten. Hierbei spielen vor allem die zahlreichen Beginengemeinschaften eine wichtige Rolle. Daneben dienten aber auch die Dominikanerinnenklöster in Kirchheim bzw. Lauffen sowie die ländlichen Frauenklöster der Aufnahme von Töchtern der städtischen Führungsfamilien.
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Die Beiträge, die zum Teil mit umfangreichen und hochwertigen Abbildungen versehen sind, bieten insgesamt ein breites Spektrum an Einblicken in die Entwicklung württembergischer Städte. Sicherlich richten sich einige der detailreichen Analysen vorwiegend an ein landesgeschichtlich interessiertes Publikum, doch finden sich auch darüber hinaus zahlreiche Anknüpfungspunkte. Ein roter Faden, der sich durch etliche Beiträge zieht, ist die Auseinandersetzung mit den Bedingungen gelingender oder verfehlter Stadtgenese im Spannungsfeld zwischen rechtlicher Privilegierung und tatsächlicher ökonomisch-kultureller Entwicklung. Damit verbunden werden auch die Grenzen von Urbanität vielfach thematisiert. Wenn etwa nach der ländlichen Struktur der württembergischen Städte (Marstaller) gefragt oder die spärliche Ausstattung mit geistlichen Institutionen (Hirbodian) konstatiert wird, sind dies zugleich Fragen nach der (mangelnden) städtischen Qualität, die sich ähnlich auch für andere von Kleinstädten dominierte Territorien stellen ließen. Insofern ist dem Band eine breite Aufnahme zu wünschen. Claudia Esch
Bamberg
ENNO BÜNZ, HARTMUT KÜHNE (Hg.): Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung „Umsonst ist der Tod“ (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 50), Leipzig: Universitätsverlag 2015, 843 S., 31 Farbtafeln, (ISBN 978-3-86583-924-4), 98,00 EUR. Im Kernland der Reformation haben sich vergleichsweise wenige Zeugnisse der spätmittelalterlichen Frömmigkeit erhalten. Es war das Anliegen der Ausstellung „Umsonst ist der Tod“, die 2013/14 in den Mühlhäuser Museen gezeigt wurde, im Rahmen der Lutherdekade solche Zeugnisse zu präsentieren. Der aus der vorbereitenden Tagung im Jahr 2012 hervorgegangene Tagungsband erschien im Nachgang der Ausstellung 2015. Es ging der Tagung nicht darum, neue Erkenntnisse zur mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis zu gewinnen, sondern diese Praxis und deren Wandel während der Reformationszeit in Mitteldeutschland nachzuweisen. Da einschlägige Forschungen auf vielen Gebieten noch ganz am Anfang stehen, steht im Zentrum der meisten Aufsätze zunächst die Frage, welche Quellen überhaupt einen Erkenntnisgewinn zur Frömmigkeitsgeschichte Mitteldeutschlands bieten können. Dazu haben die Herausgeber Forscherinnen und Forscher aus unterschiedlichen Fachgebieten zusammengebracht. Angesichts des dabei herausgekommenen voluminösen Bandes können hier nur die Forschungsansätze und grundlegende Ergebnisse dargestellt werden. Eine erste Gruppe von Aufsätzen beschäftigt sich mit Quellen adeliger, städtischer und kirchlicher Verwaltungen. Die Rechnungsbücher des kursächsischen Hofes belegen, dass Herzog Georg von Sachsen (1471–1539) alte Frömmigkeitsformen Zeit seines Lebens beibehielt und sich die Fürstenfamilie erst nach seinem Tod der Reformation zuwandte. Die exemplarisch durchgesehenen Rechnungsbücher des Hofes verzeichnen zahlreiche Ausgaben u. a. für religiöse Feiern, Bautätigkeiten an Kirchen, sakrale Kunst, liturgische Geräte und Paramente. Wegen der äußerst umfangreichen Quellen ist eine umfassende Erforschung, die statistische Aussagen ermöglichen würde, nicht durchführbar (Armin Kohnle, Thomas Lang, Christa Jeitner). Analoges gilt für die religiösen Aktivitäten des niederen Adels (Johannes Mötsch, Christoph Volkmar).
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Rezensionen und Annotationen
Weitere aufschlussreiche, bislang unter dieser Perspektive in Mitteldeutschland wenig beachtete Quellengattungen bietet die städtische Überlieferung. Anhand von Bürgertestamenten und anderen Stiftungen, die u. a. in Stadtbüchern verzeichnet sind, lässt sich belegen, dass man im Laufe des 16. Jahrhunderts „ein Nebeneinander von Kontinuität und Wandel beobachten kann“ (195). Das Stiftungswesen bleibt ein wesentlicher Teil bürgerlicher Praxis (Christian Speer, Henning Steinführer). Noch gelangt die Forschung hier über eine erste Sichtung der Quellen aber nicht hinaus. Ein etwas anderes Bild zeigen die Rechnungen der Kirchenfabriken, wenn beispielsweise die ehemals hohen Einnahmen aus Opferstöcken nach 1522 nahezu wegbrachen (Martin Sladeczek, Matthias Ludwig). Sehr aufschlussreich sind die Rechnungsbücher der Bruderschaften, die in der Frömmigkeitspraxis eine große Rolle spielten, zumal sich in ihnen die Laien selbst organisierten und Priester für ihre Dienste entlohnten (Antje J. Gornig). Während die Neueintritte in Wittenberg nach 1518 abrupt abbrechen, zeigen die Inventarverzeichnisse, dass die Bruderschaften ihr sakrales Besitztum noch lange behielten und es somit „einen radikalen Bildersturm an der Wittenberger Stadtpfarrkirche nicht gegeben haben kann“ (264). In gleicher Weise bleiben auch die Ausgaben für die Memoria zunächst nahezu unverändert bestehen. Eine zweite Gruppe von Aufsätzen widmet sich unterschiedlichen Artefakten. Die in der vorreformatorischen Zeit ständig wachsende Zahl an Altarstiftungen in Mitteldeutschland belegt abermals, dass das ausgehende 15. Jahrhundert eine Zeit intensiver Frömmigkeit war. Viele Retabeln haben sich bis zum Zweiten Weltkrieg in einer Dresdener Sammlung erhalten und bezeugen ebenfalls, dass in lutherischen Gebieten von einem Bildersturm keine Rede gewesen sein kann (Sabine Zinsmeyer). Pilgerzeichen belegen sowohl die Anwesenheit mitteldeutscher Pilger in den großen Wallfahrtsorten des deutschen Sprachraums als auch die überregionale Bedeutung des brandenburgischen Wallfahrtsortes Wilsnack (Carina Brumme). Nach dem Einbruch des Wallfahrtswesens im Zuge der Reformation lassen sich kaum noch Darstellungen von Heiligen auf Ofenkacheln finden (Hans-Georg Stephan). In zwei Aufsätzen wird das für die Reformationsgeschichte wichtige Ablasswesen behandelt. Zur rastlosen Tätigkeit des päpstlichen Ablasskommissars Raimund Peraudi (1435–1505) auch in Mitteldeutschland kann Hartmut Kühne wichtige neue Quellen beisteuern, die differenzierte Fragestellungen eröffnen. Das Zwickauer Indulgenzregister zeigt zwar die hohe Zahl der zu erwerbenden Ablässe; ein Abgleich mit den Kollektenerträgen verdeutlicht aber auch, dass hohe Kollekten im Zusammenhang mit besonderen kirchlichen Feiertagen standen und nicht mit den Tagen, an denen besondere Ablässe zu erwerben waren. Dies ist eine sehr interessante Beobachtung zur tatsächlichen Bedeutung des Ablasses (Julia Kahleyß). In mehreren Aufsätzen spielt die bereits erwähnte Memoria der Verstorbenen eine Rolle, die sich durchgängig bis weit in das 16. Jahrhundert erhält. Als im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel 1568 die Reformation durchgeführt wird, entsteht im Stift Gandersheim eine Kopie des mittelalterlichen Nekrologs, wohl um die Verpflichtungen des Stiftes zur Memoria zu bewahren (Christian Popp). Ferner behandeln einige Beiträge das mit der Reformation kommende Ende geistlicher Schauspiele und bewegter Bilder (Volker Honemann, Hannes Lemke, Johannes Tripps). Drei Aufsätze tragen fundierte und lesenswerte Überblicke zur Frömmigkeitsgeschichte bei (Andreas Odenthal, Markus Cot-
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tin, Heiner Lück). Weitere Beiträge beschäftigen sich mit weniger zahlreich überkommenen Relikten wie Inschriften, Grabmälern und Marienmäntelchen. Der mit Bildtafeln und einem Register ausgestattete Band gibt somit einen sehr guten Einblick in den Stand der Forschung zur Frömmigkeitsgeschichte in Mitteldeutschland. Norbert Köster
Münster
ANDREAS BIHRER, GERHARD FOUQUET (Hg.): Bischofsstadt ohne Bischof? Präsenz, Interaktion und Hoforganisation in bischöflichen Städten des Mittelalters (1300–1600) (= Residenzenforschung. Neue Folge: Stadt und Hof 4), Ostfildern: Thorbecke 2017, 396 S., 5 farb. Abb., (ISBN 978-3-7995-4533-4), 58,00 EUR. Wenn Wissenschaft die Aufgabe hat, in der immensen Vielfalt der Phänomene, die das Leben ausmachen, eine Struktur, wenn nicht nachgerade die ontologische Ordnung selbst zu erkennen und diese in einer Weise zu beschreiben, die auch strenger Prüfung standhält, so muss sich die Historie, methodisch nach wie vor der Hermeneutik verpflichtet, schon seit einiger Zeit an ihre Grenzen geführt fühlen. Je subtiler nämlich der hermeneutische Zirkel aktiviert wird, desto klarer tritt zutage, dass das vermeintlich gesicherte Ganze durch den – jeweils neu in den Blick genommenen – Teil häufig nicht bestätigt wird. So darf vorab festgehalten werden: Die historische Forschung des 21. Jahrhunderts hat es, wiewohl auf vielen Gebieten vermeintlich auf sicheren Fundamenten stehend, nicht leichter als die des 19. und weiter Teile des 20. Jahrhunderts, als die Pioniere erste Schneisen in ein Dickicht zu schlagen hatten und damit rasch Erfolge verbuchen konnten. Heute können leicht vermittelbare Bilder in Schwarz-Weiß, in der Stadtgeschichtsforschung etwa der vermeintliche Gegensatz zwischen bischöflichem Stadtherrn und seinen Bürgern, wenn nicht überhaupt der mittelalterlichen Stadt als Überwinderin feudaler Modelle und als Vorwegnahme des modernen Staates, nicht mehr genügen. Im September 2015 wurde auf einer Tagung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel die von der älteren Forschung angenommene Dichotomie von Herrschaft und Genossenschaft am Beispiel des Verhältnisses bischöflicher Stadtherren zu ihren Untertanen bzw. zu weltlichen Herrschaftsträgern kritisch hinterfragt. Andreas Bihrer formulierte dieses Erkenntnisinteresse aufgrund der simplen Beobachtung einer Vielzahl abweichender Beispiele, auch aufgrund von Rückschlüssen aus der Frühen Neuzeit ins Mittelalter. Gemeinsam mit Gerhard Fouquet gab er den zwölf Referenten, mehrheitlich Lehrstuhlinhabern, die leitenden Fragen vor, die diese anhand zeitlich und räumlich breit gestreuter Themen beantworten sollten. Die eigentlich zentrale Auflage an alle Beteiligten lautete auf Abkehr von der Rechtsgeschichte im klassischen Sinn zugunsten alternativer Zugänge, insbesondere der neuen Kulturgeschichte (mit Faktoren wie Performanz und symbolische Kommunikation). Das Interesse sollte nicht nur den Normen und deren Umsetzung, sondern auch den (wohl in der Tat sehr wirkmächtigen) Spielregeln der Politik gelten. Unter dem Rahmenthema „Präsenz“ wird zunächst gezeigt, dass sich sakrale und profane Räume nicht streng voneinander trennen lassen: Gerrit Jasper Schenk demonstriert am Beispiel von Straßburg und Worms eindrücklich die Komplexität des Begriffs „Öffentlichkeit“ und die überragende Bedeutung von Performanz, die mehr sei als bloße Inszenierung. Gerald Schwedler ortet in Gestalt eines Streits um die Passauer Rathaus-
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glocke bereits im 13. und 14. Jahrhundert ein Bewusstsein für die Macht der Medien bzw. die Kontrolle über dieselben. Für Oliver Plessow verbietet die Historiographie norddeutscher Bistümer die Annahme eines Auseinanderdriftens von Stadt und Bischof. Martina Stercken beleuchtet das Verhältnis zwischen einem Fürstabt von St. Gallen und seinen Bürgern im Vorfeld der Reformation am Beispiel seiner Residenzen; hier klingt auch Kritik an der zeittypischen Verweltlichung des Klerus an. Die „Interaktion“ verschiedener Herrschaftsträger steht im Fokus der Ausführungen von Sven Rabeler über königliche Hoftage bzw. Huldigungen in den Bischofsstädten Speyer und Worms im 13./14. Jahrhundert. Christina Lutter und Elisabeth Gruber lenken den Blick auf bischöfliche Nebenresidenzen in Österreich, in denen die Durchlässigkeit sozialer Räume besonders groß war und Herrschaft eher niederschwellig ausgeübt wurde; hier waren es die weltlichen Herrscher selbst, die in einer Zeit, in der andernorts sogenannte Emanzipationsprozesse feststellbar sind, die Errichtung von Bischofssitzen forcierten. Anja Voßhall erkennt im spätmittelalterlichen Lübeck zwar teilweise eine „räumliche Distanz“, aber keinen „systemischen Dissens“ zwischen Bischof und Stadt, alles in allem mehr Verbindendes als Trennendes. Ein ähnlicher Geist bestimmte den Alltag in mittelalterlichen Spitälern, wie Michel Pauly am Beispiel von Städten des Rhein-MaasRaumes zeigt. Sabine Reichert demonstriert personelle Verflechtungen im spätmittelalterlichen Osnabrück und unterstreicht damit den heuristischen Wert biographischer Forschung für die Stadtgeschichte. Auch in der „Hoforganisation“, so das dritte vorgegebene Strukturprinzip, war die Verflechtung zwischen Bischof und Stadt eng, besonders auf den niedrigeren Ebenen. Am Beispiel Basels erkennt Christian Hesse eine solche außerdem in Diplomatie, Besitz, Geselligkeit und Universität. Thomas Wetzstein fokussiert die Zusammenarbeit weltlicher und geistlicher Gerichte – die wohl nicht nur in Konstanz und Eichstätt gegeben war. Gerhard Fouquet schließlich stellte das Miteinander auch in der Wirtschaftspolitik eines Speyrer Bischofs aus dem 15. Jahrhundert fest. Insgesamt vermittelt der Tagungsband den Eindruck nahezu monographischer Geschlossenheit. Dieses Faktum beweist fraglos die Schlüssigkeit des Gesamtergebnisses; der advocatus diaboli wird es aber auch der starken Hand der Initiatoren und der Disziplin der Beiträger zuschreiben, vielleicht gar einen gewissen Überhang an (dekonstruktivistischer) Ergebnisorientiertheit gegenüber (hermeneutischer) Ergebnisoffenheit feststellen. Gleichwohl entspricht vieles von dem, was Stephan Selzer in einer abschließenden Bestandsaufnahme der Tagung festhält, bis hin zum Plädoyer für eine fließende Terminologie (Bischofsstadt, Kathedralstadt, Hochstiftsstadt, Residenz), in jeder Hinsicht dem, was die Rezensentin, Leiterin eines so bedeutenden kirchlichen Archivs wie dem der Bischöfe von Brixen (bis 1803 Fürsten des Heiligen Römischen Reichs und Herren von immerhin drei Städten), auch unter Verzicht auf die Reflexion historischer Methoden, jeden Tag buchstäblich mit Händen zu greifen bekommt. Erika Kustatscher
Brixen
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3. Frühe Neuzeit MARTIN KNOLL, REINHOLD REITH (Hg.): An Environmental History of the Early Modern Period. Experiments and Perspectives (= Austria: Forschung und Wissenschaft – Geschichte 10), Wien/Zürich u. a.: LIT 2014, 104 S., (ISBN 978-3-643-90463-8), 29,90 EUR. Im Februar 2011 fand am Rachel Carson Center for Environment and Society in München ein Workshop statt, der zugleich als Erkundung des Forschungsfeldes und als Bestandsaufnahme der Forschungen zur Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit gedacht war. Den beiden Herausgebern, die in der Umweltgeschichte bestens ausgewiesen sind, war diese Veranstaltung mit weiteren ausgewiesenen Umwelthistorikern sicherlich dienlich, vor der Edition des hier zu besprechenden Bandes eigene Projekte zur Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit zu beenden. So ist verständlich, dass sich die Gliederung des 2011 von Reinhold Reith veröffentlichten Bandes „Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit“ im Rahmen der Enzyklopädie deutscher Geschichte im zweiten Hauptabschnitt „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung“ an jene der Tagung in München angleicht. Zwar findet sich nicht jedes Forschungsfeld im vorliegenden Sammelband, doch bleibt ein ansehnlicher Bestand, gegliedert in Klimageschichte, Naturkatastrophen, Wassergesellschaften, Waldgeschichte, Stadt- und Hinterlandgeschichte sowie Geschichte der Landnutzung. Einleitend präsentieren die Herausgeber die Umweltgeschichte vom Beginn des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als außerordentlich dynamisch, methodologisch und interdisziplinär anregend. Als zentraler Gesichtspunkt erweist sich der Wandel des Verhältnisses von beschreibender Wahrnehmung in Chroniken und Ego-Dokumenten zum wachsenden Wissen über die Natur. Das Beispiel der Klimageschichte, von Christian Pfister anhand der Gemeinsamkeiten und Differenzen von Historischer Klimatologie und Paläoklimatologie ausgebreitet, verweist auf die beginnende Trennung der geisteswissenschaftlichen von der naturwissenschaftlichen Wissenschaftskultur. Eine der Herausforderungen besteht darin, die qualitativen Angaben aus verschriftlichten Wahrnehmungen der Zeitgenossen mit naturwissenschaftlichen Nachweisen wie Wachstumsringen oder Sedimentdatierungen und der beginnenden Instrumentalisierung der Wahrnehmung durch Thermometer oder Barometer in Einklang zu bringen. Indizes könnten zur Strukturierung der Ego-Dokumente einen wertvollen Beitrag leisten. Die Frage, ob Naturkatastrophen Gegenstand der Umweltgeschichte sind, wird in einem Kommentar von Gerrit Jasper Schenk aufgeworfen. Zugleich warnt er vor einem zu starken Einfluss der gegenwärtigen Forschungsfragen zum Klimawandel und betont das eigenständige Profil der Frühen Neuzeit. Martin Schmid widmet sich der Umweltgeschichte der Flüsse am Beispiel der Donau und erläutert die Schwierigkeiten der Bearbeitung eines solchen Themas in der vielfältigen Wechselbeziehung von Menschen und Fluss. Dies betreffe besonders die Rekonstruktion der Flusslandschaft. Der folgende Beitrag von Salvatore Ciriacono schließt thematisch an den Schwerpunkt Wasser an. Es handelt sich um methodische Bemerkungen zur landwirtschaftlichen Nutzung von Wasser und der Entwässerung von Wasserlandschaften. Der Leser erhält auf der Basis einer großen Zahl von Literaturverweisen einen Ein-
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blick in die agrarischen und wassertechnischen Verbesserungen, die die Niederländer bereits im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit einführten. Reinhold Reith befasst sich mit dem Wald als facettenreichem Forschungsgegenstand. Obwohl bereits viele Fallstudien mit unterschiedlichen Akzentuierungen zur Geschichte des Waldes und des Holzes vorgelegt worden seien, stelle die Frühe Neuzeit eine besondere Herausforderung für die Forschung dar. Zahlreiche unbekannte bzw. noch nicht untersuchte Faktoren zur Geschichte dieser Zentralressource ließen es nicht zu, das Thema Wald- und Holznutzung als abgeschlossen zu betrachten. Richard Hölzl grenzt in seinem Beitrag zu den Forschungsperspektiven der Waldgeschichte die Thematik im Vergleich zu Reith deutlich auf die Waldnutzungsgeschichte und deren Wahrnehmungen ein, indem er z. B. deren religiöse Aufladung anführt. Besonders interessant ist seine Sicht auf das gängige Narrativ, dass der Wald durch eine wachsende Bevölkerung, Ausbeutung und beginnenden Marktliberalismus übernutzt gewesen sei. In diesem Zusammenhang weist er auch auf die Bedeutung des Columbian Exchange für den zentraleuropäischen Wald hin. Das Thema Stadt- und Hinterlandgeschichte wird von Martin Knolls Beitrag zur Umweltgeschichte der frühmodernen Stadt als sozialem Metabolismus eröffnet. Stadtgeschichte könne demzufolge nur gemeinsam mit der Umweltgeschichte der jeweiligen Stadt betrieben werden. Die Berücksichtigung der Ressourcenbeschaffung und damit der Umweltabhängigkeit der Stadt belegt er durch zahlreiche Beispiele. Desiderata der Forschung seien hingegen die Materialität und Metabolisierung der frühneuzeitlichen Städte. Von Problemen und Möglichkeiten der Umweltgeschichte der Städte handelt Georg Stöger. Problematisch sei, dass es zwar viele Einzelstudien gäbe, diese aber noch nicht in eine systematische Analyse eingebettet seien. Die Betrachtung der Stadt als naturales System könne viele Gesichtspunkte und einander berührende Forschungsfelder zusammenführen sowie die starren Epochengrenzen, deren Lockerung bereits vor ihm Martin Schmid einforderte, auflösen. Verena Winiwarter eröffnet das abschließende Panel mit einem Beitrag zu Landnutzung und agrarischem Wissen. Die frühneuzeitliche Umweltgeschichte könne am Beispiel der Landnutzung mit einem interdisziplinären, multiperspektivischen und pluralen methodischen Ansatz zu anregenden Narrativen führen. Der Wahrnehmung und dem Wissen über die Gebirge wendet sich Simona Boscani Leoni zu. Parallel zur zeitgenössischen Debatte der Theologen über die Entstehung der Berge wendet sie sich insbesondere den Quellengattungen des 18. Jahrhunderts – Ego-Dokumenten, Reiseberichten und Narrativen über die Wahrnehmung und Deutung der Berge – zu und regt deren Einbeziehung in eine chronologische und systematische Umweltgeschichte der Gebirge an. Der Beitrag von Marcus Popplow zu Landnutzung, agrarischem Wissen und Landschaftswahrnehmung fasst die beiden vorangegangenen Studien zusammen und legt besonderen Wert auf die Wissensproduktion und deren Verwertung durch Innovationen. Daran schließt sich eine informative Literaturübersicht an, die über die in den Beiträgen zitierten Werke hinaus eine Reihe von Überblickswerken enthält, so dass auch jenen, die sich mit der Materie vertraut machen möchten, der Einstieg erleichtert wird. Obgleich das Literaturverzeichnis umfänglich ist, fehlen doch etliche in der Umweltgeschichte bekannte Autoren, die auch die vielfach geforderte Interdisziplinarität zwischen den Subdisziplinen der Geschichte, z. B. der Technik- und Medizingeschichte oder den historisch arbeitenden Naturwissenschaften, hätten einlösen und vermitteln können. Kritisch bleibt
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anzumerken, dass nur ein Teil der Vortragenden ihren Beitrag oder Kommentar für den Druck zur Verfügung gestellt hat. So ist der schmale Band zwar geeignet, Forschungsstand und -perspektiven zu umreißen, bietet aber angesichts des Preises zu wenig, um ihn Studierenden als Einstieg zu empfehlen. Klaus Schlottau
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NORBERT ANGERMANN, KARSTEN BRÜGGEMANN, INNA PÕLTSAM-JÜRJO (Hg.): Die baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 26), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015, 416 S., 2 s/w Abb., (ISBN: 9783-412-50118-1), 60,00 EUR. Die 17 Beiträge dieses Bandes gehen auf das 62. Baltische Historikertreffen zurück, das 2009 von der Baltischen Historischen Kommission in Göttingen durchgeführt wurde. Wie die Herausgeber betonen, wollte man vor allem die europäischen Verbindungen dieser Region zum Ausdruck bringen. Zu prüfen galt es zunächst, inwieweit die Periodisierung der drei Jahrhunderte zwischen 1500 und 1800 als Frühe Neuzeit auch für das Gebiet des heutigen Estland und Lettland zutrifft. Denn hier waren Umbrüche wie die Auflösung der altlivländischen Konföderation als Verbund geistlicher Herrschaften 1561 sowie die Annexion Estlands und Livlands durch Russland 1710, infolge derer der baltischen Region eine wichtige kulturelle Brückenfunktion zukam, weitaus auffälliger. Folgerichtig befassen sich die ersten Beiträge mit generellen Fragestellungen. Erwin Oberländer bezieht das Konzept der Frühen Neuzeit auf die Geschichte Estlands, Livlands und Kurlands, wo der Übergang von mittelalterlichen zu modernen Strukturen zwischen 1561 und 1795 allmählich erfolgte. Während sich im westlichen Europa mit Frühkapitalismus, dem Machtverlust der Stände und der Herausbildung frühmoderner Staaten die ganze Gesellschaft erfassende Wandlungsprozesse vollzogen, nahm das östliche Europa seit dem 16. Jahrhundert eine andere Entwicklung. Das wirtschaftliche und soziale Zurückbleiben bedingte hier eine „lange Frühe Neuzeit“ (13) besonders in den Agrarverfassungen, deren Basis der massive Ausbau der Gutsherrschaft als Ordnungsmodell und Produktionssystem bildete. Ursachen dafür waren vor allem die spezifischen demographischen Verhältnisse, der relativ geringe Urbanisierungsgrad und die niedrige agrarische Produktivität. Beim „charakteristische[n] Nebeneinander von mittelalterlichen und modernen Strukturen“ (18) sei dennoch zu fragen, ob es nicht auch in den baltischen Ländern Ansätze zu den für das Konzept der Frühen Neuzeit konstitutiven Entwicklungen gab. Nach einer Analyse der schwedischen Reformvorhaben, vor allem im Kirchenwesen, folgert Oberländer, dass der Übergang Estlands und Livlands an das Russische Reich den „einzigen breit angelegten frühneuzeitlichen Modernisierungsversuch in der Region“ scheitern ließ; die Grundlagen dafür wurden erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelegt mit dem Recht der Esten und Letten auf Landbesitz sowie einer funktionierenden Elementarschulbildung als Voraussetzung für soziale Durchlässigkeit und Mobilität. Der wohl beste Kenner der Geschichte Kurlands analysiert zudem die dortigen Versuche einer frühneuzeitlichen „Verdichtung der Herrschaft“ durch herzogliche Impulse sowie das Scheitern der Bestrebungen, die gesellschaftlichen Strukturen im Herzogtum zu modernisieren. Est-, Liv- und Kurland nahmen zwischen
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dem 16. und dem 18. Jahrhundert nur bedingt an jenen Entwicklungen teil, die im Westen Europas als konstitutiv gelten. Grundsätzliche Aspekte der deutsch-livländischen Literaturbeziehungen behandelt Martin Klöker, indem er das „koloniale Modell“ in der regionalen Literatur und Landesgeschichtsschreibung analysiert. Probleme der kolonialen Deutung sieht er in der Überspitzung des Abhängigkeitsverhältnisses sowie in der Anwendung des MutterlandKonzepts auf eine dezidiert vor-nationale Literatur vor dem Hintergrund territorialer Zersplitterung. Die deutsche Literatur der baltischen Länder weise zwar sehr enge Beziehungen zu verschiedenen regionalen Literaturen auf, sei aber keine koloniale Literatur. Diesem pauschalen Erklärungsmuster müsse ein differenzierteres Bild entgegengestellt werden, das ihrer „komplexen Beschaffenheit“ (66) gerecht werde. Ungeachtet regionaler Unterschiede leistete die deutschbaltische Literatur einen eigenständigen Beitrag zur Entwicklung der deutschen Literatur. Bis zur Einverleibung Novgorods durch Ivan III. im Jahre 1478, mit der das Großfürstentum Moskau direkter Nachbar Livlands wurde, greift Maria Bessudnovas Untersuchung der wechselseitigen Wahrnehmungen im livländisch-russischen Beziehungsgeflecht zurück. Entgegen tradierter Feindbilder betrachtet sie differenziert die Außenpolitik des von der russischen Geschichtsschreibung als Aggressor bezeichneten Ordensmeisters Wolter von Plettenberg. Ebenfalls mit außenpolitischen Aspekten befassen sich die folgenden Beiträge Anti Selarts über das Verhältnis des Bischofs von Dorpat und Erzbischofs von Riga Johann Blankenfeld zu Russland, des inzwischen verstorbenen Stefan Hartmann über „Außenbeziehungen Livlands im Spiegel der Korrespondenz Herzog Albrechts von Preußen (1525‒1570)“ sowie Madis Maasings über „Die Metropolitanverbindung Rigas mit den preußischen Bistümern zur Zeit des Erzbischofs Wilhelm von Brandenburg“. Selart sieht zahlreiche Indizien für den Vorwurf, der entschiedene Katholik Blankenfeld habe in den innerlivländischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit landesverräterische Kontakte mit dem Großfürsten Vasilij III. gehabt. Hartmann, Herausgeber der meisten Vollregesten der Korrespondenz Albrechts, befasst sich mit dessen Förderung der Reformation in Livland und den ergebnislosen Versuchen politischer Einflussnahme. Maasing wiederum zeigt die nur lockeren Verbindungen zwischen livländischen und preußischen Bischöfen in der Rigaer Kirchenprovinz auf, zu der sie seit dem 13. Jahrhundert fast alle gehörten. Die Beziehungen zwischen Livland und seinen Nachbarländern auf dem Gebiet des Münzwesens im 16. Jahrhundert dokumentiert Ivar Leimus sowohl hinsichtlich der Münzmeister als auch der Münzsysteme. Inna PõltsamJürjo untersucht anhand eines Protokollbuches des Neu-Pernauer Rates die Außenbeziehungen dieser Stadt, die zwei Jahrzehnte lang unter polnischer Herrschaft stand und eine multiethnische sowie multikonfessionelle Bevölkerung aufwies. Die nächsten beiden Aufsätze befassen sich mit kirchlichen Aspekten Livlands und Estlands im späten 16. und 17. Jahrhundert. Entgegen überkommener Ansichten weist Gvido Straube darauf hin, dass die von Polen-Litauen ausgehenden gegenreformatorischen Aktivitäten kaum eine Bedrohung für das livländische Luthertum darstellten. Die Jesuitenkollegien in Riga und Dorpat hätten wie das neugegründete Bistum Wenden wegen personeller Defizite keine wirksame Missionierung durchführen können. Lea Kõiv kennzeichnet in kritischer Rezeption der Fachliteratur die wechselnde schwedische Kirchenpolitik gegenüber Estland, hinter der das Streben nach kirchlicher Einheit in allen
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Teilen des Reiches stand. Kurlands Beziehungen zu Westeuropa behandeln Volker Keller anhand des Briefwechsels Herzog Wilhelms mit dem englischen König Jabob I. sowie Andreas Fülberth, der für die kurländisch-niederländischen Beziehungen eine Reihe von Themen anspricht, die über die bisherige Forschung hinausführen. Europäischen Einflüssen auf Handwerk und Handel widmen sich drei Aufsätze: Enn Küng untersucht, wie sich schwedische Innovationen auf die Holzverarbeitung und den Schiffbau in Narva auswirkten. Dirk-Gerd Erpenbeck behandelt die Glaserzeugung in den russischen Ostseeprovinzen ab 1739, die durch die starke Zuwanderung vorwiegend deutscher Glasmacher nach Russland gefördert wurde. Viktor Nikolaevič Zacharov erschließt Neuland mit seinem Beitrag über die Tätigkeit von Kaufleuten aus den Ostseeprovinzen in Russland im 18. Jahrhundert. Bogusław Dybaś befasst sich mit dem in der deutschbaltischen Geschichtsliteratur lange als Verteidiger livländischer Rechte heroisierten Johann Reinhold Patkul. Im Zentrum steht eine „Kapitulation“ von 1699 zwischen Patkul als Vertreter des livländischen Adels und August dem Starken. Sie sollte den Wechsel Livlands von der schwedischen zur polnischen Krone vorbereiten und eine an Polen-Litauen angegliederte livländische Adelsrepublik schaffen, wozu es allerdings nicht kam. Abschließend weist Mati Laur nach, dass die Verwaltungsanordnungen des Rigaer Generalgouverneurs George von Browne in den 1760er Jahren mit der im Westen verbreiteten Rhetorik und Praxis der „guten Policey“ übereinstimmen, wodurch ein kultureller Transferprozess deutlich wird. Die Beiträge dieses mit ausführlichen Autoreninformationen und einem hilfreichen Orts- und Namensregister versehenen Bandes sind bewusst als Impulssammlung für die Erforschung der frühneuzeitlichen baltischen Länder in europäischer Perspektive konzipiert. Inhaltliche Ausgewogenheit konnte angesichts der unterschiedlichen Ansätze nicht erreicht werden, aber die oft nur „wenig miteinander verbundenen Einzelbeiträge“ (9) tragen dennoch dazu bei, thematisch und methodisch vielfältige Forschungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Denn zweifellos stellen die frühneuzeitlichen Europabeziehungen der baltischen Region ein wichtiges Forschungsfeld dar. Michael Garleff
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DETLEF DÖRING (†) (Hg.): Geschichte der Stadt Leipzig. Bd. 2: Von der Reformation bis zum Wiener Kongress. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2016, 1039 S., (ISBN 9783-86583-802-5), 49,00 EUR. Das Erscheinen von Band 2 der groß angelegten vierbändigen Leipziger Stadtgeschichte konnte der 2015 verstorbene Herausgeber Detlef Döring leider nicht mehr erleben. Es war aber möglich, von ihm bereits verfasste Texte in den vorliegenden Band einzufügen. Die editorische Aufgabe wurde von Henning Steinführer unternommen, der seit seiner Mitarbeit am ersten Band bereits stark in das Projekt involviert war. Die wissenschaftliche Redaktionsarbeit lag wiederum in den bewährten Händen von Uwe John. Nicht weniger als der erste Band ist auch der zweite mit 1 039 Seiten zu einem voluminösen und gerade noch handfreundlichen Buch geworden. Er vereint 45 teilweise sehr umfängliche Beiträge aus der Feder von 32 Autoren. Insofern kann, wiewohl die
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Texte oft zu ausführlicherer Anmerkung reizen, die folgende Rezension kaum mehr als ein Konspekt sein. Auf eine persönliche und wissenschaftliche Würdigung des Verstorbenen folgen im Hauptteil des Bandes neun große Kapitel. Sie sind thematisch geordnet und beleuchten jeweils einen Aspekt der Geschichte Leipzigs von 1539 bis 1815. Gleichsam als Überblick wird zunächst auf die (I.) Grundzüge der Stadtentwicklung in der Frühen Neuzeit eingegangen. Beschrieben wird sodann (II.) die Bürgerstadt. Unter diesem Aspekt werden das Regiment des Rates und die Stadtverwaltung sowie Justizwesen, Militär und Bürgerwehr erörtert. Folgerichtig schließen sich (III.) Wirtschaft und Gesellschaft an, wobei die Messen, das Münzwesen, Buchhandel und Verlagswesen, Handwerkerinnungen und die wirtschaftlichen Beziehungen des Landadels zur Stadt im 16. und 17. Jahrhundert zur Sprache kommen. Vielfach überraschend präsentieren sich die Forschungen zu (IV.) Stadt und Kirche. Nacheinander behandelt werden die lutherische Orthodoxie im Zeitraum 1539–1650 sowie der Vollzug kirchlichen Lebens 1650–1815. Die hier gesetzten Akzente geben öfters zu veränderten Sichtweisen Anlass. Ein breites Feld verbindet sich mit dem Themenkomplex (V.) Universität und Bildung; hier werden neben dem Verhältnis von Stadt und Universität und der Entwicklung der Universität Leipzig Sozietäten und gesellige Vereinigungen, Bibliotheken, Kunst- und Naturaliensammlungen sowie Schulen und Erziehungseinrichtungen vorgestellt. In die letztere Thematik ist erfreulicherweise stärker als bisher das „niedere“, das Elementarschulwesen einbezogen. Nochmals umfangreicher sind verständlicherweise die Erörterungen zum (VI.) kulturellen Leben. Auf den Gebieten Literatur und Theater spielt natürlich das 18. Jahrhundert die Hauptrolle, als Leipziger Namen in ganz Deutschland Geltung besaßen (u. a. Gottsched, Gellert, Lessing). Ebenso interessant liest sich die Darstellung des Musiklebens von der Reformation über die Bachzeit bis zur Entwicklung zur vielseitigen Musikstadt einschließlich ihres Verlagswesens. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einem Überblick über Malerei und Bildhauerkunst. Nicht weniger ausführlich sind die Informationen, die (VII.) zum Leben in der Stadt geboten werden. Behandelt werden hier die innerstädtische Betriebsamkeit, das Alltagsleben, die Armen- und Krankenfürsorge, Zuwanderer und Gäste und speziell die Hugenotten bis zu ihrer endlichen Gleichberechtigung 1811. Dabei gehören die in diesem Kapitel referierten Maßnahmen städtischer Fürsorge, die erstmals kompakt aus den Archiven mitgeteilt werden, vielleicht zu den beklemmendsten Passagen im ganzen Band. Das folgende Kapitel (VIII.) Architektur und Stadtbild führt den erstaunlichen Wandel der Bausubstanz innerhalb der untersuchten Epoche vor Augen. Erst die Zeit der Napoleonischen Kriege bewirkte hier beinahe einen Stillstand, sodass zunächst noch das Erscheinungsbild einer prächtigen, vom Barock geprägten Stadt erhalten blieb. Nicht vergessen wird die weithin bekannte Gartenkultur des vermögenden Leipziger Bürgertums. Die Darstellung der Stadtgeschichte wird beschlossen mit einem Kapitel (IX.) zur Völkerschlacht bei Leipzig. Hier wird zunächst auf die Vorgeschichte eingegangen. Daran schließen sich die einzelnen Etappen der Mehrtageschlacht und Ausführungen zur Katastrophe der Stadt nach der Schlacht an. Sie war hervorgerufen durch die Präsenz Tausender von Verwundeten und Sterbenden auf engem Raum, eine grassierende Typhusepidemie und hohe Opferzahlen auch in der Zivilbevölkerung. Die Stimmung nach dem Sieg über Napoleon war dementsprechend geteilt, zumal Sachsen bald große Teile seines Landes an Preußen verlor.
