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German Pages 284 [286] Year 2018
JbRG Band 36
Jahrbuch für Regional geschichte Geschichte
Franz Steiner Verlag
Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 36
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE Schwerpunkt: Die Nutzung und Wahrnehmung von Straßen und Wegen (1100–1800)
Gastherausgeber: Alexander Denzler
Franz Steiner Verlag
jahrbuch für regionalgeschichte Begründet von Karl Czok Herausgegeben von Mark Häberlein, Bamberg (verantwortlich) / Helmut Bräuer, Leipzig / Josef Ehmer, Wien / Rainer S. Elkar, Siegen / Gerhard Fouquet, Kiel / Franklin Kopitzsch, Hamburg / Reinhold Reith, Salzburg / Martin Rheinheimer, Odense / Dorothee Rippmann, Itingen / Susanne Schötz, Dresden / Sabine Ullmann, Eichstätt Redaktion: Andreas Flurschütz da Cruz / Sandra Schardt (Bamberg) www.steiner-verlag.de/jrg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Satz: Sandra Schardt, Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1860-8248 ISBN 978-3-515-12135-4 (Print) ISBN 978-3-515-12144-6 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis Editorial ................................................................................................................. 11
I Abhandlungen Themenschwerpunkt: Die Nutzung und Wahrnehmung von Straßen und Wegen (1100–1800) Alexander Denzler: Einleitung ............................................................................................................... 15 Alexander Denzler und Maria Weber: Ein Nemen und aus geben von wegen an Steg und Weg. Materialität, Instandhaltungsmaßnahmen und Kosten Nürnberger Straßen und Brücken am Beispiel des Straßenmanuals von 1547............................................................ 25 Dorothée Goetze: Sprechen über Straßen. Zur Funktion von Straßen in Aubry de la Motrayes (1647–1743) Travels through Europe, Asia and into part of Africa ..................... 53 Birgitta Coers: Monumente am Wegesrand. Piranesis „Via Appia“ und die antiquarische Forschung im 17. und 18. Jahrhundert ........................................................................ 73 Jörg Widmaier: Pilgern auf dem Holzweg? Überlegungen zur gotländischen Verkehrsinfrastruktur ........................................................................................................... 95 Tomáš Klimek and Pavel Bolina: Cosmasʼ Road across Hill Osek as an Example of how Narrative Sources Can Help us Interpret Medieval Roads ....................................................................... 115 Christina Patz: Flucht von Alischanz. Zur Wahrnehmung und Nutzung von Straßen und Wegen während des Rückzugs Willehalms nach Orange ................................... 131 Simon Falch: Straßen und Wege in der Artusepik. Wolframs von Eschenbach Beitrag zu einer topographischen Beschreibungstechnik im Parzival .................................. 151
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Inhalt
II Rezensionen und Annotationen 1. Epochenübergreifend Matthias Asche, Ulrich Niggemann (Hg.): Das leere Land Besprochen von Stefan Manz ............................................................................... 181 Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe (Bände 1–4): Susanne Freund, Franz-Josef Jakobi, Peter Johanek (Hg.): Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster Karl Hengst (Hg.): Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Detmold Susanne Freund (Hg.): Grundlagen, Erträge, Perspektiven Frank Göttmann (Hg.): Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg Besprochen von Sabine Ullmann ......................................................................... 184 Jürgen Newig, Uwe Haupenthal (Hg.): Rungholt Besprochen von Martin Rheinheimer .................................................................. 187 Birgit Stalder, Martin Stuber, Sibylle Meyrat (Hg.): Von Bernern und Burgern (Band 1 und 2) Besprochen von Emil Erne .................................................................................. 190 Dietmar Schiersner (Hg.): Zeiten und Räume Besprochen von Wolfgang Wüst .......................................................................... 192 Karl Härter (Hg.): Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Band 11: Fürstbistümer Augsburg, Münster, Speyer, Würzburg Besprochen von Wolfgang Wüst .......................................................................... 194 Maria Anna Zumholz: „Das Weib soll nicht gelehrt seyn.“ Besprochen von Jessica Cronshagen .................................................................. 197 Gabriele Jancke, Daniel Schläppi (Hg.): Die Ökonomie sozialer Beziehungen Besprochen von Eva Brugger .............................................................................. 199
Inhalt
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Wolfgang Behringer, Claudia Opitz-Belakhal (Hg.): Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder Besprochen von Helmut Bräuer .......................................................................... 201 Ina Mittelstädt: Wörlitz, Weimar, Muskau Besprochen von Michaela Schmölz-Häberlein.................................................... 203 Regina Dauser, Peter Fassl, Lothar Schilling (Hg.): Wissenszirkulation auf dem Land vor der Industrialisierung Besprochen von Rainer S. Elkar .......................................................................... 205 Rainer Hennl, Konrad Krimm (Hg.): Industrialisierung im Nordschwarzwald Besprochen von Gerhard Fritz ............................................................................ 208 2. Mittelalter Felix Heinzer, Thomas Zotz unter Mitarbeit von Hans-Peter Schmit (Hg.): Hermann der Lahme Besprochen von Andrea Stieldorf ........................................................................ 210 Janis Witowski: Ehering und Eisenkette Besprochen von Andrea Stieldorf ........................................................................ 211 Christian Burkhart, Jörg Kreutz (Hg.): Die Grafen von Lauffen am mittleren und unteren Neckar Besprochen von Gerhard Fritz ............................................................................ 214 Andreas Schmidt: „Bischof bist du und Fürst“ Besprochen von Christof Paulus ......................................................................... 215 Niklas Konzen: Aller Welt Feind Besprochen von Gabriel Zeilinger ...................................................................... 217 Bettina Pfotenhauer: Nürnberg und Venedig im Austausch Besprochen von Mark Häberlein ......................................................................... 219
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Inhalt
3. Frühe Neuzeit Susan Richter, Armin Kohnle (Hg.): Herrschaft und Glaubenswechsel Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz ..................................................... 222 Werner Freitag: Die Reformation in Westfalen Besprochen von Michael Rohrschneider ............................................................. 225 Benjamin Hitz: Kämpfen um Sold Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz ..................................................... 226 Tim Neu: Die Erschaffung der landständischen Verfassung Besprochen von Mark Häberlein ......................................................................... 229 Britta Schneider: Fugger contra Fugger Besprochen von Markus A. Denzel ...................................................................... 231 Diana Egermann-Krebs: Jacob Fugger-Babenhausen (1542–1598) Besprochen von Mark Häberlein ......................................................................... 233 Hanna Brommer: Rekatholisierung mit und ohne System Besprochen von Johannes Staudenmaier ............................................................ 235 Olaf Richter: Niederrheinische Lebenswelten in der Frühen Neuzeit Besprochen von Manuel Hagemann .................................................................... 238 Christian Leo: Würzburg unter schwedischer Herrschaft besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz ...................................................... 240 Ulrike Ludwig: Das Duell im Alten Reich Besprochen von Benjamin von der Linde ............................................................ 242 Andrea Bonoldi, Markus A. Denzel, Andrea Leonardi, Cinzia Lorandini (Hg.): Merchants in Times of Crises (16th to mid-19th Century) Besprochen von Margrit Schulte-Beerbühl ......................................................... 244
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Detlef Döring: „Dann sprach ich bei Professor Gottsched vor …“ Besprochen von Tanya Kevorkian ....................................................................... 246 Oliver Heyn: Das Militär des Fürstentums Sachsen-Hildburghausen 1680–1806 Besprochen von Benjamin von der Linde ............................................................ 247 Nadir Weber: Lokale Interessen und große Strategie Besprochen von Rainer S. Elkar .......................................................................... 249 Alexis Joachimides, Charlotte Schreiter, Rüdiger Splitter (Hg.): Auf dem Weg zum Museum Besprochen von Andrea M. Gáldy ....................................................................... 252 Alexander Denzler: Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert Besprochen von Wolfgang E. J. Weber ............................................................... 255 Paul von Stetten d. J. Selbstbiographie: Barbara Rajkay, Angela Schlenkrich (Bearb.): Die kalendarischen Aufzeichnungen 1791–1804 Barbara Rajkay, Ruth von Stetten (Bearb.): Die Aufzeichnungen zu den Jahren 1804–1807 Besprochen von Johannes Staudenmaier ............................................................ 257 Mark Häberlein, Michaela Schmölz-Häberlein: Adalbert Friedrich Marcus (1753–1816) Michaela Schmölz-Häberlein, Mark Häberlein: Die Medizinische Bibliothek des Adalbert Friedrich Marcus Besprochen von Imtraut Sahmland...................................................................... 259 4. 19. und 20. Jahrhundert Holger Th. Gräf, Alexander Jendorff, Pierre Monnet (Hg.): Land – Geschiche – Identität Besprochen von Eugen Kotte ............................................................................... 262 Catharina Raible: Rangerhöhung und Ausstattung Besprochen von Katja Heitmann ......................................................................... 265
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Inhalt
Marita Krauss (Hg.): Die bayerischen Kommerzienräte Besprochen von Elmar Kerner ............................................................................ 267 Gisela Mettele, Andreas Schulz (Hg.): Preußen als Kulturstaat im 19. Jahrhundert Besprochen von Eva Giloi ................................................................................... 270 Swen Steinberg: Unternehmenskultur im Industriedorf Besprochen von Robert Bernsee .......................................................................... 273 Thomas Medicus (Hg.): Verhängnisvoller Wandel Besprochen von Jens Jäger ................................................................................. 275 Wolf-Ingo Seidelmann: „Eisen schaffen für das kämpfende Heer!“ Besprochen von Karsten-Heinz Schönbach ......................................................... 277 Peter Fassl (Hg.): Die NS-Zeit in Ortsgeschichten Besprochen von Bert Freyberger ........................................................................ 279 Rita Garstenauer, Anne Unterwurzacher (Hg.) Aufbrechen, Arbeiten, Ankommen Besprochen von Sabine Liebig ............................................................................ 281
EDITORIAL
In unregelmäßigen Abständen widmet sich das Jahrbuch für Regionalgeschichte thematischen Schwerpunkten. So ging es in Jahrbuch 29 (2011) unter dem Titel „Praxis der Grenze“ um Grenzziehungen und Grenzkonflikte im Heiligen Römischen Reich, und Jahrbuch 32 (2014) widmete sich interdisziplinären Perspektiven auf das Thema „Nachhaltigkeit“. Das diesjährige Jahrbuch nimmt nun mit der Wahrnehmung und Nutzung von Straßen und Wegen ein wesentliches Element der Raumgestaltung in der Vormoderne in den Blick. Die Initiative zu diesem Themenband ging von Dr. Alexander Denzler aus, der dazu Ende November 2015 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt einen interdisziplinären Workshop veranstaltete. Neben Historikerinnen und Historikern sind an diesem Themenschwerpunkt auch Vertreterinnen und Vertreter der Kunstgeschichte, Archäologie und germanistischen Mediävistik beteiligt. Über den interdisziplinären Dialog hinaus eröffnet der Themenschwerpunkt auch Perspektiven auf Straßen und Wege in europäischen Regionen, die bislang noch kaum im Fokus des Jahrbuchs standen. Alexander Denzler sei daher an dieser Stelle für seine Initiative ebenso gedankt wie Andreas Flurschütz und Sandra Schardt, die in bewährter Form die redaktionelle Betreuung des Bandes übernommen haben. Bamberg, im April 2018
Mark Häberlein
ABHANDLUNGEN
Themenschwerpunkt: Die Nutzung und Wahrnehmung von Straßen und Wegen (1100–1800)
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 36 (2018), S. 15–23
EINLEITUNG Alexander Denzler Die Feststellung von Rainer Christoph Schwinges aus dem Jahr 2007, nach der die „Straßen- und Verkehrsgeschichte […] nicht gerade im Mainstream der Geschichtswissenschaft“ liegt1, hat nach wie vor ihre Gültigkeit. Zwar erfahren (einzelne) (Handels-)Straßen immer wieder Aufmerksamkeit im Rahmen von Ausstellungen,2 oder es werden sowohl inner-3 als auch außerstädtische Straßen als ein wichtiger Bestandteil der Erfahrung von Reisenden erkannt4. Ebenso gehören 1 2
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RAINER CHRISTOPH SCHWINGES: Straßen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter – Eine Einführung. In: Ders. (Hg.): Straßen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 66), Ostfildern 2007, 9–18, hier 16. ROLAND ENKE, BETTINA PROBST (Hg.): Via Regia. 800 Jahre Bewegung und Begegnung. Katalog zur 3. Sächsischen Landesausstellung Görlitz 2011, Dresden 2011; WINFRIED MÜLLER, SWEN STEINBERG (Hg.): Menschen unterwegs. Die Via Regia und ihre Akteure (Essayband zur 3. Sächsischen Landesausstellung 21. Mai bis 31. Oktober 2011), Dresden 2011; FERDINAND SEIBT, ULRICH BORSDORF, HEINRICH THEODOR GRÜTTER (Hg.): Transit Brügge – Novgorod. Eine Straße durch die europäische Geschichte (Katalog zur Ausstellung des Ruhrlandmuseums Essen 15. Mai bis 21. Sept. 1997), Bottrop/Essen 1997; WILLI STUBENVOLL (Hg.): 750 Jahre Messen in Frankfurt. „Die Straße“. Geschichte und Gegenwart eines Handelsweges, 2 Bde. (Katalog- u. Essayband zur Ausstellung Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen, Bad Homburg v. d. Höhe 1990), Frankfurt a.M. 1990. RIITA LAITINEN, THOMAS V. COHEN (Hg.): Cultural History of Early Modern Streets, Leiden u. a. 2009; JEAN PIERRE LEGUAY: La rue au Moyen age, Rennes 1984. SUSANNE RAU: Zeit-Räume, Parcours und Karte. Die Raum-Erkundungen der Reisenden in frühneuzeitlichen Großstädten. In: ELISABETH TILLER, CHRISTOPH O. MAYER (Hg.): RaumErkundungen. Einblicke und Ausblicke, Heidelberg 2011, 154–180, hier 163 f.; SUSANNE RAU: Räume der Stadt. Eine Geschichte Lyons 1300-1800, Frankfurt a.M. 2014, 259–270; DESANKA SCHWARA: Unterwegs. Reiseerfahrung zwischen Heimat und Fremde in der Neuzeit, Göttingen 2007, 117–123; WOLFGANG TREUE: Abenteuer und Anerkennung. Reisende und Gereiste in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (1400–1700), Paderborn 2014, 77, 162–167, 215 (Straßen), 45, 78, 93, 121, 170, 290 (Wege). Straßen und Wege werden auch ansonsten in Überblicksdarstellungen zum Reisen stets genannt: HOLGER TH. GRÄF, RALF PRÖVE: Wege ins Ungewisse. Reisen in der Frühen Neuzeit 1500–1800, Frankfurt a.M. 1997, u. a. 75–109; FOLKER REICHERT: Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart 2001, u. a. 23–28; ANTONI MACZAK: Travel in Early Modern Europe, Cambridge 1995, u .a. 4–29; NORBERT OHLER: Reisen im Mittelalter, Düsseldorf/Zürich 2004 (Erstauflage München 1986), u. a. 54–107 u. 192–196. Mit den Reisenden werden aber nicht nur Straßen, sondern auch umgekehrt Straßen auf Grundlage von Reiseberichten behandelt, wie bei GEORG HANKE (Hg.): Die großen Alpenpässe. Reiseberichte aus neun Jahrhunderten, München 1967; LUDWIG STEINFELD: Chronik einer Straße. Die alte Straße von Frankfurt nach Leipzig, 4. verb. Aufl., Horb a. Neckar 1991, 54–175.
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Alexander Denzler
(Alpen-)Straßen5 zum (festen) Themenkanon der Sozial-6, Mobilitäts-7, Wirtschafts-8, Handels-9, Transport-10, Militär-11, Rechts-12, Medien-, Kommunika5
ARNOLD ESCH: Spätmittelalterlicher Passverkehr. Typologie der Quellen. In: Ders.: Alltag der Entscheidung. Beiträge zur Geschichte der Schweiz an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Bern 1998, 173–248; HERBERT HASSINGER: Zur Verkehrsgeschichte der Alpenpässe in der vorindustriellen Zeit. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 66 (1979), 441–465; REINHARD STAUBER: Der Norden des Südens. Bayern, Tirol und der Weg nach Italien in der Frühen Neuzeit. In: ALOIS SCHMID (Hg.): Von Bayern nach Italien. Transalpiner Transfer in der Frühen Neuzeit (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 38) München 2010, 27–50; JOHANNES HASLAUER: Kesselbergstraße, publiziert am 30.03.2010. In: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/ Lexikon/Kesselbergstraße [20.08.2017]; MARION SAUTER: Saumpfad – Lini – Speedway. Die Erschliessung des Klausenpasses, Emmenbrücke 2016. 6 ARNOLD ESCH: Räuber, Diebe, Wegelagerer: Reviere, Beute, Schicksale in Berner Verhörprotokollen des frühen 16. Jahrhunderts. In: Ders.: Entscheidung (wie Anm. 5), 137–160; HARALD KLEINSCHMIDT: Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele historischer Migrationsforschung, Göttingen 2002; MARTIN RHEINHEIMER: Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850 (= Europäische Geschichte), Frankfurt a.M. 2000; ERNST SCHUBERT: Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995. 7 ANNETTE HENNIGS: Gesellschaft und Mobilität. Unterwegs in der Grafschaft Lippe 1680 bis 1820 (= Sonderveröffentlichungen des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe 66), Bielefeld 2002; PETER MORAW (Hg.): Unterwegssein im Spätmittelalter (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 1), Berlin 1985. 8 FRIEDRICH-WILHELM HENNING: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (= Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands 1), München/Wien/Zürich 1991, 623 f.; HERMANN KELLENBENZ: Wirtschaft und Gesellschaft Europas 1350–1650, in: Ders. (Hg.): Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom ausgehenden Mittelalter bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ( = Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 3), Stuttgart 1986, 1–387, hier 298 f. Siehe in letzerem Handbuch auch die einzelnen Länderbeschreibungen mit Abschnitten wie ‚Transport und Verkehr‘ für Portugal; PAOLO MALANIMA: Europäische Wirtschaftsgeschichte. 10.–19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2010, 221 f.; Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg.): Handbuch Wirtschaftsgeschichte, 2 Teilbde., Berlin 1981, u. a. 597. 9 PAUL B. NEWMAN: Travel and Trade in the Middle Ages, Jefferson 2011, 42–48; 10 PETER MOSER: Mittel- und Nordwesteuropäischer Landtransport: Die Frammersbacher Fuhrleute und ihr Beitrag zur Transportgeschichte (15.–19. Jahrhundert), Bamberg 1990; MARCUS POPPLOW: Europa auf Achse. Innovation des Landtransports im Vorfeld der Industrialisierung. In: ROLF PETER SIEFERLE (Hg.): Transportgeschichte (= Der europäische Sonderweg 1), Berlin 2008, 79–142, hier 107–119; MARCUS POPPLOW: Art. Verkehr und Transport. 1. Allgemein u. 2. Zu Lande. In: FRIEDRICH JAEGER (Hg): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 14, Stuttgart 2010, 114–128; DETLEV ELLMERS: Art. Verkehr und Transport. 3. Zu Wasser. In: JAEGER (Hg): Enzyklopädie, Bd. 14, 128–139. 11 BERNHARD KROENER: Les Routes et les Étapes. Die Versorgung der französischen Armeen in Nordostfrankreich (1635–1661). Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte des Ancien Régime (= Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V. 11), Münster 2008; GEOFFREY PARKER: The Army of Flanders and the Spanish Road 1576–1659, 2. Aufl. Cambridge 2004. 12 PETER JOHANEK: Die Straße im Recht und in der Herrschaftsausübung des Mittelalters. In: KORNELIA HOLZNER-TOBISCH u. a. (Hg.): Die Vielschichtigkeit der Straße. Kontinuität und Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit (= Veröffentlichungen des Instituts für Realienkun-
Einleitung
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tions- und Postgeschichte13. Mit dieser Aufmerksamkeit, die Straßen durch die unterschiedlichen historischen Teildisziplinen diesseits und jenseits der Verkehrsgeschichte14 erfahren, ist das Phänomen Straßen aber noch keineswegs erschöpfend behandelt. Aktuelle Lexikon- und Handbuchartikel15 sowie (ältere) Überblicksstudien16 bestätigen vielmehr die Erfordernis, Straßen nicht nur am Rande mitzubehandeln, sondern sie selbst in den Fokus einer Analyse zu erheben. Denn ungeachtet der Bedeutung, die Straßen für das Leben hatten und haben – sie „bilden die Grundstruktur eines jeden räumlichen Geschehens. Ohne sie sind Landwirtschaft, Transport, Kommunikation, Handel und Verkehr […] nicht möglich“17 – wissen wir über die „Adern menschlicher Kommunikation“18 noch sehr wenig.
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de des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 22), Wien 2002, 233–262; MARTIN OTTO: Art. Wegerecht. In: JAEGER: Enzyklopädie (wie Anm. 10), Bd. 14, 739–742; KLAUS BAYRER: Art. Verkehrsregeln. In: JAEGER: Enzyklopädie (wie Anm. 10), Bd. 14, 142–144. WOLFGANG BEHRINGER: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 189), Göttingen 2003; PHILIP BEALE: England’s Mail. Two Millennia of Letter Writing, Stroud 2011, 63–80 u. 200–224. CHRISTOPH MARIA MERKI: Verkehrsgeschichte und Mobilität, Stuttgart 2008, 16–18; FRITZ VOIGT, Verkehr, Bd. II/1: Die Entwicklung des Verkehrssystems, Berlin 1965, 401; HANS ULRICH SCHIEDT, LAURENT TISSOT, CHRISTOPH MARIA MERKI, RAINER SCHWINGES (Hg.), Verkehrsgeschichte = Histoire des transports (= Schweizerische Gesellschaft für Wirtschaftsund Sozialgeschichte 25), Zürich 2010; HANS-ULRICH SCHIEDT: Trampelpfade und Chausseen – Literaturbericht einer strassenbezogenen Verkehrsgeschichte. In: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 2 (1999), 17–35; CHRISTOPH MARIA MERKI, HANS ULRICH SCHIEDT (Hg.): Strasse und Strassenverkehr (= Traverse. Zeitschrift für Geschichte 6), Zürich 1999. KLAUS BAYRER: Art. Weg. In: JAEGER: Enzyklopädie (wie Anm. 10), Bd. 14, 736–738; ALBRECHT CLASSEN: Roads, Streets, Bridges, and Travelers. In: Ders. (Hg.): Handbook of medieval culture, Bd. 3: Fundamental aspects and conditions of the European Middle Ages, Berlin u. a. 2015, 1511–1534; ALEXANDER DENZLER: Art. Straße. In: FRIEDRICH JAEGER (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online (im Erscheinen); ALOIS KOCH: Art. Straßen (Mittelalter/Frühe Neuzeit), publiziert am 23.05.2012; in: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Straßen_(Mittelalter/Frühe_Neuzeit) [10.08.2017]; UWE MÜLLER: Art. Straßen- und Wegebau. In: JAEGER: Enzyklopädie (wie Anm. 10), Bd. 12, Stuttgart 2010, 1130–1137, hier 1133; HANS-ULRICH SCHIEDT: Art. Landstrassen, In: VITTORIO MAGNAGO LAMPUGNANI u. a. (Hg.): Enzyklopädie des gestalteten Raumes, Zürich 2014, 318–329; HANS-ULRICH SCHIEDT: Art. Weg, In: LAMPUGNANI (Hg.): Enzyklopädie, 476–487. ERNST GASNER: Zum deutschen Strassenwesen. Von der Ältesten Zeit bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts. Eine Germanistisch-Antiquarische Studie, Leipzig 1889 (ND Wiesbaden 1966); MAXWELL G. LAY: Die Geschichte der Straße. Vom Trampelpfad zur Autobahn, Frankfurt a.M., New York 1994; GEORGES LIVET: Histoire des routes & des transports en Europe. Des chemins de Saint-Jacques à l’âge dʼor des diligences, Strasbourg 2003; ELFRIEDE REHBEIN: Zu Wasser und zu Lande. Die Geschichte des Verkehrswesens von den Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1984. THOMAS SZABÓ: Einleitung. In: DERS. (Hg.): Die Welt der europäischen Straßen. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit, Köln u. a. 2009, 1–3, hier 1. BAYRER: Weg (wie Anm. 15), 736 f.
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Alexander Denzler
Dies fängt bereits damit an, was wir für die europäische Vormoderne als ‚Straßen‘ bezeichnen können, wie die folgenden Beispiele anhand der reinen historischen Lexik zeigen: Das deutsche Wort ‚Straße‘ ist zunächst ein Lehnwort. Es leitet sich, ebenso wie das englische Wort ‚street‘ oder das italienische ‚strada‘, vom Lateinischen via strata, dem ‚gepflasterten‘ Weg ab; „viam sternere sagte man lateinisch allgemein für ‚eine Straße bauen‘“19. Im Französischen geht ‚La route‘ etymologisch zurück auf via rupta, die ‚durchgehauene‘ Straße, „zur Bezeichnung für Straßen außerorts, und für die von Häusern gesäumte Straße – ‚la rue‘ – setzte sich das lateinische Wort für ‚Falte, Rinne‘ durch – ruga“20. Vormoderne Straßen lassen sich also im Unterschied zu den – vom germanischen wega abstammanden – Wegen21, die durch und in der Fortbewegung entstehen22, als bewusst mit Holz, Steinpflastern, Abflussrinnen oder dergleichen gestaltete Wege begreifen. So wichtig eine solche begriffliche Unterscheidung ist, eine historische Analyse vermag sie kaum weiterzuführen, da zum einen unklar bleibt, wo die Trennlinien zwischen gebauter Straße und ungebautem Weg in der Vormoderne verlaufen. Fängt dies, im Sinne des Wortursprungs, erst mit der Pflasterung eines Weges (auf einer gesamten Wegstrecke oder in Teilen) an? Damit würde die Pflasterung zum Ideal des Straßenbaus erhoben werden, die andere Maßnahmen zum Erhalt und zur Besserung der Wegeverhältnisse übergeht. Zum anderen verdeckt erstens die begriffliche Unterscheidung zwischen Straße und Weg den teils gegenläufigen, reichen, differenzierteren Sprachgebrauch und die verschieden gelagerte begriffs- und kontextinhärente Semantik, die die Zeitgenossen gebrauchten, und damit verbunden zweitens die Vielfalt eines Phänomens, das von überregionalen Fern- über regionale Land- bis zu lokalen Waldstraßen reichte23. Wenn im Folgenden dennoch von Straßen und Wegen gesprochen wird, dann geschieht dies im Bewusstsein dieser Vielfalt, die mit den Wörtern ‚Straße‘ und ‚Weg‘ zwar nur unzureichend, aber weitreichender erfasst werden kann als unter Verzicht auf eines dieser Wörter24. Auch mögliche Alternativbegriffe wie Routen erscheinen zu unspezifisch. Unter Vermeidung einer klaren Trennlinie werden deshalb im Folgenden mit ‚Straßen‘ alle Wege bezeichnet, die eine wie auch immer geartete bauliche Veränderung erfahren haben. Eine solche begriffliche Offenheit erlaubt es, sich von dem wertenden Bezugspunkt eines modernen Straßenwesens zu lösen. Diese – bereits breit unter19 WERNER HEINZ: Reisewege der Antike. Unterwegs im Römischen Reich, Stuttgart 2003, 12. 20 Ebenda. 21 WOLFGANG HAUBRICHS: Die volkssprachliche Bezeichnung für alte Fernwege im Deutschen, vorwiegend nach westmitteldeutschen Quellen dargestellt. In: FRIEDHELM BURGARD, ALFRED HAVERKAMP (Hg.): Auf den Römerstraßen ins Mittelalter. Beiträge zur Verkehrsgeschichte zwischen Maas und Rhein von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert (= Trierer historische Forschungen 30), Mainz 1997, 97–181, hier 102. 22 SCHIEDT: Weg (wie Anm. 15), 476: „Der Weg entsteht beim Gehen; nichtbenutzte Wege verschwinden“. 23 HAUBRICHS: Fernwege (wie Anm. 21). 24 Über die Verwendung der Wörter ‚Straßen‘ und ‚Weg‘ reflektiert auch Jörg Widmaier in diesem Sammelband.
Einleitung
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suchte25 – Moderne begann, ausgehend von den Chausseen des 18. Jahrhunderts, mit dem Bau von kapitalintensiven Infrastrukturen sowie mit der Mechanisierung des Verkehrs (Dampfmaschine, Motor)26. Straßen hörten dadurch langsam auf, „prägende Lebensräume und Zentren“27 zu sein. Vice versa bleibt allerdings zu fragen, wann, warum, für wen und wie Straßen in der Vormoderne prägend waren. Die bisherige Forschung gibt hierzu keine ausreichende Antwort – wohl auch deshalb, da sich die – in der Forschung immer wieder prominent bedachte28 – Quellenüberlieferung nicht einfach gestaltet. So gibt es wenige Quellen wie die hier von Alexander Denzler und Maria Weber behandelten Rechnungen, die sehr viel über Straßen sagen. Die anderen Beiträge bestätigen hingegen den Regelfall, dass weitaus mehr Quellen überliefert sind, die nur sehr wenige Informationen über Straßen an sich enthalten. Genau aus diesem Grund haben sich vom 26. bis 28. November 2015 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Mittelalter- und Frühneuzeithistoriker sowie Kunsthistoriker, Archäologen und Literaturwissenschaftler versammelt, um Möglichkeiten und Grenzen auszuloten, die Nutzung und Wahrnehmung vormoderner Straßen zu untersuchen. Die kunsthistorische Perspektivierung erweitert nun auch Birgitta Coers für diesen Sammelband. Gleichfalls für den Themenband gewonnen werden konnte im Anschluss an den Workshop die Literaturwissenschaftlerin Christina Patz. Eine solche interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Phänomen Straßen hat aus guten Gründen eine gewisse Tradition29. Dies
25 HANS-LIUDGER DIENEL, HANS-ULRICH SCHIEDT (Hg.): Die moderne Straße. Planung, Bau und Verkehr vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (= Deutsches Museum. Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung 11), Frankfurt a.M./New York 2010; COLIN DIVALL, RALF ROTH (Hg.): From rail to road and back again? A century of transport competition and interdependency (= Modern Economic and Social History), Farnham (Surrey) 2015; GÉRARD DUC u. a. (Hg.): Histoire des transports et de la mobilité. Entre concurrence modale et coordination (1918 à nos jours), Neuchàtel 2014; DANIEL FLÜCKIGER: Strassen für alle. Infrastrukturpolitik im Kanton Bern 1790–1850, Baden u. a. 2011; DIETMAR KLENKE: „Freier Stau für freie Bürger“. Die Geschichte der bundesdeutschen Verkehrspolitik 1949–1994, Darmstadt 1995; CHRISTOPHER KOPPER: Handel und Verkehr im 20. Jahrhundert (= EDG 63), München 2002; CHRISTOPH M. MERKI: Der holprige Siegeszug des Automobils 1895–1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002; WIEBKE POROMBKA: Medialität urbaner Infrastrukturen. Der öffentliche Nahverkehr, 1870–1933, Bielefeld 2013; RALF ROTH, MARIE NOËLLE POLINO (Hg.): The City and the Railway in Europe (= Historical urban studies), Aldershot 2003. 26 MERKI: Verkehrsgeschichte und Mobilität (wie Anm. 14), 10. 27 ALFRED HAVERKAMP: Einleitung. In: BURGARD, DERS. (Hg.): Römerstraßen (wie Anm. 21), 1–14, hier 2. Diese gegenwartsbezogene Einschätzung Haverkamps bedürfte natürlich einer historischen Betrachtung. 28 ESCH, Passverkehr (wie Anm. 5); PAUL HINDLE: Sources for the English Medieval Road System. In: SZABÓ (Hg.): Straßen (wie Anm. 17), 55–68. 29 BURGARD, HAVERKAMP (Hg.): Römerstraßen (wie Anm. 21); THOMAS FISCHER, HEINZ GÜNTER HORN (Hg.): Straßen von der Frühgeschichte bis in die Moderne. Verkehrswege – Kulturträger – Lebensraum (= Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die antiken Kulturen des Mittelmeerraumes – Centre for Mediterranean Cultures 10), Wiesbaden 2013;
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Alexander Denzler
gebieten die Quellen und – damit verbunden – die weitreichende Bedeutung, die Straßen und Wege für die vormoderne Lebenswelt hatten. Die Autoren dieses Sammelbandes gehen der Frage nach, wie in der Zeit zwischen 1100 und 1800 – Jörg Widmaier geht über beide Zeitbegrenzungen hinaus – Straßen und Wege genutzt und wahrgenommen wurden. Wahrnehmung meint hierbei die selektive Aufnahme und kognitive Verarbeitung von Informationen „auf Grund von sensorischen Reizen (Stimuli) aus der Umwelt“30. Als eine durch „Akte der Wirklichkeitsperzeption“31 geformte Quelle steht bei dem Beitrag von Maria Weber und Alexander Denzler ein für die Rechnungsführung angelegtes Manual im Vordergrund, welches Aufschluss gibt über die Kosten, die verwendeten Materialien und Personen, die im 16. Jahrhundert an der Instandhaltung der Straßen und Brücken im Nürnberger Umland beteiligt waren. Widerlegt werden kann damit die in der Forschung immer wieder bediente Vorstellung einer bis ins 17. Jahrhundert andauernden und erst mit dem Chausseebau des 18. Jahrhunderts endgültig überwundenen ‚dunklen Straßenepoche‘, in der es aufgrund des mangelnden Unterhalts mehr schlechte als rechte Straßen gegeben hätte. Die Vorstellung einer von schlechten Straßen geprägten ‚dunklen Straßenepoche‘ ist allein schon deshalb unzureichend, da alle Hochkulturen der Neuzeit entsprechend „ihren topographischen Möglichkeiten […] Land- und Wasserwege zum T[ransport] von Menschen, Gütern und Informationen“ nutzten32. Die Menschen mussten und konnte also schon vor den Chausseen mit und gegen die Natur – etwa durch die „Anlage fester Straßenkörper […], wodurch man Feuchtigkeit und Unebenheiten als hemmende Faktoren des Achs-T[ransports] auszuschalten suchte“33 – unter Ausnutzung der vormechanischen Energiebasis (menschliche und tierische Muskelkraft) sich selbst, Waren und Nachrichten im physikalischen Raum über kleine und große Distanzen fortbewegen. Daneben sind es in der Regel Reisende, die über den Zustand der Straßen klagten und die von der Forschung gerne als Beleg für den mangelnden Unterhalt in einer ‚dunklen Straßenepoche‘ angeführt werden34. Dorothée Goetze vermag indes in ihrem Beitrag aufzuzeigen, dass Aubry de la Motraye, der um 1700 für 30 Jahre den Mittelmeerraum, das Osmanische Reich, das römisch-deutsche Reich, Holland, Nordeuropa, England
30 31
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HOLZNER-TOBISCH u. a. (Hg.): Straße (wie Anm. 12); SCHWINGES (Hg.): Verkehrswesen (wie Anm. 1); SZABÓ (Hg.): Straßen (wie Anm. 17). EVA REBLIN: Die Straße, die Dinge und die Zeichen. Zur Semiotik des materiellen Straßenraums, Bielefeld 2012, 154. FRANK REXROTH: Wissen, Wahrnehmung, Mentalität: Ältere und jüngere Ansätze in der Geschichtswissenschaft. In: LUDGER GRENZMANN u. a. (Hg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit 1: Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden) (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Neue Folge 4), Göttingen 2009, 1–22, hier 2. POPPLOW: Verkehr und Transport (wie Anm. 10), 114. Ebenda, 118. Siehe mit entsprechenden Nachweisen den Beitrag von Alexander Denzler und Maria Weber.
Einleitung
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und Irland sowie das Baltikum bereiste, keineswegs nur über die Straßen klagte. Zu unterscheiden sind vielmehr in der Zeit bekannte und weniger bekannte bereiste Gegenden, die Einfluss hatten auf die (Nicht-)Thematisierung der benutzten Verkehrswege. Daneben bestätigt sich, dass Straßen und Wege ein wichtiger Bestandteil von – schriftlich reflektierten – Reiseerfahrungen waren. Die Gründe für das Reden, aber auch Schweigen über Straßen und Wege in Reiseberichten gilt es auf Grundlage der von Goetze am Beispiel des dreibändigen Reiseberichts von de la Motraye gewonnenen Befunde weiter zu erforschen. Mit den Erfahrungen der Reisenden von einer ‚dunklen Straßenepoche‘ zu sprechen, lässt überdies übersehen, dass Straßen nicht nur dazu dienten, möglichst schnell und sicher von Punkt A nach Punkt B zu kommen. Wenngleich diese Funktion eindringlich etwa auch Itinerare vor Augen führen35, konnten Straßen ebenso Sehenswürdigkeiten sein, wie neben de la Motraye der von Birgitta Coers mitbehandelte Kanoniker, Historiker und Antiquar Francesco Maria Pratilli (1695–1763) deutlich macht. Wie Coers ausführt, beschreibt Pratilli die seit dem Mittelalter nur noch in Teilen benutzbare Via Appia nicht mehr nur mit einer universellen magnificencia, wie es Justus Lipsius 1598 in seinem einflussreichen Werk über das römische Imperium getan hatte. Pratilli entwirft stattdessen ein konkreteres Konzept von Schönheit aufgrund der Länge und Struktur der Appia. Für die Ergründung der antiken Straßen als komplexe kulturelle Institution zieht Pratilli freilich noch vorwiegend antike Traktate heran, um die ‚Schönheit‘ der Via Appia mit Worten zu beschreiben. Erst der Kupferstecher, Archäologe und Architekt Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) verwendete, wie Coers des Weiteren deutlich machen kann, das archäologische Verfahren der Autopsie, um den antiken Straßenraum in Abgrenzung zu antiken Monumentalbauten zu einem bildkonstitutiven Motiv zu erheben. Mit Pratilli und Piranesi ließe sich allerdings dann doch insofern von einer ‚dunklen Straßenepoche‘ sprechen, als mit den von ihnen an der Schwelle zur Moderne erforschten antiken Straßen jener Bezugspunkt vorliegt, der in der Forschung gerne als Ausgangspunkt genommen wird für den stetigen und bis ins 18. Jahrhundert anhaltenden Verfall des Straßenwesens. Hier allerdings vermag Jörg Widmaier mit seiner sowohl (kunst-)historischen als auch archäologischen Analyse der Ostseeinsel Gotland aufzuzeigen, dass Straßen nie einfach nur naturgegebene Phänomene, sondern stets komplexe kulturelle Artefakte waren. Der disziplin- und epochenübergreifende Zugriff auf die Infrastruktur Gotlands betont stattdessen das stetige Eingebundensein von Straßen sowohl in den Natur- als auch in den Kulturraum. Neben rechtshistorischen Schriftquellen sind es vor allem materielle Zeugnisse wie Runensteine, die als Memorialmonumente Bezug nehmen auf Straßen und Brücken und offenlegen, wie diese Infrastruktureinrichtungen als Ergebnis und Katalysator sozialer Praktiken verstanden werden müssen.
35 Kronn und Außbundt aller Wegweiser, Köln 1597 [Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel A: 6.5. Geogr.].
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Alexander Denzler
Die soziale Bedingtheit von Straßen verweist auf das Entstehen, aber eben auch auf das Verschwinden von Straßen und damit verbunden auf die Schwierigkeiten, Straßen zu lokalisieren. Dies trifft auch auf Fernstraßen zu, wie Tomáš Klimek und Pavel Bolina deutlich machen. Sie setzen sich mit dem Teilabschnitt einer von Prag nach Südböhmen verlaufenden Straße auseinander, deren Lage und Verlauf jedoch in Vergessenheit geraten ist. Dieses Vergessen aufgrund der Nicht-Nutzung ist Teil einer Nutzungsgeschichte, die entscheidenden Einfluss haben kann auf die historische Analyse respektive Wahrnehmung des Forschers. Denn die Suche nach einer Straße, die in der Vergangenheit materiell existent war, ist neben Akten und Karten auf im „Gelände noch vorhandene Wege und Wegerelikte“36 angewiesen. Klimek und Bolina stehen in der Tradition einer solchen Altstraßenforschung37, indem sie, neben einer Chronik aus dem 12. Jahrhundert, Überreste im Gelände in ihre Betrachtungen einbeziehen. Die Erforschung von Altstraßen eröffnet aber auch ansonsten eine grundlegende Forschungsperspektive, da die (Nicht-)Nutzung von Straßen zugleich die Frage nach der Orientierung der Zeitgenossen im physikalischen Raum aufwirft. Den (rechten) Weg, ob mit oder ohne Karten, zu finden38, ist für die Vormoderne jedenfalls ein zentrales Anliegen der Nutzer, wie auch der Beitrag von Tina Patz andeutet. In Wolframs von Eschenbach mittelhochdeutschem Ritter-Epos Willehalm ist es der flüchtende Held, der die ansonsten benutzten schnellen und sicheren strâzen meiden muss, um reitend, aber auch gehend sein Ziel Orange zu erreichen. Die Umwege führen ihn auf Wegspuren (slâ), die erst durch die Nutzung entstehen, bis in das scheinbar wegelose, da von der höfischen Welt abseitige Gebirge. Straßen und Wege lassen sich also als Teil einer literarischen Wirklichkeitskonstruktion begreifen, die zuvorderst Aufschluss gibt über den epischen Gehalt einer Reise. Doch auch ansonsten geben die literarischen Texte Hinweise auf die Erwartungen und Vorstellungen, die Zeitgenossen mit Straßen und Wegen verbunden haben. Neben der bereits angesprochenen Schnelligkeit und Sicherheit ist es nicht zufällig die standesgemäße Fortbewegung mittels Pferden, die im Willehalm als zentrales Motiv auftaucht. Wie literarische Werke für die Untersuchung von Straßen und Wegen jenseits der Frage nach Faktizität und Fiktionalität fruchtbar gemacht werden können, zeigt auch Simon Falch. In seinem Beitrag steht ebenso Wolfram von Eschen36 HANS-ULRICH SCHIEDT, GUY SCHNEIDER, HEINZ E. HERZIG: Historische Straßen- und Wegeforschung in der Schweiz. In: SCHWINGES (Hg.): Verkehrswesen (wie Anm. 1), 119–159, hier 119. 37 DIETRICH DENECKE: Methoden und Ergebnisse der historisch-geographischen und archäologischen Untersuchung und Rekonstruktion mittelalterlicher Verkehrswege. In: HERBERT JANKUHN, REINHARD WENSKUS (Hg.): Geschichtswissenschaft und Archäologie. Untersuchungen zur Siedlungs-, Wirtschafts- und Kirchengeschichte (= Vorträge und Forschungen 22), Sigmaringen 1979, 433–483; SCHIEDT, SCHNEIDER, HERZIG: Wegeforschung (wie Anm. 36). Siehe zum Bundesinventar historischer Verkehrswege in der Schweiz auch http://www. ivs.admin.ch [11.08.2017]. 38 CHRISTINE M. PETTO: To Know the Distance: Wayfinding and Roadmaps of Early Modern England and France. In: Cartographica 51/4 (2016), 240–262.
Einleitung
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bach, hier mit dem Werk Parzival, im Vordergrund. Überdies werden weitere Werke Wolframs und anderer Autoren in die historisch-literaturwissenschaftliche Analyse einbezogen. Indem Straßen und Wege als Bindeglieder zwischen erzählter und historischer Welt fungieren, Erzähletappen strukturieren und generell Wirklichkeitseffekte hervorrufen konnten, erlaubt die mittelhochdeutsche Literatur umfassende Zugänge zum vormodernen Straßenwesen. Detaillierte Beschreibungen von (fehlenden) Kreuzen, Wegzäunen, Furchen von Wagenrädern oder das mit auf den Weg gegebene Gebot, stets höflich zu sein und alle Leute zu grüßen, waren Teil der geraden, aber ziellosen Wegstrecke Parzivals. Zu dieser heldenbezogenen ‚Wegerfahrung‘ gehörte auch eine als breit und gepflastert umschriebene Straße zu den Berteneysen – womit erstmals in der Artusepik eine Straße zu einem realen Ort konkret beschrieben und benannt wird. Alle Autoren dieses Themenbandes verweisen darauf, dass die ‚dunkle‘ Straßenepoche gar nicht so dunkel war, sondern die Menschen in der Vormoderne durchaus mit den, aber auch ohne die wie auch immer bebauten Wege leben konnten und darüber bewusst – in literarischen oder anderen Schriftquellen – reflektiert oder unbewusst ihre (materiellen) Spuren hinterlassen haben. Die Untersuchungszeit und der weitreichende Untersuchungsraum – neben Böhmen, Gotland, Süddeutschland und Italien geraten mit den (fiktional) Reisenden weitere Teile Europas, aber auch andere Kontinente in den Blick – mögen den Weg weiter bahnen für die Erforschung des vormodernen Straßenwesens diesseits und jenseits der Verkehrsgeschichte, um weiter zu erhellen, warum und inwieweit Straßen prägend für das Leben in der Vormoderne waren.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 36 (2018), S. 25–51
EIN NEMEN UND AUS GEBEN VON WEGEN AN STEG UND WEG Materialität, Instandhaltungsmaßnahmen und Kosten Nürnberger Straßen und Brücken am Beispiel des Straßenmanuals von 1547 Alexander Denzler und Maria Weber ABSTRACT Bisherige Forschungen zum vormodernen Straßenwesen begreifen die Zeit vor 1650 oftmals als eine ‚dunkle Straßenepoche‘, in der kein nennenswerter Unterhalt von Straßen seitens der Städte festzustellen sei. Diese Einschätzung wird ausgehend von Fernand Braudels Studie zum Mittelmeer kritisch hinterfragt und am Beispiel der Reichsstadt Nürnberg neu beleuchtet. Aufzeichnungen des Weg- und Stegamtes aus dem Jahr 1547 führen zur Frage nach städtischen Initiativen zum Bau und Unterhalt von Straßen und Brücken. Mit dem zur Rechnungslegung angelegten Straßenmanual von 1547 werden neue Perspektiven für die Behandlung des Verhältnisses von Städten und Straßen gewonnen. Premodern streets before 1650 are often discussed as underdeveloped and less maintained than in the modern era. It seems to be a dark age for streets. Considering Fernand Braudelʼs study about the Mediterranean these estimates are critically scrutinized. Exemplified by the Imperial City of Nuremberg and its administration, which was responsible for the maintenance of streets (“Weg- und Stegamt”), the following article examines local governmental initiatives for the preservation of the infrastructure. The financial reporting of the “Weg- und Stegamt” in 1547 reveals new perspectives for historical research on the relationship between a city and its streets.
Straßen brauchen Städte und Städte brauchen Straßen. Auf dieses Angewiesensein der beiden benannten Faktoren ließe sich der Zusammenhang zwischen Stadt und Straße bringen, wenn man Fernand Braudel folgt. Denn, so ist in seinem Monumentalwerk über das Mittelmeer und die mediterrane Welt des 16. Jahrhunderts zu lesen, jede „Stadt lebt von der Bewegung, die sie an sich reißt, zu ihren eigenen Gunsten unterbricht und dann wieder freigibt“1, während jede „Bewegung der Schiffe, der Lasttiere, der Fuhrwerke und der Menschen selbst“ Straßen benötigt2. Straßen sind damit nicht nur „Bänder, die sich über den Boden ziehen, oder Fahrtrinnen auf dem Meer“3, sondern sie sind Grundlage und Bestandteile der durch sie gleichermaßen geschaffenen „Einheit“4 des Mittelmeers.
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FERNAND BRAUDEL: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1990 (zuerst erschienen 1949. Übersetzt v. Grete Osterwald nach der vierten, durchgesehenen Aufl. 1979), 457. Ebenda, 400. Ebenda. Ebenda, 399.
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Alexander Denzler und Maria Weber
Bei der teils quantitativen, mehr jedoch qualitativen Beschreibung dieser Einheit des Mittelmeers spielen die Straßen zu Wasser und zu Lande eine entscheidende Rolle, die „genau […] zu definieren“ Braudel nicht beansprucht5. In diesem Sinne lehnt es der bedeutende Vertreter der Annales-Schule auch ab, dem in der Entstehungszeit des Werkes „verbreiteten Glauben“ zu folgen, der „Landweg müsse sich im Kampf gegen den Wasserweg von vornherein geschlagen geben“6. Statt diese unserer Tage zuletzt von Manfred Straube7 erneut widerlegte Forschungsmeinung zu teilen, macht Braudel in seinem „Fundament“ der dreiteiligen Studie8 vielmehr auf die „Koexistenz von See- und Landwegen“9 aufmerksam. Doch ungeachtet dieser postulierten Koexistenz scheinen die Landstrassen gegenüber den Wasserstraßen ein geradezu düsteres Dasein gefristet zu haben. So sei beispielsweise das „ganze Leben“ der an der Adriaküste gelegenen Stadt Dubrovnik gar „undenkbar ohne die unwegsamen, schlechten Straßen, die nach Sarajewo im Norden oder über die montenegrinischen und albanischen Berge nach Üsküb führen“10. Insgesamt hätte sich der Anstieg des Überlandverkehrs unter zunehmendem Einsatz der als Zugtiere verwendeten Maultiere lediglich auf „armseligen Straßen“ vollzogen11. Braudel geht nicht so weit zu sagen, die Städte hätten die Landstraße, ebenso wie die bereits vorhandenen ‚natürlichen‘ Wasserstraßen, gänzlich sich selbst überlassen. Für die Bemühungen der Städte, die Landstraßen zu verbessern, steht etwa ein in Neapel in den 1560er Jahren aufgestellter Plan, eine rund 150 km lange Straße in die Gegend von Ascoli für den Transport von Getreide instand zu setzen, damit diese von Fuhrwerken befahren werden könne12. Doch trotz dieser und anderer Pläne blieben die Straßen „schadhaft und unvollendet“13. Das Verhältnis von Stadt und Straßen scheint sich dergestalt auf einen erweiterten Nenner bringen zu lassen: Städte benötigten, wie die oben genannten Beispiele zeigen, neben Wasser- eben auch Landstraßen, aber es seien – so Braudel – keine nachhaltigen Bemühungen feststellbar, die Verkehrswege aktiv zu erhalten. Umgekehrt benötigten Straßen Städte nur insofern, als durch sie und mit ihnen jene Bewegungen entstanden sind, die sich auf den Straßen vollzogen haben. Instandsetzungsmaßnahmen sind demgegenüber in dieser Zeit, so implizieren es zumindest Braudel und viele weitere Forscher, nicht oder kaum aus den Quellen zu analysieren, und wenn doch, dann änderten diese Einzelmaßnahmen nichts an dem grundsätzlich schlechten Zustand der Straßen. Es handelt sich also insgesamt 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Ebenda, 407. Ebenda, 412. MANFRED STRAUBE: Geleitswesen und Warenverkehr um thüringisch-sächsischen Raum zu Beginn der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 42), Köln/Weimar/Wien 2015, 449. PETER BURKE: Offene Geschichte. Die Schule der Annales, Berlin 1991, 41. BRAUDEL: Mittelmeer (wie Anm. 1), 418. Ebenda, 464. Ebenda, 410. Ebenda. Ebenda.
Nürnberger Straßen und Brücken
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um eine ungleiche ‚Koexistenz‘ von prozesshaft und kontinuierlich ausgebauten Städten und den dem Verfall anheim gegebenen Landstraßen. Die folgenden Ausführungen möchten die Annahme eines solchen ungleichen Verhältnisses von Städten und Straßen kritisch hinterfragen. Am Beispiel Nürnbergs und damit einer jener süddeutschen Städte, die sich nach Braudel „im Glanz des Mittelmeers sonnen“ konnten14, soll vielmehr anhand der Rechnungslegung des für die Instandhaltungsmaßnahmen zuständigen Weg- und Stegamtes gezeigt werden, welche Maßnahmen zum Bau und Erhalt von Straßen und Brücken ergriffen werden konnten. Dabei wurde aus dem weitläufigen Bestand der institutionellen Überlieferung das „Manual zum Weg und Stegamt“ für das Jahr 1547 ausgewählt. Die Analyse dieser Quelle, welche den Hauptbestandteil des zweiten Teils der Ausführungen bildet, soll exemplarisch aufzeigen, dass die Instandhaltung der Infrastruktur als Aufgabe der städtischen Institutionen begriffen wurde, eine Vielzahl an Menschen an dessen Erhalt beteiligt waren und die Überlieferung nicht zuletzt die Frage nach der Materialität von Straßen und Brücken in den Fokus der Betrachtung rückt. Die Befunde der exemplarischen Quellenanalyse stehen im Widerspruch nicht nur zu Braudels Auffassung vom Umgang der Städte mit Straßen. Vielmehr ist es bis heute Konsens der Forschung, wonach vor dem Bau von Chausseen im 18. Jahrhundert die Straßen vorwiegend schlecht waren. Die Gründe, warum Braudel diesen Topos mitbedient hat, gilt es in einem ersten Teil zu rekapitulieren, um darauf aufbauend am Beispiel Nürnbergs und in Vorbereitung auf die Quellenanalyse weitergehende Untersuchungsperspektiven für das Verhältnis von Städten und Straßen öffnen zu können. I. Städte und Straßen Braudels Straßen sind mehr gegeben als gemacht. Dies hängt unmittelbar mit der Gesamtkonzeption des Werkes zusammen, da hier die longue durée des Mittelmeers als das begriffen wird, „was die eigentliche Geschichte ausmache“15. Bei einer solchen „Entdeckung, Erfassung und Erklärung der dauerhaftesten Elemente der Geschichte“16 spielt der Mensch und sein Handeln nur eine untergeordnete Rolle, ja mehr noch, der Mensch erscheint – so Peter Burke – nur „als ‚Gefangener‘ […] seiner natürlichen Umwelt“17. Der Mensch wird dergestalt zwar, ebenso wie die Ereignisse, in den jeweiligen Kontext gestellt, „aber in seinen Erklärungen erscheinen sie als grundsätzlich bedeutungslos“18. Bei Braudel, der als eine Art
14 Ebenda, 401. 15 ERIC PLITZ: „Trägheit des Raums“. Fernand Braudel und die spatial stories der Geschichtswissenschaft. In: JÖRG DÖRING, TRISTAN THIELMANN (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, 75–102, hier 85. 16 CARLOS ANTONI AGUIRRE ROJAS: Die „Schule der Annales“. Gestern, heute, morgen, Leipzig 2004, 120. 17 BURKE: Offene Geschichte (wie Anm. 8), 44 f. 18 Ebenda, 39.
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Alexander Denzler und Maria Weber
historischer Geograph verstanden werden kann19, ohne allerdings einem klar definierten Raumkonzept zu folgen20, steht der Mensch also, wie es Eric Plitz formuliert hat, „entweder im Einklang oder in Opposition zum Raum“21. Braudel geht es also nicht darum, „die Wechselbeziehung von physischen Bedingungen und (menschlichen) Handlungen“22 zu untersuchen. Dies ist jedoch entscheidend, um die Straßen nicht nur als genutzte, sondern ebenso als gestaltete Bestandteile des physikalischen Raumes begreifen zu können. So aber verharren die Straßen nicht nur bei Braudel in einem düsteren Licht. Den „notorisch schlechten Zustand der Straßen“ zu konstatieren23, ist vielmehr der Regelfall. Zur „effektiven Reparatur der Straßen“ kam es nämlich der gängigen Lesart nach erst im 18. Jahrhundert, als sich die Monarchen aus vor allem fiskalischen Interessen dem „Neubau von Fernstraßen“ widmeten24. Diese Chausseen haben dann zu einer „tiefgreifende[n] Veränderung der Qualität der Landstraßen“25 geführt. Es scheint also, dass „das Mittelalter in diesem Bereich der Geschichte [...] erst mit dem Beginn der Kunststraßen“ ein Ende fand26. Eine solche von Braudel mitbediente Entwicklungsgeschichte des Straßenbaus hat nachhaltig Werner Sombart beeinflusst. Nach ihm wurde der defizitäre Straßenzustand vor 1650 nur punktuell, zwischen 1650 und 1750 vermehrt, aber weiterhin unsystematisch und endgültig erst nach 1750 mit dem Bau von Chausseen überwunden27. Bei diesem von der Forschung immer wieder aufgegriffenen28 und von Wolfgang Behringer differenzierten, aber in seinen Grundzügen bestätigten Epochenmodell29 zum Straßenbau erscheint die Zeit vor 1650 als eine gleich19 20 21 22 23 24 25
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Ebenda, 41, differenzierter PLITZ: Trägheit des Raumes (wie Anm. 15), 87–90. PLITZ: Trägheit des Raumes (wie Anm. 15). Ebenda, 84. Ebenda, 94. HOLGER TH. GRÄF, RALF PRÖVE: Wege ins Ungewisse. Reisen in der Frühen Neuzeit 1500– 1800, Frankfurt a.M. 1997, 84. Ebenda, 88. UWE MÜLLER: Art. Straßen- und Wegebau. In: FRIEDRICH JAEGER (Hg): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Stuttgart 2010, Sp. 1130–1137, hier 1133. Siehe daneben DERS.: Art. Chaussee. In: FRIEDRICH JAEGER (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart 2005, Sp. 654– 656. MÜLLER: Straßen- und Wegebau (wie Anm. 25), Sp. 1131 zitiert hier die Studie von ANDREAS HELMDACH: Das Verkehrssystem als Modernisierungsfaktor. Straßen, Post, Fuhrwesen und Reisen nach Triest und Fiume vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Eisenbahnzeitalter (= Südosteuropäische Arbeiten 107), München 2002 mit Verweis auf 37. Das Zitat ist jedoch weder hier noch mit einem Zahlendreher oder dergleichen zu finden. Die Studie ist aber zweifelsohne, wie der Titel bereits andeutet, einer wertenden Modernisierungsgeschichte verpflichtet. WERNER SOMBART: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. II/1, München 1987 (Nachdruck der zweiten, neugearbeiteten Aufl. München/Leipzig 1916), 245. MÜLLER: Straßen- und Wegebau (wie Anm. 25), Sp. 1131 mit weiteren Nachweisen. WOLFGANG BEHRINGER: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 189),
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sam ‚dunkle Straßenepoche‘ mit vorwiegend „trostlosen Straßenverhältnisse[n]“30. Die seit dem „Spätmittelalter zunehmenden Klagen über den schlechten Straßenzustand“31 werden zwar durchaus im Zusammenhang gesehen mit der stark erhöhten „Mobilität [...] in verschiedenen Teilen der Gesellschaft“32. Die Beschwerden der Zeitgenossen scheinen jedoch nur den prinzipiell schlechten Zustand der Straßen zu bestätigen, ja mehr noch, die Straßen wurden scheinbar immer schlechter, da sie einem geänderten Bedürfnis nach Bewegung immer weniger entsprechen konnten. Diese gängige Vorstellung von einer ‚dunklen Straßenepoche‘ bedarf der Differenzierung, wenn nicht gar der Revision. Denn obgleich unbenommen mit den Chausseen ein straßenbaugeschichtlicher Wendepunkt eintrat, führt es zu weit, den Bau von Kunststraßen und mit diesen den Territorialstaat des 18. Jahrhunderts gleichsam zum Ideal des Straßen(er)bau(er)s zu erheben und damit einen wertenden Bezugspunkt für die scheinbar mehr schlechten als rechten Straßen für die Zeit vor 1750, mehr aber noch für die Zeit vor 1650 zu schaffen. Der vorliegende Beitrag möchte sich von einem solchen (wertenden) Maßstab lösen und darauf aufmerksam machen, dass in der ‚dunklen Straßenepoche‘ durchaus umfassend Straßen unterhalten wurden. Die Straßen vor 1650 als vor allem defizitär zu begreifen, reicht aber allein schon deshalb nicht aus, da Braudel33, Behringer34 und andere35 in der Regel Reisende anführen, die zwar auch, aber – gemessen an und in Relation zu den zurückgelegten Distanzen – eher selten über die Straßen klagten36. Die Klagen über den schlechten Straßenzustand gehören daneben womöglich zu einem Topos, der den Reiseberichten Authentizität verlieh. Nicht übersehen werden sollte ferner,
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Göttingen 2003, 548 verweist darauf, dass bereits in „Sombarts ‚zweite[r] Epoche‘ (1650– 1750) […] mit der Einführung der Territorialposten und der Etablierung der Fahrposten […] erstmals eine echte Lobby für den Straßenbau entstand“. Die Epocheneinteilung bleibt jedoch im Sinne einer stetigen (von der Post nachhaltig beförderten) Verbesserung des Straßenzustandes bestehen. CARL V. KLINCKOWSTROEM: Knaurs Geschichte der Technik, München/Zürich 1959, 124. MÜLLER: Straßen- und Wegebau (wie Anm. 25), Sp. 1131. RAINER CHRISTOPH SCHWINGES: Straßen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter – Eine Einführung. In: DERS. (Hg.): Straßen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter (= Vorträge und Forschungen 66), Ostfildern 2007, 9–18, hier 14. BRAUDEL: Mittelmeer (wie Anm. 1), 410, der hier allerdings auch auf offizielle italienische Mitteilungen verweist, die eine Wegstrecke „als schadhaft und unvollendet“ darstellen. BEHRINGER: Merkur (wie Anm. 29), 513 f. SCHWINGES: Straßen- und Verkehrswesen (wie Anm. 32), 14, der sich auf NORBERT OHLER: Reisen im Mittelalter, München 1986 bezieht. Bei ALFRED BIRK: Die Strasse. Ihre verkehrsund bautechnische Entwicklung im Rahmen der Menschheitsgeschichte, Karlsbad 1934 (Neudruck Aalen 1971), 206 werden Reisebeschreibungen zu den „einzigen unmittelbaren Quellen für die Geschichte des Straßenbaus im Mittelalter“ erhoben. Siehe daneben etwa auch GRÄF, PRÖVE (Hg.): Wege ins Ungewisse (wie Anm. 23). So hat Pfalzgraf Ottheinrich auf seiner Pilgerreise eine Strecke von insgesamt 6 500 km zu Land und zu Wasser zurückgelegt. Über den bösen Weg klagte er – in Relation gesehen – nicht häufig; FOLKER REICHERT: Die Reise des Pfalzgrafen Ottheinrich zum Heiligen Land 1521, Regensburg 2005, 176, 228 und 238.
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dass die Beschwerden etwa von Fuhrleuten oftmals im Zusammenhang stehen mit den Zöllen, die bei der Straßennutzung anfielen37. Sie sind schließlich auch in Relation zu der Vielzahl an Straßennutzern zu betrachten38. Die von Braudel beförderte Vorstellung einer ‚dunklen Straßenepoche‘ bedarf aber auch deshalb einer Revision, da sie es erschwert, das seit der Antike bekannte39 Verhältnis von Stadt und Straße eingehender zu analysieren. Eine solche Analyse ist angebracht, da zwischen „Verkehrs- und Siedlungsentwicklung“40 ein Zusammenhang besteht, der jedoch – soweit zu sehen – historisch für die Vormoderne noch keine systematische Untersuchung erfahren hat. Wenn jedoch neben Landschaftsprofil, Boden, Klima, Vorräten an Wasser, Wald und Bodenschätzen auch die Bedingungen des Verkehrs zu Wasser und zu Lande „in erheblichem Maße“ – so Franz Irsigler unter Verweis auf Braudels très longue durée – Einfluss hatten auf die „Größe, Dichte, Verteilung und Hierarchie“ von Städten innerhalb einer Städtelandschaft41, dann bleibt zu erörtern, wie sich die verkehrsgeographischen Voraussetzungen gestalteten, aber auch, welche Möglichkeiten eine Stadt hatte, mit und gegen diese Gegebenheiten Straßen zu unterhalten. Nürnberg ist hier ein besonders interessantes Beispiel, denn die „Gretchenfrage“42, ob der Aufstieg der Stadt zu einer „Metropole des mitteleuropäischen Handels“43 vorwiegend als „ein Triumpf [sic] des menschlichen Willens“ oder als „logische Folge der günstigen natürlichen Gegebenheiten“ verstanden werden kann44, wurde von der Forschung sehr unterschiedlich beantwortet. Geographischer Ausgangspunkt ist, dass Nürnberg in einem Becken liegt, welches „von Na-
37 OTTO STOLZ: Quellen zur Geschichte des Zollwesens und Handelsverkehrs in Tirol und Vorarlberg vom 13.–18. Jahrhundert (= Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit 10), Wiesbaden 1955, 330. 38 ALEXANDER DENZLER: Art. Straße. In: FRIEDRICH JAEGER (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online (im Erscheinen). 39 MICHAEL RATHMANN: Die Städte und die Verwaltung der Reichsstraßen. In: REGULA FREISTOLBA (Hg.): Siedlung und Verkehr im römischen Reich. Römerstrassen zwischen Herrschaftssicherung und Landschaftsprägung, Bern 2004, 163–226. Bei dieser Betrachtung von Zeugnissen „kommunaler Selbstverwaltung“ (215) wird konstatiert, dass „der Grad der qualitativen und quantitativen Straßenentwicklung wohl nicht zuletzt auch vom Grad der städtischen Entwicklung einer Provinz“ abhing (219). 40 KLAUS AERNI, HANS-RUDOLF EGLI: Zusammenhänge zwischen Verkehrs- und Siedlungsentwicklung in der Schweiz seit dem Mittelalter. In: Geographica Helvetica 2 (1991), 71–78. 41 FRANZ IRSIGLER: Städtelandschaften und kleine Städte. In: HELMUT FLACHENECKER, ROLF KIESSLING (Hg.): Städtelandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben. Studien zum Phänomen der Kleinstädte während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beihefte. Reihe B, 15), München 1999, 13–38, hier 34. 42 ERICH MULZER: Geographische Gedanken zur mittelalterlichen Entwicklung Nürnbergs. In: Mitteilungen der Fränkischen Geographischen Gesellschaft 10 (1963), 237–265, hier 238. 43 ECKART SCHREMMER: Die Wirtschaftsmetropole Nürnberg. In: MAX SPINDLER, ANDREAS KRAUS (Hg.): Handbuch der bayerischen Geschichte. 3. Band, 1. Teil: Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, 3. Aufl. München 1997, 902–929, hier 908. 44 MULZER: Geographische Gedanken (wie Anm. 42), 238.
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tur [aus] verkehrsgünstig“ ist45. Ob diese „günstige geographische Lage“ Nürnberg allerdings „dazu bestimmt [hat], ein Kreuzungspunkt der Hauptverkehrswege des mittleren Europas zu werden“46, ist eine vielfach behauptete47, mittlerweile aber vor allem von Erich Mulzer widerlegte Annahme. Er hat gezeigt, dass von einer „einzigartigen, alle anderen Landschaften übertreffenden Verkehrslage […] zu keiner Zeit die Rede sein“ kann48. Der „imponierende Verkehrsstern Nürnbergs“49 ist vielmehr – wie ein aktueller Handbuchartikel unter Verweis auf Mulzer resümiert – „nicht Ursache, sondern Folge seiner wirtschaftlichen Bedeutung, durch die es den vorbeifließenden Fernhandel an sich zog“50. Es bedurfte damit „Verkehrsbedürfnisse[n]“, die zur „Ausnutzung […] der naturgegebenen Möglichkeiten“ führten51. Durch die Arrondierung des zu den Karolingern gehörigen Königsguts um Nürnberg im Frühmittelalter und den Bau der Burg und der zugehörigen beiden Königshöfe52 waren es zuvorderst militärische und administrative Zwecke der deutschen Könige und Kaiser, die die wirtschaftliche „Blüte Nürnbergs in Spätmittelalter und Frühneuzeit“ ermöglichten. Für das Verhältnis von Stadt und Straßen entscheidend ist nun, dass ausdrücklich unter Verweis auf „das Fehlen eines schiffbaren Flusses“ und in Reaktion auf andere ungünstige natürliche Voraussetzungen „die Kaiser Nürnberg sehr frühzeitig Handels- und Zollprivilegien“ verliehen haben53. Die Bewegung zu einer Stadt 45 OTTO BERNINGER: Geographische Grundlagen für die Entstehung und mittelalterliche Blüte Nürnbergs. In: GERHARD PFEIFFER (Hg.): Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, 1–5, hier 4. Weiter heißt es: „Der von Süd nach Nord verlaufenden Rednitzfurche mit ihren breiten Sandterrassen kommen an Verkehrseignungen in ganz Mitteleuropa nur wenige Stellen gleich […]. Senkrecht zur Rednitz fließt vom Albrand her dem Nürnberger Becken die untere Pegnitz zu, deren Tal mit ebenfalls breiten Terrassen der Rednitzfurche ähnelt. Es vermittelt ostwärts den Zugang zum Naabgebiet. Aber auch von Westen her über die Keuperfläche stehen einem Zugang zum Nürnberger Becken keine großen Schwierigkeiten entgegen, sei es entlang den breiten Flußtälern, sei es auf den meist gleichmäßigen Höhen der Riedel zwischen den Tälern“. 46 KARL SPIESS: Die Entwicklung des Strassenwesens in Mittelfranken, Inaugural-Diss. Würzburg 1925, 36. 47 Siehe die bei MULZER: Geographische Gedanken (wie Anm. 42), 245 angeführten Studien aus den 1950er und 1960er Jahren. Mit Studien um 1900 setzt sich ILSE VON STRAMPF: Die Entstehung und mittelalterliche Entwicklung der Stadt Nürnberg in geographischer Betrachtung, Erlangen 1929, 6 f. auseinander. 48 MULZER: Geographische Gedanken (wie Anm. 42), 245. Die Studie baut u. a. auf ERICH ORTREMBA: Nürnberg. Die alte Reichsstadt in Franken auf dem Weg zur Industriestadt (= Forschungen zur deutschen Landeskunde 48), Landshut 1950 auf. Sie hebt u. a. hervor, dass weniger „eine besonders bevorzugte Ortslage oder eine autochthone Leistungskapazität der Landschaft“ die Entwicklung Nürnbergs bedingte, sondern die historisch veränderbare „Lage im größeren Raum, die Beziehungen zu den Nachbarräumen“ (28 f.). 49 MULZER: Geographische Gedanken (wie Anm. 42), 239. 50 MICHAEL DIEFENBACHER, HORST-DIETER BEYERSTEDT: Nürnberg. In: WOLFGANG ADAM, SIEGRID WESTPHAL (Hg.): Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Berlin/Boston 2012, Bd. 3, 1569–1610, hier 1571. 51 BERNINGER: Geographische Grundlagen (wie Anm. 45), 4. 52 Ebenda. 53 DIEFENBACHER, BEYERSTEDT: Nürnberg (wie Anm. 50), 1570.
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und von einer Stadt wurde also nicht sich selbst überlassen, sondern bedurfte, bezogen auf den Fernhandel Nürnbergs, eines „äußerst geschickt aufgebauten System[s] von Handelsfreiheiten und Zollbefreiungen Nürnberger Kaufleute“54. Mit diesem „Netz“ an Privilegien55 – im 14. Jahrhundert waren es 7256 – erschloss sich Nürnberg unterschiedliche Handelsräume. Solche „Räume intensiven kommerziellen Austauschs“57 lagen im 14. und 15. Jahrhundert für Nürnberg vor allem am „Ober- und Niederrhein, in Flandern, Südfrankreich, Norditalien, Österreich, Böhmen, Ungarn und Polen. Im 15. Jahrhundert verstärkte sich der Handel nach Italien (v. a. Venedig) und Nordosten, und seit dem frühen 16. Jahrhundert wurden Spanien und Portugal sowie ihre entstehenden überseeischen Kolonialgebiete mit einbezogen“58. Neben Zollprivilegien, die entweder der gegenseitigen Absicherung bevorzugter Handelswege dienten oder einseitig von Durchgangszöllen befreiten59, waren es Geleitverträge, mit denen Nürnberg versuchte, „den Verkehr seiner Kaufleute […] zu erleichtern“60. Mit der Gewährung eines Geleits, aber auch mit der Erlangung von Zollfreiheiten wurde die Nutzung von Straßen einerseits erleichtert. Anderseits ging von den Zollprivilegien und mehr noch von den Geleitsverträgen immer auch ein Zwang zur Nutzung bestimmter Straßen aus61. Es lässt sich also festhalten, dass von der Stadt Nürnberg ein mit Privilegien und Verträgen geschützter Einfluss sowohl auf die Nutzung als auch auf die Nichtnutzung von Straßen ausging. Inwieweit hierbei Distanz und Nähe das Verhältnis Nürnbergs zu den Straßen beeinflusst haben, müssen weitere Forschungen erst noch zeigen. Dies betrifft vor allem jene Straßen (des Geleits und des Zolls), die Gegenstand von Herrschaftskonflikten Nürnbergs mit Nachbarterritorien waren62. Der Frage, ob auch Fährund Brückenrechte Gegenstand einer Nürnberger Zoll- und Verkehrspolitik waren, wie sie Rolf Kießling für Memmingen untersucht hat, müsste ebenfalls nachgegangen werden. Kießling konnte zeigen, dass die oberschwäbische Stadt „seit 54 SCHREMMER: Nürnberg (wie Anm. 43), 905. 55 HEKTOR AMMANN: Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg im Spätmittelalter (= Nürnberger Forschungen. Einzelberichte zur Nürnberger Geschichte 13), Nürnberg 1970, 20–44. 56 SCHREMMER: Nürnberg (wie Anm. 43), 907. 57 MARK HÄBERLEIN: Art. Handelsräume. 1. Einleitung. In: JAEGER (Hg.): Enzyklopädie (wie Anm. 25), Bd. 5, Stuttgart 2007, Sp. 113–117, hier 114. 58 MICHAEL DIEFENBACHER: Nürnberg, Reichsstadt: Handel. In: Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Nürnberg, Reichsstadt: Handel [02.08.2017]. 59 THOMAS ENGELKE: Art. Zollfreiheiten. In: MICHAEL DIEFENBACHER, RUDOLF ENDRES (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg, Nürnberg 1999, 1216. 60 AMMANN: Nürnberg (wie Anm. 55), 41. 61 KLAUS OBERNDÖRFER: Das Zollwesen der Reichsstadt Nürnberg, Inaugural-Diss. ErlangenNürnberg 1965, 147–150. 62 JOHANNES MÜLLER: Geleitwesen und Güterverkehr zwischen Nürnberg und Frankfurt a.M. im 15. Jahrhundert. In: Vierteljahrschrift für Sozial und Wirtschaftsgeschichte 5 (1907), 173– 196 und 361–400; HORST-DIETER BEYERSTEDT: Art. Geleit und Geleitprozeß. In: DIEFENBACHER, ENDRES (Hg.): Stadtlexikon (wie Anm. 59), 328 f.