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Einen eigenen Block bildet eine in zwei Kapitel untergliederte Darstellung der Dörfer im späteren Leipziger Stadtgebiet. Eingegangen wird einerseits auf (I.) die Stadt-LandBeziehungen, die sich im Wochenmarkt, der Wasserversorgung aus dem Umland, ländlichen Arbeitskräften in der Stadt, bürgerlichem Haus- und Rittergutsbesitz auf dem Land sowie dem Umland als Vergnügungs- und Ausflugsziel manifestieren. Andererseits wird (II.) die Entwicklung der Dörfer selbst in der Frühen Neuzeit dargestellt. Unterlegt von statistischem Zahlenmaterial werden Bevölkerungsverhältnisse und Agrarverfassung, der Einbruch infolge des Dreißigjährigen Krieges, aber auch spätere Konjunkturen anschaulich referiert. Zudem wird die Dorfgemeinde mit ihrer inneren Ordnung und ihrem facettenreichen Alltag, auch unter Berücksichtigung des dörflichen Gewerbes, geschildert. Berücksichtigt man, dass bereits im ersten Band entsprechende Fragen zum Thema Dorf verfolgt wurden (und ebenso intensiv hoffentlich auch in den beiden anschließenden Bänden), so entsteht geradezu ein Musterbeispiel moderner Dorfgeschichtsforschung, das methodisch, didaktisch und inhaltlich über Leipzigs spezielles Umfeld hinaus Beachtung verdient. Zusätzlich befördert wird der Informationswert des Bandes durch zehn dem Text beigegebene „Schlaglichter“, die einzelne Sachverhalte, Lokalitäten oder Personen verdeutlichen, sowie durch die allein schon zahlenmäßig beachtlichen 421 hauptsächlich farbigen Abbildungen, ergänzt von vier extra bearbeiteten Karten und mehreren Statistiken. Diese reiche Bebilderung aus verschiedener Provenienz trägt wesentlich zum Textverständnis bei. Hilfreich für eigene Arbeiten erweist sich ferner die breite Palette der verwendeten Quellen und Literatur, die sich auch in der Fülle von annähernd 4 000 Anmerkungen spiegelt. Außerdem verfügt der Band über ein Personenregister, das nach Möglichkeit die Lebensdaten nennt, sowie ein Ortsregister. In ihm ist unter dem Suchwort „Leipzig“ ein umfassendes Verzeichnis städtischer Lokalitäten bis hin zu einzelnen Häusernamen eingefügt und überdies farblich hervorgehoben. Corrigenda finden sich allenfalls gelegentlich, so etwa auf Seite 563: Daniel Leicher (1544!–1612) war nicht Superintendent, sondern Ratsbaumeister, wie sein Epitaph in der Thomaskirche belegt. Auf Seite 583 zeigt Abb. 291 nicht den Ranstädter Steinweg, sondern eine dortige gepflasterte Hofanlage; auf Seite 692 fehlt in einer Aufzählung die Peterskirche. Insgesamt liegt mit diesem Band jedoch ein gediegenes Handbuch zu Leipzigs Geschichte vor, das bei der Lektüre viel Interesse weckt, nicht selten neue wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt und zudem neugierig auf den folgenden Band macht. Gerhard Graf
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ENNO BÜNZ, ULRIKE HÖROLDT, CHRISTOPH VOLKMAR (Hg.): Adelslandschaft Mitteldeutschland. Die Rolle des landsässigen Adels in der mitteldeutschen Geschichte (15.– 18. Jahrhundert) (= Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 49; Veröffentlichungen des Staatlichen Archivverwaltung des Landes Sachsen-Anhalt, Reihe A. Quellen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 22), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2016, 506 S., (ISBN 978-3-86583-925-1), 55,00 EUR. Der umfangreiche Band vereint den größten Teil der Beiträge der gleichnamigen Tagung, die vom 7. bis 9. März 2012 im ehemaligen Benediktinerinnenkloster zu Drübeck bei Wernigerode stattfand. Er ist in vier Abschnitte gegliedert, wobei der erste aus zwei Vor-
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worten der Herausgeber besteht. Der zweite Abschnitt führt mit drei perspektivisch sehr unterschiedlichen Beiträgen in die Thematik ein, während Abschnitt drei anhand von sechs Beispielen verschiedene Aspekte des landsässigen Adels im mitteldeutschen Raum zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit beleuchtet. Im letzten Abschnitt zeigen vier Beiträge divergierende Zugänge zu den Beständen des Landesarchivs Sachsen-Anhalt auf. Den Band beschließen zahlreiche Bildtafeln zum Beitrag von Werner Paravicini sowie ein Personen- und Ortsregister. Als Ziel des Bandes definieren die Mitherausgeber Enno Bünz und Christoph Volkmar das Abstecken eines Rahmens für die weitere Debatte zum landsässigen Adel im mitteldeutschen Raum, die durch die Tagung zwischen Vertretern der Wissenschaft, der Archive und der Eigentümer der Bestände angestoßen wurde. Als einen Kernpunkt benennen Bünz und Volkmar den verantwortungsbewussten Umgang mit dem „kulturellen Erbe“ des Landadels und dessen Sicherung für die Zukunft. Zudem konstatieren sie, dass trotz der in den sachsen-anhaltinischen Archiven zugänglichen umfangreichen Guts- und Familienarchive ein Mangel an Forschungen zur Geschichte des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Niederadels in Mitteldeutschland besteht. Während Bünz und Volkmar Mitteldeutschland für den Band als „historischen Raum“ (9) begreifen, bleibt die Bestimmung des Land- bzw. Niederadels vage. Sie erfolgt lediglich in Abgrenzung von den hochadligen Residenzen und lässt damit offen, was Landsässigkeit oder Niederadligkeit eigentlich ausmachte. In einem zweiten Vorwort betont die langjährige Leiterin des Landesarchivs Sachsen-Anhalt (LASA) Ulrike Höroldt dessen kulturpolitische Aufgabe, nämlich die Sicherung der adligen Überlieferung in Mitteldeutschland als Quelle sowohl für die kulturelle Identität der Adelsfamilien als auch für die Geschichte der Region. In aller Deutlichkeit benennt sie die Übernahme des größten Teils der adligen Guts-, Familien- und Herrschaftsarchive im Zuge der Bodenreform von 1945 durch den Vorgänger des LASA als „historisches Unrecht“ (13) und geht auf die intensive Provenienzforschung zur Identifizierung der betreffenden Bestände sowie deren Restitution an die Eigentümerfamilien infolge des Entschädigungs- und Ausgleichsgesetzes (EALG) von 1994 ein. Zugleich hebt sie hervor, dass durch dieses unbestreitbare Unrecht einmalige Quellen zur Adelsund Landesgeschichte erhalten werden konnten und durch den Abschluss von über 60 Depositalverträgen mit den Eigentümerfamilien auch weiterhin fachgerecht erhalten werden. Für die weitere Erforschung der Bestände werbend, unterstreicht Höroldt Umfang und Dichte der Quellen zum Adel in den Archiven des LASA, auch im Vergleich zu anderen deutschen Archiven. Im ersten inhaltlichen Beitrag verfolgt Werner Paravicini die Genese adliger Ursprungs- bzw. Herkunftslegenden um die beiden römischen Geschlechter der Orsini und Colonna. Gewohnt luzide zeigt er in seinem quellen- und literaturgesättigten Aufsatz die Entwicklung des Phänomens der Ansippung auf, das sich ab der Mitte des 15. Jahrhunderts insbesondere bei aufstrebenden, aber mit genealogischen Defiziten (Lücken im Stammbaum) behafteten Familien beobachten lässt. Die Begründung für die Konstruktion dieser imaginierten Abstammungen lag in der durch die Konkurrenz der aufstrebenden (Adels-)Familien gegebenen Notwendigkeit zur Schließung dieser genelogischen Lücken. Der Grund für die Wahl der Familien Colonna bzw. Orsini für die Ansippung ist, so Paravicini, einerseits in der imaginierten Abstammung dieser römischen Familien von den
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Helden der antiken Welt (Caesar, Äneas) und andererseits in der Beurkundungsfähigkeit der noch blühenden Familien zu sehen. In den Kontext des vorliegenden Bandes passt dieser an sich wichtige und profunde Beitrag allerdings deshalb nicht, weil die gelegentlichen Verweise auf gräfliche Adelsgeschlechter Mitteldeutschlands eben gerade nicht den landsässigen Niederadel betreffen. Direkt auf das Thema des Bandes fokussiert ist hingegen der gemeinsame Beitrag der Mitherausgeber Bünz und Volkmar zu Tendenzen und Perspektiven der Forschung zur Adelslandschaft Mitteldeutschlands. Den Untersuchungsraum setzen sie in etwa mit den Territorien der heutigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gleich, während die im Fokus stehende Gruppe des „landsässigen Adels“ nicht näher bestimmt oder abgegrenzt wird. Mit Blick auf die Forschung konstatieren beide Autoren einen eklatanten Mangel an Literatur zum Adel in den Gebieten des heutigen Thüringen und Sachsen-Anhalt, dem ein deutliches Übergewicht an Forschungen zur sächsischen Adelsgeschichte gegenübersteht. Dieses Ungleichgewicht findet sich auch in mehreren Beiträgen des Tagungsbandes wieder. So ist der Ansatz, den Joachim Schneider vorstellt, nicht zuletzt dem Übermaß an erschlossenen und ausgewerteten sächsischen, im Kern wettinischen, Quellenkorpora geschuldet. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit den problembehafteten Begriffen ‚Landschaft‘ und ‚Mitteldeutschland‘ schlägt Schneider einen kommunikationsgeschichtlichen Ansatz für die Bestimmung einer bzw. mehrerer mitteldeutscher Adelslandschaften vor. Dabei konzentriert er sich auf das Verwaltungsschrifttum zwischen dem Landesherrn bzw. seinen Beamten und den registrierten Adligen. Den Hegemonialraum der im 15. und 16. Jahrhundert dominierenden Dynastie der Wettiner versteht Schneider als mitteldeutsche Adelslandschaft. Sein vielversprechender analytischer Ansatz bedarf jedoch tiefergehender Untersuchungen, die den Rahmen seines Beitrages übersteigen. So fallen seine Ausführungen zu den Randgebieten des Wettiner Hegemonialraums sehr kurz aus. Genauere Analysen wären auch im Hinblick auf etwaige Veränderungen im Zuge der Umgestaltung des politischen Raums im 17. und 18. Jahrhundert durch die Konkurrenz mit den Brandenburger Hohenzollern sowie hinsichtlich der Konnubien der Adligen wünschenswert. Am Beginn der Fallbeispiele steht der Beitrag von Uwe Schirmer zu den Einungen des thüringischen Hoch- und Niederadels von 1417, 1419 und 1423. Einungen waren Bündnisse zwischen Adligen und Städten, die primär der Sicherung des Friedens dienten, sich aber auch gegen die vermeintlich willkürliche Herrschaftsdurchsetzung der Landesherren richten konnten. Schirmer analysiert die personelle Zusammensetzung der drei Einungen und kommt zu dem Ergebnis, dass sich in der gemeinsamen Ablehnung landesherrschaftlicher Willkür ein „Wir-Gefühl“ (174) der beteiligten Adligen äußerte. Über dieses geteilte politische Motiv versucht er eine thüringische Adelslandschaft zu fassen. Als schwierig im Hinblick auf die Thematik des Bandes erweist sich dabei nicht nur die wesentliche Beteiligung der Städte, sondern auch die fehlende Differenzierung zwischen Hoch- und Niederadligen. Überblicksartig befasst sich Markus Cottin mit dem Adel und dessen herrschaftlichen Gütern im Hochstift Merseburg. Cottin begreift das Hochstift als „geistlichen Wahlstaat“ (232), der durch das Fehlen einer Herrschaftsdynastie geprägt war. Die ansässigen Adelsfamilien, die eine eigene Adelslandschaft konstituierten, waren deshalb anderen Veränderungsprozessen ausgesetzt als Adlige in weltlichen Territorien. Je nach wirtschaftlicher
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Situation war der jeweilige Bischof bestrebt, Herrschaftsgüter aufzukaufen, während der aufstrebende Adel eben dies zu verhindern und seine Rechte zu konsolidieren suchte, wie Cottin am Beispiel der von Pflug aufzeigt (223–225). Cottins lesenswerter Untersuchung fehlt jedoch eine Analyse der Konnubien, über die eine genauere Bestimmung der Adelslandschaft sowie der Veränderungs- und Abgrenzungsprozesse im Hochstiftsgebiet möglich gewesen wäre. In einem spannenden Beitrag befasst sich Alexander Jendorff mit den Handlungsspielräumen und dem Selbstverständnis der protestantischen Familie von Wintzingerode im katholischen Eichsfeld. Der konfessionelle Gegensatz bestimmte nicht nur die Selbstwahrnehmung protestantischer Adliger, sondern schlug sich auch in gegensätzlichen, sogar konfrontativen Historiografien nieder. Das an der Peripherie des kurmainzischen Territoriums gelegene, überwiegend katholische Eichsfeld erscheint als Landschaft, die einen bewusst am protestantischen Bekenntnis festhaltenden und sich damit vom Landesherrn und dem Großteil der Bevölkerung abgrenzenden Adel beherbergte. Dieser Adel war untereinander durch Verwandtschafts-, Belehnungs- und Besitzverhältnisse verbunden und bildete somit eine Adelslandschaft, die wiederum mit dem protestantischen Adel anderer Territorien in Kontakt stand. Mit dem katholischen Landesherrn standen die von Wintzingerode und ihre adligen Glaubensgenossen in einem gespannten, aber in der Regel konfliktfreien Verhältnis. Man arrangierte sich, was wohl auch daran lag, dass die protestantischen Adligen des Eichsfelds in die Dienste fremder Herren traten und dort ihr Auskommen sicherten (256 f.). Monika Lücke betont die nicht unwesentliche, bisher zu wenig beachtete Rolle des landsässigen Adels im Prozess der Säkularisierung der Klöster. So behandelt sie den Protest der die klösterlichen Lehen tragenden Ritter gegen die Umwandlung der Klöster in Saalfeld oder Großfurra in landesherrliche Kammergüter. Im Hinblick auf die anhängenden Prozesse um diese Säkularisierungen weist Lücke auf die Bedeutung der Akten des Reichskammergerichts für die Bewertung der Motive und Handlungsoptionen des landsässigen Adels hin. Im Zentrum der Untersuchung von Martina Schattkowsky steht die Frage nach der Herrschaftspraxis und der Verwirklichung adliger Gutsherrschaft in Kursachsen. Die „Mitteldeutsche[…] Grundherrschaft“ begreift sie als Übergangsraum zwischen der ostund westelbischen Grundherrschaft (306 f.). Am Beispiel des Abraham von Schleinitz, eines landsässigen Adligen im Kursachsen des ausgehenden 16. Jahrhunderts, und der juristischen Streitigkeiten mit seinen Bauern zeigt Schattkowsky eindrücklich auf, dass die Möglichkeiten willkürlicher Herrschaftsausübung für Adlige stark begrenzt waren. Bedingt durch eine „landesherrliche Bauernschutzpolitik“ (316) war von Schleinitz genötigt, mit seinen Bauern einen konsensualen Umgang zu pflegen, der sich auf die Realisierung seiner herrschaftlichen Möglichkeiten auswirkte. Inwiefern dieses beachtenswerte Beispiel den generellen Herrschaftsstil des landsässigen Adels in Kursachsen darstellte bzw. hierdurch eine Adelslandschaft geprägt wurde, kann der Beitrag ebenso wenig beantworten wie die Frage, ob die kursächsischen Bestimmungen Auswirkungen auf die Adligen in angrenzenden mitteldeutschen Territorien hatten. In der letzten Fallstudie befasst sich Andreas Erb mit den Fehden und Prozessen des anhaltischen Adligen Wolf Ludwig von Schlegel. Erb schildert den Fall eines landsässigen Adligen, der einer Anklage wegen Mordes auswich, indem er in der Manier eines Götz von
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Berlichingen eine Fehde wegen angeblicher Ehrverletzung gegen die Vertreter seines Landesherrn begann. Als Ludwig August zu Anhalt-Köthen daraufhin von Schlegels Gut besetzen ließ, strengte dieser einen Reichskammergerichtsprozess an, der tatsächlich in seinem Sinne ausging. Bedingt durch die institutionellen und juristischen Strukturen des Alten Reiches und eines sich zwischen dem Reichskammergericht und dem anhaltischen Landesherrn aufschaukelnden Konflikts beschäftigte der Fall von Schlegels das Reich noch Jahrzehnte nach dessen Tod, ohne dass eine Lösung gefunden wurde. So interessant diese Episode auch für Fragen nach dem adeligen Ehrverständnis und der Rechtspraxis ist, so bietet sie doch keine Antworten im Hinblick auf die Existenz oder Wahrnehmung einer mitteldeutschen Adelslandschaft. Hier hätte man sich eine stärkere Konzentration auf die Reaktion der anhaltischen Ritterschaft auf diesen Konflikt gewünscht. Der letzte Abschnitt des Bandes stellt die umfangreichen Bestände zur Adelsgeschichte vor allem in den sachsen-anhaltinischen Archiven vor. Mit einem kurzen Abriss der Bestandsgeschichte der 289 Guts-, Herrschafts- und Adelsarchive mit über 3300 lfm. im Landesarchiv Sachsen-Anhalts leitet Christoph Volkmar seinen Beitrag ein. Nachdrücklich weist er darauf hin, dass es sich hierbei um die wahrscheinlich bedeutendste Beständesammlung zum Adel in Deutschland handelt. Trotz der den wechselnden Besitzverhältnissen geschuldeten Problematik der Zuordnung von Familie(n) zu Gütern sind alle Bestände mittlerweile verzeichnet und über die Tektonik des Landesarchivs auch online recherchierbar. Einer intensiven Erforschung der Bestände steht somit nichts mehr im Wege. Mit den Herrschaftsarchiven der Stolberger befasst sich mit Jörg Brückner nicht nur der Leiter des Standorts Wernigerode des LASA, sondern zugleich der profundeste Kenner der Geschichte dieser Familie. Obwohl Brückner zeigt, dass Aktivitäten und Einfluss des hochadligen Geschlechts weit über die Grenzen des mitteldeutschen Raums hinaus reichten, macht er deutlich, dass es sich bei dem Archiv der Familie um das „Gedächtnis der Region“ (376) des nördlichen Sachsen-Anhalt handelt. 600 Jahre lang haben die Stolberger die Geschichte des Harz geprägt und damit eine kulturelle Identität der Region mitgestaltet, deren zentralen Referenzpunkt das Archiv in Wernigerode darstellt. Leider ist die von Brückner erhoffte Einigung über die Nutzung der stolberg-wernigerodischen Bestände nicht eingetreten, und so sind große Teile des Archivs seit Herbst 2016 für die Forschung gesperrt. Es steht zu hoffen, dass diese einzigartigen Bestände, die die Geschichte des Forst- und Bergbauwesens, die Religions- und Konfessionsgeschichte, die Natur- und Tourismusgeschichte, die Adels- und Bürgertumsgeschichte, die Kultur- und Verfassungsgeschichte etc. über sechs Jahrhundert hinweg dokumentieren, bald wieder der Forschung zugänglich gemacht werden. Über die Quellen zur Geschichte des Adels in den landesherrlichen Archiven am Beispiel des Erzstifts bzw. Herzogtums Magdeburg berichtet Dirk Schleinert. Adligen begegnet man in diesem Archiv in einer zweifachen Rolle: aktiv „als Teil des Behördenapparates“ und passiv „als Objekt behördlicher Tätigkeit“ (384). Sich auf letztere Rolle konzentrierend, spürt Schleinert dem landsässigen Adel im Erzstift bzw. Herzogtum nach und stellt verschiedene ergiebige Bestände wie Lehnsakten, Vasallentabellen oder Prozessakten vor, für die er auch einige Beispiele gibt. Tobias Schenk sichtet die Akten des kaiserlichen Reichshofrats auf Quellen zur Geschichte des mitteldeutschen Adels und präsentiert seine Funde am Beispiel des Fürstentums Halberstadt und des Herzogtums Magdeburg. Die Bestände des Reichshofrats –
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immerhin „rund 100 000 Akten und Amtsbücher auf 1,3 Regalkilometern“ (417) – im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv sind aufgrund fehlender Erschließung bisher von der Forschung kaum beachtet worden – ein Missstand, dem ein deutsch-österreichisches Kooperationsprojekt seit einigen Jahren Abhilfe leistet. Auf der Basis dieses Projekts zeigt Schenk die Bedeutung der Prozessakten des Reichshofrats für eine Neubewertung des konflikthaften Verhältnisses zwischen dem aufstrebenden brandenburgisch-preußischen Landesherrn und seinen (neuen) Untertanten, dem landsässigen Adel im Herzogtum Magdeburg und dem Fürstentum Halberstadt, auf. Im Hinblick auf die gelungene oder gescheiterte Integration der „Adelslandschaften in den neu erworbenen Territorien“ in den Hohenzollernstaat stellten Häufigkeit und Gegenstand der Appellation vor dem Reichshofrat einen wesentlichen Marker dar (434). Das Urteil über den vorliegenden Tagungsband fällt zweigeteilt aus. Wer aufgrund des Titels eine analytische und methodische Grundlage für die Erforschung einer „Adelslandschaft Mitteldeutschland“ erwartet, wird enttäuscht. Es wird nicht geklärt, was eigentlich unter dem „landsässigen Adel“ zu verstehen ist und wie dieser innerhalb der heterogenen Großgruppe des Adels abzugrenzen ist. Hier fehlt es dem Band an einem übergreifenden Konzept. Zugleich enthält er einige interessante methodische Ansätze, wie etwa diejenigen von Schneider und Schattkowsky, für deren Explikation man sich einen breiteren Raum wünscht. Sieht man von diesen konzeptionellen Schwächen ab, bietet der Band einen hervorragenden Einblick in die vielgestaltige Welt des Adels im mitteldeutschen Raum, dessen Geschichte in großen Teilen noch nicht erzählt worden ist. Für die Erforschung dieser Geschichte kommt man an den Beständen der sachsen-anhaltinischen Archive nicht vorbei. Der Tagungsband ist die beste denkbare Werbung für die weitere Erforschung und Erhaltung dieses einzigartigen kulturellen Erbes, das die Geschichte einzelner Adelsgeschlechter mit der Identität einer ganzen Region verbindet. Die zugrundeliegende Konferenz in Drübeck inspirierte zudem eine Reihe von Veranstaltungen und Publikationen, die hoffentlich nur den Beginn einer intensiveren Auseinandersetzung mit diesem prägenden Abschnitt der Geschichte Mitteldeutschlands bilden. Thomas Grunewald
Halle/Saale
ARMIN KOHNLE, UWE SCHIRMER (Hg.): Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen. Politik, Kultur und Reformation (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 40), Stuttgart: Steiner 2015, 451 S., 99 s/w Abb., 18 s/w Tab., (ISBN 978-3-515-11282-6), 76,00 EUR. In 22 Beiträgen stellt der Band in einem interdisziplinären Zugriff Kurfürst Friedrich III. von Sachsen (1463–1525) in seiner Zeit dar. Er geht auf eine 2013 aus Anlass des 550. Geburtstags Friedrichs von der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Torgau veranstaltete Tagung zurück. Sie stellte zugleich den Auftakt eines an der Sächsischen Akademie seit 2014 laufenden Langzeitvorhabens dar, das es sich zum Ziel gesetzt hat, „Briefe und Akten zur Kirchenpolitik Friedrichs des Weisen und Johanns des Beständigen 1513 bis 1532. Reformation im Kontext frühneuzeitlicher Staatswerdung“ digital zu edieren. Dass dies ein vielversprechendes Vorhaben ist, zeigt der vor-
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liegende Band. Denn er zeichnet sich durch zweierlei aus, das bei Sammelbänden nicht immer gegeben ist: durch große inhaltliche Homogenität sowie durch zahlreiche quellengesättigte Beiträge, die der Forschung neue Einsichten ermöglichen und erste Früchte präsentieren (so steht jedenfalls zu vermuten, denn auf ein AutorInnenverzeichnis wurde verzichtet), die im Rahmen der Vorarbeiten zum Editionsvorhaben entstanden sind. Die Herausgeber ordnen die Aufsätze, in nicht immer ganz nachvollziehbarer Weise, drei großen Themenbereichen zu: „Persönlichkeit und Politik“, „Kultur und Humanismus“ sowie „Frömmigkeit und Reformation“. Dass freilich „Politik“ und „Reformation“ nicht getrennt werden können, zeigen die Beiträge, die Friedrich als Fürsten vorstellen, der während seiner fast 40-jährigen Regierungszeit immer wieder ‚zum Reich‘ zog (Armin Kohnle, Heiner Lück, Eike Wolgast). Gerade in Friedrichs auf das Reich als politischen Handlungsverband gerichtetem Wirken spiegeln sich die grundlegenden Transformationen der politischen Ordnung des Reiches um 1500 ebenso wider wie der Kurfürst als Person für die Kontinuitäten steht, ohne die der beschleunigte Wandel der politischen und kirchlichen Ordnung, die Friedrichs Lebenszeit bestimmte, nicht zu verstehen ist. Diese Janusgesichtigkeit tritt auch in Friedrichs Verhältnis zu seinem Wittenberger Theologieprofessor Martin Luther entgegen, das Bernd Stephan trefflich unter die Überschrift „Nähe und Distanz“ stellt; und diese Ambivalenz bestimmte auch das, im Band allerdings nicht detailliert dargelegte, Verhalten Friedrichs auf dem Wormser Reichstag des Jahres 1521. Gleich sechs Beiträgerinnen und Beiträger loten Friedrich als Person aus, und hier wiederum vorrangig als einen der vielen „Herren von Sachsen“, wie seine Zeitgenossen formulierten. Frank Schmidt stellt die begründete Hypothese in den Raum, dass es der 15jährige Friedrich gewesen sein könnte, dessen aus Rittern, Belagerungen, Burgen und Kirchen, aber auch aus Psalmen, Karikaturen und Gesellschaftsspielen (Mühle) bestehende Welt wir noch heute auf Rochlitz eingeritzt (und im Band abgebildet) finden. Es bleibt unklar, warum Friedrich Junggeselle blieb, was umso erstaunlicher ist, als sich auch sein Bruder Johann erst im vierten Lebensjahrzehnt vermählte. Iris Ritschel liefert in ihrer kunstgeschichtlichen Untersuchung eine Hypothese, um wen es sich bei der Lebensgefährtin handelte, mit der Friedrich vier uneheliche Kinder zeugte, deren drei er in seinem Testament bedachte: um die Nürnbergerin Anna, Stieftochter des Kasper Dornle, deren Konterfei als Kapselbildnis im Wiener Kunsthistorischen Museum überliefert (und ebenfalls im Band abgebildet) ist. Weiß man, dank der Beiträge von Sina Westphal und Andreas Tacke, um die engen Beziehungen, die Friedrich in den fränkischen Raum und insbesondere nach Nürnberg unterhielt, gewinnt Ritschels „Identifizierung“ weiter an Plausibilität. Große Aufmerksamkeit widmet der Band den sächsischen Agnaten: Friedrichs Brüdern Ernst, Erzbischof von Magdeburg (1476–1513) (Michael Scholz), und Johann (Christian Winter), aber auch seinen Vettern, die regierende Fürsten waren: Herzog Georg in Sachsen (Enno Bünz) und Friedrich von Sachsen, Hochmeister des Deutschen Ordens in Preußen von 1498 bis 1510 (Stephan Flemmig). Zeigt Flemmig in seinem quellengesättigten Beitrag präzise auf, dass Friedrich seinem Namensvetter, der als Hochmeister jenseits des Reichslehensverbands angesiedelt war, wenig Aufmerksamkeit schenkte, so präsentiert sich Friedrich in seinen Beziehungen zu den anderen sächsischen Agnaten als ein Fürst, der auf Interessenausgleich (mit seinem Bruder Johann) bedacht war und dessen Handeln zu erkennen gibt, dass er die ausgeprägte Kultur der Konfliktschlichtung prägte und von ihr geprägt war. Diese war gerade im Haus Sachsen in Gestalt der Erbeinungen, die leider nur
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am Rande Erwähnung finden, in institutionelle Formen überführt worden. Ein Jahr nach Regierungsantritt Friedrichs war diese Handlungsebene gerade im Hinblick auf den für die Geschicke Friedrichs und seines Hauses so wichtigen brandenburgischen und hessischen Raum weiter konsolidiert worden. Und so ist es kein Zufall, dass Friedrich und seine Räte gerade in dem von der fränkischen Linie des Hauses Brandenburg beherrschten Raum häufig als Vermittler begegnen, wie Sina Westphal vorführt. Mit vier Aufsätzen einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt bildet das Thema des Hofes, der als ein „komplexes soziales, religiös-kulturelles, administratives und ökonomisches System“ (232) beschrieben wird, in dessen Zentrum der Fürst und seine Familie stand. Im Falle Friedrichs, der lange Jahre (1493–1498) von seinem Herrschaftsbereich abwesend war, bestand die Familie bis zur Mutschierung 1513 aus seinem Bruder Johann. Während Björn Schmalz der Stellung Spalatins am kursächsischen Hof nachgeht, erlauben es die Beiträge von Thomas Lang, Uwe Schirmer und Jürgen Herzog, allesamt auf archivischer Quellengrundlage beruhend, den Hof Friedrichs präzise zu verorten, was durchaus auch wörtlich zu verstehen ist. Unter dem programmatischen Titel „Zwischen Reisen und Residieren“ weist Lang überzeugend nach, dass Friedrich „nicht eine Residenz“, wie von der Forschung lange behauptet, „sondern mehrere Hoflager“ (229) besaß; vor allem aber zeigt er auf, wie die Komplexität des Sozialgebildes Hof sich in den kursächsischen Herrschaftsraum einschrieb. Aus einer komplementären Perspektive, derjenigen der Stadt Torgau, in der der Hof gerne feierte und die zudem ein wichtiger Kanzleisitz war, nähert sich Herzog dem fürstlichen Hoflager. Schirmer schließlich wendet sich der Struktur des Hofes zu. Dieser war räumlich wie sozial dreigeteilt: „Die Hofräte mit ihrem Personal verrichteten maßgeblich an den zentralen Residenzen ihren Dienst (Weimar, Torgau, zum Teil Coburg und Wittenberg), der Kurfürst und Herzog Johann waren außerordentlich rege im Land unterwegs und der erweiterte Hof lagerte zwar oft in den großen Residenzorten, insbesondere in Torgau und Wittenberg, aber er machte ebenso auf anderen Schlössern und Burgen Station.“ (249) Quantitativ gesehen zählt er mit 130 bis 230 Personen im ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts zu den größeren Höfen im sächsischen Raum, ohne jedoch, wie teilweise behauptet, diese grundsätzlich in ihrer Größe zu übertreffen. Dass Wittenberg zwar nicht die Residenz Friedrichs war, sondern „geistlich-geistiges Zentrum“ (Lang, 249) des ernestinischen Herrschaftsbereichs, belegen drei weitere Beiträge: Jürgen von Ahn, indem er die „Reliquiensammlungen der Brüder Ernst und Friedrich von Wettin“ vorstellt, Manfred Rudersdorf, der sich der Gründungsphase der Leucorea zuwendet, und Thomas Fuchs, der den aufs engste mit dem Wittenberger Professor Martin Luther verbundenen Aufstieg des dortigen Druckgewerbes nachzeichnet. Dass die Hofkantorei, in der sich die Nähe Friedrichs zum kaiserlichen Hof beispielhaft manifestiert, auch in Wittenberg musizierte, aber beileibe nicht nur dort, verdeutlicht der Beitrag von Matthias Herrmann. Dass die 2014 erschienene wichtige Arbeit von Natalie Krentz [Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533). Tübingen 2014] inzwischen, auch was die Person Spalatins anbelangt, über den diesen Beiträgen zugrundeliegenden Forschungsstand hinausweist, sei angemerkt. Ein letzter, der Memoria Friedrichs gewidmeter Teil macht verständlich, warum Friedrich bis heute eine der „bekanntesten Persönlichkeiten der frühen Reformationszeit“ ist, wie es im Klappentext des Bandes heißt. Andreas Tacke untersucht die innovativen visuellen Strategien der Inszenierung Friedrichs durch ihn selbst und seinen Hofmaler
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Cranach, an die sein Bruder Johann und dessen seit 1532 regierender Sohn Johann Friedrich anzuknüpfen vermochten. Dass Friedrich und der Wittenberger Professor Melanchthon zu Lebzeiten des Ersteren kaum Kontakt hatten, dass es aber die maßgeblich auf Melanchthon zurückgehende Memoria ist, die ihm (erstmals 1569) den bis heute geläufigen Beinamen „der Weise“ einbrachte, demonstriert Hans-Peter Hasse. Der Wundertraum, den Friedrich am 30./31. Oktober 1517 gehabt haben soll, wie man nach der Lektüre von Martina Schattkowskys Ausführungen sagen kann, wird als Bestandteil der frühneuzeitlichen protestantischen Erinnerungskultur sichtbar gemacht. Die Traumerzählung, „die wahrscheinlich im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts entstand und die schon bald als Realität aufgefasst wurde“ (420), war seit 1617 integraler Bestandteil der Centenarfeiern, und noch 2017 findet sich ein YouTube-Video mit dem bezeichnenden Titel „Traum von Friedrich der [sic!] Weise (Sachsen) rettete Martin Luthers Leben“. Nicht nur vor diesem Hintergrund, der einmal mehr zeigt, wie persistent die protestantische Meistererzählung des 19. Jahrhunderts, allem Erkenntnisfortschritt zum Trotz, nach wie vor ist, ist dem Band eine breite Rezeption zu wünschen. Gabriele Haug-Moritz
Graz
SIGRID HIRBODIAN, ROBERT KRETZSCHMAR, ANTON SCHINDLING (Hg.): „Armer Konrad“ und Tübinger Vertrag im interregionalen Vergleich. Fürst, Funktionseliten und „Gemeiner Mann“ am Beginn der Neuzeit (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 206), Stuttgart: Kohlhammer 2016, 382 S., 27 Abb., ( ISBN 978-3-17-030721-6), 34,00 EUR. Neben dem Bauernkrieg von 1525 ist auf der Suche nach freiheitlichen und demokratischen Entwicklungen in Deutschland auch der württembergische „Arme Konrad“ von 1514 mehr und mehr in den Fokus gerückt. Denn der Tübinger Vertrag, entstanden im Zuge der württembergischen Hauskrise am 8. Juli 1514, wurde immerhin „zur Grundlage der ständischen und bürgerlichen Freiheiten in Württemberg bis 1806“ (Bernd Wunder). Im Juli 2014 würdigte eine Fachtagung dieses Ereignis aus Anlass des 500-jährigen Jubiläums. Die Ergebnisse, die nun in gedruckter Form vorliegen, stellen das Ereignis im europäischen Vergleich dar – ein ehrgeiziges Unterfangen. Der verstorbene Peter Blickle skizziert diese europäische Perspektive anhand verschiedener politischer Bewegungen, die er nach dem Stufenmodell „‚Unruhe‘, ‚Revolte‘ und ‚Revolution‘“ (17) kategorisiert. Als politische Bewegung sieht er von Spanien über Deutschland bis England, von Flandern bis Ungarn die „Kommune“ bzw. die „commons“ am Werke, wobei die zitierten Beispiele zeitlich weit gestreut sind und er zwischen Stadt und Dorf bewusst keinen großen Unterschied macht. Interessanterweise vermeidet Blickle an dieser Stelle den offenen Rückgriff auf sein Kommunalismus-Konzept. Die politischen Ziele verortet er in allgemeinen Freiheitsvorstellungen, konstitutionell abgesichert in (ständischen) Mitverwaltungsrechten. Legitimiert worden seien diese Ansprüche durch eine aus der Bibel abgeleitete Negation der Leibherrschaft. Dabei habe sich der Streit um die Legitimität politischen Widerstandes um die Auslegung des augustinisch inspirierten Hochverrats (crimen laesae maiestatis) gedreht. Das organisatorische und juristische
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Spektrum habe von der heimlichen Konspiration bis zur öffentlichen Konstituierung als Schwurverband (coniuratio) gereicht. Dieses Gerüst aus Begriffen und Thesen auf den „Armen Konrad“ anzuwenden, erweist sich teils als schwierig. Dabei ist seine Geschichte schnell erzählt: Durch üppige Hofhaltung und politische Abenteuer ruiniert, ließ Herzog Ulrich von Württemberg 1514 durch Verkleinerung der Maße und Gewichte indirekt das Ungeld erhöhen. Die Bevölkerung des Remstals rottete sich daraufhin zusammen, versuchte die Schlüsselgewalt über die Städtchen zu erringen und markante Landschaftspunkte zu besetzen. Der Herzog ließ die Steuererhöhung zurücknehmen, lud die Ehrbarkeit nach Tübingen, wo am 8. Juli der zitierte Vertrag zustande kam. Die Stände erhielten das Steuerbewilligungsrecht, Mitbestimmung in auswärtigen Angelegenheiten (um den Herzog von riskanten militärischen Abenteuern abhalten zu können), die Freiheit des Zu- und Abzugs innerhalb Württembergs (damit faktisch das Ende der Leibeigenschaft) sowie die Garantie einer gerechten Justiz. Im Gegenzug übernahmen die Untertanen die horrenden Schulden. Die Landbevölkerung, die zuvor zur Eingabe eigener Beschwerden animiert worden war, wurde auf einen weiteren Landtag nach Stuttgart vertröstet. Aus Protest, in Tübingen übergangen worden zu sein, kam es zu weiteren Zusammenrottungen der ärmeren Landbevölkerung, die blutig niedergeworfen wurden. Angebliche Rädelsführer wurden hingerichtet, andere entkamen ins Ausland. Dieser Stoff erweist sich als ungemein sperrig, wenn es um die Einordnung in Blickles Begriffsgerüst, aber auch um die Einbettung in die spätmittelalterliche Widerstandstradition geht. Der „Arme Konrad“ litt nämlich, wie Robert Kretzschmar und Peter Rückert zeigen, unter einer schwachen, diffusen Organisation jenseits der „nachweisbaren Ansätze einer Schwurgemeinschaft“ (49). Er pendelte zwischen Verbalradikalismus und relativ wenigen Aktivitäten, die sich – trotz der punktuellen Mobilisierung ganzer „Massen“ (47, 49) als „Revolte“ charakterisieren lassen. So steht denn auch der „Arme Konrad“ nicht in einem gesicherten Zusammenhang mit der Bundschuhbewegung. Auch die Vorstellungswelt der Aufständischen lässt sich nicht eindeutig verorten. Zwar erscholl der bekannte Schrei nach (persönlicher) Freiheit, nach (rechtlicher) Gleichheit zwischen Arm und Reich und nach Gerechtigkeit. Aber es lässt sich darüber streiten, ob man bäuerliche Ansprüche an der Allmende, vor allem an der Waldnutzung bereits als prinzipiell antiadelige Stoßrichtung interpretiert oder „nur“ als Abwehrreaktion gegen Fürstenwillkür und Herrschaftsintensivierung zu Lasten der Landgemeinden. Die sehr verdienstvolle Quellenedition durch Robert Kretzschmar (63–96) offenbart darüber hinaus unterschiedliche Argumentationsebenen. Der Markgröninger Pfarrer Reinhard Gaißlin, ein führender Kopf der Widerstandsbewegung, meinte resignierend zum Tübinger Vertrag, man müsse letztlich tun, „was die gemain landtschaft thut“ (96). Gaißlins Wechseln zwischen religiöser Legitimation des Widerstandes und praktisch-politischer Analyse von Möglichkeiten zeigt einen Facettenreichtum des Diskurses, der sich gut auf Blickles Ideenskizze beziehen lässt, aber auch deutlich darüber hinausreicht. Klaus H. Lauterbach unterteilt die Bundschuh-Bewegung des Elsass und des Oberrheins in drei Bereiche. Die Vorkommnisse in Schlettstadt 1493 scheinen eine maßlos übersteigerte Verschwörung ambitionierter Lokalpolitiker gewesen zu sein, die sich auf den Unmut in der Bevölkerung über das rabiate Durchgreifen auswärtiger Gerichte in Schuldsachen, damit auch über jüdische Geldgeschäfte, stützte. Die weiteren Verschwö-
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rungen in Untergrombach 1502 und Lehen 1513 sowie die Aufstandsfurcht am Oberrhein 1517 zeigen hingegen die antiadelige Stoßrichtung mit freiheitsorientierter, göttlichrechtlicher Argumentation, die Lauterbach als „revolutionär“ (111) bezeichnet. Die Obrigkeiten reagierten auf die konspirativen Aktivitäten auf dem Heidelberger Fürstentag mit einer römisch-rechtlich inspirierten Strafrechtsreform, ließen die Untertanenbeschwerden jedoch unbearbeitet. An keiner Stelle lässt diese Abhandlung einen Zusammenhang mit dem „Armen Konrad“ erkennen. Die Aufstände in Innerösterreich (Kärnten, Steiermark, Krain) von 1515 hatten laut France F. Dolinar ihre wesentliche Wurzel in schamlosen Übergriffen des Adels auf die bäuerlichen Existenzen, blieben dennoch inhaltlich relativ vage und ähnlich wie der „Arme Konrad“ schlecht organisiert. Somit wurden sie letztlich auf brutale Weise niedergeschlagen. Zeitgleich wurde in Ungarn auf päpstlichen Anstoß hin durch den ambitionierten Primas Tamás Bakócz ein Kreuzzug gegen die Türken ausgerufen. Die Initiative wurde aufgrund laufender Verhandlungen mit der Pforte und durch Geldunterschlagung des Königs Wladislaw ausgebremst. Doch die im Volk beliebten Mönche der FranziskanerObservanten trieben die Propaganda weiter. Das Kreuzzugsheer begann nun einen „Aufstand des ‚Gemeinen Mannes‘“, in dem einige Adelige und hohe Geistliche auf grausame Weise zu Tode gebracht wurden. Getragen wurde die Bewegung von Funktionsträgern in den Marktflecken. Nach dem Foltertod des Anführers Székely Dózsas am 20. Juli 1514 und der Enteignung von Adeligen, die sich dem Widerstand angeschlossen hatten, war die Bewegung am Ende. Den Preis zahlte der ungarische Bauernstand insgesamt, der sich fortan des Anspruchs des Adels auf Schollenbindung seiner Untertanen zu erwehren hatte. Ebenso wie im Südwesten des Reiches und im ungarischen Einflussgebiet der Habsburger standen auch die von Werner Buchholz untersuchten Erhebungen im Königreich Schweden zwischen 1434 und 1543 im Zusammenhang mit Kriegsereignissen. Die Könige, die sich meist erfolglos um Machtausdehnung zu Lasten der Grafen von Holstein und vor allem der Hansestädte versuchten, verloren aufgrund hoher Steuerforderungen, Aufrufen zur Heeresfolge und Übergriffen ihrer Vögte den Rückhalt der Bevölkerung sowie großer Teile des Adels und des Klerus. Eine Besonderheit im Vergleich zu Mittel- und Südeuropa war, dass die Bauern rechtlich fränkischen Königsfreien vergleichbar waren und an der Königswahl teilnahmen. Auch dass viele Landbewohner neben Landwirtschaft lukrative Gewerbe betrieben, machte sie zu einem Machtfaktor. Außerdem setzten eine starke Bischofsopposition und der Reichsrat dem König zu, der 1439 abgesetzt wurde. Sten Sture d. Ä., einem führenden Angehörigen der Ratsaristokratie, gelang anschließend die Befriedung des Landes. Bis 1470 erhielten die Bauern eine weitreichende Autonomie – ein bemerkenswerter Sonderweg im Vergleich mit anderen Unruheregionen. Ein systematischer Teil folgt diesen Fallstudien. Andreas Schmauder bündelt die Vergleichsaspekte verschiedener Beiträge zum „Armen Konrad“, rückt dabei aber den Einfluss des Hauses Habsburg auf Württemberg stärker in den Mittelpunkt. Christian Hesse untersucht die Rolle von Funktionseliten im Hinblick auf politische Stabilität und Widerstand. Er arbeitet gravierende Unterschiede zwischen der württembergischen „Ehrbarkeit“ und den Eliten in Bayern, Hessen und Sachsen heraus und mahnt an, mit dem Begriff „Funktionselite“ vorsichtig umzugehen (263).
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André Holenstein erläutert die Beziehung des württembergischen Herzogs Ulrich zur Eidgenossenschaft und verbindet sie mit den „Pensionsunruhen“ in Bern, Luzern und Solothurn. Eine korrupte Ratsaristokratie bereicherte sich in diesen Städten an Bestechungsgeldern (Pensionen) der französischen Krone – eine Praxis, die nach gewaltsamen Protesten, unter anderem der Belagerung Luzerns und Solothurns, endete. Fortan etablierte sich in Form von „Ämteranfragen“ ein System der Konsultation zwischen den Stadtrepubliken und ihrem Umland zu außenpolitischen Fragen. Die politisch heikle Frage der Besteuerung wurde im Gegensatz zu Württemberg ausgespart. Nina Kühnle hinterfragt den von Hansmartin Decker-Hauff geprägten Begriff der Ehrbarkeit. Sie weist den wachsenden Einfluss der Eliten in den Amtsstädten auf die württembergische Landesverwaltung nach, die sich ortsübergreifend vernetzten. Professionalisierung und eine systematisierte Ämterlaufbahn unterstützten diese Entwicklung. Der Aufstand des Armen Konrad und das Ringen um den Tübinger Vertrag rüttelten zwischenzeitlich am Fundament der Autorität dieser Klasse. So zeigten die Städte den Aufständischen zwar ein gewisses Entgegenkommen, verteidigten aber erfolgreich die Interessen der urbanen Eliten und kämpften um Mitsprache in der fürstlichen Zentralverwaltung. Georg Moritz Wendt untersucht die Verhältnisse anhand der These der „Herrschaftsverdichtung“ (325, 331) mithilfe weniger amts- und ratsfähiger Familien, die als „Mittler“ zwischen Fürst und Kommune agierten. Diese stießen allerdings schnell an ihre Grenzen, wenn Konflikte zu schlichten waren. Der fürstennahen Ehrbarkeit mangelte es aufgrund der Verquickung privater und herrschaftlicher Interessen an Legitimation; herrschaftsferne Mittler in den Kommunen waren zu schwach, im Sinne der Bürger Gehör zu finden (337, 340). So habe mangelnde Akzeptanz der Eliten das Scheitern der Annahme des Tübinger Vertrages in Schorndorf verursacht. Hermann Kamp beleuchtet die Zusammenhänge zwischen Aufstandsbereitschaft, der Rolle der Eliten und der Außenpolitik in Burgund nach dem Schlachtentod Karls des Kühnen 1477. Im Grunde vermischten sich die Proteste sowie die Machtansprüche der Städte und des Adels hier mit der Problematik von Stellvertreterkriegen. Denn die Unruhen richteten sich gegen Ludwig XI. von Frankreich, der Teile Burgunds okkupierte, aber auch gegen Karls Tochter Maria von Burgund, Ehefrau Maximilians von Österreich. Der Unmut der Bevölkerung verquickte sich also mit den konkurrierenden strategischen Zielen des europäischen Hochadels. Der burgundische Adel befand sich in einer doppelten Drucksituation: In ständiger Gefahr, Loyalitätskonflikte meistern zu müssen, hatte er sich des Machtanspruchs der Städte und des Unmuts der kriegsmüden Bevölkerung zu erwehren. Auch die Eliten der mächtigsten Städte gerieten in den Strudel der Konflikte. In Flandern wie im Süden Burgunds kam es zu Aufständen, die sich gegen die verhassten Amtsträger der hochadeligen Rivalen richteten. Wie der Herrschaftswechsel zugunsten frankophiler Parteiungen gestaltet wurde, ob gewaltsam oder friedlich, unterschied sich von Stadt zu Stadt stark. Abschließend bündeln Niklas Konzen und Barbara Trosse die Fülle der Aspekte in fünf Punkten. Man wundert sich hier allerdings, dass nicht einmal unter dem Schlagwort „Multikausalität“ (370) die in allen Beiträgen evidente Rolle von Kriegen analysiert wird, die zunächst zu enormen Belastungen der Bevölkerung, infolgedessen zu erheblichem Legitimationsverlust der Herrschaftsträger führten. Merkwürdig mutet auch an, dass ein Beitrag von Ronald G. Asch über Großbritannien thematisiert wird (3, 368), der im
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Sammelband fehlt. Trotz dieser kritischen Bemerkungen bleibt festzuhalten: Die vergleichende europaweite Perspektive, die Fülle der behandelten Aspekte und die hohe wissenschaftliche Qualität der Beiträge machen diesen Band nicht nur für die spätmittelalterliche Revoltenforschung wertvoll, sondern für die Geschichte von Freiheit und Partizipation in Mitteleuropa überhaupt. Martin Zürn
Meersburg
PETER BLICKLE: Der Bauernjörg. Feldherr im Bauernkrieg. Georg Truchsess von Waldburg 1488–1531, München: C.H. Beck 2015, 586 S., 21 Abb. und 3 Karten, (ISBN: 9783-406-67501-0), 34,95 EUR. Mit dem brüchigen Titel der Monografie mag man sich schon zu Beginn nicht recht anfreunden. Und auch nach der Lektüre vermag er nicht wirklich zu befriedigen, da er das reichlich Gebotene auf eine Person verkürzt. Denn der 2017 verstorbene Peter Blickle, einer der bedeutendsten Frühneuzeit-Historiker Deutschlands, hat eine Monografie hinterlassen, die viel mehr enthält als die Blutspur des umstrittenen, bei vielen berüchtigten Bauernschlächters durch Süd- und Mitteldeutschland im deutschen Schicksalsjahr 1525. Der Verfasser besinnt sich auf klassische Quellenkritik und narrative Darstellung, verzichtet also weitgehend auf explizite Theoriebildung. Lediglich die seit geraumer Zeit gängigen Ansätze sozialer Verflechtung (15) werden zitiert; alles Weitere wird je nach Bedarf im Verlauf der Darstellung hinzugefügt. Das für dieses Buch charakteristische Verfahren ähnelt dem der Habilitationsschrift von Andreas Suter (Der Schweizerische Bauernkrieg von 1653. Politische Sozialgeschichte – Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses, Tübingen 1997), in der die Chronologie der Ereignisse durch sogenannte Zeitlupen unterbrochen wird, welche Handlungsspielräume ausleuchten und damit einen Beitrag zur Strukturgeschichte leisten. Merkwürdigerweise wird dieses Werk nirgendwo zitiert. Die Gliederung der Biografie ist einerseits durch die Chronologie der Lebensdaten vorgegeben. Georg III. von Waldburg wurde am 25. Januar 1488 in Bad Waldsee geboren. Er entstammte einer Ministerialenfamilie, die durch Heirat, Fürstendienst und Ausnutzen historischer Chancen, etwa der politischen Folgen des Konstanzer Konzils, zu einem bedeutenden Machtfaktor im südwestdeutschen Adels geworden war. Seine standesrechtlich problematische Herkunft erklärt wohl auch, warum er bereits als relativ junger, vielfach talentierter Mann 1510 bis 1514 für den gewalttätigen Herzog Ulrich von Württemberg und ab 1519 für Herzog Wilhelm IV. von Bayern als „Diener von Haus aus“ (45) aktiv war. In beiden Fällen vertrat er taktisch geschickt, aber unnachgiebig die Interessen seiner Herren gegen die gärende Ständeopposition. 1519 vertrieb er – nun als Söldnerführer im Auftrag des Schwäbischen Bundes – seinen ehemaligen Herrn Ulrich als Landfriedensbrecher aus seinem Herzogtum. Durch seine Heirat mit der Grafentochter Maria von Oettingen wurde er nach dem Überfall Thomas von Absbergs auf Georgs Schwiegervater, Joachim von Oettingen, 1520 in die fränkischen Ritterfehden hineingezogen. Als oberster Feldhauptmann des Schwäbischen Bundes und Erzherzog Ferdinands ließ er bis 1523 zahlreiche Adelssitze niederbrennen. Damit warf er die fränkische Ritterschaft – wie die schwäbische eigentlich Teil der kaiserlichen Klientel – gegenüber den mächtigen Reichsstädten und Territorialfürsten
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politisch zurück. Durch rigorose Verfolgung der Aufständischen beendete er zwischen März und Juli 1525 zwischen Bodensee und Main den Bauernkrieg. Bis zu seinem Tod agierte er anschließend in kaiserlichem Auftrag als Verwalter des Herzogtums Württemberg, wo er eine „Aristokratisierung“ der Stuttgarter Zentrale (339) in die Wege leitete. Zudem behandelte er auf diversen Reichstagen mit pragmatischer Behutsamkeit die brisante Konfessionsfrage. Die teilweise beinahe tageschronologische Vita des „Bauernschlächters“ erfordert indessen an vielen Stellen Vertiefungen. Blickle unterbricht somit mehrfach seine Narratio im Sinne der erwähnten Zeitlupentaktik. Anfangs widmet er sich der Agrarverfassung der Herrschaft Waldburg mit präzisen Analysen zur Entwicklung der Leibeigenschaft, zur Landflucht der Bauern und zum Justizsystem. Das Ende der Biografie kehrt zum Ausgangspunkt zurück – die bauernschlaue Raffinesse, mit der Georg III. von Waldburg den Forderungen seiner Bauern nach Möglichkeiten zum Austritt aus der Leibeigenschaft entgegenkam, um letztlich doch einen weitgehend homogenen Leibeigenenverband zu schaffen, ist für jeden Agrarhistoriker lesenswert, zumal es trotz beträchtlicher Forschungsfortschritte immer noch an Überblicksdarstellungen wie auch an Mikrostudien fehlt (21–44, 375–390). Weitere hochinteressante „Zeitlupen“ befassen sich mit dem Kriegswesen zu Beginn der Neuzeit. Wir erfahren viel über die finanziellen Risiken der Anwerbung von Landsknechten, die Gefahren von Befehlsverweigerung, Meuterei und Desertion (130–136), über Bewaffnung und Kriegstaktik, allgemein über die innere Organisation des Bundesheeres (147–157, 191 f.). Kurz gesagt, bestand das Dilemma des Heerführers darin, Artillerie, Reiterei und Fußtruppen nicht nur nach taktischen Erfordernissen auszuwählen, sondern vor allem auch nach Kosteneffizienz. Denn der schlachtentscheidende Heeresteil beanspruchte den doppelten Monatssold – und das kam bei der zahlenmäßig deutlich übergewichtigen Fußtruppe teuer. Also setzte Georg vor allem auf die zuverlässige, vom Adel dominierte Reiterei, riskierte aber mehr als einmal das Auseinanderlaufen der Fußknechte, die als zahlenmäßige Kerntruppe unverzichtbar waren, da sie in großem Umfang gegnerische Truppenteile band. Die innere Organisation, quasi die kommunale Selbstverwaltung der Söldner im Felde einschließlich der Militärgerichtsbarkeit, wird bei einer Analyse der Weinsberger Bluttat als „Spießgericht“ aufgerollt (212–218). Ferner werden die Handlungsmöglichkeiten des Heerführers auch auf die zivilen Räte des Schwäbischen Bundes bzw. der (Erz-)Herzogtümer Württemberg und Tirol rückbezogen. Es überrascht nicht, dass Georg III. mehr als einmal mit den gebildeten Juristen und Verwaltern aneinandergeriet, die der Praktiker des Krieges als „Sesselhocker“ verachtete. Diese saßen ihm auch deshalb im Nacken, weil es nicht in ihrem Interesse sein konnte, dass Georg aufgrund seiner finanziellen Verpflichtungen als Feldherr seinen Truppen Beutemachen und Brandschatzung (138–142) erlaubte. Gleichzeitig war er extrem auf die Räte angewiesen, denn sie entschieden letztlich über seinen politischen Rückhalt und die Bereitstellung der Gelder für Bestallung und Besoldung. Im Zusammenhang mit anderen Kriegen war es für Georg III. – wie auch für die Aufständischen – phasenweise sehr schwierig, überhaupt Söldner zu rekrutieren. So verzahnt sich die Biografie des Truchsessen auch mit den landesherrlichen Kriegen in Mitteleuropa, zum Beispiel im Dunstkreis der Schlacht von Padua oder beim Verhältnis des Herzogs Ulrich von Württemberg zur Eidgenossenschaft, von der dieser sich Kriegsknechte und finanzielle Unterstützung erhoffte.
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Immer im Brennpunkt solcher Konflikte, legte Georg III. auf die Pflege seiner adeligen Identität und die Legitimation seiner Aktivitäten größten Wert. Beim Vorgehen gegen die Bauern weist Blickle dem Truchsessen nach, dass er bereits als „Aufruhr“ und „Landfriedensbruch“ definierte, was seitens der „aufständischen“ Bauern noch nicht mehr war als die Forderung nach fairer Behandlung ihrer Beschwerden. Ein friedlicher, vertraglicher Austrag des Hegauer Agrarkonflikts scheiterte im Frühjahr an den für die Bauern am Hochrhein demütigenden Bedingungen, nicht an deren mangelndem Friedenswillen (82–90). Einen „rechtlich klar definierten Tatbestand“ für militärisches Vorgehen gegen die Unzufriedenen gab es laut Blickle nicht (108). Ironischerweise bediente sich Georg III. gelegentlich sogar Argumentationsmustern, die eigentlich Martin Luther zuzuschreiben sind (136 f.), um die Propaganda der Bauernsympathisanten ins Leere laufen zu lassen und seine Landsknechte zu motivieren. Einen weiteren Indikator für das Legitimitätsproblem bezüglich der Politik des „Bauernjörg“ – und den intelligenten Umgang damit – stellt die chronikalische Überlieferung dar, die der Protagonist als vermeintliche „Ego-Dokumente“ in Auftrag gab und die vor allem im Adel relativ breit rezipiert wurden. Auch hier erweist sich Blickles Meisterschaft in der Analyse und Kontextualisierung der Überlieferung (416–434), mit der sich Georg III. ins „rechte Licht“ zu rücken versuchte. Der Nachruhm des Truchsessen ist sehr umstritten. Er lässt sich grob in drei Strömungen unterteilen: erstens in eine adelsnahe, die ihn als Retter des Reiches feiert (448–450); zweitens eine konfessionelle (436–438); und drittens in eine linke bis liberale (439 ff., 445 ff.), die ihn teils fast ignoriert, teils als brutalen Reaktionär verteufelt (447 f.). Abschließend ist hervorzuheben, dass die – im Gegensatz zum Titel – teils brillant formulierten „zeitlupenartigen“ Analysen auch zu neu akzentuierten Thesen führen. Dies geschieht auf der rhetorischen Ebene, wenn Georg III. von Waldburg aufgrund des rechtlichen Legitimationsdefizits mit dem ironischen Paradoxon des „Landfriedenskrieger[s]“ (451) gewürdigt wird, dem Macht vor Recht ging (108). Bedeutsamer noch ist, dass Peter Blickle selbst in einer seiner wichtigsten Monografien den Bauernkrieg als „Revolution“ bezeichnet hat (vgl. 198). Doch nun – aufgrund der Einbeziehung weiterer struktureller Faktoren wie Außenpolitik, Stadt-Umland-Beziehungen, Beitrag städtischer Eliten zur Dämpfung der Konflikte – „reift […] die Frage, ob die Bezeichnung Bauernkrieg nicht einen Sachverhalt verschleiert und entstellt, der mit Bürgerkrieg besser wiedergegeben wäre“ (209, auch 242, 321), zumindest mit Blick auf Württemberg. Diese Frage mit dem Verfasser zu diskutieren, ist uns leider nicht mehr vergönnt. Die Biografie erläutert jedenfalls über die geschichtliche Persönlichkeit hinaus das Ineinandergreifen von außenpolitischen Krisen, ständischen Partizipationskrisen und der häufig drückenden Realität der spätmittelalterlichen Agrarverfassung, ferner die erschreckende Logik der Brutalität, mit der Aufstandsbewegungen niedergeworfen wurden. Insofern ergeben sich vorzügliche Vergleichsperspektiven mit anderen deutschen und europäischen Agrarunruhen. Martin Zürn
Meersburg
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SVEN SCHMIDT (†) (Hg.): Das Gewerbebuch der Augsburger Christoph-Welser-Gesellschaft (1554–1560). Edition und Kommentar (= Documenta Augustana 22), Augsburg: Wißner 2015, 496 S., 3 Abb., (ISBN 978-3-957-86-019-4), 34,80 EUR. In seiner als Dissertation angelegten, aber nicht mehr eingereichten und posthum erschienenen Studie bearbeitet der Verfasser das am 7. Oktober 1554 eröffnete und am 31. März 1560 beschlossene Gewerbebuch A der Christoph-Welser-Gesellschaft. Bei dem Gewerbebuch handelt es sich um eine Handschrift aus der Augsburger Geschäftszentrale der Gesellschaft. Im Rahmen der Welserschen Form der doppelten Buchführung nimmt dieses „Gewerbebuch“ die Position des Schuldbuchs ein. Als Vorbereitungsbuch für die regelmäßig erstellten Generalrechnungen der Gesellschaft basierte es auf den (nicht mehr erhaltenen) üblicherweise chronologisch geführten Journalen, wie die Verweise der einzelnen Posten im Gewerbebuch zeigen. In einer peniblen, ja bewundernswerten Edition, Dokumentation und Analyse gelingt es Sven Schmidt, anhand dieses nur als Fragment (17,5%) und zudem im Rahmen einer Zweitverwendung völlig zerlegten Gewerbebuchs A detaillierte Einblicke in die Geschäftstätigkeit einer Gesellschaft zu geben. So werden Erkenntnisse zur Organisationsstruktur der „europaweiten Vertreterorganisation der Firma“ gewonnen (72) sowie zum operativen Geschäft bis zum Konkurs im Jahr 1614. Erfolg und Misserfolg der Gesellschaft zeigen sich hierbei in verstärkten Aktivitäten auf dem niederländischen Anleihenmarkt, in der Verlagerung ihres nordwesteuropäischen Warenhandels „von Antwerpen auf Hamburg“ (51), dem Ausbau des Warenkreditgeschäfts und der Weiterführung des traditionellen Textil- und Gewürzhandels. Durch mühevolle Rekonstruktionsarbeit des Gewerbebuches auf der Grundlage von Vorarbeiten Peter Geffckens, die dem Verfasser zur Verfügung gestellt wurden und die er umfangreich weiterbearbeitet hat, gelingt es ihm, 488 Konten mit insgesamt 457 Kapitaltransaktionen nachzuweisen. Außerdem kann Schmidt eine aus dem Gewerbebuch erkennbare „Vernetzung der Akteure“ (21), „geographische und ökonomische Realität[en]“, Märkte, Banken und Börsen veranschaulichen und schließlich Einblicke in die zeitgenössischen Währungssysteme, Maße, Gewichte und Warenbezeichnungen vermitteln. Der umfangreiche Handel der Christoph-Welser-Gesellschaft kann nunmehr konkretisiert werden, da der Verfasser belegt, wie seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, also mit der Übernahme bzw. Neugründung der vormaligen Bartholomäus-Welser-Gesellschaft durch Christoph Welser 1551, zunehmend Speditions- und Kommissionsgeschäfte sowie – ein besonders bemerkenswerter Umstand, der nach vorsichtiger Einschätzung auch eine Reihe weiterer oberdeutscher Unternehmen betrifft – kurzzeitige Vergesellschaftungen zum Zweck temporärer Geschäfte („Partizipationsgeschäft“) (27) üblich wurden. Nach der überzeugenden Auffassung des Verfassers bildet das Gewerbebuch demnach eine Basis, die die kaufmännische Realität abbildet, anders als die eher modellhaften Darstellungen buchhalterischer Kaufmannspraxis in den Lehrbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts. Der Verfasser erstellte des Weiteren eine sorgfältige Dokumentation über die aufwendige Rekonstruktion des Fragments unter Einschluss der angewandten Editionskriterien. Durch die rekonstruierende Edition konnte er ein immerhin 332 Blatt umfassendes Geschäftsbuch vorlegen und mittels zweier umfangreicher textkritischer Anmerkungsapparate mit Text- und Sachinformationen erläutern. Besonders ist hierbei hervorzuheben, dass es Schmidt vorbildlich gelungen ist, den Originaltext trotz zahlreicher (typischer)
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buchhalterischer und kaufmännischer Abkürzungen durch Auflösungen und Erläuterungen lesbar und benutzbar zu machen. Er übersetzt dazu etwa die naturgemäß stark verkürzte Buchhaltungssprache, indem er aus dem Gewerbebuch exemplarisch Buchungsposten herausgreift, diese in einen ausführlichen, beschreibenden Text ‚übersetzt‘ und damit die knappen Posten des Gewerbebuchs allgemein verständlich macht. Dies gelingt ihm darüber hinaus durch einen aufschlussreichen Anhang mit zahlreichen Tabellen, Glossaren, Sach-, Personen- und Ortsregistern. Dieser Anhang ergänzt die im Dokumentationsteil bereits aufgeführten, umfangreichen Tabellen und Grafiken, die nicht nur die Welser-Unternehmung abbilden, sondern eben auch die knappen Posten im Gewerbebuch analytisch aufschlüsseln. Wenn überhaupt an dieser beeindruckenden Dissertation eine kleine kritische Anmerkung gemacht werden kann, dann diese, dass die außerordentlich komplexen Tabellen im Fließtext manchmal etwas knapp erläutert wurden. Das schmälert aber keineswegs den großen Wert dieser vorbildlichen Studie. Durch seine Auswertung des Gewerbebuchs kann der Verfasser somit nicht nur eine Wissenslücke zum Welserhandel in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts schließen, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Kaufmannspraxis im Allgemeinen und zum frühneuzeitlichen Buchhaltungswesen im Besonderen leisten. Mechthild Isenmann
Leipzig
MICHAELA SCHMÖLZ-HÄBERLEIN (Hg.): Jüdisches Leben in der Region. Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft im Süden des Alten Reiches (= Stadt und Region in der Vormoderne 7; Judentum – Christentum – Islam. Interreligiöse Studien XVI), Würzburg: Ergon 2018, 377 S., mehrere, z. T. farb. Abb., (ISBN 978-3-95650-298-9), 58,00 EUR. Der vorliegende Band umfasst neben einer Einführung der Herausgeberin Michaela Schmölz-Häberlein zwölf Aufsätze von Historikern und Historikerinnen sowie Judaistinnen und Judaisten. Die Aufsätze sind in vier Themengruppen aufgeteilt: Juden und Herrschaft; Wirtschaftliche Aktivitäten; Leben im kleinstädtischen Raum; sowie einen lokalen Schwerpunkt „Zur Vielschichtigkeit jüdischer Landgemeinden: Das Beispiel Zeckendorf“. Der Band bietet außer dem Orts- und Personenregister auch mehrere Abbildungen, wobei die Titelabbildung thematisch zu den beiden Bildern im einführenden Beitrag von Michaela Schmölz-Häberlein gehört. Mit der Einführung der Herausgeberin erhält der Leser bereits einen Überblick über die Thematik und die folgenden Beiträge. Im ersten Aufsatz der Sektion „Juden und Herrschaft“ stellt Martin Bürgin jüdische Siedlungen und Niederlassungen in der frühneuzeitlichen Schweiz vor. Hier wird die bis heute gängige Annahme, es habe während der Frühen Neuzeit nur zwei Orte in der Schweiz mit jüdischer Bevölkerung gegeben, revidiert. Anschließend betrachtet Oliver Sowa die reichsritterlichen Judenordnungen in Mittelfranken im 18. Jahrhundert und zeigt die umfassenden legislativen Regelungen der Ansiedlung und Wirtschafstätigkeit von Juden sowie die damit verbundenen Aushandlungsprozesse auf. Andreas Schenker befasst sich mit dem herrschaftlich komplexen Dorf Bischberg bei Bamberg und den Handlungsspielräumen der jeweiligen Akteure im 18. Jahrhundert.
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Die Sektion „Wirtschaft“ beginnt mit einem Aufsatz von Claudia Esch über die Strukturen, Verflechtungen und Praktiken jüdischer Kreditvergabe an Christen in Bamberg um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Wolfgang Treue untersucht anschließend die Rolle Frankfurter Juden als Kollekteure fürstlicher und staatlicher Lotterien, die den Juden in der Region neue Verdienstoptionen in einer Marktnische eröffneten. Christlichjüdische Kontakte und Konflikte auf den Würzburger Handelsmessen um 1800 untersucht Mark Häberlein anhand eines Prozesses gegen Veitshöchheimer Juden, die des Wuchers bezichtigt wurden. Hier wird auch der Wirkungskreis der jüdischen Landgemeinden deutlich, da der Prozessgegner aus Augsburg stammt. Die dritte Sektion widmet sich dem „Leben im kleinstädtischen Raum“. Monika Müller betrachtet anhand der Beispiele Gundelfingen, Lauingen und Monheim kommunale Aspekte jüdischer Schutzverwandtschaft im Fürstentum Pfalz-Neuburg und die dadurch bedingten Wechselbeziehungen zwischen Juden, Landesherrschaft und Kommune. Es wird deutlich, dass auch Kleinstädte durchaus mitsprechen konnten, was diese Wechselbeziehungen anging. In der folgenden Fallstudie von Christian Porzelt wird mit Kronach eine Kleinstadt untersucht, die vor allem während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine große wirtschaftliche Reichweite hatte. Zum Abschluss der Sektion widmet sich Franziska Schilkowsky der Konversion eines jüdischen Jungen zum Christentum im Burgkunstadt des späten 18. Jahrhunderts. Die letzte Sektion betrachtet die „Vielschichtigkeit jüdischer Landgemeinden“ am Beispiel des oberfränkischen Zeckendorf. Die Herausgeberin selbst eröffnet das Kapitel mit einem Überblick über die Entwicklung jüdischer Gemeinden in Franken ab dem 16. Jahrhundert mit besonderem Blick auf Zeckendorf und das benachbarte Demmelsdorf. Daran schließen sich zwei Fallstudien über jüdische Gelehrte an, die unter anderem in Zeckendorf lebten und arbeiteten. Zunächst untersucht Susanne Talabardon Leben und Werk des aus Wien stammenden Simon Akiba Baer, welcher dort Ende des 17. Jahrhunderts als Unterrabbiner wirkte. Carsten Schliwski stellt im finalen Aufsatz eine Fallstudie zum ersten in Zeckendorf amtierenden Rabbiner, Samuel ben David Moses Halevi (Samuel Meseritz), und seinem Hauptwerk Sefer Nahalat Shiv'ah vor, in welcher er die Schrift des Rabbiners auch unter sozialhistorischen Gesichtspunkten betrachtet. Der Sammelband bietet eine sehr interessante Auswahl aktueller Forschungen zur Geschichte der Juden während der Vormoderne, vorwiegend in Franken, mit Exkursen in angrenzende Gebiete (Bayerisch-Schwaben, Hessen und die Schweiz). Franken wird von den zumeist noch recht jungen Autoren und Autorinnen als „Schwellenregion“ zwischen Frankfurt und Prag betrachtet, die Zugang zu überregionalen Absatzmärkten hatte und von diversen Migrations- und Bildungswegen durchzogen war, die die Region mit jüdischen Gemeinden in ganz Europa verbanden. Die Einbeziehung mehrerer benachbarter Regionen in die Betrachtung ermöglicht es, die Kernregion auch überregional zu vergleichen. Hierbei kristallisieren sich verschiedene Siedlungs-, Wirtschafts- und Heiratsregionen heraus, die nicht zwangsweise deckungsgleich waren und sich durchaus transregional überschnitten. Die Forschung hat sich bislang relativ wenig für die Periode der Frühen Neuzeit in Franken in Bezug auf das jüdisch-christliche Mit- bzw. Nebeneinander interessiert. Die Pogrome und Konflikte des Mittelalters und der Kampf um Emanzipation in der Moderne haben die Vormoderne oft „überschattet“. Nunmehr widmet sich ein ganzer Band dieser Epoche. In ihm werden innerhalb des Zeitabschnitts der Frühen Neuzeit verschiedene
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Fragen der regional- und landesgeschichtlichen Forschung an die Region gestellt. Hierbei wird das Augenmerk der Leserin insbesondere in der letzten Sektion auch auf noch wenig bekannte Quellenbestände gelenkt, die eine interessante Perspektive auf die jüdischen Gemeinden in der Region bieten. Insbesondere die Nutzung religiöser Schriften als sozialhistorische Quelle erscheint weiterführend. Maja Andert
Würzburg
BIRGIT NÄTHER: Die Normativität des Praktischen: Strukturen und Prozesse vormoderner Verwaltungsarbeit. Das Beispiel der landesherrlichen Visitation in Bayern (= Verhandeln, Verfahren, Entscheiden. Historische Perspektiven 4), Münster: Aschendorff 2017, 215 S., 13 Abb., (ISBN 978-3-402-14657-6), 41,00 EUR. Verwaltungsgeschichte wird auch heute noch vornehmlich als Institutionen- oder Organisationsgeschichte, Geschichte herausragender entsprechender Akteure (‚Große Männer der Verwaltung‘) sowie (Erfolgs-)Geschichte rational-funktionaler Herrschaftsdurchsetzung von oben nach unten geschrieben. Diesen theoretisch-methodisch meist unreflektierten Ansatz möchte die von Stefan Brakensiek (Duisburg-Essen) und Barbara StollbergRilinger (Münster) begutachtete Dissertation durch eine neue, kulturhistorischpraxeologische Konzeption zumindest ergänzen (vgl. 25). Als zentral für jegliche Verwaltungsgeschichte sei die Praxis der Verwalter anzusehen, die jedoch nicht einfach herrschaftlichen Vorgaben und institutionell-organisatorischen Zwängen folgt, sondern diese wesentlich mitbestimmt, was auch die bekannte Gleichung Max Webers ‚Herrschaft ist im Alltag Verwaltung‘ in neues Licht rückt. In der Umsetzung auf die gewählte Fallstudie ergaben sich für die Autorin daraus einerseits die „Leitfrage“ danach, „was Verwaltungen eigentlich genau tun, wenn sie verwalten, und auf welcher Basis sie ihre Praxis gestalten“ (ebd.), andererseits die Erfordernis umfangreicher archivalischer Studien, konkret zum Verwaltungsverfahren der landesherrlichen Visitation zwischen 1579 und 1774 im oberbayerischen Rentamt Burghausen und den niederbayerischen Mittelbehörden in Landshut und Straubing. Auf die angesichts der Komplexität der Quellenlage souveräne Auffächerung des eigenen Untersuchungsprogramms und dessen Realisierung im Detail ist vorliegend nicht einzugehen. Die sorgfältig eingeordneten und gewichteten Befunde sind in jedem Fall eindrucksvoll und innovativ. Was die Praxisgestaltung maßgeblich bestimmte, waren „implizite“ Aufgabendelegation, „Arbeitspragmatismus“, durch Wiedereinsatz vorausgegangener Beschreibungen und Festlegungen im Dialog der Beteiligten bewirkte „Normativierung der Praxis“, daraus erwachsende „Routinen“, aber gleichzeitig dynamische Verselbständigungen der Praxis gegenüber dem normativ fixierten landesherrlichen Kontrollund Gestaltungsanspruch, schließlich komplexe, aber keineswegs widerspruchsfreie und konsequent ‚rationale‘ Kompetenzdifferenzierungen, Hierarchisierungen und Legitimierungen (zusammenfassend 181–187). „Vormoderne Verwaltungen sollten also nicht“ – so ein wesentliches Schlussfazit – „als Prototypen der späteren ‚rationaler‘ funktionierenden Administrationen der Moderne gedeutet werden. Die Entwicklung von funktional differenzierten Behörden, die sicher zurecht als Grundlage der modernen Staatsbildung und
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der herrschaftlichen Durchdringung gesehen werden, verlief nicht so zielgerichtet und reflexiv, wie Modernisierungstheoretiker mitunter vermuten“ (190). Zu den Fragen, die diese plausibel untermauerten Ergebnisse gleichwohl aufwerfen, zählt diejenige nach der Repräsentativität des spezifischen Verwaltungsverfahrens Visitation: Würde der Einbezug anderer Akte (insbesondere, aber nicht nur staatsfinanzieller Art) das Gesamtbild ändern? Grundsätzlicher könnte man einerseits die genauere soziokulturelle Profilierung der im vorliegenden Fall kaum erkennbaren Akteure für unabdingbar erachten, andererseits genauer nach der Unterscheidung von Verwaltungshandeln (s. oben) und Nichtverwaltungshandeln dieser Akteure fragen. Insgesamt kommt mir die Relativierung der Normorientierung des Verwaltungshandelns doch etwas zu holzschnittartig und weitreichend vor. Der Kampf gegen Geschenkeannahme, Verwandtenbegünstigung usw. war nach Ausweis einiger zeitgenössische Traktate zumindest außerhalb Bayerns doch ziemlich heftig und durchaus praxisbezogen. Die Perspektivverschiebung, die die aktuelle Historische Praxeologie mit sich bringt, kann auch zu neuen Vereinseitigungen führen. Dass die moderne Verwaltung sich durch konsequente Rationalität und Funktionalität auszeichne, wird im Übrigen bereits seit einiger Zeit in Frage gestellt. Irritierend bis ärgerlich erscheint schließlich, dass der Buchtitel auf dem Umschlag mit demjenigen innen nicht übereinstimmt und er auf eine für eine historische Studie eigentlich selbstverständliche genauere Angabe des untersuchten Zeitraums verzichtet. Wolfgang E.J. Weber
Augsburg
CHRISTIAN HEINKER: Die Bürde des Amtes – die Würde des Titels. Der kursächsische Geheime Rat im 17. Jahrhundert (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 48), Leipzig: Universitätsverlag 2015, 425 S., (ISBN 978-3-86583-855-1), 72,00 EUR. Der Geheime Rat wurde in Kursachsen im Jahr 1574 ins Leben gerufen. Zunächst paritätisch mit zwei adeligen und zwei bürgerlichen Räten besetzt, institutionalisierte er sich als wichtigstes Regierungsgremium im Jahr 1601. Seine Angehörigen, deren Zahl über die Jahre hinweg wuchs, prägten die sächsische Politik auf unterschiedlichen Feldern, bis der Rat zu Beginn des 18. Jahrhunderts (1704/06) hinter das neu geschaffene Geheime Kabinett zurückgestuft und zu einem „Geheimen Konsilium“ umgeformt wurde. Laut dem Verfasser, der mit der vorliegenden Studie im Jahr 2013 an der Universität Leipzig promoviert wurde, steht der Geheime Rat „zwischen der Kanzleiherrschaft des 16. Jahrhunderts“ und der „Kabinettsherrschaft“ des 18. (139). Die Untersuchung ist angesiedelt zwischen Institutionsgeschichte und Prosopographie bzw. Kollektivbiographie der Ratsangehörigen, deren Leben und Wirken ein umfangreicher Anhang in biographischen Übersichten präsentiert. Ausgangspunkt ist Max Webers These von der Rationalisierung der Verwaltung, die im Verlauf der Studie zwar nicht über Bord geworfen, aber zeitlich und inhaltlich differenziert wird. Demnach könne in der Übergangszeit des 17. Jahrhunderts allenfalls von schwerfälligen, ansatzweisen Versuchen eines moderneren Behördenaufbaus die Rede sein, der sich erst nach dem Siebenjährigen Krieg durchgesetzt habe (291). Die Gruppe der Geheimen Räte oszillierte damit im Bereich zwischen „Fürstendiener“ und „Funktionselite“ (290, 295 u. passim).