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dem ausgehenden 15. Jahrhundert den Ausbau eines stadtnahen Verkehrsnetzes [verfolgt hat], um die Nahmarktfunktion zu verbessern“63. Zoll-, Fähr- und Brückenrechte ermöglichten darüber hinaus in Memmingen den Zugriff auf stadtnahe Brücken und Straßenverbindungen, für deren Erhalt oder auch Neubau die Stadt sorgte. Daneben waren es der Unterhalt und der Ausbau der Fernstraßen Ulm– Bodensee und Mindelheim–Memmingen, den die Stadt betrieb, um die Zentralität des Umlands zu steigern64. Von einer ‚dunklen Straßenepoche‘, in der die schlechten Straßen nur sich selbst überlassen blieben, kann also nicht die Rede sein. Eine differenziertere Sicht mahnt auch die von Gerhard Fouquet untersuchte Stadt Basel an, die im 15. und 16. Jahrhundert „für den Ausbau der strahlenförmig auf […] [sie] zuführenden Wege und Straßen verhältnismäßig viel“ tat65. Basel ist zwar per se „verkehrsgünstig am Rheinknie zwischen Oberrhein und Hochrhein gelegen“66, dies konnte jedoch eine aktive Erschließung des von der Stadt politisch und wirtschaftlich benötigen Verkehrs- und Handelsgebiets nicht ersetzen. Auch über die Beispiele Basel und Memmingen hinausgehend hat die Forschung zwar verschiedentlich konstatiert, aber nicht weitergehend untersucht, dass gerade seit dem 15. Jahrhundert nicht nur innerhalb der Städte, sondern auch „in ihrer nähern [sic] Umgebung“ Straßen unterhalten wurden67. Für die Zeit um 1500 sind „die Wege vor dem Thor [sogar] ein Hauptaugenmerk der städtischen Verwaltungen geworden“68.
63 ROLF KIESSLING: Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert (= Städteforschung A 29), Köln/Wien 1989, 443. 64 Ebenda, 435–443. 65 GERHARD FOUQUET: Bauen für die Stadt. Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spätmittelalters (= Städteforschung A48), Köln/Weimar/Wien 1999, 350 f. 66 KASPAR VON GREYERZ: Basel. In: ADAM, WESTPHAL (Hg.): Handbuch (wie Anm. 50), 89– 131, hier 89. 67 HEKTOR WILHELM HEINRICH MITHOFF: Ergebnisse aus mittelalterlichen Lohnregistern der Stadt Hannover. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen Jahrgang 1871 (1872), 129–226, hier 176–179 (Zitat 176). Auf diesen Seiten werden von 1480 bis 1509 Ausgaben der Stadt Hannover für Stein- wie auch Bohlenwege angeführt. Auf diese und weitere städtischen Ausgaben für den Unterhalt von Straßen verweist ERNST GASNER: Zum deutschen Strassenwesen von der älteren Zeit bis zur Mitte des XII. Jahrhunderts. Eine germanistisch-antiquarische Studie, Stuttgart 1889 (Neudruck Wiesbaden 1966), 126. Daneben erwähnt BIRK: Strasse (wie Anm. 35), 230, Stadtrechnungen aus dem 15. und 16. Jahrhundert „über Ausbessern, Aushauen, Einhauen von Wegen, die für die Forst- und Bergwirtschaft der Stadt Wernigrode wichtig waren“. 68 GASNER: Strassenwesen (wie Anm. 67), 126. Für das 15. Jahrhundert wird allgemein von einem Höhepunkt des Straßenbaus durch die Städte gesprochen (144). Auf Straßenbaumaßnahmen der Städte München, Hamburg, Wien und Frankfurt verweist FOUQUET: Bauen (wie Anm. 65), 351. Zu Freiburg siehe KLARA HÜBNER: Melliorar chimins et pont. Zwischen städtischer Infrastruktur und Fernhandelsinteressen. Straßen- und Brückenbau im spätmittelalterlichen Freiburg im Uechtland. In: SCHWINGES: Straßen- und Verkehrswesen (wie Anm. 32), 257–287.
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Und Nürnberg? Hier ist bekannt, dass der Erwerb von Land neben militärischen auch aus verkehrspolitischen Beweggründen erfolgte69. Welche Bedeutung die Verkehrspolitik für den Unterhalt der Straßen, aber auch für den Bau und Erhalt der zahlreichen Brücken hatte, die es nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Stadt gab70, bleibt zu untersuchen. Künftige Forschungen haben dabei zu berücksichtigen, dass die Befreiung von Zollabgaben keineswegs die kostenfreie Nutzung von Straßen bedeutete. Mit der oftmals auch als (Wege-)Zoll bezeichneten Maut musste stets eigens „für die Benutzung eines Verkehrswegs“71 bezahlt werden. Trotz Zollprivilegien hatten so etwa die Nürnberger Fuhrleute für die Strecke Nürnberg–Nördlingen mehrere Wegezölle zu entrichten72. Das Recht auf Zollerhebung ging wiederum mit der Verpflichtung – dies ist hier entscheidend – zur Instandhaltung der Straßen einher, weshalb nachweislich in der Grafschaft Oettingen die meisten Zollgelder „für Ausbesserungsarbeiten an den Straßen“ verwendet wurden73. Der von Nürnberg ausgehende Handelsverkehr hatte damit – so der künftig noch näher zu eruierende Befund – einen unmittelbaren Einfluss auf die materielle Existenz von Straßen, die nicht im weitläufigen Territorium74 der Reichsstadt lagen. Schließlich waren es Nürnberger Kaufleute, die unabhängig von den Zöllen Mitte des 14. Jahrhunderts „wiederholt zur Erhaltung der Alpenstraßen Beiträge geleistet“ haben75. Das „Fernhandelsnetz“ der Reichsstadt mit dem keineswegs „‚natürlichen‘ Mittelpunkt im Nürnberger-Fürther Raum“76 umfasste sieben große Handelsstras-
69 ORTREMBA: Nürnberg (wie Anm. 48), 125. Als Beispiel werden die Besitzungen um Gräfenberg und im Pegnitztal bis Velden angeführt, mit denen „wenigstens in der Nähe der Stadt die wichtigsten Handelsstraßen nach Böhmen und dem Nordosten gesichert“ waren. 70 FRITZ SCHNELBÖGL, HANNS HUBERT HOFMAN (Hg.): Gelegenhait der landschaft mitsampt den furten und helltten darinnen. Eine politisch-statistische, wehr- und verkehrsgeographische Beschreibung des Großraums um Nürnberg zu Beginn des 16. Jahrhunderts (= Schriftenreihe der Altnürnberger Landschaft 1), Hersbruck 1952; MICHAEL DIEFENBACHER: Brücken. In: DERS., ENDRES (Hg.): Stadtlexikon (wie Anm. 59), 161f. ERICH MASCHKE, Die Brücke im Mittelalter. In: DERS., JÜRGEN SYDOW (Hg.): Die Stadt am Fluß (= Stadt in der Geschichte 4) Sigmaringen 1978, 9–39 mit einem Hinweis zu Nürnberg auf 19. 71 MARKUS A. DENZEL: Art. Zoll. In: JAEGER (Hg.): Enzyklopädie (wie Anm. 25), Bd. 15, Stuttgart 2012, Sp. 547–552, hier 548. 72 RUDOLF ENDRES: Die Nürnberg-Nördlinger Wirtschaftsbeziehungen im Mittelalter bis zur Schlacht von Nördlingen. Ihre rechtlich-politischen Voraussetzungen und ihre tatsächlichen Auswirkungen (= Schriften des Instituts für Fränkische Landesforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg 11), Neustadt a. d. Aisch 1963, 44–46. Siehe allgemein zum Nürnberger Wege- und Brückenzoll OBERNDÖRFER: Zollwesen (wie Anm. 61), 100. 73 ENDRES: Wirtschaftsbeziehungen (wie Anm. 72), 58. 74 PETER FLEISCHMANN: Art. Landgebiet. In: DIEFENBACHER, ENDRES (Hg.): Stadtlexikon (wie Anm. 59), 610; WOLFGANG WÜLLNER: Das Landgebiet der Reichsstadt Nürnberg (= Altnürnberger Landschaft, Mitteilungen 19), Nürnberg 1970, der freilich auf 55 festhält: „Nachteilig für den Handel wirkte sich nicht zuletzt der katastrophale Zustand der Straßen des Landgebiets aus, die aus Geldmangel nur unzulänglich unterhalten werden konnten“. 75 BIRK: Strasse (wie Anm. 35), 229. 76 MULZER: Geographische Gedanken (wie Anm. 42), 242.
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sen77. Genauere Studien müssen zwar noch zeigen, wie sich das Verhältnis der einzelnen Handelsstraßen(abschnitte) zu Nürnberg und umgekehrt gestaltete. Zollprivilegien und Geleitverträge sowie zoll- und geleitsbedingte, aber auch davon gelöste Geldzahlungen eröffnen jedoch Untersuchungsperspektiven. Die Freiheiten und Zwänge zur Nutzung von Straßen hatten hierbei einen gleichfalls noch genauer zu analysierenden Einfluss auf deren Verlauf und Zustand. Gerade die – bezogen auf die Geleitgelder von Rat und Kaufleuten gleichermaßen getragenen78 – (pekuniären) Zwänge der Straßennutzung erlauben überdies einen eingehenderen Blick auf die Klagen der Zeitgenossen, die ja durchaus – wie bereits angeführt – im Zusammenhang mit den Geldzahlungen stehen konnten. Zu bedenken ist daneben, dass Nürnberg nicht nur Zollfreiheiten für den eigenen Handel in Nah und Fern erwarb, sondern immer auch selbst über das Zollund Waagamt verwaltete Zollgebühren erhob79. Ob und wie diese Zollgelder in den Aus- und Neubau von Straßen und Brücken im Umland, welches „nicht nur der Versorgung mit Lebensmitteln und Holz, sondern auch mit andern Rohstoffen diente“80, investiert wurden, kann mit Verweis auf das Oettinger Beispiel derzeit nur vermutet werden. Vielleicht sind es auch gerade die Gelder des noch vorzustellenden Weg- und Stegamts, die zum Unterhalt der Straßen und Brücken zur Verfügung standen. In der Vormoderne gab es freilich neben den Städten viele weitere Inhaber von Herrschaftsrechten, die Straßen- und Brückenbaumaßnahmen finanzierten81. Zudem erfuhren Straßen und Brücken eine Finanzierung „von Hospizen, durch Stiftungen, Bruderschaften und Ablässe, und auch durch die Initiative von […] Privatleuten“82. Die Städte sind somit nur einer von vielen vorstaatlichen, privaten oder religiösen „verkehrspolitischen Akteure[n]“83, die die ‚dunkle Straßenepo77 MICHAEL DIEFENBACHER: Art. Fernhandelsstraßen. In: DERS., ENDRES (Hg.): Stadtlexikon (wie Anm. 59), 280. JOHANNES MÜLLER: Hauptwege des nürnbergischen Handels im Spätmittelalter. In: Archiv für Kulturgeschichte 5 (1907), 1–23, unterscheidet hingegen sechs große und sechs Nebenstraßen. 78 THEODOR OLESCH: Städtische Wirtschaftspolitik und Fernhandel vom Anfang des 13. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Dargestellt am Beispiel von Nürnberg und Augsburg unter besonderer Berücksichtigung ihrer Handelsbeziehungen zu Frankreich, Inaugural-Diss. Nürnberg 1948, 134. 79 WALTER BAUERNFEIND: Art. Zoll- und Waagamt. In: DIEFENBACHER, ENDRES (Hg.): Stadtlexikon (wie Anm. 59), 1214 f.; bei OBERNDÖRFER: Zollwesen (wie Anm. 61), 165–199 werden die Nürnberger Zolltarife vom 14. bis zum 18. Jahrhundert aufgelistet. 80 HERMANN KELLENBENZ: Gewerbe und Handel am Ausgang des Mittelalters. In: PFEIFFER (Hg.): Nürnberg (wie Anm. 45), 176–186, hier 177. 81 GASNER: Strassenwesen (wie Anm. 67), 58–144. 82 BEHRINGER: Merkur (wie Anm. 29), 513. Siehe zu diesen und weiteren Trägern respektive Finanzierungsformen des Straßenbaus FRIEDHELM BURGHARD, ALFRED HAVERKAMP (Hg.): Auf den Römerstraßen ins Mittelalter. Beiträge zur Verkehrsgeschichte zwischen Maas und Rhein von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert (= Trierer Historische Forschungen 30), Mainz 1997. 83 So MARIE-CLAUDE SCHÖPFER PFAFFEN: Verkehrspolitik im schweizerischen Alpenraum. Bernische und Walliser Erscheinungsformen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. In: SCHWINGES (Hg.): Straßen- und Verkehrswesen (wie Anm. 32), 289–329, hier 307 mit einer Definiti-
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che‘ gar nicht so dunkel erscheinen lassen. Wie sich nun konkret der Anteil Nürnbergs am Straßenbau gestaltete, soll im Folgenden aufgezeigt werden. II. Ein Lichtpunkt in der ‚dunklen Straßenepoche‘ – die Rechnungslegung des Weg- und Stegamtes in Nürnberg 1547 Sich mit der Materialität von Straßen und Brücken im 16. Jahrhundert auseinanderzusetzen, bedeutet, wie bereits beschrieben wurde, den eingetretenen Pfad der Lehrmeinung insofern zu verlassen, als die Zeit vom Spätmittelalter bis zur Schwelle des 17. Jahrhunderts nicht als eine ‚dunkle Straßenepoche‘ zu begreifen ist, in welcher der Alltag von Fuhrleuten, Reisenden und anderen Straßennutzern in erster Linie und fast ausschließlich durch eine dem Verfall anheim gegebene Infrastruktur geprägt war. Setzt man dieser Einschätzung die erhaltene institutionelle Überlieferung der Reichsstadt Nürnberg und des zum Bauamt gehörigen Weg- und Stegamtes entgegen, lässt sich ein gänzlich anderes Bild des Straßenwesens zeichnen – ein Bild, das die Straßen und Brücken, deren Bau oder Instandhaltung als Teile der Verwaltung des urbanen und nichturbanen Raumes kennzeichnet. Um dies aufzuzeigen, wird im Folgenden die Beschreibung und Analyse eines aus dem Bestand ‚Bauamtsakten‘ der Reichsstadt Nürnberg stammenden „Manual über Weg und Steg“ vorgenommen, dessen Inhalt nicht nur Hinweise auf die Rechnungslegungspraxis der Reichsstadt bzw. des Weg- und Stegamtes gibt, sondern in erster Linie und vor allem darauf verweist, wer wann an der Instandhaltung von Straßen und Brücken beteiligt war, welche Maßnahmen und Arbeiten ausgeführt wurden, welches Material hierfür ver- und wie viele Kosten aufgewendet werden mussten. Bevor hierauf näher eingegangen wird, soll zunächst das Manual von 1547 in seiner äußeren Gestalt analysiert und in den Bereich der spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Rechnungslegung eingeordnet werden. Dies ist deshalb erforderlich, da sich das Manual selbst in eine breite Verschriftung von Einnahmen und Ausgaben städtischer Ämter eingebunden sah und sich durch deren Beachtung weite institutionelle Zusammenhänge zwischen Stadt und Weg- und Stegamt erarbeiten lassen. Dieser Einordnung folgt die innere Beschreibung der Manualeinträge in Hinblick darauf, welche Aussagen sich durch jene Quelle in einer Untersuchung über die Materialität von Straßen für das 16. Jahrhundert formulieren lassen.
on des Begriffes Verkehrspolitik. Zu den Verkehrsakteuren dieses Untersuchungsraumes zählt auch die Stadt Bern. Siehe ausführlicher MARIE-CLAUDE SCHÖPFER PFAFFEN: Verkehrspolitik im Mittelalter. Bernische und Walliser Akteure, Netzwerke, Strategien (= Vorträge und Forschungen, Sonderband 55), Ostfildern 2011.
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II.1. Ein Nemen und ausgeben – formale Gestalt und Inhalt des Manuals Auf insgesamt 13 unfoliierten, papierenen Seiten84 mit einer Größe von 27,8 cm x 10 cm sind, geschützt durch einen schweinsledernen Umschlag, die Ein Nemen und ausg[e]b[en] von weg[en] an steg un[d] weg im Jahr 1547 verzeichnet85. Institutionell und damit seinem Entstehungskontext zugeordnet werden kann dieses Manual dem seit dem 14. Jahrhundert existierenden Weg- und Stegamt der Reichsstadt Nürnberg, das sowohl in personeller als auch in struktureller Hinsicht mit dem Bauamt der Stadt, der zentralen städtischen Institution für Baumaßnahmen, verwoben war86. Der Pfleger des Amts – auf dem Titelblatt des Manuals als Bauwaibl bezeichnet – war einerseits als Verwalter einer ehemaligen Stiftung, welche mit Grund- und Hausbesitz begabt war, zuständig für die Eintreibung der damit verbundenen Zinsen und Abgaben sowie für die Verwaltung dieses „Sondervermögens“87. Andererseits oblag ihm zudem „die Aufsicht über den Zustand bestimmter Straßen und Brücken“, weshalb er „Ausbesserungsarbeiten durch das Bauamt“88 anweisen konnte und für deren Instandhaltung zu sorgen hatte89. Einblicke in diese Tätigkeit erlauben die insgesamt 154 verzeichneten Einträge in dem Manual, das vom 9. Januar bis 10. November 1547 geführt worden ist und neben den Einnahmen der angesprochenen Zinsen vor allem Ausgabeposten zum Erhalt der Straßen aufführt, die nach Schwabach Richtung Südwesten und Buch Richtung Nordwesten führten, sowie zum Erhalt der im (Süd-)Westen und (Nord)Osten der Reichsstadt gelegenen Brücken zu Altenberg, Rötelbach, Mögeldorf und Reichelsdorf. Daneben ist auch häufiger von Straßen ohne nähere Angaben die Rede. Alle Straßen und Brücken lagen jedoch außerhalb des ummauerten Stadtbereichs und innerhalb des Nürnberger Landgebiets. Die äußere Form der zwölf mit Geldtransaktionen gefüllten Seiten entspricht sich grundsätzlich (Abb. 1): Überschrieben sind die einzelnen Seiten – bis auf fol. 84 Zur besseren Orientierung und einfacheren Zählung wurden die 13 Seiten nachträglich von den Autoren foliiert. 85 Staatsarchiv Nürnberg (im Folgenden StAN), Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 1r. Bei der hier vorgenommenen Analyse werden grammatikalische Ergänzungen in eckigen Klammern ergänzt sowie die Eigennamen in Großschreibung wiedergegeben. Ansonsten bleibt das in der Quelle angewandte Schriftbild erhalten. Zu beachten gilt es ferner, dass hier lediglich das Manual von 1547 bearbeitet wurde. Insgesamt enthält der Bestand der Bauamtsakten unter der Nr. 327 die Manuale der Jahre 1547 bis 1565. 86 PETER FLEISCHMANN: Das Bauhandwerk in Nürnberg vom 14. bis zum 18. Jahrhundert (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte. Schriftenreihe des Stadtarchivs Nürnberg 38), Nürnberg 1985; RAINER GÖMMEL: Vorindustrielle Bauwirtschaft in der Reichsstadt Nürnberg und ihrem Umland (16.–18. Jahrhundert) (= Beiträge zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte 30), Wiesbaden 1985, der jedoch die Bautätigkeiten des Weg- und Stegamtes, ja dieses Amt selbst, nicht erwähnt. 87 WALTER BAUERNFEIND: Art. Weg- und Stegamt. In: DIEFENBACHER, ENDRES (Hg.): Stadtlexikon (wie Anm. 59), 1162. 88 EBENDA. 89 PAUL SANDER: Die Reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs. Dargestellt auf Grund ihres Zustandes von 1431 bis 1440, Berlin 1902.
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7r – mit einem zentrierten Laus deo anno 1547. Insgesamt stellt sich die Seitenorientierung so dar, dass eine Vierteilung der einzelnen Seiten gewählt wurde, die bis zur Seite 3r auch durch eine sichtbare, tabellarische Spalteneinteilung in Kolumnen mit vertikalen Linien gekennzeichnet ist. Dabei befindet sich in der linken Spalte der sogenannte gegen strich, auf den weiter unten noch eingegangen wird (Abb. 1 und 290) – verweist diese graphische Markierung doch auf die komplexe Rechnungsführung des Weg- und Stegamtes. Die mittlere und größte der vier Spalten beinhaltet den eigentlichen Eintragungstext. Abgeschlossen wird die tabellenartige Aufzeichnung der einzelnen Posten durch das Festhalten der ausgegebenen oder eingenommenen Geldbeträge in den für das 16. Jahrhundert typischen Währungseinheiten Rheinische Gulden (R), Heller (h) und Pfennige (dn) in den beiden rechten Spalten.
Abb. 1: Erste Seite aus dem Manual für das Jahr 1547 mit Spalteneinteilung
Die eigentliche Strukturierung der Einträge erfolgt über die Chronologie, die bis zur dritten Seite und im August/September ab fol. 5v im wöchentlichen Rhythmus die Ausgaben/Einnahmen festhielt. Ab fol. 3r wurden die Transaktionen jeweils nach dem spezifischen Aus- oder Einnahmetag selbst aufgelistet. Anders als im 90 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 2r (Abb. 1) u. 6v (Abb. 2).
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ebenfalls überlieferten Baumeisterbuch91 zum Weg- und Stegamt oder anderen Handels- und Kaufmannsbüchern wurde bei der Verzeichnung keine Subsumtion zusammengehöriger Vorgänge unter bestimmten topographischen Einheiten, Personen- oder Materialkonten vorgenommen92. Die Chronologie war demnach entscheidend für die Platzierung eines jeweiligen Eintrages im Manual. Inhaltlich gliedern sich die verzeichneten Einträge in die Einnahmen und Ausgaben des Pflegers, wobei sich die Einnahmen ausschließlich aus der Zahlung von Zinsen und dem sogenannten Gattergeld ergaben93. Wie bereits angesprochen, war das Weg- und Stegamt als ehemalige Stiftung „mit Hausbesitz in der Stadt bzw. grundherrschaftlichen Einnahmen fundiert“94, weshalb im Manual die Zahlung dementsprechender Lichtmess-, Walburgis- und Allerheiligenzinse sowie der tzins vo[n] gatter der Haus- oder Grundstücksmieter in und außerhalb der Stadt aufgenommen wurde95. Den Großteil der Einträge bilden aber die von Bartl Grolock, dem Pfleger des Weg- und Stegamtes – den es im Folgenden noch näher vorzustellen gilt –, im Jahr 1547 vorgenommenen Ausgaben zum Erhalt der angeführten Straßen und Brücken. In 127 von insgesamt 154 Einzeleinträgen hielt der Pfleger Ausgabetransaktionen fest, die entweder für den Aufwand an Material, wie Rohstoffen und verarbeitungsbereiten Werkstoffen, oder an Menschen und Arbeitskraft bezahlt werden mussten. Festzuhalten bleibt also bis hierhin, dass sich die Einträge im Manual anhand der Chronologie strukturieren und in Einnahmen- und Ausgabentransaktionen gliedern lassen. Fungierten bis zur Seite 3r noch die Zwischenüberschriften Einnemen / Ausgeben als Orientierungsanker, um Soll- und Habenbuchungen auf einen Blick unterscheiden zu können, so sind es die für Rechnungsbücher typischen „wiederkehrende[n] Textbausteine[…]“96, deren semantische Ausgestaltung
91 Stadtarchiv Nürnberg, B 1/III, Nr. 1. 92 Lediglich Ende Juli wurde eine einmalige Addition der von Januar bis Juli ausgegebenen Gelder verzeichnet. Die Summe beläuft sich auf 45 Gulden, StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 5v. 93 FRIEDRICH MATTAUSCH: Die Nürnberger Eigen- und Gattergelder. Freie Erbleihe und Rentenkauf in Nürnberg von den ersten urkundlichen Nachweisen bis zur Gegenwart. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 47 (1956), 1–106, beschreibt auf 2 das Gattergeld als Zins, welcher zu leisten war, wenn eine „durch freie Erbleihe oder Rentenkauf bereits mit einem Eigengeld belastete Liegenschaft im Wege des Rentenkaufs nochmals mit einem Zins belastet“ wurde. 94 Aus: Bestandsbeschreibung des Weg- und Stegamtes (B 24 Weg- und Stegamt), http://onlineservice2.nuernberg.de/stadtarchiv/ [19.06.2017]. 95 SANDER: Die Reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs (wie Anm. 89), hier 316, bemerkt, dass zu den Einnahmen des Baumeisters nicht nur diejenigen gehören, welche aus Materialverkäufen erzielt wurden, sondern auch „diejenigen […], die er als Pfleger der Wege und Stege von den beitragspflichtigen Adjacenten erhebt“, womit hier die Zinszahler gemeint sind. 96 SVEN SCHMIDT: Das Gewerbebuch der Augsburger Christoph-Welser-Gesellschaft (1554– 1560) (= Documenta Augustana 22), Augsburg 2015, 57.
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auf den restlichen Manualseiten auf Einnahmen- oder Ausgabentransaktionen in der mittleren Spalte verweisen. So sind die Einnahmen markiert durch ein XY tzaltt. Ausgaben darüber hinaus werden eingeleitet etwa durch Adj 14 Februariy gab ich / gab pangratz weber / gab im weytter / Mer gab ich / Item ich gab. Diese Formulierungen entsprechen damit der Identifizierung von Soll- und Habenbuchungen und sind nicht Teil einer textlichen Kohäsion. Dies verdeutlicht, dass sich die fortlaufenden Eintragungen im Manual, syntaktisch betrachtet und abgesehen von den zu Beginn eingesetzten Differenzierungsüberschriften, mehr als „kohäsionsstiftende […] Parallelismen“97 darstellen. Als Buchungsmuster wurde hierbei eine Systematik gewählt, die für jede Transaktion eine eigene Zeile verwendet und nach der Nennung des Datums oder der Kennzeichnung einer fortlaufenden Zahlung das Subjekt und damit den Geldgebenden – seien es die Zinspflichtigen oder der Pfleger selbst – zu Beginn der Buchungstexte ins Satzinitium setzte. Dem Satzsubjekt folgt der konjugierte Prädikatskern (gab/zahlt), welcher auf den Typus der Buchung verweist. Abgeschlossen wird das Buchungsmuster durch die Nennung des Objekts mit oder ohne bestimmte adverbiale Ergänzungen (Ort/Tätigkeit) und der Verzeichnung der eingenommenen bzw. ausgegebenen Summen Geldes98. Bei zusammengehörigen Ausgaben, die etwa die zuvor genannte Person oder die zuvor genannten Materialkosten betreffen, verwendete der Schreiber die Formulierung gab im weytter oder Mer gab99. Diese syntaktischen Konstruktionen verweisen auf ihre Funktionalität im Manual, welche sich sowohl am wiederzugebenden Inhalt als auch an seinem „situativen Kontext“100 zu orientieren hatte. Die durch den Schreiber so geschaffene Ordnung erfüllte damit erstens die praktische Funktion „in variierenden textuellen und situativen Kontexten“101 Anwendung und Verwendung finden zu können, da sie sich durch eine der Buchführung inhärente Fachterminologie auszeichnet102; zweitens erlaubte es die standardisierte Darstellung, die Kerninformationen für die Rechnungslegung in komprimierter Art und Weise festzuhalten, sie „nachvoll-
97 DORIS TOPHINKE: Handelstexte. Zur Textualität und Typik kaufmännischer Rechnungsbücher im Hanseraum des 14. und 15. Jahrhunderts (= ScriptOralia 114) Tübingen 1999, 120. 98 TOPHINKE: Handelstexte (wie Anm. 97), 119–123. 99 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 5r.: (1) Adj 19 gab ich pangratz weber das er / 3 ½ tag tzu megeldorf die gleutt[er] / auff den pruck gepessertt hatt ain / tag 50 dn thutt R – h 5 h 25 dn (2) Mer ainem der Im geholff[en] 2 tag tzu 40 dn thutt R – h 2 h 12 dn (3) Mer ain tag an der schwabach[er] stras tzu 36 dn R – h 1 dn 6. 100 DORIS TOPHINKE: Vom Vorlesetext zum Lesetext: Zur Syntax mittelniederdeutscher Rechtsverordnungen im Spätmittelalter. In: ANGELIKA LINKE, HELMUTH FEILKE (Hg.): Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt (= Germanistische Linguistik 283), Berlin 2009, 161–186, hier 164. 101 TOPHINKE: Vom Vorlesetext zum Lesetext (wie Anm. 100), 164. 102 Zur Diskussion über Fach- und Techniksprache in der Rechnungsführung siehe ULLA KYPTA: Die Autonomie der Routine. Wie im 12. Jahrhundert das englische Schatzamt entstand (= Historische Semantik 21), Göttingen 2014, 85–136.
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ziehbar zu mach[en]“103 und so Transparenz in Hinblick auf eine mögliche Kontrolle der Rechnungslegung durch die Losunger zu erzeugen. Damit unmittelbar verbunden fungierten die schematisch festgefügten Satzmuster als „Marker“104, deren „spezifisch lexikalisches Material […] [es] erkennbar machte“105. Diese kognitiv-kommunikative Funktionalität – wie es Doris Tophinke bezeichnet hat106 – besteht aber nicht nur in einer Kontrollfunktion und einem durch die Standardisierung der Formulierungen erleichterten Textzugang; insgesamt und in erster Linie diente das Manual als Journal zur täglichen Fixierung der Posten. Hieraus leitet sich seine Memorierungsfunktion der Ausgaben und Einnahmen ab, deren Verschriftung als pragmatische Erinnerungsstütze zentrales Element der Verwaltung des Weg- und Stegamtes war – bedenkt man, dass die Rechnungslegung eingebunden war in ein weitläufiges Netz an institutioneller Buchführung107. Insofern dienten die Verschriftungen hier dem „Zweck, die Eintragungen […] [ins] Hauptbuch vorzubereiten und zu erleichtern“108. Diese Aussage lässt sich noch konkretisieren, denn der bereits angesprochene gegen strich109 in der linken Spalte der Textseiten repräsentiert das Eingebundensein des Manuals in die breite Rechnungslegungspraxis der Nürnberger Ämter (Abb. 1 u. 2110), worauf auf dem Titelblatt der Quelle zudem eigens verwiesen wurde (Abb. 3111). Der Überschrift (Bauwaibl uber Stege und Wege) folgt nämlich der Hinweis: Item alle posten so durch strich[en] od[er] geg[en] strig hab[en] die sint In das Recht Buoch ein geschrib[en] word[en]. welche aber nitt geg[en] strich hab[en] di synt n och ein tzuo schreib[en]112. Dabei gilt es ferner zu beachten, dass die insgesamt 154 Einträge im Manual nicht die Gesamtausgaben und -einnahmen des Pflegers von Weg und Steg widerspiegeln. Denn wie auf dem Titelblatt (Abb. 3) vermerkt, erschlossen sich die gesamten Transaktionen erst in dem Recht Buoch113, in dem alle Posten über die 103 GUDRUN GLEBA: Die Ordnung im Kopf des Schreibers – Textbildgestalt als Teilaspekt der Edition mittelalterlicher Rechnungsbücher. In: NIKOLAUS HENKEL, JÜRGEN SARNOWSKY (Hg.): Konzeptionelle Überlegungen zur Edition von Rechnungen und Amtsbüchern des späten Mittelalters (= Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 16), Göttingen 2016, 57–71, hier 59. 104 TOPHINKE: Vom Vorlesetext zum Lesetext (wie Anm. 100), 164. 105 Ebenda. 106 Ebenda. 107 Siehe hierzu die Überlieferungen im Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten; sowie im Stadtarchiv Nürnberg, Bestand Weg- und Stegamt. 108 BALDUIN PENNDORF: Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, Leipzig 1913, 44. Zudem gilt es zu beachten, dass auch Ausgaben getätigt wurden, die auf Zeit und Ziel bezahlt wurden, wie ein Eintrag vom 4. September zeigt, als Grolock dem Michel Frisch wid[er] auff Rechnung [erst] di kunftig woch[en] di stein betzalen soll, StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 6v. 109 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 1r. 110 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 2r (Abb. 1) u. 6v (Abb. 2). 111 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 1r. 112 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 1r. 113 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 323. Hier erscheinen die Aus gebenn der Prucken / Was ich dis Jar auff die grossen / Prucken, als tzum altenn perg, tzum Stein, / tzuo Rei-
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erfolgten Arbeiten an den verschiedenen Straßen und Brücken über das Jahr hinweg zusammengeführt wurden. Die im Recht Buoch eingelegten Rechnungszettel sowie die dort hinzugekommenen Ergänzungen zu den Manualeinträgen verweisen zusätzlich hierauf. Das Manual vollführte demgegenüber also zunächst eine erste „Datenspeicherung“114, da es durch seine handliche Größe erlaubte, auch ‚vor Ort‘ mitgeführt werden zu können.
Abb. 2: Seite aus dem Manual für das Jahr 1547 mit Gegenstrichen am linken Seitenrand und Ausgabeneintragungen
chelsdorff, di drey prucken tzu / Megeldorff, sampt den tzweyen prucken tzu Rottbach / aus geben hab, und das ausgeben auff ain / yede prucken sunderlich gesetztt wie h[ernach] volgt. 114 FRANZ-JOSEF ARLINGHAUS: Die Bedeutung des Mediums „Schrift“ für die unterschiedliche Entwicklung deutscher und italienischer Rechnungsbücher. In: WALTER POHL, PAUL HEROLD (Hg.): Vom Nutzen des Schreibens. Soziales Gedächtnis, Herrschaft und Besitz im Mittelalter (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Denkschriften 306; Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 5), Wien 2002, 237–268, hier 238.
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Die enge institutionelle Verbindung zwischen Weg- und Stegamt, der Peunt als Werkstoffhof und den Losungern als Kontrollorgan – hierauf wird noch einzugehen sein – war nicht nur in der Verschriftung der Rechnungslegung verankert. Vielmehr bestanden die gemeinsamen Bezugspunkte im Alltag in der Finanzierung der durch das Weg- und Stegamt veranlassten Instandsetzungsmaßnahmen der um die Stadt liegenden Straßen und Brücken. Die hierfür benötigten Gelder speisten sich aus den Zinseinnahmen zum Gattergeld und aus dem Grund- und Hausbesitz in und außerhalb der Stadt.
Abb. 3: Titelseite
Der Schlosser Heinrich Schmid beispielsweise tzaltt am 2. November seine[n] tzins mit alts und weyß Münzen, dessen Summe sich auf R 3 h 2 belief. Dieser Geldbetrag setzte sich aus dem verfallen Zins im 46 Jar und verfallen Walburgisund Michaelizins Im 47 Jar115 zusammen116.
115 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 7v. 116 Die Bezahlung der Zinsen erfolgte nicht immer – zahlreiche Einträge im Manual verweisen darauf, dass Zahlungsaufschübe gewährt wurden, Teilsummen bezahlt werden konnten, aber damit auch Schulden angehäuft wurden.
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Neben den Zinseinnahmen, die sowohl in monetärer Form als auch in Naturalien geleistet wurden117, erhielt das Weg- und Stegamt seine Finanzierung aber ebenso durch die Reichsstadt selbst. Verantwortlich für die finanzielle Versorgung und generelle Kontrolle der Ämter waren die angesprochenen Losunger. Damit war in der Reichsstadt Nürnberg jenes Amt bezeichnet, dem die „gesamte Finanzverwaltung der Reichsstadt [unterstand]“118 und die als „oberste Finanzbehörde für den Haushalt der Reichsstadt zuständig war“119. Konstituiert wurde das Losungsamt durch zwei aus dem Rat gewählte vordere Herren aus dem Triumvirat und einem aus den Handwerkern gewählten dritten Losungsherrn, der „aber […] nur mehr den Titel einer Würde [trug]“, dem der „Inhalt [der Würde] fast gänzlich ermangelte“120 und dessen Befugnisse sich – so nach Christoph Scheurls Beschreibung 1516121 – auf das Öffnen und Schließen der Tür zur Losungsstube beschränkte. Aus der Losungsstube und damit womöglich mittelbar aus den angesprochenen Zolleinnahmen erhielt der Pfleger für Weg und Steg weitere Gelder für die Instandhaltung der Straßen und Brücken um Nürnberg. So sind in dem Manual zwei Posten verzeichnet, die auf die Finanzversorgung durch die Losunger verweisen. Am 11. Mai nam der Pfleger ain in der Losung stuben 14 R geltt, Mer 2 r 2 h 15 dn122. Darüber hinaus empfing [ich] In der losung stuben am 7. September auf di pruck tzu Reichelsdorff R 100 h-123. II.2. Bauen und Bezahlen, Menschen und Material Den zeitlichen Schwerpunkt der uns hier interessierenden Ausgabeneintragungen bildeten die Monate Januar (12), April (12), Mai (16), Juni (14), August und September, wobei sich die Ausgaben in den Monaten August und September mit jeweils 26 bzw. 31 Eintragungen deutlich massierten124. Auch an der Anzahl der im 117 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 7v: Adj 15 October tzaltt Hans Kastner 3 Scheffel Korn zu 12 h thutt -R 6h – dn18 / Mer gab an 2 Scheffel habern wartt Im umb 2 ½ R angeschlagen gab dito R 4 h-. 118 RUDOLF ENDRES: Verfassung der Reichsstadt Nürnberg. In: Zeitschrift der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 111 (1994), 405–421, hier 411. 119 PETER FLEISCHMANN: Art. Losungsamt. In: DIEFENBACHER, ENDRES (Hg.): Stadtlexikon (wie Anm. 59), 652. 120 ERNST MUMMENHOFF: Die Nürnberger Ratsbücher und Ratsmanuale. In: Archivalische Zeitschrift 17 (1910), 1–124, hier 5. 121 Christoph Scheurlʼs Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg 1516, in: Die Chroniken der Deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Gesamtreihe Bd. 11, Leipzig 1874, 782–804, hier 793 f. 122 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 4r. 123 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 7r. 124 Fleischmann gibt die in eine Sommer- und Winterphase zu teilende Bauperiode von der Mitte des 16. bis ins 18. Jahrhundert wie folgt an: Sommer: 1. März–30. September; Winter: 1. Oktober–letzter Februartag; FLEISCHMANN: Das Bauhandwerk in Nürnberg (wie Anm. 86), 149; Dirlmeier gibt für das 16. Jahrhundert drei Arbeitsperioden an: Winter: 16. Oktober–22. Februar, großer Sommerlohn: 4. April–24. August, kleiner Sommerlohn: 24. August–16. Okto-
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Manual aufgeführten Personen, die mit der Kontrolle der Brücken und Straßen sowie deren Instandhaltung betraut waren, sind in Hinblick auf die arbeitsreichsten Monate gegenüber Januar bis März quantitative Unterschiede feststellbar. Verzeichnen die Auflistungen von Januar bis März lediglich die Arbeiten des Pangratz Weber und die Ausgaben an ihn, erscheint in den Abrechnungen erst Mitte März eine zusätzliche Ausgabe für eine Person, die Im geholff[en]125 hat, um Ausbesserungsarbeiten an der Straße nach Schwabach vorzunehmen. Im Laufe des Jahres kamen verschiedene andere Handlanger und Helfer hinzu. Zudem nahmen auch – so die Angaben im Manual – die Arbeitstage der Arbeiter zu. Wurde Pangratz Weber im Januar und Februar überwiegend für einen einzelnen Arbeitstag bezahlt, deren Gesamtzahl im Monat zwischen drei und 20 Arbeitstagen schwankte, erfolgten ab Mai die Abrechnungen gelegentlich über mehrere, bis zu sechs Tage hinweg126. Auf der Ausgabenliste wurden insgesamt 22 verschiedene Arbeits- und Handwerksgruppen127 aufgeführt – vom Handlanger, Träger und Arbeiter über den Knecht, Zimmermänner und Werkleute bis hin zu den Losungern – wobei neun dieser Akteure individualisiert mit Namen eingeschrieben sind.128 Anhand dieser Vermerke lässt sich zeigen, dass an der Instandhaltung der Nürnberger Infrastruktur eine ganze Reihe von Personen und Gruppen eingesetzt wurde, deren Arbeitsleistung der Pfleger zu bezahlten hatte. Zu den am häufigsten genannten Personen im Manual zählt der bereits genannte Pangratz Weber. Welche Funktion er genau innerhalb des durch die Peunt organisierten Weg- und Stegamtes innehatte, geht aus den hier betrachteten Überlieferungen nicht hervor. Allerdings verweist ein Eintrag vom 18. Juli 1547 darauf, dass, nachdem der keyser von Nürnberg weggeritten war, ihm 1 R verehrt wurde, dhweil er das Jar auf die arbeitt steg und weg warttet und versichtt129. Ob er damit eine ähnliche Position innehatte wie der von Endres Tucher beschriebene prucken maister130, müsste weitergehend überprüft werden.
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ber; ULF DIRLMEIER: Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters (Mitte 14. bis Anfang 16. Jahrhundert) (= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1), Heidelberg 1978, 163. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, 3r. Zu Arbeitszeiten auf spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Baustellen: FOUQUET: Bauen (wie Anm. 65), 49–67; speziell für Nürnberg siehe GÖMMEL: Vorindustrielle Bauwirtschaft (wie Anm. 86), der jedoch die Bautätigkeiten des Weg- und Stegamtes, ja dieses Amt insgesamt, nicht erwähnt. Eine solche Vielzahl an Straßenarbeitern deutet sich in der Überblicksdarstellung von ALEXANDER KNOLL: Geschichte der Straße und ihrer Arbeiter, Bd. 1: Geschichte der deutschen Steinsetzerbewegung, [Berlin 1925] nicht an. Namentlich erwähnt werden im Manual: Pangratz Weber, Jobst Fleischhacker, Jörg Förster, Jacob Schwartz, Kuntz Gender, Michael Frisch, Meister Paulus und Meister Lienhart. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 5v. MATTHIAS LEXER, FRIEDRICH VON WEECH (Hg.): Endres Tuchers Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (1464–1475) (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, LXIV), Stuttgart 1862, 59. Tucher schaffte den Brückenmeister zwar ab, fügte aber hinzu, dass der Baumeister
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Nicht namentlich genannt ist der Schreiber des Manuals bzw. der in den Einträgen als Ich bezeichnete Pfleger über Weg und Steg. Wie bereits angedeutet, lässt sich der Name weder aus dem Manual noch aus dem zum Manual gehörigen Recht Buoch131, dem großen Rechnungsbuch über die Jahresausgaben, gewinnen. Da auch die Ämterbesetzungslisten der Reichsstadt Nürnberg keine Auskunft über das Weg- und Stegamt gaben, musste ein eingehenderer Blick in die weitläufige institutionelle Überlieferung Aufschluss geben, deren Struktur – vereinfacht gesprochen – mit ungeordneten Rechnungszetteln beginnt, über das Manual verläuft und in die Rechnungslegung vor den Baumeistern und den Losungern der Stadt mündet. Als oberste Finanzaufsicht der Reichsstadt führte das Losungsamt ein Rechen büchlin weg und steg132 mit einer Laufzeit von 1492 bis 1607; in dieser seriellen Quelle, die die ‚dunkle Straßenepoche‘ Nürnbergs weiter erhellen kann, befindet sich auch der Vermerk, dass Anno dmn XV XLVIII am mitwoch nach Egidi, den 5 Septembris, […] Bartl Grolock als pfleger uber Steg und weg, umb alles sein Einnemen und ausgeben derohalben das vergangen Jar beschehen von auf ultimo May des 1547 Jars Rechnung gethan [habe], darin zaiget er an das er mer Eingenomen hab dan ausgeben133.
Bartl Grolock kann demnach eindeutig als das Ich in den Manualeinträgen identifiziert werden. In dem Rechnungsbüchlein wird er seit 1544/45 als Pfleger über Weg und Steg geführt, bevor er im September 1561 zum „Schaffer oder Anschicker auf gemeiner Stadt Peunt“134 aufgestiegen ist, wie eine Urkunde aus dem Bestand der Akten zum Losungsamt zeigt. Bartl Grolock war also dafür verant-
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einen Zimmergesellen beordern kann, nach den Brücken zu sehen, falls dies notwendig sein würde. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 323. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Losungsamt Akten, Nr. S.I.L. 114, Nr. 2, unfol. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Losungsamt Akten, Nr. S.I.L. 114, Nr. 2, unfol. Dass am letzten Tag des Monats Mai 1547 ein neues Rechnungsjahr für den Pfleger begonnen hat, wird im Manual nicht schriftlich vermerkt – lediglich ein an den linken Rand der ersten Eintragungszeile im Juni gesetzter Digitus könnte als Hinweiszeichen interpretiert werden, siehe StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 4v. Weitere Recherchen müssen zeigen, welche Funktionen Bartl Grolock innerhalb des Nürnberger Bauwesens eingenommen hat. In der „Geschichte und Beschreibung der Universität Altdorf“ verweist Will darauf, Grolock sei 1572 Baumeister der Universität Altdorf gewesen, und untermauert dies mit der von Georg Volckamer verfassten „Oratiuncula adhortatoria ad ornatissimum Dominum Bart. Grolock“, in welcher Volckamer Grolock als „architectum excellentissimum“ bezeichnete. ANDREAS GEORG WILL: Geschichte und Beschreibung der Nürnbergischen Universität Altdorf (= Commission der akademischen Monathkusslerischen Buchhandlung), Altdorf 1795, 155, ebenso der Verweis in: ARMIN DIETZEL, GÜNTHER BAUER (Hg.): Die deutschen Handschriften der Universitätsbibliothek Erlangen, neu beschrieben von Otto Pültz, Wiesbaden 1973, 108; Fleischmann führt Grolock als Anschicker, der „1571/72 de[n] markante[n] Neubau des Fleischhauses an der Pegnitz […] ausführte“; PETER FLEISCHMANN: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsgeschlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, Bd. 2 (= Nürnberger Forschungen. Einzelarbeiten zur Nürnberger Geschichte 31/2), Ratsherren und Ratsgeschlechter, Nürnberg 2008, 988.
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wortlich, die Instandhaltungsmaßahmen in Auftrag zu geben, zu koordinieren und die Arbeiter, Materialien und Werkstoffe zu bezahlen. Betrachtet man die oben als arbeitsreichste Zeit bezeichneten Monate August und September mit jeweils deutlich mehr als 20 Einträgen, so ist festzustellen, dass sich ein Großteil der Ausgaben auf die Bezahlung von Arbeitslöhnen der Handlanger, Arbeiter und Handwerker sowie auf die Beschaffung von Baumaterialien bezieht. Die wöchentlichen Lohnausgaben beliefen sich jeweils auf 7 Heller (6. August; 13. August; 20. August)135. Für welche Arbeit Pangratz Weber und andere Handlanger und Arbeiter bezahlt wurden, geht nur rudimentär aus den Textnarrationen hervor. Vielfach steht lediglich dabei, dass sie das Geld erhalten haben, da sie an Straßen und Brücken gearbeitt, gefegtt, tzu gesehen, gepessertt und gemachtt haben. Konkreter werden die Ausführungen bei Einträgen, die sich zum einen mit den Tätigkeiten höherer Handwerker, wie Zimmermänner, Steinmetze oder den Werkleuten, beschäftigen und die zum anderen die Ausgaben für Arbeiter und Materialien kombinieren, wie am 20. August, als Bartl Grolock 5 Heller aufwenden musste, um eine[n] Steinmetz so 3 tag tzum alt[en]p[er]g gearbeitt un[d] ein st[ein]flugl gemachtt, tzu 50 dn136 zu bezahlen. Oder eine[m] forster vo[n] etlich[en] holtz tzu tzichmern137, der dafür 10 Pfennig bekam, wohingegen Meister Steffan auff etlich tag so er die pruck besichtigtt un[d] tzeug un[d] anders tzu d[er] hantt schaff[en]138 mehr als einen Gulden erhielt. Dass der „Kauf und Transport“139 von Materialien wie Holz und Steinen in der Verantwortung der Bauleitung lag, wurde von Peter Fleischmann herausgestellt und zeigt sich auch in den hier analysierten Abrechnungen. Besonders Holz und Steine in eine Untersuchung über Straßen miteinzubeziehen, ist deshalb erforderlich, da sie zeitübliche Materialien zur Ausbesserung von „schadhaften Stellen“ waren140. Das „Auffüllen von Löchern“141 geschah wohl mehr mit Steinen als mit Holz, da letzteres, ebenso wie die im Manual nicht greifbaren Reisigbündel, rasch verfaulte und „jedem Druck von oben“ leicht nachgab142. Mit Holz hingegen, dessen Gewinnung leichter war als von Steinen, konnten größere morastige, sumpfige oder anderweitig schwer benutzbare Straßenabschnitte mit geringem tragfähigem Grund befestigt werden143. Die Grundform jeglicher Straßen war jedoch die Erdbahn. „Der Körper aus Erde, die Decke aus Erde. Sie wurde nicht weit hergeholt, sie wurde von den anstoßenden Wiesen oder
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StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 5v. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 5v. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 5v. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 6r. FLEISCHMANN: Bauhandwerk in Nürnberg, (wie Anm. 86), 155. SPIESS: Entwicklung des Strassenwesens (wie Anm. 46), 48. BIRK: Strasse (wie Anm. 35), 215. SPIESS: Entwicklung des Strassenwesens (wie Anm. 46), 48. BIRK: Strasse (wie Anm. 35), 216.
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Feldern genommen“144, wie jene 80 Fuhren kott belegen, mit denen eine nicht näher spezifizierbare Straße aufgeschüttet wurde145. Mit dem Manual ist aber noch eine weitere Instandhaltungsmaßnahme greifbar, die in bisherigen technikgeschichtlichen Betrachtungen zum vormodernen Straßenbau meist übergangen oder – nach den Befunden des Manuals – fehlgedeutet wird. Es handelt sich um am Straßenrand befindliche Gräben, die besichtigt und geräumptt, also gesäubert wurden, damit das Wasser abfließen konnte. Zum 22. Januar heißt es etwa für die Bucher Straße: Mer hatt er ain tag [...] das wasser abgestossen und die graben geräumptt. An anderen Stellen wird ein Graben einfach nur gefegt oder aber wasser abgelassen146. Mit dem Räumen und Fegen der Seitengräben und dem Ablassen des Wassers wird also deutlich, dass es sich hier nicht oder zumindest nicht ausschließlich um den als „gewöhnlich“ bezeichneten Zweck solcher Gräben handelt, „das Abweichen des Fuhrwerks von den Straßen auf die Felder [zu] verhindern“147. Der Unterhalt der Straßen und Brücken unterlag zudem, wie bereits angedeutet, zeitlichen Schwankungen. Der quantitative Anstieg an benötigter Arbeitskraft, Materialien und Werkzeugen, der sich in den zahlreichen Einträgen widerspiegelt, kann damit zusammenhängen, dass die Witterung im August und September vermehrt Arbeiten an den Brücken um Nürnberg zuließ148. Abzuleiten ist dies speziell in den hier betrachteten Aufzeichnungen nicht nur aus der quantitativen Zunahme aller Bereiche, sondern auch durch einen Eintrag, der auf größere Instandhaltungsmaßnahmen deutet. Am 4. August erfolgte nämlich eine Besichtigung der pruck tzu Reichelsdorf durch di werckleuth, wobei sie in Reichelsdorf daselbst R 1 h 8 dn 6 verzehrten149. Als oberste Handwerker leiteten die zwei an der Peunt angestellten und vereidigten Werkmeister, einer von den Maurern, der andere von den Zimmermännern, die Baustellen der Stadt und waren – laut Endres Tucher – dafür zuständig, dass die ihnen zugeordneten Handwerker zu rechter zeit zu und von der arbeit geen, auch getrewlichen und redlichen arbeitten150. Zudem waren sie mit der Aufsicht über das Werkzeug und die gebrauchten Materialien betraut. Die Werkmeister zu beaufsichtigen oblag wiederum dem Schaffer oder Anschicker, der als „techni144 145 146 147
Ebenda, 215. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 3v. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 2r, 3r und 4r. BIRK: Strasse (wie Anm. 35), 212 f. Straßengräben finden keine Erwähnung etwa bei SPIESS: Entwicklung des Strassenwesens (wie Anm. 46), 46–52, GASNER: Strassenwesen (wie Anm. 67), 38 f. oder FRITZ VOIGT: Verkehr, Bd. II/1: Die Entwicklung des Verkehrssystems, Berlin 1965, 401. 148 Ähnliches Ergebnis auch bei RAINER S. ELKAR, GERHARD FOUQUET: Und sie bauten einen Turm… . Bemerkungen zur materiellen Kultur des Alltags in einer kleineren deutschen Stadt des Spätmittelalters. In: Handwerk und Sachkultur im Spätmittelalter. Internationaler Kongress Krems an der Donau, 7. bis 10. Oktober 1986 (= Veröffentlichungen des Instituts für Mittelalterliche Realienkunde Österreichs 11; Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte 513), Wien 1988, 169–201, hier 183. 149 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 5v. 150 LEXER, WEECH (Hg.): Endres Tuchers Baumeisterbuch (wie Anm. 130), 33 f.
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scher Leiter“151 die praktische Kontrolle über die städtischen Bautätigkeiten übernahm – wie Bartl Grolock vermutlich beim Bau des Fleischhauses 1571/72152. Die Werkmeister und der Pfleger besichtigten also am 4. August 1547 die Brücke in Reichelsdorf, woraufhin zahlreiche Einträge folgen, die sich mit dem Zurechtmachen von Hölzern beschäftigen153. Zimmermännern wurde für ihre Arbeiten zumeist 45 dn pro Arbeitstag bezahlt154, Bier und fruh suppen in der peunt155 für Arbeiter ausgegeben, sowie Fuhrmännern das furgelt156 entrichtet. Die nach Arbeiterstatus unterschiedlich ausgezahlten Tagessätze schwankten hierbei im August/September zwischen 36 Pfennigen für Handlanger und 50 dn pro Arbeitstag für Steinmetze und Zimmermänner157. Die Arbeit an der Brücke wurde allerdings nicht nur von an der Peunt angestellten Handwerkern und Arbeitern erledigt – zum Transport der aus den Steinbrüchen zu beschaffenden Steine oder des benötigten Holzes wurde auf die Fuhrfron der Bauern zurückgegriffen. So vermerkt das Manual für den 3. und 6. September – zwei nach der Vielzahl der Einträge zu schließen sehr arbeitsreiche und kostenintensive Tage bzw. Wochen (13 Einträge)158 –: Item ich schickt eine[n] statknecht In etlich dorff[er] der pruck Reichelsdorff geleg[en] liss de[n] pauren tzu fron gen Reichelsdorff piett[en]159. Ob für die Ausbesserungsarbeiten Pläne angefertigt wurden, wie dies beim Bau der Brücke in Wendelstein 1548 der Fall war160, oder ein Uberschlag der Uncosten eingeholt wurde, wie dies 1545 bei Ausbesserungsmaßnahmen zur strass auff puch161 geschehen ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden, da sich hierzu keine Überlieferung erhalten hat. 151 FLEISCHMANN: Bauhandwerk in Nürnberg (wie Anm. 86), 99. 152 LEXER, WEECH (Hg.): Endres Tuchers Baumeisterbuch (wie Anm. 130), 32–34. Zur Peunt: CARL L. SACHS: Das Nürnberger Bauamt am Ausgang des Mittelalters (= Neujahrsblätter 10, Gesellschaft für fränkische Geschichte), München/Leipzig 1915. 153 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 5v: (20. August) gab eine[m] forster vo[n] etlich holtz tzu tzichmern; fol. 6v: (28. August) Item ich gab Kuntz Gender das er 4 tag holtz gehawen tzu R – h 4 dn. 154 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 6r. 155 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 7v: mer auf der peuntt ausgeb[en] so auff drey mal fur fruh suppen un[d] ess[en], drinck[en], so das ein mal dy hern darpei gewest aus geben R – h 4 dn 6. 156 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 7v: Item ich gab Im 19 Sept[ember] auf furgelt R – h 6 dn 15; gab auf 19 Sept[ember] Michel Fisch[er] R 3 h – auff furlon; ga Im auf 23 Sept[ember] auf furlon R – 2 h […]. 157 Zu den Arbeitslöhnen im spätmittelalterlichen Nürnberg und der Schwierigkeit, sie sozialökonomisch einzuordnen: VALENTIN GROEBNER: Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 108), Göttingen 1993, 118–129; FOUQUET: Bauen (wie Anm. 65), 49 f. 158 Das Manual führt hier Kostenausgaben aus für insgesamt fünf Zimmermänner, zwei Handlanger, einen Förster und zwei Posten zum Kauf von Steinen, StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 6v–7r. 159 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 327, fol. 6v. 160 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 87. 161 Siehe hierzu: StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 348.
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Ebenfalls lässt das Manual keine Rückschlüsse auf die Menge, Größe und Beschaffenheit der gekauften Hölzer oder Steine und deren Verwendung zu. Diese Fragen können teilweise mit dem Recht Buoch beantwortet werden, da sich darin, wie bereits angesprochen, nicht nur die Aufzeichnungen des Manuals in ergänzter Form wiederfinden, sondern alle vier großen Rechnungen, die für den Baumeister und die Losunger angefertigt werden mussten, darin verzeichnet sind und die Gesamtausgaben des Weg- und Stegamtes aufführen. So erfährt man beispielsweise, dass die Werkleute nicht erst am 4. August die Brücke in Reichelsdorf zum ersten Mal inspiziert hatten. Vielmehr wurde sie am 4. Juli abermal durch die werckleutt besichttig und was von nott furgeschlagen162. Zudem gab Bartl Grolock an diesem Tag 26 Gulden, 4 Heller und 6 Pfennige dafür aus, ain schutth auff 200 schuch lang und oben 24 schuhbreith, an tzu schütten, das das wasser vor der prucken an, mitt obfuessen [abfließen; M.W.] und ain andern lauf genemen machtt, gab in darvon 24 R und so sy es machtt und nach meiner gefallen wie sich gepurtt machen, gib Ich Inen noch 2 R163,
womit am 26 Juli begonnen wurde. III. Schluss Die Analyse und Auswertung des Manuals über Weg und Steg aus der Überlieferung der Nürnberger Bauamtsakten lässt die bisherige Einschätzung, wonach man sich vor 1650 in einer ‚dunklen Straßenepoche‘ befunden habe, in einem anderen Lichte erscheinen. Zwar beinhalten Reiseberichte vielfach das Schlagwort der schlechten Straße und mangelhaften Reisebedingungen auf verschiedensten Wegen. Fokussiert man allerdings die amtliche Überlieferung, so zeigt sich, dass es durchaus kontinuierliche Maßnahmen gab, um Straßen und Brücken für den Nahwie auch für den Fernverkehr in einen befahr- und begehbaren Zustand zu versetzen. Das Auswerten der amtlichen Quellen erfordert eine weitere Perspektivierung: Fokussieren Analysen von Reiseberichten in erster Linie den Straßennutzer und dessen Erfahrungen bzw. Wahrnehmungen auf und neben den Straßen, Brücken und Wegen, so zentriert das amtliche Quellenmaterial, welches vorwiegend aus der Rechnungslegung und Buchführung der zuständigen städtischen Ämter besteht, vor allem die Information über tatsächliche Maßnahmen zur Instandhaltung, deren Querverbindungen in der institutionellen Überlieferung über die meist kontextarmen Narrationen der Buchungstexte erst erschlossen werden müssen. Bei den mittels des Manuals betrachteten Instandhaltungsmaßnahmen der Straßen und Brücken des Nürnberger Umlands war eine Vielzahl an Handwerkern und Arbeitern beteiligt, die unter Anleitung von Werkmeistern und des als Bartl Grolock identifizierten Pflegers von Fuhrmännern transportiertes und dann mit 162 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 323, unfol., Eintrag zum 4. Juli. 163 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Bauamtsakten 323, unfol.
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Werkzeugen bearbeitetes Holz, Steine und Erde verwendeten, um das ganze Jahr über, vor allem aber im August und September – aufgrund der guten Witterungsbedingungen? – die Brücken und Straßen auszubessern. Daneben gab es Fronarbeiter, die unentgeltlich in den arbeitsintensiven Monaten ihren Beitrag zum Erhalt der Infrastruktur leisteten. Der überwiegende Teil der geleisteten Arbeiten sowie die für diese Arbeiten benötigten Baumaterialien und Werkzeuge kosteten jedoch Geld. Die Finanzierung erfolgte, auch dies konnte mit dem Manual aufgezeigt werden, durch Zinseinnahmen aus Gattergeldern, Grund- und Hausbesitz sowie mittels vom Losungsamt vorgenommener Geldzahlungen. Ob damit mittelbar das Weg- und Stegamt eine Finanzierung über die reichsstädtischen Zolleinnahmen und damit mittelbar über die Straßennutzer erfuhr, bedarf noch der Klärung. Von einer „unsachgemäßen Ausführung der Erhaltungsarbeiten“ kann also nicht gesprochen werden. Lediglich aus der Perspektive der Kunststraßen des 18. Jahrhunderts handelte es sich um ein „stetes Flicken, aber kein Heilen“164. Löst man sich hingegen von einem solchen wertenden Bezugspunkt, dann wird deutlich, dass viele Menschen das ganze Jahr über die Straßen und Brücken nutzbar hielten. Das Manual lässt sich damit als eine jener „Signaturen von Lebensformen“ begreifen, wie sie Gerhard Fouquet beschrieben hat: „Die Zahlen und ihre Reihen stehen zunächst nicht für Buchführung und Administration, sondern sie sind gleichsam vielfältiger und sinnfälliger Ausdruck von Menschen des 13. bis 16. Jahrhunderts, von sozialen Gruppen und ihren kulturellen Wahrnehmungen der Wirklichkeit“165.
164 BIRK: Strasse (wie Anm. 35), 231. 165 GERHARD FOUQUET: Zur öffentlichen Finanzverwaltung im späten Mittelalter. In: CHRISTIAN HESSE, KLAUS OSCHEMA (Hg.): Aufbruch im Mittelalter. Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren von Rainer C. Schwinges, Ostfildern 2010, 69–86, hier 71.
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SPRECHEN ÜBER STRASSEN Zur Funktion von Straßen in Aubry de la Motrayes (1674–1743) Travels through Europe, Asia and into part of Africa Dorothée Goetze ABSTRACT Straßen und Wege sind zentrale Elemente des Reisens. Dieser Beitrag untersucht am Beispiel von Aubry de la Motrayes (1674–1743) Reisebericht Travels through Europe, Asia and into Part of Africa, den dieser über seine 30-jährige Reisetätigkeit im Mittelmeerraum, im Osmanischen Reich, Mitteleuropa, Skandinavien, England und dem Baltikum verfasst hat, die Wahrnehmung des Autors bezüglich der Verkehrswege in den durchreisten Räumen und vergleicht deren sprachliche Repräsentation. Dabei lassen sich drei Reiseräume unterscheiden, in denen sich das Sprechen des Autors über Straßen verändert: bekannte, unbekannte und Zwischenräume. Je nach Raum ändert sich nicht nur die Beschreibung der Verkehrswege, sondern auch deren Funktion für die Reise. Streets and roads are of central importance for travelling. Aubry de la Motraye (1674–1743) travelled the Mediterranean region, the Ottoman Empire, Central Europe, Scandinavia, England and the Baltics for about 30 years and described his journeys in a travel account (Travels through Europe, Asia and into Part of Africa). This essay studies de la Motraye’s perception of traffic routes and their linguistic representation. Three different types of travel regions can be distinguished: well-known, unknown and those that show aspects of both known and unknown. Both the description of the traffic routes and its function for travelling changes according to the individual regions.
Für Reisende waren Straßen als Teil der Reiseinfrastruktur und als Mittel zur Rekonstruktion der bereisten Räume von besonderer Bedeutung: „Wege und Straßen erschließen und strukturieren den Lebensraum der Menschen und vermitteln eine Vorstellung von seinen Dimensionen“1. Dies spiegelt sich in Joachim Heinrich Campes Bericht zu seiner Frankreichreise (1789) wider, wenn er erklärt, [d]ie meisten Reisenden beurtheilen die Länder, wodurch sie kommen nach Wegen, Postanstalten und Wirtshäusern, die sie vorfinden2. Antoni Mączak schränkt modifizierend ein, dass „[w]e can learn very little about the state of the roads from travellers‘ accounts“3. Demnach sind Straßen strukturierende Elemente, die es
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KLAUS BEYRER: Art. Weg. In: FRIEDRICH JÄGER (Hg): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 14, Stuttgart 2011, Sp. 736. JOACHIM HEINRICH CAMPE: Reise von Braunschweig nach Paris im Heumonat 1789 (= Kleine Kinderbibliothek, Vierzehnter Theil), Braunschweig 1790, 170. ANTONI MĄCZAK: Travel in Early Modern Europe. Translated by Ursula Phillips, Cambridge 1995, 4.
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Reisenden ermöglichen, qualitative Aussagen über die Räume, die sie bereisen, zu tätigen, ohne die Qualität der Straßen selbst (ausführlich) zu beschreiben. Im Folgenden sollen diese Aussagen auf ein Fallbeispiel angewendet werden, um zu untersuchen, inwieweit und in welcher Form Straßen tatsächlich zur Rekonstruktion von Reiseräumen dienen können und wie sie dabei sprachlich repräsentiert werden. Das meint sowohl die Terminologie und die damit einhergehende Unterscheidung verschiedener Straßentypen als auch die Merkmale, mit denen Straßen beschrieben werden. Der Reisebericht Aubry de la Motrayes (1674–1743) ist aufgrund der geographischen Weite der dort beschriebenen Reisen durch Europa, das Osmanische Reich und Nordafrika eine interessante Quelle für dieses Vorhaben, die aus sich heraus einen Vergleich der Wahrnehmung von Straßen und Wegen in unterschiedlichen Reiseräumen ermöglicht4. Nachdem zunächst der Autor und anschließend sein Werk vorgestellt werden, werden in einem dritten Schritt die Räume, die de la Motraye bereist hat, hinsichtlich der Beschreibung ihrer Verkehrswege untersucht. I. Der Unbekannte: Biographische Informationen zu Aubry de la Motraye5 „Motraye (Anselmus de la) ein gelehrter Frantzose im 18. Jahrhundert, hatte sich in der Welt weit umgesehen, war ein grosser Liebhaber, iedes Landes Zustand und Seltenheiten zu erforschen, zu dem Ende er dann auch 1718 gantz Lappland durchreiset, und hernach eine Beschreibung davon herausgegeben. Zuvor aber hat man schon von ihm Itinera per Europam, Asiam & Africam, London 1713 in 2 Folianten. Von welchem Wercke iedoch in den Actis Erudit. aufs Jahr 1725 nicht viel Rühmens gemacht wird“6. Der Eintrag in Zedlers Universallexikon ist von erstaunlicher Aktualität: Heute ist kaum mehr über de la Motraye bekannt als damals7. Hinweise finden sich vor allem in älteren Nachschlagewerken, neben Zedler auch in der ‚Biographie universelle ancienne et moderne‘ sowie einem weiteren im 19. Jahrhundert erschienenen Nachschlagewerk8, die im Folgenden als Grundlage des kurzen biographischen Abrisses zu de la Motraye dienen. 4 5 6
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Seigneur DE LA MOTRAYE Travels through Europe, Asia and into Part of Africa [...], Vol. 1–2, London 1723, Vol. 3, London 1732. Alternative Schreibweise: Mottraye. JOHANN HEINRICH ZEDLER: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 1731–1754, Band 21: Mi–Mt, Sp. 1946. – Zedlers Angabe zum Publikationsdatum von 1713 ist falsch, das Werk erschien 1723. – Mit Actis Erudit meint Zedler eine Rezension in: Acta eruditorum, Nr. VI: Calendis Junii, Leipzig 1725, 241–251. Die ausführlichste moderne biographische Skizze findet sich bei Seigneur A. DE LA MOTRAYES Resor 1711–1725. Urval och översättning av HUGO HULTENBERG. Anmärkningar av S. Bring och K. B. Wiklund. Stockholm 1918, V–XV. LOUIS-GABRIEL MICHAUD: Biographie universelle ancienne et moderne: histoire par ordre alphabétique de la vie publique et privée de tous les hommes [...], Vol. 29: Montabert–
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Anselme Aubry de la Motraye wurde 1674 in Frankreich geboren. Hultenberg nimmt unter Verweis auf Haag an, dass die Familie in Folge der Aufhebung des Edikts von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau (1685) nach England geflohen ist – ohne dass der zitierte Artikel Hinweise gibt, die diesen Schluss zulassen9. Über seine familiäre Herkunft, seine Jugend und Ausbildung ist nichts bekannt. Zwischen 1696 und 1727 bereiste de la Motraye fast drei Jahrzehnte lang den Mittelmeerraum, das Osmanische Reich, Skandinavien, das Baltikum sowie England und Irland. Es bleibt unklar, wie er seine intensive und langjährige Reisetätigkeit finanziert hat. Laut Haag erhielt er nach der Rückkehr von seinen ersten beiden Reisen nach England eine Pension des Königs10. Während seiner Reisen scheint er – dies geht aus dem Reisebericht selbst hervor – zwar durchaus Kontakt zu einzelnen Persönlichkeiten der lokalen gesellschaftlichen Führungsschicht sowie (besonders in Konstantinopel) zu unteren diplomatischen Kreisen gehabt zu haben. Allerdings ist er wohl nicht in stabile Patronage-Klientel-Verhältnisse eingebunden gewesen11. Die Erwähnung zahlreicher (renommierter) Personen wie etwa Graf Thököly und die Titulierung des englischen Gesandten William Paget als „my Lord Paget“ dürften vor allem den Zweck verfolgt haben, seine Nähe zu den jeweiligen Eliten nahezulegen12.
Myson, Paris 1843–1865, 434 f.; EUGÈNE HAAG, EMILE HAAG: La France protestante, ou Vies des protestants français qui se sont fait un nom dans lʼhistoire depuis les premiers temps de la réformation jusquʼà la reconnaissance du principe de la liberté des cultes par lʼAssemblée nationale; ouvrage précédé dʼune Notice historique sur le protestantisme en France; suivi des Pièces justificatives et rédigé sur des documents en grande partie inédits. Vol. VI, Paris 1846–1859, Reprint: Genf 1966, 255. 9 HULTENBERG: Resor (wie Anm. 7), V; HAAG, HAAG, France protestante (wie Anm. 8), 255. 10 Ebenda. Allerdings werden dort keine Belege für diese Aussage angeführt. 11 Dies belegt besonders deutlich eine Episode in de la Motrayes Reisebericht: Im Dezember 1701 reiste er nach Nikomedia, wo er mit Graf Thököly zusammentraf. Emmerich (Imre) Thököly von Késmark (1657–1705) war nach Aufständen gegen die Habsburger Herrschaft in Ungarn durch den Frieden von Karlowitz (1699) nach Nikomedia verbannt worden (siehe KÁLMÁN BENDA: Thököly von Késmárk, Imre Graf. In: MATHIAS BERNATH, FRANZ NEHRING [Hg.]: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. 4, München 1981, 309 f. [Onlineausgabe], http://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1775 [22. 03 2017]. Nach de la Motrayes Schilderung bat Thököly ihn, to reconcile […] Lord Paget to him und diesen zu ersuchen, vor seiner Abreise bei der Hohen Pforte für die Aufhebung der Verbannung Thökölys zu intervenieren und auf der Heimreise nach England am Wiener Hof unterstützend für diesen zu wirken. In seiner Antwort korrigierte de la Motraye die Einschätzung Thökölys bezüglich seiner Einflussmöglichkeiten bei Lord Paget dahingehend, dass er, Motraye, had not Credit enough with [the] Lord for such an Undertaking. Er versprach allerdings, mit dem englischen Kaplan und der Haushälterin des Lords zu sprechen, die stärkeren Einfluss bei ihm hatten (siehe MOTRAYE: Travels, Bd. 1 [wie Anm. 4], 230). Dieses Beispiel zeigt, dass Motraye keinen direkten Zugang zur (diplomatischen) Elite gehabt hat. 12 Gemeint ist William Paget, 6. Baron Paget (1637–1713), der ab 1693 englischer Botschafter in Konstantinopel war, siehe LUDWIG BITTNER, LOTHAR GROSS: Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), Bd. 1: 1648–1715, Oldenburg/Berlin 1936, 204. Zu Thököly siehe die vorausgehende Anm. 11.
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Über seine familiäre Situation gibt sein Testament vom 19. Juni 1742 Auskunft, das seine Frau, Mary Leffend de la Motraye, seine Tochter, Jane Gilchrist, und deren Töchter erwähnt. Eine posthume Notiz am Rand des Testaments aus dem Jahr 1749 vermerkt die Enkelinnen Elizabeth Gilchrist und Ann Gilchrist Spinstors als einzige lebende Erben de la Motrayes, der im März 1743 in Paris gestorben ist13. II. Travels through Europe, Asia and into part of Africa: de la Motrayes Oeuvre und dessen Rezeption Zedlers Einschätzung, dass de la Motraye ein gelehrter Frantzose sei, dürfte auf dessen dreibändigen Reisebericht Travels through Europe, Asia and into part of Africa zurückgehen14. Darin bietet der Autor laut Titelblatt a great Variety of Geographical, Topographical and Political Observations, sodass diese Reiseschilderung eine curious Collection of Things, particularly Rare, both in Nature and Antiquity; such as Remains of antient Cities and Colonies, Inscriptions, Idols, Medals, Minerals &c. darstellen sollte15. In seiner Überzeugung, dass men are by Nature desirous of Knowledge, and every one’s Curiosity has its peculiar Objects, zeigt der Autor eine aufgeklärte Grundhaltung. Entsprechend verbindet er mit seinem Bericht das Ziel, die Neugier und das Interesse seiner Subskribenten zu erfüllen und dabei – ganz im Geiste der Aufklärung – [to] leave every Reader at Liberty to make its own Reflections16. Motivation für sein Reisen war nothing but Curiosity17. Die ersten beiden Bände des Reiseberichts behandeln de la Motrayes Gebildetenreise18 im Mittelmeerraum und im Osmanischen Reich sowie durch Mitteleuropa und nach Skandinavien zwischen 1696 und 1720. Sie erschienen 1723, drei Jahre nach seiner Rückkehr nach England, in englischer Sprache. 1727 kam eine französische Übersetzung auf den Markt, die inhaltlich zum Teil von der englischen Erstausgabe abweicht. 1732 ergänzte er seine Schilderungen um einen dritten Band über seine Reise ins Baltikum bis nach Petersburg, nach Litauen und Irland (1726–1727), der zunächst auf Französisch erschien, jedoch noch im glei13 Das falsche Sterbejahr findet sich bei HULTENBERG: Resor (wie Anm. 7), V. Testament: National Archives, PROB 11/724/284: Will of Anselme Aubry de La Motraye of Saint Gils in the Fields, Middlesex. 14 ZEDLER: Universal-Lexicon, Bd. 21 (wie Anm. 6), Sp. 1946. 15 MOTRAYE: Travels, Bd.1 (wie Anm. 4), Titelblatt. 16 Ebenda, Introduction, 1. 17 Ebenda, Bd. 3, 196. 18 Da de la Motrayes weitergehende Motive für die Reise unbekannt sind, ist es schwierig, die Art seiner Reisen zu bestimmen. Mit Winfried Siebers lassen sie sich wohl am ehesten als Gebildetenreise charakterisieren, WINFRIED SIEBERS: Bildung auf Reisen. Bemerkungen zur Peregrinatio academica, Gelehrten- und Gebildetenreise. In: MICHAEL MAURER (Hg.): Neue Impulse der Reiseforschung (= Aufklärung und Europa. Beiträge zum 18. Jahrhundert), Berlin 1999, 184–188.
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chen Jahr ins Englische übersetzt wurde. 1783 wurde unter dem Titel Reisen des Herrn de la Mottraye in die Morgenländer eine deutsche Auszugsübersetzung publiziert19. Ergänzt wird de la Motrayes Oeuvre 1732 durch einen kritischen Kommentar zu Voltaires Geschichte Karls XII. von Schweden. Die „Remarques historiques et critiques sur ‚L’Histoire de Charles XII. Roy de Suède‘ par M. de Voltaire“20 wurden ab 1734 dessen Geschichte Karls XII. beigefügt21. Damit erschöpft sich de la Motrayes nachweisbares publizistisches Werk. Bis heute wird sein Reisebericht zwar rezipiert, jedoch ohne eine umfassende Analyse desselben. Nur wenige Studien stellen diesen ins Zentrum ihrer Betrachtung22. Auffällig ist, dass das Werk de la Motrayes in der Reiseliteraturforschung kaum Beachtung findet23. Besonders intensiv ist die neuere Rezeption im Kontext biographischer Darstellungen zu Karl XII. von Schweden, in dessen Umfeld im Osmanischen Reich sich de la Motraye ab 1711 aufhielt und dem er 1715 nach Schweden folgte24. Mit Teilen seines Reiseberichts lieferte de la Motraye eine der ersten zeitgenössischen Lebensbeschreibungen des schwedischen Königs. Dabei kam er zu einer anderen Einschätzung bezüglich des Charakters Karls XII. als
19 Voyages du Sr. A. DE LA MOTRAYE en Europe, Asie et Afrique [… ], Vol. 1–2, La Haye 1727, Vol. 3, La Haye 1732; Reisen des Herrn DE LA MOTTRAYE in die Morgenländer. Aus der Französischen Urschrift in einen Auszug gebracht, Berlin/Stettin 1783. Zur englischen Ausgabe siehe Anm. 4. 20 AUBRY DE LA MOTRAYE: Remarques historiques et critiques sur „L’histoire de Charles XII. Roy de Suède“ par M. de Voltaire, London 1732. 21 VOLTAIRE: L’histoire de Charles XII. Roi de Suède. Avec des Remarques Historiques & Critiques, pour servir de Supplement à cet Ouvrage, par M. de La Motraye, Vol. 1–2, London 1734. 22 MARGE RENNIT: Prantsuse rännumees Aubry de La Motraye ja tema 18. sajandi I poole Balti provintside kirjeldused. In: Õpetatud Eesti Seltsi Aastaraamat/Yearbook of the Learned Estonian Society 2010 (2011), 85–110. – Für die Übersetzung des Artikels aus dem Estnischen danke ich Herrn Markus Velke. Der Artikel von JOHANNES GÜNTER STIPA: Die Lapplandreise des Seigneur de la Motraye. In: Finnisch-ugrische Forschungen (1975), konnte leider nicht eingesehen werden. 23 So fehlt de la Motraye etwa in der Anthologie von VINCENT FOURNIER: Le voyage en Scandinavie. Anthologie de voyageurs 1627–1914, Paris 2001, aber auch bei KATALIN SCHOBER: Räume des antiken Griechenland in britischen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts. Wahrnehmung und Imagination (= ELCH 64), Trier 2015, und MICHÈLE LONGINO (Hg.): French Travel Writing in the Ottoman Empire. Marseilles to Constantinople, 1650–1700 (= Routledge Research in Travel Writing 11), New York 2015. Explizit auf de la Motraye bezieht sich hingegen ERIC SCHNAKENBOURG: Travelling to Scandinavia: The French Visitorsʼ Experience of the North, 17th–18th Century. In: SILJE GAUPSETH, MARIE-THERES FEDERHOFER, PER PIPPIN ASPAAS (Hg.): Travels in the North. A Multidisciplinary Approach to the Long History of Northern Travel Writing (= TROLL 13), Hannover 2013, 75–96. 24 In Auswahl: BENGT LILJEGREN: Karl XII. En biografi, Lund 2010; JOACHIM KRÜGER: Karl XII. – Der „heroische“ Militärmonarch Schwedens. In: MARTIN WREDE (Hg.): Die Inszenierung der heroischen Monarchie. Frühneuzeitliches Königtum zwischen ritterlichem Erbe und militärischer Herausforderung, München 2014, 358–381; ÅSA KARLSSON, KLAS KRONBERG, PER SANDIN: Karl XII och svenskarna i Osmaniska riket, Stockholm 2015.
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Voltaire, dessen kritisches Bild er mit seinen „Remarques“ (1732) zu korrigieren suchte. III. Zur Funktion von Straßen in de la Motrayes Reisebericht Straßen nehmen als „public spaces“25 eine Vielzahl von Funktionen ein: etwa als Korridor für das Bewegen von Gütern, Tieren und Menschen, bei der Strukturierung von Städten und als öffentlicher wie privater Treffpunkt für Menschen26. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie de la Motraye über Straßen spricht, welche Funktion(en) sie in seinem Reisebericht erfüllen und inwiefern sich die Darstellung von Straßen in den beschriebenen Räumen unterscheidet. Die Untersuchung folgt der Chronologie der Reisen de la Motrayes, von zeitgenössisch intensiv bereisten und demnach bekannten Räumen wie dem Mittelmeerraum und der Levante über weniger stark besuchte, aber nicht völlig unbekannte Zwischenräumen wie Schweden hin zu in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum beschriebenen und damit unbekannten Räumen wie dem Baltikum27. III.1. Bekannte Räume: Der Mittelmeerraum und das Osmanische Reich 1696 begann de la Motraye seine insgesamt drei Jahrzehnte währenden Reisen. Die Pracht des Alten Roms war ihm aus Schriften antiker Autoren bekannt. Aus italienischen und französischen Reiseberichten hatte er den Eindruck gewonnen, dass der gegenwärtige Zustand nicht weniger eindrucksvoll war; also brach er dorthin auf, um sich ein Bild von der Stadt zu machen. Von Rom aus setzte er seine Reise nach eigener Auskunft spontan durch Norditalien bis Ancona fort, um von dort aus nach Frankreich zurückzukehren – entweder in some Vessel from Alexandria, or […] to come back by the same Way into Italy28. Die Rückreise führte ihn über Jaffa, Alexandria, Tripolis, Lissabon und Nantes nach Paris29. 1698 reiste er nach England, wo er sich im Herbst des Jahres zu einer Reise nach Konstantinopel entschloss, die er Ende November antrat30. Insgesamt hielt sich de la Motraye 14 Jahre im Osmanischen Reich auf, ehe er Karl XII. von Schweden nach Schweden folgte. Bereits die erste Beschreibung
25 RIITTA LAITINEN, THOMAS V. COHEN (Hg.): Cultural History of Early Modern Streets – An Introduction. In: DIES.: Cultural History of Early Modern European Streets, Leiden 2009, 1– 10, hier 2. 26 Ebenda, 2 f., 5 f. 27 Siehe RENNIT: Motraye (wie Anm. 22), 85. 28 Siehe MOTRAYE: Travels, Bd. 1 (wie Anm. 4), 69–71 (Zitat: 70–71). Kursivierung in der Vorlage; diese werden künftig stillschweigend übernommen. 29 Ebenda, 70–110. 30 Siehe ebenda, 150–162.
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des Reisens kann als typisch für die Schilderung der weiteren Route und für das Reisen de la Motrayes im Mittelmeerraum angesehen werden31: However, I did not leave Paris till the beginning of June [1696] […]. I then set out in the (a) Diligence for Lyons, whither I arriv’d on the ninth. I spent but three Days in viewing the principal Curiosities of this fine City; amongst which, I observ’d nothing but what I before read of in the Accounts of other Travellers. Hearing that there were two Vessels at Marseilles design’d for the Ecclesiastical Territories, I made all the haste thither that was possible, and agreed for my Passage. […] I found nothing new to add to the Remarks which others have already made of Marseilles, or the other Places thro’ which I pass’d32.
De la Motraye äußert sich in der Regel nicht zur Art und Qualität seiner Reisewege. Er nennt die Stationen seiner Reise. Angaben zum Aufenthalt vor Ort, zur Reisedauer oder Distanz zwischen zwei Orten, aus denen die Reisegeschwindigkeit abzuleiten wäre, werden nicht konsequent mitgeteilt33. Auch Verkehrsmittel werden in der Regel nicht angegeben34. Da dieser Raum bereits gut aus der Reiseliteratur bekannt war, konnte de la Motraye unter Verweis auf diese auf eine ausführliche Beschreibung verzichten35. Indem er die gleichen Ziele wählt wie andere Reisende in den Mittelmeerraum und ihre Angaben ohne ergänzende Beschreibungen bestätigt, verortet sich der Autor selbst in der Gemeinschaft dieser Reisenden und deren Erfahrungshorizont. Gleichzeitig aber steckt er den Adressatenkreis seines Reiseberichts ab: Durch das Nichtbeschreiben und das Verweisen auf andere muss das Publikum, um seine Andeutungen verstehen zu können, entweder über den notwendigen Bildungshintergrund aus antiker und Reiseliteratur verfügen oder die örtlichen Gegebenheiten aus eigener Anschauung kennen. Die zentrale Ausnahme seiner Schilderung bildet Rom. Neben dem Papsttum und katholischer Religionspraxis beschreibt er Kirchen, Paläste, Antiquitäten und Besonderheiten der Stadt und umliegender Orte36. Das war vor allem dem Umstand geschuldet, dass Rom Ziel und Anlass seiner Reise war. Sein Augenzeugenbericht und die damit einhergehende Überprüfung der rezipierten Reiseberichte waren notwendig, um das Anliegen seines Reisens zu erfüllen. 31 Von Rom aus setzte de la Motraye seine Reise über Florenz, Pisa, Lucca, Genua, Mailand, Monza, Brescia, Vicenza und Padua nach Venedig fort, ebenda, 51–69. 32 Ebenda, 2. Auf Höhe (a) Diligence findet sich eine Erläuterung am linken Seitenrand: (a) A Flying-Coach. 33 Etwa: But at Florence, where we arriv’d on the 12th, a stay of four Days and a half; [w]here [Genua; D.G.] we arriv’d on the 19th of January […], the four Days we stayed there, having spent five or six Days [in Milan; D.G.]; where [Vicenza; D.G.] I arrived next Morning early, MOTRAYE: Bd. 1 (wie Anm. 4), 59, 61–63. Eine Ausnahme bildet die Strecke von Mailand nach Venedig: Montza a little Town about 10 Miles from Milan; [f]rom thence [Vicenza; D.G.] I proceeded to Padoa, 17 and 18 Miles distant, ebenda, 63–64. 34 Ausnahmen bilden außergewöhnliche Verkehrsmittel wie der von Kamelen gezogene Wagen nach Jaffa oder Reisen mit dem Schlitten durchs winterliche Schweden, siehe ebenda, 87; Bd. 2, 218, 227 f., 230. 35 Für Schiffspassagen trifft diese Feststellung nicht zu. Hier werden sowohl Reisedauer als auch Himmelsrichtung genannt, wahrscheinlich weil Seereisen nicht so vorherseh- und identisch wiederholbar sind wie Reisen zu Land. 36 Siehe MOTRAYE: Travels, Bd. 1 (wie Anm. 4), 32–50.
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Aussagen zu Straßen in diesen bekannten Reiseräumen bleiben von allgemein-abstrakter Qualität. Formulierungen wie meeting nothing on the Road that was worthy Observation, took my Road thro’ the District of Brescia, the cities and remarkable places upon the Road sowie it was not much out of my Way oder on the Road und [t]he Villages throʼ which I pass’d verweisen auf die Existenz von Straßen und Wegen, geben aber keine Auskunft über deren Qualität, Nutzung oder ihre konkrete Bedeutung für den Raum37. Dies wird durch die schablonenhafte Beschreibung der Orte anhand ihrer Sehenswürdigkeiten ebenso unterstrichen wie durch die Verwendung einer geringen Zahl eher unspezifischer Bewegungsverben wie set out, arrived oder went. Es wirkt fast so, als reise der Autor ohne Straßen. Nur in wenigen Ausnahmefällen äußert er sich explizit dazu. Dabei bezieht er sich ausschließlich auf Straßen in Städten, nie auf Landstraßen. So vergleicht de la Motraye Pisa, Lucca und Genua (zum Teil indirekt) anhand ihrer Straßen. In den geraden und gleichmäßigen Straßen Pisas wucherte zum Teil Gras. Die Straßen Luccas und Genuas waren enger, weniger gerade und gleichmäßig. Genuas Straßen waren überwiegend nicht für Kutschen zugänglich, die in Livorno imcomparably larger and handsomer als in Genua38. Dieses Vorgehen ändert sich nicht, als er die Küste Nordafrikas, Spanien und Portugal bereist oder während seines langen Aufenthaltes im Osmanischen Reich. Nur zu den Straßen Tripolis und Lissabons äußert er sich, denn in Tripolis waren sie narrow and ill pav’d39. Diese Formulierung fällt aus dem Rahmen. Mit Verweis auf die Enge der Straßen entspricht sie seinem Muster für die Beschreibung innerstädtischer Straßen im Mittelmeerraum. Der Verweis auf das Straßenpflaster findet sich ansonsten, wie noch zu zeigen ist, nur für die Stadtstraßen in Polen-Litauen und dem Baltikum. Auch in Lissabon beklagt er die Enge der Straßen40. Positiv erwähnt er lediglich Saragossa, wo die streets are broad and strait, und London mit seinen generell breiten Straßen41. Kriterien für die Bewertung von Straßen waren demnach ihre gerade Anlage und ihre Breite als Indiz für ihre Befahrbarkeit. Dass de la Motraye nur im Ausnahmefall innerstädtische Straßen unter Nennung dieser Aspekte erwähnt, ansonsten jedoch kaum Aussagen zu Straßen und Wegen trifft, lässt den Schluss zu, dass diese ihm in bekannten Räumen nicht als Element zur Strukturierung und Konstruktion von Räumen dienen. Vielmehr wird diese Funktion von weiteren überlagert.
37 38 39 40 41
Die Zitate: Ebenda, 61, 63, 72, 103, 163, 303. Ebenda, 57–59, 317 (Zitat). Ebenda, 94. Ebenda, 100. Ebenda, 139, 316 (Zitat).
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III.2 Straßen als Sehenswürdigkeit und Kulisse für das Reisen Ein zentrales Element und Motiv der Reisen de la Motrayes ist das (Auf-)Suchen antiker Stätten. Darunter fallen auch Straßen, etwa die Via Emilia, deren noble Remains der Autor auf dem Weg von Rom nach Viterbo bewundern konnte. The Stones are reddish, thick square, uniform, and very closely join’d, with a sort of Borders call’d in Latin Marginationes viarum, consisting of other Stones larger, more regular, and raised higher for those who travel on Foot. These Remains were above 12 Paces broad, and seem’d very authentick Testimonies of the ancient Roman Grandeur42.
Gleiches gilt für die Überreste der Via Appia, die as well as of the Emilian and Flamian Ways are an authentick Testimony of the Magnificence of the ancient Romans. Deshalb erwähnt de la Motraye die antiken Straßen explizit, obwohl die Strecke zwischen Rom und Neapel aus anderen Reiseberichten bereits bekannt sei, and there are so many Relations of all that is remarkable by the Way, that we saw nothing but what we had read an Account of in their Books43. Auch weniger bekannte Beispiele werden als antike Sehenswürdigkeiten gewürdigt. Da in Nicomedia antiker Marmor genutzt wurde to pave the Streets44, erhielten diese etwas Sehens- und vor allem Erwähnenswertes für den Autor. Ebenso bemerkenswert ist für ihn die Abwesenheit antiker Sehenswürdigkeiten45. Dafür, dass die Funktion als Sehenswürdigkeit diejenige als Verkehrsweg und somit die strukturierende Eigenschaft überlagert, spricht auch das Beschreibungsvokabular. Die Straßen werden mit einem Eigennamen genannt (Via Appia und Via Emilia) im Unterschied zu den ansonsten allgemeinen Bezeichnungen street oder road. Zudem werden sie als remains und testimonies bezeichnet und verknüpft mit Merkmalen wie Grandeur oder Magnificence. Die Detailliertheit der Schilderungen weicht von den üblichen (Nicht-)Darstellungen von Straßen ab und entspricht in de la Motrayes Reisebericht der anderer Sehenswürdigkeiten wie Kirchen und Palästen. In Rom, Konstantinopel und London wird die Straße vor allem zur Kulisse. Sie ist Bühne für kleinere und größere Ereignisse. De la Motraye verwendet den Ausdruck Theater selbst in Bezug auf den Karneval in Rom. The Street del Corso, or of the Course, is the Prinicipal Theatre where these burlesque Scenes are acted […]46. Weitere Beispiele sind die Lobpreisung des Papstes in Rom47 oder das Fastenbrechen im Ramadan in Konstantinopel48. Als Konstantinopel von einer Pestwelle heimgesucht wurde, beobachtete der Autor, wie two Persons dropt down of
42 43 44 45 46
Ebenda, 51. Ebenda, 323. Ebenda, 213. Ebenda, Bd. 2, 5. Ebenda, Bd. 1, 50. Hier wird die Straße ebenfalls namentlich benannt und somit identifizierbar. 47 Ebenda, 7. 48 Ebenda, 204.
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the same Distemper in the middle of the Street49. Straßen dienen auch als Schauplatz für die Verteilung von Almosen50. In London wurden die chief streets zum Schauplatz von Prozessionen51. III.3. Zwischenraum: Schweden De la Motraye hielt sich insgesamt zehn Jahre in Schweden auf und bereiste das Land52, ehe er nach England zurückkehrte53. Schweden kann als eine Art Zwischenbereich zwischen den bekannten und unbekannten Reiseräumen gelten. Das spiegelt sich in de la Motrayes Darstellung wider. Einerseits verfügte Schweden zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits über eine Tradition als Reiseziel für Europäer – das zeigen die Arbeiten von Sascha Taetz, Vicent Fournier, Stefan Donecker und Eric Schnakenbourg54. Das Land darf somit als bekannter Reiseraum gelten. Entsprechend verzichtet der Autor wie auch im Mittelmeerraum und im Osmanischen Reich auf die Beschreibung von Verkehrswegen. Er zählt die einzelnen Stationen seiner Route auf55, nur im Ausnahmefall nennt er Straßen. So nahm er für die Rückkehr von Sahlsberg nach Stockholm, wo er König Karl XII. wiederzusehen hoffte, the Road to Upsal56. Da der Monarch bei de la Motrayes Ankunft die Hauptstadt bereits wieder verlassen hatte, folgte der Autor diesem auf the Road to Orebro, das 18 bis 19 Leagues, also 18 bis 19 Wegstunden, von Stockholm entfernt lag57. Damit führt der Autor ein neues Element in seine Beschreibung ein. Er nennt nicht nur seine Etappen, sondern auch die dazwischenliegenden Entfernungen58. Diese Angaben dienen in erster Linie dazu, dem Leser einen Eindruck von seiner Eile zu vermitteln, da er relativ große Distanzen in kurzer Zeit zurücklegt. Aber gleichzeitig setzt er die Orte zueinander ins Verhältnis. Anders als in bekannten Reiseräumen muss er, um den intendierten Effekt zu erreichen, die Abstände zwischen seinen Stationen ex49 50 51 52 53 54
55 56 57 58
Ebenda, 209. Ebenda, 249. Ebenda, Bd. 2, 148 f. Siehe ebenda, 192–380. Siehe ebenda, 380–390. SASCHA TAETZ: Richtung Mitternacht. Wahrnehmung und Darstellung Skandinaviens in Reiseberichten städtischer Bürger des 16. und 17. Jahrhunderts (= Kieler Werkstücke Reihe E: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 3), Frankfurt a.M. 2004; FOURNIER: Le voyage en Scandinavie (wie Anm. 23); SCHNAKENBOURG: Travelling to Scandinavia (wie Anm. 23); STEFAN DONECKER: Stranger in a Strange Land. The Scandinavian Journey of Augustin of Mörsberg und Beffort, 1592. In: GAUPSETH, FEDERHOFER, ASPAAS (Hg.): Travels in the North (wie Anm. 23), 49–74. Siehe MOTRAYE: Travels, Bd. 2 (wie Anm. 4), 218–236. Ebenda, 226. Ein weiteres Beispiel ist der Hinweis auf the ordinary Road von Göteborg aus, siehe ebenda, 246. Ebenda, 226. Siehe ebenda, 226–236. Auch bei der weiteren Beschreibung seiner Reisen in Schweden gibt der Autor zumeist Distanzen zwischen seinen Etappen an.
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plizit machen, da er nicht von einem allgemeinen und detaillierten Wissen seiner Leser über die Geographie Schwedens ausgehen kann. Insofern ist Schweden ein unbekannter Reiseraum. Deswegen gibt er eine Einschätzung zur Qualität der Straßen dort: The Highways […] are generally better than one wou’d think they cou’d possibly be […] and yet I can’t say, that I ever found better in any of the finest Countries59. Damit spielt de la Motraye auf zeitgenössische Topoi von Europas wilder nördlicher Peripherie an. Die Erklärung für den unerwartet guten Zustand der Straßen liefert er auch, denn [t]here Roads are kept in Repair by the Peasants, who receive their Orders from the Governours of the respective Provinces, […] and that all over Sweden60. Allerdings wirkten sich die Kriegshandlungen an der norwegischen Grenze auch auf die Infrastruktur und somit das Reisen aus. De la Motraye found the Roads to Norway very good, but intolerably tainted with dead Horses, especially near Swinsund61. Außer den Kadavern gab es weitere Einschränkungen: An einigen Stellen the Highway had been cut62. III.4. Unbekannte Räume: Das Baltikum In der zweiten Hälfte des Jahres 1726 reiste de la Motraye in einen der weniger bekannten Reiseräume: Litauen und das Baltikum. Damit ist de la Motrayes Beschreibung eine der ersten Reiseschilderungen für diese Region63. III.4.1. Von Hamburg nach St. Petersburg64 Seine Route führte ihn von Hamburg durch Mecklenburg, den brandenburgischen Teil Pommerns, Preußen, Polen, Kurland, Livland und Estland bis nach St. Petersburg65. Ab Hamburg nahm de la Motraye die Postkutsche, die unter anderem über Boizenburg, Wittstock, Neustrelitz, Prenzlau und Löcknitz bis Stettin fuhr66.
59 60 61 62 63 64
Ebenda, 246 f. Ebenda, 247. Ebenda. Ebenda, 249. Wie Anm. 27. Im Folgenden werden Ortsnamen in der deutschen Variante angegeben, die zumeist identisch mit der von Motraye genannten ist. Orte, für die keine deutsche Variante existiert, werden in der heutigen Landessprache oder, falls dies nicht zu ermitteln ist, im Quellenzitat wiedergegeben. Hilfestellung bei der Identifikation der Ortsnamen bietet: Baltische Postorte 1632– 1917/1918 in den Sprachen Russisch, Deutsch, Estnisch, Lettisch, Litauisch und Polnisch mit Eröffnungsdaten und Klassifikationen der Postanstalten, Angaben der Leitämter, Bahnanschlüssen etc. sowie Zugehörigkeit zu den späteren Staaten Estland, Lettland, Litauen, Russland und Polen. Nach amtlichen kartographischen Unterlagen, bearbeitet und zusammengestellt von HARRY V. HOFMANN, 2. erweiterte und verbesserte Aufl. Hamburg 1996. 65 Siehe MOTRAYE: Travels, Bd. 3 (wie Anm. 4), 55–180. 66 Ebenda, 55–59.
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Die Strecke von Stettin nach Königsberg legte er per Schiff zurück67. Seinen ursprünglichen Plan, mit dem wöchentlich verkehrenden Passagierschiff nach Danzig weiterzufahren, gab er aufgrund der anhaltend schlechten Windverhältnisse auf dem Frischen Haff auf und verließ das Fahrzeug, um seine Reise auf dem Landweg über Pillau fortzusetzen68. Nach Abstechern nach Thorn und Marienburg setzte er seine Reise nach Petersburg fort69. Über Elbing, Frauenberg und Heiligenbeil reiste er nach Brandenburg, wo er took the Opportunity of the Waggon of Riga70. Bei Thialafil71 setzte er 12 Meilen über das Kurische Haff nach Memel über und setzte die Fahrt über Palanga, Libau und Mitau nach Riga fort72, wo er am 14. August 1726 aufbrach und über Dorpat und Pleskau nach Nowgorod reiste. Dort bestieg er das Schiff über den Ladogasee nach St. Petersburg73. Die Beschreibung des durchreisten Raums unterscheidet sich deutlich von der des Mittelmeerraums 30 Jahre zuvor. Im Gegensatz zum Mittelmeerraum spricht der Autor explizit über den Vorgang des Reisens. Er konstruiert seinen Reiseraum nicht mehr allein durch die Aufzählung der Etappenziele und Sehenswürdigkeiten, sondern ab Hamburg gibt de la Motraye durchreiste Orte, Verkehrsmittel und Poststationen sowie Distanzen an. Dadurch werden die einzelnen Orte zueinander ins Verhältnis gesetzt und der Raum wird durch Wege und Straßen strukturiert und im Wortsinn erfahrbar. Den gleichen Effekt haben Angaben zu Verkehrsmitteln. De la Motraye muss diese benennen, da die Leser im Gegensatz zum Mittelmeerraum, dem Osmanischen Reich oder Schweden nur über geringe Kenntnis der Reisebedingungen im Nordosten des Reiches, in Polen und dem Baltikum zu verfügen scheinen. Gleichzeitig vermittelt er über diese Informationen eine Idee von der (Infra-)Struktur des beschriebenen Raumes. Er kann von einem allgemeinen Wissen seiner Leser über die Voraussetzungen für geregelten Kutschenverkehr ausgehen und davon, dass sie durch seine Angaben ein Bild davon entwickeln können, von welcher Art und Qualität Straßen und Wege dort sein mussten. Bemerkenswert ist, dass der Autor bezüglich des Reisens keine Vergleiche zu früheren Erfahrungen zieht74. Diese strebt er lediglich bei Beschreibungen der Menschen und ihrer sozialen Praktiken an, etwa der Kleidung der Frauen oder bezüglich der Leibeigenschaft, die er im Baltikum beobachtet. Der bereiste Raum (ent)steht also für sich, ohne sich in bekannte Schemata einzupassen. Die Etappen auf dem Landweg bewältigte de la Motraye bis Riga auf offiziellen Postrouten und mit Postkutschen. Die genutzten Postverbindungen waren Hamburg–Stettin, Pillau–Königsberg sowie Brandenburg–Riga. Diese lagen ab 67 68 69 70 71 72 73 74
Ebenda, 65–68. Ebenda, 74. Siehe ebenda, 77–85. Ebenda 85–88, Zitat: 88. Ebenda 88. Der Ort konnte nicht ermittelt werden. Ebenda, 88–95. Ebenda, 124–142. Eine Ausnahme ist die Beschreibung der Lage Danzigs im Weichseldelta, die er mit holländischen Städten vergleicht, siehe ebenda, 74 f.
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Eschburg und bis zur Grenze nach Kurland bei Palanga auf preußischem Hoheitsgebiet. Die Postroute Libau–Mitau führte durch Livland, also russisches Gebiet. Der Autor gibt Hinweise auf die Taktung der Post, die zwischen Pillau und Königsberg zweimal wöchentlich verkehrte75, und auf das Verkehrsnetz, die Hamburg-Stettin-Post etwa kreuzte in Neustrelitz die Postroute nach Berlin, wo wiederum Anschluss an die Postverbindung nach Magdeburg bestand76. Zur Ausstattung und ihrem Unterhalt bemerkte er, dass etwa auf der vom preußischen König betriebenen Poststrecke Hamburg–Stettin dieser furnishes the Postillions with the first Horses, and gives new Cloaths, a new Horse and Waggon to each of them every two Years, and they pay to him half of what they receive from all passengers; they are obliged to feed their Horses themselves, and, if any die or are spoiled before the two Years are expired, to buy others at their own Expence; the Waggon is changed as well as Horses at every Stage77.
Über die Angaben der Strecken und Posten hinaus gibt der Autor Informationen zum Zustand der genutzten Wege und Straßen in den Städten. Dabei gilt ebenso wie für seine früheren Reisen, dass Straßen kaum dazu dienten, den urbanen Raum zu beschreiben oder gar dessen Struktur zu rekonstruieren. Die Darstellung bleibt wieder schablonenhaft. Allerdings setzt er die beschriebenen Stadtstraßen zumindest (indirekt) ins Verhältnis zueinander. Die Straßen in Thorn waren better paved and broader than those in Dantzick78. In Elbing waren sie dirty and ill paved und in Memel ill paved79. Die Straßen in Mitau waren sogar worse paved80. Mit solchen Angaben vergleicht er explizit die Straßen von Pleskau. Diese baltische Straße ist zudem die am ausführlichsten beschriebene Stadtstraße im gesamten Reisebericht. Dabei bezeichnet er Pleskau als eine der dreckigsten Städte, die er jemals gesehen habe. The Streets of it are something like those of Mittaw, for Nastiness, and Part of the Pavement: The lowest of them are paved with Beams and Planks of Wood, such as their Houses are built with, only with this Difference, that they are little better put together in their Buildings than in the Pavement of their Streets: I say the lowest Streets, but might have said the lowest Towns81.
Diese Straßen dienen wiederum als Schablone für Nowgorod, wo [t]he Streets are no better paved, nor, otherwise, than those of the two lower Quarters of Pleskow82. In diesem unbekannten Reiseraum wird der Zustand des Pflasters als Maßstab für die Qualität der Straßen einer Stadt herangezogen, während im Mittelmeerraum ihre gerade Anlage und Breite als Indiz für Befahrbarkeit und somit als Qua75 76 77 78 79 80 81 82
Siehe ebenda, 74. Siehe ebenda, 58, 223 f. Ebenda, 57. Ebenda, 79. Ebenda, 85, 88. Ebenda, 94. Ebenda, 133. Ebenda, 135.
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litätskriterium gedient hat. Außerdem nimmt die Qualität der städtischen Straßen in Preußen und im Baltikum ab, je weiter der Autor nach Osten reist. Sind sie in Elbing und Memel schlecht gepflastert, sind sie in Mitau schon schlechter; in Nowgorod entsprechen sie nur noch dem Niveau der schlechtesten Straßen der allgemein sehr mangelhaften Straßen von Pleskau. Mit der Darstellung der Landstraßen beginnt der Autor, als er sich in der Umgebung von Königsberg befindet83. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass die üblichen Reisewege bis Königsberg einigermaßen bekannt gewesen sind, sodass de la Motraye nur das Verkehrsmittel benennen musste, für das er sich entschieden hatte: Schiff, Pferd oder vom Pferd gezogener Wagen. Erst als er am Ufer des Frischen Haffs die Reise auf dem Landweg fortsetzt, muss er auch deren Bedingungen thematisieren und beginnt die Qualität der Landstraßen zu beschreiben. Die Straße zwischen Braunberg und Brandenburg war derart schlecht, dass der Kutscher, da er die Pferde nicht hatte wechseln können, innerhalb eines Tages nicht weiter als bis Brandenburg fahren wollte84. Aber auch die Post wurde von den schlechten Straßenverhältnissen beeinträchtigt. The Roads were so bad which was occasioned by great Rains and the Richness of the Soil thereabouts, that we did not go above four Miles the first Day85. Dies änderte sich auch in Kurland nicht: The very sandy Roads from hence [die Grenze zu Kurland, D.G.] to Libaw did not permit us to get there till half an Hour after three in the Afternoon, although we had not above five Miles and a half to go86. In Libau wählte de la Motraye die Straße nach Mitau. Ab Durben [t]he Roads now began to grow better and better, that is to say less sandy, and of consequences less fatiguing to the Horses, besonders als er sich weiter von der Küste entfernte87. Der schlimmste Weg auf der Reise war ein Damm (causey) von 800 Fuß, very ill paved, and full of great Stones, out of their Places, and such deep Holes in it, that the Waggon was every Moment in danger of being overturned88. Daher wies der Kutscher die Passagiere an, abzusteigen und den Damm zu Fuß zu überqueren. Obwohl the Roads were very bad, especially when we came within the 20 Wrests of the Lake Ilmen, bewältigte de la Motraye die etwa 200 Werst89 lange Etappe von Pleskau nach Nowgorod in weniger als drei Tagen. Die Reisegesellschaft wurde auf zwei leichte Wagen aufgeteilt, die von je drei kleinen, aber kräftigen Pferden gezogen wurden90. Das Bild, das der Autor von genutzten Straßen gibt, wird abgerundet durch Hinweise auf deren Umfeld, etwa die Landsitze und Gärten im Hamburger Um83 Eine Ausnahme bildet der Kommentar über die many pleasant Country-Seats and Gardens, die man auf der Poststrecke Hamburg–Stettin kurz hinter Hamburg sehen konnte, siehe ebenda, 57. 84 Ebenda, 87. 85 Ebenda, 88. 86 Ebenda, 91. 87 Ebenda, 92. 88 Ebenda. 89 Werst ist das in Russland übliche Wegemaß. Eine Werst hat eine Länge von 1066,78 m. 90 Motraye: Travels, Bd. 3 (wie Anm. 4), 134.
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land oder den Richtplatz nahe Riga, wo de la Motraye zwei am Vortrag geräderte Diener und einen wegen Suizids an einem Fuß aufgehängten Soldaten beobachtete91, aber auch durch Beschreibungen der Landschaft92 und ihrer Infrastruktur (Wegmarken, Brücken etc.). Bezüglich der Infrastruktur der Straßen macht de la Motraye unregelmäßig Angaben zu Brücken, Dämmen oder Fähren und den Unterkünften entlang seiner Route. Den Durchbruch der Frischen Nehrung überquerte er in a Ferry Boat. Eine 50 Fuß lange Brücke ermöglichte den Übergang über einen der Mündungsarme der Weichsel93. Auch das Kurische Haff musste de la Motraye überqueren. Bei Thialafil wurden Wagen, Pferde, Passagiere und Waren on board a Vessel gebracht94. Dass er das Schiff nicht als Fähre, sondern nur als Fahrzeug bezeichnet, kann als Indiz gesehen werden, dass es an dieser Stelle des Kurischen Haffs keine reguläre Fährverbindung gegeben hat – im Gegensatz zum Frischen Haff. Die Venta mussten die Reisenden sogar auf einem Float made of Timber and branches of Trees tied together überqueren. Über ihren Seitenarm führte eine Brücke95. Die Brücken waren von sehr unterschiedlicher Qualität: Eine, wenn auch halb verfallene Steinbrücke führte von dem schlechten Damm, über den die Straße zwischen Libau und Mitau ging. Das Marschgebiet zwischen Schrunden und Frauenburg wurde ebenfalls durch einen, allerdings pretty good Damm von etwa 300 Fuß mit zwei Brücken passierbar96. Die Düna bei Riga querten sie auf einer Pontonbrücke von mehr als 1 000 Fuß Länge, die Venta überspannte eine Steinbrücke, und um an das andere Ufer des Juglas zu gelangen, konnten sie eine 139,5 Fuß lange Holzbrücke nutzen97. Weiterhin geht de la Motraye auf Unterkünfte entlang seiner Reiseroute ein. Demnach weist die gesamte Strecke zwischen Königsberg und Riga eine gute Infrastruktur an Herbergen (inns) auf, sogar so gut, dass for how indifferent soever the Villages or Hamlets were, where the Waggon stopt, there was always a good House established on that Account. Anders verhielt es sich auf der Etappe zwischen Riga und dem Ladogasee98. In Livland, Estland und Ingermanland gab es nur wenige Dörfer entlang der Straße, sondern überwiegend ärmliche Weiler, von denen allerdings nur wenige die Conveniency of Lodging boten99. So war etwa die zweite Poststation auf seiner Rückreise so wretched a Place, that it does not deserve the Name of a Cottage100.
91 92 93 94 95 96 97 98 99 100
Ebenda, 124. Siehe etwa ebenda, 57, 87, 186 f. Siehe ebenda, 74. Ebenda, 88. Ebenda, 93. Ebenda. Ebenda, 93f., 124. Ebenda, 93. Ebenda, 125. Ebenda.
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Zur Infrastruktur von Verkehrswegen zählen auch Hilfestellungen wie Wegmarken. Als besonders bemerkenswert betrachtete der Autor die 16 Meilensteine, die sich im Abstand einer halben Meile entlang der Straße zwischen Dobele und Mitau befanden101. III.4.2. Von St. Petersburg nach Den Haag Die Beschreibung der Rückreise de la Motrayes von St. Petersburg nach Den Haag fällt deutlich kürzer aus als die der Hinreise. Sie umfasst lediglich 44 Seiten102. Der Autor formed the Plan on [his] Road which was to pass through Ingria as far as Narva and so along the Sea-Coast to Riga then to pass through Semigallia, Poland, Silesia and Brandenbourg and so to Holland and thence by Sea to England. Dabei musste de la Motraye erkennen, dass it is not so easy to go out of the Russian dominions as to come in103. Seine tatsächliche Reiseroute führte de la Motraye von St. Petersburg bis Narwa, weiter nach Reval und über Pernau nach Riga. Von Riga aus setzte er seine Reise durch Samgotien nach Kaunas fort und von dort über Grodno nach Warschau. Am 12. Dezember 1726 brach de la Motraye in Warschau auf und rid almost Day and Night till [he] came to the Hague, where [he] arrived the twentyfirst104. Ein englischer Kaufmann in St. Peterburg stellte ihm bis zur ersten Poststation seine Kutsche, zwei Pferde und einen Diener zur Verfügung. Ein Werst105 von dessen Haus entfernt verließ de la Motraye die fine paved Road, to get into a sandy one, which was tolerably good to Yamkoy, der ersten Poststation106. Diese war mit der zweiten Poststation durch die schlechteste Landstraße verbunden, die der Autor jemals genutzt hatte. Die Pferde, die mehrmals bis zu den Knien im Lehm einsanken, konnten die Reise nur aufgrund ihrer Stärke bewältigen. Sie trafen mehrere Wagen, die im Morast stecken geblieben waren, whose Horses, though lashed and whipped unmercifully, yet were as motionless as Statues107. Ab der dritten Poststation verbesserte sich die Straße und war plain and dry (except some low and marshy Passes)108. Die Straße Richtung Narwa führte durch Sumpfgebiet, das von hölzernen Brücken überspannt war. Auf der letzten Teiletappe vor Narwa, wo die Streets [are] ill paved109, wurde die Straße besser, besonders auf dem gegenüberliegenden Ufer des Luga, [h]ere the Road begins to be
101 102 103 104 105 106 107 108 109
Ebenda, 93f., 124. Ebenda, 180–224. Ebenda, 180. Ebenda, 180–224, Zitat: 220. Wie Anm. 92. MOTRAYE: Travels, Bd. 3 (wie Anm. 4), 180. Ebenda. Ebenda, 181. Ebenda, 186.
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very pleasant110. Die Flüsse Luga und Narwa überquerte de la Motraye auf Brücken von 110 und 150 Fuß111. Von Narwa aus setzte er seine Reise nach Reval fort. Nach 18 Werst [he] got into the Road to Revel, and saw a Forest on the left Hand, through which lies the Road to Riga, which was as bad […] as that of Ingria before mentioned, laut seinem Postillion. Die Straße nach Reval war very agreeable112. In Riga gab ihm Gouverneur Bohun an Order to take Horses on the Road to Mittaw113. Nach einem Zwischenhalt auf dem Landsitz Elley reiste de la Motraye weiter nach Samgotien. Dort wurde seine Reise durch die schlechten Straßenverhältnisse erheblich verlangsamt. Ab Schaulen verbesserte sich der Zustand der Straßen, [t]he Road here was somewhat better114. Sein weiterer Weg führte ihn über Kaunas und Radwilischken; von dort an verschlechterten sich die Straßen erneut: very bad Roads, through Marshes and Woods, where [the] Horses were up to their Knees in several Places in Mud and Dirt115. Der geschwungene Flusslauf ließ sie, in order to get into the shortest Road to Grodno, ihre Route über Pryvalki und Hoża wählen116. Insgesamt sind die Informationen zur Reise durch Litauen und den dortigen Verkehrswegen sehr reduziert. Das gilt sowohl für Landstraßen als auch für Städte, deren Straßen von minderer Qualität waren, etwa in Janischki: the Streets [were] dirty, and as much out of Repair, as if they had not been paved these Twenty Years117. In Schaulen waren die Straßen besser118. In Grodno allerdings [t]he Streets are so ill paved and so dirty, that in rainy Weather there is no walking through them without Boots119. Zu weiteren Städten in Polen-Litauen macht de la Motraye keine Anmerkungen. Während seiner Durchreise durch Territorien des Alten Reichs kommentiert er lediglich die Straßen von Breslau, Neukölln und Berlin, wo er in die Postkutsche nach Magdeburg wechselt120. Diese unterscheiden sich von denen der russischen Ostseeprovinzen, aber auch Litauens deutlich in ihrer Qualität. Zu Breslau bemerkt er, dass [t]he Streets are spaciously regular, and well paved121. Hier kombiniert er die unterschiedlichen Bewertungskriterien, die gerade Anlage der Straßen aus den bekannten Reiseräumen und die Qualität des Straßenpflasters, die in den unbekannten Räumen Polen-Litauens, Preußens
110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120
Ebenda, 183. Ebenda, 185. Ebenda, 186 f. Ebenda, 190. Ebenda, 195 Ebenda, 196–199, Zitat: 197. Ebenda, 202 f. Ebenda, 194 f. Ebenda. MOTRAYE: Travels, Bd. 3 (wie Anm. 4), 215. Ebenda, 224. – Dass dieser Abschnitt der Reise so knapp dargestellt wird, liegt wohl auch daran, dass der Autor die Territorien des Alten Reichs bereits im zweiten Band seines Reiseberichts thematisiert hat, siehe ebenda, Bd. 2, 121–133, 150–157. 121 Ebenda, Bd. 3, 21.
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und des Baltikums maßgebend war. Auch die Straßen Neuköllns und Berlins hebt er lobend hervor122. Fasst man die Beschreibung der Hin- und Rückreise zusammen, fällt auf, dass die Straßen im Baltikum mit wenigen Ausnahmen als von schlechter Qualität beschrieben werden. Das gilt für innerstädtische Straßen ebenso wie für Landstrassen, die nur abschnittsweise besser werden. Von besonders schlechter Qualität scheinen die Straßen in Litauen gewesen zu sein. Bei der Bewertung dürfen allerdings, wenn sie auch nicht explizit als Einflussfaktor geltend gemacht werden, die Jahreszeit und die damit verbundenen typischen Wetterbedingungen nicht außer Acht gelassen werden. De la Motraye reist im Herbst und Winter, sodass sich die Reise- und Wegbedingungen durch Regen und Schnee noch einmal verschlechtert haben dürften. Die ähnliche Formulierung der Darstellung der im Morast eingesunkenen Pferde muss zudem die Frage aufwerfen, inwieweit es sich bei dieser Beschreibung um einen Topos für die Wildnis des durchreisten Gebietes handelt, der zum einen den (Wage-)Mut des Autors unterstreicht, der sich in eine solche Region begibt; der zum anderen die Anstrengungen betont, derer es bedarf, um eine Reise durch dieses Gebiet zu bewältigen; und der (zum Dritten) anscheinend auch eine Lesererwartung von Unwegsamkeit und Zivilisationsferne dieses Raumes bestätigt. IV. Zusammenfassung Aubry de la Motraye bereiste fast 30 Jahre lang zwischen 1696 und 1726 den Mittelmeerraum, das Osmanische Reich, das Alte Reich, Holland, Nordeuropa, England und Irland sowie das Baltikum. Seine Reisen schilderte er in einem dreibändigen Reisebericht, dessen erste beide Teile 1723 in englischer Sprache publiziert und 1732 um einen dritten Band ergänzt wurden. Die ungewöhnliche geographische Weite seiner Reisetätigkeit ermöglicht nicht nur, seine Wahrnehmung der bereisten Räume zu vergleichen, sondern auch deren sprachliche Repräsentation in de la Motrayes Reiseberichten. Dies ist im vorliegenden Beitrag mit Konzentration auf Straßen und Wege geschehen. Dabei lassen sich drei Reiseräume unterscheiden (bekannte Räume wie der Mittelmeerraum, Zwischenräume wie Schweden und unbekannte Räume wie Polen-Litauen und das Baltikum), in denen sich auch die Art, wie der Autor über Straßen spricht, verändert. Im Mittelmeerraum und dem Osmanischen Reich verzichtet der Autor weitestgehend darauf, Verkehrswege zu thematisieren. Seine Route entsteht aus der Nennung der Etappen, ohne Hinweise auf Reiseinfrastruktur, -mittel und -geschwindigkeit. Diese Art der Beschreibung behält de la Motraye für Schweden bei. Das Land rückt dadurch in die Gruppe der bekannten Reiseräume. Allerdings ergänzt der Autor die Aufzählung seiner Zwischenstationen um Entfernungsangaben. Diese sind notwendig, da bei den Lesern keine in122 Ebenda, 223.
Sprechen über Straßen
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tensiven Kenntnisse über die Geographie Schwedens vorausgesetzt werden können. Insofern ist Schweden unbekannter Reiseraum. De la Motraye ergänzt also sein Beschreibungsmuster, sodass das Land zum Zwischenraum wird. Dennoch scheint es wie ein Reisen ohne Straßen. Erst im unbekannten Baltikum und in Polen-Litauen beschreibt der Autor Qualität und Infrastruktur der Straßen, nennt zusätzlich Distanzen und Verkehrsmittel, die eine Struktur des durchreisten Raums vermitteln. In bekannten Reiseräumen wird diese strukturierende Funktion durch andere überlagert, Straßen werden zu Sehenswürdigkeiten und Kulisse. Mit Blick auf die eingangs zitierten Feststellungen, dass Straßen und Wege Reisenden zur Strukturierung des bereisten Raumes dienen, allerdings aus deren Beschreibungen kaum Informationen zur Qualität von Verkehrswegen zu erhalten sind, kann mit Blick auf die Untersuchungsergebnisse festgehalten werden: Die erste Aussage trifft bei Motraye nur für unbekannte Reiseräume zu, wohingegen die zweite so nur für bekannte Reiseräume gilt, da in unbekannten Reiseräumen die Qualität der Stadt- und Landstraßen explizit beschrieben werden. Diese Befunde gilt es künftig, mit anderen Reiseberichten der Zeit zu vergleichen. Eine weitere Aufgabe der künftigen Forschung betrifft die Terminologie. So unterscheidet der Autor zwischen streets, roads und highways. Welche Konzepte sich konkret hinter diesen Begrifflichkeiten verbergen, bleibt ungewiss. Moderne Definitionen, die von der Gerichtetheit der Landstraßen im Gegensatz zu Stadtstraßen ausgehen, scheinen hier ungeeignet123.
123 JOSEPH RYNKWERT: The Streets: The Use of its History. In: STANFORD ANDERSON (Hg.): On Streets, Cambridge (Massachusetts) 1986, 15–28, hier 15 f.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 36 (2018), S. 73–94
MONUMENTE AM WEGESRAND Piranesis „Via Appia“ und die antiquarische Forschung im 17. und 18. Jahrhundert Birgitta Coers ABSTRACT Der Beitrag geht der ambivalenten Wahrnehmungsgeschichte der ‚Appia Antica‘ im 17. und 18. Jahrhundert aus Sicht der antiquarischen Forschung und im Medium Bild nach. Im Zentrum steht die Frage nach dem Monumentenstatus der antiken Trasse nach Brindisi, die seit dem Mittelalter nur noch in Teilen passierbar war. Der frühneuzeitliche antiquarische Diskurs war entlang der Schriftquellen zunächst von topographischen Rekonstruktionen bestimmt; realkundliche Aspekte spielten bis zur archäologischen Autopsie von Francesco Maria Pratillis Appia-Werk (1745) kaum eine Rolle. Piranesis graphische Visualisierungsstrategien zeugen schließlich von einer sukzessiven Neubewertung des antiken Straßenkörpers in seiner kulturellen, materiellen und technischen Beschaffenheit – dies auch vor der Folie groß angelegter Erneuerungsmaßnahmen und eines forcierten Verständnisses von Straße als Fortschrittskatalysator. The paper investigates the ambivalent history of the perception of the Via Appia Antica in the 17th and 18th centuries. The author focuses on two major aspects, the changing antiquarian interests in the ancient artery as well as its reception in the visual arts. Central to the author’s discussion is the specific status of the ancient course of the route to Brindisi as a historical monument, given the fact that the Via Appia Antica had already been disrupted since the Middle Ages. The antiquarian discourse in the early modern period was based mainly on written testimony and directed towards a topographical reconstruction. Archaeological aspects addressing the physical remains of the route were left aside until Francesco Maria Pratilli presented the first autopsy with his Della via Appia riconosciuta (1745). Piranesi’s visual strategies created in the medium of print document a new appreciation of the ancient route that centered on its cultural embeddings, its materiality, and the technical aspects of its making. They are connected to the contemporary intensified and large-scale efforts of the Via Appia Antiqua’s revitalization and a new understanding of routes as catalysts of progress and innovation.
I. Einleitung Der Kanoniker, Historiker und Antiquar Francesco Maria Pratilli (1695–1763), der posthum vor allem wegen seiner dreisten Fälschung des Chronicon Cavense (1753) zu zweifelhaften Ehren gelangte, legte 1745 sein erstes Traktat unter dem Titel Della via Appia riconosciuta e descritta da Roma a Brindisi vor. Mit dem opulenten Werk betrat der Autor nach eigenen Angaben Neuland. In den letzten Jahrhunderten hätten sich die Literaten mit nahezu jedem antiken Objekt, jeder
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noch so kleinen Sache mit profunder Gelehrsamkeit und sicherem Urteil auseinandergesetzt – Pratillis Aufzählung reicht vom antiken Ritus, profanen und sakralen Dekorationen über Militärgerät und Maschinen bis zu Gemmen, Medaillen und Kleiderbräuchen – von der Via Appia jedoch, so sein lakonischer Befund, fehle trotz zahlreicher antiker und moderner geographischer Zeugnisse und trotz der Beschreibungen durch Livius, Appianus, Cicero, Orazio oder Procopius eine umfassende Behandlung. Mehr noch, die Nachrichten zur Straße seien von unzähligen Widersprüchen durchzogen, die nun dazu dienen könnten, den Dingen auf den Grund zu gehen. Pratillis ehrgeiziger Plan lag angesichts der diagnostizierten Leerstelle auf der Hand: den Zustand und Verlauf der Appia und die Orte, die sie passierte, minutiös zu rekonstruieren, dies unter der anspruchsvollen Prämisse, das Monument in seiner Historizität, technischen Beschaffenheit und als kulturellen Raum der antiken Welt zu erfassen1. Das scharfsinnige und dabei korrekte Urteil – tatsächlich beschränkte sich die frühneuzeitliche Traktatistik zum antiken Straßenwesen auf die Zusammenstellung der entsprechenden Textstellen in den antiken Autoren –, scheint aus heutiger Sicht und mit Blick auf den historischmethodologischen Rahmen antiquarischer Forschung und der späteren archäologischen Wissenschaft verständlich2. Pratillis Werk profitierte dabei von einem allgemein erstarkenden Interesse am Straßenbau und ersten offiziellen Überlegungen zu einer Reaktivierung der alten Routen, die – nach der Instandsetzung der frühneuzeitlichen Appia durch Clemens XIII. anlässlich der Hochzeitsreise der habsburgischen Prinzessin Maria Christina nach Neapel 1767 – in der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe und der Straßenerneuerung auf dem Fundament der an-
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E massimamente perchè degli antichi riti, e de’sacrifizj, e deʼtrionfi; degli ornamenti sacri, e profani; degli strumenti militari, e meccanici; delle medaglie, delle gemme, del vestire, e di ogni altra menoma cosa de’Gentili, han parlato finora con profonda erudizione, e giudicio valentissimi Letterati,particolarmente in questi ultimi secoli. Ma della via Appia, avvegnachè fatto ne avesse memoria Strabone, e gli altri antichi, e moderni geografi, e Livio, Appiano, Cicerone, Orazio, Procopio, ed altri molti, e descritto ne avessero l'intero corso gli antichi Itinerarj; nè quelli però ce ne han lasciato piena conoscenza, nè questi van liberi da infinite, ed importanti contraddizioni, varietà, e nodi insolubili, che servono anzi a ricoprire, che a disvelare i veri luoghi donde ella passava, e le distanze dallʼuno allʼaltro, sì come sarà mia cura di far conoscere. FRANCESCO MARIA PRATILLI: Della via Appia riconosciuta e descritta da Roma a Brindisi, Neapel 1745, Prefazione. Die neun Jahre später erschienene, über 500 Seiten starke Kritik von Erasmo Gesualdo widmete sich vor allem Fragen der Ortshistorie, vgl. ERASMO GESUALDO: Osservazioni critiche di Erasmo Gesualdo sopra la Storia della via Appia di d. Francesco M. Pratilli e di altri autori nellʼopera citati, Neapel 1754. Den Widmungstext des Bandes zitiert ANDRIANA GHISLANZONI: Le strade antiche di Roma: ammirazione ed elogio di artisti e scrittori. In: FLORA PARISI (Hg.): La Strada che parte da Roma. Bibliotheca Nazionale Centrale, Rom 2008, 13–30, hier 24 f. Kursorischer Quellenüberblick für Antike und frühe Neuzeit bei GHISLANZONI: Le strade (wie Anm. 1), 13–30. Zum neuerwachten Interesse am antiken Straßenbau im 18. Jahrhundert ebenda, 20 f. Zum touristischen Interesse und der Guidenliteratur seit den 1760er Jahren vgl. DANIELE STERPOS: Comunucazioni stradali attraverso i tempi, 5. Rom-Capua/Novara 1966, 194–197.
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tiken Trasse mündete3. Der Neubau illustriert in exemplarischer Weise die Ambiguität des Umgangs mit dem antiken Monument, war doch die Wiederherstellung des antiken Verkehrsweges an die weitgehende Vernichtung seiner materiellen Überreste geknüpft. 1778 ordnete Pius die Freilegung der ursprünglichen Trassierung an, die sich schnurgerade durch die Sümpfe zog. Ein 65–90m breiter Streifen der einst undurchdringlichen Macchia wurde abgeholzt, und für einen Augenblick erstand das seit ca. 1000 Jahren von Menschen unberührte Straßenmonument mit der römischen Pflasterung und den Meilensteinen vor den Augen der Bauenden. Für die Neutrassierung wurde der antike Belag dann umgehend abgetragen, am Wegesrand gestapelt und schließlich zu Schotter für das neue Straßenfundament zerschlagen. Die erhaltenen Meilensteine sammelte man, um sie nach Abschluss der Arbeiten dekorativ über die neuen Poststationen zu verteilen4. Die folgenden Überlegungen gelten vor diesem Hintergrund zwei mehrfach miteinander verschränkten Themenkomplexen: dem Status der Via Appia im 17. und 18. Jahrhundert als archäologisches Relikt, der anhand der antiquarischen Traktatliteratur und der wenigen ingenieurstechnischen, auf Straßenbau spezialisierten Schriften skizziert werden soll und, damit zusammenhängend, ihrer Wahrnehmung in ausgewählten Bildmedien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auch Letztere zeugen, so die These, vom ambivalenten Monumentenstatus der Straße als solcher. Erst mit Giovanni Battista Piranesis römischen Antikenveduten und seinen Stichen aus Albano und Castel Gandolfo von 1764 tritt die antike Trasse gleichwertig neben die architektonischen Zeugnisse der Vergangenheit. Der erste, von Appius Claudius Caecus 312 v. Chr. begonnene und zunächst ungepflasterte Teil der in der Literatur oft als Regina Viarum bezeichneten Appia führte von der römischen Porta San Sebastiano bzw. der Porta Capena über die Castelli Romani, die pontinischen Sümpfe nach Terracina und von dort über Fondi weiter bis nach Capua. In einer zweiten Etappe entstand um 190 v. Chr. schließlich die Verlängerung über Benevent bis nach Brindisi5. Obgleich die Bedeutung des dichten Wege- und Straßennetzes für die Ausdehnung und Organisation des Imperiums stets präsent war, beschränkte sich das antiquarische Interesse im 16. und 17. Jahrhundert, neben quellenkundlichen Herleitungen der Straßen-
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Die Aktivitäten Clemensʼ XIII. bei STERPOS: Comunicazioni (wie Anm. 2), 188–194. Überblick zu den Maßnahmen unter Papst Pius VI. bei ARNOLD ESCH: Römische Straßen in ihrer Landschaft. Das Nachleben antiker Straßen um Rom, Mainz 1997, 3–25, mit weiterer Literatur zur Geschichte in antiker und nachantiker Zeit. Ausführlich, auch zu einem von Pius VI. veranlassten Inspektionsbericht zur Appia STERPOS: Comunicazioni (wie Anm. 2), 175–195, 198–204, 242–244. Ebenda, 57, 198–217. Geschichte, Archäologie und Datierungsfragen auch bei TOMMASO CONTI, UGO ZANNINI (Hg.): La via Appia attraverso i secoli, Neapel 2002. Forschungsstand bei IVANA DELLA PORTA, GIUSEPPINA PISANI SARTORIO, FRANCESCA VENTRE (Hg.): Via Appia antica, San Giovanni Lupatoto 2003; ITALO INSOLERA (Hg.): Via Appia: sulle ruine della magnificenza, Rom 1997; CARLO VILLA: Le strade consulari di Roma. Storia, itinerari, vicende secolari degli indistruttibili monumenti della potenza di Roma, Rom 1991.
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namen oder der Sammlung historischer Verweise auf Initiatoren, Erbauer und Erwähnungen in der Literatur, auf karge Listen der Routen und anliegender Orte6. In vielen Punkten, beispielsweise was den Zustand der Meilensteine, das Wegeprofil oder die Straßenbreite anbelangt, knüpft Pratilli unmittelbar an den niederländischen Philologen und Philosophen Justus Lipsius an. In seinem 1598 erschienenen Spätwerk über das römische Imperium Admiranda, siue, de magnitudine Romana libri quattor hatte dieser die Appia ins Zentrum seiner Bemerkungen über antike Straßen gestellt7. Dass die Admiranda noch 150 Jahre nach dem Erscheinen als diskursive Folie taugte, demonstriert das antiquarische Desinteresse gegenüber dem Phänomen des römischen Straßenbaus. Dies galt im engeren Sinne auch für die historischen Topographien des alten Latium. Hier tritt die Via Appia weder als zentraler räumlicher Akteur noch als Organisationsform einer Kulturlandschaft auf, sondern bestenfalls als räumliche Orientierungsgröße, anhand derer antike Monumente und historische Ereignisse geographisch verortet werden. Die Vetus Latium des Kardinals Pietro Marcellino Corradini, auf deren zweiten Band von 1705 sich Pratilli immer wieder bezieht, widmet der Appia dann bereits über 50 Seiten, vertraut aber – wie seine Vorgänger – weiterhin ausschließlich der Autorität antiker Schriftsteller, während archäologische Verfahren der Autopsie noch außerhalb des methodischen Anspruchs liegen8. So wird etwa der spätantike Historiker Procopius zum alleinigen Gewährsmann, wenn es darum geht, den Straßenkörper als technische Ingenieursleistung in seiner komplizierten Bauausführung Schicht um Schicht zu ergründen. Erkundungen im freien Feld dienen der Ermittlung von Meilen und Distanzen zwischen den Orten und Monumenten, nicht der sezierenden Inspektion des Pflasters der über weite Strecken begehbaren oder zumindest in Überresten gut erhaltenen Trasse.
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Zur Straße aus bauhistorischer Perspektive bei Vitruv, Alberti und Scamozzi siehe GHISLe strade (wie Anm. 2), 15 f. Andrea Palladio kommt im ersten Kapitel seines dritten Buches der Quattro libri dell’architettura auf die bewunderten Römerstraßen zu sprechen, bleibt aber, wie seine Nachfolger, ohne auf bautechnische Besonderheiten oder Details einzugehen, allgemein, wenn er den Aufwand, die Instandhaltung und die Pflasterung erwähnt, ANDREA PALLADIO: I quattro libri dellʼarchitettura, III.1, Venedig 1570. JUSTUS LIPSIUS: Admiranda, sive, de magnitudine Romana libri quattuor. Ad serenissimum principem Albertum Austrium, Antwerpen 1598. Pratilli dürfte die italienische, in Rom herausgebrachte Übersetzung von 1600 vorgelegen haben: Della Grandezza di Roma et del suo Imperio, zur Appia jeweils in Kap. X. Vgl. zur antiquarischen und philologischen Bedeutung der Admiranda umfassend MARTIN DISSELKAMP: Einleitung. In: DERS. (Hg.): Admiranda oder Wundergeschichten von der unaussprechlichen Macht, Herrlich- und Großmächtigkeit der Statt Rom (1619), Nachdruck der deutschen Ausgabe, Hildesheim 2007, V–LXXIX. Dem Repräsentationsmodell des imperium unterwerfe, so Disselkamp, Lipsius „selbst Funktionsbauwerke wie Aquädukte, Straßen, Kloaken und Brücken – eine der Leitideen des Gelehrten, die ihn jedoch nicht davon abhalten, Detailfragen über die Länge der Appia oder deren Breite aus den Quellen heraus minutiös darzulegen“, ebenda, XVIII–XVIV. PIETRO MARCELLINO CORRADINI: Vetus Latium profanum & sacrum. Bd. 2. De Latio gentili, Rom 1705, 164–215. LANZONI:
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Einen in dieser Hinsicht neuen Zugriff markiert die im Kontext der frühbarocken französischen antiquarischen Geschichtsschreibung entstandene Abhandlung des Reimser Gelehrten und Anwalts Nicolas Bergier, dessen Histoire des grands chemins de l’empire romain von 1622 in weiteren Auflagen bis 1736 zu einem Handbuch antiker Straßenforschung avancierte9. Seiner Zeit voraus war Bergier vor allem deshalb, weil er sich entlang der Quellen auch mit Materialfragen auseinandersetzte, Straßengründung, -belag und Steinqualitäten zum Thema machte, die dem befahrbaren Baukörper die in der Neuzeit angestrebte, aber kaum erreichte Festigkeit und robuste Dauerhaftigkeit verlieh. Die Untersuchung des Franzosen fällt in eine Zeit, in der man vor allem in Frankreich über Verkehrsachsen als Motor kultureller und wirtschaftlicher Austauschprozesse nachdachte10. Es verwundert daher nicht, dass ein weiteres handbuchartiges Kompendium zum modernen Straßenbau, in dem das antike Verkehrswesen auf verwertbare Elemente, also seine Vorbildlichkeit hin durchmustert wird, abermals in Frankreich, der auf diesem Gebiet führenden Nation, erscheint. Hubert Gautiers Traité des chemins von 1693 steht nun, jenseits sich selbst genügender antiquarischer Rekonstruktionen, für den Versuch, die technischen Voraussetzungen des antiken Straßenbaus am modernen zu messen und auf dessen Grundlage zu perfektionieren11. In den umfassenden illustrierten Kompendien zur Antike, die wie Bernard de Montfaucons zehnbändiges, zwischen 1719 und 1724 erschienenes L’Antiquité expliquée die Gesamtvorstellung antiken Lebens aus der nahezu lückenlosen, jedoch endlosen tabellarischen Reihung der mores et institutiones gewannen, beanspruchte die Erörterung einer in seiner Erstreckung kaum zu fassenden, dabei zugleich monumentalen Bauaufgabe nicht mehr Raum als die Militaria, Fuhrwerke oder Grabbauten. Bezeichnenderweise verzichtete Montfaucon, wie übrigens vor ihm auch Corradini, in dem kurzen Abschnitt über Landstraßen auf die sonst üblichen bildlichen Belege, die in Kombination mit den erläuternden Texten prägend für antiquarische Darstellungsverfahren werden sollten. Der antiken Straße, mit9
Hier zitiert nach der Ausgabe NICOLAS BERGIER: Histoire des grands chemins de l’empire romain, Brüssel 1736. Zur Wirkung Bergiers vor allem HEINZ E. HERZIG: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 2.1, hg. von HILDEGARD TEMPORINI, Berlin/New York 1974, 594–597 und HEINZ E. HERZIG: Die antiken Grundlagen des europäischen Straßensystems. In: THOMAS SZABÓ (Hg.): Die Welt der europäischen Straßen. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2009, 5–17, hier 6 f.; GHISLANZONI: Le strade (wie Anm. 2), 17. 10 HERZIG: Grundlagen (wie Anm. 9), 7; MAXWELL G. LAY: Die Geschichte der Straße. Vom Trampelpfad zur Autobahn, Frankfurt a.M./New York 1994, 91–93; STEPHANE BLOND: L’Atlas Trudaine. Pouvoirs, cartes et savoirs techniques au siècles des lumières, Paris 2014, 24–29. 11 HUBERT GAUTIER: Traité de la construction des chemins, Paris 1693. Gautiers Traktat galt bis ins 20. Jahrhundert hinein als ingenieurtechnisches Standardwerk zum Straßenbau; eine deutsche Übersetzung erschien 1759 unter dem Titel Tractat von der Auslegung und dem Bau der Wege und Stadtstrassen in Leipzig. Vgl. zur Ausstrahlung Gautiers SABINE BOLLIGER: Die Römerstrassen als Vorbild für den neuzeitlichen Chausseenbau. Mythos und Realität. In: Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 25 (2010), 59–70.
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hin der Appia, fehlte offenbar so etwas wie eine prägnante visuelle Physiognomie, die im Medium des Kupferstichs jedem anderen Objekt seinen spezifischen Charakter verlieh. Über die stenografischen, sehr kurzen und schematischen Beschreibungen zeitgenössischer Antiquare ging Montfaucon dennoch hinaus, indem er die prominentesten Konsularstraßen, neben der Flaminia insbesondere die Appia, vor dem Hintergrund ihrer erstaunlichen Härte und Stabilität nun, im Anschluss an Bergier und Gautier, auf die Besonderheiten ihrer technischen und strukturellen Beschaffenheit hin befragte. Bemerkenswert erschienen ihm der mehrschichtige Untergrund oder die unregelmäßige, mal fünf-, mal sechseckige Form der Pflastersteine12. Pratilli, der Gautiers wichtiges Werk offensichtlich nicht konsultiert hat, arbeitete sich gemäß seinem historischen und archäologisch-rekonstruierenden Ansatz vor allem an den Rom-Topographien seiner Zeit ab. Kapitelweise setzt er sich zunächst mit der Organisation des antiken Straßenbaus, Fragen der Instandhaltung und Erbauern auseinander, markiert den Streckenverlauf über die Porta Capena nach Capua und von dort nach Brindisi, wertet die historischen Quellen aus, um schließlich, bevor er auf die erhaltenen Siedlungen, Monumente, Götterbilder, Meilensteine, Sakral- und Profanbauten entlang der Route zu sprechen kommt, über Maße, Form, Material und Struktur zu handeln. Er greift hier offensichtlich den innovativen Fragenkatalog Bergiers, nun in engerer Themenstellung ausschließlich auf die Via Appia bezogen, wieder auf. Dabei gibt er an, Maße und technische Beschaffenheit selbst vor Ort überprüft zu haben13. Zunächst, bevor man begonnen habe, Straßen durchgängig zu pflastern, hätte es inner- und außerhalb Roms nur Schotterwege gegeben. Erst dann hätte man nach dem Vorbild der Karthager die Wege über einem gestampften Kiesbett mit behauenen Steinen befestigt. In der antiquarischen Auseinandersetzung um die ursprüngliche Befestigung der Appia votiert er irrtümlicherweise dafür, dass bereits Appius Claudius eine Pflasterung veranlasst habe14.
12 BERNARD DE MONTFAUCON: L’Antiquité expliquée et représentée en figures 4.2: Les chemins publics. Les aqueducs et la navigation, Paris 1722, 177–180. Den Kapiteln über Straßen, Brücken und Schiffsverkehr ging im Teilband 4.1. die Behandlung militärischer Fragen, Kriegskleidung, Waffen und militärische Wagen voraus. Zum Antiquarismus im Rom des Sei- und Settecento INGO HERKLOTZ: La Roma degli Antiquari. Cultura e eruduzione tra Cinquecento e Settecento, Rom 2012, 11–33, zu Montfaucon insbesondere 28–33. Montfaucons Darstellungsmodus auch bei CAECILIE WEISSERT: Reproduktionsstichwerke. Vermittlung alter und neuer Kunst im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1999, 23–30. 13 Zur Breite: posciachè la sua larghezza, come da me in più luoghi, dove ella è quasi intera, è stato osservato non fu da per tutto uguale... essendovene una parte di circa venti passi intera, e nella sua prima struttura, colle margini, colonette di riposo, ed una tronca milliariara, lo che in altre parti affato non si vede. per quanto abbiam potuto osservare. PRATILLI: Via Appia (wie Anm. 1), 33. 14 Ebenda, 33–35.
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Die Hypothesen über die Herkunft des Gesteins, das er in der Nähe des Vesuvs lokalisiert und das dem Belag seine charakteristische schwärzliche Färbung verlieh, finden für Teile der Straße noch heute Bestätigung15.
Abb. 1. Francesco Maria Pratilli, Della via Appia riconosciuta e descritta da Roma a Brindisi, Neapel 1745, Titelkupfer
Pratillis Monographie markiert vor allem deshalb einen wichtigen Einschnitt, weil die Appia bei ihm erstmals selbst zu einem Vektor für zivilisatorische Entwicklung wird, zu einem Weg, der, wie es in metaphorischer Überhöhung im Lemma der Titelallegorie Sub Terris Qaerebat Iter heißt (Abb.1), förmlich unter die Erde, in die Vergangenheit zurückführt – dies auch als strukturelle Klammer des Buches, das der Route südwärts folgt. In der Aussage ist zugleich, wie in der Motivik des Kupfers, das wissenschaftliche Leitmotiv des Bandes aufgehoben. Das Figurenpersonal, die Epigraphik und Philologie, für die der Gelehrte einsteht, mit dem Straßenbau befasste Jünglinge, daneben die personifizierte Geographie und Vermessung bezeichnen nicht allein die Instrumente des Straßenbaus, sondern auch jene, die der Antiquar und Historiker benötigt, um die Appia, wie Pratilli, als komplexe kulturelle Institution zu ergründen. 15 Ebenda, 35. Das Material der Straßenpflasterung wechselt auf den einzelnen Abschnitten; in der Nähe Roms benutzte man ein leuzitisches Vulkangestein vom Capo di Bove, dem erloschenen Vulkanmassiv der Albanerberge. Südlich von Terracina war die Trasse zunächst mit anstehendem Kalkstein gepflastert, den Caracalla 216 durch das auch von Pratilli erwähnte Vesuvgestein ersetzen ließ; ANDREA ADESSI, ANGELA BALDANZA: La Via Appia „Antica“. Approccio geo-litologico per la valorizzazione del tracciato tra Fondi ed Itri (LT). In: Atti del Convegno Dialogo intorno al Paesaggio (Perugia, 19–22 febbraio 2013), Culture Territori Linguaggi 4 (2014), II, 169–183.
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Abb. 2. Francesco Maria Pratilli, Della via Appia riconosciuta e descritta da Roma a Brindisi, Neapel 1745, Titelvignette Lib. I, Cap. 1.
Bezeichnenderweise kommt Pratillis Werk, abgesehen von drei Karten und einer einzigen Titelvignette, ohne Illustrationen aus – die ‚Schönheit‘ des langen Wegs erschließt sich beschreibend, nicht visuell. Entsprechend wartet die querformatige Vignette über dem ersten Kapitel mit einer altertümlichen Klappperspektive auf (Abb. 2). Ein kurzer bildparallel geführter Abschnitt der Appia wird zum gleichförmigen Ornament, markant begrenzt durch die wiederholt beschriebenen Einfassungsmauern, dabei rhythmisiert durch Pflasterung, Reiter, Wagen, Spaziergänger, Sitz- und Meilensteine am Rand sowie die rahmenden Hügelketten. Pratilli hatte damit offenbar ein universelles Bildmuster für antiken Straßenraum entworfen, das auch in anderen Zusammenhängen verwendet werden konnte16. Die philologisch geprägte Behandlung der konstruktiven Eigenheiten römischen Straßenbaus und die funktionale Bestimmung der Bauaufgabe definieren bei allen genannten Autoren den epistemischen Rahmen. Gerade jene enorme Konstruktionsleistung gerät bei Lipsius, Bergier, Corradini, Montfaucon und Pratilli erwartungsgemäß zum Spezifikum der Regina Viarum. Von Lipsius stammte dabei die treffende an Prokopios anschließende Bemerkung, die Appia erschiene wie ein einziger Körper, also wie aus einem Guss17. Die universelle magnificencia, die römischen Unternehmungen dieser Tragweite noch bei Lipsius innewohnte, wird langsam ersetzt durch ein zunächst noch vages, dann aber bei Pratilli konkreteres Konzept von Schönheit, das dem Königsweg wegen seiner Länge und noblen Struktur zu eigen sei18.
16 Giuseppe Antonio Guattani greift das Darstellungsschema in seinen monatlich veröffentlichten Monumenti antichi inediti ovvero notizie nelle antichità e belle arti di Roma (Heft 1, 1786, Taf. 1) wieder auf, um es für die Via Cassia zu adaptieren. 17 Prokop, Gothenkrieg, V, XVI, 68, verwendet die Metapher, dass die Steine wie aneinandergewachsen erschienen. LIPSIUS: Admiranda (wie Anm. 7), 156. 18 La bellezza della Via Appia così per la sua lunghezza, come per la nobiltà della struttura da niuno fu meglio, e più distintamente descritta che da Procopio, PRATILLI: Via Appia (wie Anm. 1), 32.
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II. Le pietre piu tosto nate – Piranesi und die Archäologie der Straße Die ‚Bilderlosigkeit‘, die die Beschäftigung mit der Appia seit dem 17. Jahrhundert, von wenigen Ausnahmen abgesehen, begleitet, endet mit Giovanni Battista Piranesis zunächst noch frühen konventionellen, später singulären Annäherungsversuchen an den antiken Straßenraum, die sich im druckgraphischen Werk des römischen Architekten und Künstlers über rund zwei Jahrzehnte bis 1764 nachvollziehen lassen19. Piranesi war über die Mitarbeit am Romplan des Architekten und Gelehrten Giovanni Battista Nolli oder etwa die Bekanntschaft mit Antonio Giobbe, einem der Hauptverantwortlichen für das römische Bauwesen in den 1740er Jahren, auf die Funktion antiker Infrastrukturen aufmerksam geworden20. In den Radierungen und Kupferstichen werden die Bemühungen sichtbar, das sperrige Motiv selbst als mediales, mithin ästhetisches Objekt in wechselnden Erhaltungs- und Zerstörungszuständen zu definieren und dabei vor dem Hintergrund archäologischer Episteme ideell aufzuwerten. Dies geschieht abseits der Rollen, die niederländische und französische Landschaftsmaler im Umfeld Jakob Ruisdaels oder Claude Lorrains dem Weg als raumkonstituierender, die Naturszenerie strukturierender Bildinstanz zugewiesen hatten21. Chronologisch am Anfang steht eine 1748 publizierte Vedute, in der Piranesi trotz der exakten Ortsangabe im Titel Parte dell’antica Via Appia fuori die Porta S. Sebastiano (Tav. 19), zugunsten einer noch im spätbarocken Duktus überwucherten Ruinenlandschaft, auf die Andeutung des einst befestigten antiken Verkehrswegs verzichtet. Beschaulich sind in sich ruhende Staffagefiguren, Schäfer mit Hirtenstäben, vereinzelt oder im Halbkreis gruppiert, sinnend beieinander stehend, über den Bildraum verteilt, umgeben von wild überwachsenen baulichen Überresten aus römischer Zeit. Die Straßensituation ist in ein Bild idyllischer Re-
19 Kurze Motivgeschichte in der Moderne bei JEAN PHILIPPE GARRIC: Via Appia, les leçons des ruines de la reine des routes (sur une gravure de Piranèse). In: CHANTAL LIAROUTZOS (Hg.): Que faire avec les ruines. Poétique et politique des vestiges, Rennes 2015, 249–266. 20 Kursorisch ALBERTO BEVILACQUA: Piranesi e la Via Appia. In: ISABELLA SALVAGNI, MARGHERITA FRATARCANGELI (Hg.): Oltre Roma. Nei Colli Albani e Prenestini al tempo del Grand Tour, Rom 2012, 152–162. 21 Mit Blick auf die Infrastruktur der Niederlande zusammenfassend JULIE BERGER HOCHSTRASSER: Inroads to Seventeenth-Century Dutch Landscape painting. In: Nederlands kunsthistorisch Jaarboek 48 (1998), 193–221; zur allegorischen Deutung der Wegesituation als Lebensreisen HANS JOACHIM RAUPP: Zu Bedeutung von Thema und Symbol für die holländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 17 (1980), 85–110. Das Phänomen bei REINDART FALKENBURG: Joachim Patinir. Landscape as an image of the Pilgrimage of Life, Amsterdam/Philadelphia 1988, 61–103. Zum Bild des Weges unter dem Gesichtspunkt der Erschließung der Landschaft durch den Fußgänger im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert GOLO MAURER: Italien als Erlebnis und Vorstellung. Landschaftswahrnehmung deutscher Künstler und Reisender 1760–1870, Regensburg 2015, 31–46.