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Zentrale Basis der auf breiter Materialgrundlage beruhenden Arbeit sind Bestallungen, Hofordnungen und Verwaltungsakten, daneben u. a. Leichenpredigten (die primär als Reservoir für biographische Informationen dienen). In der umfangreichen, streckenweise ziemlich allgemein gehaltenen Einleitung sind klassische Elemente wie Fragestellung, Thesenbildung, Quellenkritik oder Anbindung an aktuelle Themen der kulturgeschichtlich inspirierten Verwaltungsgeschichtsforschung der Frühen Neuzeit teils nur in Ansätzen erkennbar. Im ersten Hauptteil wird der Geheime Rat als Institution behandelt. Darauf folgt ein Kapitel zum Verhältnis zwischen den sächsischen Kurfürsten und ihrem Ratsgremium. Schließlich werden die Geheimen Räte in ihrem sozialen Umfeld verortet; dieser Abschnitt ist wohl am Konzisesten gelungen. Dem ersten Teil lässt sich entnehmen, dass die Frühzeit des Ratsgremiums von mühsamen Institutionalisierungsversuchen, von Spannungen zwischen Geheimen Räten und Kammerräten, aber auch zwischen Adeligen und Bürgerlichen geprägt war. Mit der Etablierung des Rats als kursächsischer Oberbehörde ab 1601 und der Ansässigkeit seiner Mitglieder in Dresden korrelierte der Abschluss sächsischer Residenzenbildung. Eine juristische Universitätsausbildung setzte sich bei den Räten zunehmend durch, doch der Einfluss bürgerlicher Räte, gegenüber denen der Adel rasch wieder aufholte, blieb eine Episode der Frühzeit. Häufig führte der Weg vom Hofamt in den Geheimen Rat; Geheime Räte avancierten zu den Spitzenverdienern der Verwaltung. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts kam es zudem immer öfter vor, dass inländische Ämter oder diplomatische Tätigkeiten für einen Ratstitel qualifizierten, wenn ihnen nicht sogar die Verleihung des Titels ehrenhalber voranging. Geheime Räte vertraten den Kurfürsten bei kaiserlichen Belehnungen, sie handelten Verträge aus und nahmen an Erbhuldigungen teil. Kursachsen entsandte seine Räte an den Regensburger Reichstag (bzw. machte seine Reichstagsgesandten zu Geheimen Räten); ansonsten setzte man sie gern für Ad-hoc-Missionen an andere Höfe ein. Während der adelige Jurist Caspar von Schönberg im frühen 17. Jahrhundert zeitweilig eine herausgehobene Stellung erringen konnte, sorgten ständische Einflüsse ansonsten dafür, eine Machtakkumulation von Einzelpersonen zu verhindern. Im zweiten Abschnitt steht das Verhältnis des Geheimen Rats zu den Kurfürsten, die chronologisch nacheinander abgehandelt werden, im Zentrum. Hier ist die Rede von aktiven und passiven, starken und schwachen Herrschern, von deren Fähigkeiten nach Ansicht des Autors die Wirkmächtigkeit der Räte abhing. Gänzlich ohne Ironie wird hier beispielsweise Christian II. zu einer „auch physiognomisch so unherrscherlichen“, trunksüchtigen „Schachfigur, die von anderen bewegt wurde“ (142), und zwar von Räten wie Gerstenberger und Schönberg. Kaum weniger passiv gerät Johann Georg I.; ihm zur Seite gestellt wird der Oberhofprediger Matthias Hoe von Hoenegg (158–160), der allerdings kein Mitglied des Geheimen Rates war. Johann Georgs gleichnamiger Nachfolger sorgte für ein Zerwürfnis mit seinem Ratsgremium, das er enger mit dem Hof verband und zugleich weitgehend auf eine Aufsichtsfunktion reduzierte. Dies änderte sich unter Johann Georg III., der den Rat systematisch umbesetzte und dafür (erneut) verstärkt auf Personal sächsischer Herkunft zurückgriff (vgl. 185–187). Üblich wurde nun die Verknüpfung von Ratsmitgliedschaft und anderen Staatsämtern – vom Gesandten bis zum Oberhofmarschall. Unter Friedrich August I. sollten wiederum Nichtsachsen mehr Gewicht im Rat erhalten. Immer stärker wandelte sich nun die Regierungsform hin zum ressortorientierten Kabinettsprinzip. Ein eigenes Kapitel thematisiert die Rolle der Geheimen Räte Callen-
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berg und Gersdorf als Landvögte der Oberlausitz vor dem Hintergrund der territorialen Integration der Lausitzen. Mehr hätte man gern über die Rolle des Neuzeller Abts Bernardus von Schrattenbach erfahren, der als katholischer Niederlausitzer den Titel eines kursächsischen Geheimen Rats trug (210). Insgesamt handeln die Ausführungen dieses mittleren Abschnitts mehr über die Kurfürsten und ihr (nach Meinung des Verfassers häufig defizitäres) Agieren in der sächsischen inneren und äußeren Politik als über die Aktionsradien der Geheimen Räte, deren Einfluss auf Verträge und Staatsaktionen wie den Abschluss des Prager Friedens (161 f.) aber gelegentlich deutlich wird. Ein illustrativer „Exkurs“ stellt die Neuordnung des Gremiums im Jahr 1637 dar. Der letzte große Teil behandelt das soziale Umfeld der Räte; hier lässt sich für das 17. Jahrhundert ein niederadeliges Übergewicht feststellen (215–217). Standeserhöhungen von Geheimratsmitgliedern fallen vor allem in die Zeit Johann Georgs II., die von einer Aufwertung höfischer Kultur geprägt war und – wie der Verfasser mehrfach betont – in dieser Hinsicht bereits in die Epoche Friedrich Augusts I. vorausweist. Vereinzelt diente das Amt zum persönlichen Aufstieg; in einigen Fällen wurde es innerhalb adeliger Familien weitergegeben – zwar basierend auf Verwandtschafts- oder Heiratsverbindungen, doch verbunden mit der nötigen Qualifikation. Grundsätzlich lasse sich daraus nicht prinzipiell darauf schließen, dass familiäre Beziehungen die immer bedeutsamer werdenden Qualifikationen obsolet gemacht hätten (vgl. 242). Hinsichtlich der Ausbildung hatte sich seit dem 16. Jahrhundert ein juristisches Studium durchgesetzt, das in der Regel – aber nicht ausschließlich – an sächsischen Universitäten absolviert wurde (263). Der Adel holte hier rasch gegenüber bürgerlichen Räten auf und verknüpfte universitäre Bildung zunehmend mit Standesprivilegien. Einflüsse renommierter Reichsjuristen lassen sich – in Form von Studienaufenthalten und gelehrten Kontakten – bei verschiedenen adeligen Räten feststellen. Im reichsweiten Vergleich war die Dominanz des Adels im Rat in etwa vergleichbar mit Brandenburg-Preußen; sie lag um mehr als das Doppelte höher als in Württemberg, jedoch unter den Zahlen für den kaiserlichen Geheimen Rat (289). Die Bewertung der Untersuchung fällt ambivalent aus: Interessante Sachinformationen werden insbesondere in den ersten beiden Hauptabschnitten oft nicht sehr stringent präsentiert; sie sind häufig gerahmt von Redundanzen und Gemeinplätzen. Kapitel wie dasjenige zur politischen Theorie und Seckendorff (123–138) wirken nachgeschoben; der Umgang mit der älteren Forschung hätte durchweg reflektierter ausfallen müssen – und dies betrifft nicht allein die Wertungen der sächsischen Herrscher oder Termini wie „Versippung“ (60 u. passim), sondern auch eine latente oder offene Orientierung an einem modernen Ressortprinzip der Verwaltung, vor deren Hintergrund die Gegebenheiten des 17. Jahrhunderts notgedrungen als defizitär bzw. als „Zuständigkeitswirrwar“ (71) erscheinen müssen. Spezifisch frühneuzeitliche Rationalitäten und Praktiken hätte man durchaus ernster nehmen können (vgl. 67, 76 u. passim). Verbunden mit einer klareren Fragestellung und besseren Leserführung hätte die Arbeit damit gewonnen. Alexander Schunka
Berlin
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WOLFGANG SCHEFFKNECHT: Kleinterritorium und Heiliges Römisches Reich. Der „Embsische Estat“ und der Schwäbische Reichskreis im 17. und 18. Jahrhundert (= Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs, N. F. 13), Konstanz: UVK 2018, 542 S., (ISBN 978-3-86764-726-7), 59,00 EUR. Für Hohenems sah das von dem Rechtswissenschaftler Gerhard Köbler (* 1939) herausgegebene „Historische Lexikon der deutschen Länder“ – es liegt mittlerweile in siebter Auflage vor – allenfalls einen Kurzartikel vor. An der Stelle, an der sonst keines der über 300 unmittelbaren Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vergessen wurde, herrschten im Unterschied zu anderen Einträgen Knappheit, Unsicherheit und Fragezeichen vor: „Hohenems (Reichsdorf, Reichsstadt?), Ems, Embs, 1333 erhielt Ems (Hohenems) bei Dornbirn in Vorarlberg von Kaiser Ludwig dem Bayern alle Rechte [welche?] und Freiheiten der Reichsstadt Lindau, konnte sich aber nicht zu einer Stadt entwickeln.“ (Köbler, 7. Aufl. 2007, 287). Das Zitat unterstreicht bereits zu Beginn die stupende Leistung Wolfgang Scheffknechts, den „Embsischen Estat“ – er folgt dabei der korrekten frühneuzeitlichen Quellen- und Staatsbezeichnung – aus allen nur erdenklichen inhaltlichen Facetten und methodischen Zugriffen in einer Art histoire totale beschrieben und interpretiert zu haben. Regionale Forschungsliteratur war zwar vorhanden – vor allem aus der Feder des Vorarlberger Historikers und Landesarchivars Ludwig Welti (1904–1971) –, doch überbot Wolfgang Scheffknecht in seiner Innsbrucker Habilitationsschrift das Bisherige um ein Höchstmaß an neuen Erkenntnissen, Thesenführung, Präzision, Quellennähe und methodischer Durchdringung der Materie. Leitmotiv war stets eine Reichsgeschichte „von Unten“, die allein im Anhang (427–500) dazu führte, erstmals 63 Vertreter der Hohenemser Standesherrschaft vor dem Reichstag, den Versammlungen der Reichskreise – hier insbesondere des Schwäbischen Reichskreises – und des Grafenkollegiums biobibliographisch umfassend erforscht zu haben (427–462). Allein für diesen Teil der Arbeit waren Monate harter Arbeit in den nur teilweise erschlossenen Reichskreisbeständen des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs erforderlich. Der Autor setzte mit dem innovativen Blick auf die untere Reichsebene diesem Fundus, wie er in dieser Dichte für kein anderes Reichsterritorium vorliegt, noch eins drauf, indem er auch die Hohenemser „Reichssoldaten“ (463–500) analysierte. Es handelte sich dabei um die Bauern und Bürger, die u. a. als Musketiere gemäß der Kontingentfestlegung der Wormser Reichsmatrikel von 1521 für Kaiser und Reich gegen die sogenannten Reichsfeinde (Türken, Franzosen) und zuletzt gegen die massenhaft auftretenden Bettler ins Feld ziehen mussten. Scheffknecht ermittelte immerhin 104 Reichsarmierte, von denen jeder sein Schicksal und seine spezifische lokale wie familiäre Einbindung vorzuweisen hatte. Reichsgeschichte wurde so auch zur Personengeschichte – nicht auf der gut untersuchten Ebene des Adels und der feudalen Oberschichten, sondern auf der als persona incognita geltenden Stufe des Gemeinen Mannes. Ein weiterer positiver Rezensionsbefund ist das „Brennglas“ (2), mit dem Wolfgang Scheffknecht die Spezifika einer kleinterritorialen Existenz ernstgenommen und Punkt für Punkt aufgedeckt hat. Es ist gerade der für den deutschen Südwesten und den Wirkungsradius des Schwäbischen Reichskreises und der vorderösterreichischen Ämter so typische Befund der territorialen Überschaubarkeit und Kleinheit („Kleinkammerung“), die von der internationalen Forschung lange belächelt wurde, der die Chance bietet, in „dichter Beschreibung“ das Funktionieren von Rechts- und Reichskreisen seit dem Spätmittelalter
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präzise zu erläutern und die in den Überblickswerken vorherrschenden Makrothesen auf ihren Wert „von Unten“ her zu überprüfen, zu verifizieren oder gegebenenfalls eben zu falsifizieren. Bei aller interdisziplinären und europäisch-makrohistorischen Erweiterung des historischen Blicks auf die Hohenemser Kleinheit kapitulierte Scheffknecht zu keiner Zeit vor den dynastischen, politisch-dynamischen Verästelungen in der Region. Hier gelang es dem Verfasser, Grundlagenforschung zu leisten. Er kann zeigen, dass der ‚Embsische Estat‘ um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert zu einer topographisch abgrenzbaren Einheit geworden ist. Den Ausgangspunkt und Kern der Analyse bildeten die Reichsgrafschaft Hohenems und der Reichshof Lustenau. Für Jahrzehnte sollte es sich dabei allerdings um ein dynamisches Gebilde handeln. Graf Kaspar sah in ihm lediglich den Kern eines zu errichtenden Fürstentums Unterrätien, dessen projektierte Grenzen in der so genannten ‚Emser Chronik‘ von 1616 beschrieben und ins Bild gesetzt wurden. Das angestrebte Fürstentum wurde allerdings nie Realität. Immerhin gelang es dem Reichsgrafen Kaspar von Hohenems aber bereits 1613, den ‚Kernraum‘ Hohenems und Lustenau um die Reichsgrafschaft Vaduz und die Reichsherrschaft Schellenberg zu erweitern. Diesem Gebilde sollte allerdings kein langer Bestand beschieden sein. Bereits 1655 erfolgte entgegen den Intentionen Kaspars unter seinen Enkeln Karl Friedrich und Franz Wilhelm (I.) die Teilung in die Linien HohenemsHohenems und Hohenems-Vaduz. 1699 und 1712 mussten Vaduz und Schellenberg schließlich an die Fürsten von Liechtenstein verkauft werden. Die territoriale Ebene ist aber nur eine Seite der vielen Medaillen in dieser profunden Arbeit. Mit ähnlicher Präzision untersucht Scheffknecht die Gerichtsbarkeit (47–70) und die Entwicklung des Strafsystems bis hin zur Etablierung der frühmodernen Straf- und Zuchthäuser (71–97). Für die quellenbasierte Sozial- und Kriminalgeschichte sind die Passagen aus Scheffknechts Arbeit eine Goldgrube, die lange nicht versiegen wird. Ein Beispiel unten Vielen: 1636 wurde Kaspar Schnell „wegen seiner wider den allten Jacob Schefler gebrauchten schelltwort […] inn Thurn gelegt“. Er hatte den aus Lindau stammenden Meister Schefler „auf offenlich strassen angetastet“ und dessen Vetter einen „Ketzern und Calvinisten geschollten“. 1641 wurden derselbe Kaspar Schnell sowie dessen Bruder Bartholomäus und Jakob Waibel zu einer Turmstrafe verurteilt. Sie hatten den Juden Lazarus „vor der kirchen überfallen und mit gewalt würfel von ime haben wöllen und ime die kappen auf den boden etlich mal geworfen“. Außerdem schlugen sie ihn und erpressten einen „6-batzner“ von ihm. Kaspar Schnell und Jakob Waibel mussten dafür drei Tage in den Turm. Bartholomäus Schnell wurde zu vier Tagen Turmstrafe verurteilt, weil er „vor den ambtleuten den Juden hat haissen liegen wie ein schelmen und dieben und ein mauskopf gescholten“. Außerdem mussten die drei Delinquenten „dem Juden den abgenommen und vertrunckhenen 6-bätzner widerumb zustellen“ (89). Aufschlussreich und inspirierend für weitere Forschungen sind ferner die Kapitel zu den Beamten und Amtspersonen in der Reichsgrafschaft, die ergänzt wurden durch die Aufnahme der lokalen Amtsträger, der Pfarrer und Wirte sowie der Gemeindeversammlungen. Der Blick des Verfassers verliert sich aber nie im Gestrüpp der gräflichen Kleinheit. Glänzend geschrieben und auf dem neuesten Forschungsstand basierend sind die Abschnitte zu dem ebenfalls in der Wissenschaft lange unterschätzten Schwäbischen Reichskreis, die u. a. die Kreistage als Nachrichtenbörsen darstellten (356–398). Am
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Schnittpunkt von Reichs-, Landes- und Regionalgeschichte begegnen wir hier der Kommunikations- und Mediengeschichte. Zwei Schönheitsfehler seien am Ende genannt. Ein Orts- und Personenregister, mehr aber noch ein Sachregister, hätten die Rezeption dieser gewichtigen Neuerscheinung wesentlich erleichtert. Karten und Bilder schließlich wären bei 542 Seiten Text nicht nur ein Zugeständnis an den iconic turn gewesen: Sie würden gerade der überregionalen Leserschaft Manches noch plausibler vorführen. Wolfgang Wüst
Erlangen
MARION ROMBERG: Die Welt im Dienst des Glaubens. Erdteilallegorien in Dorfkirchen auf dem Gebiet des Fürstbistums Augsburg im 18. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 2017, 628 S., 125 s/w Abb., 11 Karten, 22 Grafiken, 16 Tab., (ISBN 978-3-515-11673-2), 89,00 EUR. Frühneuzeitliche Erdteilallegorien ziehen seit einiger Zeit hohe Aufmerksamkeit auf sich. Die bemerkenswert intensive Forschung kann vor allem von dem starken Interesse an globalgeschichtlichen Fragestellungen profitieren. Die Personifikationen der vier damals bekannten Kontinente Europa, Asien, Afrika und Amerika – meist in graphischer, skulpturaler oder freskaler Form – dürfen als ideale Medien für die Rezeption und Vermittlung von Wissen über außereuropäische Zusammenhänge gelten, analog zu Texten wie Reiseberichten, Relationen und Missionskorrespondenzen, die üblicherweise mit historischen Aneignungsprozessen überseeischer Wirklichkeit in Verbindung gebracht werden. Längst ist die im Barock aufblühende Gattung aus dem Feld ausschließlich kunsthistorischer Betrachtung herausgetreten und hat einen festen Platz im Repertoire kulturgeschichtlicher Forschung gefunden. Maßgebliche Impulse dafür gibt seit den 1980er Jahren die Stuttgarter Kunsthistorikerin Sabine Poeschel. Ihre Pionierarbeit erhielt zuletzt durch ein Forschungsprojekt an der Universität Wien wirkungsvolle Flankierung. Das Ziel der dort erarbeiteten Datenbank besteht darin, sämtliche im Heiligen Römischen Reich nachweisbaren Erdteilallegorien systematisch zu erfassen und zu beschreiben (http://erdteil allegorien.univie.ac.at/#). Die imponierende Monographie von Marion Romberg ist aus dem Wiener Projekt hervorgegangen; sie bietet eine erste präzise Auswertung des umfassenden Bildkorpus, und zwar am Beispiel des Bestands an Fresken in den zum Bistum Augsburg gehörenden Dorfund Landkirchen. Auf den ersten Blick mag diese geographische Fokussierung willkürlich erscheinen. Bei näherem Hinsehen offenbart sich jedoch die paradigmatische Folgerichtigkeit des Zugriffs: Die Diözese bildet den Kern des deutschen Verbreitungsgebiets dieses ikonographischen Typus. Sie liegt im Mittelpunkt eines sich vom Bodensee über die Schwäbische Alb an der Donau entlang bis nach Niederösterreich ziehenden „Erdteilallegoriengürtels“ (56). Nach Rombergs Erhebungen sind 38% aller einschlägigen Darstellungen für das schwäbische Bistum zu reklamieren. Ihr Hauptanteil entfällt indes nicht auf repräsentative Großbauten wie Kloster- und Stadtkirchen, sondern auf kleinere Pfarrkirchen im ländlichen Raum. Selbst in Kapellen und ländlichen Wallfahrtskirchen tauchen die Kontinente im Bildprogramm auf. Bekanntere (und jüngere) Protagonisten der Gattung wie die Kontinentalallegorie von Giovanni Battista Tiepolo in der Würzburger Residenz stehen
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weit hinter deren schwäbischer Variante zurück, zumindest was Dichte und Häufigkeit des Phänomens angeht. Für die Autorin besteht also Anlass, nach den Gründen für diese auffällige Konjunktur zu fragen. Romberg präsentiert ihre Ergebnisse in einer methodisch sorgfältig ausbalancierten Untersuchung. Souverän berücksichtigt sie dabei die vielschichtigen kirchlichen, kulturellen und sozialen Aspekte. In minutiöser Analyse wird der Freskenbestand in 69 Kirchen zum Sprechen über frömmigkeits- und mentalitätsgeschichtliche Prozesse des 18. Jahrhunderts gebracht. Demnach verdienen vor allem drei Punkte Hervorhebung: Die Erdteilallegorie war erstens ein konfessionelles Accessoire; sie war Ausdruck einer genuin katholischen Ästhetik. Bis auf verschwindend wenige Ausnahmen im protestantischen Bereich gehört sie zum Grundinterieur der katholischen Sakralarchitektur. Im barocken Kirchenraum an gut einsehbarer Stelle platziert, übernahm sie für den (Laien-)Betrachter identitätssichernde Funktionen. Sie vermittelte ein zeitgeschichtliches Argument für den Wert und die Richtigkeit des katholischen Wegs. Die Erdteile bezeugten die Weltgemeinschaft aller Gläubigen; als Schauplätze erfolgreicher katholischer Missionstätigkeit illustrierten sie die heilsgeschichtliche Legitimität der Römischen Kirche. Die Personifikationen der Kontinente, der bekehrte amerikanische Indianer ebenso wie der getaufte Türke für Asien, fungierten als deren leibhaftige Agenten, die den Ruhm der nach reformatorischer Herausforderung neu gefestigten Ecclesia triumphans noch in das entlegenste Allgäuer Bergdorf trugen. Zweitens ist auf wissensgeschichtlicher Ebene das ikonographische Phänomen als archetypisches Beispiel für einen vertikalen Kulturtransfer von oben nach unten zu beschreiben. In einer Art von top down-Effekt ermöglichten die im Deckengemälde fixierten Darstellungen – als visuelle Konfigurationen von Gelehrsamkeit – dem allsonntäglichen Gottesdienstbesucher Teilhabe an zeitgemäßen, in der Regel jedoch den Eliten vorbehaltenen Wissensdiskursen. Wenn schon nicht „Demokratisierung“, so doch Popularisierung von Überseewissen – so stellte sich das Kommunikationskonzept der Erdteilallegorie dar. Damit stellte die katholische „Bildkultur“ dem common man – in einer Art von barocker biblia pauperum – eine Partizipationsmöglichkeit bereit, über die sein protestantischer Zeitgenosse, allein auf „Wortkultur“ verwiesen, nicht verfügte. Durchaus noch entschiedener hätte die Autorin an dieser Stelle den öffentlichkeitsstiftenden Charakter der Erdteilallegorien herausarbeiten können: In der Dorfkirche war das Fresko gewissermaßen die in Stuck und Farbe getauchte Postille des katholischen popolo minuto. Drittens erweist sich die Erdteilallegorie als Gemeinschaftsprodukt von Klerus- und Laienfrömmigkeit. In zahlreichen Einzelfällen – wie etwa bei den Asam-Fresken in der Wallfahrtskirche Herrgottsruh in Friedberg bei Augsburg (371) – kann Romberg belegen, dass die Motivwahl der gemeinsamen Initiative von wissenschaftlich vorgebildeter Ortsgeistlichkeit (meist aus dem Ordensstand) und „global“ sensibilisierten Gläubigen (meist aus den Bruderschaften) entsprang. Mithin zeigt sich hier ein bemerkenswerter sozialgeschichtlicher Befund: Die Erdteilallegorie ist Indiz für die Existenz eines katholischen Weltbürgertums, dessen Ausläufer bis in die agrarische Lebenswelt hineinreichten. Dass wiederum das Bistum Augsburg einen günstigen Boden für solche Manifestationen abgab, muss nicht weiter verwundern. In diesem von staatlicher und konfessioneller „Kleinkammerung“ geprägten Raum bot die Erdteilallegorie eine Identitätsfolie. Sie versprach Rückhalt am katholischen Universalpapsttum. Das globale Selbstverständnis schöpf-
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te dabei aus intellektuellen Ressourcen, wie sie die Jesuitenuniversität Dillingen, die Kunstakademie und das Verlagswesen in Augsburg zugänglich machten. Indes war die dorfkirchliche Erdteilallegorie – auch das wird in aller wünschenswerten Klarheit deutlich – kein Vorläufer moderner, zivilreligiöser One World-Verheißung. Sie verdankte ihre ideelle Stringenz dem eindeutigen konfessionellen Bekenntnis; sie lebte vom Orbis catholicus des Barockzeitalters; und sie wurzelte in der dogmatischen Konsequenz der posttridentinischen Kirche. So ist es ironischerweise gerade die Aufklärung, die der Erdteilallegorie und damit der Präsenz des Fremden in der Dorfkirche ein unwiderrufliches Ende bereitete – trotz des von ihr so stark strapazierten menschheitsgeschichtlichen Pathos. Rainald Becker
München
LENE FREIFRAU VON DEM BUSSCHE-HÜNNEFELD, STEPHANIE HABERER (Hg.): „wobei mich der liebe Gott wunderlich beschutzet“. Die Schreibkalender des Clamor Eberhard von dem Bussche zu Hünnefeld (1611–1666), Bramsche: Rasch 2017, 216 S., 41 Abb., (ISBN 978-3-89946-264-7), 34,50 EUR. Gedruckte Schreibkalender mit handschriftlichen Aufzeichnungen sind in jüngster Zeit vor allem für die Adelsforschung herangezogen worden. Digitalisierungsprojekte werden ihrer Erforschung weitere Impulse geben. So sind inzwischen aus dem vermutlich weltweit umfangreichsten Schreibkalenderbestand im Stadtarchiv Altenburg rund 1 500 Exemplare digitalisiert und wissenschaftlich erschlossen (über den OPAC der Universitätsbibliothek Jena abrufbar). Schreibkalender gehörten seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu den wichtigsten Verlagsartikeln vieler Druckereien im deutschen Sprachraum. Ihre Herstellung war wegen konstanter Nachfrage mit wenig finanziellem Risiko verbunden und damit ein sicheres Geschäft für Drucker und Buchhändler. Der Umfang der Kalenderproduktion kann bislang allerdings nur erahnt werden. In diesem Zusammenhang ist der Behauptung von Stephanie Haberer zu widersprechen, Schreibkalender im Quartformat hätten Einblattkalender um 1550 vom Buchmarkt verdrängt (15). Vielmehr bedienten sie andere Nutzerbedürfnisse als Einblattkalender und wurden daher vom Buchhandel zusätzlich angeboten, ohne die Nachfrage nach Letzteren zu gefährden. Es handelt sich somit um einen Ausdifferenzierungs- und keinen Verdrängungsprozess. Schreibkalender, wie die gesamte Gebrauchsliteratur und besonders das pragmatische Schrifttum, finden sich seltener in wissenschaftlichen Bibliotheken, sondern eher in Archiven, weshalb sie in den retrospektiven deutschen Nationalbibliographien VD16, VD17 und VD18 im Verhältnis zu ihrer Bedeutung für den Buchmarkt deutlich unterrepräsentiert sind, da sich Archive diesen Erschließungsprojekten bislang nicht angeschlossen haben. Daher ist es nicht verwunderlich, dass aus dem Kalenderbestand von Clamor Eberhard von dem Bussche zu Hünnefeld nur die drei späten Jahrgänge 1653, 1658 und 1659 im VD17 nachgewiesen sind (VD17 23:625243H, 27:709181B, 23:643248U). Dessen Kalendersammlung deckt den Zeitraum von 1627 bis 1665 ab, wobei sie leider nicht durchgehend erhalten ist. Es fehlen die Jahrgänge von 1629, 1630, 1632–1636, 1638, 1640, 1642–1644, 1649–1652, 1657, 1661 und 1664. Der Bestand wird als Teil des Archivs der Familie der Freiherren von dem Bussche-Hünnefeld im Niedersächsischen Lan-
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desarchiv Osnabrück aufbewahrt, wo sich nahezu alle Adelsarchive des Osnabrücker Raums befinden. Das Landesarchiv dürfte damit eine Fundgrube für Schreibkalender sein. So berichtet Haberer, dass auch von den Nachfahren Clamor Eberhards Schreibkalender bis 1751 überliefert sind. Das Vorwort von Lene Freifrau von dem Bussche-Hünnefeld und die Einführung von Stephanie Haberer sind mit insgesamt 16 Seiten sehr knapp gehalten. Hier erfährt man, dass Clamor Eberhard aus einer alteingesessenen Familie stammte, die seit 1225 urkundlich nachgewiesen ist und seit Ende des 14. Jahrhunderts landtagsfähige Güter im Hochstift Osnabrück erwarb, die durch Erbteilung im Besitz mehrerer Linien waren. Clamor Eberhard wurde 1611 geboren, mit 16 Jahren an die protestantische Universität Rinteln geschickt, um später an der Universität Leipzig seine Studien fortzuführen, ehe er 1631 dauerhaft an den Familienstammsitz Hünnefeld zurückkehrte. 1639 heiratete er Anna Elisabeth von Görne, mit der er vier Kinder hatte, wobei die einzige Tochter bereits nach 12 Tagen verstarb und der älteste Sohn Clamor Hilmar mit 19 Jahren auf einer Kavalierstour in Straßburg einem Fieber erlag. Nach dem frühen Tod seiner Frau Anna Elisabeth im Juni 1646 ging Clamor Eberhard keine weitere Ehe ein, sondern übertrug die Kindererziehung seiner Mutter. In seinem späteren Testament erkannte er die Existenz von fünf unehelichen Kindern an. Clamor Eberhard scheint ein erfolgreicher Geschäftsmann, Gutsherr und Pferdezüchter gewesen zu sein. So sind zahlreiche Kreditvergaben in den Kalendern und Geschäftsbüchern nachgewiesen sowie 1656 der Kauf des Ritterguts Streithorst. Am 5. Juli 1666 ist er mit nicht ganz 55 Jahren auf Schloss Hünnefeld verstorben. Clamor Eberhard beginnt seine Aufzeichnungen 1627, als er sein Studium aufnimmt, und sie enden ein halbes Jahr vor seinem Tod. In den ersten Jahrgängen erfolgen die Einträge eher sporadisch, nehmen mit der Zeit aber immer mehr zu, wobei sich auch das Themenspektrum deutlich erweitert. Im Mittelpunkt stehen von Anfang an die Familie und die sozialen Beziehungsnetze, vor allem Besuche, Krankheiten, Geburts- und Sterbefälle. Ab 1641 spielen die Einträge zur Gutswirtschaft eine zunehmende Rolle, wie z. B. Viehbestand, Jagd, Erntezeiten, aber auch außergewöhnliche Wetterereignisse. Sie liefern Informationen zum Zu- und Abgang von Personal sowie dessen Behandlung (Strafen) und geben Einblick in die wirtschaftliche Lage. Clamor Eberhard vergab zahlreiche, zum Teil sehr hohe Kredite an Verwandte und ‚Freunde‘, die Stadt Osnabrück, die Osnabrücker Landschaft und seinen Landesherrn. Die Not von Schuldnern nutzte er bei Gelegenheit, um seinen Grundbesitz zu mehren. Ferner notierte Clamor Eberhard die politischen und militärischen Ereignisse im Osnabrücker Umland, im Reich, aber auch im Nord- und Ostseeraum, die zeigen, dass er über gute Informationsquellen verfügte. Als unmittelbarer Zeitzeuge der Verhandlungen zu Münster und Osnabrück tritt er von 1645 bis 1648 in Erscheinung, weshalb diese Jahre zu den spannendsten Abschnitten der Edition gehören. Leider verzichten die Herausgeberinnen darauf, dem Leser, der nicht mit der Geschichte des Osnabrücker Raums und speziell mit den lokalen Verhältnissen in und um Bad Essen vertraut ist, ausreichend zu informieren sowie Orientierungs- und Verständnishilfen anzubieten. So wären beispielsweise Informationen und Karten zu den Besitzverhältnissen, Gerichts- und Herrschaftsrechten Clamor Eberhards sehr willkommen gewesen. Nichts erfährt man auch zu seiner Stellung in der Ritterschaft und im Landtag, zur Landesherrschaft oder was es mit den zahlreichen Einträgen zu Juden auf sich hat. Angesichts dieser fehlenden Einordnung und Kommentierung schöpfen die Herausgeberinnen
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das Potential der Aufzeichnungen dieses protestantischen Landadeligen im Hochstift Osnabrück in bewegten Zeiten nicht aus. Dazu hätte es einer Auswertung des offensichtlich umfangreichen Archivmaterials und dessen Kontextualisierung mit den Kalenderaufzeichnungen bedurft. Ob eine vollständige Edition von Aufzeichnungen in Schreibkalendern ohne die Heranziehung anderer Quellen und ohne die Einbettung in eine ausführliche Biographie des Schreibers sinnvoll ist, kann daher bezweifelt werden. Im Fall des Clamor Eberhard ist der Nutzen für die historische Forschung jedenfalls begrenzt. Die großformatige und reich bebilderte Publikation erfüllt aber sicher ihre Aufgabe, adeligem Repräsentationsbedürfnis zu dienen. Hans-Jörg Künast
Augsburg/Mering
CLAUDIA GARNIER, CHRISTINE VOGEL (Hg.): Interkulturelle Ritualpraxis in der Vormoderne. Diplomatische Interaktion an den östlichen Grenzen der Fürstengesellschaft (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 52), Berlin: Duncker & Humblot 2016, 180 S., (ISBN 978-3-428-14784-7), 49,90 EUR. Das von Claudia Garnier und Christine Vogel herausgegebene Beiheft der Zeitschrift für Historische Forschung ist das Ergebnis einer Tagung, die 2012 an der Universität Vechta stattfand. Obwohl nur 180 Seiten lang, bietet es einen anregenden Beitrag zum Feld der neueren Diplomatiegeschichte der Vormoderne, die eine akteurszentrierte Perspektive einnimmt und die Bedeutung symbolischer Kommunikation in den Fokus rückt. Das Thema des Hefts sind die Beziehungen der die Fürstengesellschaft konstituierenden mittel- und westeuropäischen Mächte zu ihren östlichen Nachbarn (11). Zwei Fragen strukturieren die Publikation: Einerseits wird gefragt, wie gut die Ritualpraxis als Kommunikations- bzw. Interaktionsmittel zwischen den Vertretern westlicher Mächte und ihren Nachbarn im Osten – vor allem mit Russland und dem Osmanischen Reich – funktionierte. Andererseits wird untersucht, inwiefern die genannten Mächte zur europäischen Fürstengesellschaft gehörten bzw. als in die société des princes integriert galten. Im Anschluss an die Einleitung, in der Garnier und Vogel den Band präzise im Forschungspanorama verorten und die wichtigsten theoretischen Prämissen vorstellen (7– 11), gibt Gerd Althoff einen Einblick in die mittelalterliche Konzeption der östlichen Grenzen der Fürstengesellschaft. Er zeigt auf, wie zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert die polnischen und böhmischen Herrscher, die sich damals am Rand des Systems befanden, die Ritualsprache des Kaiserreiches inklusive christlicher Elemente rezipierten und für ihre eigenen Interessen zu nutzen wussten. Ein Indiz für eine vollkommene Rezeption der Ritualsprache des Reiches bildet gemäß Althoff das Verlangen der polnischen und böhmischen Herrscher nach einer differenzierten Behandlung in kaiserlichen Zeremonien (36). Im Zeremoniell sollte deutlich werden, dass sie nicht direkt unter dem Kaiser standen wie die hochadligen Mitglieder des Reiches. Claudia Garniers Text schließt an Althoffs Aufsatz an, schreitet aber chronologisch voran und räumlich weiter ostwärts. Die Autorin untersucht anhand unterschiedlicher zeremonieller Vorfälle, die westliche Gesandte notierten, das Funktionieren des moskowitischen höfischen Rituals von der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis in die 1630er Jahre. Sie zeigt auf, dass die Treppen am Moskauer Kreml nicht nur ein Ort der Begegnung waren (42), an dem die moskowiti-
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schen höfischen und sozialen Hierarchien gezeigt wurden (44), sondern auf diesen Stufen auch die Beziehungen mit den Vertretern fremder Mächte symbolisch ausgehandelt wurden. Jan Hennings beschäftigt sich ebenfalls mit dem Agieren westlicher Gesandter in Moskau und nutzt die vergleichende Perspektive, um die interne Komplexität der moskowitischen Hofwelt aufzuzeigen. Während der englische Master of Ceremonies mehrmals situativ entscheiden konnte, war der Pristav ein viel stärker normengebundener Amtsträger, der als Transmissionsriemen der Behördenregelungen fungierte (77 f.). Dieser qualitative Unterschied zwischen den beiden Figuren bietet eine Erklärung für einen bekannten Topos der Gesandtenliteratur: die Inflexibilität der Russen (83). Florian Kühnels Beitrag führt den Leser in das Osmanische Reich und untersucht die Rolle, welche die Hohe Pforte für westliche Gesandte spielte. Wie Hennings für den russischen Fall, setzt sich Kühnel mit zwei Gemeinplätzen des westlichen diplomatischen Diskurses auseinander: Zuerst zeigt er auf, warum die meisten englischen Gesandten in Konstantinopel in ihren Berichten betonten, ihnen wäre eine außergewöhnlich privilegierte Behandlung zuteilgeworden. Sodann erläutert Kühnel die (richtige) Bedeutung der Normabweichungen im negativen Sinne, d. h. der Handlungen des Sultans, welche die europäischen Gesandten als Erniedrigungen empfanden und die von den Europäern lange als Zeichen der Universalitätsansprüche des osmanischen Herrschers interpretiert wurden (104). Europäische Gesandte wurden im Osmanischen Reich nicht als „Spiegel ihres Herrschers“ betrachtet, sondern als simple Amtsträger und Interessenvertreter (107). Sie „schlecht“ zu behandeln, zielte für den Osmanen daher – entgegen der Meinung der Europäer – nicht auf die Erniedrigung ihrer Herrscher ab (107–110). Die Untersuchung Christine Vogels beschäftigt sich ebenfalls mit dem Agieren europäischer Gesandter an der Hohen Pforte und ihren unterschiedlichen Interpretationsniveaus. Am Beispiel der Festlichkeiten, die der französische Botschafter Nointel 1676 in seiner Residenz organisierte, zeigt sie auf, dass diesen ein doppeltes Kommunikationspotential innewohnte: Zum einen sollten diese hoch ritualisierten Festlichkeiten für die Osmanen interpretierbar sein. Zum anderen dienten solche Feste als Kulisse für den Distinktionskampf zwischen den westeuropäischen Gesandten. Diese Doppelfunktion wird in Nointels Fest deutlich: Für die Mitglieder der „Fürstengesellschaft“ sollte Ludwig XIV. als kriegerischer Herrscher und „größter Monarch der Erde“ (131) dargestellt werden, während der französische König für die Osmanen, die diese erste Botschaft nicht entschlüsseln konnten, als wichtigster christlicher Bündnispartner präsentiert werden sollte (128). Dass die Erforschung diplomatischer Interaktionen in Grenzregionen fernab königlicher Höfe für das Verständnis der Funktionsweise der frühneuzeitlichen diplomatischen Praxis essentiell ist, bestätigt der Text von Gabor Kármán. Am Beispiel der Kontakte zwischen den siebenbürgischen Herrschern, Tributaren des Sultans, und den Beylerbeyis (den Gouverneuren osmanischer Provinzen) zeigt Kármán auf, dass sich die Fürstengesellschaft und das Osmanische Reich in einigen grundlegenden Elementen zwar effektiv unterschieden, sie aber zugleich genügend Gemeinsamkeiten besaßen, um interkulturelle Interaktion zu ermöglichen. So konnten etwa die Herrscher Siebenbürgens mit Vertretern beider Welten verhandeln, waren aber zugleich zu situativen Anpassungen gezwungen: Während sie vor westlichen Mächten die Abhängigkeit von der Hohen Pforte heruntergespielten, betonten sie in Kontakten mit den osmanischen Akteuren die Loyalität zum Sultan.