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flexion verwandelt, bildet aber für sich genommen, wie in der zeitgleichen Vedutenmalerei, noch kein eigenes Narrativ22. Nur wenige Jahre später, in den Blättern der 1756 publizierten Antichità Romane, einer Sammlung von römisch-antiken Bildzeugnissen aus unterschiedlichen Architektur- und Ornamentgattungen, weist Piranesi dem antiken Straßenraum nun erstmals die Rolle eines argumentativ bestimmenden Strukturelements zu. In dem oft beschriebenen Eröffnungsblatt zum zweiten Band hat Piranesi die der realen Situation entsprechende Weggabelung zwischen Via Appia und Via Ardeatina in eine imaginäre Architekturphantasie verwandelt. Reich dekorierte, von Zierrat überquellende Gräber und Statuen drängen sich in überbordender Weise an die Wegmarkierungen und Bordsteine der antiken Pflastersteine, die hier gleichsam den festen Boden zwischen den wuchernden, sich in der Ferne verlierenden Vergangenheitsphantasien bilden23. Das Blatt lebt von der Spannung zwischen der detailliert abgeschriebenen Straßenoberfläche, in der sich Umrisse der Pflastersteine zur ornamentalen Fläche verdichten, und der Phantasiewelt der aufrecht stehenden Grabbauten24. Gleichzeitig tritt es in signifikante Korrespondenz zu der im gleichen Band veröffentlichten Veduta degli Avanzi di alcune camere sepolcrali, esistenti sull’ antica Via Appia fuori di San Sebastiano (Tav. XLVII), die eine ähnliche Wegesituation mit Gräberlandschaft an das für Piranesi übliche Verfahren koppelt, die Hinterlassenschaften über Buchstaben-Legenden in der Bildunterschrift aufzulösen. Die Straße, nun verschlammt, wird nicht von phantastischen, sondern ruinösen Grabbauten gesäumt, wobei sich die polygonalen Platten des einstigen Basaltpflasters im Bildvordergrund zu mächtigen Haufen türmen, bezeichnet mit dem Buchstaben C für selci dellʼantica Via Appia25. Antikenphantasie und Ruinenstudium treten so in augenzwinkernden Dialog miteinander. Im dritten Band seiner Antichità begibt sich Piranesi schließlich in Nahsicht zum Objekt: Die erste technisch-konstruktive Bauaufnahme der Via Appia bildet gewissermaßen das close up einer vierblättrigen Sequenz zum Ustrinum, dem antiken Leichenverbrennungsplatz, an Kilometer sechs der Appia außerhalb der Porta San Sebastiano (Tav. II–V) – eine Folge, die den Krematoriumsbau in diverse Ansichtsseiten und Konstruktionsdetails zerlegt26. Den detaillierten Analysen des 22 JOHN WILTON-ELY: Giovanni Battista Piranesi. The complete etchings, San Francesco 1994, Nr. 123. 23 Im Modus einer Grabinschrift ist das Blatt folgendermaßen betitelt: ANTIQVVS BIVII VIARUM APPIAE ET ARDEATINAE PROSPECTVS AD II LAPIDEM EXTRA PORTAM CAPENAM, in: Piranesi: Le Antichità Romane, Rom 1756; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 360. 24 BRUNO REUDENBACH: G. B. Piranesi: Architektur als Bild. Der Wandel in der Architekturauffassung des 18. Jahrhunderts, München 1979, 26, wies bereits auf den eigentümlichen Kontrast zwischen Straßenbelag und Architektur hin. Siehe dazu auch NORBERT MILLER: Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi, München 1978, 181 f. 25 Veduta degli avanzi di alcune camere sepolcrali esistenti sull’antica Via Appia fuori di Porta San Sebastiano, PIRANESI: Antichità Romane (wie Anm. 23), II, Tav. XLVII; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 404. 26 Das Ustrinum an Meile 5, unmittelbar am sogenannten Curatiergrab vor der Villa der Quintilii.
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Mauerwerks und seiner Stärkegrade stellt Piranesi zunächst einen steingerechten Plan der Appia voran, der, am oberen und unteren Bildrand von Grund- und Aufrissen des Funktionsbaus flankiert, den entsprechenden Streckenabschnitt aus größerer Distanz aus der Vogelperspektive präsentiert (Tav. III)27.
Abb. 3: Gian Battista Piranesi, Veduta dellʼ antica Via Appia, che passa sotto le mura già descritte nelle passate tavole dell’Ustrino, oggi ricoperta nelle rovine del medesimo, in: Ders., Antichità Romane, Rom 1756, III, Tav. VII.
Ein weiteres Blatt gibt die Bauruine in situ wieder, während das letzte den Betrachter unmittelbar aus der Tiefflugperspektive an die Pflasterung heranführt (Tav. VI, hier Abb. 3). Innerhalb der Bildsequenz erfüllt das kontrastreiche, in weiten Teilen ‚gepflasterte‘ Blatt eine doppelte Funktion: zunächst die der archäologischen Rekonstruktion eines, wie es in der Bildunterschrift heißt, an dieser Stelle von den Überresten des Verbrennungsbaus verschütteten Appia-Teilstücks und zum Zweiten die der sezierenden Autopsie des Straßenfundaments. Im Belag 27 Parte dellʼ antica Via Appia in distanza da Porta S. Sebastiano cinque miglia in circa oggi coperta dal terreno, PIRANESI: Antichità Romane (wie Anm. 23), III, Tav. III; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 423.
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klaffen Löcher, die, wie bei einem Grabungsschnitt, den Blick auf den Untergrund freigeben, dessen Bestandteile in der Legende aufgelistet sind28. Das gestampfte Bett der Straße unter der Pflasterung sei mit einer reichlich 20 cm starken Schicht aus Kalk und Kiesel bedeckt, mit diamantförmig zugeschnittenen Blöcken im Boden verankert, von den Bordsteinen eingefasst und zusammengehalten, die wiederum in regelmäßigem Abstand von Sitzsteinen unterbrochen würden. Erstmals werden jene von Pratilli systematisch zusammengetragenen technischen Aspekte antiker Straßenbaukunde bildlich veranschaulicht, freilich ohne die antiquarische Forschung Blatt für Blatt zu illustrieren. Das Objekt rückt nahe an das Auge heran, stellt sich dabei allerdings stets in den Dienst konstruktiver, bautechnischer und funktionaler Details, während Materialeigenschaften und Oberflächenqualitäten wie die oft bemerkte Glätte der Basaltsteine – bei Pratilli lange Exkurse – außerhalb des Erkenntnisinteresses zu liegen scheinen. Piranesi, dem die Antichità 1757 die Mitgliedschaft in der Londoner Society of Antiquaries einbrachten29, nutzt den Akt des optischen Perspektivwechsels, um mal die Rolle des Architekten und Archäologen, mal die des flanierenden Zeitgenossen einzunehmen, dem der Verfall der antiken Steine als pittoreskes Bild vor Augen steht. Vor allem die ästhetischen Dimensionen des Straßenkörpers und deren Wertschätzung als Monument sind es, denen Piranesi, über die reine technische Darstellung hinaus, in den druckgraphischen Serien der 1760er Jahre, den Foliowerken Campo Marzio dellʼAntica Roma von 1762 und den zwei Jahre später veröffentlichten Antichità di Albano e di Castel Gandolfo, Ausdruck verleihen sollte30. In den Ruderae viae Flaminiae (Tav. XXXVIII), einem Blatt aus den Campo Marzio, das die Reste der Via Flaminia an der Milvischen Brücke zeigt, wird das Bedürfnis offensichtlich, der ‚Straße‘ in Konkurrenz zur Monumentalität antiker Bauten den Status eines bildwürdigen Motivs zu verleihen (Abb. 4)31. Dabei bedient er sich derselben Darstellungsmodi, ignoriert gewissermaßen die ‚flächige‘ Spezifik seines Gegenstands, wenn er die Flaminia als aufgehendes Mauerwerk in den Bildraum schiebt, phänotypisch deutlich unterschieden vom Iter novum, auf dem sich in der unteren Bildecke winzige Reisende bewegen. 28 Veduta dell’antica Via Appia, che passa sotto le mura già descritte nelle passate tavole dell’Ustrino, oggi ricoperta nelle rovine del medesimo. A. Letto del terreno ben sodato, e battuto con pali, prima di stendere la grossa riempitura alta palmo uno a simiglianza di lastrico composto di calce pozzolana, e scaglie di selci, e sopra di esso piantati a forza i selci. B. tagliati nel roverscio a punta di diamante. C. Altri selci posti a guisa di Cunei, i quali stringono e gagliardamente rinserrano i selci sudetti, che lastricano la Via gia detta, fra quali ogni 30. palmi evvene uno. D. piu eminente e superiore degli altri di tal fatta, quale dovea servire forse a quelli, che montavano, e smontavano da cavallo, e di riposo a Viandanti. Questo e gli altri inferiori sono piantati sopra un grosso muro di riempitura di simili scaglie di selci, ma piu grandi delle mentovate di sopra, PIRANESI: Antichità Romane (wie Anm.23), III, Tav. VII; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 427. 29 MILLER: Archäologie (wie Anm. 24), 181. 30 GIOVANNI BATTISTA PIRANESI: Il Campo Marzio dell’Antica Roma, Opera di G.B. Piranesi socio della reale società degli antiquari di Londra, Rom 1762. 31 GIOVANNI BATTISTA PIRANESI: Ruderae viae Flaminiae, Tav. XXXVIII; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 599.
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Abb. 4: Gian Battista Piranesi, Ruderae viae Flaminiae, in: Ders. Il Campo Marzio dellʼ Antica Roma, Rom 1762, Tav. XXXVIII.
Der Betrachter ist auf das Studium der schriftlichen Legende angewiesen, um den dramatisch inszenierten Straßenabbruch, der sich in fallender Diagonale durch das Querformat zieht, überhaupt als solchen zu erkennen32. Wenn Piranesi drei der antiken Pflastersteine (silices) bis über den unteren Bildrand hinaus in die Tiefe rollen lässt, erweist sich die sprichwörtliche Größe der Antike auch im Verhältnis zum modernen, unbefestigten Verkehrsweg. Die Basaltblöcke erscheinen als Residuen einer zyklopischen Kultur, auf die sich zwei Studierende am rechten Bildrand aufmerksam machen. Im Geröll der Abbruchkante ermöglichen es gleichfalls nur Piranesis Beischriften, zwischen natürlichem Erdreich (solum viae ab imbribus praeruptum) und Straßenbauaufschüttung (glarea, quibus via antiquitus munibatur) zu unterscheiden. In den Antichità dʼAlbano e di Castel Gandolfo vollzieht Piranesi 1764 schließlich den letzten Schritt bildlicher Inszenierung, indem er die struktiven Merkmale des antiken Straßenbilds als ästhetisches Element in die großformatige Vedute integriert. Diente der Verweis auf die Via Appia in den früheren Stichen in der Regel bloß dazu, die topographischen Koordinaten der Vedute und des antiken Monuments zu bestimmen, ist es nun die Physis der Straßenoberfläche, die zum Leitmotiv des späten Werks über die lazialischen Altertümer avanciert. Während seiner Rückkehr nach Rom, auf einem Wegabschnitt der antiken Appia au32 Come poi fosse fatto sotto al lastrico sì di questa che di tutte le altre vie Consolari, son cose da me dimostrate, con le rovine della via Flamina, nella Tavola XXXXIII, del Campo marzio, alla quale mi rimetto; GIOVANNI BATTISTA PIRANESI: Antichità dʼAlbano e di Castel Gandolfo Descritte ed incise da Giovambatista Piranesi, Rom 1764, 25.
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ßerhalb von Albano, der frei sei von Gestrüpp, Unkräutern und Verschüttungen, so Piranesi im begleitenden Text, sei ihm die Idee gekommen, dieses Stück Straße genauso darzustellen, wie es erscheine und wie es Tafel XXV seiner Publikation zeige (Abb. 5). Dabei habe sich die Gelegenheit ergeben, auch die Straßenränder getreu wiederzugeben. Die Steine, so wiederholt er hier, wirkten in seinen Augen zusammengefügt, wie più tosto nate, che poste dell’arte. Wegen der außerordentlichen Perfektion erschiene ihm die oberste Straßenschicht wie gewachsener Fels33. Die zur topischen Denkfigur geronnene Analogie zwischen Natur und Architektur, dem Verschmelzungsprozess zwischen beiden, ist Piranesi auch in seinen Kupferstichen immer wieder nachgegangen34. Ausgerechnet im Bild der Appia werden Natur und Architektur nicht synthetisiert. Monolithisch führt der kurze, aber nahezu intakte Abschnitt der alten Trasse in stark fluchtender Linie in den Hintergrund, zwergenhaft entfernt sich ein Wanderer. Die perfekte Pflasterung, die keinerlei Altersspuren aufweist, evoziert, neben Piranesis Naturmetapher, die Beschreibung des Prokopios oder Lipsiusʼ Bemerkung von der Straße als einem einheitlichen Körper35. 33 Finalmente nel mio ritorno a Roma per la via Appia, giunto poco più in quà dʼAlbano, ove s’incontra un lungo tratto dellʼantico lastricato della medesima via, intero in tutte le sue parti, e netto da tutti gli sterpi, dallʼerbe, e dagli arrenamenti che per lo più lo ingombrano in altri siti, stimai bene di trarlo così comʼè, e come dimostro nellʼ ultima Tavola di queste antichità dʼAlbano, per far vedere quella conessione di pietre simile alla costruttura delle mura di alcune Città dell Etruria, e del Lazio, e mirabile ugualmente che quelle, come può vedersi nella prima Tavola dellʼaltra mia raccolta delle Antichità di Cora. Nella Tavola quinta pocʼanzi fo vedere un altro residuo de’ più cospicui di questa via, ma dal presente disegno, molto più compiutamente che da quella Tavola, veggiamo, fra le altre cose, com'erano disposti i margini d'ambedue i lati della via la prima che facessero i Romani, e di cui, anche dopo aver fatte le altre a similitudine di questa, eglino si gloriavano, con darle il titolo di Regina viarum. Le pietre di questi margini ordinariamente son lunghe otto o nove palmi Romani in circa. Con questa misura puo comprendersi dal disegno la grandezza di quelle del lastricato. Il lastricato, oltre lʼesser sì ben composto che le pietre vi sembrano più tosto nate, che poste dallʼarte, rimane anche un poʼ colmo nel mezzo, sicchè le acque piovane, che cadevano su la via, scorressero di quà, e di là a far due rivoli che si scaricavano a mano a mano per alcuni forami o narici, fatte neʼ margini così comʼè quella che accenno con la lett. A., PIRANESI: Antichità dʼAlbano (wie Anm. 32), 25. Cap. 10, Tav. XXIV. Zum Verhältnis von Kunst und Natur bei Piranesi auch KLAUS JAN PHILIPP: Die Macht des Bildes. Architektur und Natur um 1800. In: CORINNA HÖPER, ELISABETH KIEVEN, JEANNETTE STOSCHEK (Hg.): Giovanni Battista Piranesi. Die Wahrnehmung von Raum und Zeit. Akten des internationalen Symposiums in der Staatsgalerie Stuttgart, Marburg 2002, 103–119, dort vor allem im Zusammenhang mit der Darstellung der zyklopischen Mauern von Cori in den ebenfalls 1764 erschienenen Antichità di Cora, an die Piranesi im Kontext der Pflasterung selbst erinnert und an einen vergleichbaren Natur-Kunst-Diskurs bindet. Dazu bereits JOHN WILTON-ELY: Giovanni Battista Piranesi. Vision und Werk, München 1978, 61. 34 MILLER: Archäologie (wie Anm. 24), 188. 35 Die sichtbaren Spurrillen der Wagenräder werden von Reisenden des 18. Jahrhunderts des Öfteren beschrieben. Benjamin Hederich sind sie sogar eine Notiz im Realen Schul-Lexicon wert: Sie [die Steine der Appia, B.C.] sehen anbey wie verrostete Eisen aus, sind 1. bis 2. Schuh groß, und sollen unter sich noch ein Pflaster von andern grossen Steinen haben, damit sich solche Strasse um so viel weniger sencken können. An einigen Orten haben dennoch die
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Abb. 5: Gian Battista Piranesi, Prospetto del Lastricato e deʼmargini dellʼantica via Appia delineato così come si vede verseo Roma poco più in quà della città dʼAlbano, in: Ders., Antichita dʼAlbano e di Castel Gandolfo, Rom 1764, Tav. XXV.
Piranesis Entdeckung der Appia als bildkonstituierendes Motiv darf als allgemeines Symptom einer sukzessiven Umwertung des antiken und neuzeitlichen Straßenraums gelten. Lange Zeit nur beiläufiger Gegenstand, allenfalls relationale topographische Folie oder Erfahrungsraum für Feste und Prozessionen wird die antike Straße nun als raumschaffende Kommunikationsachse wahrgenommen, an der sich die Grabbauten und Tempelüberreste nicht mehr bloß auffädeln. Die Appia selbst ist künstlerischer Akteur, der die Monumente erst kontextualisiert. Diese Beobachtung deckt sich mit den archäologischen Praktiken der zeitgenössiRäder 3. bis 4. Zoll tiefe Gleisen eingeschnitten [...], BENJAMIN HEDERICH: Reales SchulLexicon: s.v. Appia via, Leipzig 1748, 317 f.
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schen Altertumswissenschaft, die ihre Objektfixierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts langsam aufzugeben beginnt. Nur kursorisch sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die frühen Ausgrabungen in den kampanischen Vesuvstädten Pompeji, Herculaneum und Stabiae in den ersten Jahrzehnten nach deren Entdeckung 1748 zunächst um das einzelne archäologische Artefakt kreisten. Obgleich der Schweizer Ingenieur Karl Weber unter dem Chefausgräber R. J. de Alcubierre spätestens seit 1750 an der exakten Kartierung des Stadtgrundrisses arbeitete, rückten urbanistische, das Straßensystem betreffende Fragen erst rund zwei Jahrzehnte später mit der Ernennung des Ausgrabungsleiters Francesco La Vegas 1764 ins Zentrum. Mit La Vega begann die Freilegung ganzer Straßenzüge und nach und nach die archäologische Restitution antiker Lebensräume36. Die großformatigen Veduten der Antichità d’Albano zeugen eindrucksvoll von der neuen Präsenz des Straßenkörpers in Piranesis Werk. In Tafel IV geht der Autor der antiken Trassenführung innerhalb einer lebendigen, neuzeitlichen Ortschaft nach, markiert exakt die von den modernen Grundstücksmauern überbaute alte Pflasterung und die erweiterte Wegführung neben der Straße, dokumentiert gewissermaßen den räumlichen, durch die ländliche Nutzung gleichsam homogenisierten Veränderungsprozess, den die Wegesituation anzeigt37.
Abb. 6: Gian Battista Piranesi, Sepolcro detto falsamente degli Orazii, e Curazi, in: Ders., Antichita d'Albano e di Castel Gandolfo, Rom 1764, Tav. V.
36 CHRISTOPHER CHARLES PARSLOW: Rediscovering Antiquity. Karl Weber and the excavation of Herculaneum, Pompeii and Stabiae, Cambridge et al. 1995, 47–68, 77–79. Vgl. auch mit weiterer Literatur BIRGITTA COERS: Die Farbe des Vergangenen. Pompeji in der Kunst der Moderne, Münster 2018, 96 f. 37 In der Legende heißt es: 3. Via Appia per venire a Roma, occupata in parte dai poderi e dalle ville che vi confinano. 4. Dilatazione moderna della stessa via. PIRANESI: Antichità dʼAlbano (wie Anm. 32), Tav. IV; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 645.
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Eine entschiedene Revision des Bildgegenstands vollzieht Piranesi mit der Ansicht des sogenannten Grabes der Horatier und Curatier östlich von Albano auf Tafel V (Abb. 6). Das Blatt demonstriert einmal mehr die Statusveränderungen von Monument und Raum im Licht der bildprägenden Möglichkeiten antiker Straßenzüge38. Erfassen die frühen Veduten das malerisch zugewachsene Grabmal als Teil einer duftig hingehauchten Landschaftsidylle39, in den Antichità Romane (III/X) als grandios überwucherten, von der Natur verschlungenen Gesteinsberg40, wird die Touristenattraktion in der Albano-Fassung, von der Natur entkleidet, an die Seite geschoben. Überschnitten vom rechten Bildrand lenkt die wuchtige, dabei zugleich unförmige Architektur den Blick auf die sanft geschwungene, im Vordergrund aufgebrochene, im weiteren Verlauf sauber gepflasterte, sich tief in den Bildgrund erstreckende Appia. Die Straße ist nun gleichwertiges Monument, das zeigt das geschickt arrangierte Figurenpersonal: Keiner der im Modus der Reflexion und des Disputierens erfassten Reisenden widmet sich mehr dem Grabmal der Horatier; die Blicke sind gesenkt und haften am Pflasterstein. Die Funktionalität des antiken Straßenkörpers erweist sich noch in der Gegenwart, ihre humanen, weiterhin gültigen Proportionen – die Legende vermerkt eine Straßenbreite von 24 palmi – kontrastieren mit der zweckfreien Kolossalität des Grabbaus. Selbst in einer weiteren Aufnahme desselben Monuments auf Tafel VI mit einer der Straße eigentlich abgewandten Ansicht bleibt die Appia als konstituierendes Moment nun stets präsent41. Programmatisch schließt Piranesi die Folge der Antichità d’Albano mit dem großformatigen Blatt der Straßensubstruktion unterhalb eines Berghangs ab42. In der Darstellung der gewaltigen Stützwerke, auf denen sich der antike Straßenbelag unendlich in die Tiefe zieht, hat Piranesi der technischen Leistung der Appia Antica ein raumumspannendes Denkmal gesetzt.
38 Sepolcro detto falsamente degli Orazii, e Curazi, Tav. V; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 646. 39 Sepolcro delle tre fratelli Curiati, PIRANESI: Alcune vedute di Archi Trionfali, 1748, Tav. 27; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 131. 40 Sepolcro deʼ tre fratelli Curazj in Albano, PIRANESI: Antichità Romane (wie Anm. 23), III, Tav. X; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 430. 41 L’istesso Sepolcro delineato nella Tavola V ora veduto dalla parte della Lapide segnata col numero 1, PIRANESI: Antichità dʼAlbano (wie Anm. 32), Tav. VI; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 647. 42 Veduta della magnifica Sostruzione fabricata per regger la falda del Monte, e per render la Via Appia più commoda, e meno declive tra la Valle, e le due opposte Colline. Appio Claudio il Censore lʼanno 442 di Roma intraprese la Via dalla Porta Capena sinʼ alla Città di Capua. L'Architettura di questʼ Opera si rende particolare nella costruz.e circolare degli Archi per esser di quellʼantica maniera usata prima deʼ tempi deʼ Cesari. Questʼ opera fabricata à corsi di pietre quadrate bislunghe di Pietra Albana. La detta Strada è fabricata di grandi lastre di Selce ben connesse. Questo Edificio era prima molto elevato dal piano antico, ora ricoperto dalle rovine, e si vede lungi da Albano un miglio in circa, PIRANESI: Antichità dʼAlbano (wie Anm. 32), Tav. unpaginiert; WILTON-ELY: Etchings (wie Anm. 22), Nr. 670.
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III. Jenseits des Pittoresken – Antike Straße und moderne Landschaft bei Carlo Labruzzi 1789 brach der englische Antiquar und Historiker Sir Richard Colt Hoare zu einer archäologischen Erkundungstour entlang der Via Appia auf, motiviert durch die Monumentenfülle am Wegesrand, wie aus den 1819 veröffentlichten Aufzeichnungen seiner bis nach Sizilien führenden Reise hervorgeht43. Begleitet wurde er von dem römischen Landschaftsmaler und Zeichner Carlo Labruzzi, der in Rom eine Akademieausbildung genossen, sich bis dahin aber vor allem mit mythologischen Themen befasst hatte44. Auch wenn die genauen Umstände des Unternehmens, ebenso das erste Zusammentreffen zwischen Beiden im Dunkeln liegen, hatte Labruzzi die Aufgabe, wichtige Stationen und Schauplätze der Reise im Medium des Aquarells zu dokumentieren45. Geplant war die gemeinsame Veröffentlichung der einander sich wechselseitig ergänzenden Texte und Bilder, zu der es im weiteren Verlauf allerdings nicht mehr kam. Stattdessen gab Labruzzi 1794, nur vier Jahre nach Reiseende, unter dem Titel Via appia illustrata ab urbe Roma ad Capuam eine Auswahl seiner Aquarelle im Kupferstich heraus46. Der Maler fertigte während der Fahrt um die 400 Zeichnungen in unterschiedlichen Sepiaund Aquarelltechniken an, manchmal bis zu fünf am Tag47. Die Aquarelle zeugen von intensivem Arbeitstempo. Sicher lag in Hoares Beschränkung auf das Thema der Appia einer der Gründe, weshalb Labruzzi, insbesondere in den an Monumenten ärmeren Abschnitten der Reise, Landschaftsausschnitte entlang der Straße porträtierte, die deutlich mit den Konventionen der zeitgenössischen Vedutenma43 SIR RICHARD COLT HOARE: A classical tour through Italy and Sicily, 2 Bde., London 1819, hier Bd. 1, 82. 44 PIER ANDREA DE ROSA: Carlo Labruzzi pittore. In: DERS., BARBARA JATTA (Hg.): La Via Appia nei disegni di Carlo Labruzzi alla Biblioteca Apostolica Vaticana, Vatikanstadt 2013, 31–40. 45 DE ROSA: Pittore (wie Anm. 44), 35–38. Labruzzi besaß nachweislich gute Kontakte innerhalb der in Rom ansässigen Künstlerschaft, unter anderem zu Jakob Philipp Hackert. Die nähere Umgebung Roms, darunter die Colli Albani, zählte zum motivischen Standardrepertoire der Zeichenausbildung an der Accademia di San Luca. 46 CARLO LABRUZZI: Via Appia illustrata ab urbe Roma ad Capuam limite noto Appia longarum teritur regina viarum, London 1794. 47 Labruzzis Werk, insbesondere die Aquarelle zur Appia, sind in jüngster Zeit wiederholt besprochen worden. Schon Fabrizio Sarazani bemerkte bei seiner Edition von Labruzzis Stichwerk 1970, dass dessen Blätter eine ähnliche Tonalität aufwiesen wie die Piranesis, doch scheint das bei näherer Sicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen beiden Visualisierungen von Straße zu sein. FABRIZIO SARAZANI (Hg.): Carlo Labruzzi, La Via Appia. Via Appia illustrata ab urbe Roma ad Capuam (London 1794), Rom 1970. Siehe auch die Beiträge von BARBARA JATTA: I disegni di Via Appia und Carlo Labruzzi incisore. In: DE ROSA, JATTA (Hg.): La Via Appia (wie Anm. 44), 105–112, 113–130; MARIA GRAZIA MASSAFRA: „Via appia illustrata ab urbe ad capuam.“ Disegni di Carlo Labruzzi nel Gabinetto comunale delle Stampe. In: Bolletino dei Musei comunali di Roma N.F., VII (1993), 43–56. Zuletzt auch: STEFANIA QUILICI GIGLI: Carlo Labruzzi e i monumenti di Capua. Letture di un archeologo. In: ROSANNA CIOFFI, SEBASTIANO MARTELLI et al. (Hg.): La Campania e il Grand Tour, Rom 2015, 237–248.
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lerei und deren Fokussierung auf die klassischen Topoi der Italienreise brachen. Dabei interessierte auch er sich, der Natur der Sache gemäß, in erster Linie für die monumentalen Überreste am Wegesrand48. Staffagefiguren lagern, eingebettet in idyllische Landschaftsszenerien, zu Füßen der Monumente, die sich längs des Itinerars fanden. In den meisten Fällen vermeidet Labruzzi, wie die anderen Vedutisti seiner Zeit, Verweise auf die nahe Straße. Die Appia bleibt so in einem grossen Teil seiner Blätter reine Ortsangabe. Neben diese in ihrer Konzeption eher konventionellen Bildlösungen treten jedoch auch reine ‚Wegebilder‘. Soweit vorhanden, ist in ihnen über sorgfältig angelegte Federstriche die antike Pflasterung zwar kenntlich gemacht, aber malerisch verschliffen und von der minutiösen, technisch interessierten Dokumentation Piranesis weit entfernt. Labruzzi ging es vor allem darum, entlang der Route, neben dem Blick auf einzelne Monumente, besonders malerische Straßensituationen festzuhalten. Das betraf den Verlauf entlang der Küstengebirge, wo die antike Trasse sich in abenteuerlichen Windungen an den Felsen über dem Meer entlang zog und die historische Pflasterung an Abbruchstellen über steile Abgründe ragte (Abb. 7). Die zivilisatorische Leistung der Erbauer wird ebenso anschaulich wie die Möglichkeiten bildwirksamer Inszenierung von Straße als Monument.
48 Zu den beliebtesten Vedutenmotiven an der Appia gehörten die Porta San Sebastiano, die Tomba di fonte a San Sebastiano oder das Grab der Horatier, außerdem die eindrucksvollen Substruktionen vor Ariccia. Siehe dazu STEFFI ROETTGEN: Von der malerischen Idylle zur Freilichtmalerei: Ariccia, Albano und das Oratorio del Crocifisso in den Veduten der Deutschrömer. In: STEPHAN ALBRECHT (Hg.): Kunst – Geschichte – Wahrnehmung. München 2008, 95–115. Roettgen hat gezeigt, dass sich die Vedutenmalerei der Campagna nach 1800 eindeutigen semantischen Konnotationen entzieht und atmosphärisch gesteuerte Beobachtungen den Blick auf Natur und Monumente steuern.
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Abb. 7: Carlo Labruzzi, Via Appia bei Terracina, Sepia, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Vatikanstadt.
Die Eigenart von Labruzzis Aquarellserie liegt zum anderen in den Blättern, in denen der Maler Abschnitte der 69 Kilometer langen, schnurgeraden Trassenführung in den pontinischen Sümpfen kompromisslos ins Bild setzt, wodurch es ihm gelingt, sich ihrer topographischen Eigenheit zu bemächtigen (Abb. 8) – dies in einer Region, die zuvor auch wegen ihrer Reizlosigkeit von Touristen gemieden worden war, in die sich aber seit der Reparatur der Straße durch Pius VI. nun der Strom der Reisenden in Richtung Süden ergoss49. Gerade in diesen Blättern erweist sich die Modernität von Labruzzis AppiaBild. Das wird im Vergleich mit den etwa gleichzeitigen Landschaften von Philipp Hackert deutlich, so der Frankfurter Rom-Ansicht, in der allein ein unscheinbarer, kurvig geführter Sandweg die jahrtausendealte Verkehrsader andeutet50. Von der herrischen Monumentalität der antiken Achse vermittelt Hackert dem Italienreisenden nichts.
49 ESCH: Straßen (wie Anm. 3), 20; STERPOS: Comunicazioni (wie Anm. 2), 194; ROETTGEN: Idylle (wie Anm. 48), 96. 50 Jacob Philipp Hackert (1737–1807), Blick auf Rom von der Via Appia aus (1796), Öl auf Leinwand, Frankfurt am Main, Goethe-Haus und Goethe-Museum.
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Abb. 8: Carlo Labruzzi, Die Via Appia in den Pontinischen Sümpfen, Sepia, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Vatikanstadt.
Die Auswahl der Blätter, die Labruzzi für die wenige Jahre später erscheinende Kupferstichpublikation treffen sollte, macht vor allem die eisernen Gesetze der Nachfrage für den römischen Vedutenmarkt deutlich: Im Stichwerk präsentierte der Maler 24 Blätter im Folioformat, die indes kein topographisches Itinerar entlang der Reiseroute entwarfen, sondern sich beinahe ausschließlich auf Monumente in der nächsten Umgebung Roms konzentrierten. Pittoreske Ansammlungen malerisch drapierter Inschriftentafeln, dunkle, effektvoll vom Fackelschein erhellte Grabgewölbe waren der Stoff, den der klassische Italienreisende um 1800 – auch noch Jahrzehnte später – von den Vedutenmalern forderte. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive erstaunt, dass diese das Straßenbild der Appia auch nach 1800 kaum für bildwürdig erachtet haben. Offensichtlich entsprach die Regina Viarum nicht der Vorstellung der „Wandererlandschaft“, die das Auge auf gewundenen Wegen durchstreifte51. Nur vereinzelt finden sich in der Genremalerei um 1850 panoramatisch geweitete Ansichten, in denen die markanten phänotypischen Merkmale der alten Route, ihre Tiefenerstreckung in gerader Linie durch die Castelli Romani oder die Ebenen der pontinischen Sümpfe zur szenischen Klammer der Landschaftsaufnahme geraten. Die monumentale Langeweile einer an landschaftlichen Attraktionen armen Verkehrsachse hätte den Touristen auf der Suche nach den Schönheiten des ‚klassischen Landes‘ wohl weiterhin überfordert.
51 Zur Bedeutung des ̦Wandernsʻ bzw. ̦Gehensʻ als Erfahrungsmodus italienischer Landschaften im späteren 18. und 19. Jahrhundert, MAURER: Italien als Erlebnis (wie Anm. 21), 31–140.
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Abbildungsnachweise: 1. http://arachne.uni-koeln.de/item/buchseite/208610. 2. http://arachne.uni-koeln.de/item/buchseite/208628. 3. aus: GIOVANNI BATTISTA PIRANESI: Le antichità Romane, 3 Bde. Paris 1835– 1839, Bd. III, Tav. VII. 4. http://lib.ugent.be/viewer/archive.ugent.be%3A699F0E04-74B0-11E1-B69D34AF3B7C8C91#?c=0&m=0&s=0&cv=0&r=0&xywh=2408%2C2800%2C10 62%2C529. 5. aus: GIOVANNI BATTISTA PIRANESI: Le antichità die Albano e di castel Gandolfo, Paris 1839, Tav. V. 6. aus: GIOVANNI BATTISTA PIRANESI: Le antichità di Albano e di castel Gandolfo, Paris 1839, Tav. XXV. 7. Insolera, Via Appia, 1997, 163. 8. Insolera, Via Appia, 1997, 160.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 36 (2018), S. 95–114
PILGERN AUF DEM HOLZWEG? Überlegungen zur gotländischen Verkehrsinfrastruktur Jörg Widmaier ABSTRACT Der Beitrag präsentiert Überlegungen zur Verkehrsinfrastruktur auf der Insel Gotland. Neben archäologischen Quellen werden weitere materielle Bestandteile einer Kulturlandschaft (Runensteine und Kirchen) präsentiert. Auch Schriftquellen, vor allem rechtshistorische Texte, finden in Bezug auf Straßennutzung und Straßenbau Erwähnung. So können Möglichkeiten und Grenzen einer Untersuchung der materiellen Zeugnisse einer Verkehrsinfrastruktur aufgezeigt werden. Übergreifend werden Straßen und die sie umgebenden Elemente der Kulturlandschaft als Soziofakte beschrieben und folglich als Produkt sozialer Praktiken und als Einflussfaktor für soziale Prozesse analysiert. The article introduces investigations regarding the infrastructure, specifically the roads, on the Swedish island of Gotland. Apart from archeological sources, other material components of cultural landscapes (rune stones and churches) are presented. Likewise, written sources and especially historic legal texts are mentioned with regard to road use and construction. Thus, opportunities and limitations of such material sources can be demonstrated. Overall, streets as well as the elements of the cultural landscape surrounding them, will be described as sociofacts; and consequently, interpreted as a product of social practices and factors involved in social processes.
I. Ein Erfahrungsbericht The road, which lay on this smooth, bare limestone, put us in very great danger of fractures as we rode over it, since the horses stumbled on it as on slippery ice without being able to get a foothold […] we had to walk most of the way, for fear of breaking arms and legs if the horses should fall; the road was made of limestone shingle, so that one rode on it at the peril of one’s life1.
Im Jahr 1741 beschrieb Carl von Linné seine Erfahrungen mit den Wegen und Straßen2, die er während seines Aufenthaltes auf der schwedischen Ostseeinsel 1 2
MARIE ÅSBERG, WILLIAM T. STEARN (Hg.): Linnaeusʼs Öland and Gotland Journey 1741, London 1973, 123. Die Begriffe Weg und Straße lassen sich kaum trennscharf unterscheiden, da erstens eine klare Abgrenzung auf Grund materieller Quellen kaum möglich ist und zweitens die kategoriale Trennung in zeitgleichen Quellen Gotlands nicht erwähnt wird. Die folgende Verwendung der beiden Begriffe soll vielmehr zum Ausdruck bringen, dass sich das Verkehrsnetz aus verschiedenen Konstruktionsweisen zusammensetzt, die in unterschiedlicher Bemaßung und unterschiedlichem Bauaufwand entstanden sind. Auch nach Nutzerkreis (privat/öffentlich) und
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Gotland bereist hatte (Abb. 1)3. Dabei erwähnte er auch an einigen Stellen die Gefahren, denen man sich als Reisender auf Straßen auszusetzen hatte. Im Sommer des Jahres 2015 durfte der Autor des vorliegenden Artikels eine ähnliche Erfahrung machen, wie sie der schwedische Naturforscher des 18. Jahrhunderts im vorangestellten Zitat ausdrückt. Denn auch das Fortbewegungsmittel des 21. Jahrhunderts musste sich an manchen Stellen der oft gefährlichen – weil unbefestigten – Wegeführung geschlagen geben. Zum Glück beschränkte sich die ‚Gefahr für das eigene Leben‘ in diesem Fall nur auf einen Steinschlag an der Frontscheibe des Autos. Zunächst handelte es sich also um einen reinen Versicherungsfall, der sich jedoch zu einem bürokratischen Abenteuer entwickelte. Denn die von der Versicherungsgesellschaft benötigten Angaben zum verwaltungsrechtlichen Status der Straße gestalteten sich insofern problematisch, als es sich um einen nicht offiziell erfassten und folglich nicht öffentlich genutzten Schotterweg zu einem Kirchengebäude handelte. Der Weg selbst war dabei also weniger administrativ erfasstes als vielmehr durch die Verwendung entstandenes Produkt, das darüber hinaus ganz offensichtlich nicht für die präferierte Fortbewegungsart im Auto geeignet war. Aus dem gerade Angeführten lassen sich bereits einige Aspekte ableiten, die für das Verstehen und Analysieren von Straßen als kulturelle Phänomene nützlich und beachtenswert sind. Auch Überlegungen zu Straßen und Wegen in der Vormoderne sollten vor diesem Hintergrund angestellt werden. In jedem Fall handelt es sich bei Straßen und Wegen keineswegs um ein einfaches und naturgegebenes Phänomen, sondern um ein komplexes kulturelles Artefakt, das sowohl in seinen sozialen, rechtlichen und rituellen Aspekten beleuchtet als auch in seiner kulturellen Wandelbarkeit dargestellt werden muss. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung von der sozialen Bedingtheit der Straße oder des Weges sowie deren infrastrukturelle Einbindung in die Landschaft, welche ebenfalls kulturell bedingt ist. Straßen sind daher immer im Zusammenhang mit weiteren Elementen, wie Gräberfelder, Runensteine, Edelmetalldepots4, Kirchen sowie Anlagen und Gebäude öffentlicher wie privater Nutzung, zu betrachten. Diese Perspektive ermöglicht es, durch die Analyse von Straßen ebenso etwas über die Gesellschaft der Vormoderne zu erfahren.
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Zielführung (Kirchenweg/Handelsstraße) lässt sich das Verkehrsnetz kaum anhand der Begrifflichkeiten Straße oder Weg differenzieren. Die Ostseeinsel Gotland wird im Hoch- und Spätmittelalter in das mittelschwedische Svearreich eingeordnet, wobei sie kirchenrechtlich mit der Christianisierung im 12. Jh. an das Bistum Linköping angebunden wird. Seit 1361 ist die Insel zu Dänemark gehörig; seit 1645 gehört sie zu Schweden. Für die Insel ist eine differenzierte Gesellschafts- und Siedlungsstruktur anzumerken. Es handelt sich vor allem um handeltreibende Bauernverbände, um Sklaven und auch Großbauern, die in vereinzelten Hofanlagen leben. Dorfähnliche Siedlungsstrukturen kommen in Gotland im Mittelalter und der frühen Neuzeit dabei nicht zur Ausprägung. Nur im Nordwesten der Insel liegt die mittelalterliche Hansestadt Visby mit ihrem großen Hafen, in deren Umfeld sich Klöster angesiedelt haben. In besonderem Maße bekannt ist die Insel auf Grund der weitreichenden Handelskontakte und der zahlreichen Kirchenbauten. GUSTAF SVEDJEMO: Landscape Dynamics: Spatial analyses of villages and farms on Gotland AD 200–1700, Uppsala 2014, 47.
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Abb. 1: Gotland, Kupferstich von Jacob Faggot, Bebilderung der Originalausgabe von: Carl Linnaei, Öländska och gothländska resa […] förrättad åhr 1741.
Dieses Erkenntnisinteresse leitet auch den vorliegenden Beitrag, der Vorüberlegungen zur Verkehrsinfrastruktur auf der Insel Gotland aus dem Blickfeld verschiedener historischer Disziplinen wie der Archäologie, der Geschichte und der Kunstgeschichte vorlegen wird. Als Meilensteine für die anschließenden Überlegungen dienen folgende Gliederungspunkte. Nach Vorüberlegungen zu Gotlands Infrastruktur vor dem 19. Jahrhundert finden die vormodernen Reisenden und ihre Mobilität auf Gotland Erwähnung. Anschließend sollen materielle Quellen zu Straßen in der Vormoderne, Befunde zur Konstruktion, Technik und Wegeführung vorgestellt werden. Danach folgen die Aspekte zu Rechtsprechung im Zusammenhang mit Wegebau und Straßenunterhalt sowie zu Wegen und der zugehörigen Infrastruktur in der Vormoderne. Abschließend soll dieser umfassende Bestand einer kulturlandschaftlichen Infrastruktur auf seine Aussagemöglichkeiten als Instrumentarium für eine historische Gesellschaftsanalyse hin betrachtet werden.
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II. Straßen als Forschungsobjekt: Vorüberlegungen und Aussagemöglichkeiten Auch Carl von Linné machte letztlich 1741 zwar beiläufige, jedoch grundlegende Bemerkungen zur Verkehrsinfrastruktur Gotlands. So äußerte er sich zu Material, Konstruktion und Instandhaltung von Straßen, nannte aber auch Dinge, die ihm am Wegesrand begegneten, vor allem Aspekte des Naturraumes, darüber hinaus Elemente des Kulturraumes, etwa Grabhügel, Runensteine oder Kirchen5. Letztere blieben meist Raststation und Übernachtungsplatz für seine mehrtägige Überlandreise, zumindest wenn – wie meist – keine Herberge auf der genommenen Route lag. Für das Verständnis der von ihm genutzten Wege und Straßen sind diese Elemente einer kultur- oder naturräumlichen Infrastruktur grundlegend. Die seiner Reisebeschreibung beigelegte Karte der Insel verzeichnet beispielsweise neben der Reisestrecke vor allem Kirchenbauten. Bereits dieser Umstand zeigt an, welche Zentralfunktion Kirchenbauten für die Planung und praktische Ausführung von Reiseunternehmungen hatten und welch enger funktionaler Zusammenhang zwischen Wegeführung und Kirchengebäude anzunehmen ist (Abb. 2). Zusammenfassend lassen sich Carl von Linnés Reisebericht folgende themenrelevante Aspekte entnehmen: 1. Konstruktion und Erscheinungsbild der Wege, 2. Instandhaltung des Verkehrsnetzes (rechtliche Regelung), 3. Räumlicher Kontext der Wegeführung in Natur- wie Kulturraum sowie zuletzt 4. Informationen zur Infrastruktur: Wohin führen die Wege? Woran kommt man vorbei? Im Folgenden steht also die menschliche Strukturierung der gotländischen Landschaft im Vordergrund. Straßen und Wege sind dabei sowohl Produkt als auch Grundlage menschlichen Handelns. Die heutige Landschaft Gotlands ist somit als Kulturraum über Jahrtausende entstanden. Die sicher sehr viel stärkere Einprägung des Menschen in die Landschaft der letzten Jahrhunderte ist allerdings bei jeder Analyse landschaftlicher Zusammenhänge mitzudenken.
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„The road, which was entirely white, irritated our eyes when the sun shone upon it, as limestone, when worn to pieces and disintegrated by weathering, yields a white earth. The road, which was full of chips, was built and repaired with small rounded rubble-stones [pebbles] that were to be found everywhere and used instead of gravel“; ÅSBERG, STEARN (Hg.): Gotland Journey (wie Anm. 1), 161. „There were several burial mounds along the road.“. Ebenda, 2451. „The sandy road between Svenerum and Barnarp caused us some trouble. A runic stone shaped like a half cone stood on our left hand along the road half a mile from Svenerums inn. One could only read […]. Two stone slabs were erected close to each other along the road between Svenerum and Stiamo just before one comes to Getamo“, ebenda, 3431; „There were two runic stones along the road about two miles from Vasteris. We saw the ruins of an old monastery on our right hand“, ebenda, 3452. Zu Linnés Beschreibung von Runensteinen vgl.: HELMER GUSTAVSON: Georg Wallin, Carl von Linné och de gotländska runmonumenten. In: TORSTEN SVENSSON ET AL. (Hg.): Spaden och pennan. Ny humanistisk forskning i andan av Erik B. Lundberg och Bengt G. Söderberg, Stockholm 2009, 99–118.
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Abb. 2: Kirche und Straße: Luftaufnahme der Kirche in Sproge mit unbefestigtem Weg
So ist – um ein Beispiel zu nennen – bei der Analyse von Straßenverläufen jener Ausbau des Straßensystems zu beachten, der im Auftrag des Landeshauptmanns Sacken am Ende des 17. Jahrhunderts stattfand6. Nähert man sich mit diesem quellenkritischen Bewusstsein dem Themenfeld vormoderner Straßen, so ist in einer umfassenden kontextuellen Analyse ein sehr breites kulturgeschichtliches Erkenntnisspektrum zu erwarten, das über Feststellungen zur Konstruktionsweise einzelner Wege weit hinausreichen kann7. Für Gotland beispielsweise ist die Einteilung in Sokn – in Verwaltungseinheiten vergleichbar etwa mit Pfarreien – vor dem Hintergrund auftretender Besteuerungsbestrebungen erklärt worden8. Dem Ziel einer Besteuerung einzelner Kircheneinheiten musste die klare Festlegung von administrativen Grenzen (und den innerhalb der Grenzen geltenden Befugnissen) einhergehen. Bemerkenswert ist dabei die funktionale Bezugnahme, die immer wieder zwischen Grenzwällen – postglazial abgelagerten Strandwällen (1– 3 m hoch) – und Wegeverläufen feststellbar ist. Ivar Moberg hat in seiner Studie „Gotland um das Jahr 1700“ darauf aufmerksam gemacht, dass Grenzwälle als Unterlage für Wege benutzt wurden – was sowohl konstruktionstechnisch als auch 6 7
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IVAR MOBERG: Gotland um das Jahr 1700. Eine Kulturgeographische Kartenanalyse. In: Geografiska Annaler 20 (1938), 3–112, hier 65. Vgl. etwa: DIETRICH DENECKE: Funktionale Bezüge von Verkehrsnetzen, Linienführungen und Wegetrassen in vorindustrieller Zeit. Ein systematischer Überblick. In: THOMAS FISCHER, HEINZ GÜNTER HORN (Hg.): Straßen von der Frühgeschichte bis in die Moderne. Verkehrswege – Kulturträger – Lebensraum (= Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die Antiken Kulturen des Mittelmeerraumes 10), Wiesbaden 2013, 169–216; DERS.: Straße und Weg im Mittelalter als Lebensraum und Vermittler zwischen entfernten Orten. In: BERND HERRMANN (Hg.): Mensch und Umwelt im Mittelalter, Frankfurt am Main 1986, 203–219. STEFAN BRINK: Sockenbildning och sockennamn. Studier i äldre territoriell indelning Norden (= Acta Academia Regiae Gustavi Adolphi 57), Uppsala 1990.
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rechtshistorisch interessant ist9. Auch die Praxis des Eintreibens von Steuern wiederum setzt eine gewisse Verkehrsinfrastruktur voraus, welche selbst – für Bauund Unterhaltsregelungen – sowohl auf die Festsetzung administrativer Bezirke als auch auf den Konsens zu persönlichen wie öffentlichen Rechten im Sinne von Pflichten und Privilegien des Einzelnen angewiesen blieb. Letztere bestimmten auch die Möglichkeiten menschlicher Mobilität, etwa wenn ein Weg nicht mitten durch das Getreidefeld eines anderen führen durfte. Selbst blieben sie jedoch an kulturell spezifische Normen gebunden, etwa das Verbot, an hohen christlichen Feiertagen oder Sonntagen einen zweispännigen Ochsenwagen mit mehr als ein lispound (5,4 bis 15,4 kg) Ladung auf öffentlicher Straße zu führen10. Dieses untrennbare Miteinander von Mensch und infrastrukturellem Ausbau bietet gerade für die Erforschung verkehrshistorischer Fragestellungen in der Vormoderne den entscheidenden Vorteil, dass durch die Menschen die Straßen und durch die Straßen die Menschen analysiert werden können. III. Reisende und Mobilität Wege und Straßen sind Dinge der Praxis und entstehen durch wiederholte Bewegung in bestimmte Richtungen – vor allem von Menschen, jedoch auch von Tieren. Besonders im Falle von Viehtrieben haben natürlich ebenso Tiere tiefgreifende Spuren ihrer Wanderschaft hinterlassen. Für Gotland lassen sich sehr verschiedene Menschen fassen, die Wege – dies darf angenommen werden – mit sehr unterschiedlichen Intentionen, mit unterschiedlicher technischer Ausstattung sowie mit unterschiedlichem räumlichen Bewegungsradius und mit wechselnder Häufigkeit benutzten. Je nachdem haben die Straßennutzer mehr oder weniger Spuren hinterlassen11, beispielsweise in Form von Pilgerwegen oder Transportstraßen12. In theoretischen Vorüberlegungen lassen sich dabei verschiedene Formen der Wegenutzung unterscheiden: 1. Permanente Wegnutzung durch Alltagsmobilität, etwa Handel, Arbeitswege, Ortsverbindungen, Kirchenbesuch etc.; 2. Saisonale Wegenutzung, wie beispielsweise Winter- und Sommerwege oder landwirtschaftliche Nutzstraßen; 3. Situative Wegenutzung, etwa in Form von Prozessionen,
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MOBERG: Gotland (wie Anm. 6), 65; N. FRIBERG hat berechnet, dass etwa 20 % von der Länge der Hauptwege auf Gotland auf Strandwällen angelegt sind (Sveriges vägar, Unv. Diss. 1938). Vgl. für den kulturgeschichtlichen Aspekt der Grenze auch: CHRISTER WESTERDAHL: Holy, profane and political. Territoriality-extraterritoriality. A problem with borders. Some notes and reflections. In: GÖRAN BÄÄRNHIELM, FOLKE SANDGREN, ANDERS BURIUS BÄÄRNHIELM (Hg.): Accurata descriptio. Studier i kartografi, numismatik, orientalistik och biblioteksväsen tillägnade Ulla Ehrensvärd, Stockholm 2002, 467–495. 10 CHRISTINE PEEL: Guta Lag. The Law of the Gotlanders, London 2009, 10. 11 NORBERT OHLER: The Medieval Traveller, Woodbridge 1989. 12 LARS ANDERSSON: Pilgrimsmärken och vallfart. Medeltida pilgrimskultur i Skandinavien (= Lund Studies in Medieval Archaeology 7), Kumla 1989, u. a. 25.
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Gerichtsversammlungen oder Pilgerreisen13; 4. Restringierte Wegnutzung, durch rechtliche Einschränkungen, Landfrieden und Feiertage. Dabei blieb immer auch die Struktur der Gesellschaft prägend für die Struktur der Straßen. So lassen sich die Unterschiede zwischen einer bäuerlich-agrarischen und einer auf Handel basierenden Gesellschaft anhand der in ihr entstehenden Kulturlandschaft erkennen. Schon Jörgensen wies beispielsweise für Dänemark nach, dass mit den ersten steinernen Wegen auch der Import stieg14. Der Handel war wiederum auf ein verlässliches Straßennetz angewiesen. Darauf verweisen englische Schriftquellen aus dem 13. Jahrhundert, nach denen reiche Händler auch wichtige Kostenträger beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur gewesen sind15. Für Gotland als Insel des Handels sind entsprechende Finanzierungsstrategien ebenso seit der Wikingerzeit anzunehmen. Die Finanzierung von Einrichtungen des öffentlichen Raumes funktioniert hier – in Analogie etwa zu den Kirchenbauten der Insel – durch ein für den Stifter profitables Kosten-Nutzen-Verhältnis: etwa durch Zunahme der Handelseinnahmen, aber auch durch die Steigerung seiner Anerkennung innerhalb der Gemeinschaft16. Dass persönliche Beiträge zur Verkehrsinfrastruktur gesellschaftlichen Ruhm zur Folge haben konnten, ist durch die Errichtung von Runensteinen bis heute dokumentiert. Diese Steine nennen Personen, die Straßen oder Brücken errichtet haben, wodurch sie ihre Taten für andere Reisende memorierbar machten17. Durch die Investition in Straßenbauten – die häufig mit dem Aufstellen von „Gedenksteinen“ einhergingen – bildeten sich öffentliche 13 Vgl. hierzu: ANU MÄND: Avenues of approach. The street as ceremonial space in late medieval Livonian festival. In: GERHARD JARITZ (Hg.): Die Straße. Zur Funktion und Perzeption öffentlichen Raums im späten Mittelalter, Wien 2001, 167–182. 14 MOGENS SCHOU JØRGENSEN: Vej, vejstrøg og vejspærring. Jernalderens landfærdsel. In: PEDER MORTENSEN, BIRGIT M. RASMUSSEN (Hg.): Jernalderens stammesamfund. Fra stamme til stat i Danmark (= Jysk arkaeologisk selskabs skrifter 22,1), Århus 1988, 101–116; DERS.: Oldtidens veje i Danmark. Nogle aspekter af en forhistoriske landfærdsel. In: Braut. Nordiske Vejhistoriske Studier 1 (1996), 37–62. Vgl. auch: MARION UCKELMANN: Land Transport in the Bronze Age. In: HARRY FOKKENS, ANTHONY HARDING (Hg.): The Oxford Handbook of the European Bronze Age, Oxford 2013, 398–413. 15 Vgl. auch ebenda, 405. 16 Belege für die unter ganz verschiedenen Blickwinkeln (kulturell, sozial, symbolisch) profitable Stiftungstätigkeit an Straßen, Wegen oder Brücken lassen sich noch heute anhand von Runensteinen ablesen; diese kulturräumlichen Artefakte weisen die Stiftungstätigkeit für verkehrstechnische Infrastruktur als soziale wie symbolische Auszeichnung für den jeweiligen Stifter aus. Aus wirtschaftshistorischer Perspektive hat Anne McCants Straßen-, Brückenund Kanal-Konstruktionen in sozio-ökonomischer Perspektivierung in einem solchen Zusammenhang beschrieben, weil diese eine öffentliche Funktion als soziale Investition erfüllen. Vgl. dazu: ANNE MCCANTS: Financing Public Goods and Social Overhead Capital: Some Historical Lessons. In: DIES. et al. (Hg.): Railroads in Historical Context: Construction, Costs, and Consequences, vol. I, Porto 2011, 357–370, hier 361–365. 17 Zur Bedeutung von Brücken in der Vormoderne vgl. u. a. DAVID HARRISON: The Bridges of Medieval England. Transport and Society 400–1800, New York 2004; MARTIN COOK: Medieval Bridges (= Shire Archaeology 77), Aylesbury 1998; ebenso: HEINRICH BECK: Brücke. In: HEINRICH BECK ET AL. (Hg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Berlin 1978, 558–560.
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Wege aus, die gemeinschaftlich genutzt werden konnten und denen kulturell bedingte Wahrnehmungskonventionen und Bedeutungen eingeschrieben sind. Kulturräumliche Infrastruktur – wie Wege, Kirchen, Städte oder Häfen – kann dabei als gesellschaftliche Konfigurationen analysiert werden18. IV. Die Quellen zu Straßen in der Vormoderne Welche Quellen lassen sich für eine Untersuchung von Verkehrsinfrastruktur heranziehen? Im Idealfall haben sich zunächst Sachquellen, also die eigentliche Infrastruktur, ganz oder in Teilen erhalten. Dabei spielen archäologische Quellen eine entscheidende Rolle für die Frage nach der Lokalisierung und der Konstruktion von Wegen sowie für die Erkenntnis von Transporttechnik. Problematisch ist dabei, dass die Quellengruppe der Straßen meist nicht datiert werden kann. Dies gilt sowohl methodisch als auch gattungsspezifisch. Dies meint, dass Straßen per se, solange sie in Gebrauch sind, ständig erneuert werden und sich daher kaum ein einheitliches Datum für das Erstellen einer Straße wird finden lassen. Straßen sind somit konzeptionell nur als ein materieller Prozess – als ein kaum statisch zu erfassendes Artefakt – beschreibbar. Selbst wenn sich gemäß archäologischen Methoden Fund- und Befundmaterial, wie etwa datierende Münzen oder eindeutige stratigraphische Zusammenhänge, nachweisen lassen, ist daher kaum eine Erkenntnis über die gesamte Straße zu entnehmen; möglicherweise handelt es sich um eine lokale Ausbesserung einer sehr viel älteren Konstruktion. Der Masse an archäologischen Aufschlüssen zu einzelnen Wegepunkten stehen also Unsicherheiten zu Zeitstellung und Verwendungsdauer der physischen Verkehrsführung gegenüber19. Ergänzend sind kartographische Quellen einzubeziehen, die für Gotland jedoch meist erst ab dem 17. Jahrhundert einsetzen und für eine Rekonstruktion von mittelalterlichen Wegen und Straßenführungen nur bedingt aussagefähig sind20. In ähnlichen Zusammenhängen wurde die Bedeutung eines funktionierenden Verkehrsnetzes mit Herrschaftssicherung und Christianisierungsprozessen in Verbindung gebracht21. Auch Siedlungsnamen oder Geländenamen können Auskunft über Verkehrsknotenpunkte geben, die so wichtig waren, dass sie sich nicht nur im kulturellen Gedächtnis ihrer Zeit, sondern auch im kartographischen Wis18 Dabei könnte man von materieller und sozialer Infrastruktur sprechen. Vgl. hierzu: HERMANN KNOFLACHER: Straßenkultur/Kulturstraße oder wem gehört die Straße? In: THOMAS FISCHER, HEINZ GÜNTER HORN (Hg.): Straßen von der Frühgeschichte bis in die Moderne. Verkehrswege – Kulturträger – Lebensraum (= Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die Antiken Kulturen des Mittelmeerraumes 10), Wiesbaden 2013, 297–316. 19 Vgl. hierzu: RAINER SCHREG: Handel und Verkehr. In: DERS. et. al. (Hg.): Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Grundwissen, Darmstadt 2016, 244–249, 248. 20 Vgl. hierzu: SVEDJEMO: Landscape Dynamics (wie Anm. 4), 227. 21 CHRISTER WESTERDAHL: Statsbildningsprocess och medeltida transportstrukturer. In: LEIF GRUNDBERG, PIA Nykvist (Hg.): En norrlandsbygd möter omvärlden (= Styresholmsprojektets skrifter 3), Härnösand 1994, 145–160; ebenso: KNOFLACHER: Straßenkultur (wie Anm. 18), 303.
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sen nachfolgender Generationen eingeschrieben haben (Brücken, Galgenplätze, Flur- und Gewannnamen etc.). Auf Gotland existieren beispielsweise mehrere Orte, deren Siedlungsbezeichnung auf das frühe Vorhandensein einer Brücke („Bro“) und damit letztlich auf die Bedeutung dieser Einrichtungen für die Verkehrsführung hinweisen22. Schließlich sind Schriftquellen anzuführen. Bei Reisebeschreibungen werden Straßen häufig erwähnt, wenngleich selten die kulturelle Funktion und technische Konstruktion der Straße Erwähnung findet23. Rechtstexte, wie beispielsweise die schwedischen Landrechte, dagegen geben Aufschluss über rechtliche Aspekte der Bau- und Verkehrsregelung24. Für Skandinavien können auch jene Runenzeugnisse einbezogen werden, die Belege für Straßen- bzw. Brückenbau sowie konkrete Hinweise zu ihrer Aufstellung führen. Diese breite Quellenbasis ist grundlegend, will man sich der Bedeutung von Straßen und Wegen in der Vormoderne annähern. IV.1. Archäologische Quellen Der archäologische Beitrag zu einem Erkenntnisgewinn vormoderner Verkehrsinfrastruktur vollzieht sich auf zwei Ebenen. Zunächst sind die Aufschlüsse punktuell, meistens nicht genauer zeitlich differenzierbar. Sie liefern jedoch sehr konkrete Anhaltspunkte für die Konstruktionsweisen von Straßensystemen sowie die Technologisierung des Verkehrssystems25. Hier ist etwa an Funde zu Wagenkonstruktionen oder Rädern zu denken26. Zudem hat sich die Archäologie im Zuge ihres prospektierenden Zugriffs sowie aufgrund von quantitativer Quellenerhebung in jüngerer Zeit der Landschaft als Forschungsobjekt angenommen27. Übergeordnete Fragestellungen zur Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur sind hier ebenso möglich wie die Rekonstruktion von Handelsnetzwerken und der Konstruktionsweise spezifischer historischer Straßenabschnitte. In Skandinavien sind in den vergangenen Jahrzehnten Funde und Befunde gesammelt worden, die einen Überblick über das Straßennetz, über Konstruktionsweisen und über kulturland22 Dies sind die Orte Bro u. a.; vgl. hierzu: TORSTEN DAUN: Gotländiska broar. Dolda underverk, Gotland 2014, 22–34. 23 Zu Reisebeschreibungen generell vgl.: HERBERT SCHWARZWÄLDER, INGE SCHWARZWÄLDER: Reisen und Reisende in Nordwestdeutschland 1: Bis 1620 (= Quellen und Untersuchungen zur allgemeinen Geschichte Niedersachsens in der Neuzeit 7), Hildesheim 1987; für Gotland sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Carl von Linné zu seiner Gotlandreise im Jahr 1741 sehr detailliert wiedergegeben. Eine Erklärung hierfür ist, dass Linnés Ziel die Naturbeobachtung gewesen ist. 24 DIETER STRAUCH: Mittelalterliches nordisches Recht bis 1500. Eine Quellenkunde (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 73), Berlin 2011, 535. 25 BRIAN PAUL HINDLE: Medieval Roads (= Shire Archaeology 26), Aylesbury 1982; STEFAN BRINK: Forntida vägar. Vägar och vägmiljöer. In: Bebyggelsehistorisk tidskrift 39 (2000), 23–64. 26 HAJO HAYEN: Räder und Wagenteile aus nordwestdeutsche Mooren. In: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 42 (1973), 129–176. 27 PETER HAUPT: Landschaftsarchäologie. Eine Einführung, Darmstadt 2012.
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schaftliche Einbindung erlauben28. Auch für Gotland lassen sich verschiedene Konstruktionen von Verkehrswegen archäologisch oder noch im Bestand fassen. Die Datenbank Fornsök der nationalen Denkmalinstitution (Riksantikvarieämbetet) umfasst allein für Gotland 490 Einträge zu archäologisch dokumentierten Straßen, Wegen und Wegesystemen29. Die so beschreibbaren Straßen sind zwar zeitlich kaum auszudifferenzieren, lassen sich aber durchaus nach Konstruktionsweisen unterscheiden. Einfachste Wege, die kaum fundamentiert und ohne aufwendige Bettung und Begrenzung ausgeführt wurden, sind im archäologischen Niederschlag kaum zu erwarten, obgleich sie sehr wahrscheinlich im ländlichen Bereich den größten Anteil des Verkehrsnetzes bildeten. Diese Wege waren teilweise nur saisonal nutzbare und mit einfachen Mitteln erstellte Verkehrsinfrastrukturen, die jährlich erneuert oder noch häufiger instand gesetzt werden mussten30. Besser fassbar sind dagegen aufwendigere, auf längeren zeitlichen Bestand hin ausgelegte technische Gebilde in Stein- und/oder Holzkonstruktionen. Welche Bedeutung die unterschiedlichen Konstruktionsweisen hatten, d. h. ob man davon verschiedene Funktionen ableiten kann, ist nicht klar. Im gotländischen Sokn Buttle wurden beispielsweise nach Ausweis der archäologischen Befunddokumentation sowohl hölzerne als auch steinerne Wege angelegt31. Die Konstruktionen unterscheiden sich nach Umfang, Konstruktion und Erhaltungsgrad. Lokalisiert man die archäologischen Fundstellen in historischen Karten, so könnten beide Befunde auf den Landweg hindeuten, der den südöstlichen Inselteil mit der Hansestadt Visby verband und eine wichtige regionale Verkehrsstraße für Handel mit Stein und agrarischen Produkten darstellte (Abb. 3)32. Bemerkenswert wären in diesem Fall die unterschiedlichen Konstruktionsweisen des Landweges, was sich möglicherweise durch unterschiedliche mit der Instandhaltung verpflichtete Personen erklären lassen würde. Dies wäre auffällig, denn es handelt sich um ein Gebiet innerhalb einer Pfarrei. Ebenso könnten die Wege gerade durch die Zielführung erklärbar werden, da unterschiedliche Kategorien von Zielen auch unterschiedliche Wege erklären könnten: Privatweg, halböffentlicher Weg, öffentlicher Weg, Kirchenweg usw. Auch die Ausstattung dieser Wege, beispielsweise mit
28 JØRGENSEN: Oldtidens veje (wie Anm. 14), 55. 29 Die Einträge der Datenbank sind zeitlich kaum differenziert und unterscheiden sich nach Ausmessungen, Konstruktion und Erhaltungsgraden, http://www.fmis.raa.se/cocoon/ fornsok/search.html [23. März 2017]. 30 Vgl. etwa: HAJO HAYEN: Bau und Funktion der hölzernen Moorwege. Einige Fakten und Folgerungen. In: HERBERT JANKUHN, ELSE EBEL (Hg.): Der Verkehr. Verkehrswege, Verkehrsmittel, Organisation (= Untersuchungen zu Handel und Verkehr vor- und frühgeschichtlicher Zeit in Mittel- und Nordeuropa 5), Göttingen 1989, 11–82.; ebenso: HAJO HAYEN: Zur Bautechnik und Typologie der vorgeschichtlichen, frühgeschichtlichen und mittelalterlichen hölzernen Moorwege und Moorstraßen. In: Oldenburger Jahrbuch 56 (1957), 83–190. 31 Eine steinerne Wegekonstruktion mit Fundamentierung wurde beispielsweise unter der RAÄnummer Buttle 130:3 (Objektnummer 10090501300001) in die Datenbank (Fornsök) aufgenommen. Die Wegeführung setzt sich aus zwei ca. 1 m breiten Fahrrinnen zusammen, die durch eine 0,5 m hohe Berandung eingefasst ist. 32 SVEDJEMO: Landscape Dynamics (wie Anm. 4), 129 und 141.
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Bildsteinen, könnte eine Unterscheidung nach Funktion und Nutzerkreis ermöglichen33. IV.2. Schriftquellen Eine weitere bedeutende Quellengattung für das Thema Straßen und Wege bildet die skandinavische Überlieferung an rechtshistorischen Quellen. Sie geben Aufschluss darüber, wie Verkehrssysteme rechtlich geregelt waren, wie Instandhaltungsmaßnahmen gehandhabt oder Rechtsbrüche geahndet wurden. Die Zunahme rechtshistorischer Belegstellen für Straßen- und Wegebau in Skandinavien im 13. und 14. Jahrhundert zeugen von der Bedeutung dieser Infrastruktur34. Dabei tritt Straßenbau zunächst als königliches Privileg auf, dessen sich jedoch ebenso auch andere Eliten (etwa Bischöfe) bemächtigten35; im Jahr 1350 setzte König Magnus Eriksson genaue Maße für Wege fest: Ein Königsweg sollte mindestens 10 Ellen breit sein. Ebenso regelten Landschaftsgesetze den Wegebau und gaben genaue Maße für unterschiedliche Wege vor36. Für Gotland sind jedoch weder Festlegungen für Spurbreiten überliefert – nur indirekt wird auf zweispurige Straßen verwiesen37 – noch ist eine adlige Elite feststellbar, die sich den Straßenbau als Privileg vorbehalten konnte38. Vielmehr waren es die Pfarrgemeinden und nichtadelige Gutsbesitzer, die den Straßenbau förderten und sich selbst möglicherweise dadurch eine gewisse soziale Stellung erschufen. Die Ausdifferenzierung verschiedener Straßen und Wege – beispielsweise nach Nutzerumfang und Zielführung – mag dabei auch ausschlaggebend für die Wahl der Bauunterhaltspflichtigen gewesen sein.
33 Vgl. hierzu: ALEXANDER ANDREEFF, VICTOR NIELS LOVE MELANDER, IMELDA BAKUNIC FRIDÉN: Arkeologisk undersökning vid bildstensplatsen Buttle Änge. Buttle Nygårds 1:28, Buttle Raä 42:1, 42:2, 137:1, 145:1 Buttle socken, 2009 & 2013 (= Arkeologisk rapport 97), Gotland 2014. 34 ANNETTE HOFF: Recht und Landschaft. Der Beitrag der Landschaftsrechte zum Verständnis der Landwirtschafts- und Landschaftsentwicklung in Dänemark ca. 900–1250 (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 54), Berlin 2008, 311 f.; ebenso: STRAUCH: Recht (wie Anm. 24). 35 Önundr konungr lét brjóta vegu um alla Svíþjóð, bæði um markir og mýrar og fjallvegu. Fyrir því var hann Braut-Önundr kallaðr (Ynglinga saga, 37). Übersetzung: ,König Qnundr ließ in ganz Svitjod Wege brechen, sowohl durch Wälder als auch Moore und durchs Gebirge; daher nannte man ihn Braut (=Weg)-Qnundr‘. Menschen, die aktiv zum Wegebau beitrugen, waren gesellschaftlich hoch angesehen (Beleg in Runeninschrift). D. h.: Nicht nur Ansehen führt zu Straßenbaupflicht, sondern auch Straßenbauinitiative führt zu hohem Ansehen. 36 HOFF: Recht und Landschaft (wie Anm. 34), 311 f. 37 So wird für die Neuanlage von Wegen zu einem Privatgrundstück in manchen Fällen gefordert, dass diese sowohl für die Hin- wie die Rückführung gleich gut ausgeführt werden müssen. Vgl. PEEL: Guta Lag (wie Anm. 10), 148. 38 Zur Sozialstruktur Gotlands vgl.: NY BJÖRN GUSTAFSSON: Casting Identities in Central Seclusion Aspects of non-ferrous Metalworking and Society on Gotland in the Early Medieval Period, Stockholm 2013, 36; ebenso: HUGO IRWING: Gotlands Medeltid, Visby 1978.
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Abb. 3: Karte Buttle (GM 1700; LSA, Ha 14-1:1), 1752 von Gustaf Regnell. Die Karte erfasst Siedlungen, Höfe, landwirtschaftliche Nutzflächen und Straßen.
Für Gotland hat sich das Guta Lag, die Rechtsprechung aus der Mitte des 13. Jahrhundert, in einer Abschrift des 14. Jahrhunderts teilweise erhalten39. Aus dem dort vorangestellten Inhaltsverzeichnis geht hervor, dass ursprünglich Kapitel zum Wegerecht, zum Wegebau, zur Instandhaltung sowie zu Straßen beinhaltet waren. Diese sind im Textbestand jedoch nur teilweise erhalten geblieben40. Die gotländische Rechtsprechung weist dabei einige Besonderheiten auf: Zunächst wird in den Quellen nicht zwischen Straßen und Wegen (d. h. nach Maßen oder Konstruktion und Aufwand) unterschieden. Viel eher scheint der rechtliche Status – beispielsweise in räumlicher Verbindung zu umliegenden Grundstücken – ausschlaggebend bei der Namensgebung gewesen zu sein. Darauf verweisen Begriffe wie talaut (Weideland) oder kväiar (ein schmaler Pfad, ein Weg oder eine Straße zwischen zwei Grenzzäunen)41. Einzig die Begriffe gangr und gata können teilweise auf unterschiedliche Benutzer – Tiere und Menschen – verweisen. Doch auch hier
39 Es handelt sich um das gotländische Gesetzbuch aus der Mitte des 13. Jahrhunderts; vgl. PEEL: Guta Lag (wie Anm. 10), 36. 40 Zur Instandhaltung heißt es in Paragraph 52: „Concerning road repair: It is also agreed that roads shall be made good every year in all parishes. Every parish which does not make good its roads is to pay a fine of three marks to the assembly“. Zitiert nach ebenda, 53. 41 Ebenda, 140.