Frühe Neuzeit
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Insgesamt kann man das Hauptziel des Sonderhefts, nämlich eine „eurozentrische Sicht auf die vormoderne Diplomatie zu überwinden und die diplomatische Praxis […] als eine Form des Kulturkontakts und -austauschs zu begreifen“ (14), als erreicht betrachten. Die Aufsätze verweisen sowohl auf die Flexibilität der symbolischen Kommunikation, welche Interaktionen jenseits des eigenen Systems ermöglichte, als auch auf die Probleme und Grenzen dieser Art von Kommunikation. Ein Schlusskommentar hätte das Resultat noch vollkommener erscheinen lassen. Ebenso hätte eine unterschwellige Frage, die es in künftigen Forschungen zu thematisieren gilt, explizit gestellt werden können: Wie expansionsfähig war das System der europäischen Fürstengesellschaft? Enrique Corredera Nilsson
Bern
INDRAVATI FÉLICITÉ: Das Königreich Frankreich und die norddeutschen Hansestädte und Herzogtümer (1650–1730). Diplomatie zwischen ungleichen Partnern (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, Neue Folge 75), Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2017, 439 S., (ISBN: 978-3-412-50918-7), 60,00 EUR. Ungleiche Außenbeziehungen haben Konjunktur. Für die Frühe Neuzeit ist oft Frankreich der starke Partner, dessen Beziehungen untersucht werden. Dafür sprechen neben der Intensität und Vorbildlichkeit der französischen Diplomatie eine gute Quellenlage und -erschließung sowie ein breiter internationaler Forschungsstand. Indravati Félicité verweist aber zu Recht darauf, dass als Gegenüber Frankreichs vor allem Akteure im französischen Grenzgebiet und solche, die wie die Kurfürsten vergleichsweise stark waren, untersucht werden. Sie widmet sich hingegen kleinen und Frankreich geographisch fernen Mächten, deren Quellen es für die Diplomatiegeschichte noch zu erschließen gilt. Neben französischen Archivalien liegen Félicités Studie solche aus Schleswig, Schwerin und Lübeck zugrunde. Sie nimmt dabei eine heterogene Gruppe kleiner Akteure in den Blick: die Mecklenburger Herzöge aus der Schweriner Linie, die Herzöge von Schleswig und Holstein aus der Gottorfer Linie sowie die Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg. Gemeinsam war ihnen, dass sie als Mindermächtige im Spannungsfeld der Auseinandersetzungen der nordischen Großmächte lagen. Der französische Originaltitel der Pariser Dissertation bringt ihre Beziehungen zu Frankreich präziser auf den Punkt: Es ging darum, zu verhandeln, um zu existieren (Négocier pour exister: Les villes et duchés du nord de l’Empire face à la France 1650–1730 [= Pariser Historische Studien 105], München 2016). Félicité interessieren die Kernelemente dieser Beziehungen: Welche Interessen hatte der starke, welche die schwachen Partner? Wie gingen sie vor? Was waren die formalen und inhaltlichen Kriterien der untersuchten ungleichen Beziehungen? Die Autorin wendet sich rasch den konkreten Beziehungen zu: Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert, von denen der erste die Beziehungen chronologisch von der Zeit nach dem Westfälischen Frieden bis zum allmählichen Ende der erfolgreichen Diplomatie in den 1730er Jahren betrachtet. Stufenweise werden in vier Kapiteln die unterschiedlichen Strategien erkennbar, die ein breites Spektrum aufweisen und von einer nach Frankreich orientierten Heiratspolitik des katholischen Herzogs Christian Louis I. von Mecklenburg bis hin zu dem Versuch einer Neutralitätspolitik und der Trennung von Ökonomie und
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Politik durch die Hansestädte reichen. Alle Akteure waren von Konjunkturen abhängig. Namentlich der Spanische Erbfolgekrieg wertete die kleinen Akteure auf, während Frankreich nach Hungersnöten auf Getreidelieferungen angewiesen war. Eine Kontextualisierung der Beziehungen erfolgt nicht. Weder grundsätzliche historische Voraussetzungen – wie z. B. der herrschaftsrechtliche Spagat der vereinigten Herzogtümer Schleswig und Holstein zwischen Dänemark und dem Heiligen Römischen Reich, die reichsrechtlichen Grundlagen oder die Ergebnisse des Westfälischen Friedens – noch das größere Umfeld der politischen Ereignisse, innerhalb derer sich die Untersuchung bewegt, werden aufbereitet. Lediglich ein Anhang vermittelt die Eckdaten der untersuchten Beziehungen. Der zweite Teil der Studie thematisiert die Metaebene dieser Beziehungen: Entscheidungsfindung, Kommunikation, Rezeption und Information. Gerade hier erweist sich die Großmacht Frankreich auch aufgrund ihrer Professionalisierung als der stärkere Partner. Félicités Untersuchung gelangt zu bemerkenswerten Ergebnissen. Vor dem Hintergrund der nordischen Auseinandersetzungen, in denen Russland zunehmend eine Rolle spielte, relativiert sich das Bild Ludwigs XIV. als Aggressor oder dominierende Figur der internationalen Beziehungen. Zumindest phasenweise zeigt sich zudem eine gewisse Abhängigkeit Frankreichs. Neben der Relativierung des starken Partners werden die Handlungsspielräume kleiner Mächte im reichsständischen Gefüge ausgelotet. Dabei zeigen sich die Grenzen, die das Reich, aber durchaus auch die Autorität des Kaisers ihnen setzte. Für sie ging es in den Beziehungen – anders als für Frankreich – weniger um einzelne Interessen als vielmehr um ihre politische Existenz. Das machte den Erfolg dieser Beziehungen für die schwächeren Partner aus. Hamburg, Bremen und Lübeck agierten sogar weiterhin als Hanse, obwohl diese im Prinzip nicht mehr existierte. Félicité korrigiert Vorstellungen vom Westfälischen Frieden als Beginn eines Systems souveräner Staaten und zeigt die Optionen internationaler Beziehungen bis in das 18. Jahrhundert hinein auf. Problematisch ist allerdings, dass sie dabei mitunter gegen einen überholten Forschungsstand anschreibt. Das liegt nur bedingt daran, dass die Dissertation 2012 abgeschlossen und spätere Literatur nur in zwei Fällen ergänzt wurde, denn auch frühere Werke sind nicht immer angemessen berücksichtigt. Zum Teil bestätigt sie die Tendenzen aktueller Forschung, ohne dass dies klar herausgearbeitet ist. So konturiert sie die lange unterschätzte Wirtschafts- und Handelspolitik Ludwigs XIV. oder zeigt, wie wichtig die Rolle von Personennetzwerken, namentlich von – männlichen wie weiblichen – Familienmitgliedern, auf verschiedenen Ebenen der Außenbeziehungen noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war. Das methodische Hauptproblem der Studie besteht darin, dass Félicité implizit zwar die spezifische Besonderheit der frühneuzeitlichen im Kontrast zur modernen Diplomatie sowie die Relevanz einer akteurszentrierten Perspektive bestätigt und diese Perspektive in der konkreten Analyse auch weitgehend einnimmt, dass sie methodisch-theoretisch aber vom modernen Staat her argumentiert. Der grundsätzliche Ansatz, die Untersuchung im größeren Rahmen des Staatsbildungsprozesses zu verorten, ist durchaus schlüssig, wird allerdings nicht konsequent umgesetzt, da Félicité kaum auf die strukturellen Bedingungen der Gemeinwesen rekurriert. Die in der Diplomatiegeschichte entwickelten Analysekategorien und Begriffe ignoriert sie, obwohl sie die einschlägige Literatur zur Kenntnis genommen hat. Die Begrifflichkeit mag mitunter einer inadäquaten Übersetzung geschuldet sein, aber den Rheinbund von 1658 als von Frankreich organisierte „gegen
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den deutschen Staatsverbund gerichtete Opposition“ (20) zu bezeichnen oder den Reichskrieg 1674 als einen „Zusammenstoß zweier Nationen, der Deutschen und der Französischen“ [!] (43), von „Außenpolitik und Innenpolitik im Kontext dieser quasi-souveränen Reichsstände“ (17) zu sprechen oder von den „deutschen Staaten“ (20), lässt die Darstellung antiquierter erscheinen als es die Ergebnisse sind. Die Sprache lässt erkennen, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Hinzu kommen zahlreiche Flüchtigkeits- sowie Übersetzungsfehler. So wird „la Baltique“ durchweg mit Baltikum übersetzt, auch von „baltischen Mächten“ (15) ist die Rede, obwohl eindeutig der Ostseeraum und die Ostseemächte gemeint sind. Auch sachliche Fehler kommen vor: So wird aus Frankreichs Gesandtschaft beim Immerwährenden Reichstag eine Mitgliedschaft im Reichstag (20), die Diplomaten Claude und Jean Antoine d’Avaux werden trotz unterschiedlicher Lebensdaten im Register mehrfach falsch zugeordnet, aus der Historikerin Maren Lorenz wird Martin Lorenz. Die Studie hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Sie ist ein wichtiger Baustein zur Geschichte der französischen Diplomatie und der Regierung Ludwigs XIV., des Heiligen Römischen Reichs, der Hanse und des Ostseeraums nach dem Westfälischen Frieden sowie zu ungleichen Außenbeziehungen und der Funktionsweise von Diplomatie in dieser Epoche. Damit erbringt sie einen beachtlichen Erkenntnisgewinn zu unterschiedlichen Forschungsthemen. Methodisch und handwerklich aber überzeugt sie nicht. Die französische Originalversion ist der deutschen Übersetzung vorzuziehen. Anuschka Tischer
Würzburg
HOLGER TH. GRÄF, CHRISTOPH KAMPMANN, BERND KÜSTER (Hg.): Landgraf Carl (1654–1730). Fürstliches Planen und Handeln zwischen Innovation und Tradition (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 87), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2017, 415 S., zahlr. farb. Abb., (ISBN 978-3-942225-39-7), 29,00 EUR. PHILIP HAAS: Fürstenehe und Interessen. Die dynastische Ehe der Frühen Neuzeit in zeitgenössischer Traktatliteratur und politischer Praxis am Beispiel Hessen-Kassels (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 177), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2017, 393 S., (ISBN 978-3-88443-332-4), 36,00 EUR. ANDREAS HEDWIG, CHRISTOPH KAMPMANN, KARL MURK (Hg.): Bündnisse und Friedensschlüsse in Hessen. Aspekte friedenssichernder und friedensstiftender Politik der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter und in der Neuzeit (= Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg 32), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2016, 357 S., 99 v. a. farb. Abb., (ISBN 978-3-88964-217-2), 39,00 EUR. Die frühneuzeitliche Geschichte der Landgrafschaft Hessen hat in den letzten Jahren eine kontinuierliche Aufarbeitung erfahren. Besonders durch die fruchtbare Kooperation von Angehörigen der Universität und des Staatsarchivs Marburg werden dabei immer wieder neue Impulse gesetzt. Im Mittelpunkt der Publikationen steht neben einzelnen herausragenden Herrschern besonders der oft um die dynastische Komponente erweiterte Themenkomplex von Krieg, Frieden und Sicherheit. Darunter lassen sich auch die drei Veröffentlichungen subsummieren, die hier näher betrachtet werden sollen.
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Im Zentrum einer vom 27. bis zum 29. Oktober 2016 veranstalteten internationalen Tagung und der als Sammelband publizierten Beiträge steht mit dem hessischen Landgrafen Carl „eine der markantesten fürstlichen Persönlichkeiten des hessischen Herrscherhauses“ (IX), die die Geschicke seines Territoriums für die bemerkenswert lange Zeit von 1670/77 bis 1730 lenkte. Zunächst unter der Vormundschaft seiner Mutter Hedwig Sophie, übernahm Carl bereits als Sechzehnjähriger die Regierung der Landgrafschaft. Mittels seines sicherheits- und bündnispolitischen, militärischen, dynastischen, finanziellen, wirtschaftlichen, architektonischen, universitäts- und religionspolitischen Engagements gelang es Carl, das politische Gewicht der Landgrafschaft zu steigern und sein Territorium wie auch seine Dynastie im sich neu formierenden europäischen Mächtesystem zu etablieren. Die Beiträge des Bandes kontextualisieren die Person dieses Herrschers umfassend im Machtgefüge des Reiches und darüber hinaus. Sie betrachten ihn als Reichsfürsten und Landesherrn, aber auch als Akteur von europäischem Format, versuchen seine Handlungsfelder und -spielräume auszuloten und der Bedeutung seines Hofes als Ort des Kunst- und Kulturtransfers nachzuspüren. Besonderes Interesse kommt in mehreren Beiträgen den Beziehungen Carls in die Niederlande, nach Schweden und nach Großbritannien zu, die mit dynastischen Verbindungen, die wiederum mit militärischen Kooperationen gekoppelt waren, einhergingen. Philip Haas stellt Carls dynastische Ehepolitik in den Mittelpunkt seines Beitrags und fragt, ob unter diesem Fürsten von einer stringenten und zielorientierten Heiratspolitik gesprochen werden kann. Er führt damit gleichzeitig in die Thematik seiner 2017 erschienenen Dissertation ein, die im Sonderforschungsbereich 138 zu den „Dynamiken der Sicherheit“ an der Philipps-Universität entstanden ist und hier ebenfalls zu besprechen ist. Haas zählt herrschaftliche Eheprojekte zum Grundinstrumentarium fürstlichen Handelns, das der Verfolgung und Durchsetzung dynastischer wie öffentlicher Interessen diente und deren Bedeutung besonders für Krieg und Frieden nicht unterschätzt werden können. Indem er die frühneuzeitliche Traktatliteratur auswertet, überprüft der Autor deren Inhalte anhand sieben mikrohistorischer Fallstudien im Sinne miteinander verzahnter Mikroanalysen zu den Ehen von Angehörigen des Landgrafenhauses mit anderen protestantischen Dynasten zwischen 1648 und 1740, um dem bzw. den Interesse(n) nachzuspüren, die damit verbunden waren. Der Ehepolitik unter dem bereits genannten Landgrafen Carl, der nicht zuletzt dadurch versuchte, „sein Land an die europäische Politik anzuhängen“ (Philippi), widmet sich Haas in einem eigenen Kapitel (3.1.5). Er beschreibt die Heiratsallianzen stets in der Zusammenschau mit den zwischenstaatlichen militärischen Projekten (Subsidien), die Hand in Hand mit den Eheverhandlungen gingen und Carls Sohn letztlich sogar die schwedische Königskrone einbrachten. Hessen-Kassel nutzte sein stehendes Heer somit als „dynastische Ressource“ (59) gegenüber den bereits genannten internationalen Partnern Niederlande, Schweden und Großbritannien, aber auch gegenüber Dänemark. Die betrachteten Eheschlüsse erscheinen letztlich als „militärische Kooperation“ (263). Haas gelingt es darzulegen, wie ein mittelgroßes, aber ambitioniertes Haus die Ehepolitik mit protestantischen Dynastien nutzte, um sowohl politische Ziele zu erreichen als auch seinen Status im europäischen Mächtegefüge zu heben. Sein Befund steht bisherigen Forschungsmeinungen gegenüber, die der dynastischen Ehe in der Frühen Neuzeit eine abnehmende Signifikanz zuschreiben. Haas weist hingegen nach, dass sie erst in dieser Epoche als Gegenstand der Reflexion entdeckt, theoretisiert und normiert wurde.
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Er konzentriert sich dabei auf Begrifflichkeiten des Sonderforschungsbereiches, in dem seine Arbeit entstand. Vermutlich deshalb konstatiert er allerorten ein möglicherweise überstrapaziertes „Interesse an Sicherheit“ (191), das in seinen verschiedenen Bedeutungen freilich weiter auszudifferenzieren ist (finanziell-materiell, konfessionell, dynastisch, politisch, militärisch, individuell oder gesamtgesellschaftlich bzw. territorial). Befremdlich wirkt bei Haas wie auch im vorab betrachteten Sammelband zudem die häufig deplatzierte Verwendung des Begriffs der „Regentschaft“, beschreibt deren korrekter Gebrauch doch lediglich die stellvertretende Herrschaft und nicht etwa die Regierung bzw. Herrschaft des Fürsten selbst. Ebenso wird die Bedeutung des Quellenbegriffs der frühneuzeitlichen „Freundschaft“ bei Haas nicht problematisiert und droht missverstanden zu werden. Auf formaler Ebene irritiert die unsystematische Kennzeichnung von Quellenund Literaturzitaten. Eine gründliche Endredaktion hätte der Publikation gut getan, was ihren inhaltlichen Nutzen aber kaum schmälert. Der Sammelband zu Bündnissen und Friedensschlüssen in Hessen dokumentiert eine Tagung von 2014, die in Zusammenhang mit der Ausstellung „Acta Pacis – Friedensschlüsse in Mittelalter und Neuzeit“ im Staatsarchiv Marburg stattfand. Der epochenübergreifende Band mit einem zeitlichen Schlusspunkt im Jahr 1648 versucht langfristige Entwicklungslinien in einer überschaubaren Region in den Blick zu nehmen, war doch gerade der hessische Raum „eine Konfliktzone profilierter, ehrgeiziger und auf Landesausbau bedachter Territorialherrschaften“ (XI). Letztlich werden mit Frieden (bzw. Krieg) und (dem Interesse an) Sicherheit auch hier Thematiken aufgegriffen, die bereits im Fokus der beiden vorherigen Publikationen standen. Während die frühere Forschung vorrangig großen und prominenten Friedensschlüssen Beachtung schenkte, rückten seit den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts auch Methoden, Instrumente und Techniken der Friedenswahrung und -sicherung in den Blick. Seit dem 14. Jahrhundert spielten im Reich Landfriedensbünde und Erbeinungen eine zentrale Rolle. Mehrere Beiträge des Bandes befassen sich mit der Herstellung religiösen bzw. konfessionellen Friedens. Ein Hauptproblem war – das stellen die Beiträge wiederholt heraus – die in der Regel wenig konsequente und systematische Durchsetzung der Friedenssicherung. Fehde und nicht Friede stellte somit letztlich den Normalfall dar: „Krieg war gleichsam ubiquitär“ (79; Christine Reinle). Schon in den spätmittelalterlichen Landfriedensbünden spielten die hessischen Landgrafen eine zunehmend bedeutende Rolle. In den 1530er Jahren wurde die Landgrafschaft im Hinblick auf die innerprotestantische Bündnispolitik dann gar zu einem „Scharnier zwischen zwei getrennten Bündnissystemen“ (139; Wolf-Friedrich Schäufele). Im Dreißigjährigen Krieg fungierte Hessen-Kassel schließlich als „Dienstleister der schwedischen Krone“ und diente Schweden als Bindeglied zu den protestantischen Reichsständen, während es wenige Jahre später zu dessen „Partner mit Retterqualitäten“ avancierte (205, 213; Dorothée Goetze). Auch die Frauen des hessischen Landgrafenhauses konnten als Regentinnen friedensstiftende Funktionen wahrnehmen. So wird die LandgräfinRegentin Amalie Elisabeth in der Forschung gar als „Architektin der Friedensordnung“ (231, 244) von 1648 tituliert, wenngleich sie sich selbst offensichtlich gar nicht in dieser Rolle sah (Kerstin Weiand). An die zehn Aufsätze schließt sich ein farbig bebilderter und kommentierter Katalog an, der aus Beständen des Staatsarchivs Marburg und des Archivs der Philipps-Universität Marburg zusammengestellt wurde.
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Die drei Publikationen nähern sich auf unterschiedlichen Wegen der Thematik des dynastisch-territorialen Aufstiegs Hessens bei gleichzeitiger Friedenssicherung. Während der Tagungsband von 2017 die Person Landgraf Carls in den Mittelpunkt stellt und sein breites Repertoire an Betätigungsfeldern präsentiert, das letztlich diese beiden Ziele verfolgte, tut es Philip Haasʼ Dissertation über einen längeren Zeitraum für die ganze Dynastie des Hauses Brabant. Der Band von 2014 setzt früher an, beschreibt Bündnissysteme von überregionaler bis zu reichsweiter Relevanz und fragt nach der spezifischen Rolle, die den Landgrafen und -gräfinnen dabei zukam. Alle drei Publikationen von Spezialisten der hessischen Geschichte eröffnen wertvolle Zugänge für zukünftige Forschungen zur Landgrafschaft sowie den Vergleich mit anderen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Dynastien und Territorien des Reiches und Europas. Andreas Flurschütz da Cruz
Bamberg
DIETER WUNDER: Der Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts – Herrenstand und Fürstendienst. Grundlagen einer Sozialgeschichte des Adels in Hessen (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 84), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2016, 858 S., Abb., (ISBN 978-3-942225-34-2), 39,00 EUR. Dieter Wunder kann in seinem umfangreichen Werk an eigene Vorarbeiten zum Thema anknüpfen. Ausgehend insbesondere von Gregory Pedlows 1988 erschienener Arbeit „The Survival of the Hessian Nobility 1770–1870“ sowie aus den 2010 edierten „Tagebuchaufzeichnungen (1794–1798) des Georg Ernst von und zu Gilsa“ schöpfend, legt Wunder eine Sozialgeschichte des Adels in Hessen vor, die in ihrer Breite und Tiefe Maßstäbe setzt und künftig für Fragen zu hessischen Adelsgeschlechtern, insbesondere im 18. Jahrhundert, als Referenzwerk dienen dürfte. Aber was ist überhaupt Adel? Wunder unterscheidet „(alt)hessischen“, neuhessischen und ausländischen Adel. Landgraf Philipp der Großmütige übertrug 1532 der im Land ansässigen Ritterschaft die Stifte Kaufungen (in Niederhessen) und Wetter (in Oberhessen), um aus deren Erträgen armen Töchtern eine Ehesteuer zu gewähren. Die Begriffe Adel und Ritterschaft wurden zu dieser Zeit noch unterschiedslos gebraucht, Ritterschaft meinte nicht nur die Kurie des Landtags, sondern auch den Zusammenschluss aller hessischen landsässigen Adligen. Zu deren organisatorischem Mittelpunkt wurde zunehmend das Stift Kaufungen. Nach dem Tode Landgraf Philipps 1567 und der Teilung Hessens entwickelte sich der Erbmarschall, traditionell gestellt vom Ältesten des Geschlechts der Riedesel zu Eisenbach, zum „Haupt der Ritterschaft“ (339). Dem Amtsinhaber fiel nicht nur die Koordination der Anliegen der Ritterschaft zu, sondern er nahm faktisch auch die Funktion eines Sprechers auf den Landtagen wahr. Daneben wuchsen die mit der Verwaltung des gesamthessischen ritterschaftlichen Stifts betrauten Obervorsteher zunehmend in die Rolle von Repräsentanten der Ritterschaft gegenüber den Landgrafen in Kassel und Darmstadt hinein. Die zunächst sechs, später vier Obervorsteher wurden erstmals 1532 von der Ritterschaft gewählt und ergänzten sich danach selbst, wobei auf die Vertretung der unterschiedlichen Landesteile geachtet wurde. Die alle drei Jahre stattfindenden Rechnungstage in Kaufungen, zu denen sich neben je zwei Vertretern beider Landgrafen, dem Erb-
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marschall und den Obervorstehern acht von Letzteren nach den Strömen Fulda, Werra, Diemel und Schwalm sowie je zwei aus dem kasselischen und darmstädtischen Oberhessen ernannte Deputierte des Adels trafen (338), wurden zu wichtigen Versammlungen der gesamthessischen Ritterschaft, die nicht zuletzt der Kommunikation in die einzelnen Herkunftsquartiere dienten. Ein Adliger ohne Rittergut war nur schwer vorstellbar. Das Rittergut sicherte nicht nur seine finanzielle Lebensgrundlage, sondern bildete auch die Basis seiner lokalen Herrenstellung, weshalb Wunder auf die Darstellung der „komplexen ökonomischen Aspekte[n]“ (97), einschließlich der Weitergabe des Ritterguts an die nachfolgende Generation, großes Gewicht legt. Das eigene Gut bedeutete nicht nur Lust, sondern konnte im Hinblick auf den Verwaltungsaufwand und die erforderliche Präsenz auch zur Last werden. Dies zeigt er am Beispiel mehrerer Familien wie der von Baumbach und von Buttlar sowie anhand der Besitzverhältnisse im Ort Schrecksbach, wobei er auch auf das Beziehungsgefüge zwischen Adligen und unterschiedlichen Lehensherren eingeht. Wunder beleuchtet außerdem die Reichweite der adligen Gerichtsherrschaft und ihr Verhältnis zur landgräflichen Landesherrschaft, ohne den Bedarf an hier noch zu leistender intensiver Forschung zu verschweigen. Der Abschnitt zum Rittergut lässt eine große Stärke des Buches deutlich werden: Wunder versteht es nicht nur, seine aus den Akten gewonnenen detaillierten Erkenntnisse zu systematisieren, sondern verarbeitet sie auch immer wieder zu anschaulichen Tabellen und Grafiken. Zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert wurde es zunehmend selbstverständlicher, dass sich Adlige entweder aus freien Stücken oder, wenn der Ertrag des Rittergutes für ein standesgemäßes Leben nicht ausreichte, in den Dienst von Fürsten begaben, auch solchen außerhalb Hessens. Die fürstliche Verwaltung bot aber nur eine geringe Anzahl an Stellen und erforderte vor allem eine hohe Qualifikation, die oft nur durch ein Universitätsstudium erfüllt werden konnte, über das nur wenige Adlige verfügten. Die traditionelle Ausbildung im Pagendienst oder auf einer Ritterakademie, möglicherweise gefolgt von einer Kadettenzeit, bereitete hingegen auf eine militärische oder höfische Karriere vor. Allerdings ließen sich Fürstendienst, insbesondere auswärtiger, und die Pflichten als Adliger in Hessen, erst recht bei der Übernahme ritterschaftlicher Ämter, nicht immer miteinander vereinbaren. Der Wandel der Zeit führte zur Ansiedlung ausländischer Adelsgeschlechter in Hessen wie zur Nobilitierung verdienter Beamter und ihrer Familien; beiden Gruppen gelang es auch, Güter zu erwerben. Allerdings versuchte die hessische Ritterschaft, sich gegen die Aufnahme neuer Geschlechter in ihre Reihen, die auch anspruchsberechtigt auf die Leistungen der Stifte gewesen wären, abzuschließen, indem sie 1736 in einem – von den Landgrafen nicht anerkannten – neuen Adelsstatut und schließlich einvernehmlich 1756 die Mitgliedschaft auf die „philippinischen Geschlechter“ begrenzte, also an „das Recht auf Landtagsbesuch zu Zeiten [Landgraf] Philipps zusammen mit der Erbhuldigung 1567“ knüpfte (499). Diese Abschließung nach außen erfolgte nicht ohne Konflikte und Paradoxien. Dabei geht Wunder, unter Berücksichtigung der spezifischen konfessionellen Situation Hessens, auch auf die besonderen Schwierigkeiten katholischer Adliger in der Auseinandersetzung um Teilhabe ein. Statt nur für die Ehesteuer armer adliger Töchter und die finanzielle Versorgung von Adelswitwen zu sorgen, wäre – wie in anderen Territorien – auch die Gründung eines
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adligen Damenstifts möglich gewesen, die vor allem Landgraf Karl von Hessen-Kassel (reg. 1677–1730) favorisierte, gegen die sich aber die Vertreter der Ritterschaft, die die Preisgabe des karitativen Zwecks der Stifte und die Überführung in eine landgräfliche Versorgungsanstalt fürchteten, entschieden und letztlich erfolgreich wehrten. Das nach einer Einleitung übersichtlich in sechs Teile gegliederte, durch jeweils thematisch passende Exkurse ergänzte Buch, bietet nach dem Schlussteil, in dem auch einflussreiche Forschungspositionen problematisiert werden, noch fast neunzig Seiten Anhänge, die in detaillierten Aufstellungen die Sachverhalte der einzelnen Teile vertiefen. Abgerundet wird es durch mehrere Verzeichnisse, einschließlich einer Zeittafel zur Geschichte Hessens und seines Adels, sowie ein „Personen- und Korporationsregister“ und ein „Register der geographischen Namen und Fürstenstaaten“. Im Text wie in den Addenda finden sich zudem Porträts der behandelten Personen und lesbare Reproduktionen aus Archivalien. Dieter Wunder ist mit dieser Arbeit in ihrer stupenden Detailfülle ein Buch gelungen, das man für seine Stringenz und die in ihm steckende Arbeitsleistung und Disziplin nur bewundern kann. Dieses Werk, das auch durch seine optische Aufmachung besticht, zwischen zwei Buchdeckel gebracht zu haben, verdient höchste Anerkennung. André Junghänel
Oldenburg
HOLGER TH. GRÄF: „Ein Held“. Eitel Philipp Ludwig von und zu Gilsa (1700–1765). Eine biographische Skizze anlässlich seines 250. Todestages. Mit einem Beitrag von Friedrich-Wilhelm v. u. zu Gilsa (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 46, Kleine Schriften 14), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2015, 120 S., 42 farb. Abb., (ISBN 978-3-942225-29-8), 20,00 EUR. Der Generalleutnant der Infanterie Eitel Philipp Ludwig von und zu Gilsa war einer der herausragenden hessen-kasselischen Militärs im Siebenjährigen Krieg. In dem zu besprechenden Bändchen setzt sich Holger Th. Gräf bereits zum wiederholten Mal mit der Geschichte dieser Familie bzw. einzelnen ihr entstammenden Mitgliedern auseinander. Die disparate archivalische Überlieferung erlaubt keine geschlossene und zusammenhängende Lebensbeschreibung des Adligen; die Publikation versucht deshalb anhand ausgewählter Beispiele, „schlaglichtartige Einblicke in die Lebenswelt und die Handlungsfelder Eitel Philipps v. u. zu Gilsa“ zu geben (6 f.), der während seiner vielen Jahre auf den europäischen Schlachtfeldern des 18. Jahrhunderts nicht nur den Tod seines durch eine Kanonenkugel getroffenen ältesten Sohnes erleben musste, sondern auch Augenzeuge wurde, wie eine andere Kugel seinem zweitältesten Sohn den Arm zerfetzte. Eitel Philipp kam im Jahr 1700 als elftes Kind und erster Sohn seiner Eltern zur Welt. Etliche Jahre seiner Jugend verbrachte er zu Ausbildungszwecken als Page am Darmstädter Hof, bevor er sich seiner militärischen Karriere zuwandte. Von den dort möglichen Aufstiegs- und Verdienstchancen abgesehen war die Haupterwerbsquelle Eitel Philipps und die Ernährungsgrundlage seines Haushalts die eigene Landwirtschaft, die mit je vier Pferden und Ochsen, sieben Kühen und 200 Schafen einen bescheidenen Umfang aufwies. Desto wichtiger nahmen sich der Offizierssold und die Einkünfte aus der Kompanie- bzw. Regimentswirtschaft aus (40).
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Um diesem „Helden“ auf engem Raum eine Biographie zuzueignen, führt Gräf eine Vielzahl von Quellen zu Eitel Philipp von und zu Gilsa zusammen, die weit über das benutzte Schriftgut im Familienarchiv der von Gilsa hinausgehen, das sich seit 2013 als Depositum im Staatsarchiv Marburg befindet. Gräf bettet Schlaglichter seines Lebens in die makrogeschichtlichen (Kriegs-)Ereignisse ein, die die hessische Landgrafschaft ebenso betrafen wie das Reich und Europa. Dabei geht es nicht allein um den Protagonisten, sondern auch um dessen Familie, besonders um seine Ehefrau – und mit ihr generell um die Handlungsspielräume von (adligen) Frauen –, vertrat sie ihren oft abwesenden Mann doch zeitweise in zentralen Angelegenheiten der Grund- und Gerichtsherrschaft. Eine der Hauptquellen zu Eitel Philipp von Gilsa stammt aus der Feder seines Sohnes, Adjutanten und ersten Biographen Georg Ernst von und zu Gilsa, der mit 14 Jahren seine Tagebuchaufzeichnungen begann, die sich stark auf die militärischen Verdienste seines Vaters konzentrieren und die er bis kurz vor seinem Tod im 58. Lebensjahr fortsetzte. Das Journal Georg Ernsts bietet zum Teil bis auf die Stunde genaue Informationen zu politischen, militärischen, wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und persönlichen Ereignissen, die Gräf im vorliegenden Band verarbeitet. Auf diese Aufzeichnungen folgte im 19. Jahrhundert eine im Wesentlichen von Eitel Philipps Urenkel, dem preußischen Generalmajor Friedrich Wilhelm von und zu Gilsa, betriebene „Memorialkampagne“ (90) zugunsten des „heldenhaften“ Vorfahren. Wenngleich der Waschzettel beteuert, die vorliegende Darstellung beschränke sich nicht auf Eitel Philipps militärische Karriere im Siebenjährigen Krieg, sondern nehme auch seinen familiären Hintergrund, seine Erlebnisse im Polnischen Thronfolgekrieg (1733– 1738) und im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748), sein Wirken als adliger Gutsherr sowie die spezifische Pflege seiner Memoria in den Blick, handelt es sich doch über weite Teile eher um eine Kriegs- bzw. Regimentsgeschichte als um eine Biographie. Sie wird illustriert durch zahlreiche Porträts sowie durch umfangreiches Kartenmaterial aus dem hessischen Hauptstaatsarchiv Marburg und abgeschlossen durch das „bewußt gewählte ‚unwissenschaftliche‘ literarische Genre des ‚Offenen Briefs‘“ von Eitel Philipps gegenwärtigem Nachfahren Friedrich-Wilhelm von und zu Gilsa, der „einen Eindruck von der lebendigen Erinnerung an diesen Mann in der heutigen Familie“ geben möchte (VII). Die Publikation bietet somit eine Vielzahl inhaltlicher Anreize, die sowohl für die mikrohistorisch ausgerichtete Adels- und Militärgeschichte als auch für die Gilsa’sche Familienmemoria und sogar für die Literaturwissenschaft Anregungen liefern können. Andreas Flurschütz da Cruz
Bamberg
MARTIN RHEINHEIMER: Ipke und Angens. Die Welt eines nordfriesischen Schiffers und seiner Frau (1787–1801) (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte SchleswigHolsteins 55), Stuttgart: Steiner 2016, 161 S., 17 s/w Abb., 7 s/w Fotos, (ISBN 978-3515-11432-5), 29,00 EUR. Mit der Edition eines privaten Briefwechsels, mittels dessen sich ein Schiffer aus Nordfriesland mit seiner Frau austauschte, ermöglicht Martin Rheinheimer einen Einblick in die Lebenswelten der einfachen Bevölkerung der Halligen. Der Edition der Briefe stellt er einen ausführlichen Kommentar voran, in dem er die in den Briefen und zum Verständnis
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des Inhalts derselben wichtigen Themenfelder der Herkunft des Paares, der Seefahrt, der sozialen Beziehungen, der Wirtschaft, des Glaubens sowie zeitgenössischer Diskurse und Identitäten klärt. Die 30 Briefe, von denen der letzte auch Nachrichten eines Sohnes des Paares enthält, sind als unvollständige Sammlung im Nachlass von Friedrich Paulsen am Nordfriisk Instituut erhalten und stammen aus den Jahren 1787 bis 1790, 1790 bis 1795 und 1801. Rheinheimer untersucht diese als Ausdruck der Diskurse, in die Ipke und Angens Petersen involviert waren (11–13). Die Briefe sind zu gleichen Teilen von Ipke und Angens eigenhändig auf Hochdeutsch geschrieben und mit dialektalen sowie dänischen und niederländischen Phrasen durchsetzt. Wie Rheinheimer ausführt, wurde die Identifikation der Person des Ipke Petersen dadurch erschwert, dass sein Name auf der Hallig Oland zur fraglichen Zeit doppelt vorkam (26) und Namen besonders im Seehandel mit den Niederlanden auch oft hollandisiert wurden (23). Der Seefahrer stammte aus einer Kapitänsfamilie und heiratete Angens im Jahr 1770 (24 f.). In den Briefen und aus der Recherche des Autors erfährt der Leser, dass das Ehepaar Petersen auf einer kleinen Insel mit rund 200 Einwohnern vor der Küste Schleswigs lebte (16–19, 21). Politisch lag die Heimat des Paares damit im Herzogtum Schleswig, das bis 1866 zum dänischen Gesamtstaat gehörte. Ipke war von 1772 bis 1776 als Steuermann tätig, verdiente seit 1777 sein Geld als Küster und Schulmeister auf Oland und fuhr nach 1786 wieder zur See (26–28). Besonders die frühen Jahre sind insofern beispielhaft, als junge Männer von den Halligen – wie auch die Söhne Ipkes – häufig zur See fuhren (48 f.). In den folgenden Jahren konnte er sich ein kleines Schiff anschaffen und betätigte sich vor allem in der Küstenfahrt. Nach dem Verkauf seines Schiffes aus wirtschaftlichen Gründen arbeitete er in den 1790er Jahren als Kapitän unter fremder Heuer (28–42). Bedingt durch die berufliche Abwesenheit des Mannes, der aufgrund seiner Tätigkeit häufig mehrere Monate im Jahr keinen persönlichen Kontakt zu seiner Familie halten konnte, führte die Ehefrau den Haushalt und kümmerte sich um den landwirtschaftlichen Betrieb, der aus einer kleinen Viehhaltung bestand. Eine große Rolle spielt daher die schriftliche Information bzw. Beratschlagung über alltägliche Dinge wie die Organisation und Versorgung der Familie, zu welcher Ipke nicht nur finanziell, sondern auch durch die Besorgung von Kleidung und Lebensmitteln sowie Luxusgütern (Kaffee, Teezucker oder Baumwolle, 66–69) beitrug. Daneben kommen auch Ipkes Verhältnis zu Berufskollegen und seine Investition in ein eigenes Schiff zur Sprache. Auch mentalitätsgeschichtlich interessante Einstellungen und Haltungen der beiden Protagonisten, beispielsweise zu Tod und Sterblichkeit, werden offengelegt. Ganz selbstverständlich war der Glaube Bestandteil des täglichen Lebens: eine Stütze für die Zeit der Trennung, Schutz für den Seemann und Trost beim Verlust nahestehender Menschen, mit dem das Paar immer wieder konfrontiert wurde (72–75). Die Ausrichtung des Lebens auf das Jenseits wird auch deutlich in Ipkes Anfertigung religiöser Schriften und Betrachtungen. In den Briefen tauchen Formeln wie „Gott mit uns, der Herr mit uns, seine Engel unsere Geleiter“ (102) oder „[l]iwe Gott, hätten wir man gute Nachricht von unsern lieben Vater“ (131) und Wünsche wie der folgende: „Doch genug ist es, wir freuen uns, wenn dieses Leben abgelaufen, dass wir denn in jenem Leben in himmlischer Freude miteinander Leben, ohne Aufhören“ (128) immer wieder auf. Der Autor und Herausgeber
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interpretiert Ipke und Angens als „religiöser als der Durchschnitt ihrer Zeit“, und er arbeitet heraus, dass beide von Spätpietismus beeinflusst waren, sich im Kreise erweckter Christen bewegten und mit diesen kommunizierten (80–84). Rheinheimer arbeitet also mikrogeschichtlich; gleichwohl kann diese Edition als durchaus exemplarisch für viele sozialgeschichtliche Themen gelten, mit denen eine norddeutsche Familie Ende des 18. Jahrhunderts konfrontiert war. Das Buch spricht somit sowohl regionalgeschichtlich Interessierte als auch Sozialhistoriker an. Gut greifbar wird in den Briefen die persönliche Beziehung der beiden Ehepartner, die man als innig und liebevoll bezeichnen kann und die durch die Sorge um das Wohlergehen des jeweils anderen und um die gemeinsamen Kinder sowie durch gegenseitige Ermunterungen mit Worten wie „[h]erzvielgeliebte Ehefrau“ (101), „[g]eliebte Ehegemahl“ (105) oder „[i]ch küsse und grüße von heute“ (111) ausgedrückt wird. Beide hatten während Ipkes Reisen Sehnsucht nacheinander und freuten sich auf kommende gemeinsame Momente, wie in anderen Formulierungen deutlich wird (46 f.). Aber nicht nur Neuigkeiten im eigenen Leben und dem der sechs Kinder, von denen nur eines die Eltern überlebte, finden sich in der Kommunikation wieder, sondern auch andere Bewohner Olands oder die berufliche Tätigkeit Ipkes. Insofern waren die Briefe auch ein Mittel, um sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten und an Geschehnissen im Leben des Partners teilzuhaben. Teilweise wurden die Briefe von Ipke sehnsüchtig erwartet, zumal diese in unregelmäßigen Abständen verfasst wurden und die Zustellung durch die Post oder durch Bekannte, denen man die Briefe auf ihrer eigenen Reise mitgeben konnte, nicht immer sicher war (50). Sicher hätten Aspekte wie die genannten Formeln und ihre Entsprechung zu Vorgaben der Briefsteller im 18. Jahrhundert, die Namensgebung (u. a. der Kinder) oder das Selbstbild von Ipke und Angens noch nähere Betrachtung verdient – dies wird aber durch die handwerklich hervorragende Edition, deren Grundsätze auf Seite 100 erläutert werden, und den detaillierten Kommentar weiterer Forschung überhaupt erst ermöglicht. Der Band schließt mit einem Glossar norddeutscher, seemännischer und altertümlicher Bezeichnungen und einem Personenverzeichnis, sodass der Text der Briefe insgesamt leicht zu erschließen ist. Tiefergehende geschichts- und sogar sprachgeschichtliche Arbeiten zu diesem bemerkenswerten Selbstzeugnis sind daher wünschenswert. Die Karten und Abbildungen – sogar das Haus der Petersens kann identifiziert werden – tragen dank Rheinheimers profunder und fast detektivischer Forschung dazu bei, dass „[d]ie Welt eines nordfriesischen Schiffers und seiner Frau“ besonders plastisch erscheint. Als Beispiele seien nur Fotografien von Handarbeiten der Tochter Vollig Christina, die der Autor im Nordseemuseum Husum ausfindig machen konnte, oder das Epitaph Ipke Petersens in der Oländer Kirche genannt. Sandra Schardt
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CHRISTINE BRAUN: Die Entstehung des Mythos vom Soldatenhandel 1776–1813. Europäische Öffentlichkeit und der ‚hessische Soldatenverkauf‘ nach Amerika am Ende des 18. Jahrhunderts (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 178), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2018, 296 S., 85 s/w Abb., (ISBN 978-3-88443-333-1), 28,00 EUR. Seit dem 17. Jahrhundert war es gängige und in der Öffentlichkeit als normal empfundene Praxis, dass kleinere und mittlere Reichsterritorien ihre neuen stehenden Heere ins Ausland vermieteten, nicht zuletzt mit dem Ziel, diese dauerhaft und somit auch in Friedenszeiten unterhalten zu können. Erst mit dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in dem England Hilfstruppen von sechs deutschen Fürstentümern anwarb, änderte sich diese Sichtweise grundlegend. In ihrer an der Philipps-Universität Marburg entstandenen Dissertation (2017) geht Christine Braun dem auf zahlreichen Stereotypen aufbauenden Mythos vom Soldatenhandel auf den Grund, demzufolge despotische, verschwenderische und deswegen in finanzielle Nöte geratene Reichsfürsten und insbesondere der Landgraf von Hessen-Kassel in der Spätphase des Alten Reiches zur Generierung neuer Einnahmen und Finanzierung ihres ausufernden Lebenswandels ihre „Landeskinder“ als Soldaten ins Ausland vermieteten, wobei ihnen daran gelegen war, dass möglichst viele ihrer Untertanen im Einsatz stürben, da sie für gefallene Soldaten zusätzliches Geld erhielten (Blutgeldklausel; 145). Braun betrachtet zu diesem Zweck sowohl deutsche als auch britische Quellen, wobei sie sich mit (anonymen) Flug- sowie Zeitschriften, literarischen Texten (Romane, Dramen), Reiseberichten, Parlamentsdebatten und Zeitungen auf gedrucktes Material beschränkt. Die Ablehnung der Truppenvermietungen im deutschsprachigen Raum stellt sie der in England geäußerten Kritik gegenüber. Vorab erläutert Braun ihr Verständnis des Begriffes von (Teil-)Öffentlichkeit(en), fand(en) diese in England doch unter ganz anderen Bedingungen statt und hatte(n) mit den Parlamentsdebatten und den darüber berichtenden Zeitungen andere strukturelle Voraussetzungen als im Reich, wo sich die Soldatenhandelskritik als Diskussion im gebildeten Bürgertum und im Adel formierte und in Zeitschriften und Büchern geführt wurde. Im Widerspruch dazu und möglicherweise etwas blauäugig konstatiert Braun dennoch, dass schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts „alle Bevölkerungsschichten an Politik interessiert“ gewesen seien und darüber gesprochen hätten (54). Es war die Landgrafschaft, die in diesem Zusammenhang zum „Synonym für den Soldatenverkauf im Unabhängigkeitskrieg“ (163) schlechthin wurde, hatte sie doch einen der ersten, umfangreichsten und lukrativsten Verträge mit England abgeschlossen. Gleichzeitig setzte in den deutschsprachigen Texten aber auch eine Generalisierung des Bilds im Sinne einer allgemeineren Herrscher- und Herrschaftskritik ein. Die analysierten Texte ordnen den Soldatenverkauf in die traditionelle Hof- und Fürstenkritik ein und brandmarken ihn letztlich, gelegentlich mittels der Verwendung allegorischer Fürstenfiguren und fiktiver Reichsterritorien, als „Gipfelpunkt, schlimmster Auswuchs und stärkstes Beispiel einer verfehlten fürstlichen Herrschaftsweise“ (263). Während im deutschsprachigen Raum immer auch die Option mitschwang, die Soldaten lediglich als Werkzeuge und Opfer des feudalen Systems zu verstehen, verschmolzen die Mietsoldaten in den britischen Medien mit ihrem Fürsten zu einer „Phalanx der Tyrannei“ (198).
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Die Kritik am Soldatenhandel war sowohl im Reich als auch in Teilen der englischen Gesellschaft mit einer positiven Sichtweise des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs verbunden. Während vielen Engländern der „Bruderkrieg“ gegen ihre amerikanischen Mitbürger ein Dorn im Auge war, der durch einen ursprünglich ‚ausländischen‘, nämlich deutschen König initiiert wurde, der seine in Personalunion regierten deutschen Territorien bevorzuge und im Extremfall sogar einen Umsturz der bisherigen englischen Ordnung anstrebe, entzündete sich die Diskussion im Reich v.a. an den Fürsten, die ihre Truppen vermieteten, sich dadurch dem amerikanischen Kampf für Freiheit in den Weg stellten und gleichzeitig ihre Untertanen in einem sie nicht betreffenden Konflikt auf einem fremden Kontinent Todesgefahr aussetzten, das eigene Territorium hingegen weitgehender Schutzlosigkeit. Sorgen über Entvölkerung und wirtschaftlichen Schaden spielten hier eine zentrale Rolle. Diese „neue Qualität der Truppenvermietungen“ (88) identifiziert Braun als wohl wichtigsten Auslöser für deren nun heftige Ablehnung und Instrumentalisierung zugunsten einer grundlegenden Herrschaftskritik und entsprechender Reformforderungen im Reich (‚Kleinstaaterei‘). In England hingegen war die Kritik keine moralische und war nicht grundsätzlich gegen die Truppenvermietungen gerichtet. Die oppositionellen Abgeordneten setzten sie vielmehr kurzfristig und zweckgebunden ein, um die Regierung zu attackieren. Im Reich aber zielte die Kritik auf eine langfristige Umgestaltung des bestehenden Herrschaftssystems. Die in England und Deutschland jeweils ganz anders geartete Kritik führt Braun auf die „völlig unterschiedlichen Öffentlichkeiten“ und „differierende Mentalitäten“ (254) in beiden Ländern zurück. Das in der deutschsprachigen gebildeten Öffentlichkeit geäußerte negative Mietsoldatenbild interpretiert sie als (wenngleich verhaltenes) Indiz eines mentalen Wandels hin zu Patriotismus und Nationalismus. In England habe Ende des 18. Jahrhunderts indes ein weitgehender Konsens in der Ablehnung von Veränderungen der bestehenden Gesellschafts- und Herrschaftsstruktur geherrscht (254). Gewinnbringend nimmt sich die für die Arbeit zentrale theoretische Grundlegung von Brauns Qualifikationsschrift aus, die auf dem Mythosbegriff, der Mythosgenese bzw. -analyse fußt und exemplarisch mit der Subsidienthematik gekoppelt wird: Vorbereitet durch ein Soldatenhandelsnarrativ, greift der Mythos bestimmte Erzählzusammenhänge und Schlüsselwörter immer wieder neu auf. Besonders auffällig am gewählten militärhistorischen Exempel ist die Verwendung von Terminologie und Bildern, die die Vermietungen in die Nähe des Viehhandels rücken (Soldaten als Schlachtvieh). Der Autorin gelingt es am konkreten Beispiel nachzuweisen, wie anpassungsfähig an verschiedene politische Kontexte der Mythos vom Soldatenhandel im Laufe der Geschichte war. Christine Braun bewegt sich mit ihrer Studie an der Schnittstelle zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die Werke, die Brauns Corpus bilden, als repräsentativ zu werten sind, unterscheiden sie sich doch teils erheblich (246 f.). Dem Autor Rudolf Erich Raspe beispielsweise attestiert selbst Braun eine „in der Ausrichtung seines Romans auf das englische Publikum“ (249) und dessen Wünsche begründete Schreibmotivation. Parallele, leserorientierte Motive und Strategien lassen sich auch in anderen Texten vermuten. Zwar können die analysierten literarischen Zeugnisse durchaus als „Beleg für die Wirkmacht, die das Narrativ vom Soldatenhandel bereits im frühen 19. Jahrhundert besaß“ (170), gelten. Inwieweit in ihnen, wie beispielsweise in Johann Pezzls Roman Faustin, „[d]ie Grenze zwischen Fiktion und realen Begebenheiten verschwimmt“ (224), muss allerdings offen bleiben. Die
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potentielle Fiktionalität der Werke, auf denen Brauns Argumentation fußt, muss somit in der Analyse und Auswertung hinsichtlich ihrer historischen Aussagekraft stets mitgedacht werden, was freilich ein literarisches Problem generell darstellt: Es hat, um es noch einmal mit der Autorin zu sagen, als zweifelhaft zu gelten, „dass es sich hierbei um ein authentisches Dokument handelt. Vielmehr ist zu vermuten, dass es sich um eine fiktive […] Rede handelt“ (166). Bei dem Versuch, auf dieser Basis Rückschlüsse auf tatsächliche historische Gegebenheiten zu schließen, ist Vorsicht geboten. Für die Rekonstruktion eines innerhalb dieses Genres entstandenen literarischen und schließlich gesellschaftlichen und historischen Mythos eignet es sich indes allemal. Andreas Flurschütz da Cruz
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4. 19. und 20. Jahrhundert PETER EITEL: Geschichte Oberschwabens im 19. und 20. Jahrhundert. Band 1: Der Weg ins Königreich Württemberg (1800–1870), Ostfildern: Thorbecke, 2010, 400 S., etwa 260 großteils farb. Abb., (ISBN 978-3-7995-0852-0), 29,90 EUR; Band 2: Oberschwaben im Kaiserreich (1870–1918), Ostfildern: Thorbecke 2015, 400 S., über 200 großteils farb. Abb., Karten, Diagramme, (ISBN 978-3-7995-1002-8), 29,90 EUR. Ein zweibändiges Werk zu rezensieren, das sich mit einer relativ ungenau abgrenzbaren Landschaft und ihrer bislang noch nicht umfassend dargestellten Geschichte vom Ende des Alten Reiches und bis zum Ersten Weltkrieg befasst, ist nicht die leichteste Übung; eine solche zu schreiben, sicherlich noch viel schwieriger. Peter Eitel ist dies mit seinem bislang zweibändigen Werk zur Geschichte Oberschwabens im 19. und 20. Jahrhundert in ausgezeichneter Weise gelungen. Will man sich über die Region Oberschwaben – jenen Raum zwischen Schwarzwald, Schwäbischer Alb, Allgäuer Alpen und Bodensee – gründlich historisch informieren, ist der Griff nach diesen beiden Bänden ein Muss. Wie in den Titeln angezeigt, werden die jeweiligen Zeiträume thematisch im Hinblick auf politische, wirtschaftliche und demographische Entwicklungen sowie auf das Fürsorge- und Bildungswesen, Konfession und Kirche, Kunst und Kultur und nicht zuletzt Mentalität und Brauchtum behandelt. Dem ersten Band ist die Situation in Oberschwaben um 1800 sowie das erste Jahrzehnt im Königreich Württemberg vorangestellt, während der zweite nach einer kurzen Zusammenfassung des ersten Bandes konsequenterweise mit dem deutsch-französischen Krieg beginnt und mit dem Ersten Weltkrieg endet. Diese Grobeinteilung wird sehr differenziert untergliedert, so dass es möglich ist, gezielt zu bestimmten Themen nachzulesen. Die ‚Geschichte Oberschwabens‘ ist aber kein Nachschlagewerk, das sich auf bereits vorhandene Literatur stützt und somit ‚nur‘ ein Kompendium wäre: Im Anmerkungsapparat überwiegen Archivquellen beinahe die zitierte Literatur, was neue Einsichten in die Region erlaubt. Und wo immer möglich, unterfüttern visuell gut aufbereitete Diagramme und themennahe Abbildungen die Texte. Abgeschlossen werden die Bände durch Anmerkungsapparate sowie detaillierte Orts- und Personenregister. Soweit zum ansprechenden Äußeren der Bände – und damit zum Inhalt, wobei hier angesichts des Umfangs nicht auf alle Perspektiven eingegangen werden kann.
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Gravierend und problematisch war für Oberschwaben die (erzwungene) Integration in das Königreich Württemberg, zumal in und nach den Koalitionskriegen, in denen vor allem die Städte infolge von Durchzügen, Plünderungen und Einquartierungen kaiserlicher und französischer Truppen finanziell hoch belastet waren. Dazu traten tiefgreifende administrative Umstrukturierungen, z. B. die Schaffung der zentralen Oberämter, die die ehemals adligen und geistlichen Territorien sowie die Reichsstädte ihrer Rechte beraubte. Nicht ganz leicht war zudem die Zusammenführung des evangelischen Württemberg mit dem vorwiegend katholischen Oberschwaben. War der katholische Klerus bis in die 1840er Jahre durch Säkularisation und aufgeklärtes Staatskirchentum geschwächt, wandelte sich dies zur Mitte des Jahrhunderts, als sich im Ultramontanismus eine verstärkte Hinwendung zu Papst und Rom manifestierte, die sich nicht nur in der Wiedereinführung des Weingartner Blutritts 1849 äußerte, sondern auch in der Wiederaufnahme der Missionstätigkeit von Jesuiten und Kapuzinern in der Region. Das bedeutete eine zunehmende Entfremdung vom protestantischen Staat, die mitunter auch, aber nicht nur für die Revolution von 1848/49 eine Rolle gespielt haben mag. Grundsätzlich war Oberschwaben aufgrund seiner landwirtschaftlichen Nutzflächen ein recht wohlhabendes Land, das Handel mit Getreide, Milch- und Fleischprodukten bis in die Schweiz, nach Vorarlberg und in die Regionen südlich des Bodensees trieb. Ursächlich für diesen Export waren – neben der Nachfrage aus den Absatzgebieten – einerseits große Betriebsflächen aufgrund des hier herrschenden Anerbenrechts, das eine Zerschlagung in kleine und kleinste Höfe wie in Realteilungsgebieten verhinderte. Andererseits setzte schon seit dem 18. Jahrhundert im südlichen Oberschwaben und im Allgäu die Vereinödung ein, d. h. durch den Zusammenschluss einzelner Grundstücke entstanden geschlossene und somit effizient zu bearbeitende Betriebseinheiten. Nachteile dieser Flurbereinigung waren schon den Zeitgenossen bewusst: Nicht nur war die Kommunikation zwischen den Hofbesitzern erschwert, da die Höfe weit auseinanderlagen, auch gegenseitige Hilfe und Unterstützung in Notfällen konnte nicht in dem Umfang gewährt werden, wie es in Dorfgemeinschaften der Fall war. Angebaut wurde neben Dinkel, Hafer, Roggen, Gerste und Weizen auch die Kartoffel, die vor allem nach den Krisen- und Teuerungsjahren 1846/47 einen Aufschwung erlebte und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu einem Fünftel der Ernte ausmachte. Getreide dagegen wurde seit dem Eisenbahnbau immer mehr von Importen aus Russland und Ostmitteleuropa verdrängt. Auch der zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch florierende Flachs- und Hanfanbau nahm bis 1850/60 deutlich ab, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Einfuhr von Baumwolle, die in den Textilindustrien verarbeitet wurde. Im Oberamt Tettnang beispielsweise wurden die beiden Rohstoffe 1878 noch auf 41 (Flachs) bzw. 122 (Hanf) Hektar angebaut, 1912 waren es noch zwei bzw. ein Hektar (Bd. II, 93). Der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausbreitende Hopfenanbau steigerte sich ganz erheblich, wobei hier das genannte Oberamt Tettnang eine dominante Rolle einnahm, belief sich sein Anteil am Hopfenanbau der Region 1912 doch auf 25% des Gesamtertrages. Parallel dazu expandierte der Obstanbau im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die sinkende Getreidenachfrage wurde nicht nur durch den Anbau von Hopfen, Wein und Obst aufgefangen, sondern auch durch die Ausweitung der Vieh- und Milchwirtschaft. Zum Teil übertraf die Zahl an Rindvieh die Bevölkerungszahl, so in den Oberämtern Wangen, Leutkirch, Waldsee und Ellwangen 1862. Zugleich hatte sich der Stück-
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preis eines Rindes seit den 1830er Jahren fast verdreifacht (Bd. I, 141). Damit ging eine Ausweitung der Käsereiwirtschaft einher, deren Produkte bis nach Mittel- und Norddeutschland ausgeführt wurden. Dieser lukrative Aufschwung im Bereich der Fleischund Milchwirtschaft bis zum Ersten Weltkrieg wurde durch die Pferdezucht ergänzt, waren Pferde doch unentbehrlich für landwirtschaftliche Arbeiten sowie für das Militär. So deutlich die Landwirtschaft zwischen dem Ende des Alten Reiches und dem Ersten Weltkrieg wuchs, so wenig vermochte die Industrialisierung in Oberschwaben in größerem Ausmaß Fuß zu fassen. Bis zum deutsch-französischen Krieg blieben Handwerk und Industrie trotz Gewerbeordnungen (1828/36), Gewerbefreiheit (1862) und staatlicher Förderungen hinter den Entwicklungen z. B. in Ostschwaben zurück. Das mag weniger an dem „restriktiven, jede Eigeninitiative erstickenden System der Zunftvorschriften“ (Bd. I, 147) gelegen haben als vielmehr an der geringen Kapitalkraft von Investoren sowie der Randlage Oberschwabens mit seiner unzureichenden Infrastruktur. Mit dem Ausbau der Eisenbahnstrecken und dem Eingreifen Schweizer Unternehmer endete zwar dieser Stillstand, so dass ab den 1870er Jahren – allen voran im Oberamt Ravensburg, in dem 1907 ein Drittel aller Industriearbeiter lebte (Bd. II, 116) – von einer zunehmenden Industrialisierung in den Bereichen Textil, Metall, Maschinenbau und Papiererzeugung gesprochen werden kann. Neben den genannten Industriezweigen bildeten sich auch neue Betriebe heraus, beispielsweise in Biberach die Blechspielwarenherstellung oder in Ehingen die Zementindustrie. Dennoch blieb Oberschwaben bis zum Ersten Weltkrieg eher ein agrarwirtschaftlich geprägtes Land mit industrialisierten Enklaven. In demographischer Hinsicht vermochte das Land zwischen Alb und Bodensee nicht mit anderen Regionen Schritt zu halten, wuchs die Bevölkerung doch zwischen 1813 und 1871 von ca. 197 000 auf knapp 256 000 Einwohner und erreichte bis zum Weltkriegsende etwa 317 000 Einwohner – ein Anstieg um 56%. Zum Vergleich: In Württemberg stieg die Bevölkerungszahl im gleichen Zeitraum um 75% auf knapp 2,5 Millionen! Zum selben Zeitpunkt lag die Bevölkerungsdichte in Oberschwaben weit unter jener Württembergs (Oberschwaben ca. 78 Einwohner, Württemberg etwa 128 Einwohner pro Quadratkilometer; Bd. II, 160). Die Ursache dafür war eine negative Wanderungsbilanz, weil die Aus- und Abwanderungen trotz des – freilich nicht sehr ausgeprägten – Geburtenüberschusses nicht ausgeglichen werden konnten. Zudem denke man an das Anerbenrecht, das trotz Bauernbefreiung weiterhin Gültigkeit besaß und die nachgeborenen Erben von den Stellen verwies. Die Wanderungsbewegungen führten wiederum dazu, dass der Anteil der katholischen Bevölkerung vornehmlich in ‚industrialisierten‘ Standorten wie Ravensburg oder Tettnang abnahm, weil die Zahl der protestantischen Fabrikarbeiter stieg. Nicht ohne Spannungen verlief denn auch das Zusammenleben der beiden Konfessionsgruppen, wenn es z. B. um die Nutzung der Stadtkirchen oder um die Anlage neuer Friedhöfe ging. Bis zum Ersten Weltkrieg schwächten sich freilich die konfessionellen Gegensätze ab, erkennbar an der Zunahme konfessioneller Mischehen. Den Inhalt beider Bände vollständig zu referieren, ist angesichts der Fülle detaillierter Informationen unmöglich. So räumt Eitel in beiden Bänden dem Gesundheits- und Fürsorgewesen sowie der Bildung zu Recht breiten Raum ein, nicht ohne Seitenblicke auf die politischen und konfessionellen Rahmenbedingungen zu werfen. Ähnliches gilt für die Abschnitte zu Kunst und Kultur, die zwar nicht mehr das Niveau des 18. Jahrhunderts erreichten, wo sich jedoch Biberach und Ravensburg als Zentren des Theater- und Musiklebens
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entwickelten. Bemerkt sei dazu, dass gerade die Musikvereine auch eine politische Komponente aufwiesen. Schließlich greift der Autor in beiden Bänden Mentalität und Volkskultur der Oberschwaben auf, die ja recht unterschiedlich bewertet wurden, wobei die Urteile von Friedfertigkeit bis hin zu Genusssucht und Bildungsferne reichten. Das änderte sich bis zum Ersten Weltkrieg nicht: Die Klischees blieben (und bleiben?) an den Oberschwaben haften. Auch die Kriegsgeschehnisse 1870/71 und 1914–1918, die Oberschwaben nicht verschonten, werden informativ und empathisch geschildert. Beide Bände, denen noch ein ‚abschließender‘ dritter Band folgen soll, sind nicht nur durch die ähnlichen Kapiteleinteilungen, sondern auch durch den flüssigen und charmanten Schreibstil ein Lesevergnügen. Die Themenorientierung birgt freilich das Manko, dass manche Sachverhalte leichter mit dem Vorwissen aus anderen Kapiteln zu verstehen wären und wesentliche Einschnitte in der Geschichte Oberschwabens, wie der Eisenbahnbau, zwar in ihrem Stellenwert erläutert werden, in ihrer ganzen Wirkmächtigkeit für Bereiche wie den Getreidehandel oder die Industrialisierung aber möglicherweise unterschätzt werden könnten. Und mancher Thematik, wie dem Ende des Zunfthandwerks, werden monokausale Erklärungen – gemeine Nahrung, Rückwärtsgewandheit – nicht unbedingt gerecht. Das mögen aber beckmesserische Einwände sein, denn insgesamt bieten die beiden Bände eine Informationsfülle, die zahlreiche Anstöße für weitere Forschungen auf solider Grundlage geben kann und soll. Anke Sczesny
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KARSTEN RUPPERT (Hg.): Wittelsbach, Bayern und die Pfalz. Das letzte Jahrhundert (= Historische Forschungen 115), Berlin: Duncker & Humblot 2017, 308 S., 3 farb. Abb., (ISBN 978-3-428-14597-3), 69,90 EUR. Der zu besprechende Band ist aus einer wissenschaftlichen Tagung hervorgegangen, die im März 2014 bei Edenkoben (Pfalz) stattfand. Anlass für diese Tagung war die 800. Wiederkehr der Belehnung des bayerischen Herzogs Otto II. aus dem Hause Wittelsbach mit der Pfalzgrafschaft bei Rhein (1214). Besagte Tagung beschäftigte sich jedoch nicht mit den Anfängen der wittelsbachischen Herrschaft über die Pfalz oder deren Entwicklung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit1, sondern blickte auf das 19. Jahrhundert. Die Verknüpfung des Jubiläums der Belehnung von 1214 mit der Zugehörigkeit einer – auch territorial – ganz anderen Pfalz zu Bayern während des 19. Jahrhundert kann durchaus Erstaunen hervorrufen. Denn es war diversen Zufällen geschuldet, dass die Dynastie Wittelsbach nach dem Ende ihrer Jahrhunderte andauernden Herrschaft über pfälzische Territorien im Zuge der Revolutions- sowie der Napoleonischen Kriege erneut – seit 1816
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Des Themas Pfalz – bzw. Kurpfalz – und Wittelsbach nahm sich freilich bereits 2013/2014 eine große Ausstellung in Mannheim an; der dazugehörige Katalog umfasst zwei voluminöse Bände: JÖRG PELTZER u. a. (Hg.): Die Wittelsbacher und die Kurpfalz im Mittelalter. Eine Erfolgsgeschichte?, Regensburg 2013 sowie WILHELM KREUTZ u. a. (Hg.): Die Wittelsbacher und die Kurpfalz in der Neuzeit. Zwischen Reformation und Revolution, Regensburg 2013. Außerdem erschien im selben Jahr eine die Ausstellung begleitende Tagungsdokumentation: Die Wittelsbacher am Rhein. Die Kurpfalz und Europa, 2 Bde., Regensburg 2013.
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– ein freilich territorial gänzlich anders zugeschnittenes Gebiet mit dem Namen „Pfalz“ regieren konnte. Der einführende Beitrag des Herausgebers Karsten Ruppert versucht, auf 21 Seiten einen Gesamtüberblick über die politische, wirtschaftliche, religiöse und kulturelle Entwicklung der seit 1816 zu Bayern gehörigen Pfalz zu geben, also auch über all jene Themen, die in den folgenden Aufsätzen in den Mittelpunkt gestellt werden. An Ruppert schließen sich zwei Beiträge an, die der politischen Entwicklung der Pfalz von 1816 bis 1918 gewidmet sind. Hans Fenske nimmt sich der pfälzischen „Sonderkultur in der politischen Entwicklung Bayerns bis zur Revolution von 1848/49“ an, als die Münchner Zentrale der Pfalz ihre – verglichen mit dem rechtsrheinischen Bayern – modernen und aus der französischen Besatzungszeit herrührenden Strukturen beließ. Wilhelm Kreutz beschäftigt sich mit dem Thema „Pfalz und Bayern zwischen den Revolutionen von 1849 und 1918“. Anschließend werden diverse Einzelaspekte der Geschichte des pfälzischen Kreises (heute würde man aus bayerischer Perspektive vom pfälzischen Regierungsbezirk sprechen) während des 19. Jahrhunderts behandelt. Besonders hervorzuheben sind dabei jene Aufsätze, die die Entwicklung im linksrheinischen Bayern (Pfalz) mit jener im rechtsrheinischen Bayern vergleichen. Erst auf diese Weise gelangt man zu tieferen Erkenntnissen hinsichtlich des vielfach schwierigen Verhältnisses zwischen der politischen Zentrale in München und dem pfälzischen Neubayern. Dieser vergleichende Ansatz wird im vorliegenden Band u. a. mit Blick auf die Entwicklung von Verwaltung und Kommunalverfassung (Franz Maier), die Landwirtschaft (Alois Seidl) und den Adel (Markus Raasch) geboten. Bei anderen Themen wird vor allem die pfälzische Perspektive traktiert, etwa wenn es um Rechtsordnung und Justizverfassung (Reinhard Heydenreuter), um die Entwicklung von Gewerbe und Industrie (Dirk Götschmann), um Rahmenbedingungen und „spezifische Eigenheiten des Pfälzer Katholizismus“ (Klaus Unterburger) oder um das Schulwesen (Lenelotte Möller) geht. In diesen Fällen hätte man sich als Leser mehr Vergleiche mit den Verhältnissen im rechtsrheinischen Bayern gewünscht, gerade weil der Herausgeber in seinem Vorwort zu Recht beklagt, dass „pfälzische Historiker die Geschichte ihrer Region meist so beschreiben, als ob sie damals [zwischen 1816 und 1918] nicht zu Bayern gehört hätte“, während „bayerische Historiker kaum einen Blick auf die Pfalz [werfen], wenn sie die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts untersuchen“ (6). Doch auch in Rupperts einführendem Beitrag, der den etwas seltsam formulierten Titel „Wittelsbach, Bayern und die Pfalz. Grundlinien der Herrschaft eines Jahrhunderts“ trägt, wird der vergleichende Ansatz nicht bei allen Themenbereichen durchgehalten. Die kulturelle Situation der Pfalz schildert Jürgen Vorderstemann, wobei er – äußerst knapp, da die Erforschung dieses Themas zwischen 1816 und 1918 ein Desiderat darstellt – auf das Fehlen einer Universität bzw. Akademie in der Pfalz eingeht sowie die desolate Bibliothekslandschaft, das Archivwesen, die Historischen Vereine, die volkskundliche Behandlung der Pfalz im Rahmen der „Bavaria“, bildende Kunst und Literatur, bürgerliche Initiativen, die zur Gründung von Lese- und Theatergesellschaften führten usw. behandelt. Vorderstemanns Fazit lautet, dass sich der bayerische Staat bei der Kulturförderung in der Pfalz insgesamt „stark zurückgehalten“ habe (300), was wohl auch damit zusammenhängt, dass dieser Regierungsbezirk aus unterschiedlichen Territorien zu Beginn des 19. Jahrhunderts zusammengewürfelt worden war und ihm daher ein (kulturelles) Zentrum fehlte.