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ist letztlich ebenso der Rechtsstatus eines Weges als konstitutiv impliziert42. Prinzipiell scheinen Wege, zumindest nach Ausweis der Rechtsquellen, weniger als materielle Einheiten wahrgenommen, sondern eher als Ausdruck eines bestimmten Rechts (Wegerechts) verstanden worden zu sein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das mündlich tradierte Jedermannsrecht, das die gemeinschaftliche Nutzung von öffentlichen, aber auch privaten Wegen regelte43. Ein Hauptverweis zu Wegen findet sich im Guta Lag daher unter jenem Kapitel, das weniger die Straße selbst und stattdessen viel eher das Begehungsrecht beschreibt. Hier wird etwa das Recht jedes Gotländers (und jeder Gotländerin) auf Zugang zum Weg geregelt, selbst wenn hierzu ein privates Grundstück durchgangen werden musste. Der Weg wird dabei nur unter dem Aspekt des „Right of Way“, als Wegerecht gefasst. Der Weg ist hier ein spezieller Rechtsraum, der über den Rechtsstatus der Wegbenutzung definiert zu sein scheint. Die hier aufscheinenden Rechte der Gotländer an Teilhabe des öffentlichen Raumes Straße waren jedoch nicht ohne Pflichten zu erhalten. So verblieb auch die Instandhaltung von Straßen eine öffentliche, kommunale Angelegenheit. Im Guta Lag heißt es nur kurz, dass in jeder Pfarrei die Straßen jährlich instand zu halten seien44. Im Falle des Ausbleibens solcher Maßnahmen war die Pfarrei als Gemeinschaft haftbar zu machen. Grund dieser Regelung war das Aufrechterhalten einer Infrastruktur in jeder einzelnen Pfarrzelle, was letztlich die flächendeckende Infrastrukturierung der Insel sicherstellte. Gleichwohl waren es sicher einzelne Personen, möglicherweise die Anlieger, die Straßenzüge instand zu halten hatten. V. Straßen und Infrastruktur Ein Großteil des gotländischen Verkehrssystems – die nicht ständig oder nur von einer kleinen Personengruppe genutzten Pfade (Verkehrsverbindungen) – ist jedoch kaum nachweisbar, weder durch archäologische noch durch historische Quellen. Das Thema Mobilität lässt sich daher kaum nur auf Basis von Straßenbeschreibungen und Straßenbefunden erörtern. Eine breite Quellenbasis verweist zudem auf den hohen Grad an geographischer Mobilität der vormodernen gotländischen Landbevölkerung (Abb. 4). Theoretische Überlegungen zu Straßen als kulturellem Phänomen und gesellschaftsstiftender Aufgabe müssen angestellt werden. Wege und Straßen waren dabei nicht nur in ein Netz sozialer Relationen gebunden, sondern gleichfalls in die Landschaft, den Natur- wie Kulturraum einbezogen. Bereits Carl von Linné kam nicht umhin, im Zuge seiner Reisebeschreibung mit den detaillierten Erwähnungen zum Straßenbau und Wegeverlauf 42 Diese Begriffe für Weg und Straße werden teilweise synonym verwendet. Teilweise meint ersteres aber auch einen Viehweg, während zweiteres einen breiten Weg für Wagen meint. Vgl. PEEL: Guta Lag (wie Anm. 10), 148. 43 STRAUCH: Recht (wie Anm. 24), 612–614; vgl. auch: HOFF: Recht und Landschaft (wie Anm. 34), 230. 44 PEEL: Guta Lag (wie Anm. 10), 53.
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auch jene Objekte anzufügen, die ihm entlang des Weges begegneten. Dass der belesene und eigentlich auf biologische Erkundung fokusierte Reisende dabei verschiedenste Elemente der Kulturlandschaft beschrieb, zeigt die räumlichen wie funktionalen Kontexte auf, die für ein Verständnis vormoderner Straßennutzung und Verkehrsführung unerlässlich sind. Neben den Kirchen, die er meist als Zentralorte und Raststationen im Routenverlauf behandelte, nannte er auch Plätze, Zäune, Brücken, Runen- und Bildsteine sowie Gräber. Es bleibt beachtenswert, dass man sich der gesellschaftlichen wie kulturellen Funktion von Straßen als Teil der Kulturlandschaft nur über diesen breiten Ansatz wird nähern können.
Abb. 4: Hellvi, Chornordwand, Epitaph des Lars Mattsson Hammel (1608–1671), 17. und 18. Jahrhundert. Als Ratsmitglied legte Hammel über 40 km zwischen seinem Haus in Hellvi und der Stadt in Visby zurück.
Gotlands Landschaft ist dabei als komplexe Infrastruktur zu verstehen, die aus verschiedenen räumlichen, funktionalen und sozialen Konfiguration zusammengesetzt ist. Diese kulturräumliche Infrastruktur unterliegt zudem einem zeitlichen Wandel. Eine Karte von 1763 verzeichnet beispielsweise die Neustrukturierung der Kulturlandschaft durch die aufkommende Militarisierung der Insel im 18. Jahrhundert (Abb. 5)45.
45 Seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde vermehrt schwedisches Militär auf Gotland stationiert.
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Die beigegebene Legende verzeichnet daher vor allem militärische Elemente einer Infrastruktur wie Alarmplätze, Schanzen oder straßengebundene Befestigungsanlagen, aber auch Kalköfen. Der Einbezug der Straßen in den militärischen Ausbau der Landschaft bezeugt, dass man die Straßen idealerweise gerade im Kontext ihrer zeitspezifischen Ausstattung betrachten sollte. Eine solche Kontextualisierung von Straßen ermöglichen ebenso einige Bild- und Runensteine, die entweder explizit den Straßen- oder Brückenbau nennen oder gesichert an Straßen gesetzt waren46. Gotland ist vor allem für seine Bildsteine bekannt. Im Socken Buttle haben sich zwei Bildsteine (RAÄ Buttle 42:1 and 42:2.) am originalen Standort erhalten (Abb. 6)47.
Abb. 5: Geo-Hydrograhisk Charta öfwer Provincien Gothland, Karte von 1763. Gezeigt sind die Straßenverläufe sowie Kirchen, Kalköfen und Einrichtungen des Kriegswesens.
Diese Bildsteine des Typs C (8./9. Jahrhundert) waren nicht nur im räumlichen Zusammenhang eines Gräberfeldes mit Brandbestattungen platziert, sondern sind auch direkt an eine der ältesten Verkehrsverbindungen zwischen Lojsta, Etelhem und Buttle gestellt worden. Die mögliche Funktion der Steine im Kontext einer Straßennutzung lässt bereits aus der Größe der Bildsteine schließen. Denn mit über 3,85 m Höhe waren die pilzförmigen Bildsteine bereits von der Ferne sichtbar und dienten möglicherweise zur Orientierung innerhalb der Landschaft und zur Markierung der Kulturlandschaft. Auch Runensteine sind als Memorialmonumente immer auf einen Betrachter angewiesen und demnach ver46 Vgl. hierzu: GABRIEL B. N. NORBURG: „In 100 meters turn left by the runestone“ – A least cost path and spatial statistics study of the Scanian runestones in relation to Viking Age infrastructure, Masters thesis in Archaeology, Lund University 2013. 47 ANDREEFF, MELANDER, FRIDÉN: Arkeologisk undersökning (wie Anm. 33), 11.
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kehrsgünstig gelegen. Gleichwohl sind nicht alle Runensteine automatisch als Straßenmonumente zu kategorisieren48. Um einen konkreten Zusammenhang von Runensteinen und Verkehrsinfrastruktur nachweisen zu können, bedarf es direkter Verweise auf dem Quellenmaterial selbst. Der Runenstein von Hogrän (G203) auf Gotland beispielsweise lässt aufgrund seiner Inschrift eine Kontextualisierung in Verkehrsinfrastruktur zu (Abb. 7). Hier liest man: ̦Sigmundr errichtete den Stein nach seinen Brüdern und machte die Brücke nach Sigbjörn. Möge St. Michael seiner Seele helfen. Und nach Bótreifr und nach Sigreifr und nach Eibjörn, Vater von ihnen allen. Und er lebte auf dem südlichsten Hof. Geirviðr legte das Schlangenband, Næmr führte aus.‘ B: ‚Sigmundr findet Gefallen an einem solchen kumbl.‘ C: ‚Den Männern dies ist bekannt... Hier möge der Stein stehen als merki, leuchtend auf der Anhöhe und die Brücke davor.‘ D: ‚Hröðbjörn ritzte diese Runen, Geirleifr einige, die er vollkommen kannʻ49.
Abb. 6: Bildsteine in Buttle (RAÄ Buttle 42:1 und 42:2), Maße: 3,85 m hoch und 1,85 m breit (Buttle 42:1) sowie 2 m hoch und 1,67 m breit (Buttle 42:2). Diese waren ursprünglich mit gut lesbaren Bildern versehen und direkt an einem wichtigen Verkehrsweg plaziert. Aufgrund ihrer Größe konnten sie dabei als Wegmarke und Orientierungspunkt dienen.
Der Inhalt der Inschrift ist bemerkenswert: Zunächst lässt sich aus dem Runenstein die gesellschaftliche Bedeutung von Straßen- und Brückenbau erahnen, da 48 LYDIA KLOS: Runes in context. Rune stones and roads. In: Preprint to The 7th International Symposium on Runes and Runic Inscriptions, Oslo 2010, 1. 49 LYDIA KLOS: Runensteine in Schweden. Studien zu Aufstellungsort und Funktion (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 64), Berlin 2009, 151 f.
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Sigmundr als Brückenbauer memoriert werden sollte. Zudem wird ersichtlich, dass die Brücke im Andenken an Sigbjörn errichtet wurde. Die Brücke selbst scheint also auch ein Memorialmonument zu sein. Die Bedeutung gewinnt der Stein auch auf Grund seiner Platzierung als Teil einer auf Kommunikation ausgelegten Infrastruktur. Inschriftlich wird der Standort des Runensteins auf der Anhöhe und die Brücke davor belegt. Runenstein und Brücke bilden hier ein Ensemble und zugleich einen räumlichen Marker für die Memoria. Dieses Phänomen hat Lydia Klos für ganz Schweden untersucht. Sie kommt zu folgendem Ergebnis: Das Substantiv brú tritt mindestens in 129 Inschriften auf. Die Übersetzung im Kontext der Runeninschriften ist ‚Brücke‘50. Insgesamt wurden in schwedischen Runeninschriften 20 unterschiedliche Wörter nachgewiesen, die weitere Denkmäler neben dem Runenstein selbst bezeichnen. Unter anderem finden sich ‚Anhöhe‘, ‚Weg‘, ‚Brücke‘, ‚Hof‘, ‚gepflasterte Steinbrücke‘, ‚Kirche‘, ‚Grenze‘, ‚erblicher Grundbesitz‘ und ‚Thing‘. Diese 20 Wörter verteilen sich auf 301 Runeninschriften. In 11 % aller Runeninschriften werden also andere Denkmäler erwähnt, die sich in vielen Fällen auf den Standort des Runensteins beziehen51.
Abb. 7: Runenstein von Hogrän G203 (Gotland)
50 Die Belege stammen aus den Landschaften Gotland (2), Hälsingland (1), Jämtland (1), Öland (1), Östergötland (8), Skåne (1), Småland (10), Södermanland (16), Uppland (78), Västergötland (7) und Västmanland (4). Vgl. hierzu: ebenda 156–160. 51 KLOS: Runes (wie Anm. 48), 119.
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VI. Straße und gesellschaftlicher Raum – Ein Analyseinstrument? Raum und räumliche Zuschreibungen sind Grundkategorien menschlicher Strukturierungsleistungen. Derart ausgeprägte oder formulierte räumliche Zusammenhänge können sich nicht nur gesellschaftlich wie architektonisch niederschlagen, sondern treten dabei als Soziofakte und Artefakte in wechselseitige Beziehungen zueinander52. Im Falle des Straßenbaus etwa ist – in der hier vorgestellten Perspektivierung – dem materiellen Niederschlag einer Verkehrsinfrastruktur immer auch eine soziale Ebene inhärent. Der materielle Aufwand von Seiten der Gemeinschaft, die sich um den Bau sowie den Bauunterhalt solcher Straßennetze verantwortlich zeichnet, produziert nicht nur einen physischen Kulturraum, sondern lässt gleichsam immaterielle Rechts-, Memorial- oder Repräsentationsräume entstehen. Die Stiftungstätigkeit folgt dabei meist einem Bündel mehrerer Intentionen gleichzeitig, ist also beispielsweise auf die Förderung des Handels, die Aufrechterhaltung der Mobilität in Sphären des alltäglichen wie des religiösen Gebrauchs oder auf die Etablierung einer eigenen Memoria durch Runensteine oder Brückenbauten ausgelegt. In diesen Fällen kann die raumbildende anthropologische Praxis, die sich materiell als Straße niederschlägt, selbst zur Ressource werden. Sie ermöglicht Formen der symbolischen Kommunikation und bildet auf diese Weise soziale Beziehungen und Identitäten aus, kontrolliert diese oder verstetigt sie sogar53. Eine Straße als Soziofakt ist dabei in ihrer Materialität niemals eindimensional. Denn die an Straßen gebundenen sozialen wie kulturellen Praktiken vermögen es, situative und ephemere Handlungs- und Funktionsräume zu erzeugen. So ist eine Handelsstraße möglicherweise zu bestimmten christlichen Hochfesten als Ort von Prozessionen konfiguriert, der zumindest die reguläre Nutzung, etwa im Zuge von landwirtschaftlichem Transport, zeitweise außer Kraft setzt. Gerade Straßen und die mit ihnen verbundenen Elemente einer kulturräumlichen Infrastruktur eignen sich in besonderem Maße dazu, Überlegungen zur Entwicklung von und Aushandlung zum öffentlichen Raum anzustellen. Das Themenfeld ist deshalb interessant, da sich dabei verschiedene Artefaktgruppen und kulturräumliche Infrastrukturen als zueinander anschlussfähig zeigen: Beispielsweise öffentliche Bauprojekte wie Richtplätze, Kirchen, Kanalbauten, Brücken und Straßen. Grundlegende Erkenntnisse zur gesellschaftlichen Konzeption öffentlicher Räume und den damit verbundenen sozialen Dynamiken sind jedoch auf einer generellen Ebene ebenso für die Straßen anzumerken54. Die skandinavischen Landschaftsrechte beispielsweise kennen das Wegerecht. Darin wird ausge52 Unter dem Begriff des Soziofaktes wird dezidiert die soziale Implikation in der Materialisierung menschlichen Handelns verstanden. Straßen, Kirchen, Kulturlandschaften oder auch Stadträume sind in diesem Zusammenhang als Ergebnis und als Katalysator für soziale Praktiken zu verstehen. Dabei wird zum einen das Phänomen der sozialen Bedingtheit und gesellschaftlichen Konstruktionsleistung materieller Kultur beschrieben sowie zum anderen die reziproken Einflüsse benannt, die zwischen Artefakten und sozialem Wandel bestehen. 53 HEIKE DELITZ: Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt a.M. 2010, 11. 54 Vgl. hierzu: KNOFLACHER: Straßenkultur (wie Anm. 18), 302 f.
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führt, dass selbst das Begehen privater Grundstücke legitim ist, letztlich um das Erreichen des öffentlichen Rechtsraumes der Straße zu ermöglichen. Je nach Stiftungs- und Unterhaltszusammenhang können Straßen als öffentliches Gut beschrieben werden, das grundlegend für die Gemeinschaftsbildung konstitutiv ist: „Die Investition in diesen öffentlichen Raum erzeugte Werte, die sich die Gesellschaft – müsste man diese mit Geld bezahlen – damals niemals hätte leisten können“55. Derartige gemeinschaftliche bzw. kommunale Bauprojekte führen zu Identitätsstiftung und sozialer Regulierung: In ihnen liegt ein eigener Wert für die Gemeinschaft. In diesem Aspekt sind Stiftungen für Kirchen und Baukostenübernahmen für Straßen vergleichbar. Auch ließe sich zudem die Frage stellen, ob besonders große Kirchen etwa an besonders wichtigen Straßen entstanden sind oder ob erst der Zentralort zum Ausbau des Verkehrsnetzes geführt hat. Für die Analyse kommunaler Investitionsprojekte als kollektive und damit gemeinschaftsstiftende oder gesellschaftliche Dynamiken auslösende soziale Praxis lassen sich Straßen ebenso analysieren wie Gebäude oder öffentliche Einrichtungen. Im Gegensatz zum Kirchenbau steht für Straßen eine nahezu grenzenlose Quellenbasis zur Verfügung, sofern archäologische Untersuchungen vorgenommen werden können. Aufgrund ihrer hohen Relevanz für alltägliche wie außeralltägliche und private wie öffentliche Praktiken der Gesellschaft wurden Straßen zudem als wichtiges Element in Rechtsquellen abgehandelt. Eine breite Quellenbasis ermöglicht die Untersuchung von vormodernen Verkehrsinfrastrukturen als Spiegel technischer Fähigkeiten, als Ergebnis gesellschaftlicher Bewertungen, als materielle Hinterlassenschaft gesellschaftlicher Strukturen, als Resultat gemeinschaftlicher Ordnungspraxis, als öffentlicher Raum, als Stiftungswerk, als Rechtssymbol, als räumliche, funktionale und soziale Konfiguration sowie als materielle wie soziale Ressource. Diese semantische Vielschichtigkeit sowie das untrennbare Miteinander von Mensch und infrastrukturellem Ausbau bieten gerade für die Erforschung verkehrshistorischer Fragestellungen in der Vormoderne den entscheidenden Vorteil, dass durch die Menschen die Straßen und durch die Straßen die Menschen analysiert werden können.
55 Ebenda, 303.
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Abbildungsnachweise: 1. Stockholm & Uppsala, 1745, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Königlichen Bibliothek zu Stockholm. 2. © Sproge Hembygdsförenings fotoarkiv. 3. © Lantmäteriet, veröffentlicht mit Genehmigung: H14-1:1 Nr. 20020631. 4. Aufnahme Widmaier 2014. 5. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Schwedischen Kriegsarchives, Stockholm (KrA Sv topografiska kartor Gotland XIX A Nr. 3). 6. ©Riksantikvarieämbetet, Veröffentlicht mit Genehmigung. Foto: Harald Faith-Ell, 1937. Licens: CC-PD*. 7. ©Riksantikvarieämbetet, Veröffentlicht mit Genehmigung. Foto: Bengt A Lundberg, 1986. Licns: CC-BY*.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 36 (2018), S. 115–129
COSMAS’ ROAD ACROSS HILL OSEK AS AN EXAMPLE OF HOW NARRATIVE SOURCES CAN HELP US INTERPRET MEDIEVAL ROADS Tomáš Klimek and Pavel Bolina ABSTRACT Der Artikel beschäftigt sich mit einem Abschnitt der mittelalterlichen Fernstraße von Prag nach Südböhmen, die nach dem frühesten tschechischen Chronisten Cosmas (erstes Viertel des 12. Jahrhunderts) über den Hügel Osek führte. Die Lage sowohl des Hügels als auch des Weges sind in Vergessenheit geraten. Aufgrund der semantischen Analyse des Textes von Cosmas können die Autoren den Hügel mit einem wichtigen Landschaftselement – einem felsigen Hügel neben der Furt über den Fluss Berounka – identifizieren. Daneben können Überreste im Gelände als Reste einer Straße bestimmt werden, die teilweise durch die Erosion zerstört wurde. Bei den Überresten handelt es sich um eine kleine Festung, die vielleicht als Mautstation gedient hat, und um ein Gebiet, wo man sich erholen oder übernachten konnte. Wie aus dem Text der Chronik hervorgeht, war zur Zeit des Chronisten Cosmas die Straße funktionsfähig, aber die Infrastruktur lag schon in Ruinen, d. h. diese Straße war vor allem in prähistorischen Zeiten stark frequentiert. The article is devoted to a section of the medieval long-distance road from Prague to southern Bohemia, which according to the earliest Czech chronicler, Cosmas (12th century), led across Hill Osek. The location both of the hill and the course of the road have been forgotten, and the authors are trying to find it by analyzing parts of Cosmasʼ Chronicle. Based on semantic analysis of Cosmasʼ text, the authors identified the hill with an important landmark – a rocky hill adjacent to the ford across the River Berounka. The authors interpret the remaining terrain found at this site, as the major part of the road was ruined partly by erosion. Furthermore, on the site there are remains of the infrastructure related to the traffic on that road – a small fortress serving perhaps as a toll station and an area where it was possible to stop or stay overnight. As is apparent from the text of the chronicle, at the time of the chronicler Cosmas, the road was functional, but the adjacent infrastructure was already in ruins – it had to be, therefore, functional in prehistoric times.
I. Hill Osek in Cosmasʼ chronicle and other medieval texts The oldest Czech chronicle from 1119–1125 provides the history of Czech lands, reporting mainly the deeds of rulers and the history of the bishopric of Prague, including a wide array of historical information and anecdotes. The chronicle begins with the origins of the Czechs in a mythic age and concludes with the author’s own death in 1125. The author, the dean of the Prague Metropolitan Chapter named Cosmas, twice mentions Hill Osek, whose name and position in the landscape have been forgotten due to the passing of time and loss of
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importance. The first time he wrote about it was in relation to the burial mound of Princess Kazi, located at the “road leading to the province of Bechyně over the hill, which is called Oseka” – eius [Kazi], usque hodie cernitus tumulus […], super ripam fluminis Mse iuxta viam, qua itur in partes provincie Behin per montem dicitur Osseca1. On another occasion, Cosmas said that the hill is situated close to the river Mže (Berounka) and that there is a border castle belonging to Prince Slavník on top of the hill – Habuit autem [Zlaunic] principatus sui hoc terminos: ad occidentalem plagam contra Boemiam rivulum Surina et castrum, quod est situm in monte Osseca iuxta flumen Msam 2. Due to the fact that Cosmas used the direction of the main road from Prague to southern Bohemia to identify the position of the hill, these two references from his chronicle create a very interesting basis for exploring the course of this undoubtedly important road. The importance of the road is deducible from the fact that Cosmas identified it by its final destinations – Prague and the province of Bechyně. The distance between Prague and the province of Bechyně at that time was more than 120 kilometers, which means that at the beginning of the 12th century, it was one of the main long-distance roads connecting the Prague area to the outer parts of Bohemia. Due to the completed process of centralization of the country under the Přemyslid, long-distance roads connecting the capital to other places in Bohemia or Moravia were the most important traffic network of that time3. Cosmasʼ identification of the road and its direction therefore can also contribute to the discussion about contemporary ways of orientation in the landscape, as well as present a model example of how data from medieval narrative sources can be used for research on historical roads. Although we already have a relatively high number of studies dealing with the topic of medieval and prehistoric roads from the Czech environment over the last 25 years at our disposal, situations where one can interpret information from narrative sources and use it for reconstructing and dating the course of a long-distance road are rather rare4. 1 2 3 4
BERTOLD BRETHOLZ (ed.): Cosmae Pragensis Chronica Bohemorum, Monumenta Germaniae Historica (= Scriptores rerum Germanicarum, NS, II), Berlin 1923, 10. Ibidem, 49. Vgl. JOSEF ŽEMLIČKA: Stará cesta do Bechyňska. K vnímání prostoru a vzdáleností v přemyslovských Čechách. In: JAN KLÁPŠTĚ, EVA PLEŠKOVÁ, JOSEF ŽEMLIČKA (eds.): Dějiny ve věku nejistot: sborník k příležitosti 70. narozenin Dušana Třeštíka, Prague 2003, 319–332. The first article taking into account terrain remains of old roads was: TOMÁŠ VELÍMSKÝ, EVA ČERNÁ (eds.): Výsledky rekognoskace středověké cesty z Mostu do Freiburgu. In: Archeologia Historica 15 (1990), 477–487. Among other studies cf.: TOMÁŠ VELÍMSKÝ: Studium středověkých cest přes Krušné hory a Děčínské stěny. In: Čechy a Sasko v přeměnách dějin, Acta Universitatis Purkynianae. Phylosophica et historica I, Slavogermanica II, Ústí nad Labem 1993, 359–372; OLDŘICH KOTYZA, JINDŘICH TOMAS: Příspěvek k problematice přechodů Krušných hor v raném středověku. In: Čechy a Sasko v proměnách dějin, 373–390; RADEK ŠIROKÝ, KAREL NOVÁČEK: K počátkům Norimberské cesty na Tachovsku. In: Archaeologia historica 23 (1998), 59–71; DUŠAN CENDELÍN: Staré komunikace, Wisowitz 1999; ID.: Polensko a staré pozemní komunikace. Teoretická východiska řešení a výsledky terénních průzkumů, Polna 2003; PAVEL BOLINA: “Per transversum montis Skalicze”– k interpretaci pozůstatků starých cest na katastru Dolan u Olomouce ve světle rozhraničovací dohody do-
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The rarity of both references, as well as information about the legendary Princess Kazi, attracted the attention of scholars trying to interpret Cosmas’ text to identify the unknown location of Hill Osek and perhaps even discover the burial mound of Princess Kazi since the mid-19th century. There has been a long series of articles written about this topic5. Other than the two references by Cosmas, scholars worked with the forged charter for Vyšehrad Chapter created in the 11th century (dated 1088 according to its text), where the territory ultra montem Osecs is mentioned. Here the hill also provides the identification of the location, but this time for an entire region6. There is one more known medieval document where one can read about the Hill Osek (Osecz) donation for the Cistercian monastery in Zbraslav (Aula Regia) from 1324. Here Hill Osek, along with two other hills, serves as an orientation point for defining the boundaries of the donated area – the so-called Monastic Forest7. The charter states: Prima meta est via publica, que vocatur Schennorscha usque ad campos in Zkuzhowycz [sic]. In hac meta situs est mons dictus Ossecz ad monasterium Aule Regie pertinens omni iure.
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lanského kláštera a olomoucké kapituly z roku 1404. In: Archeologia Historica 29 (2004), 93–118; IDEM: I Karel IV. se mohl zmýlit. Další poznatky z výzkumu zaniklých cest na katastru Dolan u Olomouce. In: Vlastivědný věstník moravský 57/2 (2005), 169–176; TOMÁŠ VELÍMSKÝ: K nejstarším dokladům středověkého spojení Čech s Budyšínskem (= HGSupplementum 1), Prague 2006, 59–82; FRANTIŠEK KUBŮ, PETR ZAVŘEL: Zlatá stezka. Historický a archeologický výzkum významné středověké obchodní cesty, Budweis 2007–2009, 1–3; Historické cesty, available at http://www.historicke-cesty.cz [23.03.2016]; JAN MARTÍNEK and others: Moderní metody identifikace a popisu historických cest. Metodická příručka, Brno 2013, available at http://invenio.nusl.cz/record/204334/files/nusl204334_1.pdf. [23.03.2016]; IDEM (ed.): Výzkum historických cest v interdisciplinárním kontextu II, Brno 2014. The first relevant article was: VÁCLAV VLADIVOJ TOMEK: O panství rodu Slavníkova v Čechách. In: Časopis Českého Museum 26/4 (1852), 41–61; see also: FERDINAND TADRA: O poloze Kosmova vrchu a hradu “Oseka” a některých jiných zaniklých osad na Zbraslavsku. In: Časopis Musea Království českého 76 (1902), 284–285; ANTONÍN VÁNKOMIL MALOCH: Osek. In: Jičínský obzor (1861), 62; JAN ORTH: Hrad Kazín a mohyla Kazina. In: Památky archeologické VI (1865), 153–154; FRANTIŠEK VACEK: Hora Osek, hrad Kazin a mohyla Kazina. In: Method. Časopis věnovaný umění křesťanskému 30 (1904), 61–69; AUGUST SEDLÁČEK: Osek, Oseč. In: Český časopis historický 24 (1918), 263–272; RUDOLF TUREK: K západním hranicím Slavníkova panství. In: Časopis přátel starožitností českých 58 (1950), 142–148; ZDENĚK BOHÁČ: K lokalisaci Kosmovy mons Osseca a přilehlé cesty pražskobechyňské. In: Československý časopis historický 15 (1967), 747–756; TOMÁŠ KLIMEK: Kosmova hora Osek a vnímání krajiny v českém středověku. In: Historická geografie 33 (2005), 39–56; PAVEL BOLINA, TOMÁŠ KLIMEK: Úsek dálkové komunikace na Kosmově hoře Osek (Povrchový průzkum zaniklých cest v trati “Humenská” na k. ú. Jíloviště, okr. Prahazápad). In: Archeologické rozhledy 59 (2007), 103–115; PETR NOVÝ: Cesta přes horu Osek do končin kraje bechyňského. Archeologie starých cest jako součást historickogeografického bádání. In: Historická geografie 35/1 (2009), 35–58; PAVEL BOLINA, TOMÁŠ KLIMEK: K problematice Kosmovy bechyňské cesty. In: Historická geografie 36/1 (2010), 99–136. GUSTAV FRIEDRICH (ed.): Codex diplomaticus regni Bohemiae, vol. I, Prague 1907, n. 387, 386, compare to JOSEF ŽEMLIČKA: Čechy v době knížecí (1034–1198), Prague 1997, 47. FERDINAND TADRA (ed.): Listy kláštera zbraslavského, Prague 1904, n. 45, 25.
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Tomáš Klimek and Pavel Bolina Item secunda meta est a iam dictis campis in Zkuzhowycz usque ad fluvium parvum, qui vocatur Trzemesnycze, usque ad locum illum, ubi idem fluvius fluit in Woltaviam. In hac meta iacet mons, qui vocatur Rozhoryzow, qui eciam ad Aulam Regiam pertinet omni iure. Ibidem est situm Glincz oppidum […] tercia meta est ab illo loco, ubi est iam dictus concursus aquarum, usque ad lapidem, qui vocatur Writikamen. In hac meta iacet mons et vallis qui vocantur Hecken ad Aulam Regiam spectantes8.
The identification of the borders from this charter is possible when some of the mentioned landscape points and lines are known, whereas the position of most others can be deduced after combining all known facts. Still, it cannot provide us with more concrete information known by Cosmas because all of the mentioned hills determine the sites of boundaries only – therefore various hills could correspond to the text of the charter. II. Problems of older localizations The problem of older attempts to locate Hill Osek was initially a belief in the existence of the burial mound of Princess Kazi as well as of Slavník’s border castle and its connection to the hill. Although Cosmas’ data clearly refer to the space between the rivers Vltava and Berounka, the latter near its mouth, everything else in the text cannot be taken literally. Cosmas’ information about the Slavník family and its realm are lacking, and his description of the borders of its domain embracing nearly half of Bohemia is clearly fictional9. Taking into account that Cosmas wrote his chronicle about 130 years after the fall of the Slavník estate, it is unlikely that in Cosmas’ time there was some awareness about the position of a longgone Slavník border castle. On the other hand, the frequently used name Osek definitely was the name of a hill on the main road from Prague to southern Bohemia that travelers had to pass – otherwise Cosmas would not have used the name of the hill together with the road for specifying the location of Princess Kazi’s burial mound. One can conclude that travelers across Hill Osek passed a site that had been regarded as the burial mound of Princess Kazi.
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Ibidem. ROSTISLAV NOVÝ: Přemyslovský stát 11. až 12. století, Prague 1972, 99; JIŘÍ SLÁMA: Slavníkovci – významná či okrajová záležitost dějin 10. století? In: Archeologické rozhledy 47 (1995), 182–224. Cosmas wanted to emphasize the importance of the family St. Adalbertus came from as well as the power of the ruling dynasty of Přemyslids after subduing the region beloging to Slavník.
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Fig. 1. Parts of the boundaries of Zbraslav monastery estate, which appear in the charters from the 13th to 14th centuries (dotted lines) and major landmark sites. 1 – Zbraslav (Aula Regia); 2 – Čisovice (Zkuzhowycz); 3 – Všenory; 4 – engraved stone (Writikamen); 5 – Bojovský brook (Trzemesnycze); 6 – Všenorská Road (Via publica Schennorscha); 7 – Valley of Všenorský stream; X – position of Hill Osek (Ossecz), dashed line – schematic course of the road to the province of Bechyně. Map data: Base map © ČÚZK.
III. Semantic analysis and identification of the hill A detailed semantic analysis of terms determining direction or proximity (prope, circa, inter, iuxta, adiacens, apud, penes, non longe, fere, super, sub, supra, infra, ultra, retro, ante, per, trans, ex, de, a/ab, ad, in, contra, versus) used by Cosmas when compared to other contemporary authors and other medieval Czech writers showed that Cosmas used such terms quite precisely and that they always had extremely narrow and unequivocal meanings in his text. For understanding the proper meaning of these prepositions one can look at those examples in which the prepositions connect two locations with known positions.
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When we analyze the ʻproximityʼ expressed by the term iuxta, and compare it to the ʻproximityʼ expressed by the term prope, one can see, for example, that Cosmas used iuxta for neighboring positions (settlements, hills, etc.), whereas prope connected more distant places. Some prepositions such as circa were mainly used for determining the proximity of hierarchically different positions (castle–village, capital–small city), some (adiacens) for determining the proximity of ʻspacesʼ and ʻplacesʼ (city–region, castle–forest, etc.)10. In sentences related to Hill Osek, one can find four of the mentioned terms – super (ripam), per (montem), in (monte), and iuxta (flumen). According to the meanings of the aforementioned prepositions used by Cosmas, one should look for the hill in close vicinity to the river Mže, respectively on its bank. The object interpreted as the burial mound of Princess Kazi should be in an elevated position above the river. The road should also lie in close vicinity, tightly around the burial mound. At the same time, Hill Osek must be a noticeable landmark because it was used as an orientation point for the direction of a major long-distance road. The place that best fits the data of Cosmas’ text lies on the cadastral of Jíloviště, line Humenská, located one valley south of the famous hillfort ʻKazínʼ, directly above the Berounka River, opposite the village Dolní Mokropsy. It is a ridge, extending from the north and progressively narrowing to the south and southwest. It is bounded on its western side by the rock falling into the river, on its eastern side by the steep slopes of the Humenský Brook valley (fig. 5.7). The flat top of the highest parts reaches an altitude of 367 meters, which is roughly the elevation of the subsequent plateau between the rivers Berounka and Vltava.
10 For the wider context see: TOMÁŠ KLIMEK: Krajiny českého středověku, Prague 2014. Detailed analyses in: IDEM: Lokalizace míst a ploch v terénu prostřednictvím určení blízkosti v textech českého středověku z 12.–14. století. In: Mediaevalia Historica Bohemica 14/1 (2011), 71–117; IDEM: Kosmova hora Osek a vnímání krajiny v českém středověku. In: Historická geografie 33 (2005), 39–56. For methodical background see: FRANÇOIS RASTIER: Cognitive Semantics and Diachronic Semantics: The Values and Evolution of Classes. In: ANDREAS BLANK, PETER KOCH (eds.): Historical Semantics and Cognition, Berlin 1999, 109– 144.
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Fig. 2. Humenská, cadastral Jíloviště, or Hill Osek, mentioned by chronicler Cosmas in the first quarter of the 12th century, over which is supposed to lead the long-distance road from Prague to the province of Bechyně (Southern Bohemia). From the point of view of travelers from Prague, the hill appeared as the dominant formation of this part of Berounka valley.
This hill was visible from afar when viewed from the northwest; that is, from a place on the road from Prague to the river ford over the Berounka. For travelers, the hill had to appear like an insurmountable obstacle. But in fact, to overcome the height difference of almost 200 meters, one cannot imagine a more favorably formed structure (fig. 3). Regarding the surrounding landscape, this direction did not force travelers to climb more than was necessary, just as it would happen at the next summit of the ridge towards the southwest. Supposed inaccessibility of the hill and its prominence in the landscape explain why Cosmas used it as such an important landmark. One can conclude the reason why it determines the direction of a long-distance road, giving it the characteristic feature of “that road passing over Hill Osek”, although travelers came across the hill shortly after leaving the Greater Prague area. IV. Remains in the field – older excavations There are some observations of anthropogenic formations at the site as early as the 19th century. Jan Orth interpreted the object on the narrowest point of the ridge Humenská as possible remnant of the burial mound of Princess Kazi. On this occasion, Orth also mentioned “deep intersections leading away similar to deep holloways”11. However, he did not connect them to the long-distance road mentioned by Cosmas. At the beginning of the 20th century, the object interpreted 11 ORTH: Hrad Kazín a mohyla Kazina (see note 5), 153–154.
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by Orth as a burial mound was described by Josef Ladislav Píč as a bulwark12. At the end of the ridge, where one would be looking for a fort, the site was found to be unfortified. This conclusion was supported by the archaeological research of Jan Axamit, completed shortly before World War I13. In the area of the platform at the end of the ridge and at the narrowest point of the ridge, Axamit found ceramics from various prehistoric periods (Neolithic, Eneolithic, Bronze) to the early Middle Ages. Axamit classified the whole complex as a small fort, even though his survey did not demonstrate the existence of perimeter defenses (fig. 4). Perhaps that was the reason why he did not identify the site in accordance with Cosmas as the castle of Prince Slavník, although he had no doubt that his research was done at the real Hill Osek. He thus brought a very interesting idea to the whole problem – Cosmas could have considered known ruins of the same name as Slavník’s castle even if it was actually a site with a different history and usage. However, this important point was neglected by future scholars, mostly archeologists, who were looking for a fortified site evincing the parameters of an important border castle from the relevant period (the 7th century) and did take Cosmas’ localization data seriously14.
Fig. 3. Panoramic view of the ridge, which allowed for a relatively easy ascent from the river level to the eastern slope of Hill Osek. 1 – Mouth of Humenský Brook to Berounka river (197 m above sea level) and the end of the ridge descending from Hill Osek; 2 – a triangular platform mistakenly referred as a hill fort (246 m above sea level); 3 – small fortified object (245 m above sea level); 4 – lower end of the big system of holloways (250 m); 5 – the upper end of the ridge; 6 – the top of Hill Osek (Humenská – 367 m above sea level). In the background (to the left of number 5) – Cukrák television transmitter on the highest hill of this part of Hřebeny mountains – Kopanina (411 m above sea level). The situation in the year 2006.
12 JOSEF LADISLAV PÍČ: Starožitnosti země České, III. Čechy za doby knížecí. Na základě praehistorické sbírky Musea království Českého a pramenů dějepisných, svazek 1, část archaeologická, Prague 1909, 367. 13 JAN AXAMIT: Hrad “Kazín” a “Kazina mohyla”. In: Památky archeologické 29 (1917), 157– 163. 14 The best example is: TUREK: K západním hranicím Slavníkova panství (see note 5), 142–148.
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Fig. 4. The plan made by Axamit in 1917 (the covered area corresponds to the part of the ridge between numbers 1–3 on fig. 3).
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Fig. 5. The area around Humenská and neighboring Kazín (with a hill fort and another branch of the long-distance road) on the 5th generation LIDAR. 1 – Eneolithic height settlement Kazín; 2 – Humenská (367 m, a former Hill Osek); 3 – small fortified building in the narrowest part of the ridge descending from the top of Humenská; 4 – triangular non-fortified platform at the end of the ridge; 5 – a holloway descending to the ford over the Berounka; 6 – system of holloways at Kazín, 7 – Humenský Brook. The full line highlights the sections of routes without holloways. Map layer ČÚZK.
V. River ford The long-distance road from Prague and roads from the area west of today’s capital, which were more convenient for travelling from north to south or vice versa, hit river Mže (Berounka) where the river meandered against the rock of Humenská, creating its right bank. On the left bank, the terrain slowly descended to the surface of the water, which means that the ford was situated in a place where swampy or marshy terrain could not cause any difficulties (fig. 1 and 6.1). The quality of local fords was increased by the outfall of two smaller streams – Humenský and another one unnamed, 80 meters down the river from the first one (fig. 5.7). They were both forming an alluvial fan, increasing the level of the river bottom. This can no longer be seen because of many bottom excavations in the second half of the 20th century (as the result of regulations preventing flooding). However, it can be compared to similar examples in other sections of the river15. 15 See e. g. the part of the river between Skryje and Roztoky u Křivoklátu (49.9698953N, 13.7738842E – 50.0290392N, 13.8646503E), where the bottom has not been intentionally changed.
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Fig. 6. The range of the hardly passable area around the Berounka river is very well shown on the geological map (available from http://nts5.cgu.cz/website/geoinfo/). White strip indicates the clay, gravel, and sand as alluvial sediments of the river. In the place of the river fords below Hill Osek, the floodplain is significantly narrower. 1 – Ford under Hill Osek; 2 – entry into Karlické Valley; 3 – the position of the original confluence of the Berounka and Vltava rivers, above which Zbraslavský Cistercian monastery is situated(Aula Regia) and on the right bank of the Vltava lies the Celtic oppidum Závist; 4 – Church of St. Peter and Paul in Radotín as the ferry port for another road leading from Prague to Zbraslav.
VI. Remains of the road from Prague to Southern Bohemia at Hill Osek The mouth of Humenský Brook has created a deep gorge, which, at first glance, looks impassable. However, if one follows the present path leading almost to the bottom of the gorge and then continuing along the left bank of the stream a few dozen meters upstream, one will soon come to a place where remains of the ancient road can be observed. Originally, there was a holloway cut into the hillside that disappeared below due to slope erosion. The remains of the road today end about four to six meters above the stream. Slightly higher, one already enters the Holloway, which is almost five meters deep, passing around the back end of the ridge descending from Humenská (fig. 5.5; 7). It is an artificially-built road for which its builders had initially created a notch. Due to the technology and terrain, it was difficult for the workers to create this notch. It is obvious that the road follows the final more or less 30 meters before reaching the river bank at the bottom of the gorge. Not too waterlogged, the rocky bottom of the Humenský Brook, which certainly has been artificially modified, could not represent a significant complication for traffic. This passage was the only real difficulty of taking the road, thereby avoiding at least 100 meters in altitude, and was probably less comfortable than the ford which would await passengers in all other parts of the Hřebeny mountains.
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Fig. 7. Deep holloway, cut into the rock at its lower end, leading around the back end of the ridge descending from Humenská.
The massive holloway leading around the end of the ridge of Humenská is a road, not a specific part of a fortification, as it is often interpreted in archaeological literature16. Evidence can be found on the upper part of the same ridge about 300 meters to the south, where the same road continues to ascend. At a length of almost one kilometer, from the altitude of 250 meters to 340 meters above sea level, the road has developed a large system of holloways, with its complex arrangement showing signs of long-term use (see fig. 5). The striking difference between the larger number of holloways on the upper part of the ridge and the only holloway on its lower part is due to the different configuration of the terrain. While on the ridge above, the classical system of holloways using the whole flat top area of the ridge can be observed, the terrain possibilities of the lower part were severely limited because of the steepness of the slope. In fact, the northern (lower) part of the ridge declined into the creek valley of Humenský Brook so sharply that the road could no longer follow its original direction and had to descend to the river ford along the side slope. Terrain work in the lower part of the ridge confirmed that the road was protected from runoff during heavy rains and that people or animals did 16 EMANUEL ŠIMEK: Západní hranice Slavníkovy říše. Pomezní hrad „in monte Osseca“ a potok “Surina”. In: Od pravěku k dnešku (Sborník Pekařův), Prague 1930, 75–101; JIŘÍ SLÁMA: Střední Čechy v raném středověku II. Hradiště, příspěvky k jejich dějinám a významu – Mittelböhmen in frühen Mittelalter II. Die Burgwälle, Beitrage zu ihrer Geschichte und Bedeutung, Prague 1986, 74; IDEM: Střední Čechy v raném středověku III. Archeologie o počátcích přemyslovského státu – Central Bohemia in the early Middle Ages. III. Archaeology and the beginnings of the Přemysl-dynasty state, Prague 1988, 23 f.; MICHAEL LUTOVSKÝ: Encyklopedie slovanské archeologie v Čechách, na Moravě a ve Slezsku, Prague 2001, 113; KAREL SKLENÁŘ, ZUZANA SKLENÁŘOVÁ, MILOSLAV SLABINA (ed.): Encyklopedie pravěku v Čechách, na Moravě a ve Slezsku, Prague 2002, 135; KATEŘINA SUČKOVÁ, ROMAN ABUŠINOV (eds.): Kamenný klíč: Staroslovanské hrady, Příbram 2005, 237.
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not fall down the steep slope into the valley. However, the limited space did not allow the creation of more than one holloway, which acquired an extraordinary depth after centuries in operation. Signs of an older locally preserved holloway slightly above indicate that the road was in use even before the big holloway was created. VII. Function of historic sites At the point where the massive holloway rising from the Humenský Brook ends at the narrowest point of the ridge, an artificially-created small fortified structure can be seen (fig. 5.3; 8), which is usually considered to be the (front) bulwark of the hill fort. In fact, it is a separate small building fortified with a moat and a southward-facing front rampart, whose shortness probably could lead people from the time of the chronicler Cosmas to believe that it was a burial mound of the legendary Princess Kazi. The inner fortified site is about three meters high and almost 20 meters long (in the north-south direction) and about 10 to 12 meters wide. The site continues to the big holloway without any interruption; thus it was undoubtedly created at the same time as all the terrain adjustments in connection with the road were carried out.
Fig. 8. View across the valley of the fortified site at the narrowest part of the ridge Humenská. It shows the trench on the left side, the front bulwark to the right and the fortified site itself. In the right half of the picture one can see the triangular platform, which is located behind the fortified site.
The road went around the fortified building from two sides (north and west), and there were no ditches which interrupted the ridge and the course of the road, which would be the case if the place had been used as a hillfort. Findings from
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Axamitʼs research suggest the prehistoric origins of the whole situation17. The site can be interpreted as a small fortified building controlling the important road at this critical point, perhaps even as a fortification used by toll guards. The adjacent triangular platform of the size of about three-quarters of a hectare was considered to be a hill fort by some modern scholars (fig. 4)18. The chronicler Cosmas did the same when he described it as one of the border castles of Prince Slavník. However, this theory contradicts the fact that this extended part of the ridge lacks signs of fortifications, as has been pointed out by Jan Axamit in the report on his archaeological research. More likely, the findings documenting the use of the platform in the prehistoric to early medieval periods relate to the traffic on the important road. The site could have served as a place to prepare for the difficult fording; it also could very well have been used for a safe overnight or only short stay while waiting for a reduction of the river level. This place with all its parameters corresponds to the idea of a travel station, but in the 12th century it was no longer in use; therefore, it was possible that Cosmas declared it as a castle of Prince Slavník. If the travel station had been in use in the time of Cosmas, he would of course not have described it as an ancient border castle. Infrastructural traffic features on Humenská, consisting of the system of holloways, a small fortified site, the platform situated about 50 meters above the river, and the massive artificially-created holloway descending to the river, noticeably correspond with Cosmas’ comments about the road across Hill Osek and Princess Kazi’s burial mound. This fact provides us with unique historic information such as the general dating of the road and its infrastructure. There are no other objects at the place, which implies that the control and travel stations were already dysfunctional in the early 12th century and were not replaced by new infrastructural buildungs. In other words, in a period before the time of Cosmas, this kind of service had been better developed. VIII. The end of traffic on the road across Hill Osek We can also speculate on the presumable reasons for the end of traffic on this road. Literature suggests that the termination of traffic on an important road was due to the gradual erosion of water19. The situation on Humenská was somewhat 17 For the dating of today‘s lost findings see MILAN ZÁPOTOCKÝ, LUBOMÍR PEŠKE, SLAVOMIL VENCL: Cimburk und Höhensiedlungen des frühen und älteren Äneolithikums in Böhmen (= Památky archeologické – Supplementum 12), Prague 2000, 174 f.; SKLENÁŘ, SKLENÁŘOVÁ, SLABINA (eds.): Encyklopedie pravěku v Čechách (see note 16), 135. 18 AXAMIT: Hrad “Kazín” a “Kazina mohyla” (see note 13); PÍČ: Starožitnosti země České, III (see note 12), 367; SLÁMA: Střední Čechy v raném středověku II (see note 16), 74; IDEM: Střední Čechy v raném středověku III (see note 16), 23–24; LUTOVSKÝ: Encyklopedie slovanské archeologie v Čechách (see note 16), 113; SKLENÁŘ, SKLENÁŘOVÁ, SLABINA (eds.): Encyklopedie pravěku v Čechách (see note 16), 135; SUČKOVÁ, ABUŠINOV (eds.): Kamenný klíč: Staroslovanské hrady (see note 16), 237. 19 See CENDELÍN: Staré komunikace (see note 4), 55.
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different, more similar to what happened with paths that led into the slopes of ravines. In some places, the exposed bedrock of the holloway, partly cut off by the water stream, shows that Humenský Brook damaged the road. Nowadays, the water level of the stream is located six meters lower than the remains of the road. Almost with certainty, we can conclude that the road on Humenská has no longer served its purpose at least since the 13th century. At this time, the long-distance road from Prague to the province of Bechyně had to cross the neighboring river ford between Dolní and Horní Mokropsy and continuing to the village Všenory. We have already mentioned a charter issued for the Cistercian monastery in Zbraslav (Aula Regia) from 1324, on whichHill Osek is drawn. There, one can also read about via publica, que vocatur Schennorscha [Všenorská], which is the part of the long-distance road moved to Mokropsy and Všenory. The road does not pass Hill Osek anymore; and in the text Hill Osek just serves as an orientation point for the boundary (it does not determine the direction of a long-distance road as had been the case before)20. In charters from Zbraslav Monastery, Hill Osek is only mentioned as one of the many hills on the monastic estates (see the charter quoted in the beginning of the article). In more recent written documents, e. g. in the Theresian cadastre, one cannot find any reference to Hill Osek at all21. IX. Summary The example of Hill Osek and the text written by Cosmas shows how brief references in an important narrative text may serve as an excellent starting point from which interpretations of silent terrain situations can be formulated. In this specific case, the oldest Czech chronicle allowed – at least partially – the dating of infrastructural traffic sites that were found, establishing the last possible date (terminus post quem non) of their definite destruction. If one compares this to the surrounding landscape and information from other written sources (charters), one has a basis for the interpretation of the development of long-distance roads in the area. But further analysis remains to be done, and interpretation of the tracks of other roads as well as their general dating have already become the target of another survey.22
20 TADRA: Listy kláštera zbraslavského (see note 7), n. 45, 25; Compare to: BOLINA, KLIMEK: K problematice Kosmovy bechyňské cesty (see note 5), 99–136. 21 PAVLA BURDOVÁ, DAGMAR CULKOVÁ, ELIŠKA ČÁŇOVÁ, MARIE LIŠKOVÁ, FRANTIŠEK RAJTORA (eds.): Tereziánský katastr český, 3, Dominikál, Prague 1970, 151. 22 For a wider context, see: Pavel bolina, Tomáš Klimek, Václav Cílek: Staré cesty y krajině středních Čech, Prague 2018, in print.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 36 (2018), S. 131–150
FLUCHT VON ALISCHANZ Zur Wahrnehmung und Nutzung von Straßen und Wegen während des Rückzugs Willehalms nach Orange Christina Patz ABSTRACT Der Willehalm Wolframs von Eschenbach gilt als eines der bedeutendsten und meistrezipierten Werke der höfischen Epik. Sein Protagonist Willehalm befindet sich nahezu die vollständige Handlung über ‚auf dem Weg‘. Der vorliegende Beitrag betrachtet die bisher wenig beachtete Etappe seiner Flucht von der verheerenden ersten Schlacht auf Alischanz zurück in seine Stadt Orange unter dem Aspekt der Wahrnehmung und Darstellung der von ihm benutzten Straßen und Wege – wie ist deren Beschaffenheit, auf welche Weise werden sie genutzt und ist ihnen ein metonymischer Charakter zuzuweisen? Hauptaugenmerk wird dabei auf das Nebeneinander des äußeren Weges und den immanenten Fortschritt des Protagonisten gelegt. Wolfram von Eschenbachʼs Willehalm is considered by many to be one of the most significant pieces of epic poetry and was adapted many times. Almost the entire story line shows the protagonist Willehalm ‚on the wayʻ. The present article examines a previously little-noticed stage: his escape from the devastating first battle of Alischanz and return to his city of Orange. By taking into consideration the perception and presentation of the streets and paths he used, the author looks at the followings questions: What is their condition, in which manner are they used, and do they have a metonymic character? The main focus of attention is on the conjunction of the outer path and the inner progress of the protagonist.
Um einen literaturwissenschaftlichen Einblick in das Thema ‚Wahrnehmung und Nutzung von Straßen (1100–1800)‘ zu erhalten, bietet sich das mittelhochdeutsche Ritter-Epos auf den ersten Blick geradezu an, befindet sich der Held doch größtenteils in Bewegung. Ritter begeben sich auf eine Reise und kehren verändert – oder gar nicht – zurück. Das Motiv des Zurücklegens von Wegen, des Überwindens von Raum, ist in der mittelalterlichen Literatur gattungsübergreifend gegenwärtig. Dabei sind die Motivationen vielfältig: Bewährungs- oder Brautwerbungsfahrten, Hilfsgesuche und Botenritte, die Suche nach âventiure, nach Höherem oder nach Wegen in die Schlacht oder von dort weg. So ist auch der namensgebende Held in Wolframs Willehalm1, der einst die Heidenkönigin Arabel entführte und damit einen Krieg entfachte, der die christliche wie heidnische Welt gleichermaßen erschüttern sollte, beständig unterwegs und legt dabei eine beachtliche Wegstrecke zurück. Vor allem seine Reise von der 1
Höfische Texte haben in der Regel keine vom Autor zugewiesenen Titel; deshalb wurden sie nachträglich nach dem Helden der Dichtung o. ä. benannt.
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Markgrafschaft Orange bis zum Königssitz Laon hat dabei in der Forschung Beachtung gefunden2. Für eine Untersuchung der Wahrnehmung und Nutzung von Straßen und Wegen erscheint diese Strecke aber nicht sinnvoll, da Straßen in diesem Abschnitt in erster Linie die Verbindungslinie zwischen zwei Handlungsorten darstellen, auf ihnen selbst aber findet keine Handlung statt3. Kaum Beachtung unter diesem Gesichtspunkt fand bislang eine wesentlich kürzere Etappe im Lauf der Erzählung, die Flucht Willehalms vom Schlachtfeld Alischanz zurück in die heimatliche Stadt Orange. Dabei birgt gerade dieser Abschnitt eine Vielzahl unterschiedlichster Wegformen: Im Gegensatz zu der Reise nach Laon verläuft Willehalms Fluchtweg abseits der befestigten Straßen und ausgehend vom Schlachtfeld in steiniges Gebirge bis an Orte und Geschehnisse, die weit abseits der Zivilisation angesiedelt sind. Um seinen Zielpunkt Orange zu erreichen, ist er allerdings gezwungen, in die kultivierte Welt zurückkehren und sich den zahlreichen Kämpfen zu stellen, die dort auf dem freien Feld auf ihn warten. Damit hält dieser erste Abschnitt des Willehalm vielfältige Wege bereit, die es im Rahmen dieser Studie unter Berücksichtigung von Struktur, Beschaffenheit und Besonderheiten sowie der Ereignisse, die auf ihnen stattfinden, zu untersuchen gilt. I. Zu Wolframs Willehalm Stoffkreis sowie Vorlage4, aus denen sich der Willehalm speist, entstammen dem chanson-de-geste-Zyklus um Guillaume d’Orange – dessen historisches Vorbild im Grafen von Toulouse, Wilhelm mit dem Beinamen au Court Nez, zu finden ist5– und damit der Gattung Heldenepik. Die Tatsache, dass Wolfram den äußeren Rahmen seiner Vorlage in weiten Zügen übernahm und nur an einzelnen Stellen, aber dennoch mit weitreichenden Konsequenzen für Wirkung und Intention, abweichend akzentuierte und damit die Gattungsgrenzen verschwimmen lässt, macht eine Beschäftigung mit diesem Werk so schwierig wie spannend6. Der Willehalm ist in insgesamt 76 Textzeugen überliefert – in zwölf vollständigen Handschriften und 64 Fragmenten aus drei Jahrhunderten – was ihn neben dem Parzival (über 80 Textzeugen) zu einem der bestüberlieferten höfischen 2 3 4 5 6
Vgl. dazu mit weiterführender Literatur: JOHN GREENFIELD, LYDIA MIKLAUTSCH: Der Willehalm Wolframs von Eschenbach. Eine Einführung, Berlin 1998, 93–100. Vgl. auch unten, Kapitel II. Die Autoren des Mittelalters erfanden keine neuen Stoffe, sie entnahmen sie einer Vorlage, aus der heraus sie ihre Erzählungen gestalteten. Weiterführend zur historischen Person Wilhelms von Toulouse vgl. NORBERT ANGERMANN u. a. (hg.): Lexikon des Mittelalters, Bd. IX, München 2002, Sp. 151 f. Weiterführend zur Vorlage des Willehalm und ihrer Umgestaltung durch Wolfram von Eschenbach vgl. THORDIS HENNINGS: Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chansons de Geste im 12. und 13. Jahrhundert (= Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 2008, 142–157 und JOACHIM BUMKE: Wolfram von Eschenbach (= Sammlung Metzler 36), 8. völlig neu bearb. Aufl. Weimar 2004, 279–317, 375 f., 388– 390.
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Epen macht7. Als älteste vollständig erhaltene und „anerkanntermaßen beste“8 gilt die Handschrift G (St. Gallen Stiftbibliothek, cod. 857) die auch die Textgrundlage für die hier zitierte Ausgabe darstellt9. Das Werk ist unterteilt in neun Bücher; diese Einteilung hat ihren Ursprung nur teilweise in der handschriftlichen Überlieferung10; vielmehr wurde sie von Karl Lachmann in seiner Edition des Willehalm von 1833 eingeführt11 und ist bis heute in der Forschung Konsens12. Ebenso stammt auch die Disposition der Verse in Dreißiger-Abschnitte von Lachmann. Sie orientiert sich an den kleinen Initialen, die die meisten Handschriften aufweisen13. Um die hier erörterte Passage einordnen zu können, ist ein grober Handlungsabriss unerlässlich. Lange nachdem Willehalm mit der Heidenkönigin Arabel in seine Markgrafschaft zurückkehrte und Arabel zum Christentum konvertiert und den Namen Gyburc angenommen hat, setzt die Handlung ein: Ein riesiges Heidenheer unter der Führung ihres heidnischen Ehemannes Tybalt fällt vom Meer aus in die Provence ein, und Willehalm muss sich ihm mit seinen Rittern in einer vernichtenden Schlacht bei Alischanz14 stellen, die kaum ein Christ überlebt. Der geschlagene Willehalm beschließt, zurück in seine Stadt Orange zu flüchten. Von dort aus macht er sich auf den Weg nach Munleun – heute Laon – um vom König, Ludwig dem Frommen, Hilfe und militärische Unterstützung zu erbitten, die dieser nur widerwillig gewährt. Schließlich kehrt Willehalm mit dem französischen Heer in den Krieg zurück und besiegt die Heiden in einer weiteren, groß angelegten finalen Schlacht. Der Schluss des Epos ist nicht überliefert; es ist unklar, ob er verloren gegangen ist oder der Dichter sein Werk nicht vollenden wollte oder konnte15.
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Vgl. JOACHIM HEINZLE: Kommentar zur Willehalm-Ausgabe. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, Frankfurt a. M. 1991, 802. HEINZLE: Kommentar (wie Anm. 7), 805. WOLFRAM VON ESCHENBACH: Willehalm. Text und Kommentar (= Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 39), hg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt a. M. 2009. Die Einteilung orientiert sich zwar an den Großinitialen der Handschrift G, berücksichtigt aber nicht alle 13 Vorhandenen, der Beginn von Buch VI bei 269,1 weist dafür in der Handschrift keine Initiale auf. Vgl. dazu auch: BUMKE: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 6), 353. Vgl. WOLFRAM VON ESCHENBACH: Willehalm. Urtext und Übersetzung, Text der 6. Ausg. von KARL LACHMANN, übers. u. Anm. von DIETER KARTSCHOKE, Berlin 1968. Vgl. weiterführend WERNER SCHRÖDER: Zur Bucheinteilung in Wolframs Willehalm. In: Deutsche Vierteljahresschrift 43 (1969), 385–404. Der Ursprung und die Bedeutung dieser Dreißiger-Gliederung, die sich auch im Parzival findet, konnten bisher nicht zufriedenstellend erklärt werden. Vgl. dazu BUMKE: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 6), 353 f. Ebene im Mündungsgebiet der Rhône, vgl. HEINZLE: Kommentar (wie Anm. 7), 1188. Einen ausführlicheren Abriss der Handlung bietet JOACHIM HEINZLE: Wolfram von Eschenbach: Ein Handbuch, Bd. 1: Autor, Werk, Wirkung, Berlin 2011, 525–543.
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II. Raum, Straßen und Wege im Willehalm Der Willehalm beinhaltet vergleichsweise viele konkret lokalisierbare Örtlichkeiten wie Orléans, Laon oder Orange. Aus den aufgesuchten Stationen ergibt sich eine bereits 1959 von Joachim Bumke nachgezeichnete räumliche Struktur innerhalb des Werks, die einen absolut symmetrischen Aufbau ausweist, in dem sich nicht nur die einzelnen Stationen, sondern auch einzelne Handlungsteile antithetisch gegenüberstehen, wie etwa zwei Liebesszenen, die jeweils in die beiden Aufenthalte in Orange eingegliedert sind, oder zwei Religionsgespräche zwischen der dort zurückgelassenen Gyburc und ihrem Vater Terramer, die im Text an entsprechender Stelle während Willehalms Hin- und Rückweg nach Munleun positioniert sind16: Munleum Kloster Kloster Orlens Orlens Orange Orange Schlachtfeld Schlachtfeld17 Willehalm befindet sich, unterbrochen von kurzfristigen Aufenthalten zur Regeneration und ausgenommen die Tage, die er in Munleun beim König verweilt, beinahe die komplette Handlung über auf dem Weg. Dabei nutzt er für einen Großteil seiner Bewegungen durch diesen Raum die befestigten Wege des Reiches; der Terminus strâze findet sich an 20 Stellen im Werk. Nicht immer ist damit eine Straße im herkömmlichen Sinne gemeint. Die erste Erwähnung ist eine metaphorische und begegnet innerhalb der verheerenden ersten Schlacht auf 38,26 f., in der der (schmale) stîc, der für die Heiden zur Hölle führt, von den Christen zu einer strâze ausgeweitet wird. Möchte man die im Willehalm geschilderten Straßen und anderen Wege genauer erfassen, muss man feststellen, dass die Schilderungen über bloße Richtungs- respektive Zielortbestimmungen nicht hinausgehen: strâzen verlaufen gein Orange (Wh. 69,30), Frankreich (Wh. 105,29 f.) oder Orléans (Wh. 198,11; 200,9; 209,9) oder wieder zurück, gein dem Meer (Wh. 313,13). Wie bereits Joachim Bumke angemerkt hat, spielt die Handlung samt den Konflikten „auf Alischanz, in Orange und in Munleun, zum Teil auch auf den Wegen dazwischen“18. Dabei zeichnet sich die Reise Willehalms von Orange nach Munleun (Laon) und wieder zurück dadurch aus, dass die Wegstrecken zwischen den einzelnen Etappenzielen auffallend frei von Zwischenfällen sind19. Lediglich für den in diesem Beitrag untersuchten Teilabschnitt des Willehalm – die Flucht des Helden 16 Vgl. JOACHIM BUMKE: Wolframs Willehalm. Studien zur Epenstruktur und zum Heiligkeitsbegriff der ausgehenden Blütezeit, Heidelberg 1959, 94. 17 Die Grafik ist entnommen aus ebenda. 18 BUMKE: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 6), 354. 19 Die Reise Willehalms ist freilich nicht konfliktfrei, Konfrontationen finden allerdings an den erreichten Zielorten statt, nicht unterwegs.
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vom Schlachtfeld zurück in seine umkämpfte Stadt – sind es dagegen ebendiese „Wege dazwischen“, auf denen Handlung stattfindet. Den darin ausgeführten Weg zeichnet eines aus: Gleichwohl eine Straße vorhanden ist, die ihn an sein Ziel führen könnte – er moht sich dô wol umbe sehen, die strâze gein Oransche spehen, dar in doch sîn herze treip (Wh. 69,29–70,1) –, wird der Held sie nicht benutzen, die rehten strâzen er gar vermeit (Wh. 70,11–13), denn diese ist von Feinden okkupiert: die pfede20 und die strâze gar verdecket wâren mit maneger schar, swaz der gein Oransche lac. (Wh. 83,15–17) Dies ist bezeichnend für den ersten Teil des Werks: Nur drei Erwähnungen findet der Terminus strâze in diesem Abschnitt; er steht gleichbedeutend mit dem schnellsten, dem direkten, dem geraden Weg21und ist immer unpassierbar. Der Held ist gezwungen, über Umwege an sein Ziel zu gelangen. Die Beschreibung des Umweges geht über die bereits erwähnten knappen Richtungsangaben nicht hinaus. Dies ist für mittelhochdeutsche Erzählungen gemeinhin nicht ungewöhnlich, enthalten sie doch nur sehr oberflächliche topographische Angaben, was die genaue Lokalisierung des Helden bis auf einige wenige Wegmarken verhindert, denn „die Helden im Ritterepos sind ‚Personen im leeren Raum‘“22. Auch wenn der Willehalm verhältnismäßig viele konkrete Örtlichkeiten aufweist, dienen die Beschreibungen der Straßen zu Lande, aber auch zu Wasser, die zu den handlungsrelevanten Orten führen, hingegen in erster Linie der „Orientierung der Personen am Handlungsort“23. Dies trifft auch auf den oft erwähnten Fluss Larkant zu, der das Schlachtfeld als Orientierungspunkt innerhalb der Dichtung durchzieht, aber nicht geografisch lokalisierbar ist24. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die „politische Geographie [des Willehalm, C.P.] in vielen Einzelheiten unklar [bleibt, C.P.]; in ihr scheinen sich Elemente der karolingischen Geographie mit zeitgenössischen französischen […] und deutschen Vorstellungen zu vermischen“ 25. Darin offenbart sich auch der fiktionale Charakter, der dem Epos zugrunde liegt: Die topografischen Angaben sind zu unspezifisch, als dass sie der Analyse eines realen Verlaufs von Straßen und Wegen, aber auch damit verbundenen zeitlichen Bezugspunkten standhalten könnten. Die einzige Möglichkeit, den Fluchtweg Willehalms greifbar zu machen, ergibt sich aus der Betrachtung der Umgebung, durch die er führt. Beschreibungen der die Landschaft definierenden Natur, deren konkrete Züge und Eigenheiten spielen im mittelalterlichen Epos allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Schilderungen von topografischen Besonderheiten, Bodenstruktur oder Vegetation, 20 Der Begriff pfat – Pfad, befestigter Weg – findet sich im gesamten Werk nur an vier Stellen, zweimal davon in direktem Zusammenhang zum Terminus strâze, wo er synonym verwendet wird (114,4–5 und 83,15, vgl. oben). 21 Vgl. HEINZLE: Kommentar (wie Anm. 7), 891. 22 AARON GURJEWITSCH: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, 4. Aufl. München 1989, 63. 23 Ebenda, 67. 24 Er wurde von Wolfram aus seiner Vorlage übernommen. Vgl. HEINZLE: Kommentar (wie Anm. 7), 802. 25 BUMKE: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 6), 354.
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aber auch Naturerscheinungen wie Unwetter, Sternenkonstellationen etc. dienen nicht der Ausschmückung, sondern finden nur dort Erwähnung, wo sie Zeichencharakter besitzen: „Die Wiesen, Gräser, Bäume, Felsen und Schluchten werden ausschließlich in Verbindung mit den Handlungen des Helden des Ritterepos erwähnt“26. Fällt ein Held bei seinem Tod etwa in Blumen und nicht in den Staub, erhält sein Tod eine andere Wertigkeit27. So kann die Untersuchung der geschilderten Umgebung und Wegbeschaffenheit Aufschluss über den epischen Gehalt einer Reise geben. Die Bewegungen des Helden innerhalb seiner Umwelt und die etwaigen Besonderheiten der Wegbeschreibungen und -verläufe stehen im Kontext zur Handlung. Der Held wird in Relation zu seiner Umgebung gesetzt. Die Art und Weise, wie – geradeaus, auf Umwegen, zu einem Ziel hin oder von etwas weg – und die Gestaltung des Areals, durch das der Weg verläuft, sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie die Hindernisse, die sich dem Helden in den Weg stellen. Das Ziel und damit die Richtung des Weges ist Willehalm im Gegensatz zu vielen anderen Helden des mittelalterlichen Romans bekannt, doch der Streckenverlauf ist unbestimmter als die befestigte Straße; auch der Held kennt ihn zu Beginn noch nicht. Insbesondere das Fortbewegungsmittel des Helden besitzt metonymischen Charakter. Das standesgemäße Fortbewegungsmittel des Ritters ist ein stattliches ors (Schlachtross). Verändert sich dieses oder wird es gar ersetzt, gibt dies einen Anhaltspunkt über die „Wertschätzung [des Reiters, C.P.] bei Gott und der Welt“28. Das Pferd eines Ritters ist nicht bloßes Fortbewegungsmittel; vielmehr macht es den Ritter zu dem, was er ist: Ursprünglich der Begriff für einen berittenen Panzerreiter, wurde er zum Synonym höfischer Identität29. Neben seiner Funktion als „sozial differenzierendes Zeichen“ begegnet das Pferd in der höfischen Literatur „als semantisch aufgeladene Sinneinheit“30. Während aus klerikaler Perspektive das Pferd körperliche Affekte und dessen Zähmung die Kontrolle ebendieser bedeutet, spiegelt die Konstitution des Pferdes im feudalen Bewusstsein nicht nur die Tugenden des Kriegers wider31, sondern auch seine körperlichen und mentalen Eigenschaften. Dementsprechend wird die „enge Bindung von Reiter und Pferd […] auch im Regenerationsprozeß des Rit26 GURJEWITSCH: Weltbild (wie Anm. 22), 63, sowie insgesamt zum Zeichencharakter 63–67. 27 FRIEDRICH OHLY: Die Pferde im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach (1985). In: FRIEDRICH OHLY, UWE RUBERG, DIETMAR PEIL (Hg.): Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, Stuttgart u. a. 1995, 323–364, dazu hier 340. 28 Ebenda, 330. 29 Vgl. UDO FRIEDRICH: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2009, 230 f.; zur Entwicklung des Rittertums vgl: NORBERT ANGERMANN u. a. (Hg.): Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1995, 865–876 und HILKERT WEDDIGE: Einführung in germanistische Mediävistik, 7. Aufl. München 2008, 171–177. Zum Pferd im höfischen Mittelalter BUMKE: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 12. Aufl. München 2008, 236–240. 30 FRIEDRICH: Menschentier (wie Anm. 29), 231. 31 Vgl. ebenda, 233.
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ters erkennbar“32. So lässt Wolfram „den todwunden Vivianz […] in tiefsinniger Übereinstimmung ein gleichfalls wundez ors finden (47,29)“33. Dies zeigt sich auch in sprachlicher Umsetzung in der höfischen Literatur: Oft ist der Bezug der Eigenschaften symmetrisch lesbar: dô reit der künec Purrel / starc, küene und snel / ein ors, gewâpent ûf den huof (Wh. 429,9-11)34; oder Pferd und Reiter verschmelzen äußerlich zu einer Einheit: liuten und an orsen beiden / kos man phelle tiure (Wh. 33,18 f.)35. „Ganze Lebenswege mit ihren Höhen und Tiefen [werden] durch die Pferde, auf denen sie durchmessen werden, illustriert“36. Deshalb ist es unumgänglich, den Ritter, der reitend einen Weg zurücklegt, in Rückbezug auf sein Pferd zu betrachten. Willehalms Pferd Pussât wird in 37,11 vorgestellt als ein ors (Schlachtross), auf dessen Rücken schon manche Heldentat vollbracht worden ist. Ebenso wie sein Schwert Schoiûse, mit dem es in einem Atemzug genannt wird, und seinem harten und kostbaren Helm zählt es zu den Insignien seiner ritterlichen Stärke – zumindest zu Beginn des Willehalm. Im weiteren Verlauf wird es als Indikator für mögliche Veränderungen der Konstitution des Helden eigens zu betrachten sein. III. Der Ausgangspunkt der Reise – Alischanz Start- und Zielpunkt der Reise des Helden sind klar definiert: Im Willehalm prallen heidnische und christliche Welt aufeinander; vom äußersten Indien bis Griechenland wird die gesamte bewohnbare Welt zueinander in Beziehung gesetzt, wie es Florian Schmitz in seinem Beitrag zur Raumkonzeption im Willehalm nachgezeichnet hat37. Nachdem bis in den letzten Winkel des Orients Tybalts Leid bekannt geworden ist, wird es nun auch die Provence erfahren (Wh. 8,8-11). Die Handlung setzt mit einer Grenzüberschreitung ein38: Die Heiden kommen über das Meer, steigen auf die Erde in Scharen: er bedacte berge und tal, dô man komen sach den werden ûz den schiffen ûf die erden […] ze Alitschanz ûf den plân. (Wh. 10,12–17) 32 Ebenda, 236. 33 CHRISTIAN KIENING: Reflexion–Narration. Wege zum ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach (= Hermanea 63), Tübingen 1991, 241. 34 Vgl. FRIEDRICH: Menschentier (wie Anm. 29), 234. Dort auch weitere Beispiele aus der höfischen Literatur. 35 Vgl. ebenda, 238. 36 OHLY: Die Pferde (wie Anm. 27), 332. 37 Vgl. FLORIAN SCHMITZ: von Orkeise her unz an Marroch […] von Griffânje unz an Rankulât. Raumkonzeptionen im ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach. In: NIKOLAUS STAUDACH, VERA JOHANTERWAGE (Hg.): Außen und Innen. Räume und ihre Symbolik im Mittlelalter, Frankfurt a. M. 2007, 43–56, dazu hier 48–53; dazu auch BUMKE: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 6), 327–328 und 355. 38 Vgl. SCHMITZ: Raumkonzeptionen (wie Anm. 37), 54.
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Der Blick wird vom universalen Raum auf eine klare topografische Position gelenkt: Willehalms Land. Bei der nun einsetzenden Schlacht (Wh. 10,17–50,10) bleiben nur Willehalm und 14 seiner Vasallen am Leben. Nach eingehender Beratung entscheidet man sich zum Rückzug nach Orange: dô kêrt er dan […] gein Oransche drâte bî dem here allez hin. (Wh. 53,14–17)
Damit sind Verlauf und Zielpunkt des Weges, der sich vor Willehalm und seinen Begleitern erstreckt, klar definiert: immer am feindlichen Heer entlang, schnellstmöglich (drâte, Wh. 53,16) nach Orange. Sie machen sich auf den Weg, und zu Beginn der Reise scheint es, als würden sie weder verfolgt noch von anderweitig behelligt (Wh. 53,18–19), doch es kommt anders. Die Überlebenden werden angegriffen, und wieder ist das Heidenheer wie eine Grenze dargestellt, die es zu überwinden gilt. Die lange und breite, eng verzahnte Menschenmauer (Wh. 54,4 f.) bietet nur einen engen Durchlass (Wh. 54,10), und Willehalm bearbeitet sie, als durh die dicken mûre brichet der bickel (Wh. 54,20 f.). Willehalm überlebt als Einziger. Er wird zurück ins Heer getrieben. Sein Pferd trägt ihn über Wiesen und Felder, die in Blut getränkt sind von den Männern, die Willehalm währenddessen erschlägt (Wh. 55,28– 56,14). Dabei wird Willehalm von hinten, ze volge (Wh. 56,29), also beim Davonreiten angegriffen und muss sich verteidigen, indem er sein Pferd und sich selbst in die Attacke hineinwirft (Wh. 57,3). Er kann dabei sogar ein Pferd in seine Gewalt bringen, ist allerdings gezwungen zu fliehen, während er sich Stichen und Schlägen von hinten und vorne erwehrt. Das erbeutete Pferd tötet er notgedrungen (Wh. 57,8–15). Charakteristisch für diese Szene ist das von Passivität geprägte Verhalten Willehalms. Zwar präsentiert er sich äußerst wehrhaft, was durch den wiederholten Gebrauch der Termini werlîch (Wh. 56, 17 und 57,1) wie auch wer (Wh. 57,2) unterstrichen wird. Er agiert aber nicht, er reagiert lediglich auf die Angriffe der Feinde, die ihn hin und her treiben und von hinten verfolgen. Er muss kämpfen: mit dem muos er dô strîten toun (Wh. 56,20), sus muos er strîten (Wh. 57,14). Er wird von den Heiden getrieben, sus vuorten s’in (Wh. 57,19), bis er sich schließlich entscheidet, sich seinen Jägern (ieslîchem, der in jagete, Wh. 57,22) gänzlich zu entziehen. Nicht zufällig erinnert die Schilderung des Kampfgeschehens an ein Tier, das von der Meute gejagt wird39. Unterstrichen wird dieser Eindruck nicht zuletzt durch das erbeutete und getötete Pferd. Die blutgetränkten Wiesen und Äcker (Wh. 56,12), auf denen sich die Szene abspielt, bekräftigen dieses Bild ebenso wie der einzige zu findende Wegterminus slâ (Wh. 56,15) – die Spur, die ein einzelner hinterlässt, vor allem dann, wenn er ein Areal betritt, in dem zuvor keine Wege zu finden waren. 39 Vgl. FRIEDRICH: Menschentier (wie Anm. 29), 275 f.