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Vermissen wird der Leser unter Umständen einen Beitrag zur pfälzischen Erinnerungslandschaft, denn gerade im 19. Jahrhundert wurde die Geschichte, die Vergangenheit als Mittel der Identitätsstiftung entdeckt. Für wen also wurden in der Pfalz während des 19. Jahrhunderts Denkmäler errichtet? Kamen mittelalterliche Herrscher oder seit 1871 bevorzugt Kaiser Wilhelm I. und Bismarck auf die Sockel? Oder konnte man sich nur auf lokale Größen und Berühmtheiten einigen, wenn es galt, Plätze und Grünanlagen zu schmücken? In Vorderstemanns Beitrag werden nur ganz beiläufig ein Reiterstandbild für Prinzregent Luitpold in Landau sowie ein Luitpoldbrunnen in Ludwigshafen erwähnt, ohne dass auf den Aspekt der Identitätsstiftung mittels Denkmälern eingegangen wird. Gleichermaßen könnte eine detaillierte Darstellung, wie es 1869/70 zur Gründung des Historischen Museums der Pfalz in Speyer kam, welche Bestände man ausstellte, wie das Museum untergebracht war etc. einen wichtigen Beitrag zur historischen Selbstverortung der Pfälzer ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leisten. Alle Beiträge des Bandes sind jeweils am Ende mit einem größeren oder kleineren Quellen- und/oder Literaturverzeichnis versehen. Das ist für den Leser bequem. Allerdings fehlt gerade beim Eröffnungsbeitrag aus der Feder des Herausgebers ein solches Literaturverzeichnis. Außerdem verzichtet Ruppert als einziger Autor komplett auf Einzelnachweise; er begnügt sich in Anmerkung 1 ärgerlicherweise mit dem Hinweis, dass „demnächst“ eine „Geschichte der Pfalz im Königreich Bayern“ von ihm erscheinen werde. Die 53 nachfolgenden Anmerkungen verweisen zumeist nur auf andere Aufsätze im vorliegenden Band. Darüber hinaus fehlt ein Verzeichnis der Autoren mit Hinweisen auf ihren jeweiligen Tätigkeitsbereich, das es erlauben würde, die Beiträger mit ihren Thesen und Ergebnissen besser einordnen zu können. Katharina Weigand
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MICHAEL SCHÄFER: Eine andere Industrialisierung. Die Transformation der sächsischen Textilexportgewerbe 1790–1890 (= Regionale Industrialisierung 7), Stuttgart: Steiner 2016, 477 S., 9 s/w Tab., (ISBN 978-3-515-11318-2), 72,00 EUR. Die vorliegende, von der Gerda Henkel Stiftung finanzierte und von der Technischen Universität Chemnitz unterstützte Studie geht die Industrialisierungsprozesse in Sachsen auf eine besondere Art und Weise an: Sie berücksichtigt den Zeitraum vor 1800, bezieht globale Marktabhängigkeiten mit ein und nimmt die Wirtschaftsakteure – Händler und Produzenten – in den Blick. Ausgangspunkt für den Autor waren vorhergehende eigene Studien zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens im 19. Jahrhundert, die ihm im Laufe dieser Beschäftigung als unzureichend zur Erklärung der Industrialisierung in den sächsischen Gewerberegionen erschienen. Sein Motiv war es also, statt eines – wie er es nennt – halben Buches ein ganzes Buch im Sinne einer weitaus differenzierteren Auseinandersetzung mit der Gewerbe- und Wirtschaftsgeschichte Sachsens zu schreiben. In sechs Kapiteln einschließlich Einleitung und Schluss geht Schäfer der Frage nach, ob die Industrialisierung tatsächlich allein an der Groß-, Schwer- und Montanindustrie auszumachen sei oder ob nicht vielmehr die proto-industriellen Gewerberegionen einen alternativen Weg in der Industrialisierung eines Raumes vorzubereiten vermochten. Darauf, nämlich die zentralen Produktionsstrukturen und Formen der Arbeitsteilung umfassenden
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Faktoren, baut er seine Studie auf und definiert zunächst Begriffe wie Revier, Branchen, protoindustrielle Ausformungen und die verschiedenen Markteinflüsse, seien es Krisen, Kriege oder Konkurrenz. Damit geht er deutlich über einzelne Theorien hinaus, indem er globale Marktverflechtungen in seine Überlegungen integriert, aber gleichzeitig durch die Fokussierung auf kleine Branchen und Reviere seinen Gegenstand permanent diskutieren kann. Entlang der Baumwollweberei, der Wollweberei und Tuchmacherei, der Leinenweberei, der Strumpf-, Handschuh- und Trikotagenwirkerei, der Maschinenstrickerei und der Maschinenspinnerei in verschiedenen Revieren Sachsens – im Vogtland, im Chemnitzer Raum, im Erzgebirge und in der Oberlausitz – evaluiert er in drei Zeiträumen (1790–1815, 1815–1850 und 1850–1890) die Vielfalt des sächsischen Textilexportgewerbes. Die Zeit um 1800 sieht der Autor von drei unterschiedlichen Entwicklungen geprägt: Erstens war die Spinnerei durchaus durch den englischen Technikvorsprung beeinflusst, den es einzuholen galt. Aber nicht die Maschinisierung der Spinnerei allein war Grund für das Anwachsen der mechanischen Maschinenspinnerei in Südwestsachsen, sondern auch die nicht mehr durch die Handspinnerei zu befriedigende Nachfrage nach Garn. Tendenziell negativ betroffen war dagegen zweitens die vogtländische Mousselinweberei durch die industriellen Entwicklungen in England und Schottland, doch sind gerade auch in dieser Sparte komplexe Wege bis hin zum kleinräumigen Aufschwung zu verzeichnen. Ähnlich sieht es drittens mit der Kattundruckerei aus, die weniger eine industrielle Innovation mit manufakturartiger Ausprägung darstellte, als vielmehr eine Substitution feinerer Webwaren durch robustere Tuche war, die markt- und damit absatzfähig wurden. Insgesamt betrachtet aber war die britische Textilproduktion nicht allein ausschlaggebend für die Industrialisierung Sachsens, sondern vielmehr war die exportgewerbliche Entwicklung Sachsens in allen Branchen abhängig vom Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten, die gerade in diesem Zeitraum durch die Krisen der Handelswege belastet waren. Während der Verfasser den Zeitraum 1815–1850 als eine Ära der verzögerten Industrialisierung bezeichnet, weil trotz gewerblicher Weiterentwicklung industrielle Technologien nur langsam in Kursachsen eingeführt wurden und weil Standortabhängigkeiten in Bezug auf Steinkohle und Wasserkraft einer verstärkten Technisierung einen Riegel vorschoben, war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts weniger durch eine boomende Industrialisierung im Sinne eines umfassenden Aufschwungs bestimmt; vielmehr zeichnet sich diese Phase durch unterschiedliche, sich aus protoindustriellen Strukturen ableitende Prozesse aus wie das „Ausweichen in Nischen, das Festhalten an hergebrachten Produktionssystemen und ‚alten‘ Technologien“ (444). Das mag nicht der geradlinigste und durchweg profitabelste Weg gewesen sein; für Kursachsen bzw. das Königreich Sachsen war es jedoch der gangbarste Weg, um mit den Widrigkeiten, mit denen sich die sächsischen Exportgewerbe auseinanderzusetzen hatten, fertig zu werden. Sachsens Textilexportgewerbe konnte sich auf den internationalen Märkten durchsetzen, gerade weil es sich auf herkömmliche Strukturen wie dezentrale Produktion und Nischengewerbe stützte, die sowohl den Produzenten als auch den Unternehmen Flexibilität im Hinblick auf die Ansprüche der globalen Märkte erlaubte. Abgeschlossen wird die Studie mit einer – leider – kaum lesbaren Karte Sachsens, einem Tabellenanhang und einem Glossar zur Textilwirtschaft, jedoch bedauerlicherweise ohne Orts- und Personenregister, das diesem mit globalen Märkten und internationalen Unternehmern operierenden Werk sehr gut angestanden hätte. Die gut lesbare Ar-
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beit, die sich mit verschiedenen Theorien (wie der Protoindustrialisierung und der Neuen Institutionenökonomik) auseinandersetzt, diese Theoreme immer wieder anzuwenden bzw. an sie anzukoppeln oder auch sie zu verwerfen versucht, ist ein Gewinn für die regionalgeschichtliche Forschung zur exportgewerblichen Entwicklung eines Raumes. Nicht nur ältere Literatur präzise berücksichtigend, sondern auch detaillierte und tiefgreifende Quellenarbeit bietend, gibt die Studie erhellende Einblicke in das sächsische Textilexportgewerbe. Das in den ersten Kapiteln vorgenommene Zwischenfazit ‚fehlt‘ für den letzten Zeitraum von 1850–1890, was aber auch bedeuten kann, dass hier die Industrialisierungsprozesse so diversifiziert abliefen, dass keine Quintessenz gezogen werden kann. Dafür ist die knappe und konzise Schlusszusammenfassung sehr gelungen, weil dem Leser nicht nur Resultate geboten, sondern auch Forschungslücken aufgezeigt werden, die noch zu füllen sind. Nichtsdestotrotz ist ein Manko zu nennen, das im Verlauf der Lektüre auffällt. Gerade für eine regionalgeschichtliche Studie wäre in manchen Kapiteln eine Bezugnahme auf andere Regionen – beispielswiese zu Schwaben oder der Schweiz mit ihren ganz unterschiedlichen Gewerberevieren – in vergleichender Perspektive von Vorteil gewesen. Damit wäre zwar der Nimbus der einmaligen Entwicklung im sächsischen Textilexportgewerbe gebrochen, zugleich würde jedoch die Parallelität von Prozessen in anderen Regionen, die ebenso von vielfältigen Faktoren geprägt waren, die immer noch vorherrschende Meinung nivellieren, Industrialisierung sei allein durch Steinkohlebergbau, Eisenbahnbau und Schwerindustrie initiiert. Das wiederum könnte die Überlegung evozieren, ob es sich in Sachsen und anderswo wirklich um eine „andere“ Industrialisierung, wie es im Titel des Buches heißt, handelte, setzt dies doch die englische Industrialisierung als absolute, essentielle Größe voraus. Wäre es nicht angesichts der bis heute andauernden vielfältigen Industrialisierungsprozesse (dritte und vierte Welt) nicht angemessener, der Diversität der Industrialisierungswege Raum zu geben, um die Eigenheiten, das Spezifische von Regionen und Revieren bezeichnen zu können? Damit soll keineswegs einem überbordenden Pluralismus von Industrialisierungsprozessen und -wegen das Wort geredet werden, doch zeigt gerade das Beispiel Sachsen, dass etablierte Forschungserkenntnisse durch Untersuchungen kleinräumiger Strukturen modifiziert werden. Insgesamt also ist diese Studie zu Sachsens Textilexportgewerbe zukunftsweisend und wird, wenn man sich aktueller und dabei auch komplexer Forschung nicht entziehen will, zitiert werden müssen. Anke Sczesny
Augsburg
KATRIN LEHNERT: Die Un-Ordnung der Grenze. Mobiler Alltag zwischen Sachsen und Böhmen und die Produktion von Migration im 19. Jahrhundert (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 56), Leipzig: Universitätsverlag 2017, 461 S., (ISBN 978-3-96023-005-2), 64,00 EUR. „Grenzen“ sind in Mode. In vielen Arbeiten wird der Begriff freilich eher metaphorisch angelegt, während das eigentliche Interesse soziokulturellen Differenzen verschiedenster Art gilt. Die konkrete Erforschung des Lebens an und mit Grenzen hingegen bildet, zumindest in der deutschen Geschichtswissenschaft, weiterhin ein nur mäßig bestelltes Feld. In anderen Disziplinen ist das nicht so. Deshalb mag es kein Zufall sein, dass der vorlie-
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Rezensionen und Annotationen
gende Beitrag einen volkskundlichen Hintergrund hat – was ihn nicht weniger interessant und lesenswert für Historikerinnen und Historiker macht. Die Verfasserin geht in ihrer 2013 als Dissertation in München verteidigten Studie der Frage nach, welchen Einfluss die Grenze im südlichen Teil der Oberlausitz – dem „Zittauer Zipfel“ zwischen Sachsen, Schlesien und Böhmen – im 19. Jahrhundert auf die Arbeits- und Lebenswelt der ländlichen Bevölkerung hatte, die dort lebte. Der Untersuchungsraum ist mit Bedacht gewählt, denn die Oberlausitz hatte seit dem Mittelalter mehrfach die politische Zugehörigkeit gewechselt, so dass multiple Abhängigkeiten insbesondere nach Nordböhmen fortbestanden. Hier lässt sich also gut beobachten, wie die verschiedenen aus der Frühen Neuzeit überkommenen Grenzen (Herrschaftsgrenzen, Konfessionsgrenzen, ökonomische Grenzen usw.) langsam zu einer Grenze, der „Staatsgrenze“, verschmolzen. Gleichzeitig verspricht die Untersuchung eine Analyse der raumbezogenen Formierung nationaler Identitäten, die vorgaben, aus komplexen und grenzüberschreitenden sozialen und kulturellen Bezugssystemen weitgehend homogene nationale Räume zu machen. Im Mittelpunkt stehen drei thematische Komplexe: erstens die Alltagspraktiken in einer Grenzgesellschaft, die sich durch in Jahrhunderten gewachsene, grenzüberschreitende soziale, ökonomische oder konfessionelle Beziehungsgeflechte auszeichnete und durch die Dialektik von politisch-herrschaftlicher Grenzziehung und eigensinniger Grenzaneignung durch die lokale Bevölkerung geprägt war; zweitens die Konstruktion eines staatlichen Grenzregimes im Zeitalter des aufziehenden Nationalismus, das mit Zielen wie dem Ziehen eindeutiger Grenzlinien, der Kontrolle von Grenzüberschreitungen und der Vereindeutigung einer vielfältigen sozialen Praxis einherging; drittens schließlich die Kategorisierung von Migrationsphänomenen, grenzüberschreitend oder nicht, die an politische Versuche gekoppelt war, erwünschte und unerwünschte Formen von Mobilität zu unterscheiden und Sesshaftigkeit als globalen gesellschaftlichen Wert zu etablieren. Diese drei Themen ziehen sich in unterschiedlicher Gewichtung durch die gesamte Arbeit, sind jedoch nicht Grundlage der Gliederung. Diese orientiert sich vielmehr an verschiedenen Typen von Räumen und bringt sie mit unterschiedlichen Formen der Mobilität bzw. Praktiken der Kontrolle in Verbindung: konfessioneller Raum (grenzüberschreitender Kirchen- und Schulbesuch), Wirtschaftsraum (Schmuggel und Zollkontrolle), politischer Raum (Passwesen und Grenzkontrolle), sozialer Raum (Arbeitsmobilität), ethnisierter Raum (Antislawismus und Migrationskontrolle). Ein solches Vorgehen hat Vor- und Nachteile. Positiv hervorzuheben ist die Reihe lokaler Fallstudien, die die Verfasserin zu einzelnen Aspekten vorlegt. Beispielhaft herausgegriffen seien ihre Schilderungen der konfessionellen Praktiken. Staatsgrenze und konfessionelle Grenze waren auch im 19. Jahrhundert nicht eins. Widersprüchlich war der Grenzverlauf in der Oberlausitz u. a. wegen einer Reihe böhmischer Exklaven, die erst nach langwierigen Verhandlungen mit Österreich im Rahmen einer umfassenden Grenzregulierung zwischen 1845 und 1848 aufgegeben wurden. Auf beiden Seiten der Grenze herrschte zudem Bikonfessionalität, aus der Mischehen folgten und ein grenzüberschreitender Schulund Kirchenbesuch, der auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht aufhörte. Denn diejenigen Untertanen, die bei der Grenzkorrektur die Staatsangehörigkeit gewechselt hatten, blieben in ihre alten Kirchensprengel gepfarrt. Im Ergebnis gingen Neuböhmen weiterhin in Sachsen zur Kirche und Neusachsen in Böhmen. Das konnte zu skurrilen Problemen führen: So sah sich das sächsische Kultusministerium mit der Frage konfrontiert, ob
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man zulassen könne, dass die im sächsischen Oberullersdorf eingeschulten böhmischen Kinder den (österreichischen) Kaiser ins Gebet einschlossen. Die Antwort aus Dresden: Man wolle es geschehen lassen, jedoch nur unter der Bedingung, dass der sächsische König im Gebet vor dem Kaiser stünde (114). Am gleichen Beispiel lässt sich jedoch auch zeigen, dass die nach Raumtypen differenzierende Vorgehensweise Schwächen hat. Der grenzüberschreitende Schul- und Kirchenbesuch setzte sich bis ins 20. Jahrhundert fort – die Gründe dafür waren aber nicht nur konfessioneller Art, sondern hatten auch ökonomische oder ganz und gar pragmatische Ursachen, etwa wie weit es bis zur nächsten Schule war oder welche Gebühren die Pfarrer einzogen. Die Übergänge zu anderen Raumtypen („Wirtschaftsraum“, „politischer Raum“) waren also fließend. Wenig hilfreich ist dabei, dass Lehnert darauf verzichtet hat, ihr theoretisches Verständnis von Raum zu erläutern. Das ist schade – und unverständlich, da der einführende Forschungsüberblick durchaus ausführlich ausfällt. Aus historischer Sicht kritisch anzumerken ist zudem, dass die Studie immer wieder im Sog eines schematischen Modernisierungsverständnisses steht (von personaler zu territorialer Herrschaft, vom Grenzsaum zur Grenzlinie, vom Ritual zur Karte usw.), das inzwischen als widerlegt gelten kann. Stirnrunzeln rufen schließlich die gelegentlich eingestreuten politischen Stellungnahmen hervor, die zwar sympathisch sind, aber hier und dort übers Ziel hinausschießen (auf Seite 384 bekommen nicht nur AfD und Pegida ihr Fett weg, sondern werden im gleichen Atemzug auch Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowsky in einen Topf geworfen). Insgesamt bleibt ein etwas zwiespältiger Eindruck. Neben überaus interessanten, aus den Quellen schöpfenden Mikrostudien – nicht nur zu den konfessionellen Praktiken, sondern auch zu Schmuggel und Wanderhandel oder zur kleinräumigen Arbeitsmobilität der ländlichen Bevölkerung – stehen lange Passagen, die sich vor allem auf die Sekundärliteratur stützen und deshalb nur wenig Neues bieten. Hier kommt mitunter die Frage auf, ob die Fülle der behandelten Themen nicht doch etwas zu groß geraten ist und eine stärkere Konzentration auf einzelne Aspekte der Studie gutgetan hätte. Dennoch: Gerade aus geschichtswissenschaftlicher Sicht handelt es sich um einen wertvollen Beitrag zur Erforschung von Grenzgesellschaften im 19. Jahrhundert, der eindrücklich aufzeigt, dass der oftmals als Selbstläufer geschilderte Prozess nationalstaatlicher Territorialisierung und Grenzziehung alles andere als selbstverständlich war und auf der lokalen Ebene mit einer Bevölkerung rechnen musste, die ihre eigene „Grenzpolitik“ machte. Das in Erinnerung gerufen zu haben, ist kein geringes Verdienst. Falk Bretschneider
Paris
GERHARD DETER: Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit. Band I: Rechtsgeschichte des selbstständigen Handwerks im Westfalen des 19. Jahrhunderts (1810–1869) (= VSWG Beiheft 230.1), Stuttgart: Steiner 2015, 393 S., 8 s/w Tab., (ISBN 978-3-515-10850-8), 66,00 EUR. Das vorliegende Werk, Band eins einer zweibändigen Studie, widmet sich dem selbstständigen Handwerk Westfalens zwischen 1810 und 1869 – der Übergangsphase vom zünftig organisierten zum liberalisierten Handwerk. Anders als der Titel vermuten lässt, werden die
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Entwicklungen und Positionen der Kaufleute nur vereinzelt dargestellt, so etwa, wenn es um Korporationsmodelle und um die von Preußen initiierte Etablierung von Gewerberäten und Kommissionen geht (161–165). Der vorliegende Band wurde 2011 als Habilitationsschrift an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen. Er behandelt in acht detailreichen und quellennahen Kapiteln den ordnungspolitischen und rechtlichen Rahmen des selbstständigen westfälischen Handwerks in einer ereignisreichen Phase. Deter wird den Anforderungen der Rechtsgeschichte des Handwerks insofern gerecht, als er eine quellennahe regionale Untersuchung der Entwicklungen liefert. Eine über die Region hinaus vergleichbare Analyse wird nicht forciert. Hierzu belegt er, dass der Rechtsrahmen im 19. Jahrhundert in hohem Maße regional differenziert war und daher keine einheitliche Struktur zu erkennen ist (342f.). Der Band thematisiert nicht nur die relevanten Rechtsbereiche, wie Niederlassungs-, Gewerbe-, Arbeits- sowie Steuerrecht (Kapitel II–VI), sondern auch die politischen Akteure (Kapitel VII) und das Finanzwesen (Kapitel VI). Hierbei wird stets das Verhältnis zwischen lokaler bzw. regionaler und preußischer Handhabung thematisiert. Eine große Rolle spielt durchweg der Korporationsgedanke, welcher sich in verschiedenen Formen als Zunfthandwerk, Assoziation und Genossenschaft, in Westfalen jedoch weniger als Innung manifestiert. Hierbei ist allerdings zu bemerken, dass erst spät im zweiten Kapitel eine klare Differenzierung der zeitgenössischen Korporationsbegriffe vorgenommen wird. So wird erst auf den Seiten 132–135 auf den modernen Genossenschaftsgedanken eingegangen und dieser dann auf den Seiten 222–228 von der frühneuzeitlichen Genossenschaft abgegrenzt. Dies resultiert aus der Systematisierung anhand des Quellenmaterials und weniger aus einer übergeordneten Systematisierung. Kapitel zwei, das umfangreichste Kapitel des Bandes, widmet sich dem bestehenden „handwerklichen Ordnungsgefüge“. Hier wird deutlich, dass die preußische Zentralgesetzgebung und das lokal angesiedelte Ortsstatut nicht unbedingt in Einklang standen, sondern oftmals sogar gegenläufig wirkten. In Westfalen bestand ein Gegensatz zwischen dem grundsätzlichen Korporationsgedanken der Handwerker und staatlichem preußischem Einfluss. Die Kapitel III und IV verdeutlichen anhand des Niederlassungsrechts und der Preisbildung, welches Spannungsfeld zwischen liberalen Ideen und den praktizierten Städteordnungen und lokalen bzw. regionalen Märkten bestand (185–191, 206, 208–211). So standen beispielsweise der grundsätzlichen staatsbürgerlichen Freizügigkeit in Preußen um 1845 in den westfälischen Provinzen bis 1865 das Einzugsgeld, der Kapitalnachweis sowie das Ortsbürgerrecht entgegen (191–194, 197). Daraus ergibt sich ein komplexes Bild des rechtlichen Rahmens sowie der vielschichtigen politischen Konfliktlinien im Untersuchungszeitraum. Deter arbeitet heraus, welche Konflikte unter den Meistern verschiedener Branchen, den Handwerksmeistern und Kaufleuten, dem städtischen und ländlichen Handwerk, den Lehrlingen, Gesellen und Meistern, den lokalen Akteuren und der preußischen Zentralpolitik bestanden. Gerade der Bereich des Arbeitsrechts (Kapitel V) musste sich in der Übergangsphase erst neu konstituieren. Für Westfalen kommt hier die Besonderheit des Einflusses französischen Rechts im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert hinzu, wodurch „[d]ie Arbeitsverhältnisse im Handwerk […] aus der ständischen Ordnung herausgelöst und in rechtlicher Hinsicht den Fabrikarbeitsverhältnissen angepasst“ (241) wurden. Allerdings spielten hier auch Überwachung und Kon-
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trolle, insbesondere der Gesellen, eine entscheidende Rolle (242 f.). Die spätere Rückführung auf den preußischen Rechtsstand führte zu fragmentierten und unklaren Rechtsverhältnissen (246–259). Das sechste Kapitel zeichnet die Zunahme und Verschiebung der steuerlichen Belastungen vom bäuerlichen Besitz hin zur Leistungsbezogenheit der städtischen Gewerbetreibenden nach (292–294, 299–303, 306). Auch der Bereich der sozialen Absicherung (Kapitel VII) wird thematisiert. Nach der Auflösung des Zunftwesens wäre zu vermuten, dass sich gerade in diesem Bereich fortschrittliche und vereinheitlichende Entwicklungen beobachten lassen. Deter zeigt jedoch auf, dass „[d]em Aufbau eines Systems sozialer Sicherung für selbständige Gewerbetreibende […] weit weniger Erfolg beschieden [war] als den gleichzeitigen Bemühungen um die Etablierung des Kassenwesens für Gesellen und Fabrikarbeiter“ (342). Ein (einheitliches) Versicherungswesen etablierte sich hier nicht. Insgesamt bietet der Band eine detaillierte Darstellung der Rechtsquellen sowie der Quellen zu den politisch relevanten Akteuren. Er zeigt, dass die selbstständigen Handwerker auch nach Einführung der Gewerbefreiheit bewusst an zünftige, korporative Traditionen anknüpften (10 f., 344). Gerade in der hochliberalen Phase um die Mitte des 19. Jahrhunderts stechen konservative, rückbesinnende Züge in Westfalens Gewerbe deutlich hervor (105–110). Deter weist im Vorwort darauf hin, dass Forschungen, die nach Beendigung seines Projekts im Jahre 2011 erschienen sind, nur noch vereinzelt berücksichtigt wurden, wodurch der Forschungsstand nicht in seiner Aktualität dargestellt werden kann. Er bietet dennoch ein umfassendes, 30-seitiges Literaturverzeichnis sowie eine gute Auswahl archivalischer und gedruckter Quellen. Seine Kritik an der fehlenden rechtshistorischen Methodik in der Wirtschaftsgeschichte muss jedoch im Hinblick auf die Neue Institutionenökonomik relativiert werden (siehe RAINER S. ELKAR: Vom Wert der Rechtsgeschichte für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Handwerks – Bemerkungen zu Gerhard Deters „Zwischen Gilde und Gewerbefreiheit“. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 103/3 [2016], 317–319). Insgesamt hat Deter ein umfassendes, quellenreiches Werk zur westfälischen Handwerksgeschichte vorgelegt, das zwar einen hohen deskriptiven Anteil aufweist, jedoch eine umfassende Basis für weitere regionalgeschichtliche sowie insbesondere auch komparative Forschungen schafft. Isabelle Lindner
Bamberg/Berlin
KLAUS SEIDL: „Gesetzliche Revolution“ im Schatten der Gewalt. Die politische Kultur der Reichsverfassungskampagne in Bayern 1849, Paderborn: Schöningh 2014, 288 S., 2 Grafiken 5 s/w Abb., 19 Tab., 2 Ktn., (ISBN 978-3-506-76645-8), 46,90 EUR. Bayern befand sich seit seiner Erhebung zum Königreich 1806 in einer verfassungs- und staatsrechtlichen Konsolidierungsphase. Im Zuge dessen tat sich ein Spannungsfeld zwischen der Realisierung von Grundideen für eine einheitliche deutsche Nation und der Wahrung eigenstaatlicher Interessen im Hinblick auf die Verteidigung des eigenen Souveränitätsspektrums auf. Besonders deutlich wird dies bei der Betrachtung der sogenannten Reservatrechte, die Bayern im Zuge der deutschen Reichsgründung von 1871 zugestanden wurden. Diese Hoheitsrechte waren der augenscheinlich letzte Garant staatlicher
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Souveränität, da zahlreiche Kompetenzen fortan auf die Reichsebene übergingen. Nicht zuletzt auf Basis dieser Argumentation entwickelte sich auch während der Weimarer Republik ein Diskurs über das Selbstverständnis bayerischer Eigenstaatlichkeit, da die Reservatrechte mit Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 nicht weiter berücksichtigt wurden. Klaus Seidl liefert mit seiner detailreichen Analyse einen wichtigen Beitrag zum Diskurs über die gesamtdeutsche Verfassungsfrage von 1849 aus der Sicht des Königreichs Bayern und damit zur Bewertung des deutschen Verfassungskonflikts. In der Einleitung gelingt es ihm, den Fokus seiner Untersuchung sinnvoll zu justieren: Die Verfassungsfrage sei vor allem eine „politische Streitfrage“ (24) gewesen. Damit fand der Diskurs insbesondere in der „neuen politischen Öffentlichkeit“ (ebd.) statt. Die Analyse basiert folglich auf einem akteurszentrierten Zugang und verzichtet auf eine rein deskriptive Bestandsaufnahme im Sinne einer „bayerischen Landesgeschichte der Kampagne“ (32). Hinsichtlich der Gliederung der Arbeit lässt sich eine logische Dreiteilung feststellen. Der erste Teil fungiert als eine Art Umrahmung des Themas, da hier eingangs auf die reichsweiten Instanzen in Frankfurt eingegangen wird. Die Frankfurter Beschlüsse bildeten die „zentrale Legitimationsbasis“ des „politischen Engagements für die Reichsverfassung“. Interessant erscheint dabei, dass sich sowohl Liberale als auch das Gros der Demokraten nach der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. weiterhin mit der Reichsverfassung samt Erbkaisertum identifizierten. Sie argumentierten, dass es sich um einen legitimen „Mehrheitsbeschluss“ handelte, der konzeptionell für eine volkssouveräne Entscheidung stand (42). Der erste Teil der Analyse wird durch eine kurze Synopse über den organisierten Zentralmärzverein (CMV) abgerundet. Dieser diente als nationale „Koordinationsstelle“, um die Ideale der Märzrevolution zu wahren und demokratische Ideen salonfähig zu machen. Seidl gelingt es, die Funktionsfähigkeit des CMV darzulegen, gleichzeitig aber auch sein Scheitern plausibel zu machen. Im Zuge der Kämpfe rückte der Verein programmatisch zu stark nach links und sah sich zudem finanziellen Engpässen ausgesetzt, sodass seine Wirksamkeit im Kontext einer politischen „Radikalisierung“ des konzeptionellen Handelns ab Mai 1849 rasch zurückging (69). Der zweite Teil beschäftigt sich mit den Motiven und Handlungsmaximen der „bayerischen Akteure“ hinsichtlich der Reichsverfassungskampagne. Besonders hervorzuheben ist hierbei ein Gefälle des demokratischen und konstitutionellen Vereinswesens zwischen neubayerisch-fränkischen sowie pfälzischen Gebieten, die eine eher revolutionsfreundliche Klientel beheimateten, und dem katholisch geprägten und weitgehend antirevolutionären Altbayern. Vor allem Unterfranken etablierte sich im Frühjahr 1849 als eine „Kernregion der Reichsverfassungskampagne“ (74). Hier und andernorts spielte gleichermaßen das „deutlich sichtbare regionale Selbstbewusstsein“ eine zentrale Rolle, das Seidl auf die ambivalenten Folgen der Säkularisation und anschließenden Integration in das noch junge Königreich zurückführt (72). In diesem Zusammenhang ist auch die Rolle der bayerischen Staatsregierung und des Königs von zentraler Bedeutung, da die deutsche Verfassungsfrage auch die qua bayerischer Verfassung von 1818 legitimierte politische Ordnung tangierte. Zugleich war das Ringen um das deutsche Verfassungskonzept und die lokal hierzu divergierenden bayerischen Positionen eine Art Lackmustest für die Integration der neubayerischen Gebiete. König Maximilian II. agierte stets im Sinne eines „constitutionellen Königs“ (123). Ziel der Staatsregierung war es folglich, die im Volk kursie-
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renden Unterstützungsideen für die Konzepte der Frankfurter Nationalversammlung umzupolen und zum Leitbild eines souveränen Bayern zu konvertieren. Die Revolution fand in Bayern ihr Ende auf „vergleichsweise moderatem Wege“, wenngleich das konstitutionell-monarchische Prinzip auch im Hinblick auf das Griechische Anlehen offen infrage gestellt wurde (123). Das königliche Agieren wies in dieser Frage laut Seidl durchaus „Elemente einer absolutistischen Herrschaftspraxis“ auf, die sich nachhaltig auf die demokratische Politisierung auswirkte (125). Außenpolitisch positionierte sich Max II. deutlich gegen eine Unterordnung in ein preußisch dominiertes System; allerdings unterstreicht dies den eingeschränkten Handlungsspielraum der bayerischen Politik. Primär lavierte die Staatsregierung in außenpolitischen Fragen wiederholt gemäß der Maxime, das eigene staatliche Souveränitätsspektrum zu erhalten und die bayerische Eigenstaatlichkeit sowie die Position des wittelsbachischen Königshauses zu verteidigen. Bayern befand sich seit der Errichtung des Deutschen Bundes im Konfliktfeld zwischen kleinund großdeutscher Lösung. Minister von der Pfordten knüpfte die Garantie der bayerischen Souveränität an die Reichsverfassungsfrage, die sich im Falle der Ratifizierung nur negativ auf Bayern auswirken würde. Ein weiterer zentraler Bestandteil von Seidls Arbeit ist die Betrachtung der Maßnahmen der bayerischen Staatsregierung gegen demokratische und konstitutionelle Vereinsaktivitäten. Hierbei ist besonders ein öffentlich aktives Werben für die Positionen der bayerischen Regierung festzustellen. Im gleichen Zuge erhielten konservative Vereine Unterstützung, sodass die öffentliche Meinung verzerrt und „manipuliert“ wurde (246). Dem Königshaus sowie den Ministerien gelang es, sich als Reformer darzustellen und symbolisch für bayerische Interessen einzutreten. Träger der bayerischen Regierungspolitik war eine konservativ gepolte „Massenbewegung“, die sich zur Gegenrevolution formierte (154). In einem pointierten Resümee fasst Seidl die Ergebnisse seiner Studie zusammen. Dass die Kampagne in Bayern recht maßvoll beendet werden konnte, ist demnach vor allem auf die organisatorische Struktur des Protests zurückzuführen. Gegen politische Vereinigungen konnte einfacher vorgegangen werden als gegen „spontane Revolutionsausbrüche“ wie etwa 1848 (246). Zugleich scheiterten die Demokraten an der Etablierung eines funktionsfähigen und praktikablen Kommunikationsnetzes, sodass „den Verfassungsunterstützern die nötige Überzeugung [fehlte], um den gesetzlichen Weg zu verlassen und zu den Waffen zu greifen“ (241). Seidl ermöglicht mit seiner Analyse eine neue Perspektive auf das Revolutionsende und die Reichsverfassungskampagne von bayerischer Warte aus. Dabei sind vor allem der Zugang zum Thema sowie die Fragestellung positiv hervorzuheben, dank derer es gelingt, moderne und innovative Ansätze zu vereinen. Indes ist zu monieren, dass der Arbeit eine deutlichere Einordnung in das Konfliktfeld der bayerischen Souveränität im 19. Jahrhundert gutgetan hätte. All jene Ideen der bayerischen Regierung fußten auf dem politischen Grundtenor, der seit der Erhebung zum Königreich 1806 bestand. Selbst die Trias-Idee im Zuge des preußisch-österreichischen Dualismus, die von der Pfordten nachhaltig verteidigte, unterfütterte die fundamentalen Interessen bayerischer Politik. Eine Reichsverfassung hätte sicherlich eine Beschneidung bayerischer Souveränität im internen und externen Kontext bedeutet, was spätestens mit der Bismarck’schen Reichsverfassung von 1871 bewiesen werden kann. Dieser Diskurs blieb, wie eingangs erwähnt, noch Jahrzehnte lang
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erhalten und verschärfte sich. Selbstverständlich stehen die Ereignisse der Jahre 1848/49 für ein äußerst komplexes Feld. Hier unternimmt Seidls Arbeit eine anschauliche Verortung Bayerns, obgleich es ihr durchaus angestanden hätte, den problematischen Gesamtkomplex des Königreichs Bayern deutlicher zu betonen. Nichtsdestotrotz bieten die außerordentlich akribische Quellenanalyse und die daraus resultierenden Forschungsergebnisse in jedem Fall einen interessanten Ansatz für weiterführende Recherchen zu anderen Staaten des Deutschen Bundes. Jannis Trillitzsch
Bamberg
ANETTE BLASCHKE: Zwischen „Dorfgemeinschaft“ und „Volksgemeinschaft“. Landbevölkerung und ländliche Lebenswelten im Nationalsozialismus (= Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‛. Studien zu Konstruktion, gesellschaftlicher Wirkungsmacht und Erinnerung 8), Paderborn: Schöningh 2018, 458 S., 6 s/w Abb., (ISBN 978-3-506-787378), 68,00 EUR. Die ganz aus den Archiven gearbeitete Dissertation bewegt sich zwischen den Forschungsfeldern der Mikrogeschichte ländlicher Gesellschaften und der Herrschaftsverhältnisse des Nationalsozialismus. Insbesondere wird den „Aushandlungs- und Anpassungsprozessen“ zwischen Individuen, Gruppen und Amtsträgern der Partei auf lokaler Ebene auf der einen und übergeordneten Instanzen (z. B. Kreisbauernschaften, Reichsnährstand) auf der anderen Seite nachgegangen. Einerseits möchte die Autorin den Forschungsstand zu ländlicher Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nach 1933 ausbauen (9), andererseits dezidiert akteursorientiert die ‚Volksgemeinschaft‛ untersuchen. An avancierte Konzeptionen und Forschungserträge zur soziokulturellen Dorfforschung anknüpfend, möchte Blaschke ferner über forschungsleitende Kategorien wie „ländlicher Sozialraum“ und „Interaktion“ zwar nicht die Wirkmächtigkeit überdörflicher Strukturen der Parteiherrschaft in Frage stellen, aber doch den einzelnen Akteuren eine gewisse Handlungsautonomie zuschreiben. Jedenfalls stellt sie immer wieder klar, dass vor Ort Vieles erst durchgesetzt werden musste, was an höchster Stelle vorgegeben worden war, zumal lokale Eliten oder örtliche Vertreter der Gesellschaft in das Herrschaftssystem eingebunden, d. h. zu mancherlei Kompromissen genötigt waren. Die Untersuchungsregion im Landkreis Hameln-Pyrmont eignet sich für den verfolgten Ansatz ganz besonders, denn hier findet sich archivalisches Material aus Kreis- und NS-Archiven in beeindruckender Fülle (bis hin zur Rekonstruierbarkeit einzelner Gespräche oder brieflicher Kommunikation). Diese Region mit 13 336 Einwohnern war durch kleine Landgemeinden geprägt – Mittelpunktzentren mit kontrastierender Struktur werden nicht untersucht – und setzte sich zu etwa gleichen Teilen aus bäuerlichen Betriebsangehörigen und mithelfenden Familienmitgliedern sowie Arbeitern zusammen, wobei offenkundig ist, dass Arbeiter meist agrarischen Nebenerwerb betrieben und Kleinbauernfamilien auf gewerbliche und andere Nebentätigkeiten angewiesen waren (37–46). Insofern repräsentierte das vollbäuerliche Segment der Bevölkerung, auf welches die NSAgrarpolitik fokussiert war, nur etwa ein Drittel der ländlichen Gesamtbevölkerung. Die empirische Untersuchung setzt mit der Wirtschaftskrise und der Politisierung der späten 1920er Jahre ein und zeigt zunächst auf, warum die Nationalsozialisten das vor-
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handene agrarische Protestpotenzial nutzen konnten. Hierbei spielten auch generationelle Interessen eine Rolle (65–71). Das nächste empirische Kapitel beleuchtet die bislang unterschätzte Position der Ortsbauernführer. Die dichte Quellenlage ermöglicht es, deren wichtige Rolle in der reglementierten Ernährungswirtschaft auszuleuchten. Sie wurden aus der Gruppe der mittleren Bauern rekrutiert und waren nicht unbedingt Mitglieder der NSDAP, wollten aber wirtschaftlich und politisch am Aufschwung teilhaben. Die neue Obrigkeit erwartete von ihnen Pflichterfüllung und Präsenz in den Gemeindevertretungen. Sie hatten den „Arbeitseinsatz“ in den Dörfern zu organisieren und gegen Widerspenstige durchzusetzen. Freilich waren sie ständig überfordert (87 f.), wegen ihrer fehlenden Verwaltungserfahrung und weil sie hauptberuflich ihre eigenen Landwirtschaften führten. Die Autorin geht in diesem Zusammenhang schwierigen personalpolitischen Problemen, offenkundigen Missständen, dem Umgang mit Denunziationen, der Überbeanspruchung von Bäuerinnen und der Regelung von Anerbenfragen sowie der mangelnden Versorgung mit Arbeitskräften nach. So musste sich ein Ortsbauernführer mit der massiven Beschwerde eines Landwirts befassen, der drastisch monierte: [S]owas ist doch nicht erträglich auf die Dauer ein Hof 80 Morgen und nur ein Pole auf dem Hofe. Ich bemerke nochmals es muss einen Mann gestelt werden der die Landwirtschaft versteht, und ich muss in kürze erwarten das diese beiden Fälle abgestelt werden (145).