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Durch die erneute Erwähnung der vom Meer herkommenden Übermacht (Wh. 53,24) wird ein Bogen gespannt zwischen dem Zustand vor der Schlacht und dem danach: Willehalm konnte die Mauer nur allein überwinden, seine Männer sind nun vollständig vernichtet. IV. Die Flucht in die Berge Er flieht in die Berge. Die Bewegung innerhalb dieser Umgebung gestaltet sich derart beschwerlich, dass sogar die wilden Zwerge damit Probleme hätten, deren Lebensraum der hole berc und die darüber liegenden Gebiete darstellen, die also mit den Ansprüchen des Berges vertraut sind40. Nur mit Hilfe seines Pferdes kann Willehalm den Aufstieg bestreiten. Er hat das freie Feld verlassen und befindet sich mehr noch als bisher in lebensfeindlichem Terrain: dô kêrt er gein den bergen. den wilden getwergen waere ze stîgen dâ genuoc, dâ in sîn ors über truoc. (Wh. 57,23–26)
Unmittelbar auf diese Schilderung folgt eine Stelle, die bisher in der Forschung nicht zufriedenstellend übersetzt werden konnte: seht, ob ir deheiner sî versniten! der marcgrâve ist in entriten. (56,27)
Es wird nicht klar, auf wen sich die Pronomina ir (57,27) und in (57,28) an dieser Stelle beziehen. Diverse Möglichkeiten wurden bisher diskutiert: So könnten mit ir und in die Zwerge gemeint sein, die Willehalm zertrampelt hätte. Oder aber ir könnte auf Berge oder Zwerge bezogen sein, während in als Pronomen für die Heiden interpretiert wurde, denen Willehalm davonreiten kann. Die zahlreichen Ausführungen bieten jedoch keine überzeugende Lösung41. Der Einwand Heinzles, es handele sich hier um den einzigen Abschnitt im gesamten Werk, der nicht 30, sondern nur 28 Verse umfasst, was die Annahme zulässt, „dass in der Handschrift, auf die die gesamte Überlieferung zurückgeht, vor 56,27 ein Verspaar fehlte“42, sollte nicht außer Acht gelassen werden und macht eine Deutung der Zeilen unsicher. Der Bezug auf die Heiden ist indes schon deshalb nicht überzeugend, als er sich ihnen sechs Verse zuvor entzogen hatte. Nachdem Wolfram den Fokus des Publikums unmittelbar vor dieser Stelle auf Berge und Zwerge lenkt, ist es nahe40 HEINZLE: Kommentar (wie Anm. 7), 878 und AUGUST LÜTJENS: Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung des Mittelalters (= Germanistische Abhandlungen 38), Breslau 1911, 88 f. und 91. 41 Vgl. dazu ausführlicher: HEINZLE: Kommentar (wie Anm. 7), 878–880. 42 Ebenda, 880.
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liegender, dass sich die beiden Pronomina auch auf ebendiese beziehen. So wäre es durchaus denkbar, dass ir stellvertretend für die Zwerge zu lesen ist und sich in auf die Berge bezieht. Dann könnte der Satz folgendermaßen aufgelöst werden: 43
‚Seht, ob von [den Zwergen] einer zertrümmert ist! 44 Der Markgraf ist [den Bergen] entkommen‘ .
Der Wechsel zwerc–berc war im Mittelalter eine verbreitete Formel45 und dürfte den Rezipienten bekannt gewesen sein. Die Stelle könnte demnach auch ohne Präzisierung durchaus so verstanden worden sein. Die Berge sind dabei nicht zufällig als aktiver Part gestaltet: Die Zwerge werden von ihnen zerhauen, Willehalm entkommt ihnen. Es scheint, als wären in diesem Terrain nicht mehr die Heiden Willehalms Feind, sondern die Natur selbst, die sich gegen ihn wendet. Mit dem Imperativ des Erzählers, nach Zwergen Ausschau zu halten, erhalten diese tatsächliche Präsenz: Es wäre durchaus möglich, dass sie sich dort aufhalten. Zudem ist ein wesentliches Attribut der Zwerge ihre Unsichtbarkeit46. Es ist demnach unwahrscheinlich, einen davon zu entdecken, obschon sie sich dort befinden. Der Raum, in dem sich Willehalm nun bewegt, wird damit als Lebensraum der Zwerge klassifiziert. Dementsprechend erhält Willehalms (Flucht-)Weg eine neue Qualität: Zwerge als Geschöpfe der außerhöfischen Welt, „außerhalb der Zivilisation“47. Hielt er sich bisher zwar auf dem freien Feld, aber dennoch im agrarisch-kultivierten Land auf, wird die räumliche Umgebung, in der sich Willehalm nun befindet, durch die Präsenz der Zwerge bewusst als Wildnis klassifiziert. Das Epitheton wilde (Wh. 57,24) unterstreicht diese unwirtliche Stimmung. Der Begriff wilt „umschließt alles, was außer menschlicher Kultur, Gemeinschaft, Sitte und Norm steht, alles Dämonische, Rohnatürliche, Fremdartige, Unheimliche, Wunderbare“48, synonym zum lebensfeindlichen, rechtsfreien, aber auch einsamen Raum, fernab des kultivierten Lebens der Hofgesellschaft. Die Wildnis steht im Widerspruch zur höfischen Welt, ist „Fremdraum“ und steht dem „höfische Identität vermittelnden Eigenraum [Burg, C.P.] bedrohend“ gegenüber49. Der höfische Mensch hat in ihr nichts verloren, er ist ihr auch nicht angepasst50. Hier43 Im Mittelhochdeutschen Handwörterbuch von Lexer wird versniten u. a. mit ‚zerhauen‘ übersetzt, in diesem Kontext wäre auch zerschlagen, zerschellt denkbar. Vgl. MATTHIAS LEXER: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. III, Leipzig 1979, Sp. 239–241. 44 Wörtlich in modernen Sprachgebrauch übertragen werden müsste entriten in ‚davongeritten‘, diese Formulierung drückt die bedrohliche Intensität der Situation aber nur bedingt aus. 45 Vgl. LÜTJENS: Zwerg (wie Anm. 40), 88 f. 46 Vgl. ebenda. 47 Vgl. HEINZLE: Kommentar (wie Anm. 7), 878. 48 CHRISTIAN SCHMID-CADALBERT: Der wilde Wald. Zur Darstellung und Funktion eines Raumes in der mittelhochdeutschen Literatur. In: RÜDIGER SCHNELL (Hg.): Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit, Bern u. a. 1989, 24–47, dazu hier 28. 49 ANDREAS RAMIN: Symbolische Raumorientierung und kulturelle Identität. Leitlinien der Entwicklung in erzählenden Texten vom Mittelalter bis zur Neuzeit, München 1994, 61. 50 Vgl. SCHMID-CADALBERT: Wald (wie Anm. 48), 31 und 46.
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her gelangen nicht einmal die heidnischen, aber dennoch höfischen Feinde; Willehalm ist ganz allein51. Im nun folgenden Rückblick Willehalms vom Gipfel des Berges über das Schlachtfeld wird dieses düstere Bild noch einmal unterstrichen: Die Banner der Heiden wirken wie ein riesiger Wald, als ob ûf einen grôzen walt nicht wan banier blüeten (Wh. 58,6 f.)52, Berg und Tal sind von ihm bedeckt. Der Wald als Sinnbild des lebensfeindlichen, gefährlichen, außerhöfischen Raumes, in dem rechtsfreie Gestalten wie Räuber, Waldmenschen oder Riesen ihren Rückzugsort finden, ist im höfischen Epos ein häufig benutzter Topos53. Gleichzeitig blickt er zurück auf die gemäßigte Umgebung, aus der er kam und in der er sich nun nicht mehr befindet: Felder und Furten und der Fluss Larkant (Wh. 58,10 f.) – die Umgebung, in die er wieder zurückkehren muss, um sein Ziel zu erreichen. So ist es denn auch bezeichnend, dass sich für diese Etappe keine Wegtermini finden lassen. Nicht einmal der Minimal-Weg slâ ist hier auffindbar, da sich auf rauem Felsen nun einmal keine Spuren abzeichnen. Er hat den rehten Weg nun vollends verlassen und entfernt sich dabei immer weiter von seinem Zielort Orange. Begleitet wird er über diese Etappe ausschließlich von seinem Pferd, das ihn – wie schon im Kampfgeschehen davor – davonträgt. Die einleitend bereits erwähnte Symbiose zwischen Reiter und Pferd wird schon während des ersten Feindkontakts verdeutlicht, denn mit maneger wunden von in truoc in sîn ors Puzzât (Wh. 56,10 f.). Dabei ist unbestimmt, wer viele Wunden davongetragen hat, Willehalm, sein Pferd oder beide. Gleichwohl trägt ihn sein Pferd davon, über blutgetränkte Felder und weiter über die vermeintlich unbezwingbaren Berge in sîn ors über truoc (Wh. 57,26). Die Formel sîn ors trouc lässt dabei keine Rückschlüsse darüber zu, wer von beiden die Richtung vorgibt, in die geritten wird. V. Die Rast und Vivianzʼ Tod Erst nachdem diese Etappe bewältigt ist, wird deutlich, dass beide – Pferd und Reiter –gleichermaßen verwundet sind, als Willehalm bedauernd bemerkt, wie sehr ihm Pussâts kraft getöhte, waere wir […] gesunt und âne wunden (Wh. 58,24–26). Beide können nicht mehr weiter, was sich nicht nur auf ihre körperliche Unversehrtheit bezieht, denn auch Willehalms vreude (Wh. 58,30) ist abhandengekommen. Mentale und körperliche Konstitution nehmen gleichermaßen 51 Später wird ihn seine eigene Wildheit von der Hofgesellschaft abgrenzen: er siht ouch wiltlîche (Wh. 128,9); sulen wir iht angest gein im han?// er ist so wiltlîch getan (Wh. 230, 17–18); do er so wiltlîchen sach (Wh. 270, 7). Diese Darstellung Willehalms und die damit verbundene Kritik an der Hofgesellschaft sind in der Forschung oft diskutiert worden, können an dieser Stelle aber keine Berücksichtigung finden. Vgl. mit weiterführender Literatur BUMKE: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 6), 290–295. 52 Dasselbe Bild findet sich auch in der finalen Schlacht am Ende des Willehalm zu einem Zeitpunkt, als die Heiden den Christen noch überlegen sind: Wh. 393, 20–25. 53 Zur Darstellung und Funktion des Waldes in der mittelhochdeutschen Literatur vgl. SCHMIDCADALBERT: Wald (wie Anm. 48), 24–46.
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ab. Dabei ist doch die Schnelligkeit des Pferdes seine letzte Hoffnung (Wh. 59,7 f.), sie gleicht das „Minderwesen“ Mensch aus, denn das „Pferd […] steigert Geschwindigkeit und Gewaltpotential und kompensiert […] sein körperliches Defizit54. Der Kursit, mit dem Willehalm den Schaum vom Fell des Pferdes reibt, ist aus wertvoller Triantiner Seide55 und verdeutlicht den hohen Wert des Pferdes (Wh. 59,12–14). In dieser Rast und Pflege des Pferdes erfährt das Geschehen während der Flucht seine erste Zäsur. Nachdem beide wieder zu Kräften gekommen sind, ändert sich der Modus. Willehalm führt das Pferd mit seinen Händen davon. Es ist nun nicht mehr Puzzât, der Willehalm trägt, sondern Willehalm, der vorangeht und das Pferd damit lenkt: der marcrave zoch zehant gein dem wazzer Larkant daz ors an siner hende (Wh. 59,22–25)
Der Weg führt nun wieder zurück in Richtung Feind, respektive des Flusses Larkant und von den Bergen hinunter, an vielen Steinwänden vorbei bis ins Flussbett (Wh. 59,21–25). Erst kurz vor der Entdeckung Vivianzʼ steigt er wieder auf. Einen kurzen wec, niht ze lanc (Wh. 59,26) reitet er durch Gestrüpp und findet seinen Neffen Vivianz sterbend an einer Quelle unter einer Linde liegend vor (Wh. 60,14–17). Das Durchbrechen des Gestrüpps markiert einen weiteren Einschnitt im Erzählverlauf56. Die Stimmung schwenkt um, durch Linde und Quelle wird eine fast entrückte Szene, ein locus amoenus57, aufgezeigt. Willehalm weint und trauert auf seinem Pferd sitzend um Vivianz (Wh. 60,20–61,17). Erst als er bewusstlos vor Trauer wird, sinkt er vom Pferd (Wh. 61,18–20) auf den Boden, wo er vor seinem Neffen knien bleibt. Er befindet sich nun auf dem Boden, steht auch nicht, sondern kniet – nach dem Liegen die am tiefsten gelegene Position. Dies kann durchaus wörtlich verstanden werden, hat ihn sein Weg doch immer tiefer geführt, nachdem er aufgebrochen war mit einem großen Heer, von dem ihm auch die letzten 14 Vasallen noch auf der Flucht sterben. Sein Weg führt ihn immer weiter aus der Welt in die Einsamkeit und nun in eine unwirklich anmutende Szene, in der er sein Mündel Vivianz, das ihm noch mehr anvertraut ist als alle anderen, sterbend vorfindet. Durch das kurzfristige 54 FRIEDRICH: Menschentier (wie Anm. 29), 232. 55 Trîant ist eine Stadt in Indien, vgl. LEXER: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (wie Anm. 43), Bd. III, Sp. 86b. 56 DIETER RÖTH: Dargestellte Wirklichkeit im frühneuhochdeutschen Prosaroman, Göttingen 1959, 204. 57 Jenseits des Waldes (hier Gestrüpps) liegende Gebiete, „umschlossene Oasen“ mit Baum und Quelle sind in der mittelalterlichen Literatur ein verbreitetes Symbol des Lebens, vgl. SCHMID-CADALBERT: Wald (wie Anm. 48), 33; z. B. findet sich dieses Bild auch im Lancelet, Iwein und Tristan, aber auch in Lyrik und Volksweisen, vgl. ERNST TRACHSLER: Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman (= Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 50), Bonn 1979, 158.
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Aufsteigen auf das Pferd wird diese Fallhöhe illustriert; das Stürzen vom Pferd verdeutlicht seine Hilflosigkeit58. Vivianz stirbt, und damit löst sich auch die vermeintlich idyllische Szene auf: Die Quelle ist nun ausgetrocknet, da sie Willehalm als Tränen diente, der Baum beschädigt, da ein Ast heruntergebrochen ist (Wh. 69,20–28)59. Durch das im Ast verhakte Zaumzeug ist das Pferd der Situation ebenso hilflos ausgeliefert wie sein Reiter. War die Natur zuvor noch als feindlich klassifiziert, veranschaulicht sie nun Zerstörung und Tod60. Der Märtyrertod Vivianzʼ im ‚Geruch‘ der Heiligkeit61 stellt damit den Höhepunkt in einer langen Reihe von Toden dar, die Willehalms Weg begleiten. Im weiteren Verlauf der Vivianz-Sequenz – denn diese ist mit seinem Tod noch längst nicht zu Ende – wird diese Sonderstellung in ihrer epischen Konstruktion erkennbar. Willehalm muss sich nun neu orientieren. Er nimmt den toten Vivianz zu sich aufs Pferd und sucht die Straße nach Orange (Wh. 69,29 f.). Verstärkt durch diesen Hinweis findet sich an dieser Stelle eine der wenigen konkreten Wegbeschreibungen: Die Straßen nach Orange, die er gerade noch gesucht hat, meidet er nämlich – die rehten strâzen er gar vermeit (Wh. 70,11). Stattdessen reitet er flussaufwärts am Larkant entlang in Richtung Gebirge – gein der montânje er kêrte (Wh. 70,13) –, wird trotzdem angegriffen und muss Vivianz abwerfen. Er kann die Verfolger erst durch Flucht in ein Gestrüpp abschütteln. Die Verfolger werden – anders als bei allen anderen Feindkontakten – ausdrücklich nicht näher beschrieben, denn sie sind dem Erzähler niht bekant (Wh. 70,16 f.). Vielmehr weist er noch einmal darauf hin, dass Willehalm dem angestrebten Ziel schon sehr nahe gekommen ist: sô nâhen gein dem râmes zil (Wh. 70,18). Diese zeitliche Raffung ist im Hinblick auf die vorangehenden und noch folgenden Feindberührungsszenen ungewöhnlich. Ihre Funktion erschließt sich bei genauerer Betrachtung der Struktur der Vivianz-Szene, die in sich eine interessante Symmetrie birgt: Willehalm kommt aus den Bergen hinunter ins Tal, durchbricht ein Gestrüpp (stûdach, Wh. 59,26 f.) und findet eine Quelle, eine Linde und dort den sterbenden Vivianz. Er verlässt Linde und Quelle und muss sich vor den Feinden im Gestrüpp, ebenfalls stûdach (Wh. 70,25), in Sicherheit bringen, während ihn sein Weg wieder zurück in Richtung Berge führt. Die Begrifflichkeiten sind nicht immer identisch: Die Quelle hat sich zum Ursprung seiner Tränen gewandelt, er sieht sie und weint sie leer. Dennoch ist die Symmetrie der Anordnung allzu augenfällig. Zweimal wird im Willehalm der Begriff stûdach verwendet, und zwar ausschließlich in dieser Szene62; die beiden 58 59 60 61
Vgl. FRIEDRICH: Menschentier (wie Anm. 29), 238 f. Vgl.: KIENING: Reflexion–Narration (wie Anm. 33), 241 f. GURJEWITSCH: Weltbild (wie Anm. 22), 66. Zum Märtyrertod Vivianzʼ und dem damit verbundenen Geruchswunder vgl. BUMKE: Wolframs Willehalm (wie Anm. 16), 30 f. und DERS.: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 6), 284. 62 Später flüchtet sich Willehalm noch einmal vor Feinden ins Gestrüpp, dort wird allerdings ein anderer Terminus verwendet: dicke (Dickicht), Wh. 88,28.
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Erwähnungen von Linde und Quelle sind jeweils verknüpft mit der Formulierung ob sîner swester kinde63. Zu Beginn folgt sie dem Kompositum nach, wie auch die Erwähnung Vivianzʼ dem Auffinden von Linde und Quelle nachfolgt; am Ende der Szene geht sie den Schilderungen von Baum und Wasser voran, wobei jetzt auch diese beiden Begriffe in umgekehrter Reihenfolge auftreten. Ist das Gebirge, montânje (Wh. 70,13), auch vor dem erneuten Erreichen des Gestrüpps erwähnt, so bezeichnet es dennoch den Zielpunkt, den Willehalm anstrebt. Sein Weg führt ihn davor jedoch abermals ins stûdach (Wh. 70,25). Mit stûdach ist in diesem Kontext durchaus eine Grenze beschrieben: Es markiert die Demarkation zum Feld respektive Schlachtfeld. Daraus ergibt sich folgende Konstruktion:
Auch hier findet sich der auffallend symmetrische Aufbau, den Bumke bereits für die Gesamtkonstruktion des Willehalm festgestellt hatte64. Schließlich muss Willehalm wieder zurück, um Vivianz zu holen, den er abgeworfen hatte. Dort stagniert die Reise, Willehalm wacht die Nacht über an der Stelle (Wh. 70,26–30). Er setzt seinen Plan, zurück ins Gebirge zu reiten, nicht um, da er es nicht wagt, Vivianz noch einmal mitzunehmen, um ihnen die Schmach eines erneuten Abwurfs zu ersparen65. Er muss einsehen, dass er seine Reise nur alleine bewältigen kann, denn nur wenn Puzzât ihn alleine trägt, kann er gegen die Heiden bestehen: doch muoz ich Puzâten laden wênic durh der heiden schaden. (Wh. 71,17 f.)
Er hadert die ganze Nacht mit sich; letztlich lässt er Vivianz zurück und reitet bei Tagesanbruch los, um unmittelbar darauf mit 15 Heidenkönigen zu kämpfen. 63 Genau finden sich die Begriffe in folgender Anordnung: stûdach (Wh. 59,26 f.) – daz ein brunne und ein linde // ob sîner swester kinde (Wh. 60,15–17) – ob sîner swester kinde (Wh. 69,17) // […] diu linde […] ursprinc (Wh. 69,25 f.) – stûdach (Wh. 70,25). 64 Vgl. oben, Kapitel II. 65 Erst später in 71,10–13 wird klar, wie schmachvoll diese Geste für Willehalm zu bewerten ist, denn müsste er Vivianz noch einmal abwerfen, um sich zu retten, und wäre abermals dem unerträglichen Hohn der Heiden ausgesetzt: sô waere der heiden schallen / und ir spottes deste mêr / diz bekande herzesêr / twanc in âne mâze.
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VI. Der Kampf gegen 15 Könige und gegen Arofel Die drei Aktionen – der Abschied von Vivianz, das Davonreiten und das Aufeinandertreffen der Gegner – geschehen dabei in einem Atemzug: sînen neven kust er unde reit, dâ er mit vünfzehen künegen streit (Wh. 71,21 f.). So wird ein paar Verse später ausdrücklich noch einmal betont, dass der Kampf des morgens vruo (Wh. 72,17), also zeitnah zum Zurücklassen Vivianzʼ stattfindet. Die Schilderung dieser Begegnung steht der des zuvor erwähnten Feindkontakts konträr gegenüber: Findet der Angriff innerhalb der Vivianz-Szene nur knapp Erwähnung, so wird dieses Zusammentreffen wieder in seiner vollen Breite geschildert (Wh. 72,17–76,2). Darüber hinaus geht Willehalm als Sieger aus diesem Scharmützel hervor; er muss nicht mehr fliehen. Zum wiederholten Male scheint es, als könne Willehalm den Rückweg nach Orange nur alleine fortsetzen, zusammen mit anderen – seinen 14 Vasallen oder dem toten Vivianz – ist dies offenkundig nicht möglich. Dabei möchte sich Willehalm gar nicht mit den Feinden einlassen. Er versucht vor ihnen davonzureiten, muss aber trotzdem kämpfen: Er erschlägt sieben der Könige und lässt acht verwundet zurück; einzig Ehmereiz, den Sohn Gyburcs, verschont er. An dieser Stelle findet sich ein weiteres Beispiel für die symbiotische Verschmelzung von Reiter und Pferd, denn bêde sporn [wurden, C.P.] gedrucket Puzzât durh die sîten. manlîch was ir strîten (Wh. 77,17), wobei nicht klar wird, ob Heiden oder Willehalm und Puzzât hier tapfer kämpfen. Unmittelbar auf diesen Kampf folgt der Nächste, von den reit dô vürbaz der marcrâve ûf nuiwen haz gein zwein künegen hôch gemuot (Wh. 76,3–5). Er endet ebenfalls siegreich. Dieses Mal versucht er nicht mehr davonzureiten, sondern lässt die Angreifer kommen (Wh. 77,4 f.). Allerdings ist auch diese Szene von Willehalms Passivität geprägt: Er fängt die Stöße der Speere ohne Gegenwehr ab und signalisiert, dass er ohne Kampf weiterreiten möchte – sîne reise er wênec barc (Wh. 77,6–8). Nachdem die beiden Könige aber auf ihn einschlagen sô die smide ûf den ambôz (Wh. 77,13), muss er sein Schwert ziehen und sich verteidigen. Er tötet König Tenebruns und wird daraufhin erst recht von König Arofel in Bedrängnis gebracht. Es folgt ein harter Kampf, bis Arofel „durch ein waffentechnisches Missgeschick“66 sein Bein verliert und hilflos am Boden liegt (Wh. 77,22–79,12). Er bietet dem Markgrafen unermessliches Lösegeld und fleht um sein Leben, doch Willehalm tötet den wehrlosen Mann zornig aufgrund all seiner Verluste und schlägt ihm den Kopf ab (Wh. 79,13–81,17). Diese Stelle hat große Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren. War die Tötung der anderen Könige in erster Linie der Selbstverteidigung geschuldet, ist der grausame Akt an Arofel nicht eindeutig erklärbar und kann an dieser Stelle nur im Hinblick auf den Verlauf des Willehalm-Weges betrachtet werden67. Aus dieser Perspektive wird die Tragweite dieser Handlung ersichtlich: Willehalm verrennt sich, und das auf zweierlei Weise. Hatte er bisher sein Ziel – Orange – 66 BUMKE: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 6), 287. 67 Ausführlicher zur Forschungsdiskussion mit weiterführender Literatur vgl. ebenda, 285.
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immer klar vor Augen, ist es ihm nun abhandengekommen. Er versucht nicht mehr, seine Feinde schnellstmöglich abzuwehren, wie er es bei den vorhergehenden Angriffen noch tat, und seine Reise fortzusetzen, sondern lässt sich auf langwierige Verhandlungen68 mit Arofel ein. Er steigt sogar vom Pferd herunter (Wh. 79,13) und tötet Arofel, obwohl er ihn auch zurücklassen oder besser noch als Geisel hätte mit sich führen können. Sein Zorn und sein Rachedurst haben Willehalm vom Weg abgebracht. Arofels Rüstung, in die sich Willehalm nun kleidet, und sein Pferd könnten ihm von Nutzen sein, um die feindlichen Heerscharen, die vor Orange lagern, unerkannt zu überwinden, aber dies rechtfertigt nicht sein Handeln: Rüstung wie Pferd hätte er sich auch ohne die Tötung Arofels aneignen können. So wird dieses Argument auch vom Erzähler nicht herangezogen – die einzige Bemerkung, die zur Übernahme von Pferd, Rüstung und Schild gemacht wird, ist ein Vorausblick auf noch Kommendes: Die Attribute Arofels werden es sein, die Willehalm letztlich in Not bringen, denn seine eigene Frau wird ihn nicht erkennen, wenn er es dringend bräuchte. Und sie wird sich nicht umstimmen lassen durch seine Beteuerungen, in Wahrheit Willehalm zu sein: des bekant in niht sîn selbes wîp sît, do es im wart vil nôt, swie kuntlîche rede er ir bôt. (Wh. 81,30–82,2)
Warum der Ausblick an dieser Stelle steht, bleibt fragwürdig. Die Szene, auf die sich der Erzähler hier bezieht – Willehalms Ankunft vor den Burgtoren Oranges (die später noch Beachtung finden wird) – ist auch ohne Vorbereitung der Rezipienten durch den Erzähler zu diesem Zeitpunkt klar verständlich. Die Bemerkung findet sich inmitten in der Schilderung von der Übernahme von Arofels Waffenschmuck und Harnisch durch Willehalm. Erst danach werden die anderen Dinge aufgezählt, die Willehalm von Arofel übernimmt – sein Pferd, sein Schwert und auch sein Schild, allesamt Erkennungsmerkmale des Heidenkönigs. Gyburc wird ihren Mann folglich später nicht nur am Waffenschmuck nicht wiedererkennen, Schild und Pferd verhindern ebenso die Identifizierung (Wh. 89,10–14). Willehalm tötet Arofel nicht nur und beraubt ihm all seiner Merkmale, er schlägt ihm zuletzt auch den Kopf ab – die Vernichtung des Heidenkönigs ist total. Der Hinweis auf Arofels Schild, der sich für einen König ziemen (zam, Wh. 82,8) würde, bezieht sich nicht nur auf dessen prunkvolle Aufmachung. Es ist für Willehalm nicht angemessen, denn er ist kein König. Verdeutlicht wird diese Tatsache sehr viel später, als er den kostbaren Schild mit dem Hinweis zurücklässt, er wäre ihm ohnehin zu schwer, Arofel hätte ihn tragen sollen (Wh. 204,4–6). So ist der Ausblick des Erzählers durchaus ambivalent zu deuten: Es bleibt ungewiss, ob Gyburc ihren Mann deshalb nicht erkennen wird, weil er sich als ein anderer verkleidet oder weil er ein anderer geworden ist. 68 Die Stelle umfasst immerhin 62 Verse – zum Vergleich: Der Kampf nimmt nur 26 Verse ein.
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Erst nachdem Willehalm auf Arofels Pferd aufgesessen hat, erfährt der Rezipient, dass Puzzât schwer verletzt ist (Wh. 82,9). Als Willehalm absteigt, um den Heidenkönig zu erschlagen, findet die Verletzung noch keine Erwähnung. Dieser Umstand dient demnach nicht zur Begründung für den Pferdetausch. Er sitzt bereits, als er sein eigenes losbindet, um es zurückzulassen. „Ein Pferdewechsel geschieht nicht ad libitum, er markiert eine Station des Lebens“69. Doch es folgt ihm auf dem Fuß (Wh. 82,12–14). Dieses Verhalten ist ungewöhnlich, denn „Anhänglichkeit ist unbekannt“70 und verhindert an dieser Stelle den gänzlichen Vollzug des Pferdetauschs – Willehalm besitzt immer noch beides: sein altes und ein neues Pferd. VII. Das Ziel: Orange Erst jetzt, nachdem er sein Pferd ausgetauscht und sich in einen Heiden verwandelt hat, führt ihn sein Weg ohne Verfolgung bis vor Orange. Doch vor der Stadt sind die Pfade und auch die Straße, die nach Orange führt, übersäht von feindlichen Kriegern (Wh. 83,15–17). Willehalm reitet ohne Widerstände auf das Heer zu und sucht sich seine Bahn durch Lücken in den feindlichen Linien jenseits der befestigten Wege über Wiesen und Äcker (Wh. 83,27–29). Auf diesem Übergang zwischen diesen feindlichen Linien und seiner Ankunft vor den Toren Oranges scheint die Assimilation zum Heiden einen kurzen Moment lang vollständig: Er spricht heidnisch, der Schild, den er mit sich führt, ist heidnisch, das Pferd, das er reitet, ist heidnisch, die gesamte Rüstung, die er trägt, ist heidnisch (Wh. 83,19–23). Erst rund 15 Verse später zeigt sich, dass dies ein Trugschluss war, denn das wunde ors, das ihm allzu treu folgt, und sein Pelzrock aus Hermelin, den er anbehalten hat, enttarnen ihn (Wh. 84,20–30): do Puzzat vür unbetrogen sô eben zogt ûf sîner slâ, des bekanden in die heiden da (Wh. 84,28–30)
Die Feinde stellen das Pferd in Verbindung mit den Taten, die Willehalm begangen hat (Wh. 85,1; 85,5 und 85,10), und verfolgen ihn in berge und tal (Wh. 85,24). Es ist also der allerletzte Rest seiner französischen Kleidung und seines Pferdes – das sich immer mehr zersetzt – die ihm die letzten Meter zum Ziel verwehren. Sein Pferd kann ihm nicht mehr helfen, es ist Arofels ors Volatîn (Wh. 85,25), dem er sein Leben verdankt. Wieder ist es ein Gestrüpp (dicke, Wh. 88,28), in das er sich flüchtet und entkommt und letztlich unbehelligt die Tore Oranges erreicht (Wh. 88,30). Sein Pferd Puzzât allerdings lac tot (Wh. 88,23). Die von Willehalm verspürte Trauer erscheint untypisch für Pferdebeschreibun-
69 OHLY: Die Pferde (wie Anm. 27), 330. 70 Ebenda, 363.
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gen im Mittelalter71, zumal ihn der Tod des Pferdes augenscheinlich in die Lage versetzt, unbehelligt bis Orange vorzudringen. Vor den Toren Oranges wird darauf nochmal aufmerksam gemacht: Nicht sein Pferd, sondern das Pferd eines Heiden ist es, das ihn vor die Stadt trägt. Sein Heer und Vivianz sind ebendiesen Heiden zum Opfer gefallen und nicht nur sie, auch sich selbst hat er verloren, letztlich seine Identität. Gyburcs Beobachtung, dass das Pferd, das da vor den Toren steht, so ganz anders ist als Puzzât, Arofels ors Volatîn was niht sô puzzât getân bezieht sich auch auf den Mann darauf: [...] ir sît ein heidensch man! (Wh. 89,14–16). Willehalm ist nun ein anderer – Pussât, sîn ors, lac tot (Wh. 88,23) – und mit ihm ist alles, was ihn bisher definiert hat, erloschen72. Der Verfall des Pferdes verlief analog zum Verfall der Identität Willehalms. Das neue Pferd bildet keine Einheit mehr mit ihm, Willehalm ist in Erscheinungsbild und Außenwahrnehmung angepasst an das Pferd. Die Deklaration Volatîns unterstreicht diesen Eindruck, wird es auch nach Puzzâts Tod weiterhin konsequent als Arofels ors Volatîn (Wh. 82,4; 85,25; 89,14) bezeichnet. Vor den Toren Oranges sieht sich Willehalm abermals einer Grenze gegenüber, die es zu überwinden gilt, doch dieses Mal kann er dies nicht mit Waffengewalt erreichen. Wie es der Erzähler prophezeit hat, wird er nicht mehr erkannt. Das Aneignen der Attribute Arofels und der Tod seines Pferdes markieren demnach einen vollständigen Identitätsverlust. Nur verdeckt besitzt er Erkennungsmerkmale: sein Schwert Schoiuse, den französischen Hermelin und nicht zuletzt seine entstellte Nase, die er einst im Dienste Karls des Großen verloren hatte73. Obwohl ihn diese mühelos identifizieren könnte, fordert Gyburc Willehalm auf, sich zu beweisen, indem er eine Schar gefangener Christen befreit, die just in diesem Moment vor den Toren Oranges vorbeigeführt werden. Erst nachdem dies vollbracht ist, lässt sich die Königin Willehalms Nase zeigen. Joachim Bumke hat freilich Recht, wenn er bemerkt, dass „in der französischen Dichtung die Handlung an dieser Stelle besser motiviert [ist]. Guiborc verlangt, zum Beweis seiner Identität Guillaumes Nase zu sehen, daraufhin nimmt Guillaume sofort seinen Helm ab (2058)“74. Dies dürfte auch Wolfram bewusst gewesen sein, dennoch lässt er Willehalm erst durch seine Taten identifizieren. Dabei mutet nicht nur die Anordnung der Handlungsteile selbst unlogisch an, auch die Handlung selbst erscheint paradox: Bei der Befreiung der Christen ruft er seinen Schlachtruf Monschoi und zieht sein Schwert – er hat die heidnische Sprache abgelegt und enthüllt durch das Schwert das letzte seiner Attribute, das ihm geblieben ist. Trotzdem kann er die Heiden nur deshalb bezwingen, weil er Arofels Rüstung trägt und sie nicht wagen, gegen den vermeintlichen Heidenkönig 71 Vgl. ebenda. 72 Zum Vergleich: Ganz anders gestaltet sich die zweite Rückkehr Willehalms in heidnischer Verkleidung. Wird bei der ersten Heimkehr noch ausdrücklich betont, dass die Königin sich nicht überzeugen ließ, swie kuntlîche rede er ir bôt, erkennt sie ihn beim zweiten Mal allein an seiner Stimme (Wh. 228, 22 f.). 73 Deshalb auch der Beiname au Court Nez (vgl. oben, Abschnitt I). 74 BUMKE: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 6), 287 f.
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vorzugehen. Zum ersten Mal wird die Verkleidung Willehalms als vorteilhaft geschildert: der marcgrâve wîse Arofels wâpen dâ genôz (Wh. 91,4 f.), denn die Heiden vorhten, daz erʼz waere, und erschracten sô der maere, dazʼs si ir gewin liezen stên (Wh. 91,9–11). Willehalm gibt sich hier deutlich als Markgraf zu erkennen und profitiert dennoch von der gestohlenen Rüstung. Erst nachdem Willehalm auf eine weitere Verleugnung seiner Identität verzichtet, kann er sich Arofels Attribute zu Nutze machen. Er muss seine Identität, deren Verlust es ihm erst möglich gemacht hat, Orange zu erreichen, wiedererlangen. Besinnt er sich nun nicht seiner Selbst, erkennen ihn die Seinen nicht (an) und er kann nicht zurückkehren. Mit dem Abnehmen des Helms zerstört er endgültig das Bild des Heidenkönigs. Er hat sich von Arofel zurück zu Willehalm entwickelt. Beim Verlassen Oranges nach der nun folgenden Zwischeneinkehr bestätigt der Erzähler noch einmal ausdrücklich den Vorteil, den Willehalm nun zum wiederholten Male aus der Ausrüstung Arofels zieht, denn der marcgrâve anderstunt genôz Arofels wâpen, diu er truoc (Wh. 105, 22 f.). Volatîn allerdings findet sich nun nicht mehr unter der Bezeichnung ‚Arofels Pferd‘ – es ist nun Willehalms ors Volatîn (Wh. 112,10). Er wird den Weg zum König uf sînem orse Volatîne (Wh. 200,21) bestreiten75. Auch dieses Mal wird er nicht enttarnt. Er sucht und findet eine Straße, die ihm bekannt ist: Die Straße gein der Franzoiser lande (Wh. 105,28–30)76 und erreicht auf ihr ohne Probleme sein erstes Etappenziel: Orlens. Die Wegform slâ, die Hufabdrücke, die ein einzelner hinterlässt77, sind zur strâze geworden, Willehalm reitet nun al der diete slâ (Wh. 113,5 f.). VIII. Resümee Willehalms Weg der Flucht führt ihn räumlich vom Schlachtfeld ins Gebirge bis hin zu den Grenzen des Irdischen, aus der höfischen Welt in den Raum weit aus der Gesellschaft hinaus. Von vornherein ist klar, dass er die rehten Wege, die befestigten Straßen, nicht nutzen kann; er muss über Umwege an sein Ziel Orange gelangen. Dies spiegelt sich auch in den vorhandenen Wegtermini wider: Die Bezeichnung strâze findet sich ausschließlich in Verbindung mit der Übermacht der Heiden, die diese belagern und dadurch unpassierbar machen. Willehalm bewegt sich auf der Minimalform des Weges – der slâ (Spur), die meist erst durch den Reisenden selbst entsteht. Seine Flucht führt ihn schließlich in ein Gelände, das nicht einmal diese Wegform mehr zulässt, in das Gebirge, ein Terrain abseits jeglicher Zivilisation und damit weit hinaus aus der höfischen Welt. In einer entrückten Szene von absolut symmetrischem Aufbau findet er den sterbenden Vivianz. 75 Nur einmal noch wird Volatîns Herkunft thematisiert: Rennewart bemerkt ein Brandmal auf dem Pferd (Wh. 232,3–10), was der Erzähler zum Anlass nimmt, noch einmal auf die Todesumstände Arofels hinzuweisen. 76 Zum Begriff des Franzois vgl. BUMKE: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 6), 128 f. 77 Vgl. TRACHSLER: Weg (wie Anm. 57), 75.
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Diese Wegmarke markiert gleichzeitig Willehalms Tief- und Wendepunkt. Er reitet nicht mehr, er geht das letzte Stück zu Fuß, steigt noch einmal auf, um die Fallhöhe zu demonstrieren, sinkt schließlich vom Pferd und kniet am Ende auf dem Boden. Bei seinem Abschied ist der idyllische Raum zerstört. Hat er danach sein Ziel noch fest im Blick und lässt sich von den nun folgenden unvermeidlichen Kämpfen nicht vom Weg abbringen, verliert er es in der Arofel-Szene vollends aus den Augen. Ein weiteres Mal steigt er vom Pferd, und dieses Mal ist es nicht die Ohnmacht der Trauer, sondern sein Zorn und Rachedurst, die ihn aus eigenem Antrieb zu Boden bringen. Er eignet sich alle Attribute des Heidenkönigs an und ist fortan nicht mehr als Willehalm zu erkennen. Lediglich sein eigenes, schwer verletztes Pferd Pussât und ein unter seiner Verkleidung hervorscheinender Pelzrock enttarnen ihn. Erst als Pussât tot ist und ihm nicht mehr folgen kann, ist seine Assimilation zum Heidenkönig vollends abgeschlossen. Er wird nicht mehr erkannt. So spiegelt die Konstitution des Pferdes und dessen langsamer Verfall gleichsam den Verfall Willehalms wider. Er hat auf seiner Flucht nicht nur seine Gefolgsleute, sein Mündel und sein Pferd verloren, sondern auch all die Attribute seines Selbst. Das Pferd Arofels aber wird weiterhin als Arofels ors Volatîn (Wh. 82,4; 85,25; 89,14) deklariert. Vor den Toren seiner Stadt wird er nun auch von den Seinen nicht mehr als Willehalm erkannt und muss nun durch seine Taten seine Identität zurückerlangen und unter Beweis stellen. Erst im Nachgang identifiziert er sich durch seine äußeren Merkmale, indem er Stück für Stück die Kleidung des Heidenkönigs ablegt. Nun erst ist er in der Lage, nach Orange zurückzukehren und seine Reise zum König anzutreten. Diesen Weg wird er mit Volatîn bestreiten, das nun Willehalms ors Volatîn (Wh. 112,10) geworden ist. Der Held in Wolframs mittelhochdeutschem Ritter-Epos benutzt eine Vielzahl unterschiedlicher Wege und Straßen. Neben dem rechten, da zielgerichteten Weg ist es der Umweg sowie der gleichsam wegelose Irrweg in der Wildnis, die ihn von Alischanz zurück in die Stadt Orange führen. All diese Wege geben dem Handeln der literarischen Person eine Richtung respektive ein Ziel. Sie sind aber auch ansonsten Teil der Handlungen, da Straßen und Wege stets eingebunden sind in topographische Umgebungen wie Berge, Wald, Gebüsch oder Wiesen und Felder. Diese – gleichwohl fiktionalen und unspezifischen – Bezugspunkte, der wilde Raum auf der einen und das kultivierte Land auf der anderen Seite und mit diesen die befestigten strâzen, Pfade, durch Hufabdrucke entstandene slâ oder andere Wege, haben somit einen epischen Gehalt, indem sie Aufschluss darüber geben, wie weit sich der Held bereits vom rechten Weg und damit auch von der höfischen Welt entfernt hat. Entscheidend ist überdies, dass sich Willehalm nie alleine, sondern stets mit einem Pferd fortbewegt. Dieses gleicht nicht nur die Schwächen seines Reiters aus, indem es ihn beispielsweise durch seine Schnelligkeit vor Feindkontakt bewahrt oder in Gebiete vordringen kann, die ein Mensch allein nicht überwinden könnte, es bildet darüber hinaus eine Einheit mit dem Helden und spiegelt seine äußere und innere Konstitution wider. Der körperliche Zustand des Pferdes erhält damit ebenso wie die Gestaltung der Wegstrecken und Topographie des mittelalterlichen Romans metonymischen Charakter.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 36 (2018), S. 151–178
STRASSEN UND WEGE IN DER ARTUSEPIK Wolframs von Eschenbach Beitrag zu einer topographischen Beschreibungstechnik im Parzival Simon Falch ABSTRACT Folgender Beitrag geht der Frage nach, was die mittelhochdeutsche Literatur zu einer historischen Wege- und Straßenforschung beitragen kann. Die erzählenden Texte der Zeit um 1200 bieten nicht nur besonders frühe Belege für Straßennamen und/oder -bezeichnungen, sondern auch exakte Beschreibungen von (fiktionalen) Wegen, wie sie in anderen Kontexten kaum anzutreffen sind. In der Artusepik, besonders aber in Wolframs von Eschenbach Parzival übernimmt der konkret dargestellte Weg zahlreiche Funktionen, beispielsweise als Raumkonstituente, als Verknüpfung der Episoden und schließlich als metonymischer Verweis auf den viator selbst, dessen sprechender Name Parzeval („Durchdringe-das-Tal“) deutlich macht, wer dirre âventiur hêrre sî. The following article investigates what Middle High German literature can contribute to historical research on paths and roads. Narrative texts dating from around 1200 not only provide particularly early evidence for street names and terms, they also give accurate descriptions of (fictional) roads and directions that can hardly be found elsewhere. In Arthurian romance – but especially in Parzival by Wolfram von Eschenbach –, the specific path assumes numerous functions, e. g. as spatial constituent, as a connector between episodes, and as metonymic reference to the viator himself, whose aptronym Parzeval (“traverse the valley”) emphasizes wer dirre âventiur hêrre sî.
Der Wolframschen Topographie im Parzival1 ist nicht auf die Spur zu kommen2. Versuche, trotz kaum vorhandener Distanz- und Richtungsangaben eine Karte anzulegen, gibt es zwar, wie nachfolgende Abbildung zeigt3, doch ist ihr heuristischer Wert beschränkt4. Wynns Skizze kann sogar in die Irre führen, da sie bei1
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WOLFRAM VON ESCHENBACH: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von KARL LACHMANN. Übersetzung von PETER KNECHT. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und Einführung in Probleme der ‚Parzival‘Interpretation von BERND SCHIROK, 2. Aufl. Berlin/New York 2003. Sofern nicht anders angegeben, folgen die Textzitate und die Übersetzungen dieser Edition. Vgl. HELLMUT ROSENFELD: Die Namen in Wolframs ‚Parzival‘. Herkunft, Schichtung, Funktion. In: Wolfram-Studien 2 (1974), 36–52, hier 36. MARIANNE WYNN: Geography of Fact and Fiction in Wolfram von Eschenbach’s Parzival. In: The Modern Language Review 56 (1961), 28–43, hier 33. Vgl. KONRAD HOFMANN: Ueber die Lokalität von Pelrapeir in Wolframs Parzival. In: Romanische Forschungen 1 (1883), 438 f. WERNER NELL: Atlas der fiktiven Orte. Utopia, Camelot
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Simon Falch
spielsweise die Gralsburg Munsalvæsche – ohne damit einen realen Ort bezeichnen zu wollen – in Relation zu anderen Angaben lokalisiert5. Freilich ist die Gralsburg gar nicht zu finden, sondern offenbart sich nur den Auserwählten:
250,25 diu ist erden wunsches rîche. swer die suochet flîzeclîche, leider der envint ir niht. vil liute manz doch werben siht. ez muoz unwizzende geschehen, swer immer sol die burc gesehen6.
Versuche, Munsalvæsche, Karidol, den Herrschaftsbereich König Artusʼ oder das historische Vorbild für seine Figur zu finden, also die Fiktionalität der Texte auf
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und Mittelerde, Mannheim 2012, 30; JOACHIM BUMKE: Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin/New York 2006, 81. WYNN: Geography (wie Anm. 3), 33. Es gibt, abgesehen von den „Richtungsangaben (nach rechts und nach oben), aus denen für den Rezipienten lediglich folgt, dass die Burg höher als der See liegt“, keine Information, wo die Burg zu finden sei, so ANDREA GLASER: Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts (= Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1888), Frankfurt a. M. 2004, 76. Zur Ungewissheit des Aventiure-Ritters siehe STEPHAN FUCHS-JOLIE: stainwant. König Otnits Tod und die heterotope Ordnung der Dinge. In: SONJA GLAUCH, SUSANNE KÖBELE, UTA STÖRMER-CAYSA (Hg.): Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, Berlin/Boston 2011, 39–60, hier 48. KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 254: „Die ist herrlicher als alles, was man auf Erden wünschen kann. Wer sie mit Fleiß sucht, tut mir leid, er wird nichts von ihr finden. Und trotzdem sieht man viele Leute, die es unternehmen. Der Anblick dieser Burg muß einem ohne Wissen geschehen, man kann sie nicht einfach anschauen“.
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die Probe zu stellen, bleiben reizvoll, wenn auch letztlich unfruchtbar7. Im Folgenden wird daher nichts dergleichen erprobt. Weder erscheint es sinnvoll, das Verhältnis von Fakten und Fiktionen grundsätzlich zu diskutieren, noch Straßennennungen und Wegbeschreibungen mit der Absicht zu sammeln, Bezugspunkte zur außerliterarischen Wirklichkeit der erzählten Welt zu ermitteln. Diese bestehe schließlich „aus Orten ohne konkreten Ort, ohne objektivierbare Wege, nach denen man sie wie nach Koordinatenangaben in eine Karte einzeichnen könnte“, so Störmer-Caysa8. Auch wenn Ortsnamen (Toponyme) oder Straßennamen (Hodonyme) begegnen, wird eine Orientierung so unmöglich gemacht. Dabei schließt der Parzival alle Weltgegenden ein, reicht von Affricâ (496,4) über Dôlet (Toledo; 48,8) nach Tolenstein (Dollnstein; 409,8) ins Frankenland, nach Dürngen (Thüringen; 639,12) über Persîâ (15,17) bis nach Indyâ (822,29)9. Dieser Eindruck geographischer Exaktheit ist, wie bereits erwähnt, trügerisch. Im Parzival finden sich unter den 260 Ortsangaben mit Blick auf den Orientteil lediglich zehn, die sich als „echte zeitgenössische“ Namen verifizieren lassen10. Es ist demnach, so Kunitzsch, der die Angaben Wolframs mit denen in Chroniken verglich, davon auszugehen, dass im Orientteil „wohl ausschließlich Chronikmaterial verwertet ist“11. Gegenüber dem Conte du Graal gebe es im Parzival insgesamt, so Bumke, „über hundert verifizierbare geographische Namen“ doch blieben Soltane, Brobarz oder auch Belrapeire dennoch „geographisch unbestimmt“12; Artus residiert aber in Nantes. Wolfram scheint es mit derartigen Erweiterungen um die Erzeugung von „Welthaltigkeit“13, also um die Öffnung für Außerliterarisches zu gehen, wobei der ‚Trick‘ in der Mischung von realen und fiktiven Bezugspunkten liegt. Manche Hinweise erschließen sich nur Hörern, die mit der Region des Dichters vertraut sind14, andere nur Kennern der Artusepik und der transfiktionalen Welt dieser Gattung mit ihren intertextuellen Verweisen auf (fiktive) Orte15, andere setzen hingegen keine speziellen Vorkenntnisse, gelegentlich aber
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Zu „König Artus in chronikaler Überlieferung“ siehe KURT RUH: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. I. Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue (= Grundlagen der Germanistik 7), Berlin 1967, 97–101. Vgl. auch STEFAN ZIMMER: Die ältesten Zeugnisse von Artus. In: DERS. (Hg.): König Artus lebt!, Heidelberg 2005, 9–34, hier 11. UTA STÖRMER-CAYSA: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin 2007, 67. Vgl. zu der Frage nach möglichen Auftraggebern Wolframs MICHAEL DALLAPIAZZA: Wolfram von Eschenbach: Parzival (= Klassiker Lektüren 12), Berlin 2009, 23–25. PAUL KUNITZSCH: Quellenkritische Bemerkungen zu einigen Wolframschen Orientalia. In: Wolfram-Studien 3 (1975), 263–275, hier 267. Ebenda. JOACHIM BUMKE: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl. Stuttgart/Weimar 2004, 202. Vgl. MARKUS STOCK: Lähelin. Figurenentwurf und Sinnkonstitution in Wolframs Parzival. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 129 (2007), 18–37, hier 19. Vgl. HUGO STEGER: Abenberc und Wildenberc. Ein Brief mit einem neuen Vexierbild zu einer alten Parzival-Frage. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105 (1986), 1–41, hier 4 f. Vgl. DENNIS HOWARD GREEN: Fiktionalität und weiße Flecken in Wolframs ‚Parzival‘. In: Wolfram-Studien 17 (2002), 30–45, hier 31.
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philologisch-hermeneutische Fertigkeiten voraus16. Uns wird erklärt, dass man kristen ê begêt / ze Rôme (13,26 f.) und in Fontân la salvâtsche […] der kiusche Trevrizent dâ saz (452,13–15), aber auch, dass ein Regenspurger zindâl / Dâ wær ze swachem werde, / vor Bêârosche ûf der erde (377,30–378,2). So erfährt der Rezipient etwas Überprüfbares, dass nämlich in Rom der Glaube verwaltet werde, während sich die beiden anderen Aussagen, dass sich die Klause Trevrizents in „Heilsbrunn“17 befände, wie Wolframs französisierter Name insinuiert oder man in einem Waffenkleid aus Regensburger Seide18 im Heeresaufgebot vor Bearosche underdressed gewesen wäre, nicht verifizieren lassen – wann wurde dort gekämpft, wo liegt gleich nochmal das Château? Wegbeschreibungen helfen hierbei generell nicht weiter, denn reale Orte oder Straßen gibt es im Umkreis von Fontan la salvatsche oder Bearosche nicht: Parzival stellt seinen Weg Gott anheim (452,1–12, s. u.), und Gawan reitet irgendwann in einen Wald hinein und folglich auch wieder aus diesem heraus, ohne dass wir viel mehr erfahren (339,15 ff.)19. Doch mag es für die Beschäftigung mit Wegen und Straßen aus kulturgeschichtlicher Perspektive nachrangig sein, ob diese reale Entsprechungen besitzen, da alle Zeugnisse des Phänomens unabhängig von ihrem ontologischen Status für dessen Verständnis im Kontext der Zeit von Bedeutung sind. Unter dieser Kautel scheint ein germanistisch-mediävistischer Beitrag möglich, obwohl die Zahl konkreter Wegdarstellungen in volkssprachigen literarischen Texten des Mittelalters beschränkt ist20.
16 Vgl. STEGER: Abenberc (wie Anm. 14), 39. 17 Ebenda. 18 WOLFRAM VON ESCHENBACH: Parzival. Nach der Ausgabe KARL LACHMANNS revidiert und kommentiert von EBERHARD NELLMANN. Übertragen von DIETER KÜHN, Bd. 2 (= Bibliothek des Mittelalters 8/2), 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2015, 637 (zu V. 377,30): ein „leichter, taftähnlicher Seidenstoff“. 19 Vgl. CARSTEN MORSCH: Blickwendungen. Virtuelle Räume und Wahrnehmungserfahrungen in höfischen Erzählungen um 1200 (= Philologische Studien und Quellen 230), Berlin 2011, 142. 20 Grundlegende Informationen bieten: WOLFGANG HARMS: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges (= Medium Aevum 21), München 1970; ERNST TRACHSLER: Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman, Bonn 1979; WOLFGANG HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen für alte Fernwege im Deutschen, vorwiegend nach westmitteldeutschen Quellen dargestellt. In: FRIEDHELM BURGARD, ALFRED HAVERKAMP (Hg.): Auf den Römerstraßen ins Mittelalter. Beiträge zur Verkehrsgeschichte zwischen Maas und Rhein von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert (= Trierer historische Forschungen 30), Mainz 1997, 97–181; GERTRUD BLASCHITZ: Unterwegs in der mittelhochdeutschen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. Das sprachliche und literarische Erscheinungsbild von Weg und Straße in der Heldenepik, im Frauendienst des Ulrich von Liechtenstein und im Helmbrecht von Wernher dem Gärtner. In: THOMAS SZABÓ (Hg.): Die Welt der europäischen Straßen, Köln/Weimar/Wien 2009, 185–214.
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I. „Wege und Straßen“ in der mittelhochdeutschen Literatur: Versuch eines onomasiologischen Zugangs Setzt man bei Straßennamen an, um einschlägige Textstellen in mittelhochdeutschen Großerzählungen zu identifizieren, fällt der Befund zunächst ernüchternd aus. Mit Blick auf die Kategorisierungen Haubrichs in seinen Prolegomena zu einer „historischen Semantik“21 der Altstraßen findet sich im Parzival, dem komplexesten Roman der Zeit, neben den zahlreichen Ortsnamen nur ein Straßenname, der als nomen proprium aufgefasst werden könnte. Die Rede ist von der waltstrâze22 (180,5), die von Grâharz / in daz künecrîch ze Brôbarz / durch wilde gebirge hôch (180,17–19) führt. Dem Namen nach ließe sich diese (uneigentliche) waltstrâze, die hier einen Nicht-Weg bezeichnet (doch dazu später mehr), neben eine schon in althochdeutscher Zeit belegte silvatica via bei Fulda stellen oder eine spätere „1553 bei Anhausen“ genannte, die einen Zweig der Frankfurt-Kölner Straße bezeichnet23. Das Wörterbuch der Mittelhochdeutschen Urkundensprache24, in welchem 3 583 Dokumente ausgewertet sind, die zwischen 1200 bis 1300 verfasst wurden25, kennt lediglich fünf Belege für eine waltstrâze, alle aus Rottweil (im Zeitraum 1280–1295)26, womit der wohl um 1200–1210 entstandene Parzival27 – nach derzeitigem Erkenntnisstand – den frühesten Beleg für dieses Kompositum bietet. Eine Waldstraße wird aber auch im zeitgleich oder wenig später verfassten Tristan (1200–1220) erwähnt28; hier trifft Rûal auf der Suche nach dem ‚Titelhelden‘ zwei Pilger (TR 3807), und im Wilhelm von Wenden Ulrichs von Etzenbach (um 1290)29 fahren auf einem solchen Fernweg mang[e] stark[e] wagen (5774; 5799). Aber einzig im Parzival werden die (fiktiven) Orte genannt, die die über einen Berg führende (uneigentliche) waltstrâze verbindet. Im Kontext einer überregional konzipierten Erzählwelt mag diese Bezeichnung 21 22 23 24
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HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen (wie Anm. 20), 97–181. Hier im Nominativ angegeben, in der Vorlage schwach flektierter Dativ (waltstrâzen). HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen (wie Anm. 20), 132, Anm. 237, 238. Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache auf der Grundlage des Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300. Unter Leitung von Bettina Kirschstein und Ursula Schulze erarbeitet von SIBYLLE OHLY und PETER SCHMITT. Bd. 1–3, Berlin 1994– 2010. [Im Folgenden: WMU]. Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300, Bd. 1–5, bis Lieferung 55, Lahr und Berlin 1932–2004. Siehe Details unter http://tcdh01.uni-trier.de/cgibin/iCorpus/CorpusIndex.tcl [01.03.2018]. WMU (wie Anm. 24): s. v. ‚waltstrâze‘‚ Bd. 3 (2010), 2313. JOACHIM BUMKE: Art. ‚Wolfram von Eschenbach‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 10, Berlin/New York 1999, 1376–1418, hier 1378. Eine Überlieferungsübersicht bietet die Internetseite des Parzival-Projekts, http://www.parzival. unibe.ch/hsverz.html [01.03.2018]. HUGO KUHN: Art. ‚Gottfried von Straßburg‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 3, Berlin/New York 1981, 153–168, hier 155. HELMUT DE BOOR: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil 1250–1350, 5. Aufl., neubearbeitet von JOHANNES JANOTA (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 3,1), München 1997, 96.
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für eine Fernverbindung zu erwarten sein, was auch dazu beitragen könnte, die geringe Belegdichte in lokal und regional verhafteten Urkunden zu erklären. Schließlich muss aber auch nicht jeder Weg oder jede strazze duerch den walt, wie im Garel (GAR 11136, 11138, 20840)30, in einen walt (IW 5781), gegen dem walde, wie im Wigalois (WGL 1127; CRO 19342), ûz einem walt (PZ 339,16; 397,26) oder für ein clârez fôreht (PZ 601,10) gleich waltstrâze heißen, wie umgekehrt nicht durch jeden Wald zwangsläufig auch eine via, strata publica31 führt: owê!, / jâne gêt niht weges leider dar (WGL 4321 f.; ER 5313 f.). Die nämliche Beobachtung gilt einer Straße, die über einen oder mehrere Berge führt32 und auch nicht gleich – gemäß ihrer Lage – bergstrâze genannt werden muss. Nur im Alexander Rudolfs von Ems (13631) und im Rennewart (14700) zeigt die Suchanfrage in der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (= MHDBDB) Erfolg, wohingegen die mittelhochdeutschen Wörterbücher33, einschließlich des WMU, das Lemma gar nicht kennen. Die Belegdichte für Eigennamen von Wegen – wenn es denn in den oben genannten Fällen zuträfe – ist denkbar gering. Überhaupt scheint die Nichtbenennung von Straßen in der Großepik der Zeit die Norm darzustellen, selbst in der Heldendichtung34, in der sich zahlreiche Bezüge zum „damaligen Straßennetz“ nachweisen lassen35. Weder in der Kudrun36 noch im Nibelungenlied37 findet sich aber ein einziges Hodonym38! Stattdessen werden hier nur mit Ortsangaben ver30 Werkkürzel folgen der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (http://www.mhdbdb. sbg.ac.at [01.03.2018]). Soweit nicht anders angegeben, wird jeweils aus der dort angegebenen Textgrundlage zitiert. Weitere Belege: MEL 4263; 4956, TAN 4174, VIR 662,13. 31 HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen (wie Anm. 20), 111. 32 Siehe Garel von dem blühenden Tal (11141 f.); Der guote Gêrhart (2635–2639). 33 MATTHIAS LEXER: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde., Leipzig 1872–1878. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von GEORG FRIEDRICH BENECKE ausgearbeitet von WILHELM MÜLLER und FRIEDRICH ZARNCKE, 3 Bde., Leipzig 1854– 1866. 34 Vgl. JOACHIM HEINZLE: Art. ‚Heldendichtung‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, 2000, 21–25. 35 Vgl. BLASCHITZ: Unterwegs (wie Anm. 20), 197. 36 Auch in der Kudrun findet eine Kombination von Namen unterschiedlicher Provenienz statt, vgl. DAVID BLAMIRES: The Geography of ‚Kudrun‘. In: Modern Language Review 61 (1966), 436–445, hier 445. 37 Zu Ortsnamen im Nibelungenlied vgl. ELKE BRÜGGEN: Räume und Begegnungen. Konturen höfischer Kultur im Nibelungenlied. In: JOACHIM HEINZLE (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, Wiesbaden 2003, 161–188. 38 BLASCHITZ: Unterwegs (wie Anm. 20), 211. Dafür kommt allein in der Kudrun (KU 836,4) und im Nibelungenlied (NLBB 376,3; NLA 376, 3; NLB 378,3 und NLC 386,3) eine wazzerstrâze vor. Einmal Wate und einmal Sigfried kennen den rechten Weg übers Meer und sind damit als herausragende Helden gekennzeichnet. Darüber hinaus ist Sigfried auch Seefahrer, der „nach dem Steuer greift, wenn es darum geht, ein Schiff zu bedienen“, so REINHARD KRÜGER: Sivrit als Seefahrer. Konjekturen zum impliziten Raumbegriff des Nibelungenliedes. In: JOHN GREENFIELD (Hg.): Das Nibelungenlied, Porto 2001, 115–147, hier 137. Einen wazzerwec gibt es im Herzog Ernst D (ERD 46,5) und in der Tochter Syon (TSY 1892), doch soll in beiden Fällen kein spezifisches Ziel erreicht werden.
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bundene Richtungen genannt: Beispielsweise im Nibelungenlied „fünfmal [...] die Strecke zwischen Worms und Gran“ und in Dietrichs Flucht mehrmals die Straße von „Verona (Bern) und Ravenna (Raben)“39. Die Abhängigkeit der Straßenbezeichnung vom Standort40 des Betrachters (bzw. der Figuren) – im Einzugsgebiet von Worms führten und führen sicherlich mehrere Straßen zur Domstadt – ist wohl dafür verantwortlich, dass nomina propria keinen Beitrag zur Orientierung hätten liefern können. Dieser Sachverhalt macht es praktisch unmöglich zu entscheiden, ob eine Richtungsangabe oder (immer) auch eine konkrete (fiktive) Straße gemeint sein könnte. Dies trifft ebenso auf nachklassische Artusromane zu, die gegen Ende der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfasst wurden: Im Garel von dem blühenden Tal führt in das Land Argentin freilich eine ebenso fiktive strazze gegen Argentin (20845), im Lohengrin reitet man die rehte strâze41 [...] gein Prâbant nach Antwerfen (LGR 2341–2343), was historische Authentizität impliziert. Nomina appellativa sind in dieser Hinsicht eindeutiger, da sie ja keinen bestimmten Weg, sondern einen Straßentyp benennen, der überall vorkommen könnte. Im Willehalm, Wolframs Heldenepos, wird zol auf einer rœmischen küneges strazen42 verlangt, wofür der Amtmann, der sich damit gegen Willehalm, den Markgrafen des Königs, auflehnt (112,22–115,3), mit seinem Leben bezahlt. Grundsätzliche Einblicke in das Rechtsverständnis der Zeit gewährt uns Wolfram an dieser Stelle, wenn er Graf Ernalt die trauernde Witwe des Amtmanns und die Bürger der Stadt schelten lässt, dass sie unrechtmäßig Weggeld von einem Ritter gefordert und damit einen Konflikt provoziert hätten: 115,14
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nu kom des rihtærs wip. ufen teppich viel diu vür in nider; da nach klagte si im do sider des küneges laster und ir not. ir man, der wære belegen tot ‘von eime der an geleite vert; der hat sich al der diet erwert, daz er ist ungevangen hin. ouwe jæmerlich gewin,
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den uns sin zol hat lazen von des rœmischen küneges strazen!’ zer vrouwen sprach der grave Ernalt ‘ wer mac daz sin, der mit gewalt iu den schaden hat getan? vrouwe, ist ez ein koufman, so möht er wol geleites gern und dar umbe siner miete wern:
39 BLASCHITZ: Unterwegs (wie Anm. 20), 199. 40 Vgl. GERHARD KOSS: Namenforschung. Eine Einführung in die Onomastik (= Germanistische Arbeitshefte 24), 3. Aufl. Tübingen 2002, 38–41; ELISABETH FUCHSHUBER-WEISS: Straßennamen: deutsch. In: ERNST EICHLER u. a. (Hg.): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. 2. Halbbd. und Register (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 11.2), Berlin/New York 1996, 1468–1475, hier 1469 f. 41 Vgl. HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen (wie Anm. 20), 113. 42 WOLFRAM VON ESCHENBACH: Willehalm. Text der Ausgabe von WERNER SCHRÖDER. Übersetzung, Vorwort und Register von DIETER KARTSCHOKE, Berlin/New York 2003, 75. Zum „Rechtscharakter und Status der Straße“ siehe HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen (wie Anm. 20), 111 f.
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[D]em koufschatze ist der zol gezilt.’ si sprachen, er vuort einen schilt, die mit der vrouwen komen dar: ‘sin harnasch ist nach roste var, doch wart an riter nie bekant über al der Franzoyser lant wappenroc so kostlich, des blic der sunnen ist gelich. als ist der schilt untz kursit. Munschoy wart geschrit, do er uns vlühtic wider in
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tet: daz was diu krie sin.’ der grave sprach ‘geunerten, ir alle die daz lerten, daz ir vür die koufman deheinen ritter soldet han! waz zolles solt ein ritter geben? het er iu allen iuwer leben genomen, daz solt ich wenic klagen. ich muoz in durh den künec jagen, bi dem min swester krone treit’43.
Straßenbezeichnungen finden sich auch in den anderen Werken Wolframs und Hartmanns, z. B. solche aus der „Gruppe jüngerer Lehnübersetzungen für via regia, via publica im Begriffsfeld der öffentlichen Straße“44: die rehte strâze45 wird im Erec vermiten und die baz gebûwen46 geritten (7816 f.). Diese führt dann eben nicht wie die „gesetzliche Straße“47 zum Sitz des Königs nach Karidol, dem eigentlichen Ziel der Reise, sondern in einen anderen Herrschaftsbereich zur Burg Brandigan und damit zur finalen âventiure (Joie de la curt) der Erzählung. Im Parzival reitet Gawan sîn rehte strâze (339,16) nach Bearosche, was sich hier, auch im Sinne der idiomatischen Wendung ‚auf dem rechten Weg sein‘ mit „auf seiner graden Bahn“48 übersetzen ließe. Daneben gibt es freilich weitere Straßentypen in der Artusepik. Iwein verfolgt den in der Tjost tödlich verwundeten Herrn
43 KARTSCHOKE: Willehalm (wie Anm. 42), 75: „Da kam auch schon die Frau des Richters. Sie fiel vor ihm [Graf Ernalt, s.f.] auf den Teppich nieder; darauf klagte sie ihm dann die Schmach des Königs und ihr eigenes Unglück. Ihr Mann sei erschlagen worden ‚von einem, der ohne Geleit reitet; er hat sich gegen alle behauptet, so daß er nicht gefangengenommen werden konnte. Ach, schrecklicher Gewinn, den uns sein Wegzoll für die Nutzung der Königsstraße gebracht hat!‘ Graf Ernalt antwortete der Frau: ‚Wer kann das sein, der so gewalttätig Euch diesen Schaden zugefügt hat? Ist es ein Kaufmann gewesen, Madam, so hätte er um Geleit bitten und dafür seine Gebühr entrichten sollen. Handelsware muß verzollt werden.‘ Er trug einen Schild, sagten die Leute, die mit der Frau hingekommen waren. ‚Sein Harnisch ist rostig, dennoch hat noch kein Ritter in ganz Frankreich eine so kostbare Rüstung getragen, deren Glanz der Sonne gleichkommt. Das gleiche gilt für Schild und Mantel. Monschoye rief er, als er uns in die Flucht zurück trieb; das war sein Schlachtruf.‘ Da rief der Graf: ‚Fluch über euch alle, die dafür waren, daß ihr wie Kaufleute einen Ritter behandeln wolltet! Wofür sollte ein Ritter Zoll zahlen? Hätte er euch allen das Leben genommen, ich könnte es nicht beklagen. Nun muß ich ihn im Namen des Königs verfolgen, der meine Schwester zur Frau hat‘“. 44 HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen (wie Anm. 20), 176. 45 Neben den von HAUBRICHS (ebenda, 173–176) genannten Belegen ließe sich bspw. noch auf BRF 3171; GAR 3114; LGR 1701, 2341; LZT 800,3; ROA 166,4; TAN 4094; WGM 5867 und WH 236,25 verweisen. 46 STÖRMER-CAYSA: Grundstrukturen (wie Anm. 8), 55: „Bei Hartmann gelangen Guivreiz und Erec dagegen dorthin, indem sie den baz gebûwen Weg statt des rechten reiten (HEr 7817), bis sie erkennen müssen, daß sie nach links von ihrem Weg abgewichen sind“. 47 HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen (wie Anm. 20), 174. 48 KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 343.
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des Brunnenreichs, Askalon, auf dessen burcstrâze (1075)49 und reitet später auf einem burcwec (6128) zum chastel de Pesme Aventure (Yvain 5109), zur „Burg vom schlimmen Abenteuer“50. Auch im Daniel (DA 2379), im Erec (6722 und 8685) und im Ritter von Staufenberg (203) reiten die Helden auf einem burcwec51; das WMU weist 42 Belegstellen aus52. Für die unter landesherrlicher Gewalt53 stehende lantstrâze54 (3366) gibt es in der MHDBDB 13 Treffer55, darunter erneut eine und wohl die früheste56 Nennung überhaupt im Iwein (3366), der auf einer ebensolchen von drei Frauen bewusstlos aufgefunden wird – nach seiner öffentlichen Anklage am Artushof, der überstürzten Flucht und dem Wahnsinn verfallen. Alle Beispiele verbindet, dass sie eine erzählte Welt mittels Straßenbezeichnungen konkretisieren, ohne diese auf einen lokalen Rezipientenkreis festzulegen; selbst im Parzival, wo einige Ortsnamen auf den Nahbereich von Dichter und Rezipienten verweisen, bleiben Straßen und Wege – bis auf noch zu besprechende Ausnahmen – stets Nicht-Orte57. Dass sich, gemessen an der Bedeutung von Wegen und Straßen in den Aufbauplänen all dieser Dichtungen58, nur wenige (benannte oder beschriebene) unverwechselbare Wege finden, überrascht also einerseits nicht, da erst im Verlauf des 12./13. Jahrhunderts – wohl durch die Zunahme „alltägliche[r] Kommunikation“ – das Bedürfnis nach einer namentlichen Festschreibung von Straßennamen und damit die volkssprachige Überlieferung an Bedeutung gewann59. Andererseits ist aber ein Ritter ûf der vart (ER 3656) gattungskonstitutiv, sodass sich – wenn auch wenige – besonders frühe Belege für Straßentypen, aber auch für Straßennamen im hodophilen Höfischen Roman finden. Zumeist trifft man jedoch, wie 49 Ein weiterer Beleg findet sich im Lanzelet (LZ 7167), kein Beleg im WMU (wie Anm. 24). 50 Von Hartmann im Iwein nicht übersetzt, vgl. ULRICH HOFFMANN: Arbeit an der Literatur. Zur Mythizität der Artusromane Hartmanns von Aue, Berlin 2012, 299, Anm. 274. 51 Hinweise auf die Straßenbeschaffenheit sind auch in späteren Werken selten, siehe Diu Crone: an ein strasze kerte er da, die schön was vnd sleht (15932 f.); Zúschent zwein hohen straszen (17661); obenherab zü tale wol ein strasze, wol breit in der masze, als zwen finger sint (24604 ff.). In der Eneide: die strâzen vander vile breit und sach beidenhalben stân manich hûs wol getân (712). 52 WMU (wie Anm. 24): s. v. ‚burcwec‘, Bd. 1 (1994), 320. 53 HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen (wie Anm. 20), 179 f. 54 WMU (wie Anm. 24): s. v. ‚lantstrâze‘, Bd. 2 (2003), 1087. 55 AXR 5666, 13626, 16686, 21415; BRF 5539; HTR 9250; MKN 71; PRT 20884; SPW 80; WDA 555,3. Einen konkreten Ortsbezug gibt es nur in der Steirischen Reimchronik (OVG 61997) oder in der Herzogenburger Urkunde II von 1400 (HZU2 235,9), dort wird eine landtstrasse durich Gerestorff genannt. 56 HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen (wie Anm. 20), 180. 57 MARC AUGÉ: Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff (= C.H. Beck Paperback 1960), 2. Aufl. München 2011, 83: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort“. 58 Vgl. MICHAIL M. BACHTIN: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans, hg. von EDWARD KOWALSKI und MICHAEL WEGNER, Berlin/Weimar 1986, 448. 59 Vgl. DAMARIS NÜBLING, FABIAN FAHLBUSCH, RITA HEUSER: Namen. Eine Einführung in die Onomastik (= Narr Studienbücher), 2. Aufl. Tübingen 2015, 245.
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bereits gesagt, auf Wendungen wie daz in der wec truoc (IW 5576), nû gerieten si beide einen wec (ER 4277), bzw. nu zeige mir den wec dar (WGL 1464). Schilderungen von Details hingegen bleiben die Ausnahme von der Regel. Dabei lassen sich mindestens zwei Beschreibungstechniken unterscheiden, die einer Straße oder einem Weg zu Identität verhelfen: eine klassische, die (realitätsnahe) Details benennt, einen effet de réel60 erzeugt, und eine Wolframsche, die auf „kompositorische Motivierung“61 zielt. II. Wege und Wirklichkeitseffekte Noch vor dem Parzival verfasste Hartmann von Aue seinen Iwein62 (nach 1197/98, um 1200)63. Darin wird uns ein besonderer Weg vorgestellt, ein stîc, der zu âventiure führt: 259
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Ez geschach mir, dâ von ist ez wâr, (es sint nû wol zehn jâr), daz ich nâch âventiure reit, gewâfent nâch gewonheit, ze Breziljân in den walt. dâ wârn die wege manecvalt: dô kêrt ich nâch der zeswen hant ûf einen stîc den ich dâ vant.
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der wart vil rûch und enge: durch dorne und durch gedrenge sô vuor ich allen den tac, daz ich für wâr sprechen mac, daz ich sô grôze arbeit nie von ungeverte erleit64.
60 Vgl. ROLAND BARTHES: L’effet de réel. In: PHILIPPE HAMON (Hg.): La description littéraire. Anthologie de textes théoriques et critiques, Paris 1991, 247–251. Im Folgenden wird mit effet de réel (Wirklichkeitseffekt) eine Beschreibung bzw. der damit verbundene Effekt der Erzeugung von Welthaltigkeit benannt, der nicht dazu dient, eine Handlung zu motivieren, dennoch aber eine Funktion in der Erzählung übernehmen kann. Zur Diskussion um das Konzept von Barthes vgl. KATRIN DENNERLEIN: Narratologie des Raumes (= Narratologia 22), Berlin/New York 2009, 136 f. 61 Vgl. BORIS TOMAŠEVSKIJ: Theorie der Literatur Poetik. Nach dem Text der 6. Aufl. (Moskau – Leningrad 1931) hg. und eingeleitet von KLAUS-DIETER SEEMANN. Aus dem Russischen übersetzt von ULRICH WERNER, Wiesbaden 1985, 227 f.: „Nicht ein Requisit darf in der Fabel ungenutzt, nicht eine Episode ohne Einfluß auf die Situation der Fabel bleiben. [...] [W]enn man zu Beginn einer Erzählung von einem Nagel in der Wand spreche, müsse sich der Held am Ende der Erzählung an diesem Nagel aufhängen“. 62 HARTMANN VON AUE: Iwein. 4. überarbeitete Aufl., Text der siebenten Ausgabe von G. F. BENECKE, K. LACHMANN und L. WOLFF. Übersetzung und Nachwort von THOMAS CRAMER, Berlin/New York 2001. 63 CHRISTOPH CORMEAU: Art. ‚Hartmann von Aue‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3, 2. Aufl. Berlin/New York 1981, 500–520, hier 502. 64 CRAMER: Iwein (wie Anm. 62), 7: „Einst geschah es mir selbst, weshalb ich mich für die Wahrheit verbürgen kann – zehn Jahre sind es etwa her – daß ich, gewappnet wie immer, auf aventiure in den Wald von Breziljan ausritt. Es gab dort mehrere Wege. So wendete ich mich nach rechts auf einen Pfad, den ich dort fand. Der wurde bald verwachsen und schmal, durch Dornen und Dickicht ritt ich den ganzen Tag lang, so daß ich wohl sagen kann, daß ich noch niemals so große Mühe durch Unwegsamkeit erlitten hatte“.
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Der besondere, von Chrétien65 übernommene Kniff Hartmanns besteht darin, dass die erste von mehreren folgenden Beschreibungen des Wegs, der über weitere Zwischenstationen zum Abenteuer führt, nicht der Erzähler, sondern ein Ritter gibt, der aber am Ende versagt. So muss die Route zur Initial-âventiure66 gleich mehrfach wiedergefunden und beschrieben werden: Nach Kalogrenants (s. o.) Ausführungen memoriert Iwein in Form eines gedachten Soliloquiums die Stationen und zuletzt noch einmal der Erzähler, der vom Aufbruch des Löwenritters berichtet67. Die hier beschriebene erste Etappe führt indes noch nicht zur Bewährungsprobe im Kampf, sondern zunächst zu einem gastfreundlichen Burgherrn. Dieser weiß seine Gäste zwar höfischen Sitten entsprechend zu bewirten, kann aber gerade bei der Suche nach âventiure nicht weiterhelfen, da er davon noch nichts gehört hat (IW 369–380). So führt der in der Dichtung am anschaulichsten beschriebene und zudem beschwerlichste Weg nicht direkt zur âventiure, sondern zunächst zum gemache (zur Ruhe/Bequemlichkeit)68. Grôze arbeit und ein mühsamer Weg präfigurieren also nicht zwangsläufig eine gefährliche âventiure, sondern (zunächst) die Notwendigkeit zur Wiederherstellung der Kräfte. Wird die recreatio69 aufgeschoben oder ganz vermieden, droht eine lebensbedrohliche Erschöpfung der Kräfte, wie Hartmann im Erec demonstriert70. So muss auch Garel nach einem beschwerlichen Ritt erst einmal pausieren, um auf dem Weg zur âventiure voranschreiten zu können71: 65 Vgl. JACQUES LE GOFF: Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart 1990, 185. 66 Durch diese Bewährung wird Iwein zum Ehemann und Landesherren. Vgl. VOLKER MERTENS: Iwein und Gwigalois – der Weg zur Landesherrschaft. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 31/1 (1981), 14–31. 67 Vgl. GERT HÜBNER: Erzählformen im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‚Eneas‘, im ‚Iwein‘ und im ‚Tristan‘ (= Bibliotheca Germanica 44), Tübingen/Basel 2003, 110; SIEGFRIED GROSSE: Die Erzählperspektive der gestaffelten Wiederholung. Kalogreants âventiure in Hartmanns ‚Iwein‘. In: RÜDIGER SCHNELL (Hg.): Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag, Bern/Stuttgart 1989, 82–96, hier 84 f. 68 Die Problematik der Balance von âventiure und gemach wird besonders im Erec thematisiert. Vgl. CHRISTOPH CORMEAU, WILHELM STÖRMER: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. 3. aktual. Aufl. mit bibliographischen Ergänzungen (1992/93 bis 2006) von THOMAS BEIN (= Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), München 2007, 188 u. 202. 69 Vgl. BURGHART WACHINGER: Erzählen für die Gesundheit. Diätetik und Literatur im Mittelalter (= Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 23), Heidelberg 2001. 70 CHRETIEN DE TROYES: Erec et Enide. Altfranzösisch / Deutsch, übersetzt und hg. von ALBERT GIER (= RUB 8360), Stuttgart 2007, V. 4975 f.: qui plus vialt fere qu’il ne puet / recroirre ou reposer l’estuet. „Wer sich zuviel vornimmt, muß ermatten, wenn er sich nicht ausruhen kann“. Bzw. HARTMANN VON AUE: Erec. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von VOLKER MERTENS (= RUL 18530), Stuttgart 2010, V. 6917– 6919: nû half niuwan sîn sterke / den baz geruoweten man / daz er den prîs dâ gewan. „Da half dem besser Ausgeruhten nur seine Stärke, daß er den Sieg errang“. 71 Hier zitiert nach der online verfügbaren Edition (siehe https://archive.org/details/garel vondemblen00walzgoog bzw. http://www.handschriftencensus.de/werke/552 [01.03.2018]: Garel von dem Blühenden Tal. Ein höfischer Roman aus dem Artussagenkreise von dem
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Der tac was komen an daz ort. nu sach er vor im ligen dort ein burc ûf einem velse hôch. den rehtiu zageheit ie flôch Gârel, der unverzaget man, der kêrte gein der burc dan. diu burc ûf einem steine lac, daz ich für wâr wol sprechen mac, daz nieman dar zuo mohte komen wan ein wec, ich hân vernomen.
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der was kûme in der mâze breit, als mir diu âventiwer seit, daz vil kûme ein wagen gie. swer den wec ê gevie, für den mohte nieman komen, als ich daz mære hân vernomen; wan der wec was sô smal. halben hin ze tal was ein slehtiu steinwant72.
Auf der Burg angekommen legt Garel die Waffen ab, wäscht sich und wechselt die Kleidung (7457–7463). Danach wird er von Laudamie, der unverheirateten Regentin des Landes Anferre, empfangen. Nun erfährt er, worin die âventiure besteht, nämlich Land und Leute von einem merwunder, / halbez ros und halbez man (7661), also einem Monstrum, zu befreien. Obgleich mittelalterliche Literatur nicht in der Lage sei, die Natur „um ihrer selbst willen“ darzustellen oder „eine Stimmung oder ein Gefühl des Helden“ zum Ausdruck zu bringen73, kann uns Hartmann doch den Steig und der Verfasser des Garel, der Pleier, dessen Weg anschaulich vermitteln. Erzählen ohne einen Realitätsbezug, ohne eine „Ähnlichkeitsrelation – similitudo – zwischen res und verba, zwischen ‚Welt‘ und ‚Dichtung‘“74 strebt die mittelalterliche Literatur (aber auch die neuere, von avantgardistischen Experimenten abgesehen) gerade nicht an75. Knapp nennt die Welt des höfischen Romans deswegen eine „funktional[e] Fiktion“. Diese unterscheide sich nur graduell – durch den höheren Anteil fingierter
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Pleier. Mit den Fresken des Garelsaales auf Runkelstein, hg. von MICHAEL WALZ, Freiburg i. B. 1892, 107. Eine neue Edition bietet WOLFGANG HERLES (Hg.): Garel von dem bluenden Tal von dem Pleier (= Wiener Arbeiten zur germanistischen Altertumskunde und Philologie 17), Wien 1981. Der Tag war zu Ende gegangen. Nun sah er auf einem hohen Felsen eine Burg vor sich liegen. Garel, dem echte Feigheit immer fremd war, schickte sich sodann gegen die Burg. Die Burg lag auf einem Felsen, wirklich, ich kann es gewiss sagen, niemand konnte dorthin gelangen, außer auf dem einen Weg, von dem ich gehört habe. Dieser war im Quermaß gerade so breit, wie mir die âventiure sagt, dass gerade noch ein Wagen fahren konnte. Wer auch immer den Weg nahm, an dem konnte niemand vorbeikommen, so der Bericht, den ich gehört habe; denn der Weg war so schmal. Auf beiden Seiten abwärts war eine gerade Felswand. KURT H. WEBER: Die literarische Landschaft. Zur Geschichte ihrer Entdeckung von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin/New York 2010, 244. GEORG VOGT-SPIRA: Prae sensibus. Das Ideal der Lebensechtheit in römischer Rhetorik und Dichtungstheorie. In: GYBURG RADKE-UHLMANN, ARBOGAST SCHMITT (Hg.): Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geschichte (= Colloquia Raurica 11), Berlin/Boston 2011, 13–34, hier 29. Dies wird auch im Zusammenhang mit der Legitimationsbedürftigkeit von Dichtung stehen, vgl. PETER VON MOOS: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ‚Policraticus‘ Johanns von Salisbury (= Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 2), Hildesheim/Zürich/New York 1996, XL.
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Elemente – von der Historiographie der Zeit76. Die Abenteuer spielen daher nicht per se in einer durch ‚unwirkliche‘ Pfade getrennten Märchen- oder Anderwelt, die als solche von den zeitgenössischen Rezipienten hätte begriffen werden müssen77. Im Gegenteil, die Unverwechselbarkeit des Steigs im Iwein ist eine Folge der Erzählstruktur, da dieser von den Protagonisten an Details (wieder-)erkannt werden muss. Der ebenfalls anschaulich dargestellte Wegtyp im Garel hat hingegen keine vergleichbare Funktion in der Erzählung, obwohl es ihn zu bewundern gilt: bêdenthalben hin ze tal / was ein slehtiu steinwant (7314 f.). Tatsächlich könnte die Brunnen-âventiure (vgl. 600–779 bzw. 989–1055) im Iwein – vorläufiger Zielpunkt des oben begonnenen, aber durch Zwischenstationen unterbrochenen Weges – als mögliches historisches Ereignis betrachtet worden sein. Gerald von Wales78, Thomas von Cantimpré79 und Konrad von Megenberg informieren in ihren Enzyklopädien über solche Zauberbrunnen bzw. -quellen im grozzern land Britania und was passiere, wenn man wazzer geuzt auff ainn stain nahen da pei80. Diese Wunderbrunnen gehören somit zum Weltwissen81, unabhängig von
76 FRITZ PETER KNAPP: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik, II. Zehn neue Studien und ein Vorwort (= Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 35), Heidelberg 2005, 74. 77 Vgl. SONJA GLAUCH: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens, Heidelberg 2009, 329: „Der Literarisierungsschub des 12. Jahrhunderts bedeutet in diesem Zusammenhang eine Poetik der Defiktionalisierung“. Selbst bei MahrtenehenGeschichten sei es problematisch, „eindeutige Anderwelt-Markierungen im Text“ zu identifizieren, so STEFAN FUCHS-JOLIE: Finalitätsbewältigung? Peter von Staufenberg, Undine und die prekären Erzählregeln des Feenmärchens. In: HARALD HAFERLAND, MATTHIAS MEYER (Hg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektive (= Trends in Medieval Philology 19), 99–117, hier 103. 78 Vgl. HARTMAN VON AUE: Iwein. Herausgegeben und übersetzt von VOLKER MERTENS (= Deutscher Klassiker Verlag 29), 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2014, 986 f. (zu V. 565); GIRALDUS CAMBRENSIS: Topographia Hibernica et expugnatio Hibernica, hg. von JAMES F. DIMOCK (= Rerum britannicarum medii ævi scriptores, Giraldi Cambrensis Opera V), London 1867, 89 bzw. II, VII. 79 THOMAS VON CANTIMPRÉ: Liber de natura rerum. Kritische Ausgabe der Redaktion III (Thomas III) eines Anonymus von Benedikt Konrad Vollmann† aus dem Nachlass bearbeitet von JANINE DÉUS und RUDOLF KILIAN WEIGAND mit einem Beitrag zur Überlieferung von HELGARD ULMSCHNEIDER (= Wissensliteratur im Mittelalter 54,1), Wiesbaden 2017, 19.12, §27. 80 KONRAD VON MEGENBERG: Buch der Natur, Bd. 2: Kritischer Text nach den Handschriften, hg. von ROBERT LUFF und GEORG STEER (= Texte und Textgeschichte 54), Tübingen 2003, VIII, 1 bzw. 521, 23 f. 81 Weltwissen kann, muss aber nicht erklärungsbedürftig sein. Vgl. FRANZ LEBSANFT: Die Bedeutung von altfranzösisch aventure. Ein Beitrag zu Theorie und Methodologie der mediävistischen Wort- und Begriffsgeschichte. In: GERD DICKE, MANFRED EIKELMANN, BURKHARD HASEBRINK (Hg.): Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter (= Trends in Medieval Philology 10), Berlin u. a. 2006, 311–338, hier 314. Wie aber am Brunnen ein Unwetter und damit ein Zweikampf zu initiieren ist, wird sowohl im Iwein (553–599; 989–1001) als im Yvain erläutert; siehe KRISTIAN VON TROYES: Yvain. Der Löwenritter. Nach WENDELIN. FOERSTERS letzter Ausgabe in Aus-
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der Frage des Ursprungs dieser ‚Tatsache‘. Just durch den Guss aus der beigestellten Schale auf den harte zierlîche stein, / undersatzt mit vieren / marmelînen tieren (IW 582–584) provoziert Kalogrenant und nach ihm Iwein ein Unwetter, das den lieblichen Ort in einen rechten locus terribilis verwandelt und den Herrn und Wächter des Brunnenreichs, Askalon, auf den Plan ruft (989–1001). Auch fehlt es nicht an Requisiten wie einem goldenen becke[n] (587) oder einer immergrünen Linde, die ein ornithologischer Wunderbaum82 ist, auf dem von jeder Art ein Vertreter zu finden ist (612–620). Descriptio sorgt trotz bzw. wegen der ‚Wunderhaftigkeit‘ der Ereignisse für Anschaulichkeit, Glaubwürdigkeit und Welthaltigkeit83. Durch die Kombination bekannter und erfundener, unbestimmter und detailreich beschriebener Raumkomponenten84 gibt der Dichter der erzählten Welt ein – wenn auch nicht näher bestimmbares – historisches Gepräge. Straßen- und Wegdarstellungen können dabei als Bindeglieder fungieren, Etappen strukturieren (arebeit – gemach) und zusätzliche Wirklichkeitseffekte85 provozieren. Sie sind nützlich, doch scheint ihre Ausgestaltung im Detail ohne motivierende Funktion für die Erzählung zu sein. Nicht einmal eine Beziehung der Kontiguität zum ‚Zustand‘ des Helden muss gegeben sein, wie dies Trachsler unterstellt86, noch zwischen Weg und zu vollbringender Aufgabe. So lässt erstens die Wegbeschreibung
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wahl bearbeitet und mit Einleitung und Glossar versehen von RUDOLF BAEHR (= Sammlung romanischer Übungstexte 43), 3. Aufl. Tübingen 1976, V. 416–418. Zu Wunderbäumen siehe TRAUDE-MARIE NISCHIK: Das volkssprachige Naturbuch im späten Mittelalter. Sachkunde und Dinginterpretation bei Jacob van Maerlant und Konrad von Megenberg (= Hermaea n. F. 48), Tübingen 1986, 324 f. Vgl. Rhetorica ad Herennium, lateinisch-deutsch, hg. und übersetzt von THEODOR NÜSSLEIN, Düsseldorf, Zürich 1994, IV, XVIII oder auch IV, LVI. So werden bspw. auch im Herzog Ernst B im Land der Kranichmenschen die Straßen genauer als üblich beschrieben: die strâzen dar inne / beide grôz und kleine / wârn von marmelsteine, / sumlîche grüene als ein gras (2584–2687). Wolfram bringt den Rezipienten bspw. die Schlacht von Bearosche, von der sie wohl kaum etwas gehört haben konnten, durch einen kurzen Vergleich mit dem Kampf Philipps von Schwaben gegen Hermann von Thüringen (1203) näher. Zur grundlegenden Überarbeitung der Einführungsepisode Gawans vgl. SONJA EMMERLING: Geschlechterbeziehung in den Gawan-Büchern des ‚Parzival‘ (= Hermaea n. F. 100), Tübingen 2003, 8–12. Die Anspielung auf die Verwüstung des Erffurter wîngarte[n] (PZ 379,16–20) stellt die einzige realhistorische Referenz der Partie dar, die einen Hinweis auf den Zeitpunkt der Abfassung des VII. Parzivalbuchs gibt. Vgl. WOLFRAM VON ESCHENBACH: Parzival und Titurel, hg. und erklärt von ERNST MARTIN (= Germanistische Handbibliothek IX,2), 2. Teil: Kommentar, Halle a. S. 1903, XIII; HEINZ METTKE: Thüringen und Landgraf Hermanns politische Haltung in der Dichtung Walthers von der Vogelweide und Wolframs von Eschenbach. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 30 (1981), Heft 3/4, 23–28, hier 24. BERND SCHIROK: Wolfram und seine Werke im Mittelalter. In: JOACHIM HEINZLE (Hg.): Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. Bd. I: Autor, Werk, Wirkung, Berlin 2011, 1–82, hier 8. ROLAND BARTHES: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV). Aus dem Französischen von DIETER HORNING (Originalausgabe, Paris 1984), Frankfurt a. M. 2006, 165: „Die ‚unnützen Details‘ scheinen unvermeidlich, selbst wenn sie nicht sehr zahlreich sind: Jede Erzählung, zumindest jede abendländische Erzählung gängigen Typs, besitzt einige solche“. Vgl. TRACHSLER: Der Weg (wie Anm. 20), 3.
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Kalogrenants (s. o., IW 258–272) keinen Bezug zu den inneren Vorgängen der Figur erkennen87. Hier liegen die Erlebnisse schon lange zurück – es sint nû wol zehn jâr – und er berichtet allein von der körperlichen Kraftanstrengung. Die kommunikative Funktion der Geschichte, nämlich beim Hoffest auf König Artusʼ Verlangen88 zum Amüsement beizutragen sowie ritterliche Tüchtigkeit zu inszenieren – daz ich sô grôzze arbeit / nie von ungeverte erleit –, reicht völlig aus, um den Bericht im Erzählkontext zu erfassen89. Freilich ist die Route im Aufbauplan der Erzählung bedeutend90, da Iwein so auf den Weg zur âventiure gelangt. Doch sind dafür Detailangaben wie die dorne (Dornen), die den Weg erschweren, erlässlich, d. h. nur im Hinblick auf die Wiederkennbarkeit des Wegs (ohne Motiv zu sein) funktional begründet und damit als Wirklichkeitseffekte zu verbuchen; auch auf Mt 7,13 (intrare per angustam portam) ließe sich dafür verweisen. Zuletzt ist doch Iweins eigentliche Motivation zum Aufbruch nicht die Abenteuerlichkeit des Wegs, sondern die Aussicht auf eine Bewährung im Kampf91, in dem er seinen Verwandten rächen, die Ehre des Hofes verteidigen und selbst Ruhm erlangen kann (IW 803–809, 911–913). Zweitens führt immer ein – wie auch immer gearteter, (un-)beschriebener – Weg zu einer âventiure, die stets gefährlich sein muss, um als ‚echte‘ Bewährung für einen miles/eques gelten zu können. Eine Relation zwischen Wegdarstellung und Schwierigkeit der Aufgabe besteht dabei in der Regel aber nicht92. Es ist auch keine Wertung damit verbunden, dass sich der Held rechts hält, denn wie Schmid in ihrem Beitrag „Lechts und rinks“ darlegte, ergebe sich bei der Gesamtsicht auf die Richtungsangaben keine Priorisierung einer Seite. Das heißt, dass „die Einführung einer Mehrzahl konkurrierender Wege“ ein notwendiger „Unsicherheitsfaktor“ ist, der den Weg erst abenteuer-
87 Im Folgenden spitze ich auf die Funktion der Szene im Hinblick auf die Wegbeschreibung zu. Andere Aspekte thematisieren: CAROLINE EMMELIUS: Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Frühe Neuzeit 139), Berlin/New York 2010, 32–34. Zu „Erzählritualen am Artushof“ siehe PETER STROHSCHNEIDER: Höfische Textgeschichte. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg 2014, 232–262. 88 Vgl. RUH: Höfische Epik (wie Anm. 7), 15; CORMEAU, STÖRMER: Hartmann von Aue (wie Anm. 68), 202. 89 TRACHSLER: Der Weg (wie Anm. 20), 113. Die näherliegende Gegenposition vertritt schon Schröder, der im Weg zum Brunnen ein „formales Mittel zur Verknüpfung einzelner Episoden“ sieht, vgl. JOACHIM SCHRÖDER: Zu Darstellung und Funktion der Schauplätze in den Artusromanen Hartmanns von Aue (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik), Marburg 1972, 174. 90 Vgl. zur „rhetorischen Technik der imaginären Reise“ als mögliches Vorbild für Hartmann: NICOLA MCLELLAND: Sehen im Iwein Hartmanns von Aue: Imaginieren, Beobachten, Erkennen. In: RICARDA BAUSCHKE, SEBASTIAN COXON, MARTIN H. JONES (Hg.): Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009, Berlin 2011, 160–174, hier 166 f. 91 Vgl. VOLKER MERTENS: Art. ‚Aventiure‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin u. a. 2000, 187–189, hier 187. 92 Selbst zu lebensgefährlichen Abenteuern führen Wege ohne weitere Angaben über deren Beschaffenheit, vgl. TRACHSLER: Der Weg (wie Anm. 20), 142 f.
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lich macht“93. Daher führt auch nicht immer die [breite] strâze gein der helle (HTR 6097). Eine über den Literalsinn hinausweisende Bedeutung von Richtungsangaben und Wegbeschreibungen ist im Artusroman also nicht zwangsläufig zu unterstellen. Wenn schon der Ritter Iwein (als Rezipient) keine besondere hermeneutische Kompetenz benötigt, um der Erzählung zu folgen, dann der Hörer/Leser der Dichtung auch nicht. III. „Wege und Straßen“ im Parzival Der ‚konkrete‘ Weg scheint hier – nach Ausweis einiger Stellen – eine größere Bedeutung zu haben als eine mehr oder weniger detailreich dargestellte Raumkonstituente94. Wie ungewöhnlich dies wäre, bringt Becks Beurteilung der Verfahren zur Raumerzeugung zum Ausdruck: Die Struktur ist [...] primär lokal (‚sie wandten sich von dort‘, ‚sie ritten von dort und kamen dorthin, wo‘, ‚und wandten sich dorthin, in Richtung auf die Burg‘), die dazwischen liegende lative Komponente ist räumlich nicht erfaßt. So entsteht das Paradoxon, daß Wolframs Räumlichkeit von der Bewegung der Helden lebt, ja durch sie erst entsteht, daß aber von ihr selbst der größte Teil unsichtbar ist. Sie verbindet Orte miteinander, zeigt jedoch nicht das Dazwischen. Im Gehen und Reiten über mittlere Entfernung sind Wolframs Helden lange Zeit blind, erst wenn sich die Bewegung ihrem Ziel nähert, vermögen sie zu sehen95.
Einerseits steht also der Weg des Helden im Zentrum – der ja passenderweise Parzival, also „durchdringe das Tal“ bzw. rehte enmitten durch (140,17)96 heißt und so schon seinem Namen nach ein homo viator ist97 – anderseits bleibt aber gerade der Weg häufig98 im Dunkeln. Dabei ist aber nicht die mangelnde Tiefenschärfe erstaunlich, sondern dass überhaupt exakte Wegbeschreibungen begegnen, die bedeutungstragend sein können. Im Parzival wird zudem eine ausgefeilte Semantik entfaltet, die in der höfischen Dichtung ohne Parallele sei: Dieser Ro93 ELISABETH SCHMID: Lechts und rinks ... Kulturelle Semantik von Naturtatsachen im höfischen Roman. In: GLAUCH, KÖBELE, STÖRMER-CAYSA (Hg.): Projektion (wie Anm. 5), 121– 136, hier 131. 94 Vgl. WALTER BLANK: Determination oder Ordo? Parzivals Weg durch die Instanzen. In: ANNA KECK, THEODOR NOLTE (Hg.): Ze hove und an der strâzen: Die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr Sitz im Leben. Festschrift für Volker Schupp zum 65. Geburtstag, Stuttgart/Leipzig 1999, 212–232, hier 214. 95 HARTMUT BECK: Raum und Bewegung: Untersuchung zu Richtungskonstruktionen und vorgestellter Bewegung in der Sprache Wolframs von Eschenbach (= Erlanger Studien 103), Erlangen/Jena 1994, 162. 96 BUMKE: Wolfram von Eschenbach (wie Anm. 12), 233. 97 HARMS: Homo viator (wie Anm. 20), 223. 98 Eine Quantifizierung wäre, um eine Schwierigkeit zu nennen, nur dann möglich, wenn Einigkeit in der Frage bestünde, ob in den Handschriften überliefertes dô für dô oder als abgeschwächte Form von dâr/dâ im jeweiligen Kontext lokal (dâr/dâ) oder tatsächlich temporal (do) aufzufassen ist. Vgl. Mittelhochdeutsches Wörterbuch (online): s. v. ‚dô‘, http://www. mhdwb-online.de/ [01.03.2018].
Straßen und Wege in der Artusepik
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man weise, so Trachsler, „das differenzierteste Gefüge funktionell relevanter Wegwörter auf; das gewöhnliche Grundschema wec/straze – phat/stîc, das die Artusepik prägt, ist erweitert um spor/slâ und ungeverte“99. Wegwörter begegnen dann besonders häufig in Soltane sowie im Einflussbereich des Grals, also in den Räumen, die ihrerseits eine Erweiterung der erzählten Welt gegenüber dem „klassischen“ Artusroman darstellen, wo „die Sicherheit ab, die Ungewißheit zu“ nimmt100. Gewiss steht dies auch im Zusammenhang mit der Zweiteilung des Kosmos in arturische Welt und Gralsbereich101, die aber nicht konsequent durchgeführt ist, da in beiden Bereichen mit der Codierung von Zivilisationsnähe und -ferne gearbeitet wird, was eine eigentümliche Unschärferelation hervorbringt. So initiiert Parzivals Identitätssuche der Zufall auf einem phade im Wald von Soltane, wo er Rittern begegnet, die ihm erklären, dass man die Ritterschaft von Artus empfange (120,11–123,13), der – wie man erst später erfährt – in Nantes residiert, wohin eine gut ausgebaute Straße führt (142,3–5). Diesen Weg weist ihm seine Mutter zum Abschied aber nicht, Herzeloyde belässt es bei hoffnungsvollen Andeutungen, wie ein Weg zur Ritterexistenz verlaufen könnte: 127,11 diu küngîn was alsô bedâht, si bat belîben in die naht. 'dune solt niht hinnen kêren, ich wil dich list ê lêren. 15 an ungebanten strâzen soltu tunkel fürte lâzen: die sîhte und lûter sîn, dâ solte al balde rîten în. du solt dich site nieten, 20 der werlde grüezen bieten. Op dich ein grâ wîse man
25
128,1
zuht wil lêrn als er wol kan, dem soltu gerne volgen, und wis im niht erbolgen. sun, lâ dir bevolhen sîn, swa du guotes wîbes vingerlîn mügest erwerben unt ir gruoz, daz nim: ez tuot dir kumbers buoz. du solt zir kusse gâhen und ir lîp vast umbevâhen: daz gît gelücke und hôhen muot, op si kiusche ist unde guot102.
Die Ratschläge Herzeloydes bleiben, wie auch die später auftretenden Figuren, problematisch. Sie sind missverständlich, insofern Parzival aus den Hinweisen
99 100 101 102
TRACHSLER: Der Weg (wie Anm. 20), 52. Ebenda. Vgl. BLANK: Determination (wie Anm. 94), 217. KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 99: „Die Königin hatte alles genau überlegt; sie bat ihn, er möge diese Nacht noch bleiben. ‚Du sollst noch nicht fort von hier, vorher will ich dich erst lehren, was du wissen mußt. Wenn du auf ungebahnten Straßen reitest, so mußt du die dunklen Furten meiden. Wenn das Wasser seicht und lauter ist, da hab nur immer Mut und reite hinein. Du sollst dich bemühen, immer höflich zu sein, und alle Leute grüßen. Wenn ein grauer, weiser Mann dich lehren will, wie man sich recht benimmt, dann weiß der, was er tut, und also sollst du ihm gern folgen und ja nicht zornig aufgeblasen sein. Mein Sohn, das lege ich dir noch ans Herz: Wo du Gelegenheit hast, von einer lieben Frau ein Fingerringlein zu erwerben und freundliche Worte, dort greif zu; das hilft dir gegen Traurigkeit. Du mußt sie drängen um ihren Kuß und ihren Leib recht fest umfangen: Das bringt dir Glück und macht die Seele edel, wenn die Frau Unschuld hat und Güte […]‘“.
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keine allgemeinen Regeln abzuleiten versteht103 und mit Blick auf Chrétiens Darstellung (411–483)104 defizitär105, weil die Abschiedsrede Details, wie Parzivals Familiengeschichte, entbehrt. Die Weisungen sind indes im Parzival pädagogisch sinnvoller auf das Begehren des Knaben ausgerichtet, lassen sie sich doch so zusammenfassen: Achte auf deinen Weg (lerne sicher zu reiten), grüße jedermann (vermeide Streit106), höre auf das Alter (such dir einen Lehrmeister) und erwerbe dir die Gunst der Frauen (leiste Minnedienst107). Die Abschiedsrede der Mutter – die auch schon im Perceval Kommendes antizipiert – ist so von Wolfram zu einer einzigen Prolepse gestrafft und umgestaltet worden, in der jedes Element kompositorisch die weiteren Schritte Parzivals in der Welt mit motiviert. Damit ist der obige, die fehlenden genealogischen Informationen bei Wolfram betreffende Einwand relativiert, lässt sich doch der Verzicht mit der Verknüpfungstechnik im Parzival begründen. Zudem wird so das Thema der Identitätssuche, die zur Rolle des Helden des Artusromans gehört108 und sich hier mit der Gralssuche verbindet, profiliert. Damit müssen aber sämtliche Ratschläge letztlich versagen, weil dem Gralserben kein Weg gewiesen werden kann, da nur ihm, der „Inkorporation der beiden edelsten Geschlechter seiner Zeit (aller Zeit)“109, der Gral zusteht (333,30). Vom Eintritt des Helden in die Erzählung an sind also guter Rat und falscher Weg koordiniert. Wie die Erzählung zeigt, nimmt der Narr Parzival (denn als solcher wurde er von seiner Mutter eingekleidet, 126,26 f.)110, die Rede streng nach dem Literalsinn, ja selbst die Warnung vor trüben Furten. Die Konsequenzen davon, dass er dem Weg in seiner akzidentiellen Beschränktheit nachgeht, sind wohl bekannt. Wir folgen ihm:
103 Vgl. REGINA TÖPFER: Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 144), Berlin/Boston 2013, 125. 104 CHRETIEN DE TROYES: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch / Deutsch, hg. und übersetzt von FELICITAS OLEFKRAFFT (= RUB 8649), Stuttgart 2009. 105 Vgl. DALLAPIAZZA: Wolfram von Eschenbach: Parzival (wie Anm. 9), 40. Überhaupt zeichne sich die Partie bei Chrétien durch mehr „Gewißheit“ für den Rezipienten aus, so ALOIS WOLF: Ein maere wil ich niuwen, daz saget von grôzen triuwen. Vom höfischen Roman Chrétiens zum Meditationsgeflecht der Dichtung Wolframs. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 26 (1985), 9–73, hier 25. 106 Vgl. HORST FUHRMANN: Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, 3. Aufl. München 1998, 23. 107 Vgl. die ausführlichere Belehrung in Liebesdingen durch Percevals Mutter, CHRÉTIEN: Perceval (wie Anm. 104), 526–555. 108 Vgl. RAINER WARNING: Formen narrativer Identitätskonstruktion im höfischen Roman. In: ODO MARQUARD, KARLHEINZ STIERLE (Hg.): Identität, München 1979, 553–589, hier 568. 109 PETER CZERWINSKI: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt a. M./New York 1989, 157. 110 Dass Parzival dies hinnimmt, lässt auf seine „Unschuld“ schließen, vgl. ALOIS HAAS: Parzivals tumpheit bei Wolfram von Eschenbach (= Philologische Studien und Quellen 21), Berlin 1964, 68.
Straßen und Wege in der Artusepik 129,5
Dô kêrt der knabe wol getân gein dem fôrest in Brizljân. er kom an einen bach geritn. den hete ein han wol überschritn:
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swie dâ stuonden bluomen unde gras, durch daz sîn fluz sô tunkel was, der knappe den furt dar an vermeit. den tager gar derneben reit, alsez sînen witzen tohte111.
Bluomen unde gras beschreiben hier keinen locus amoenus, sondern dienen ganz im Gegenteil dazu, den visuellen Effekt des Schattenwurfs darzustellen, der die Furt verdunkelt und Parzival – gemäß der Warnung seiner Mutter – an der Überquerung hindert. Die tunkel fürte sind ein „statisches, aber verknüpftes Motiv“112, denn die wörtlich genommene Wegbeschreibung führt ihn, als er meint, auf eine solche Furt gestoßen zu sein, geradewegs in die Irre und zu seiner ersten „Prüfungssituation“113. Parzival stößt, dem Flusslauf folgend, auf einer Lichtung auf ein Zelt, in dessen Inneren er eine schlafende Dame findet: 130,22
an ir was künste niht vermiten: got selbe worht ir süezen lîp. och hete daz minnecliche wîp
25
langen arm und blanke hant. der knappe ein vingerlîn dâ vant, daz in gein dem bette twanc, da er mit der herzoginne ranc114.
Wiederum der Worte Herzeloydes eingedenk raubt er Kuss und Ring augenblicklich: du solt zir kusse gâhen / und ir lîp vast umbevâhen (127,29–30). Dieser Eintritt Parzivals in die Welt bildet dann auch das Paradigma für die Reaktionen bei nachfolgenden Begebenheiten115. Dies bestätigt sich bei der nächsten Station, als er seine Cousine Sigune116 erstmals trifft. Diese bei Chrétien namenlose Figur
111 KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 132: „Es nahm der schöne Knabe seinen Weg zum Wald von Brizljân. Er kam an einen Bach geritten, da wäre leicht ein Gockel durchgeschritten. Obwohl da Blumen standen und Gras und einzig deshalb das Wasser in dem Schatten dunkel floß, ging der Knabe nicht hinüber. Den ganzen Tag ritt er am Ufer entlang – er verstand es halt nicht besser“. 112 TOMAŠEVSKIJ: Theorie der Literatur Poetik (wie Anm. 61), 220. 113 HARMS: Homo viator (wie Anm. 20), 226; FRANZISKA HAMMER: wer oder wannen ist diz kint, des site sô rehte schœne sint? In: MAXIMILIAN BENZ, KATRIN DENNERLEIN (Hg.): Literarische Räume der Herkunft. Fallstudien zu einer historischen Narratologie (= Narratologia 51), Berlin/Boston 2016, 147–186, hier 160: „Mit dem Bach überschreitet Parzival die topologische Grenze zwischen sekundärem und primärem Herkunftsraum: Er tritt, ohne es zu wissen, in das umfassende Bezugsnetz genealogischer Beziehungen und die arthurische Welt mit ihren Gesetzmäßigkeiten ein“. 114 KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 133: „An ihr lag alles Können eines Meisters, eine sehr elegante Kreation: Aus Gottes eigener Werkstatt kam ihr süßer Leib. Schöne, lange Arme hatte sie und weiße Hände. Der Knabe sah ein Ringlein blitzen, das zog ihn mit Macht zum Bett; da fing er mit der Herzogin zu kämpfen an“. 115 Vgl. JULIA RICHTER: Spiegelungen: Paradigmatisches Erzählen in Wolframs ‚Parzival‘ (= Münchener Texte und Untersuchungen zur Deutschen Literatur des Mittelalters 144), Berlin/Boston 2015, 44. 116 Vgl. CLAUDIA BRINKER VON DER HEYDE: Geliebte Mutter – mütterliche Geliebte: Rolleninszenierung in höfischen Romanen (= Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 124), Bonn 1996, 317, Anm. 150.
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Simon Falch
wird von Wolfram zu einer wichtigen „Wegweiserin Parzivals“117 ausgestaltet. Freilich weiß er noch nichts von dieser Verwandtschaft, ist ihm doch nicht einmal sein eigener Name bekannt. Parzival erkundigt sich sogleich nach dem Grund ihrer Trauer um den toten Ritter, den sie in Armen hält (138,25–30). Es handle sich um ihren Geliebten, erklärt Sigune, der in der Tjost gegen Orilus bei der Verteidigung der Länder der Anschevin ums Leben kam. Noch zuhause in Soltane hatte ihm seine Mutter erzählt118, dass Lähelin – Orilus ist dessen Bruder, wie Sigune jetzt berichtet (141,5–9) – seine Erbländer besetzt hält (128,2–11). Orilus (übrigens der Gatte der im Zelt überfallenen Dame) und Lähelin werden also von der Mutter und von Sigune angeklagt. An Parzivals Mitgefühl erkennt sie schließlich ihren Verwandten. 140,9
Dô diu rede was getân, si erkant in bî dem namen sân. nu hœrt in rehter nennen, daz ir wol müget erkennen wer dirre âventiur hêrre sî: der hielt der juncfrouwen bî.
15
ir rôter munt sprach sunder twâl 'deiswâr du heizest Parzivâl. der nam ist rehte enmitten durch119.
Das Verwandtschaftsverhältnis verpflichtet zur Rache120. Parzival ist, ohne um derartige Pflichten zu wissen – hier offenbart sich freilich seine hohe Abstammung – sofort zur Wiederherstellung der Familienehre entschlossen (141,27–29). Doch wird ihm nun erneut und wiederum in bester Absicht der unrehte Weg gewiesen: 142,1
si wîste in unrehte nâch: si vorht daz er den lîp verlür unt daz si grœzeren schaden kür. eine strâze er dô gevienc, diu gein den Berteneysen gienc: diu was gestrîcht unde breit121.
Sigune muss nämlich befürchten, dass der unerfahrene Jüngling im Kampf gegen einen erprobten Ritter sein Leben verlieren werde und sie dadurch nur noch mehr
117 Vgl. LARISSA SCHULER-LANG: Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. ‚Parzival‘, ‚Busant‘ und ‚Wolfdietrich D‘ (= Literatur – Theorie – Geschichte 7), Berlin 2014, 188. 118 Der Widerspruch, dass Parzival zu diesem Zeitpunkt seinen eigenen Namen nicht kennt, wird aber vom Erzähler nicht aufgelöst, vgl. STOCK: Lähelin (wie Anm. 13), 28. 119 KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1). 143: „Kaum waren diese Worte gesprochen, so kannte sie ihn plötzlich beim Namen. Jetzt hört ihn besser und richtig nennen, damit ihr recht erfahrt, wer es ist, der diesen Roman regiert; der stand dort bei der jungen Dame. Ohne Zögern sprach ihr roter Mund es aus: ‚Wahrhaftig, du heißt Parzivâl. Der Name ist so recht mittendurch‘“. 120 Vgl. OTFRID EHRISMANN: Ehre und Mut. Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, München 1995, 154 f. 121 KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 144 f.: „Sie wies ihm die falsche Richtung – sie hatte Angst, daß er den Leib verlöre und daß sie das Unheil noch schlimmer machen könnte. So kam er auf eine Straße, die zu den Berteneysen ging, die war gepflastert und breit“.
Straßen und Wege in der Artusepik
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Unheil stifte122. Daher schickt sie Parzival auf die falsche Spur, die vermeintlich sichere, breite und befestigte Straße, und damit unwissend auf den von ihm ersehnten Weg nach Britannien zum Artushof. Jeder Hinweis123 auf die Straßenbeschaffenheit in der mittelhochdeutschen Literatur stellt eine Ausnahme dar. Die contradictio in adiecto unerbûwen strâze im Erec (nur einmal in der MHDBDB belegt, ER 5314) erregt dann ebenso die Aufmerksamkeit wie die gestrîcht unde breit[e] Straße im Parzival, die erneut einen Bezug – im Hinblick auf einen bekannten Straßentyp – zur außerliterarischen Wirklichkeit knüpft. Auch wenn sich diese Straße nicht lokalisieren lässt, da weiterhin der Startpunkt (Soltane) keine Koordinaten besitzt, so wird der Held erstmals von einer konkret beschriebenen und benannten Straße zu einem realen Ort geführt. Eine solche Konstellation kennt die klassische Artusdichtung nicht. Was nun am Ende der so beschriebenen Straße wartet, ist bekannt. Parzival gelangt über eine Zwischeneinkehr bei einem vischære124 (142,17), den er meint noch als Führer zu benötigen, zum Artushof, der nicht wie bei Chrétien „konventionell in Caroeil (v. 839)“, sondern eben in Nantes (144,8) residiert, also hier „in einen genau lokalisierbaren [...] Raum verlagert“ wurde125. Sigunes Plan, ihren Cousin von seinem Weg – als Ritter, der für die Familienehre kämpft – abzubringen, ging also ebenso schief wie die Bemühungen Herzeloydes, ihren Sohn von einem Leben als Krieger, dem schon ihr Gatte zum Opfer fiel, fernzuhalten. Durch die Konkretisierung von Weg und Ort wird in besonderer Weise deutlich, dass Parzival ‚tatsächlich‘, auf den Spuren seiner gens, in der Gesellschaft ankommen musste. Sogleich wartet dann auch seine erste Bewährungsprobe, in der er, wie es seine Abstammung (art) verlangt, sein Leben einsetzt. Zwar kämpft er nicht gegen Orilus, sondern gegen einen Ritter, dessen rote Rüstung er begehrt, dennoch befindet er sich nun in der von beiden Frauen gefürchteten Zweikampfsituation. Artus verspricht ihm für den Sieg nicht nur die Rüstung126, sondern stellt ihm den Roten Ritter, Ither, auch als Usurpator vor (150,3–10). So muss Parzival nun Ither für Lähelin den „Totschläger“127 halten128 (154,25 f.), von dem ihm seine Mutter 122 Schließlich trägt sie nach ihrem Verständnis bereits Schuld am Tod ihres Geliebten Schionatulander, da sie ihn auf die Suche nach einem entlaufenen Hund schickte, auf dessen bracken seil (Hundeleine) eine Geschichte geschrieben stand, deren Ende sie aber nicht mehr lesen konnte, bevor sich das Tier losriss. Auf der Suche nach diesem Seil muss Schionatulander im Kampf gegen Orilus gefallen sein. Vgl. WOLFRAM VON ESCHENBACH: Titurel, hg., übersetzt und mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von HELMUT BRACKERT und STEPHAN FUCHS-JOLIE, Berlin/New York 2003, darin Fragment II; 168,1–172,4. 123 HAUBRICHS: Die volkssprachigen Bezeichnungen (wie Anm. 20), 104, Anm. 23. 124 Parzival lässt sich hier vom vischære betrügen, verlangt dieser doch für Nachtlager und weitere Wegführung die von Jeschute geraubte Brosche. HAAS: Parzivals tumpheit (wie Anm. 110), 76. 125 BERNHARD SCHMITZ: Nantes. Spielfelder der Handlung in Wolframs ‚Parzival‘. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 133 (2004), 22–44, hier 28. 126 Wobei Artus Parzival die Investitur bereits zuvor für den nächsten Tag zugesagt hatte (PZ 149,17–24). 127 JAN-DIRK MÜLLER: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, 52.
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schon erzählte, er habe seine Erbländer erobert (128,2–10). Parzival tötet seinen Gegner mit einem gabylot, einem kurzen Jagdspeer (155,4–11), ohne aber zu wissen, dass es sich um Artusʼ Cousin handelt, also ebenfalls um einen nahen Verwandten129. So führt die über Wegbeschreibungen und Abstammungslinien verknüpfte Ereigniskette von Station zu Station, durch explizite und implizite Prolepsen organisiert. Wie der Held vordem nicht selbständig die Zeichen der ihm gewiesenen Wege zu lesen verstand, so vermag er auch hier nicht auf der Grundlage der Informationen von Mutter und Cousine130 die Identität Ithers mit Herzeloydes Lähelin auszuschließen. Freilich bleibt, wie Stock betont, diese Deutung der Verwechslungsgeschichte, da der Erzähler keine Erklärung für Parzivals Verhalten und Mutmaßung liefert, davon abhängig, dass der „[gesamte] Weg vom Aufbruch aus Soltane an mit einbezogen“ wird131. Dass dies möglich ist, zeichnet aber genau den Weg im Parzival aus. IV. Die Multifunktionalität des Wegs im Parzival Eindrücklich wird die Bedeutung des Wegs im Parzival dadurch, dass Wegbeschreibungen hier in das System „konkreter thematischer Verknüpfung[en]“ eingebunden sind. Verknüpfungen, die an „die Stelle der Sinngebung durch die Symbolstruktur“ traten, die Chrétiens Dichtung auszeichnet132. Dieses poetische Prinzip prägt den Parzival von Beginn an, indem wir dem Helden auf seinen Pfaden in Soltane bis auf der Straße nach Nantes folgen, um später mit ihm in den Bereich des Grals, außerhalb der transfiktiven Welt des arturischen Romans, ins ungeverte vorzustoßen. Auf das auch so im Verlauf der Erzählung gesponnene Netz werde der Leser/Hörer, so Haug, bereits im Prolog hingewiesen: 128 Dabei wiederholt sich diese Verwechslung, so hält Trevrizent Parzival und Cunneware Orilus für Lähelin, vgl. NINE MIEDEMA: Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse. In: HARALD HAFERLAND, MATTHIAS MEYER (Hg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven (= Trends in Medieval Philology 19), 35–68, hier 59. 129 MICHAEL SWISHER: The Necessity of Sin and the Growth of the Inner Self: Parzivalʼs Quest for the Grail. In: Neophilologus 83 (1999), 253–265, hier 255: „With the killing of Ither we see Parzival at his worst“. 130 Zudem weist Sigune Parzival den Weg zu Lähelin. Vgl. HARMS: Homo viator (wie Anm. 20), 227: „Sigunes Rat bei der Wegwahl begründet die Verwirrung, auf Grund derer Parzival jetzt zwei Ziele auf einmal zu erreichen sucht: Er bittet den Fischer, ihm den Weg zu König Artus zu zeigen, und als er dort ankommt, liegt sein Gedanke nahe, er habe in Ihter den gesuchten Lehelin gefunden, wie er sich von Sigunes Rat versprochen hat“. 131 STOCK: Lähelin (wie Anm. 13), 30. 132 WALTER HAUG: Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), 668–705, hier 695. Siehe dazu auch: HEIKO HARTMANN: Darstellungsmittel und Darstellungsformen in den erzählenden Werken. In: JOACHIM HEINZLE (Hg.): Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. Bd. I: Autor, Werk, Wirkung, Berlin 2011, 145–220, hier 177– 180.
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Nur derjenige wird das, was sie [die Geschichte, s.f.] zu sagen hat, begreifen, der ihren Weg über alle Kehren und Wendungen mitzugehen und das dauernde Umschlagen der Perspektiven mitzumachen bereit ist. Die Sinnfindung geht diesen Weg entlang, d. h. der Sinn läßt sich nicht als handbare Lehre abziehen. Was geschieht, ist nicht von vornherein überschaubar und eindeutig; eine simple Etikettierung der Ereignisse und Figuren mit ‚gut‘ und ‚böse‘ ist ausgeschlossen. Deshalb wird nur der, der sich diesem Wechselspiel rückhaltlos überläßt, zu einem wirklichen Verständnis kommen133.
Nicht von ungefähr findet sich in der Forschungsliteratur die „Weg-Metapher“134 allenthalben, wenn von Handlungsverlauf und Figurendarstellung die Rede ist, folgt doch die Perzeption des Helden einem konkreten Weg und der Erzählung selbst. Besonders anschaulich wird diese Perspektivierung zu Beginn des vierten Buchs; den Kontext stellt Parzivals Abschied von seinem Erzieher Fürst Gurnemanz dar. Dieser unterwies Parzival, wie es sich Parzivals Mutter erhoffte (s. o. 127,21–24), in höfischen Sitten und Ritterkunst. Der Knabe zeigt bei seinem Wegritt aber nun alle Symptome der Liebeskrankheit135, seine Gedanken drehen sich nur um Gurnemanzʼ Tochter Liaze, die er nach einer Zeit ritterlicher Bewährung heiraten möchte (178,29–179,3). Dieser Hinweis scheint bedeutend, da die weiteren Ereignisse zeigen, dass sich der Held auf dem richtigen, also dem ‚vorherbestimmten Weg‘ befindet (vgl. 177,1–9), dies aber ohne sein Wissen und ohne Kenntnis des Ziels. Parzival wird nämlich nicht nach Graharz zu Liaze zurückkehren, sondern auf der nächsten Reiseetappe eine Königstochter, Condwiramurs (conduire amour – die zur Liebe führt, also erneut eine Wegweiserin, vgl. 495,22 f.)136, seine zukünftige Frau, kennen lernen. Der Erzähler berichtet nun über das Empfinden Parzivals aufgrund der Trennung. Die Situation ist – hier gilt es die Alterität mittelalterlicher Literatur zu berücksichtigen – keineswegs ‚romantisch‘, sondern für einen Krieger lebensgefährlich137: 179,16
ôwê wan daz in ruorte manec unsüeziu strenge. im was diu wîte zenge, und ouch diu breite gar ze smal:
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elliu grüene in dûhte val, sîn rôt harnasch in dûhte blanc: sîn herze dʼougen des bedwanc138.
133 HAUG: Symbolstruktur (wie Anm. 132), 703. Vgl. auch DERS.: Das literaturtheoretische Konzept Wolframs von Eschenbach. Eine neue Lektüre des ‚Parzival‘-Prologs. In: Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 123 (2001), 211–229, hier 226. 134 Zum Begriff siehe DIRK WESTERKAMP: Art. ‚Weg‘. In: RALF KONERSMANN (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern, 3. Aufl. Darmstadt 2011, 524–551, hier 524. 135 Vgl. ANDREAS CAPELLANUS: Von der Liebe. Drei Bücher. Übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von FRITZ PETER KNAPP, Berlin/New York 2006, 336. 136 Vgl. WERNER SCHRÖDER: Die Namen im ‚Parzival‘ und im ‚Titurel‘ Wolframs von Eschenbach, Berlin/New York 1982, 24 f. 137 Vgl. EMMERLING: Geschlechterbeziehungen (wie Anm. 84), 190 f. 138 KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 138: „Ach, da war nur etwas, das stieß ihn immerfort mit strenger Gewalt umher, das war nicht angenehm. Die Weite selber war ihm zu eng und überhaupt der Raum, so breit er sich auch strecken mochte, viel zu schmal; alles Grüne schien ihm bleich in seinen Sinn, seine rote Rüstung blitzte ihm weiß: Das machte sein Herz, es hatte über die Augen Gewalt“.
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Die Liebeskrankheit (amor hereos139) führt zur Wahrnehmungsstörung, und so werden die vom Erzähler berichteten Sinneseindrücke des Helden zum Spiegel seiner inneren Verfassung. In diesem Modus könnte der Erzähler ohne Anzeichen für einen Perspektivwechsel fortfahren – zumindest wird durch einen Tempuswechsel die Unmittelbarkeit der Situation unterstrichen: 180,1
swar sin ors nu kêre, er enmages vor jâmer niht enthabn, ez welle springen oder drabn. kriuze unde stûden strîc,
dar zuo der wagenleisen bic sîne waltstrâzen meit: vil ungevertes er dô reit, dâ wênic wegerîches stuont140.
Parzival lässt sich passiv von seinem Pferd durch dichten Wald bringen141, dorthin wo kein wegerîch wuchs142. Das Possessivpronomen sîne könnte dabei noch den Eindruck verstärken, dass ein Tropus vorliegt143. Die ganze Darstellung scheint so darauf angelegt, die Deskription der Außenwelt auf den Zustand des Ritters be139 Vgl. SILVIA SCHMITZ: Die Poetik der Adaption: literarische inventio im ‚Eneas‘ Heinrich von Veldeke (= Hermaea n. F. 113), Tübingen 2007, 320. 140 KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 183 f.: „Wohin da sein Pferd auch steuern will, er ist mit seinem Jammer so beschäftigt, daß er es nicht aufhalten kann, mag es rennen oder traben. Kreuze und Wegzäune sah er nicht, noch weniger Furchen von Wagenrädern, denn seine Waldchaussee war wild: Ganz ungebahnt war es dort, wo er ritt, und wenn da Wegwarten standen, so warten die noch heute auf den Weg“. Knechts Übersetzung ist hier insgesamt sehr frei, um das (mögliche) Wortspiel Wolframs im Neuhochdeutschen wiederzugeben. Vgl. BECK: Raum und Bewegung (wie Anm. 95), 233 f. 141 Vgl. MIREILLE SCHNYDER: Der Wald in der höfischen Literatur: Raum des Mythos und des Erzählens. In: Das Mittelalter 13/2 (2008), 122–135, hier 131. 142 Als Alternative dazu (siehe Anm. 140), hier nur ein Wortspiel zu lesen, wäre es auch möglich, den Bezug zu Parzivals geistiger Verfassung aufgrund seiner Trennung von der Geliebten und der Gesellschaft stärker zu akzentuieren. Der wegerîch ist die Pflanze schlechthin zur Anzeige von Besiedlung und gleichzeitig ein potentes Heilmittel. Vgl. JOHANNES FRIED: Die Formierung Europas 840–1046 (= Oldenburg Grundriss der Geschichte 6), 3. Aufl. München 2008, 17. Zum Wegerich als Heilkraut vgl. WILLIAM CROSSGROVE: Die deutsche Sachliteratur des Mittelalters (= Germanische Lehrbuchsammlung 63, Abt. 2, Reihe B), Bern u. a. 1994, 42: Ad dolorem capitis. Swemo das hovbet we tuo. der mule den wegerich cum uino et nezze caput suum cum hoc, et faciat illud sepe statimque liberabitur. Dazu auch HANS HENNING: Johann Faustens Gaukeltasche. In: DERS. (Hg.): Faust-Variationen. Beiträge zur Editionsgeschichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, München 1993, 143–164, hier 149: Wegerich/Martis. Die Wurtzel dieses Krautes ist gut zu den schmertzen deß haupts. 143 Ein Possessivum vor einer Weg- bzw. Straßennennung scheint aber auch üblich zu sein, ohne damit einen uneigentlichen Gebrauch markieren zu wollen, vgl. zum Beispiel: hie mite saz ûf Engelhart / und îlte sîne strâze / und nam der wege mâze / hin gegen Tenemarke (ENG 385– 387 und fast wörtlich wiederholt 4559–4561); sein straze reit er da hin (CRO 3656), nû rîtet iuwer strâze (DFL 3661) oder wir sîn verre / geriten von unser strâze (ER 7900). Zumeist wird dadurch wohl nur der Standpunkt der Figur, eventuell auch ein rechtlicher Besitzanspruch über den durchrittenen Raum angezeigt: Saget an, ir vil tumber man, / Wer geriet eu disen wan, / Daz ir mein strazze habet geriten? / Daz moecht ir gerne haben vermiten. [...] Herre, ir moecht wol reden baz. [...] Ich wand, deu strazze wär vri (GAR 5513–5533). Schließlich erweitert und erhält die Obrigkeit die Infrastruktur: Mit ir willen Otte sîn sun ze künige wart gewîhet. / der het daz rîche in seiner pflege / ân zwei / vierzic iâr und maht im strâz und wege, / des hiut kein künic noch keiser sich verzîhet (Lohengrin 7307–7310).
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ziehen zu können. Die Schilderung der Straßenausstattung in verneinter Form entspricht schließlich auch dem Nicht-Wissen und der mangelnden Erkenntnis Parzivals über sein Ziel. So wäre dann die waltstrâze der Name für Parzivals wilde strâze (vgl. VIR 276,10; 399,10), die sich sein Pferd erst bahnen muss und über deren Zustandekommen oder Beschaffenheit der Held genauso wenig Kenntnis besitzt wie über die Vorsehung, die sein Ross leitet: 180,15 Doch reit er wênec irre, wan die slihte an der virre kom er des tages von Grâharz in daz künecrîch ze Brôbarz durch wilde gebirge hôch. 20 der tac gein dem âbent zôch144.
Parzivals ‚Parcours‘ in voller Rüstung und Bewaffnung durch einen nicht flurbereinigten Wald, über einen Berg slihte an der virre, auf einem Streitross, das er nicht führt145, in der Hälfte der eigentlich notwendigen Zeit für die Reise146, ohne Zeichen der Erschöpfung147 (vgl. 181,19) erscheint selbst für einen fiktionalen Roman reichlich unrealistisch und ist somit höchst auffällig148. Ein Ritt durch einen Wald lässt eine aktive Führung des Pferdes erwarten149, zumal der ‚Pass‘ anspruchsvoll zu sein scheint. Condwiramurs kann kaum glauben, dass Parzival nur einen Tag für die Reise benötigte150. Die waltstrâze führt ihn – so fügt es die âventiure, über die freilich der Dichter Herr ist151 – geradewegs zu seiner ersten
144 KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 184: „Doch ritt er auch gar nicht viel irre, sondern stracks geradeaus ins Blaue, und also kam er an dem Tag von Grâharz durch ein wildes, hohes Gebirge in das Königreich Brôbarz“. 145 Parzivals Grals-Pferd folgt dem Weg der âventiure, also wohl der Vorsehung und nicht dem Instinkt, um zu seinem Stall nach Munsalvæsche zurückzukehren. Vgl. WOLF: Ein maere wil ich niuwen (wie Anm. 105), 53. Dieses Motiv, dass Parzival die Zügel freigibt und so seine nächste Etappe erreicht, wird sich noch zwei Mal (dann aber als aktive Entscheidung des Ritters) wiederholen, siehe BLANK: Determination (wie Anm. 94), 219. 146 Vgl. wan swelch mîn bote ie baldest reit, / die reise er zwêne tage vermeit (PZ 189, 25 f.). 147 An anderer Stelle weist Wolfram aber auf die Erschöpfung Parzivals hin, vgl. er moht wol waltmüede sîn: / wand er het der strâzen wênc geriten (PZ 459,14 f.). Siehe auch Wolfdietrich A (455,1–456,4). 148 Vgl. GLASER: Der Held (wie Anm. 5), 142. 149 Vgl. Virginal: Nu nâmens urloup unde riten. / die rehten strâzen sî vermiten / und îlten gein dem walde / und gegen eim gebirge hôch, / daz sich ûf gein den lüften zôch: / dar trabten sî vil balde (VIR 19,1–6). Wolfdietrich (Hs. A): Die stîge und ouch die strâze er durch vorthe vermit. / durch walt und durch gevilde er mit im schâches reit (WDA 83,1–2). Oder auch: Von dannen er dô kêrte durch den grüenen walt, / als in diu frouwe lêrte, die stige manicvalt / bî dem mere vil nâhen durch daz wilde lant. / die stige und ouch diu strâze im wârn vil unbekannt (WDA 506,1–4). 150 Siehe alsus sprach diu werde magt. / ‘hetz anders iemen mir gesagt, / der volge wurde im niht verjehn, / deiz eines tages wære geschehn (PZ 189,21–24). 151 Vgl. DALLAPIAZZA: Wolfram von Eschenbach: Parzival (wie Anm. 9), 27.
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Bewährungsprobe als ausgebildeter Ritter152. Parzival aber, der dirre âventiur hêrre sî (140,13), ist der Plan des Dichters, soweit wir ihm folgen dürfen, unbewusst (unwizzende, s. o. 250,29). Damit kann diese Wegdarstellung als Prolepse auf den Gralsweg gedeutet werden, worauf auch das „unbekannte“ Sprichwort153 hinzuweisen scheint: 180,9
genuoge hânt des einen site und sprechent sus, swer irre rite daz der den slegel fünde154.
Auf Parzival trifft dieses Sprichwort also notwendigerweise und vollumfänglich zu, da er ziellos âventiure sucht und diese findet, ohne Kenntnis von Weg oder Ziel155. Doch selbst wenn es Spuren und Zeichen gebe, denen er folgen könnte, so wäre er noch nicht in der Lage, diese zu verstehen: dô dir got fünf sinne lêch / die hânt ir rât dir vor bespart („Gott hat dir doch fünf Sinne verliehen, und alle haben sie dich da verraten!“, 488,26–27). Äußerlich und dem Benehmen nach ein Ritter, mangelt es ihm noch an Qualitäten, die zur Herrschaft befähigen. Vor allem fehlt eine autonome Hermeneutik156, die ihn seinen Weg selbst erkennen lässt, der darin besteht, sich Gottes Führung zu empfehlen. Schließlich kann nur Gott den König leiten: 152 GLASER: Der Held (wie Anm. 5), 143: „Wolfram wird dieses Motiv der übernatürlichen Schnelligkeit bei Parzivals Ritt nach Munsalvaesche wieder aufgreifen. Überhaupt werden einige typische Elemente von Parzivals Reise nach Brobarz, bspw. seine Gedankenverlorenheit und Passivität, während seines Rittes nach Munsalvaesche in verstärkter Form wiederkehren“. 153 Belegstellen, die sich in der MHDBD für irre rîten finden, weisen auf ein Ziel hin, das ohne Kenntnis des Wegs erreicht wird oder erreicht werden soll. Vgl. Meleranz: einem wege er nâch reit, / der wîste in in den walt dan / sô verre daz der junge man / wol weste daz er irre reit (MEL 334–337); si seit mir daz du irre rite / und die rehten strâze vermite / und daz dich der weg her trüege (MEL 1027–1029). Oder im Prosa-Lancelot: alsbald als er sie sahe als wol gewapent, da gedachte er das sie weren der irrenden ritter die da waren komen in die suchung von dem heiligen gral, da von er lange hatte gewußt (PL3 210,6–8. Zum Verständnis und der Entwicklung des chevalier errant in der mhd. und frnhd. Literatur siehe FRITZ PETER KNAPP: L’idéal du chevalier-errant dans le ‚Lancelot en prose‘ et dans la ‚Krone‘ de Heinrich von dem Türlin. In: Actes du 14e Congrès International Arthurien Rennes, 16–21 août 1984, Rennes 1984, 371–378. Zu Deutungsmöglichkeiten des slegel[s], der hier gefunden werden soll – also das, was gesucht/begehrt wird – siehe: WOLFRAM VON ESCHENBACH: Parzival (wie Anm. 18), 551 (NELLMANN, Kommentar zu V. 180, 10 f.); MANFRED EIKELMANN, TOMAS TOMASEK: Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts, Bd. 2: Artusromane nach 1230, Gralromane, Tristanromane, Bearbeitet von THOMAS TOMASEK in Zusammenarbeit mit HANNO RÜTHER und HEIKE BISMARK, Berlin/New York 2009, 154. 154 KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 184: „Es gibt eine Redensart, die sagt, daß der, der viel herumirrt, am leichtesten den goldenen Schlegel finden könne“. 155 Anders: Ebenda, 154 f., hier wie folgt übersetzt: „Wer ziellos umherreitet (sein Leben führt), fordert Schicksalsschläge heraus“. 156 WILHELM SCHMID: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1385), Frankfurt 1998, 290.
Straßen und Wege in der Artusepik 452,1
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Er sprach 'ist gotes kraft sô fier daz si beidiu ors unde tier unt die liut mac wîsen, sîn kraft wil i'm prîsen. mac gotes kunst die helfe hân, diu wîse mir diz kastelân
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dez wægest umb die reise mîn: sô tuot sîn güete helfe schîn: nu genc nâch der gotes kür. ' den zügel gein den ôren für er dem orse legte, mit den sporn erz vaste regte157.
Parzivals Gralssuche ist zwar hier noch nicht zu Ende, doch der Weg zur Erkenntnis ist beschritten, auf dem ihm keine Ratschläge mehr erteilt werden können158. Held und Rezipient müssen erkennen lernen, dass disiu âventiure / vert âne der buoche stiure (115,29 f.). Ratschläge und Romanvorlagen helfen auf der Suche nach dem Gral nicht mehr weiter. Auf diesem Weg der Erzählung kann nunmehr der Dichter helfen, er ist die Instanz, welche die liut mac wîsen wie dort in der Welt gotes kraft. V. Schluss Straßen und Wege in der deutschen epischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts sind ein „vielschichtiges Phänomen“ der Raumerzeugung159. Sie können auf Außerliterarisches verweisen, ohne zugleich einen konkret nachweisbaren Weg darzubieten. Damit bleiben Straßen und Wege zumeist Nicht-Orte160, Durchgangsstationen ohne Geschichte bzw. ohne unverwechselbare Merkmale. Nur vereinzelt, en passant, besitzt der Weg in der Artusepik als beschriebene Raumkonstituente, wie der stîc im Wald von Breziljan, erzähltechnische Relevanz. Demnach wäre dem Weg in der Artusepik zu viel aufgebürdet, ginge man wie Trachsler davon aus, dass sich die Dichter einer Terminologie bedienen würden, „hinter der die außersprachliche Wirklichkeit mittelalterlicher Weg- und Verkehrsverhältnisse“ stünde und außerdem „der konkrete Weg des Protagonisten transparent auf seinen ‚inneren Weg‘“ bezogen sei, sodass „am ‚äußeren Weg‘ [...] innere Zustände und Wandlungsvorgänge sichtbar“ würden161. Angesichts dessen scheint für eine metonymische Verwendung von Straßen und Wegen im Parzival eine gegenüber dem klassischen Artusroman andere Poetik des Wegs erforderlich, die dessen (gattungsbedingtes) Potenzial ausschöpft. Denn erst hier 157 KNECHT: Wolfram (wie Anm. 1), 456: „Er sprach: ‚Wenn wirklich Gottes Kraft Manns genug ist, ein Streitroß zu lenken so gut wie andere Tiere, und wenn sie die Menschen führen kann, dann will auch ich seine Kraft ehren. Wenn Gott die Kunst des Helfens recht versteht, so soll er diesem Kastilianer den Weg weisen, wie es für mich am besten ist. So mag sich nun sein Adel im Helfen erweisen: Hüh, geh zu, wie Gott es will.‘ Und er legte die Zügel vorne an den Ohren des Pferdes hin; mit den Sporen trieb er es mächtig an“. 158 Vgl. CORNELIA HERBERICHS: Erzählen von den Engeln in Wolframs ‚Parzival‘. Eine poetologische Lektüre von Trevrizents Lüge. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 134 (2012), 39–72, hier 53. BLANK: Determination (wie Anm. 94), 216 f. 159 Vgl. TRACHSLER: Der Weg (wie Anm. 20), 3. 160 Vgl. Anm. 57. 161 TRACHSLER: Der Weg (wie Anm. 20), 3.
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im Parzival gewinnen, wie die analysierten Textstellen nahelegen, Wege und Straßen systematisch an Profil. Dieser innovative Beitrag Wolframs zu einer topographischen Beschreibungstechnik lässt sich wie folgt resümieren: 1. Details von Wegbeschreibungen, aber auch der weglose Ritt, können der Verknüpfung von Episoden dienen und Handlungen motivieren, wie die Warnung Herzeloydes vor tunkel fürte, die Parzival zu Jeschute leitet. Das Verfahren erinnert an die „kompositorische Motivierung“, wie sie Tomaševskij nach Čechov erklärt162. 2. Erstmals in der Artusepik führt eine im Detail (gestrîcht unde breit) beschriebene Straße zu einem Ort, der auf die außerliterarische Wirklichkeit verweist (Nantes)163. Erkenntnisse über das historische Straßennetz um Nantes vermittelt dies zwar nicht, doch zeigt das Beispiel, dass Wolfram bei seinen Bemühungen um „Welthaltigkeit“ auch den Weg erfasst und dadurch in seiner symbolischen Funktion – für den desorientierten Helden, den chevalier errant – auflädt. 3. Zwischen Wegdarstellung und innerem Zustand des Helden kann nun – in Weiterentwicklung der Verfahren in den Werken Chrétiens und Hartmanns – tatsächlich ein metonymisches Verhältnis angenommen werden164. Dies mag eine Erklärung dafür bieten, dass ausgerechnet die Beschreibung eines Nicht-Wegs im Parzival die exakteste Straßenbeschreibung der Artusepik enthält. Durch seine ironische Namenswahl für die ex negativo definierte waltstrâze als Nicht-Weg gibt uns Wolfram einen Begriff für den ziellos, aber geradewegs verlaufenden Ritt des liebeskranken (wahrnehmungsgestörten) Helden und damit auch für die Aporie des Wegs zum Gral.
162 TOMAŠEVSKIJ: Theorie der Literatur Poetik (wie Anm. 61), 227 f. 163 Obwohl zahlreiche reale Orts- bzw. Herrschaftsnamen in Chrétiens Erec et Enide (wie Anm. 70, 431) genannt werden, findet sich keine Beschreibung der dorthin führenden Wege oder Straßen. 164 Vgl. BLANK: Determination (wie Anm. 94), 216: „Wie die hier skizzierten Stationen zeigen, steht das Wegemotiv von Anfang an unter der Perspektive ‚richtig‘ bzw. ,falsch‘, eine Bewertung, die den Romanfiguren allerdings nicht zuverlässig möglich ist. Denn die falsche Zielvorgabe – seiʼs von der Mutter, seiʼs von Sigune – wird durch eine geheimnisvolle höhere Lenkung korrigiert. Dabei sind die Wegstationen Spiegelungen eines personalen Innenraumes des Protagonisten, die dessen jeweiligen Status wie an einer Meßlatte ablesen lassen“.
REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN
Epochenübergreifend
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1. Epochenübergreifend MATTHIAS ASCHE, ULRICH NIGGEMANN (Hg.): Das leere Land. Historische Narrative von Einwanderergesellschaften. Stuttgart: Franz Steiner 2015, 287 S., 8 s/w Abb., (ISBN 978-3-515-11198-0), 52,00 EUR. Welche narrativen Mechanismen werden ausgelöst, wenn sich migrierende Siedlungsgruppen in neuen Landstrichen niederlassen? Mit welchen Argumentationsstrategien wird Anspruch auf das ‚leere Land‘ erhoben, und inwiefern dienen die daraus resultierenden Meistererzählungen der Kohärenz der ethnisch, religiös oder national verfassten ‚Neuankömmlinge‘? Wie erfolgt langfristig die Verankerung des Einwanderungsaktes im kollektiven Gedächtnis der Gruppe? Es ist das Verdienst des anzuzeigenden Sammelbandes, regionalgeschichtliche Einzelstudien zu einem größeren Ganzen zusammenzufassen, um den Grundmustern historischer Narrative von Einwanderergesellschaften nachzuspüren. Innovativ ist der breite Rahmen: Die Beiträge erstrecken sich chronologisch von der Antike bis in die neueste Zeit und geographisch über alle Kontinente. Den konzeptionellen Rahmen bildet der kulturwissenschaftliche spatial turn, der Räume weniger unter dem Aspekt der physischen Abgrenzung als vielmehr hinsichtlich ihres mentalen Konstruktionscharakters betrachtet. Welche politische Brisanz narrativen Okkupationsstrategien innewohnt, muss angesichts schwelender Ressourcenkonflikte in Weltregionen wie dem südlichen Afrika oder dem israelisch-palästinensischen Landstreifen nicht gesondert hervorgehoben werden. In der Einleitung stellen die Herausgeber drei Kategorien der narrativen Konstruktion ‚leerer Räume‘ vor. Erstens Migrationen und Mythen: Der Wanderungsvorgang wird von nachfolgenden Generationen symbolisch mythologisiert, um den inhärent fragilen Gemeinschaften Stabilität und Kontinuität zu verleihen. Hier wird an Ansätze wie Eric Hobsbawms Invention of Tradition angeknüpft. Zweitens Landnahmenarrative und Siedleridentitäten: Durch die Konstruktion eines göttlichen, kulturellen oder politischen Auftrags wird die Landnahme legitimiert. Die Forschung hantiert neuerdings überzeugend mit dem Begriff ‚Siedlerimperialismus‘. Dieser Mechanismus ist gerade bei der Identitätsbildung solcher Gruppen wichtig, die zum Zeitpunkt der Einwanderung sozial heterogen waren und sich später durch Erinnerungskonstruktion homogene Grundlagen zurechtlegen. Drittens Raumbilder und Grenzwahrnehmungen: Bereits die Wahrnehmung vom ‚leeren Land‘ war in der Regel ein Konstrukt, weil Landstriche nicht menschenleer, sondern allenfalls dünn besiedelt waren. Die Vorstellung vom besitzlosen Niemandsland (terra nullius; vacuum domicilium) legitimierte wiederum die Landnahme. Die Vertreibung etwaiger Ureinwohner wurde mit der Idee einer Zivilisierungsmission gerechtfertigt. Die Beiträge überraschen durch den Befund, dass Elemente der drei Kategorien nicht nur bei kolonial denkenden Europäern, sondern auch bei nicht-europäischen Siedlungsgruppen auftauchen. Aufbauend auf diesem Befund wäre ein transnationaler Blick fruchtbar gewesen, der nach den
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Rezensionen und Annotationen
Bedingungen dieses Ideentransfers gefragt hätte. Auch bleiben theoretische Verbindungslinien zur Kolonialismus- und Imperialismusdiskussion blass. Anknüpfend an neuere Forschungsergebnisse – beispielsweise zur deutschen Ostexpansion (Robert L. Nelson, Veja G. Liulevicius) – hätte hier das Potenzial des Sammelbandes stärker ausgeschöpft werden können. Nach der gleichwohl vielversprechenden Einleitung geht der Leser gespannt zu den Fallstudien über und wird in diesen stets mit empirischer Dichte, nicht aber durchgehend mit theoretischer Stringenz belohnt. Auf die unterschiedliche Qualität der Beiträge soll im Folgenden aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Es sei nur allgemein erwähnt, dass konsistentere Inhalts-, Ziel-, und Thesenvorgaben in einzelnen Beiträgen die Lektüre erleichtert und die Qualität verbessert hätten. Das hervorragende Kapitel von Mitherausgeber Ulrich Niggemann hätte hier Modell stehen können. Am Anfang steht der einzige Beitrag zur Antike. Christoph Ulf zeigt, dass die klassische Vorstellung kompakter Stammeswanderungen und -niederlassungen im antiken Griechenland irreführend ist. Tatsächlich seien die Wanderungsbewegungen komplexer gewesen. Durch Simplifizierung sollten in der antiken Geschichtsschreibung die machtpolitischen Ambitionen der verfeindeten Athener und Spartaner abgesichert werden. Im 19. Jahrhundert trat der Reduktionismus eines homogenisierenden Nationalstaatsgedankens hinzu. In seinem politisch hochaktuellen Beitrag thematisiert Konrad Clewing den Konflikt zwischen Albanern und Serben um die Vorherrschaft im Kosovo. Beide Gruppen erheben den Anspruch auf Erstbesiedelung und versehen diesen mit dezidiert religiösen Konnotationen. Thomas Keller untersucht die Historiographie zur mittelalterlichen Besiedlung der böhmisch-mährischen Höhe und konstatiert ein systematisches Herunterspielen des slawischen Anteils, um deutschsprachige Territorialansprüche zu legitimieren. Der Beitrag ist rein lokalhistorisch angelegt und beachtet nicht die maßgebliche Forschung von Pieter M. Judson. Ludolf Pelizaeus analysiert für Chile die mythologisierende Heldenverehrung des Eroberers Pedro de Valdivia, die auch seine Begleiterin Inés Suarez einschloss. Während zu Beginn der Nationalstaatsbildung im frühen 19. Jahrhundert Indianer noch positiv als ‚edle Wilde‘ dargestellt wurden, die den Spaniern Widerstand geleistet hatten, drehte sich das Bild gegen Ende des Jahrhunderts unter dem Eindruck sozialdarwinistischer Vorstellungen und verstärkter europäischer Immigration ins Negative. Ulrich Niggemann bespricht Konzepte von Wildnis in der puritanischen Geschichtsschreibung Neuenglands im 17. Jahrhundert. Er zeigt auf, dass die indianische Urbevölkerung dezidiert als Bestandteil der so bezeichneten ‚Wüste‘ gesehen wurde. Die bewusste Beschwörung des ‚leeren Landes‘ diente weniger der Rechtfertigung von Landnahme als vielmehr der moralischen und religiösen Aufforderung, das ‚wilde Land‘ in einen ‚Garten Gottes‘ umzugestalten. Wie Wolfgang Flügel zeigt, spielte auch bei den deutschen Lutheranern im Pennsylvania des 18. Jahrhunderts der Begriff der Wüste eine wichtige Rolle. Die zeitgenössische Semantik verwies allerdings weniger auf einen klar abgegrenzten topographischen Raum als vielmehr auf das Fremde und Unberührte, das man sich kulturell und religiös aneignen müsse.