Blaschke hält fest, dass sich die Logik des technokratischen agrarpolitischen Apparates um Herbert Backe auf lokaler Ebene keineswegs eindeutig widerspiegelte. Die Ortsbauernführer wurden weiterhin nach ‚traditionellen‛ Kriterien lokal rekrutiert und konnten von ihren Ämtern profitieren, wenngleich sie offene Korruption vermieden (155). Mit einem weiteren großen empirischen Kapitel über „landwirtschaftliche Handlungsräume: Konfrontationen, Kooperationen, Verflechtungen“ steigt die Autorin tief in die gesellschaftliche Mikroanalyse ein. Das von Margareth Lanzinger entwickelte Konzept „konkurrierender und konfligierender Interessenlagen der Beteiligten“ weiter differenzierend (157), widmet sich Blaschke familieninternen und über Einsprüche sowie Klagen geführten Auseinandersetzungen um den Status und die Vermögensbestände der „Erbhöfe“. Die Zuständigen drangen tief in lokale Verhältnisse vor. Die Interessenten wiederum agierten geschickt mit sozialpolitischen Argumenten, um die Erbhofgesetzgebung zu ihren Gunsten und zugunsten weichender Erben auszulegen. Insgesamt führte die Praxis der Verleihung des Erbhofstatus zu vielen Enttäuschungen; inwiefern dies gerade bei den diskriminierten weichenden Erben der Fall war, entzieht sich der Quellenbasis. Man hat in anderen Studien noch nicht so detailliert und eindrücklich über diese diffizilen und hart geführten Auseinandersetzungen um essentielle Vermögensfragen gelesen. Da denunzierte eine Stiefmutter einen zur Wehrmacht eingezogenen Hoferben wegen Unterschlagung von Lebensmittelkarten, da wird die Höhe von Abfindungen zum Streitpunkt und bewegen sich die Verhandlungen zwischen ‚völkischen‘ Kriterien und solchen wirtschaftlicher Vernunft (189–194). So wird ein weiteres Mal das hohe Konfliktpotenzial der Erbhofgesetzgebung deutlich. In kommunikationsgeschichtlicher Hinsicht ist die Studie ebenfalls aufschlussreich: Es werden kommunikative Kompetenzen bei den Auseinandersetzungen, die Rolle mündlicher Interaktionen und der Medien deutlich. Insgesamt ist es aufgrund der Quellenbasis der Arbeit offensichtlich, dass es hier mehr noch als um Kommunikation in der ländli-
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chen Gesellschaft um diejenige der Landwirte geht. Die Rolle von Denunziation wird ebenfalls mehrfach angesprochen, z. B. 1934–1937 gegen diejenigen, die weiterhin mit Juden Handel trieben. Kommunikationsgeschichtlich ist überdies von Interesse, dass Hofinhaber (genauso Landarbeiter, wenn sie wegen Kontraktbruchs angeklagt wurden) eine gewisse Kenntnis juristischer Sachverhalte und politischer Sprachregelungen (im Krieg die „Gemeinschaftshilfe“) aufwiesen. Die Geschichte der Landwirtschaft im nationalsozialistisch überformten Dorf bot vielen Betriebsinhabern und ihren Familien große Chancen sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs, glückliches Agieren vorausgesetzt. Sie führte aber auch zu vielfältigen Konflikten (in die wohl ‚traditionelle‘ Muster ebenso eingingen wie neue Konfliktlagen) und Kämpfen um Ressourcen (Zuteilungen, Abgabepflichten, Boden). Je länger der Krieg dauerte, desto mehr offene Konflikte traten zwischen Bauern und Zwangsarbeitern auf. Es ist der Autorin zuzustimmen, dass „gewisse Identitäten der Maßstäbe“ (419) von NSBauerntumsideologien und bäuerlichen Handlungsmaximen bestanden und dass der Faktor des Eigensinns wirksam war, d. h. dass eine gewisse Verhandlungsfähigkeit der hofbesitzenden Landwirte bestand. Ob die rassistisch-exkludierenden Komponenten der NSAgrarpolitik wirklich voll rezipiert oder nicht nur instrumentell eingesetzt wurden, bleibt indes offen (vgl. 427). Plausibel ist hingegen das Gesamtergebnis, dass „bei vielen Landwirten und Landwirtinnen [die] erkennbare Fähigkeit [bestand], sich die Rahmenbedingungen [der NS-Agrarordnung] flexibel anzueignen und diese eigensinnig, zumeist eigennützig anzueignen“ (431). Clemens Zimmermann
Saarbrücken
DANIEL BAUER: Die nationalsozialistische Herrschaft in Stadt und Land Rothenburg ob der Tauber 1933–1945. Eine regionalgeschichtliche Untersuchung (= Bibliotheca Academia Geschichte 7), Würzburg: Ergon 2017, 417 S., (ISBN 978-3-95650-248-4), 38,00 EUR. Mit seiner 2013 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommenen Dissertation schließt Daniel Bauer ein weiteres Forschungsdesiderat zur NS-Zeit in Franken sowie eine Lücke in der Stadtgeschichtsschreibung Rothenburgs. In insgesamt 15 Kapiteln zeichnet er ein umfassendes und detailreiches Bild der Stadt und ihres Umlands, das den Bogen von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit spannt. Die Monographie zeichnet sich durch eine klare und gut verständliche Sprache aus. Sie beinhaltet jeweils Einleitungspassagen und kurze Fazits zu jedem Kapitel, sodass der Leser sich problemlos auch bei einer kursorischen Lektüre orientieren kann. Daniel Bauer stellt in seiner Arbeit heraus, dass Rothenburg neben Nürnberg und dem Hesselberg der „dritte Fixpunkt im NS-Gau ‚Franken‘“ war und „für die NSDAP Mittelfrankens eine besondere Bedeutung besaß“ (4). Die Nationalsozialisten erklärten Rothenburg zum Ideal einer mittelalterlichen deutschen Stadt, woraufhin man Rothenburg unter diesem Aspekt vermarktete und das Stadtleben entsprechend inszenierte. Schlüssig legt Bauer im zentralen Teil seiner Arbeit (Kapitel 6) dar, wie Rothenburg als NS-Herrschaftssymbol aufgebaut wurde und die nationalsozialistische Politik die Stadtentwicklung nachhaltig prägte. Rothenburg wurde als Kleinod Deutschlands in Szene ge-
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setzt: Umfassende Renovierungsarbeiten im Stil der Heimatschutzarchitektur sicherten die Baudenkmäler, mittelalterliche Kostüme ließen die Vergangenheit lebendig werden, und durch die Vorführung des Historischen Schäfertanzes boten die Einwohner einen Volkstanz mit jahrhundertealten Wurzeln. So wurde Rothenburg eine Art Freilichtmuseum des Dritten Reiches und diente beispielsweise während der Nürnberger Reichsparteitage der NS-Prominenz als Ausflugsziel. Dem Autor gelingt es zudem, die außerordentliche Rolle des Bayerischen Ministerpräsidenten Ludwig Siebert in Bezug auf die Stadt herauszuarbeiten. Dieser war 1908–1919 Bürgermeister von Rothenburg gewesen und unterstützte die Stadt finanziell; er rief das „Ludwig-Siebert-Programm“ ins Leben und setzte sich persönlich für die Belange Rothenburgs bei den entscheidenden Stellen ein. Ohne seine Hilfe wäre die Stadt nicht in der Lage gewesen, bis 1939 ihr umfangreiches Wiederherstellungsprogramm alter Bauwerke zu stemmen. 1934 stiftete Siebert der Stadt zudem ein Ehrendenkmal mit Bronzeadler und Hakenkreuz. Als zweiten wichtigen Förderer stuft Bauer den Gauleiter Julius Streicher ein. Durch ihn wurde Rothenburg nicht nur in städtebaulicher, sondern auch in antisemitischer Hinsicht zur NS-Vorzeigestadt. Bereits im Oktober 1938 brüstete sich das nationalsozialistische Rothenburg damit, „judenfrei“ zu sein. In den Jahren zuvor hatte man eine sogenannte „Mahntafel“ mit einem Zitat Streichers aufgestellt, und der lokale Künstler Ernst Unbehauen hatte für die Zufahrten zur Stadt diffamierende „Judentafeln“ mit Bildern und Sprüchen geschaffen. Der Antisemitismus wurde in Rothenburg bildlich und für jedermann sichtbar ausgeschmückt. Abbildungen der „Judentafeln“ und NS-Denkmäler finden sich im letzten Teil des Buches, sodass die Ausführungen für den Leser gut nachvollziehbar sind. Neben Siebert und Streicher skizziert Bauer zahlreiche weitere lokale Akteure der NSZeit biografisch, wie beispielsweise die Kreisleiter und Ortsgruppenleiter. Dadurch entsteht ein anschauliches Bild der Beziehungsgeflechte. Unter den zahlreichen NS-Organisationen analysiert der Autor in einzelnen Unterkapiteln die Sturmabteilung, die Jugendorganisationen, den Nationalsozialistischen Lehrerbund und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Außerdem werden spezielle nationalsozialistische Veranstaltungen in Rothenburg, wie zum Beispiel der Reichsberufswettkampf oder die Eintopfsonntage, erörtert. Durch die Verknüpfung von Personen, Organisationen, Ereignissen und Wirkungsorten entsteht ein facettenreiches und erschöpfendes Bild von Rothenburg ob der Tauber während der NS-Herrschaft. Allerdings bleibt Bauer in einigen Passagen den Beleg schuldig, inwieweit Rothenburg im direkten Vergleich mit anderen Städten wirklich eine NS-Hochburg war. Er zitiert zwar mehrfach den Anspruch Rothenburgs, eine Vorbildfunktion im Dritten Reich einzunehmen und eine NS-Hochburg zu bilden (207, 217 f. u. ö.), doch wie genau sich dieses Wunschdenken in der Realität erfüllte, wird oftmals nicht ausreichend untermauert. So erfährt der Leser beispielsweise im Kapitel über die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (136–153), dass die Rothenburger unter anderem 870 Paar Schuhe, 40 Hasen und eine Summe von etwa 9 800 Reichsmark im Winter 1934/35 an das Winterhilfswerk spendeten, doch ein Vergleich mit anderen Städten ähnlicher Größe wird nicht vorgenommen. Darüber hinaus liegt der Schwerpunkt von Bauers Analyse deutlich auf den Jahren bis 1939. Das Kapitel 10 „Rothenburg im Zweiten Weltkrieg“ umfasst gerade einmal 16 Seiten und spricht folglich nur schlaglichtartig die Themen Kriegsalltag, Zwangsarbeiter, Gefechte und Volkssturm an. Es mangelt hier im Gegensatz zu den vorhergehenden Kapiteln an der nötigen Tiefe der Argumentation und an einer breiten Quellengrundlage. Die Zäsuren, die
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sich ergaben, als Julius Streicher 1940 seine Ämter verlor und Ludwig Siebert 1942 starb, finden in ihren lokalen Auswirkungen überhaupt keine Erwähnung. Ebenso kurz gehalten ist das Kapitel 11 „Nachkriegsjahre“, das auf nur 15 Seiten versucht, die Bereiche Militärregierung, Entnazifizierung, Krisenmanagement, Wiederaufbau und Kontinuitäten zu behandeln. Gerecht wird Bauer dieser Zeitspanne damit nicht; die Problematiken werden eher angerissen als erläutert. Es wäre möglicherweise besser gewesen, das letztgenannte Kapitel als Ausblick zu formulieren, um die durchaus interessanten personellen und städtebaulichen Kontinuitäten zu thematisieren. Trotz dieser kleinen Mängel ist die Monographie von Daniel Bauer für die regionalgeschichtliche Forschung ein echter Gewinn. Als Lektüre ist sie insbesondere dann zu empfehlen, wenn man sich über die NS-Herrschaft in Rothenburg ob der Tauber zwischen 1933 und 1939 informieren möchte. Julia Oberst
München
WOLFGANG FORM, THEO SCHILLER, LOTHAR SEITZ (Hg.): NS-Justiz in Hessen. Verfolgung, Kontinuitäten, Erbe (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 65,4), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2015, 696 S., zahlr. Abb., (ISBN 978-3-942225-28-1), 19,90 EUR. Durchaus korrespondierend mit regionalhistorischen Besonderheiten wie der Tätigkeit des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer in Frankfurt und der Durchführung des AuschwitzProzesses, weist die hessische Historiografie einen vergleichsweise hohen Standard einschlägiger Forschungen zur NS-Justiz und ihrer Nachgeschichte auf. An der Universität Marburg wurde ein breit angelegtes Forschungsvorhaben zur politischen NS-Strafjustiz durchgeführt, das 2005 in eine zweibändige Publikation mündete. Damit lag eine Forschungsgrundlage vor, die eine ursprünglich 1989 vom Bundesjustizministerium verantwortete Ausstellung zur NS-Justiz intensiv regionalisieren ließ. In einem gemeinsamen Projekt des Studienzentrums der Finanzverwaltung und Justiz in Rotenburg a. d. Fulda, des Bundesministeriums der Justiz, der Universität Marburg, des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt und des Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden entstand die „Doppel-Ausstellung“ (XXIV) „Im Namen des deutschen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus/Verstrickung der Justiz in das NS-System 1933–1945“, die zwischen 2012 und 2014 durch Hessen wanderte. Sie wiederum bildete den Anlass für Konzept und Entstehung des vorliegenden Bandes. Der mit über 700 Seiten voluminöse Band dokumentiert im zweiten Teil die Ausstellung vollständig und bietet im Aufsatzteil eine große Bandbreite an vertiefenden Einzelbetrachtungen zur Geschichte der NS-Justiz und Aspekten ihrer Bewältigung nach 1945 in Hessen. Dem Verlauf der bisherigen hessischen Forschungen entsprechend liegt der Schwerpunkt auf der politischen Strafjustiz während der NS-Zeit. Adressat des Bandes ist nicht nur die Wissenschaft, sondern insbesondere die interessierte Öffentlichkeit, denn wie bereits mit der Ausstellung geht es den Herausgebern auch hier um die Korrektur falscher Bilder und darum, „das Bewusstsein einer hohen Anfälligkeit der Justiz durch eine politische Herrschaftsidee zu erzeugen“ (XXV). Von den 16 vorgelegten Beiträgen betreffen zwölf die „Zeit des Nationalsozialismus“ und vier die Zeit „nach 1945“.
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Im Abschnitt „Ideologie und Strukturen“ befasst sich Werner Konitzer mit „Grundstrukturen nationalsozialistischer Moral“. Er streift kurz die Vorstellungen der NSRechtstheoretiker, um überwiegend Beiträge zu einer nationalsozialistischen Ethik – derer es übrigens aus der Perspektive eines Hitler oder Rosenberg jedenfalls von wissenschaftlicher Seite gar nicht bedurft hätte – vorzustellen. Insbesondere Harry Frankfurt und Georg Usadel werden eingehend erörtert. Die eigentliche Brücke in die nationalsozialistische Rechtsideologie bleibt der Aufsatz indessen schuldig. Der instruktive Beitrag „Die deutschen Richter im Jahre 1933“ von Jens-Daniel Braun und Georg D. Falk steigt ein mit dem Phänomen des sofortigen Funktionierens der Richterschaft im Nationalsozialismus und leitet daraus Fragen nach den Akteuren und ihrem Verhalten ab. Dieser rechtssoziologische Ansatz führt zunächst weit zurück in die deutsche Rechtsgeschichte, um in Abgrenzung zu anderen europäischen Traditionen herauszuarbeiten, dass kleinbürgerlich geprägte und obrigkeitsstaatlich orientierte deutsche Justizjuristen die Weimarer Republik als Katastrophe begreifen mussten und antirepublikanisch agierten, auf dem rechten Auge im Gegensatz zum linken blind. Anhand bekannter, aber hier komprimiert und in eine überzeugende Darstellung gegossener Beispiele führen die Autoren bis hin zum absurden Schwur der deutschen Juristen im Oktober 1933 und zum reibungslosen Funktionieren der Justiz im NS-Staat. Ebenfalls überzeugend wirkt die aufwändig recherchierte und abgewogen argumentierende Studie von Arthur von Gruenewaldt über „Die Präsidenten des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in der Zeit des Nationalsozialismus“, ein überarbeiteter Auszug aus der Dissertation des Autors. Die drei OLG-Präsidenten des Berichtszeitraums werden jeweils mit ihrer Vita, ihrem professionellen Handeln und Bewertungen präsentiert. Bernhard Hempen, der zum 1. Juni 1933 nach Berlin zwangsversetzt wurde (mutmaßliche Ursache war seine Mitgliedschaft im Zentrum), wird gleichwohl recht kritisch bewertet, weil er sich in den Wochen zuvor aktiv an der ‚Säuberung der Justiz‘ beteiligt hatte. Gruenewaldt wertet ihn als „gescheiterten Opportunisten“ (54). Sein Nachfolger Otto Stadelmann, bis zum Erreichen des Ruhestands 1939 im Amt, war hingegen ein überzeugter Nationalsozialist und Profiteur des Herrschaftswechsels. Der letzte OLGPräsident der NS-Zeit, Arthur Ungewitter, wird differenziert als Opportunist und Karrierist, aber nicht als überzeugter Nationalsozialist präsentiert. Exemplarisch erscheinen hier also drei Typen von Justizjuristen, die durchweg im NS-Staat funktionierten. Wolfgang Form legt unter dem Titel „Politische NS-Justiz in Hessen – ein Überblick“ eine souveräne Zusammenfassung der langjährigen Forschungen auf diesem für Hessen gut erforschten Feld vor. Mit Carl Schmitt wird der neue rechtsphilosophische Rahmen der politischen Justiz am Beginn der NS-Zeit eingeführt. Die erste Phase kennzeichnen auch Formen wilder Verfolgungen von Nichtariern und Regimegegnern. Das schnell verfügbare Mittel zur Mitwirkung durch die reguläre Justiz bestand in Hoch- und Landesverratsverfahren, die eigentlich vor das Reichsgericht gehörten, aber ab März 1933 in die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte übertragen wurden. Als „StandardStaatsfeind“ (85) führt Form junge Männer ein, die sich als Anhänger linker Parteien von der Volksgemeinschaft abgrenzten und wegen Vorbereitung zum Hochverrat, in der späten Kriegsphase auch wegen Wehrkraftzersetzung angeklagt wurden. Der Autor erörtert diese Delikte, wegen denen Verfahren gegen hessische Bürger vor dem Reichsgericht, dem im April 1934 geschaffenen Volksgerichtshof und den hessischen Oberlandesgerich-
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ten durchgeführt wurden. Ausgewählte Einzelbeispiele und Nachwirkungen über die NSZeit hinaus schließen den gelungenen Beitrag ab. Das zweite juristische Hauptinstrument zum Vorgehen gegen Regimegegner stellte die Sondergerichtsbarkeit dar. Ausnahmegerichte, indes bestückt mit Justizjuristen der regulären Justiz, agierten in verkürzten Verfahren und bei spezifischen Tatbeständen. „Das Sondergericht Darmstadt. Zwischen vorauseilendem Gehorsam und widerstrebender Gefolgschaft“ bearbeitet Harald Hirsch in einem aufwändig recherchierten und umfänglichen Beitrag. Institution, Errichtung und Geschäftsanfall werden ebenso vorgestellt wie die rechtlichen Grundlagen, insbesondere Sonderstraftatbestände wie „Heimtücke“, und Strafverschärfung. Drei Phasen stellt der Autor heraus: die Etablierung 1933, insbesondere zur Verfolgung politischer Gegner, die Phase der Machtkonsolidierung bis zum Kriegsbeginn, in der überwiegend Nonkonformisten verfolgt wurden, und die Radikalisierung der Sondergerichtsbarkeit in der Kriegsphase, um auf der Basis der „Volksschädlingsverordnung“ und weiterem Kriegssonderrecht die „Heimatfront“ aufrecht zu erhalten. Gerd Hankel betrachtet unter dem Titel „Militärgerichte – der Fall Krauss“ einen Einzelfall, das über den Romanisten Werner Krauss, der zum Umfeld der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ gerechnet wurde, als Gefreiter gefällte Todesurteil. Von diesem Beispiel ausgehend bietet der Autor einen allgemeinen Überblick über die Wehrmachtjustiz, die er forschungskonform im Konzept des Doppelstaats von Ernst Fraenkel dem Maßnahmenstaat zuordnet. Werner Krauss überlebte, weil er nach einem Wiederaufnahmeverfahren mit fünf Jahren Zuchthausstrafe belegt wurde; er starb 1976. Diesen Bogen nutzt der Autor für ein Schlaglicht auf die Nicht-Bewältigung der Wehrmachtsjustiz in der Bundesrepublik Deutschland. Im zweiten Abschnitt „Strafvollzug, Arbeitserziehungslager, Konzentrationslager“ stehen die Sanktionen im Fokus. Rolf Faber liefert einen kurzen Überblick über den „Strafvollzug im ‚Dritten Reich‘“. Dessen Neuausrichtung in der NS-Zeit, spezifische Aspekte wie Kastrationen, Schutzhaft, Arbeitseinsätze und die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz sowie die Anwendung der Todesstrafe werden vorgestellt und durch die Benennung hessischer Zwangsanstalten und Vollstreckungsstätten regional verortet. Ein konkretes lokales Beispiel bietet der Beitrag von Adolf Morlang: „Justiz im ‚Dritten Reich‘ am Beispiel der JVA Diez“. Den Auslöser für die Beschäftigung mit diesem Fall bildete das Auffinden eines französischsprachigen Kassibers aus dem Jahr 1943, das in der quellenkritischen Auswertung erkennen lässt, dass innerhalb der Haftanstalt ein illegales Nachrichtensystem existiert haben muss. Der Beitrag tangiert den Personalkörper der Anstalt, betrachtet vor allem aber die Häftlinge während der NS-Zeit, darunter 470 politisch Verfolgte, über die in der Datenbank des hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden Kurzdossiers vorhanden sind. Der Alltag in der Anstalt, Unterricht und Seelsorge werden vorgestellt, schließlich auch Aspekte der Nachkriegszeit, insbesondere das französische Strafverfahren gegen ehemalige Anstaltsmitarbeiter, die Entnazifizierung und die skurrile Tatsache, dass der NS-Verbrecher Georg Heuser, Hauptakteur im Koblenzer Einsatzgruppenprozess, hier einsaß. Ein anschaulicher lokalhistorischer Beitrag! Die ‚wilde‘ Schutzhaftphase der ersten Herrschaftsmonate bis zur Etablierung ‚geordneter‘ Konzentrationslager in der zweiten Jahreshälfte 1933 bearbeitet Dietfrid Krause-Vilmar in seinem Aufsatz „Schutzhaft und Konzentrationslager im Regierungsbezirk Kassel 1933“. Dieses lokale Beispiel einer vergleichsweise kleinen Einrichtung zeichnet
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nach, wie chaotische Verfolgung politischer Gegner in eine systematische Etablierung nationalsozialistischer Schutzhaft mündete. Der mehrspaltige Beitrag vom 23. Juni 1933 in der Kasseler Post unter dem Titel „Eine Stunde unter Schutzhäftlingen“ macht zudem deutlich, mit welcher öffentlichen Häme dieses Verfolgungssystem errichtet wurde. Das „Zusammenwirken von Justiz und Gestapo am Beispiel des frühen Konzentrationslagers (1933/1934) und Arbeitserziehungslagers Breitenau (1940–1945) in Guxhagen“ bearbeitet Gunnar Richter. Das gleiche lokale Beispiel dient hier einer anderen Fragestellung, die insofern von besonderer Relevanz ist, als jene allein in polizeilicher Verantwortung liegende Schutzhaft als systematisches Urteils- und damit Justizkorrektiv installiert worden war und damit die Justiz vom systematischen Unrecht des KZ-Systems scheinbar unabhängig machte. Tatsächlich aber, und das wird in diesem Beitrag sehr deutlich, gab es ein enges Zusammenwirken von Justiz und Gestapo, das sich nicht nur darin äußerte, dass Häftlingsbiografien wechselnd reguläre Zwangsanstalten und Schutzhaft aufwiesen, sondern auch in ausdrücklichen kodifizierten Kooperationen. Überzeugend schildert Richter die Auswirkungen dieser Kooperationen auf Verfolgungsbiografien sowohl im frühen Konzentrationslager Breitenau als auch im späteren Arbeitserziehungslager Breitenau. Als eine Ursache für die problemlose Kooperation von Gestapo und Justiz macht der Autor die personelle Rekrutierung der Gestapoleitungen, ganz überwiegend Juristen, fest. Im Gegensatz dazu betrachtet Angelika Arenz-Morch in ihrem instruktiven Beitrag „Justiz und politische Polizei – ‚Schutzhaft‘ im KZ Osthofen und Strafverfahren vor dem Sondergericht Darmstadt“ nicht die Kooperation von Justiz und Gestapo, sondern das Wechselspiel der beiden Hauptinstrumentarien für die Verfolgung politisch Abweichender im NS-Staat: zum einen die rein polizeiliche Maßnahme der Schutzhaft auf der Basis der §§ 2 und 4 der „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28.02.1933, zum anderen die „Heimtückeverordnung“ und das anschließende „Heimtückegesetz“, die Hauptgrundlagen für das einschlägige Agieren der an allen Oberlandesgerichten eingerichteten Sondergerichte. Am Beispiel des ausgewählten Konzentrationslagers und des hessischen Sondergerichts stellt die Autorin fest, dass in zahlreichen Fällen ohne erkennbare Systematik bei gleichem Vorhalt im einen Fall das Sondergericht ein Urteil mit Einweisung in eine reguläre Zwangsanstalt verfasste, im anderen Fall eine reine polizeiliche Anordnung von Schutzhaft vorgenommen wurde. De facto handelte es sich um konkurrierende Instrumente, die der Polizei eigenständiges Handeln oder unabhängige Korrektur justiziellen Handelns ermöglichten, aber auch der Justiz die Option einräumten, sich vor der NSHerrschaft zu profilieren. Das Fazit der Autorin: Beide Institutionen wirkten als „willfährige Instrumente des NS-Regimes“ (289). Ebenfalls die Opferperspektive, nämlich die Verfolgungsgeschichte eines prominenten Widerstandleistenden, wird im letzten Beitrag zur NS-Zeit von Axel Ulrich und Stephanie Zibell mit dem Titel „Wilhelm Leuschner und sein antinazistisches Vertrauensleutenetzwerk“ eingenommen. Der in der Weimarer Zeit bedeutende hessische Gewerkschafter und Politiker Wilhelm Leuschner agierte trotz mehrerer Festnahmen und KZ-Erfahrung im Umfeld des Kreisauer Kreises im Widerstand, wurde nach dem missglückten Attentat auf Hitler 1944 verhaftet, vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der Abschnitt über die Zeit nach 1945 ist in zwei Bereiche unterteilt. Unter „Richter und Kontinuitäten“ widmet sich Georg D. Falks Beitrag über „Die ungesühnten Verbrechen der NS-Justiz“ dem noch heute bedrückenden Phänomen des Selbst-Freispruchs der
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bundesdeutschen Justiz. Nach einem kurzen Blick auf das Personal der Justizjuristen, die insbesondere in der Sondergerichtsbarkeit mitgewirkten, erörtert der Autor anhand von Einzelbeispielen, welches justizielle Handeln fraglos als verbrecherisch zu kennzeichnen sei. Drei regional mit Hessen verbundene Todesurteile nimmt er dafür als Belege. Das Scheitern der Entnazifizierung der Justiz mit dem Effekt einer extrem hohen personellen Kontinuität bildet in dieser Darstellung den Hintergrund des „Freispruch(s) für die NaziJustiz“ (352), den er mit einem kursorischen Blick auf bundesrepublikanische Versuche einer strafrechtlichen Aufarbeitung der Justizverbrechen untermauert. Konkreter betrachtet die „Entnazifizierung in der hessischen Justiz – am Beispiel der politischen Strafsenate der Oberlandesgerichte Kassel und Darmstadt“ Theo Schiller. Er wertet Spruchkammerverfahren der Entnazifizierung der den beiden politischen Strafsenaten angehörigen Richter aus. Das Ergebnis der Beschlussfassungen erscheint differenziert, in Teilen auch widersprüchlich. In einigen Fällen befassten sich die Spruchkammern offenkundig intensiv mit dem richterlichen Handeln; Belastete und auch einige Mitläufer sollten nicht wieder eingestellt werden. Grundsätzlich erkennt Schiller ein „individualistisches Schuldkonzept“ (406), das zwar einzelne Karrieren stoppte, aber zugleich unter der Annahme ideologischer Exzesse dem NS-Staat ein Rechtssystem zuwies, das retrospektiv die Erkenntnis der „Verantwortlichkeit im Rahmen systematischer Justizverbrechen“ (406) blockierte, die „Mitläuferfabrik“ (Niethammer) und in der Folge hohe personelle Kontinuität erzeugte. Schließlich gelten zwei Beiträge den „Verfahren zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen“. Volker Hoffmann untersucht „Die Probleme bei der Aufarbeitung von NSVerbrechen, dargestellt an Hand von Strafprozessen am Landgericht Darmstadt.“ Er fasst darin seine 2013 publizierte Studie zusammen. Zu Recht verweist er darauf, dass die Gesamtbilanz von NSG-Bemühungen durchaus ambivalent ist: Je nach Fokus lässt sich die Geschichte der strafrechtlichen NS-Bewältigung als Historie der Versäumnisse oder als Abfolge zahlreicher Bemühungen beschreiben. Gleichwohl gibt es weite Felder des nicht kaschierbaren Versagens. Dazu gehören in den 1950er Jahren die Nichtbefassung der Justiz mit sämtlichen Verbrechen ‚im Osten‘, die Entwicklung juristischer Spitzfindigkeiten wie des ‚Befehlsnotstands‘, um dienstlich begangene Verbrechen etwa von Polizisten straffrei zu machen, und schließlich das Versagen gegenüber der eigenen Profession, der Justiz. Der Autor gliedert die behandelten NS-Verbrechen inhaltlich und bietet jeweils Informationen zur Aufarbeitung durch die hessische Strafjustiz: Machtergreifungsverbrechen, Reichspogromnacht, Kriegsverbrechen, Einsatzgruppen, Verbrechen von Polizei und Justiz, Deportationen und Holocaust, Endphase der NS-Zeit. Sein Fazit bestätigt den allgemeinen Befund, unmittelbar nach Kriegsende habe es zwar Bemühungen gegeben, Verbrechen im Kontext des Ostfeldzuges hätten aber „Schwierigkeiten bereitet“ (429), bis mit der Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg 1958 systematische (Vor-)Ermittlungen einsetzten. Bezogen auf das Landgericht Darmstadt lobt der Autor das frühe Engagement bei der Verfolgung lokaler Verbrechen und konstatiert auch Bemühungen zur Bewältigung der Verbrechen ‚im Osten‘. „Von Justizverweigerung“ könne „daher keine Rede sein.“ (430) – Eine Frage der Perspektive, wie der Autor selbst einleitend ausführt. Der letzte Aufsatz „Der Frankfurter Auschwitz-Prozess: ‚Rechtsstaatliches Verfahren‘ oder ‚Strafrechtstheater‘? Kann mithilfe der Strafjustiz politische Aufklärung geleistet werden?“ von Werner Renz nimmt die spezifischen Intentionen des hessischen Gene-
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ralstaatsanwalts Fritz Bauer in den Fokus, mithilfe des von ihm initiierten großen Auschwitz-Prozesses politisch-historische Aufklärungsarbeit zu betreiben und die „historische Wahrheit“ (Bauer, zitiert nach Renz 434) zu Tage zu fördern. Bauers offenbar von einem positiven Menschenbild getragenes Ziel, die deutsche Bevölkerung durch historische Aufklärung und Konfrontation mit dem Judenmord zu antinazistischen Demokraten zu erziehen, passte nicht, wie Renz in Erinnerung ruft, zum „vergangenheitspolitischen Zustand der Bundesrepublik“ (441) in den 1950er und 1960er Jahren. Auch die erstmalig bewusst eingesetzten historischen Gutachter trugen nicht dazu bei, trotz enormer publizistischer Resonanz ein Umdenken zu erzeugen. Das Schlussstrich-Klima wandelte sich nicht. Auch mit einem zweiten Ansatz, der dieser Strategie der intensiven Befassung mit dem historischen Sachverhalt eigentlich widersprach, scheiterte Fritz Bauer im konkreten Verfahren: mit seiner Rechtsauffassung, allein die tätige Anwesenheit in Institutionen des Völkermords konstruiere eine „natürliche Handlungseinheit“ (437), die eine Mittäterschaft qualifiziere und intensive individualisierte Beweisführungen hinfällig mache. Seine Mitankläger und erst recht der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer ließen sich darauf nicht ein, sondern führten den Auschwitz-Prozess wie jeden anderen Strafprozess. Dieser sehr kurze Beitrag gehört zu den spannendsten im ganzen Band! Die zweite Hälfte des Buches besteht in einer vollständigen Dokumentation der beendeten Wanderausstellung „Verstrickung der Justiz in das NS-System 1933–1945. Forschungsergebnisse für Hessen“, die von Wolfgang Form nochmals kurz eingeführt und erläutert wird. Da diese außergewöhnliche – und hervorragende – Ausstellung in dieser Form nicht wieder zu sehen sein wird, ist ihre komplette Sicherung als besonders verdienstvoll zu kennzeichnen. Abgeschlossen wird der – von vereinzelten Setzfehlern abgesehen – sorgsam edierte Band mit einem Personen- und Ortsregister sowie Kurzvorstellungen der beteiligten Autorinnen und Autoren. Es muss kaum noch unterstrichen werden: Das vorgestellte Werk besitzt besonderen Wert und spiegelt die auf dem Feld der historiografischen Befassung mit der NS-Justiz und ihrer Nachgeschichte vorbildliche Gesamtlage in Hessen. Uwe Danker
Flensburg
FRANTIŠEK STEINER: Fußball unterm gelben Stern. Die Liga im Ghetto Theresienstadt 1943–44, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Stefan Zwicker, Paderborn: Schöningh 2017, 195 S., 54 s/w Abb., (ISBN 978-3-506-78626-5), 26,90 EUR. Dass im Ghetto Terezín (Theresienstadt) in den Jahren 1943 und 1944 ein ausgedehnter Fußballbetrieb auf die Beine gestellt wurde, ist erst seit der Jahrtausendwende ein Thema der Forschung. Es war der Deutsche Fußball-Bund, der im Millenniumsjahr in eigenen Sektionen der kulturhistorischen Ausstellung „Der Ball ist rund“ und in separaten Kapiteln des Ausstellungskatalogs erstmals eine breite Öffentlichkeit nicht nur mit dem Schicksal jüdischer Fußballspieler im „Dritten Reich“ konfrontierte, sondern auch mit dem KZ- bzw. Ghetto-Sport. Eine grundlegende wissenschaftliche Darstellung verdanken wir Nicola Schlichting (2006), gefolgt von Veröffentlichungen aus der Feder von Veronika Springmann (2007 ff.), Anna Hájková (2009 ff.), Kevin E. Simpson (2016) und anderen.
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Dem Historiker und Übersetzer Stefan Zwicker verdanken wir nun die kommentierte Übersetzung des von František Steiner 2009 auf Tschechisch veröffentlichten Buchs über Fußball in Terezín. Das in der Übersetzung 125 Seiten zählende Werk Steiners wird von Zwicker sachkundig eingeleitet (7–18), in einem sporthistorischen Epilog kenntnisreich kontextualisiert (137–144), mit Endnoten detailreich kommentiert (145–175), mit einem umfänglichen Literaturverzeichnis (177–189) sowie einem Personenregister (191–195), in dem die Endnoten leider nicht berücksichtigt wurden, abgeschlossen. Die in der Originalausgabe verwendeten Illustrationen ergänzte Zwicker mit Abbildungen aus den Archiven der Gedenkstätten Pamatník Terezín und Beit Theresienstadt. Der Verfasser der Originalausgabe, František Steiner (1925–2013), war Spitzensportler im Wasserball und zählte zu den bekanntesten tschechischen Sportjournalisten, der auch für deutsche Medien wie das „Kicker Sportmagazin“ oder den Sport-InformationsDienst (sid) schrieb. In der NS-Zeit wurde er als „Halbjude“ verfolgt; sein Vater war in Theresienstadt interniert (10 f.). Steiners Werk stützt sich in weiten Teilen auf Zeitzeugengespräche, die im Wortlaut ausführlich wiedergegeben werden. Dass die Nationalsozialisten die unter Kaiser Joseph II. als Garnisonsstadt mit Festungsanlage erbaute und nach dessen Mutter Kaiserin Maria Theresia benannte nordböhmische Kleinstadt Terezín als Sammel- und Durchgangslager für deportierte Bürger jüdischer Herkunft nutzten, ist seit Jahrzehnten bekannt. Die Forschung bezeichnet Terezín als Ghetto oder Konzentrationslager. Die aus verschiedenen Ländern Europas dorthin Verschleppten waren für den Abtransport in Vernichtungslager bestimmt. Jedoch fielen bereits in Terezín über 30 000 Deportierte dem Hunger, Krankheiten, Entkräftung, Misshandlungen und Hinrichtungen zum Opfer. Das Lager beherbergte Produktions- und Dienstleistungsstätten – eine Reparaturwerkstatt für Uniformen, eine Glimmerspalterei, Kartonagen- und Kistenproduktionen etc. – und war neben der Funktion in der „Endlösung der Judenfrage“ für die nationalsozialistische Propaganda wichtig. Diese verbreitete zur Täuschung des Auslands das trügerische Bild eines selbstbestimmten jüdischen „Siedlungsgebiets“, mithin eines „Altersheims“ für betagte Juden bzw. eines „Paradieses“ für Kinder und Jugendliche. Diesem Zweck diente beispielsweise eine Inspektion des Internationalen Roten Kreuzes sowie ein „Dokumentarfilm“ („Theresienstadt. Ein Bericht aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“), der immer wieder unter dem falschen Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ firmiert (63–69). Die sehr umtriebige jüdische Selbstverwaltung organisierte kulturelle Veranstaltungen (Vorträge und literarische Abende, Konzert-, Opern- und Theateraufführungen etc.) und sportliche Aktivitäten. Sie bemühte sich ferner um die Schulbildung und Erziehung der zahlreichen internierten Kinder und Jugendlichen. Weithin bekannt sind die Aufführungen der von Hans Krása (1899–1944) komponierten Kinderoper „Brundibár“, mit der die Lagerverwaltung bei den Jüngsten für Ablenkung, Unterhaltung und Lebensfreude sorgte. Dass die Internierten für den Transport in Vernichtungslager, vor allem nach Auschwitz-Birkenau, bestimmt waren, wurde ihnen verschwiegen. Im Kontext der Thematik KZ-Sport nimmt Theresienstadt eine Sonderstellung ein. Zwar sind aus verschiedenen nationalsozialistischen Konzentrationslagern gelegentliche Fußballspiele und andere Sportveranstaltungen zur Unterhaltung der Wachmannschaften und Hebung der Arbeitsmoral der Häftlinge überliefert (140–143), aber der Fußballbe-
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trieb in Terezín ist aufgrund seines hohen Organisationsgrades und der Dauer seines Bestehens singulär. Ebenso wie andere Kunst- und Kulturveranstaltungen (48) waren Fußballspiele im Lager „eine Hilfe zum Weiter- und Überleben“ (13), „kurzzeitig existierende Inseln der Lebensfreude“ (14), „eine Droge“, „ein Augenblick der Menschlichkeit“ für Häftlinge, die „ansonsten nichts als Nummern waren“, „für eine Weile ein absolutes Sich-Ausleben“ (46), „Unterhaltung, Aufmunterung und wenn man spielte, fühlte man sich nicht als Gefangener“ (127). Das ist der Grundtenor, der die Zeitzeugenberichte durchzieht und in der Aussage „Der Fußball war das Leben“ (135) gipfelt. Dies galt für die aktiven Spieler und die Zuschauer gleichermaßen. Die Spiele fanden durchschnittlich etwas mehr als zweitausend Zuschauer, das letzte Ligaspiel eine Rekordkulisse von circa 7 500 Gästen. Die Kicker erlangten Privilegien, insbesondere bei der Zuteilung von Lebensmitteln (74–77), unter ihnen einige international bekannte Prominente, etwa der tschechische Fußballnationalspieler Paul Mahrer (83–89) oder der spätere Rugby-Nationalspieler Miloš GutDobrý (92–94). Der bekannte Schriftsteller Arnošt Lustig war Torwart einer Jugendmannschaft, eine Position, die er ein Vierteljahrhundert später beim Internationalen Filmfestival in Karlsbad in einem Spiel der Künstlerelf gegen das Team der Techniker noch einmal besetzte (95–99). Die Fußballspiele waren in zwei Klassen (die eingleisige „Liga“ und die zwei Gruppen umfassende „Division“) mit der Möglichkeit des Aufstiegs und Abstiegs organisiert. Außerdem fanden ein Pokalwettbewerb, Jugendspiele sowie Freundschafts-, Länder- und internationale Städtespiele statt (62 f.). Das Spiel um den „Superpokal“ wurde zwischen Ligameister und Pokalsieger ausgetragen (51–55; Übersicht der Sieger auf S. 133). Für einen Wettbewerb der B-Mannschaften war die Spielerdecke zu dünn; Ende 1943 eingeführt, musste er wegen der Deportationen alsbald abgebrochen werden (60). Die Mannschaften umfassten, der Größe der Spielfelder in den Kasernenhöfen angepasst, jeweils sieben Spieler. Sie repräsentierten die Betriebseinrichtungen des Lagers (Köche, Elektriker, Gärtner, Ghetto-Wache etc.), wurden aber auch nach bürgerlichen oder jüdischen Clubs benannt (z. B. Fortuna Köln, Maccabi Prag). Die Spielzeit wurde auf zweimal 35 Minuten reduziert; die Tore waren etwas größer als Handballtore. In der „Form eines Fußballverbandes“ (36) gehörten die Organisatoren unterschiedlichen Kommissionen und Ausschüssen an. Sogar Doping ist aus Theresienstadt bekannt (74, 133). Für die Sportberichterstattung sorgten hand- oder maschinenschriftlich hergestellte Zeitschriften (106– 115). Künstlerisch begabte Lagerinsassen hielten das Alltagsleben und Fußballspielen im Bild fest (56, 73 f., 107 f., 162 f.). Dieser Mikrokosmos spiegelte die Strukturen und Prozeduren eines bürgerlichen Fußballverbandes bis ins Detail. Mit der kommentierten Übersetzung von František Steiners Buch erschließt Stefan Zwicker eine ungemein aussagekräftige Quelle über das dunkelste Kapitel des Fußballsports der NS-Zeit. Gerade wegen dieses Verdienstes hätte der Edition eine gründliche Überarbeitung gut getan: zum einen in stilistischer Hinsicht; zum anderen trifft die von Zwicker über die tschechische Originalausgabe geführte Klage (11 f.) auch auf die deutsche Übersetzung zu. So wimmelt diese von Orthografie-, Grammatik- und insbesondere Interpunktionsfehlern, die in dieser Anzahl einem renommierten Verlag nicht hätten durchgehen dürften. Zwanzig derartige Fehler auf drei aufeinander folgenden Seiten des
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Epilogs (138–140) sind entschieden zu viel. Dieses wichtige Buch hätte ein besseres Lektorat verdient gehabt. Markwart Herzog
Irsee
AUTORENVERZEICHNIS Oliver Auge
Jan Habermann Jan Kilián
Lena Krull
Kevin Rick Michaela Schmölz-Häberlein
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Historisches Seminar, Regionalgeschichte mit Schwerpunkt Schleswig-Holsteins, Leibnizstraße 8, 24118 Kiel Fachbereich Kultur, Kaiserpfalz Goslar, Kaiserbleek 6, 38640 Goslar Lehrstuhl für historische Hilfswissenschaften und Archivwesen, Philosophische Fakultät, Universität Königgrätz (Hradec Králové) Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster Staustraße 14, 26122 Oldenburg Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Lehrstuhl für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte, Kapuzinerstraße 16, 96047 Bamberg
Das Jahrbuch für Regionalgeschichte umfasst sowohl quellenbasierte Studien als auch Forschungsüberblicke. Jan Habermann zeigt, wie sich die Konflikte zwischen den salischen Königen und dem Adel im nördlichen Harz in der Entwicklung des hochmittelalterlichen Burgenbaus widerspiegelten. Oliver Auge resümiert jüngere Tendenzen der Hansegeschichtsforschung und plädiert für eine stärkere Verschränkung regionaler, überregionaler und ‚globaler‘ Perspektiven auf die Hanse. Jan Kilián untersucht das Verhältnis zwischen Militär und Zivilbevöl-
kerung in oberpfälzischen Städten während des Dreißigjährigen Krieges. Lena Krull verweist auf die wissenschaftlichen, praktischen und gesellschaftlichen Potenziale einer sich (auch) als Public History verstehenden Landes- und Regionalgeschichte. Kevin Rick führt am Beispiel der Verbraucherpolitik in Schleswig-Holstein vor, wie fruchtbar eine regionale Perspektive für die politische Zeitgeschichte sein kann. Michaela Schmölz-Häberlein leistet abschließend eine Bestandsaufnahme neuerer Arbeiten zur jüdischen Regionalgeschichte.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-12431-7
9
7835 1 5 1 243 1 7
ISSN 1860-8248