Epochenübergreifend
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Florian Siegl beschäftigt sich mit der Besiedelung Nordschwedens im 18. und 19. Jahrhundert. Obwohl das Minderheitenvolk der Waldsaamen hieran großen Anteil hatte, konzentrierte sich der zeitgenössische Diskurs fast ausschließlich auf die siedelnden Schweden und Finnen. Bis heute sind Waldsaamen im populär vermittelten Siedlerbild kaum präsent. Wie Nigel Penn zeigt, wurden auch in Südafrika Ureinwohner in der Retrospektive ‚verdrängt‘. Als die Buren in den 1830er Jahren vom Kap ins Landesinnere (Highveld) aufbrachen, mussten sie sich sehr wohl des Widerstands ansässiger Bantu erwehren. Bereits eine Generation später machte sich die Historiographie daran zu ‚beweisen‘, dass die Bantu etwa zur gleichen Zeit wie die Buren ins Highveld gekommen seien und deshalb keineswegs eine stärkere Berechtigung hätten, dort zu siedeln. Márta Fata beschäftigt sich sodann mit den sinnstiftenden Narrativen der Donauschwaben. Als diese im 18. Jahrhundert ins südliche Ungarn eingeladen wurden, nahmen sie die durch die Osmanenkriege entvölkerte Gegend als ‚große Öde‘ wahr. Im Laufe der Zeit verankerte sich der Topos der Leere im Kollektivgedächtnis der Gruppe. Rechtfertigungsstrategien für die Verdrängung der Indianer Nordamerikas behandelt Georg Schild. Im 17. Jahrhundert dominierte die angebliche Vorsehung, einem göttlichen Heilsplan folgen zu müssen. Im 19. Jahrhundert tauchte das Argument in säkularisierter Form wieder auf, indem man sich auf den ‚Fortschritt‘ berief. Moralische Bedenken wurden durch solcherlei teleologische Konzeptionen weggewischt. Robert Kenny sieht die Leere als zentrales Element nationaler Identitätskonstruktion in Australien. Wenig überzeugend versucht er dann, eine Brücke zum ANZAC-Mythos zu schlagen, der mit dem Topos ‚Leere‘ in der Erinnerungskultur konkurriere. Hochinteressant sind dagegen Alexandra Schweigers Ausführungen zu polnischen Ostraumbildern im 19. Jahrhundert. Intellektuelle Eliten stellten Litauen, Poldonien, Wolhynien und die Ukraine als menschenleeren ‚Übergangsraum‘ zwischen russischem Osten und – durch Polen repräsentiertem – europäischem Westen dar. Der polnische Staat mit seiner angeblichen höheren Zivilisationsstufe habe die naturgegebene Aufgabe, in diese Gebiete vorzustoßen. So wurde die Vorstellung von Polen als kolonisierendem ‚Kulturträger‘ Teil polnischer Identitätsdiskurse. Anke Scherer beleuchtet die Periode der japanischen Kolonisation in der nordchinesischen Mandschurei. Hier siedelten sich zwischen 1932 und 1945 etwa 300 000 Japaner in eigens geschaffenen Agrarsiedlungen an. Interessenverbände stellten das ‚leere Land‘ als ungenutzte Ressource dar, die nur darauf warte, erfolgreich erschlossen und kultiviert zu werden. Die Vertreibung und Enteignung chinesischer Bauern wurde als Kulturmission überhöht. Steffen Hagemann wendet sich anschließend Israel zu, wo das Spannungsverhältnis zwischen Staatsterritorium und größer gedachtem mythischen Land Israel seit der Staatsgründung zu Konflikten führt. Auch hier wurde (und wird) die Inbesitznahme des Landes mit dem Argument der Zivilisierung legitimiert. Der abschließende Beitrag behandelt nicht das leere Land, sondern die leere See. Wie Georg Eckert zeigt, besteht die Verbindung darin, dass sich das moderne Völkerrecht aus dem Seerecht entwickelte. Als Textbasis dient ihm Hugo Grotius’ einflussreicher Traktat Mare
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Rezensionen und Annotationen
Liberum von 1609, der auf naturrechtlicher Basis für die Freiheit der Meere argumentiert. Trotz der erwähnten Kritikpunkte bietet der Sammelband ein faszinierendes Panorama an Argumentationsstrukturen, die jeweils in ihrem politischen, geographischen und geistesgeschichtlichen Kontext verortet werden. Es ist erstaunlich, wie langlebig und verbreitet der Topos vom ‚leeren Land‘ war, wohl nicht zuletzt wegen seiner Anpassungsfähigkeit. Insgesamt ist der Sammelband ein gelungener Beitrag zur historischen Semantik. Er zeigt einmal mehr, wie die traditionell sozialwissenschaftlich ausgerichtete Migrationsforschung in jüngster Zeit um kulturwissenschaftliche Perspektiven erweitert wird. Stefan Manz
Birmingham
Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, Hg. von der Historischen Kommission für Westfalen und dem Institut für vergleichende Städtegeschichte an der Universität Münster, verantwortlich: FRANK GÖTTMANN, KARL HENGST, FRANZ-JOSEF JAKOBI, PETER JOHANEK, WILFRIED REININGHAUS, 4 Bde, Münster 2008–2016. Bd. 1: Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster. Hg. von SUSANNE FREUND (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 45, Quellen und Forschungen zur jüdischen Geschichte in Westfalen 2), Münster: Ardey 2008, 780 S., (ISBN 978-3-87023-282-5), 69,00 EUR. Bd. 2: Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Detmold. Hg. von KARL HENGST (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen Neue Folge 10), Münster: Ardey 2013, 832 S., (ISBN 978-3-87023283-2), 79,00 EUR. Bd. 3: Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg Hg. von FRANK GÖTTMANN (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen Neue Folge 12), Münster: Ardey 2016, 864 S., (ISBN 978-3-87023284-9), 79,00 EUR. Bd. 4: Grundlagen, Erträge, Perspektiven. Hg. von SUSANNE FREUND (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen Neue Folge 11), Münster: Ardey 2013, 416 S., (ISBN 978-3-87023-285-6), 66,00 EUR. Verbindungen zwischen jüdischer Geschichte und Landesgeschichte haben in der deutschen historischen Forschung eine gewisse Tradition – aus gutem Grund: Die Entstehungszusammenhänge, die Entwicklungen sowie die Rahmenbedingungen jüdischer Existenz wurden in der Vormoderne im Wesentlichen auf territorialstaatlicher Ebene entschieden und ausgeformt. Jeweils in Abhängigkeit von den verschiedenen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen in den deutschen Ländern bzw. Regionen gestaltete sich jüdisches Alltags-, Wirtschaftsund Gemeindeleben. Die grundsätzliche Frage, an welchem Ort und in welcher Region Juden siedeln konnten, wurde durch die unterschiedlichen judenpolitischen Haltungen der territorialen Herrschaftsträger ebenfalls dezentral entschieden. Lokal- bzw. regionalspezifische Ausprägungen sind folglich kennzeichnend,
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ebenso wie eine daraus erwachsene Vielfalt und Komplexität. Für ein vergleichendes Gesamtbild sind daher zunächst Darstellungen zu einzelnen Ländern und Regionen nötig. Die Historische Kommission für Westfalen hat in Kooperation mit dem Institut für vergleichende Städtegeschichte an der Universität Münster in einem mehrjährigen Großprojekt dem Rechnung getragen und damit gezeigt, welchen immensen Erkenntnisgewinn eine profunde Grundlagenforschung sowie eine Systematisierung der bisherigen Forschungsbefunde leisten können. Das in vier Bänden zwischen 2008 und 2016 erschienene Werk bietet erstmals einen umfassenden Überblick über die Geschichte des Judentums in Westfalen und Lippe. Es liegt auf der Hand, dass ein derartiges Vorhaben nur durch ein enges Zusammenwirken vieler Autorinnen und Autoren bzw. Herausgeberinnen und Herausgeber mit ausgewiesener fachlicher Expertise sowie durch eine gründliche und bestens organisierte Redaktion gelingen kann – beides fand sich offensichtlich in Münster zusammen. Der ambitionierte Ansatz, die Geschichte aller jüdischen Gemeinschaften und Gemeinden der drei heutigen Regierungsbezirke Arnsberg, Detmold und Münster von ihren ersten urkundlichen Nachweisen bis in die Gegenwart darzustellen, wird überzeugend realisiert. Dies gelingt durch eine durchdachte Konzeption, die in einem großen Dreischritt von den einzelnen Orten über die Territorien bis hin zu chronologisch und thematisch ausgerichteten regionalen Überblicken die jüdische Geschichte dieses Raumes rekonstruiert. Die Grenzen des eigenen Ansatzes werden dabei kritisch reflektiert: die weitgehende Nichtberücksichtigung der innerjüdischen Perspektive oder die Orientierung an den aktuellen Verwaltungsbezirken, wodurch Räume konstruiert werden, die mit den historischen Zusammenhängen nicht mehr übereinstimmen. Störend sind allerdings die mehrseitigen Wiederholungen in den Einleitungstexten der einzelnen Bände. In der Umsetzung bestechen die akribisch recherchierten 272 Ortsartikel zu den jüdischen Ansiedlungen in Kleinstädten, Märkten und Dörfern. Sie gliedern sich stringent nach einer herrschaftsgeschichtlichen und verwaltungsstaatlichen Verortung in einen Hauptteil, der die Siedlungsentwicklung, die Verfassung und Organisation der Gemeinschaften sowie die Tätigkeitsfelder einzelner Gemeindemitglieder beschreibt, sowie in einen Abschnitt zu den Bau- und Kunstdenkmälern und enden jeweils mit einer Auflistung der Quellen und der Literatur. In den meisten Texten ist die Verbindung zwischen ereignis- und strukturgeschichtlichen Darlegungen und den biographischen Inhalten gut gelungen. Insgesamt werden so die Kontinuitäten jüdischen Lebens vor Ort bis zur Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus nachgezeichnet, aber auch die schwierigen Neuanfänge in der Nachkriegszeit sowie die Umbrüche in den Gemeinden durch die Zuwanderungswellen aus Osteuropa in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Über das Auswahlkriterium der Ortschaften für den lexikalischen Teil – das Vorhandensein einer kultischen Einrichtung – lässt sich freilich streiten. Im zerstreut siedelnden frühneuzeitlichen Landjudentum waren überörtliche Zusammenschlüsse zur gemeinsamen Nutzung von Begräbnisplätzen und Gebetsräumen charakteristisch – Kleinsiedlungen ohne Synagogen und Friedhöfe blieben so außen vor.
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Hervorzuheben sind sodann die umfassenden Analysen der regionalen Befunde vor dem Hintergrund der allgemeinen Forschung, die im vierten Band unter dem Titel „Grundlagen, Erträge, Perspektiven“ präsentiert werden. Die Beiträge hierzu folgen wieder einer chronologischen Ordnung von den Siedlungsstrukturen im Mittelalter (Peter Johanek) über die Umbruchsphasen im 19. Jahrhundert (Arno Herzig, Wolfgang Wippermann), die widersprüchlichen Entwicklungen in der Weimarer Republik (Franz-Josef Jakobi) und die Folgen der Ausgrenzungsund Vernichtungspolitik von 1933 bis 1945 (Gisela Möllenhoff und Rita Schlautmann-Overmeyer) bis hin zum Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden nach 1945 (Jürgen Zieher). Die frühneuzeitliche Phase wird in drei Aufsätzen behandelt, die sich auf die Stellung der Juden im Wirtschaftsleben konzentrieren (Bernd-Wilhelm Linnemeier) sowie einerseits die Situation in den geistlichen und kleineren weltlichen Territorien Westfalens (Wilfried Reininghaus) und andererseits in den Herrschaftsgebieten Brandenburg-Preußens (Tobias Schenk) beleuchten. Zu kurz kommen dabei das 15. Jahrhundert sowie die Reformationszeit, die für die Judengemeinden des Reiches eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen mit sich brachten. In der Summe wird deutlich, dass sich in der westfälisch-lippischen Region Phänomene finden, die für die jüdische Geschichte Deutschlands in der Vormoderne insgesamt prägend waren, wie der Zusammenhang zwischen der mittelalterlichen Stadtentwicklung und dem Siedlungsausbau oder das Vorherrschen agrarisch geprägter Strukturen und die damit verbundene Einbindung in dörflichkleinstädtische Gefüge während der Frühen Neuzeit. Nach 1800 zeigen sich regionale Differenzierungen: Emanzipations- und Akkulturationsprozesse entfalteten sich z. B. stärker in den Verwaltungszentren Münster, Minden oder Paderborn, während das Ruhrgebiet weiterhin durch orthodox orientierte Zuwanderer aus dem Osten geprägt blieb. Das nationalsozialistische Gewaltregime entfaltete seinen Terror hier wie in anderen Regionen Deutschlands, wobei die Grenznähe zu den Niederlanden das Emigrationsverhalten der westfälischen Juden anfangs steuerte. Abgerundet wird dieser Band durch einen quellenkundlichen Beitrag von Wilfried Reininghaus, der einen aufschlussreichen Einblick in die Überlieferungsgeschichte gibt und eine Basis für weitere empirische Forschungen bietet. Nicht unerwähnt sollen die zahlreichen Kartenbeilagen in allen vier Bänden bleiben, die dem Benutzer ein wichtiges Hilfsmittel an die Hand geben. Entstanden ist so nicht nur ein höchst informatives historisch-topographisches Lexikon, sondern zugleich ein Überblickswerk zur westfälisch-jüdischen Geschichte, das durchaus Vorbildcharakter für andere Regionen hat. Sabine Ullmann
Eichstätt
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JÜRGEN NEWIG, UWE HAUPENTHAL (Hg.): Rungholt. Rätselhaft und widersprüchlich. Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft 2016, 175 S., zahlreiche farb. Abb., (ISBN 978-3-89876-824-5), 24,95 EUR. Rungholt ist ein sagen- und mythenumsponnener Ort Nordfrieslands. Im Süden der ehemaligen Insel Strand gelegen, erlebte er im hohen Mittelalter eine 150jährige Blüte, ehe er 1362 in der ersten groten Mandränke unterging. In der Folgezeit, besonders seit dem 16. Jahrhundert, entstanden Sagen und Mythen um seinen Untergang, die 1883 den Dichter Detlev von Liliencron zu der Ballade „Trutz, blanke Hans“ inspirierten, die überregional bekannt und später von vielen Schulkindern auswendig gelernt wurde. 1921 fand der Nordstrander Bauer Andreas Busch bei der Hallig Südfall Kulturspuren im Watt, die er mit dem Ort Rungholt identifizierte. In der Folgezeit hat sich auch die archäologische Forschung intensiv mit Rungholt beschäftigt. Der vorliegende Band trägt das heutige Wissen um Rungholt in einer Vielzahl von Beiträgen zusammen. Er war zugleich als Begleitband zu einer Ausstellung im NordseeMuseum Nissenhaus in Husum gedacht. Leider starb der Mitherausgeber Jürgen Newig am 25. Oktober 2015 vor Erscheinen des Buches. Die Beiträge sind chronologisch angeordnet. Sie beginnen mit Geographie und Geologie, führen über die Anfänge der Besiedlung in die mittelalterliche Blütezeit und zum Untergang. Es folgen Beiträge zu Sagen, Mythos, literarischer und künstlerischer Verarbeitung, zur Geschichte der Archäologie und zum modernen Tourismus. Ein Katalog der Funde aus Rungholt schließt den Band ab. Der als Eingangsbeitrag gedachte Aufsatz Jürgen Newigs über die Lage der Edomsharde und Rungholts nach alten Karten ist leider unvollendet geblieben und hätte in dieser Form besser nicht publiziert werden sollen (10 f.). Newig spekuliert nämlich, dass bereits 1240 „flächendeckend kartografische Ausarbeitungen“ vorgelegen hätten, was absoluter Unsinn ist. Zwar erhob der dänische König Waldemar II. Daten über königlichen Besitz und Einkünfte für sein berühmtes Erdbuch (1231). Die Kartografie war damals jedoch noch nicht so weit fortgeschritten, dass eventuelle Karten einen praktischen Nutzen gehabt und etwa als Grundlage für Johannes Mejers spätere historische Karten gedient haben könnten. Auch sind dessen Quellen inzwischen recht genau bekannt. Der Beitrag von Klaus Ricklefs über die Geologie Rundholts sieht die Absenkung des Landes durch Eindeichungen als eine Ursache für die verheerende Wirkung der Sturmflut von 1362 (12–14). Sönke Harz stellt die erste Besiedlung der Region um die heutige Hallig Südfall anhand der Funde aus Jungsteinzeit und früher Bronzezeit vor (15–18). Ausführlich behandelt dann Dirk Meier das Verhältnis von Mensch und Umwelt im Rungholt-Gebiet des hohen und späten Mittelalters, also während der Blütezeit des Ortes (19–31). Der mit guten Karten ausgestattete Beitrag behandelt nach einem Überblick über die Landschaftsentwicklung in den südlichen Uthlanden den hochmittelalterlichen Landesausbau sowie Landnutzung und Entwässerung. Die Edomsharde war keine durch Priele getrennte und durch Köge gewonnene Seemarsch, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern eine Moorlandschaft mit Ketten von Warften und Streifenfluren. Statt Kögen gab es Entwässerungsgebiete mit Moordeichen. Nach dem Klimaoptimum
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des hohen Mittelalters begann um 1300 die Abkühlung der Kleinen Eiszeit mit schlechterem Wetter. Infolge der Fehden unter König Waldemar IV. Atterdag und der Pest wurden Siele und Deiche nicht mehr gut genug unterhalten, sodass die Sturmflut von 15. bis 17. Januar 1362 leichtes Spiel hatte. Damals gingen in der Propstei Strand 24 Kirchspiele, darunter Rungholt, verloren. Später wuchsen auf dem überschwemmten Land Halligen auf, darunter Südfall, und beschützten die darunter liegenden Kulturspuren, die im 20. Jahrhundert infolge des Abbruchs der Halligen wieder sichtbar wurden. Die Ursachen der Landverluste lagen nicht nur in einer Erhöhung des mittleren Tidehochwassers, zu niedrigen Deichen und Bodensackungen, sondern waren auch geomorphologisch begründet, denn die neuen Priele folgten den Schmelzwassertälern der letzten Eiszeit, während die erhaltenen Inseln auf weniger zur Sackung neigenden Sedimenten der eiszeitlichen Oberfläche lagen. Die Besiedlung Rungholts durch die Friesen behandelt Thomas Steensen (32– 36). Hier gab es zwei Phasen der Einwanderung, die erste in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, die zweite seit dem 11. Jahrhundert. Das Gebiet um Rungholt wurde erst um 1200 besiedelt. Oliver Auge knüpft an diesen Beitrag und Ideen Jürgen Newigs an, indem er die nordfriesischen Uthlande unter König Waldemar II. behandelt (37–40). Die Besiedlung des Rungholt-Gebietes war demnach ein Ergebnis des Landesausbaus unter diesem König, der die Friesen möglicherweise explizit ins Land rief. Albert Panten untersucht zuerst den oft angeführten Reichtum der Rungholter (41–45), den er auf Salzproduktion und Viehzucht zurückführt. Anschließend beschreibt er in weiteren Beiträgen die Kirchenorganisation (46 f.) und den Untergang Rungholts auf der Basis historischer Quellen (48 f.). Wichtig dabei ist, dass bereits zu Beginn des 17. Jahrhundert keine tatsächliche Überlieferung mehr existierte, was der Phantasie alle Türen öffnete. Anschließend folgen die archäologischen Beiträge zu Rungholt. Gisela Helmecke behandelt Lüsterkrüge, die im 14. Jahrhundert auf dem Seeweg aus dem islamischen Spanien ins friesische Wattenmeer gekommen sind (50–55). Hans Joachim Kühn untersucht die Warften des „Acht-Warften-Gebietes“ (56–59). Es handelt sich um die Kulturspuren, die Andreas Busch 1921 entdeckt hat und die die größte mittelalterliche Warftengruppe in Nordfriesland darstellen. Leider sind sie heute durch Erosion verschwunden. Philip Lüth geht anschließend auf das Reventlow-Criminil-Gebiet ein, das 1950 nördlich von Südfall entdeckt wurde (60– 62). Hier führte später Hans Peter Duerr umstrittene Untersuchungen durch, und es gab eine Kontroverse, welches der beiden Gebiete als Rungholt zu identifizieren ist. Jens Christian Holst beschreibt die im Reventlow-Gebiet gefundenen Kirchensteine, die darauf hindeuten, dass die (Rungholter?) Kirche in diesem Gebiet stand (63 f.). Dirk Meier behandelt den ländlichen mittelalterlichen Hausbau im Rungholt-Gebiet (65–74), wonach Tanja Brünner und Jürgen Newig die Warft 13 beschreiben, die 1985/86 von Hans-Herbert Henningsen ausgegraben wurde. Nach dem Untergang Rungholts entstand der Rungholt-Mythos, den WolfDieter Dey behandelt (78–91). Nach einer Phase des Vergessens bis etwa 1500 begann man die Sturmflut als Strafgericht Gottes anzusehen, das die hochmütigen Rungholter traf, wobei einige Gläubige jedoch errettet wurden. Seit Beginn des
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17. Jahrhunderts wurden die mittelalterlichen Ereignisse literarisiert, wobei sich die moralische Erklärung verstärkte. Bekannt ist die Version von Anton Heimreich (1666) und später die von Karl Müllenhoff gesammelte Sage (1845), die zu den bekanntesten Sagen Norddeutschlands gehört. Sie wurde durch das Gedicht Detlev von Liliencrons modernisiert und überhöht. Dieser Mythos motivierte später Andreas Busch und Rudolf Muuß zu ihrer Spurensuche. Matthias Bauer geht näher auf Liliencrons Ballade ein (84), ehe er sich tiefer mit Sage und Rungholt-Literatur auseinandersetzt (85–92). Vor Liliencron verarbeiteten bereits Hans Christian Andersen (Die zwei Baronessen, 1848/49) und Theodor Storm (Eine Halligfahrt, 1871) das Motiv. Später erschienen sowohl historische Romane als auch Romane, die Motive der Sage in die Gegenwart transportieren. Rungholt erfreut sich somit bis heute großer Beliebtheit bei Schriftstellern unterschiedlicher Couleur. In der bildenden Kunst spielte es dagegen eine geringere Rolle, wie Uwe Haupenthal zeigt (93–101). Es gibt nämlich keine Historienmalerei zum Untergang Rungholts, sondern vor allem Landschaftsmalerei, Grafiken und Fotografien. In jüngster Zeit sind auch Comics hinzugekommen. Die anschließenden Beiträge widmen sich der Archäologiegeschichte, die mit zwei Amateuren begann. Hans-Harro Hansen schildert die Entdeckungen des Nordstrander Bauern Andreas Busch (1883–1972) (102f.) und stellt zusammen mit Wolf-Dieter Dey dessen Fotoalben vor, die dessen heute längst wegerodierte Funde im Watt dokumentieren (104). Harro Muuß würdigt das Wirken seines Vaters, des Pastors Rudolf Muuß (1892–1972), welcher ebenfalls zu den frühen Rungholt-Forschern zählte (105–108). Es folgt eine Reihe kurzer Beiträge über die neuere archäologische Forschung, ihre Methoden und Probleme. Die Untersuchungen im Wattenmeer sind aufgrund der kurzen Niedrigwasserphasen und der ständigen Erosion durch Gezeiten, Eisgang und Stürme mit besonderen Herausforderungen behaftet. Anschließend folgen einige kurze Beiträge zu Nationalpark, Tourismus und geführten Wattwanderungen. Wichtig ist der abschließende Fundkatalog von Hans Joachim Kühn (125–167), der die einzelnen Funde, die heute in verschiedenen Museen aufbewahrt werden, dokumentiert und quellenkritisch behandelt. Als Ergebnis kann festgestellt werden, dass die Landnahme im RungholtGebiet erst um 1200 erfolgte. Zahl und Qualität der Importwaren steigen ab 1300 deutlich an, ehe die erste grote Mandränke dem Ort ein plötzliches Ende setzte. Das großformatige, reich bebilderte Buch gibt einen guten Eindruck von Stand und Kontroversen der Rungholt-Forschung. Die Qualität der Beiträge ist jedoch unterschiedlich. Einige enthalten reiche Quellennachweise, andere gar keine. Hier hätte ich mir eine größere Einheitlichkeit gewünscht. Auch hätte ich gerne etwas über den Hintergrund der Autoren erfahren. Diejenigen, die ich kenne, sind ohne Zweifel die höchstqualifizierten Fachleute. Insgesamt handelt es sich um ein Buch, das ich mit Gewinn gelesen habe und gerne weiter empfehle. Es bildet einen Ruhepunkt in der sonst oft recht kontroversen Rungholt-Literatur. Martin Rheinheimer
Odense
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BIRGIT STALDER, MARTIN STUBER u. a.: Von Bernern und Burgern. Tradition und Neuerfindung einer Burgergemeinde. Band 1 und 2. Baden: Hier und Jetzt 2015, 864 S. in zwei Bänden, 318 farb. und s/w Abb., (ISBN 978-3-03919-333-2), 80,00 EUR. Die Stadt und Republik Bern galt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als mächtigster Stadtstaat nördlich der Alpen. Im Gefolge des Untergangs und der Neukonstituierung der Schweiz an der Wende zum 19. Jahrhundert erlebte auch Bern einen tiefgreifenden Wandel. Als Rechtsnachfolger der alten bernischen Stadtrepublik entstanden der Kanton Bern als Gliedstaat des späteren schweizerischen Bundesstaates, die Stadt Bern als Gemeinde der ortsansässigen Einwohnerschaft und die Burgergemeinde Bern als Körperschaft der alteingesessenen stadtbürgerlichen Familien, die in Bern „Burger“ genannt werden. Während die politischen Rechte auf der untersten Ebene des schweizerischen Staatsaufbaus an die Einwohnergemeinde übergingen, verblieb der größere Teil der städtischen Vermögenswerte bei der Burgergemeinde. Gerade deshalb war diese in den letzten zweihundert Jahren vielfachen Widerständen ausgesetzt. Nun hat sie in einem großangelegten Projekt ihre bewegte Geschichte umfassend aufgearbeitet. Im ersten Kapitel stellen Birgit Stalder und Martin Stuber die wichtigsten Etappen der institutionellen Entwicklung der Burgergemeinde vom Ancien Régime über die Entstehung des heute noch gültigen Gemeindedualismus von Einwohnergemeinde und Burgergemeinde 1832 bis zur vollständigen Satzungsrevision von 1998 dar. Die Burgergemeinde erscheint dabei als eine Körperschaft, die einerseits ihre Tradition wahrte und sich andererseits wiederholt „neu erfinden“ musste, um sich veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen. Ihr Vermögen und die Privilegierung ihrer Mitglieder führten mehrmals zur Forderung nach Abschaffung der Burgergemeinde. Indem sie den Burgernutzen aufhob und sich dem Gemeinwohl in Stadt, Region und Kanton verpflichtete sowie durch vermehrte Einburgerungen vermochte sie ihre Weiterexistenz zu rechtfertigen und ihre Position zu stabilisieren. Als Oberschichtphänomen wurde sie zum Rückzugsort der alten Berner Geschlechter. Facettenreich analysiert Birgit Stalder in Kapitel II das Verfahren der Einburgerung. Es bestand nie ein Anspruch auf das Burgerrecht, aber es konnte – fast ausschließlich an Männer – für spezielle Verdienste verliehen werden. Der Idealtypus des aufzunehmenden Burgers ist der finanziell abgesicherte, jüngere und gesunde, mit Bern eng verbundene Familienvater. Das weitaus umfangreichste Kapitel widmet Martin Stuber dem Grundbesitz der Burgergemeinde und ihrer Bodenpolitik. Hier werden ihre ökonomische Macht und ihr politischer Einfluss in der Stadt Bern zum Thema, das bisher entweder „unkritisch-affirmativ“ oder „polemisch-zugespitzt“ (282) dargestellt worden ist. Stuber bietet nun eine neuartige und ausgewogene Gesamtschau. Den Dreh- und Angelpunkt der burgerlichen Tätigkeiten ebenso wie aller externen Anfeindungen bildet der burgerliche Finanzhaushalt. Als größte Grundeigentümerin in der Berner Stadtregion ist die Burgergemeinde der Allgemeinheit verpflichtet, muss aber auch den maximalen Ertrag zur eigenen Existenzsicherung anstreben.
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Die Wahrung des historischen Erbes ist das Hauptanliegen burgerlicher Kulturpolitik, die Sibylle Meyrat in Kapitel IV unter die Stichworte Sammeln, Schenken und Fördern subsumiert. Davon profitieren sowohl Institutionen, welche die Burgergemeinde alleine trägt wie das Naturhistorische Museum, die Burgerbibliothek und das Kultur-Casino, als auch solche, die sie zusammen mit der Einwohnergemeinde und dem Kanton finanziert wie das Historische Museum und die frühere Stadt- und Universitätsbibliothek. Stets beanspruchte die Burgergemeinde zur Legitimation ihrer Existenz die Deutungshoheit über die bernische Geschichte, was bei städtischen Jubiläumsfeiern wie auch bei historischen Vereinen und Publikationen zum Ausdruck kam. Arlette Schnyder erörtert im fünften Kapitel die burgerliche Vormundschaftsund Armenpflege in ausgewählten Zeiträumen. Auch wenn die Burgergemeinde primär für die eigenen Mitglieder zuständig bleibt, ist doch allmählich eine Öffnung zu einer aktiveren Rolle in der städtischen Sozialpolitik feststellbar. Das Kapitel VI weicht hinsichtlich des Verfassers von den andern Kapiteln ab. Während die übrigen Autorinnen und Autoren jüngere freischaffende Historiker und Historikerinnen sind, berief die Projektleitung für den Abschnitt über die Zeit der 1930er Jahre als dem in der Öffentlichkeit exponiertesten Stück burgerlicher Vergangenheit den emeritierten Professor und profunden Kenner der Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts Georg Kreis. Sein Befund über das Verhältnis der Burgergemeinde respektive einzelner ihrer Exponenten zu rechtskonservativen bis frontistischen Bewegungen – der schweizerischen Variante des Faschismus – bleibt angesichts der gegebenen Quellenlage einigermaßen vage: Dass sich Mitglieder der Burgergemeinde „in ausserordentlichem Mass“ im Frontismus engagiert hätten, lasse sich nicht bestätigen (763). Einen besonderen Effort leisten schließlich Birgit Stalder und Martin Stuber im letzten Kapitel, in dem sie die Burgergemeinde Bern in den schweizerischen Kontext stellen und vielerlei Parallelen und Unterschiede zu andern Bürgergemeinden, Ortsgemeinden und Korporationen der Schweiz aufzeigen. Die Autorinnen und Autoren stützen sich hauptsächlich auf eine umfangreiche Sekundärliteratur, auf ausgewählte Quellenbestände und auf eigens für dieses Projekt am Historischen Institut der Universität Bern durchgeführte Datenerhebungen. Die Illustration der Kapitel besticht nicht durch Hochglanzabbildungen, sondern durch die Vielfalt der über 300 dynamisch angeordneten historischen und aktuellen Dokumente. Pointiert, aber politisch unkorrekt ist der Haupttitel, in welchem Frauen nur beinhaltet sind. Mit den zwei großformatigen Bänden hat sich die Burgergemeinde Bern eine breit angelegte, gut lesbare Gesamtdarstellung ihrer Geschichte und der Entwicklung der Burgerschaft Berns im 19. und 20. Jahrhundert geschaffen; sie gibt nicht nur ihr als selbsternannter Hüterin bernischer Tradition in allen Fragen zu ihrem Selbstbild Antwort, sondern dient auch einer an der Stadtgeschichte Berns interessierten weiteren Öffentlichkeit als aktuelles, wissenschaftlich fundiertes Referenzwerk. Emil Erne
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DIETMAR SCHIERSNER (Hg.): Zeiten und Räume – Rhythmus und Region (= Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 11), Konstanz: UVK 2016, 380 S., farb. Abb., (ISBN 978-3-86496-855-6), 39,99 EUR. Zeit und Raum waren und sind Grundkategorien historischen Denkens und Konstruierens. Selbstverständlich stehen diese beiden Kategorien auch im Schnittpunkt internationaler wie transdisziplinärer Zusammenarbeit und drittmittelfundierter Netzwerke, eine Tatsache, die im vorzustellenden Tagungsband – es handelt sich um 17 Beiträge, die im November 2013 auf der 14. Tagung des Memminger Forums diskutiert wurden – keineswegs überzeugend umgesetzt wurde. Lässt man den ans Buchende gesetzten Artikel von Klaus Wolf („Die fünf tausend iaur wurden verloren. Zeitordnungen, Zeitbegriffe und Zeitgefühle in schwäbischer Literatur des Mittelalters – ein Votum regionaler Literaturgeschichtsschreibung“, 367–375) noch als germanistisch-historisch gelten, so stammen alle anderen Beiträge aus der Feder von Historikern. Auch der in Augsburg wirkende evangelische Pfarrer Andreas Link („Die chiliastischen Träumereien des Ignaz Lindl. Radikalisierung am Rande der Allgäuer Erweckungsbewegung im Elendsjahr achtzehnhundertunderfroren“, 333–366) stellt zwar die Lebensleistung des aus dem ehemals oberbayerischen Baindlkirch (Lkr. Aichach-Friedberg) stammenden Pfarrers Ignaz Lindl (1774–1834) vor, doch geht es primär um dessen historisch fundiertes Raum-Zeit-Denken vor dem Hintergrund der Allgäuer Erweckungsbewegung. Ferner könnte man hinsichtlich der Schwabenbezüge der im Forum Suevicum vorgestellten Räume Zweifel anmelden. Nicolas Disch, der nochmals die Ergebnisse seiner 2012 gedruckten Dissertation (Hausen im wilden Tal – alpine Lebenswelten am Beispiel der Herrschaft Engelberg 1600–1800, Wien 2012) vorstellt, handelt über Zeit-Raum-Erfahrungen in einem Hochtal der Zentralschweiz, das seit dem Mittelalter von benediktinischer Klosterkultur geprägt war. Die alpinen Außenbezüge (Käse- und Viehexporte) erstreckten sich hier schon aus geographischen Gründen primär nach Oberitalien und kaum in den Bodenseeraum. Gerhard Ammerers räumlich zugeordnete, steckbrieflich gesuchte Beispiele („Alle Zeit der Welt? Zeit als Dimension von Bewußtsein, Erfahrung und ökonomischem Kalkül von Nichtseßhaften am Beispiel des Habsburgerreiches im 18. Jahrhundert“, 95–109) stammen weniger aus Schwäbisch-Österreich, sondern vielmehr aus Salzburg, Linz, der Steiermark und innerösterreichischen Gebieten. Die Beispiele ließen sich beliebig fortführen, doch spricht Manches auch für die Einbeziehung der Nachbarräume, wenn man daraus Vergleichsebenen konstruiert und komparatistische Ergebnisse erzielt. Dietmar Schiersner („Zeit im Raum. Zur Regionalität von Zeitphänomenen – eine Einführung“, 11–26) stellt das Thema in den bisherigen Forschungskontext. Wenig überraschend ist dabei das aufgezeigte Feuerwerk gelehrter Aktivitäten rund um die Themenfelder Zeit und Raum, um letztlich den eigenen Band „im geschichtswissenschaftlichen Trend“ zu verorten und als Anliegen „auf der Höhe der Zeit“ (11) auszugeben. Interessanter sind die Überlegungen Schiersners zu „Zeit im Raum“ (18–20) bzw. „Raum in der Zeit“ (20–22) im mikro- oder regio-
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nalgeschichtlichen Ansatz, der an anderer Stelle meist unreflektiert mit Landesgeschichte gleichgesetzt wird. Hinzukommt als Konstruktionsmodell offener Räume das „praxeologische Verständnis“ (22–26) für einen historisch belegbaren Zeitrhythmus. Hier werden immerhin Erfahrungen aus der Moderne angesprochen, die im anzuzeigenden Band keineswegs im Vordergrund stehen, die aber in den Beiträgen von Wolfgang Scheffknecht („Von der Lokalisierung zur Globalisierung. Zeit und Zeitempfinden im Bodenseeraum in der frühen Neuzeit und im ‚langen‘ 19. Jahrhundert“, 203–234), Georg Seiderer („Aufgeklärte Zeiten: Von der Feiertagsreduktion zur Verbürgerlichung der Zeit“, 311–331) und Andreas Link zumindest gestreift wurden. Dagegen handelt Gerhard Kleins Beitrag („Bürger, Bauern, Arbeiter – unterschiedliche Lebensrhythmen in einer Allgäuer Kleinstadt“, 235–250) ohne weitere Zeitspezifizierung im Titel ausschließlich von den bäuerlichen, bürger- oder arbeiternahen Tages- und Wocheneinteilungen in Immenstadt während des 19. und 20. Jahrhunderts. Prinzipiell lehnt sich der Band an die im Erfurter Raum-Zeit-Forschungsvorhaben 2012 postulierte Grunderfahrung an, dass „Räumlichkeit und Zeitlichkeit in ihrer Konstruiertheit lebens- und alltagsweltlich nicht voneinander zu trennen sind“ (16). Der redaktionell sehr sorgfältig gefertigte Tagungsband bereichert die Reihe Forum Suevicum zweifellos um ein weit über Schwaben hinausreichendes zentrales Thema. Für das wichtige agrarische Zeitverständnis gibt es die unterschiedlichsten Portale, die Werner Rösener („Bäuerliches Zeitverständnis im Rhythmus von Natur, Jahreslauf und Alltag in der Vormoderne“, 29–43) über die Naturgewalten Witterung und Vegetation öffnet, während Anke Sczesny („Differierende Zeiten in ländlichen Gesellschaften der frühneuzeitlichen Getreidelandschaft Ostschwaben“, 45–71) auf differenzierte polyrhythmische Zeitordnungen auf dem Land mit starker handwerklicher und protoindustrieller Beteiligung verweist. Der die rumorende agrarische Welt betreffende Tagungsbeitrag von Claudia Ulbrich („Zeitvorstellungen im oberschwäbischen Bauernkrieg“) konnte für die Drucklegung nicht mehr eingeworben werden. Und wie stand es bei allen Unterschieden auf dem Land mit den Zeitmessgeräten selbst? Bei genauem Hinsehen finden sich auch hier aussagekräftige Quellen. Im noch agrarisch geprägten Landgericht Göggingen vor den Toren Augsburgs waren 1809 immerhin 95 Uhrmacher in der Gewerbestatistik eingetragen (45)! Über zahlreiche Glocken und Uhren als Zeitsymbole und ihre Standorte handelt im städtischen Kontext Gerhard Dohrn-van Rossum („Glocken und Uhren. Zur Kultur der Zeitmessung in der Stadt“, 73–94). Unterschiedliche Festtagstermine, Zeitabläufe und räumliche Interferenzen werden ferner ausgebreitet vor dem Hintergrund eines konfessionell aufgeladenen Kalenderstreits (Wolfgang Petz, „Zweierlei Kalender: Zur Konfessionalisierung der Zeit im 16. und 17. Jahrhundert“), der Normaljahresregelung im Dreißigjährigen Krieg (Ralf-Peter Fuchs, „Ein Termin als Rechtsgrundlage für Konfession: Das Normaljahr 1624 in der Region“), stiftischer Tages- und Frömmigkeitsriten (Dietmar Schiersner, „Zeit und Frömmigkeit. Schwäbische Damenstifte am Ende des 18. Jahrhunderts“) oder der von Peter Herrsche entfachten und von Sabine Holtz („Lob der Muße: Barocke Konfessionskulturen im deutschen Südwesten“, 295–309) aufgegriffenen Debatte um die Muße barockkatholischer Gesellschafts-
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kreise. Zeittakte konkurrierten unter christlich-jüdischer Koexistenz (Rolf Kießling, „Juden und Christen im konkurrierenden Zeittakt: Zum Umgang mit den Alltagsabläufen in den schwäbischen Judengemeinden“, 179–201). Die von Barbara Rajkay („Zeiten des Abschieds, Zeiten des Rückzugs, Jugend und Alter in der Augsburger Oberschicht 1500–1800“, 133–154) fokussierten Zeiten von Geburt, Heirat, Tod und Abschied nehmen mit Augsburg eine paritätische Reichsund Handelsstadt in den Blick. Religiöse Zeittakte wurden hier aber von gesamtstädtischen Zeit- und Lebensvorgaben begleitet, zum Teil auch überlagert. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass es vor der Industrialisierung des 19. und der Globalisierung des 20. Jahrhunderts keine einheitlichen Maßstäbe für das Zeit- und Raumgeschehen gab. Der Leser wird über bisher vernachlässigte Quellen zur Zeittaktung von Augenblicken – sie wurden oft als Gebets- oder Liedlängen umschrieben – Tagen, Wochen, Jahren und Ewigkeiten ebenso aufgeklärt wie über räumliche Veränderungen und zeitliche Vorgaben. Vor der Etablierung genormter Kalender- und Stundenmaße variierten diese allerdings in einer heute kaum mehr vorstellbaren Bandbreite. Methodisch enttäuscht der Band allerdings eher. Das innovative Potential liegt eher in der quellen- und praxisorientierten Anwendung der Kategorien Zeit und Raum, weniger in ihrer viel gepriesenen Kombination. Landeshistoriker beschäftigten sich seit Jahrhunderten mit dem – oder besser gesagt – „ihrem“ Raum, ohne dabei stets die Zeit auszublenden, auch wenn beide Phänomene nicht immer im Titel genannt wurden. So gesehen waren Zeit und Raum schon immer auf der Höhe ihrer Zeit. Wolfgang Wüst
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KARL HÄRTER (Hg.): Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 11: Fürstbistümer Augsburg, Münster, Speyer, Würzburg (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 293), Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2016, 1018 S. in zwei Halbbänden, (ISBN 978-3-465-04247-1), 179,00 EUR. Der neue Band der hochpreisigen Reihe der Repertorien der (spätmittelalterlichen und) frühneuzeitlichen Policeyordnungen verzeichnet aus dem großen „Angebot“ innerhalb der Germania Sacra die vier Fürstbistümer und Hochstifte Augsburg, Münster, Speyer und Würzburg. Mit nahezu 6 000 erfassten Ordnungs- und Policeygesetzen (Augsburg 1 353, Münster 993, Speyer 1 855 und Würzburg 1 788) dokumentieren die Bearbeiter Stefan Breit, Benno König, Lothar Schilling und Imke König exemplarisch, dass auch geistliche Reichsstände bzw. Territorien mittlerer Größe in wesentlichen Feldern „guter“ Ordnung und Policey normierend und regulierend tätig wurden. Die vorgestellten Hochstifte standen damit keineswegs im Schatten weltlicher Fürstentümer vergleichbarer Größe; allenfalls wurden sie von Reichsstädten übertroffen, die wie Ulm mit 5 244 Betreffen meist die Marke von 5 000 Einzelverordnungen überboten. Die Bearbeiter, von denen Benno König (Luxusverbote im Fürstbistum Münster, 1999), Lothar Schilling (Die Karlsruher und Bruchsaler Wochenblätter als „öffentliche Policeyanstalten“, 2001) und Imke König (Judenverordnungen im
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Hochstift Würzburg 15.–18. Jahrhundert, 1999) bereits zur Policeygesetzgebung publiziert haben, setzten den Beginn ihrer Quellenerfassung jeweils im Mittelalter an. Für Augsburg (27) steht eine Strafordnung (Ehrverletzungen, Gewalttaten) aus der Amtszeit Kardinals Peter I. von Schaumberg (1424–1469) vom 9. März 1434 am Anfang, die für die Gerichte in Oberstdorf, Sonthofen, Rettenberg und Wertach Gültigkeit hatte. Für Münster (235) beginnt die Serie unter dem Episkopat Heinrichs III. Graf von Schwarzenburg (1466–1496) mit der Münzordnung vom 6. Juni 1489. Der Beginn „guter Policey“ wurde für Speyer auf den 23. April 1430 datiert, als Fürstbischof Raban von Helmstatt (1396–1438) eine Entscheydunge zwuschen den von Bruchssel und Utenheim von der wiesen wegen im Lußhart (403) in Fragen der Wasserversorgung herbeiführte. Für Würzburg (691) schließlich setzt eine Kannengießersatzung vom 7. November 1463 zu den Arbeits- und Handelsbedingungen unter Fürstbischof Johann III. von Grumbach (1455–1466) den Startpunkt für die Erschließung der einschlägigen Dekrete, Mandate, Gebote, Verfügungen und Ordnungen. Die Einbeziehung der mittelalterlichen Überlieferung, die sich am Modell vorangegangener Bände zum PoliceyRepertorium – für die Reichsstadt Ulm war es ain allte Ordnung, wye es mit den hinweggezogen Burgern solt gehalten werden vom 31. Mai 1316 – orientiert, ist zumindest erklärungsbedürftig. So begrüßenswert sie für die Forschung mit Blick auf Kontinuitätsfragen auch sein kann, so nimmt man damit gleichzeitig eine Rückverlängerung eines frühmodernen Ordnungsphänomens in das hohe und späte Mittelalter in Kauf. Dieser Vorbehalt gilt auch für die Vorgängerbände, insbesondere für das Kölner Beispiel von 2005 aus der Feder des Mediävisten und Stadtarchivars Klaus Militzer. Das Repertorium ermöglicht der Forschung einen weiteren Zugang zur Geschichte geistlicher Territorialstaaten im Alten Reich, zumal diese nunmehr seit Jahren wieder intensiver erforscht wurden. Darauf verweisen die Bearbeiter zu Recht in ihren Einleitungen (1–19, 219–230, 365–395 und 673–687). Gewünscht hätte man sich für die Einleitungskapitel, aus der beeindruckenden quantitativen Kenntnis des jeweiligen hochstiftischen Ordnungsgefüges heraus, eine noch stärkere thematisch-strukturelle Ausrichtung. Sie hätte sich wohltuend von der Tradition älterer Bistumsbeschreibungen abgehoben, deren Verfasser meist schematisch von Episkopat zu Episkopat beziehungsweise von Bischof zu Bischof beschrieben und bewerteten. Welche Rolle spielten die Domkapitel, der Stiftsadel, die Zentralämter, die Landstände und die Gemeinden in der hochstiftischen Gesetzgebung des 15. bis frühen 19. Jahrhunderts? Sicher zeichneten die Bischöfe die Verordnungen ab, doch wissen wir gerade aus der Policeyforschung um die langwierigen Prozesse der Gesetzentstehung und -umsetzung. Sicher kann man ein Repertorium nicht mit einem Wunschkonzert typologischer Fragen überhäufen, doch wären gerade für das „vielherrige“ Profil geistlicher Staaten die Aspekte „Mitwirkung“ oder „Beratung“ bei der Frage des Ausstellers aufschlussreich gewesen. Sicher erlauben aber auch so die präzise dokumentierten Ordnungs- und Policeygesetze der Hochstifte mit Blick auf Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Verwaltung Vergleiche zu weltlichen Territorien und Staaten.
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Worum ging es in den Policey-Materien der vier ausgewählten Hochstifte? Der Materie fiel für das 15. bis 18. Jahrhundert eine Weichenstellung zu, nach der sich Rechte wie Pflichten, öffentliche Ordnung, sozialer Friede, Ehre, Glückseligkeit, Gesundheit und Wohlstand zum Teil bis heute ableiten. Dem forschenden Bemühen um die Strukturierung dieser Gesetzespraxis scheint eine auf den ersten Blick diffuse thematische Spannweite in den zeitgenössischen Quellen gegenüberzustehen. Sie reicht von Maßnahmen gegen das schuldenfördernde Fressen und Sauffen (Völlerei, Zutrinken) in Gasthäusern und insbesondere bei Hochzeiten, Tauffeiern oder Kirchweihen, gegen einen die Ständeordnung negierenden Kleiderluxus, gegen die sich ausbreitende Spielleidenschaft, gegen Ehebruch, Fluchen und Gotteslästern bis hin zur praktischen Seite der Seuchen- und Katastrophenprävention oder zur orientierenden Kategorie kirchlicher Wertvorgaben im Rahmen „biblischer“ Policey. Eher dem ökonomischen Feld war dagegen die Münzpolicey zuzuordnen, bei der gerade auch die Hochstifte als Kreis- und Reichsstände besonders aktiv waren. Für Münster zählte man über die vorbildlich bearbeiteten Register immerhin 118 Münz-Betreffe; für Augsburg und Speyer wurden allerdings nur elf bzw. 22 Regelungen zum Münzwesen gefunden. Die Reichsstadt Ulm hatte zum Vergleich hier allein 187 Einzelmandate. Im 19. Jahrhundert erfuhr die Policey ihre Metamorphose zur heutigen Polizei. Inhaltlich verengte sich ihr Spektrum. Sie wurde in Stadt und Land nach dem Wiener Kongress in den neuen Königreichen und Bundesstaaten zunehmend zum Vollzugsorgan. So wäre die Einbeziehung der Bistumsentwicklungen über die Säkularisation der Hochstifte hinaus für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Aspekt policey-/polizeilicher Metamorphosen sicher interessant gewesen. Die politische Zäsur von 1802/03 ist hier quellenbedingt zu hart gesetzt worden. In Augsburg schließt die Serie mit einem Mandat zur Kirchenzucht vom 31. Januar 1803. In Münster endete die entsprechende Repertorisierung mit einer Verordnung vom 29. Juli 1802. In Speyer setzte sich mit Lothar Schilling die Bearbeitung bis zum Sommer des Jahres 1802 fort. Eine gedruckte Verordnung zur Amtsführung von Forstbeamten und zum Holzverkauf in den Stiftswäldern bildete hier den Endpunkt. In Würzburg ließ der Gesetzgeber mit einem Aufruf zur Vertilgung der Feldmäuse vom 21. Oktober 1802 die jahrhundertealte Ordnungsaufgabe ausklingen. Der Rezensent kann sich am Ende nur dem Wunsch der Herausgeber anschließen, dass der neue Band nicht nur „normatives Material“ für die allgemeine Rechts-, Kultur- und Sozialgeschichte erschließt, sondern künftig einen Ausgangspunkt bildet für vergleichende Forschungen zu Ordnung, Regierung, Sicherheit, Mitbestimmung, Konfliktlösungen und Staatstätigkeit. Interessant wird die Frage sein, wie lange das Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte und der Vittorio Klostermann Verlag noch am gedruckten Medium Buch für diese Reihe festhalten können, zumal die Datensätze der Bearbeiter zum Teil seit langer Zeit vorliegen. Eine künftige Digitalisierung und Online-Stellung ohne kritische Kommentierung und die gewohnt zuverlässig erstellten Sach-, Personenund Ortsregister wären aber sicher ein Irrweg, den man keinesfalls empfehlen kann. Wolfgang Wüst
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MARIA ANNA ZUMHOLZ: „Das Weib soll nicht gelehrt seyn.“ Konfessionell geprägte Frauenbilder, Frauenbildung und weibliche Lebensentwürfe von der Reformation bis zum frühen 20. Jahrhundert, Münster: Aschendorff 2015, 512 S., mit Abb., (ISBN 978-3-402-13161-9), 29,80 EUR. Der Autorin des vorliegenden Buches geht es darum, mit einem weit verbreiteten Stereotyp zu brechen: Demjenigen des katholischen Mädchens vom Lande, welches lange Zeit geradezu als Prototyp des Bildungsverlierers herhalten musste. Dem stellt Maria Anna Zumholz eine Studie der beiden Bildungssoziologen Gerd Vonderach und Manfred Janßen aus dem Jahr 1973 gegenüber: Hier wurde für das Land Oldenburg ein Bildungsdefizit nicht im katholischen Süden, sondern bei den Mädchen des protestantischen Nordens diagnostiziert. Ausgerechnet in den katholischen Gebieten Oldenburgs besuchten anteilig mehr Mädchen höhere Schulen (21 f.). Daran anschließend widmet sich die Autorin der Frage nach den Ursachen dieses Bildungsgefälles im Land Oldenburg (30). Sie geht dabei von der These historisch gewachsener Unterschiede sowohl im Geschlechter- als auch im Bildungsverständnis der konfessionellen Milieus Oldenburgs aus. Dafür wird vielfältiges Quellenmaterial herangezogen: So werden die Schriften Luthers und verschiedener regionaler Pädagoginnen und Pädagogen ebenso berücksichtigt wie Kirchen- und Schulordnungen, biografische Materialien und Fotografien. Methodisch entscheidet sich die Autorin für eine etwa 400 Jahre umfassende Langzeitstudie, in der die Diskursgeschichte konfessioneller Mädchenbilder neben exemplarische Biografien Oldenburger Pädagoginnen, Lehrerinnen und Schülerinnen gestellt wird (32 f.). Im ersten Abschnitt des Buches steht die Auseinandersetzung mit konfessionellen Schriften zu „Geschlechteranthropologie und Geschlechterordnungen“ im Mittelpunkt. Hier beschreibt Zumholz die protestantische Geschlechterordnung als eine auf Luther basierende „Neuakzentuierung der Rolle der Frau in der Gesellschaft“: Mit der Reformation hätten die Frauen nicht nur das Recht auf einen Lebensentwurf außerhalb der Ehe verloren, sondern seien zudem aus dem öffentlichen Leben verdrängt worden (43). Leider wird hier auf die Vielfalt der protestantischen Bewegung und ihrer Gesellschafts- und Geschlechterdiskurse, die sich nicht nur auf Luther reduzieren lassen, zunächst nicht eingegangen. Dies wird jedoch später mit Blick auf den Pietismus zumindest teilweise ergänzt. Der lutherischen Geschlechteranthropologie wird das Frauenbild der katholischen Erneuerung gegenübergesellt. Hier verschrieben sich ab dem 16. Jahrhundert verschiedene Frauenorden, etwa die Ursulinen, dem Ideal der Mädchenbildung. Sie verkörperten – als Nonnen ebenso wie als Lehrerinnen und Krankenschwestern – anerkannte weibliche Lebensentwürfe jenseits der Ehe. Damit, so die Autorin, hätten katholische Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein über größere Handlungsspielräume verfügt als Protestantinnen (50). Diese verschiedenen Geschlechterordnungen sieht Maria Anna Zumholz als prägend für die konfessionellen Milieus Oldenburgs an, wobei an dieser Stelle auch die sozialstrukturellen Unterschiede der beiden Landesteile zumindest angemerkt werden: So wird die
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großbäuerliche, sozial polarisierte Prägung der protestantischen Küstenmarsch dem kleinbäuerlichen Südoldenburg gegenübergestellt (51). Mit der durch Graf Anton Günther eingeführten Reformation wurde der Oldenburger Norden mehrheitlich protestantisch. Die Bildung des vom Grafenhaus gewünschten geschlossenen protestantischen Milieus unterblieb jedoch in der Folgezeit: Im Gegenteil führte die Unterdrückung pietistischer Glaubensvorstellungen erst recht zu einer Zersplitterung des Luthertums sowie zu einer anhaltenden Gottesdienstabstinenz (57–60). Im seit 1801 zu Oldenburg gehörenden Niederstift Münster hingegen wird von der Autorin ein starkes „katholisches Regionalmilieu“ entworfen. Dieses stand in der „aufgeklärten, bildungsfreundlichen geistigen Tradition“ des Bischofs von Galen sowie der Bildungsreformer Franz von Fürstenberg und Bernard Overberg (71). Diese förderten die der Frauenbildung verschriebenen Orden der Ursulinen, Klarissen und Augustiner Chorfrauen (65–67). In die Vereinigung des Niederstiftes Münster mit Oldenburg brachten somit beide Landesteile verschiedene Voraussetzungen zur Mädchenbildung ein: So gab es zum Ende des 18. Jahrhunderts im Oldenburger Norden außerhalb der Stadt Oldenburg keine Mädchenschulen. Das Bildungsniveau der ländlichen Gebiete war dort eher gering (88 f.). Im Niederstift Münster hingegen waren Mädchenschulen seit den Schulreformen Bischof von Galens im späten 17. Jahrhundert fester Bestandteil der Schullandschaft. Wo es die Verhältnisse zuließen, wurden Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet (98 f.). Seit den Reformen des Freiherrn von Fürstenberg im 18. Jahrhundert wurden in Münster zudem Lehrerinnen für Mädchenschulen ausgebildet; der Unterricht von Mädchen durch Frauen wurde sowohl aus sittlichen als auch aus pädagogischen Erwägungen gefördert (111– 114). Der vierte und fünfte Abschnitt des Buches widmen sich konfessionellen Bildern weiblicher Berufstätigkeit. Dabei galten im 19. Jahrhundert im protestantischen Oldenburg Frauen noch als weitgehend für den Lehrerinnenberuf ungeeignet. Dies änderte sich erst mit dem Auftreten streitbarer Oldenburger Pädagoginnen nach dem Ersten Weltkrieg (Helene Lange, Henny Böger, Willa Thorade). Gleichzeitig wurde die soziale Frage nach der Ausbildung von Mädchen aus dem Arbeiter- und Heuerlingsmilieu gestellt (169–189). Für den Oldenburger Süden arbeitet Zumholz die Bedeutung der Schwestern Unserer Lieben Frau für die spezifische Bildungslandschaft des Münsterlandes im 19. Jahrhundert heraus. Diese etablierten ein dichtes Netz von höheren Schulen, später auch Mädchengymnasien und berufsbildenden Einrichtungen (199–230). Daneben waren sie federführend in Fragen des Handarbeits- und Haushaltsunterrichts, der als Perspektive für Mädchen der Arbeiter- und Heuerlingsschicht galt (267). Darüber hinaus existierte in Münster bereits im 18. Jahrhundert eine Normalschule für die Lehrerinnenausbildung. Nach der Eingliederung des Niederstiftes in das Land Oldenburg kristallisierte sich Vechta als ein neues Zentrum der Lehrerinnenbildung heraus. Dabei kommt Zumholz zu dem Schluss, dass das katholische Oldenburg paradoxerweise vom Kulturkampf des späten 19. Jahrhunderts profitierte: Nach der Schließung der katholischen Lehrerseminare in Preußen
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wurde das Oldenburger Münsterland ein neues Ausbildungszentrum des katholischen Westfalen (314). Neben der Lehrerin gab es seit dem 19. Jahrhundert für Frauen den Beruf der Krankenschwester. Während im katholischen Oldenburg sowohl die ClemensSchwestern als auch die Mauritzer Franziskanerinnen das Niederstift mit einem umfangreichen katholischen Krankenhauswesen überzogen, bildete sich in Oldenburg im Zuge der pietistischen Erweckungsbewegung eine Evangelische Diakonie heraus. Die Diakonissen näherten sich, wie Zumholz anhand von Bildanalysen zeigt, mittels Haube und Kreuz äußerlich den katholischen zölibatären Kleidungsstilen an (56). Insgesamt blieben ehelose Lebensentwürfe jedoch unter katholischen Frauen weiter verbreitet als unter evangelischen. Die Reformation, so die Autorin, habe sich insgesamt in weiten Teilen eher als Verlustgeschäft für die Frauen erwiesen. Gleichzeitig warnt sie in ihrem Resümee jedoch vor Verallgemeinerungen: Spezielle regionale Befunde für das Oldenburger Land könnten nicht ohne weiteres auf andere protestantische bzw. katholische Milieus übertragen werden. Insgesamt handelt es sich um eine spannende Langzeitstudie auf breiter und überzeugender Quellenbasis. Der große zeitliche Rahmen schärft den Blick auf den Prozess der Milieubildung, neigt jedoch bisweilen zu einer Überbetonung konfessioneller Erklärungsmuster: Die immer wieder genannten sozialen Milieus werden kaum reflektiert. Auch auf die vielgestaltige und von Widersprüchen durchzogene innere Konfessionalisierung des Katholizismus wie des Protestantismus wird eher an Rande erwähnt. Ferner werden geistesgeschichtliche Hintergründe – wie etwa die (Volks-)Aufklärung, der Nationalismus oder der Sozialismus – angedeutet, aber kaum argumentativ einbezogen. Dennoch hat Maria Anna Zumholz eine sehr lesenswerte, umfassend recherchierte Studie zur konfessionellen Milieubildung und Geschlechtergeschichte verfasst, die mit dem ein oder anderen tief verwurzelten Vorurteil über die Reformation und das katholische Frauenbild aufräumt. Jessica Cronshagen
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GABRIELE JANCKE, DANIEL SCHLÄPPI (Hg.): Die Ökonomie sozialer Beziehungen. Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden, Stuttgart: Franz Steiner 2015, 249 S., 6 s/w und 1 farb. Abb., (ISBN 978-3-515-11052-5), 46,00 EUR. Schon länger wird die strikte Trennung von Wirtschafts-, Kultur- und Sozialgeschichte in der Geschichtswissenschaft als überholt beklagt. Für die Überwindung bestehender Gräben brauche es, so fordern Historikerinnen und Historiker, gemeinsame Zugänge. Eine Fülle an Tagungen, Netzwerken und Arbeitskreisen versucht derzeit gerade im deutschsprachigen Raum dieser Forderung nachzukommen und widmet sich neuen Formen einer integrativen Wirtschafts-, Kultur- und Sozialforschung. Die Anzahl der Publikationen, die neue Ansätze der Geschichtsschreibung auf ihre konkreten Gegenstände anwenden, sind bislang jedoch rar.
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In dieser Hinsicht bildet der Sammelband von Gabriele Jancke und Daniel Schläppi in mindestens dreifacher Hinsicht eine vielversprechende Ausnahme: Erstens befasst er sich mit der Frage, was in der Frühen Neuzeit zur ökonomischen Ressource werden konnte und welche Rolle diesen Ressourcen bei der Hervorbringung, Etablierung und Verstetigung sozialer Beziehungen zukam. Ressourcen waren, so betonen die Herausgeber in ihrer Einleitung, „neben materiellen Gütern für frühneuzeitliche (und wohl auch für moderne) Menschen offensichtlich auch soziale Güter, die in Beziehungen für Einzelne oder für Gemeinschaften eine Produktivität beinhalten, also eine nutzbare Ressource dar- oder herstellen“ (13). Da der Begriff ‚Ressourceʻ aber außerhalb des französischen Sprachgebrauchs, wie Christof Jeggle in seinem Beitrag unterstreicht, kein zeitgenössischer Begriff war, kann er für die Frühe Neuzeit „nur als gegenwartsbezogener analytischer Begriff bezeichnet werden, der Wirtschaftsgüter zunächst einmal nur sehr generell bezeichnet, während deren spezifische Qualität und gesellschaftliche Relevanz sich erst aus den jeweiligen Kontexten ergibt“ (68). Für den Sammelband bedeuten diese Konkretisierungen einen heuristischen Rahmen, in dem nachträgliche Kategorisierungen – wie materiell/immateriell, die der Eigenlogik frühneuzeitlicher Ökonomien widersprechen – zugunsten der Frage in den Hintergrund rücken, wie Ressourcen in sozialen Beziehungen hervorgebracht wurden, wie ihr Wert abhängig von ihrem sozialen und kulturellen Kontext variierte und deshalb permanent ausgehandelt werden musste und konnte. Damit wird auch die Abgrenzung zu konzeptionellen Begriffen wie ‚Kapitalʻ deutlich: Ressourcen waren mitunter nicht frei verfügbar, existierten nicht per se oder konnten besitzrechtlich angeeignet werden. Nicht die Überwindung disziplinärer Grenzen zwischen Wirtschafts-, Kulturund Sozialgeschichte steht dabei im Zentrum des Sammelbandes. Vielmehr plädieren die Herausgeber „für eine Wirtschafts- und Kulturwissenschaft, die Gesellschaften auf der Grundlage von persönlichen Beziehungen wahrnehmen, beschreiben und verstehen will und die in diesem theoretisch-methodischen Anliegen einen gemeinsamen Dreh- und Angelpunkt finden könnte“ (39). Diesem Ansatz einer „Ökonomie sozialer Beziehungen“ liegt zweitens die Beobachtung zugrunde, dass ökonomische Praktiken wie „Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden“ nicht losgelöst von ihrer sozialen wie kulturellen Einbettung untersucht werden können. Die Beiträge gehen aus praxeologischer Perspektive der Frage nach, welche Rolle materielle wie immaterielle Ressourcen bei der Hervorbringung, Stabilisierung und Etablierung sozialer Beziehungen in der Frühen Neuzeit gespielt haben. Die Fallstudien befassen sich mit italienischen Fruchthändlern in Nürnberg und savoyardischen Textilhändlern am Hochrhein (Christof Jeggle), mit den hausväterlichen Lehrschriften des Fürsten Karl Eusebius von Liechtenstein (Andreas Pečar), einem Sack Morcheln und weiteren Objekten der Naturforschung um 1700 (Sebastian Kühn), frühneuzeitlicher Gastlichkeit (Gabriele Jancke), Verwandtenheiraten und Dispensen (Margareth Lanzinger), dem Rechtstrieb in der Schweiz des 19. Jahrhunderts (Mischa Suter), Auswanderfamilien im 18. Jahrhundert (Claudia Jarzebowski) sowie Darstellungen des Eheglücks in der populären Druckgraphik
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im 16. und 17. Jahrhundert (Kristina Bake). Sie analysieren die Verfügbarkeit von Ressourcen (Jeggle), die Rolle von Ressourcen als Statusgeneratoren (Pečar), die Zirkulation und Konversion von Ressourcen sowie ihre Tausch- und Kaufpraktiken (Kühn), ferner die Wertgenerierung immaterieller Ressourcen in sozialen Kontexten (Jancke), die Aktivierung von Ressourcen (Lanzinger), Recht als ambivalente Ressource (Suter), die Emotionalität von Ressourcen (Jarzebowski) sowie die Bildsprache sozialer Beziehungen (Bake). Die Beiträge knüpfen ihre Quellenarbeit an bestehende methodischkonzeptionelle Vorarbeiten. Die Auseinandersetzung mit dem Bourdieuschen Kapitalbegriff durchzieht die Beiträge wie ein roter Faden. Aber auch die économie des conventions, die Arbeiten von Giovanni Levi und Gabriel Tarde werden kritisch reflektiert, wirtschaftssoziologische, literaturwissenschaftliche und medienhistorische Perspektiven integriert und mit dem Ansatz einer Ökonomie sozialer Beziehungen verbunden. Auf diese Weise wird drittens deutlich, dass der Sammelband das Ergebnis einer intensiven, jahrelangen und kontinuierlichen, interdisziplinären und epochenübergreifenden Auseinandersetzung darstellt. Forschungsüberblicke, Begriffsgeschichte und methodisch-konzeptionelle Bezüge sind auf gut lesbare und anregende Weise in die Beiträge integriert. Davon zeugt auch, dass der Sammelband zugunsten einer inhaltlich-argumentativen Sortierung auf eine chronologische Anordnung der Beiträge verzichten kann. Vielmehr fokussieren die Überlegungen auf eine ‚Ökonomie sozialer Beziehungenʻ, die Grenzen zwischen Hausherrn und Angestellten (Kühn) oder Gendergrenzen (Coverabbildung) überwindet. Gabriele Jancke und Daniel Schläppi ist es mit diesem Vorgehen gelungen, einen Sammelband zu publizieren, der auf Basis der gemeinsamen inhaltlichen Auseinandersetzung eines Gesprächszusammenhangs die Eigenlogik sozialer Beziehungen in der Frühen Neuzeit ausgehend von Ressourcen in den Blick nimmt. Man kann nur hoffen, dass der Sammelband als Vorbild für weitere Publikationen dient. Eva Brugger
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WOLFGANG BEHRINGER, CLAUDIA OPITZ-BELAKHAL (Hg.): Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder. Unter redaktioneller Mitarbeit von Sarah Minor und Johanna E. Blume (= Hexenforschung 15), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2016, 468 S., 26 Abb., (ISBN 978-3-89534-975-1), 29,00 EUR. Das vorliegende Buch behandelt Themen, die man der Kategorie menschlicher Fehlleistungen und Absonderlichkeiten zurechnen könnte, die gleichwohl von jeher eine besondere Faszinationskraft ausüben. Es geht zurück auf eine Tagung, die vom 21. bis 24. Oktober 2010 von den Frühneuzeitlehrstühlen der Universität des Saarlandes und der Universität Basel, dem Arbeitskreis Interdisziplinäre Hexenforschung und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Weingarten organisiert wurde. Die 20 Beiträge wurden in fünf Sektionen gegliedert und mit einer Einleitung von Wolfgang Behringer und Claudia Opitz-Belakhal versehen.
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Hier werden zunächst die „Kinder-Probleme“ als zu frühneuzeitlichen wie zu gegenwärtigen Gesellschaften gehörige Phänomene vorgestellt. Afrika, Indien und Südamerika treten dabei vielfach in den Vordergrund, doch fehlt häufig eine verlässliche Informationsgrundlage – auch deshalb, weil Hexerei, Banden- und Straßenkinderwesen einander überlagern sowie Beobachtungsstränge zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Opfern, Tätern und diversen Unterstützer- und Bekämpfer-Organisationen ineinanderfließen. Ebenso verharrt die Darstellung der historischen Dimension vorzugsweise des Kinderhexenstoffes zumeist in der Perspektive der Erwachsenen, die die Kinder beobachten. Diese Perspektive ein Stück weit zu hinterfragen, war ein Anliegen der Konferenz und ist auch der Anspruch des vorliegenden Sammelbandes, der sich auf die Suche nach einer „Verstehensbrücke“ von der frühen Neuzeit zur Gegenwart begibt. Die erste Sektion (47–143) widmet sich dem Komplex „Kindheit und Hexenglauben“ und wird von Eva Labouvie eingeleitet, die mit „Gefährliche Zeiten – gefährdete Kinder“ der Hexenangst in den Zeiten von Schwangerschaft und Geburt und im Erwachsenenumfeld der Gebärenden sowie des Kleinstkindes nachgeht. Sie kennzeichnet diese Periode als Zeit der Ungewissheit zwischen Leben und Tod, in der auch „dämonische“ Kräfte leichten Zugang besaßen und Weichen stellen konnten. Die Taufe wurde in diesem Kontext als Schutzmaßnahme vor dem Bösen betrachtet. Claudia Jarzebowski taucht über Verhörprotokolle in die kindlichen Vorstellungen und Mutmaßungen zum Verdacht der „Hexerei“ an mecklenburgischen Beispielen aus dem 17. Jahrhundert ein und kommt damit nahe an die kindliche Deutungswelt heran. Wie Kinder zu Opfern respektive Tätern in Hexenprozessen werden konnten, zeigt Iris Gareis am Beispiel des französischen und spanischen Baskenlandes im 16. und 17. Jahrhundert. Wie unbefriedigend die „Bewältigung“ des Kinderbettels durch die frühneuzeitliche Gesellschaft war, demonstriert Markus Meumann, der Bettel und Hexerei der Kinder an Einzelbegebenheiten aus dem Raum Celle in einfühlsamer Weise darlegt und sich dabei auf langjährige eigene Forschungen stützen kann. Ein tiefes Verständnis für „Bettelkinder und die Folgen“ belegt sein exzellentes Resümee (141–143). Die zweite Sektion gilt dem Thema „Straßenkinder und Kinderbanden in der Vergangenheit“ (144–197). Die drei Beiträge von Joel F. Harrington zu Entstehung, Ausbildung und Karrieren von Diebesbanden, von Rainer Beck zum Verhältnis von „Wirklichkeit“ und „Konstrukt“ des Bösen sowie von Nordian Nifl Heim zu Hostienschändung im Umfeld des Zauberer-Jackl und der fürstbischöflichen Salzburger Obrigkeit haben im Wesentlichen „Kinderbanden“ und die Aktionen gegen sie im Blick. Die dritte Sektion „Kinder als Opfer und Täter in Hexenprozessen“ (199–331) eröffnet Rita Voltmer. In neun Thesen demonstriert sie eingängig das (vielfältige) Gesicht der jesuitischen Verfolgungspraxis gegen Hexenkinder und deren Vorbildwirkung für andere kirchliche Kreise, gleich welcher Konfession, während Johannes Dillinger das Elternhaus der betroffenen Kinder in Augenschein nimmt und dessen „hexereibezogene“ Rolle hervorhebt. Alison Rowlands, Nicole J. Bettlé, Petr Kreuz und Zuzana Harastová sowie Liv Helene Willumsen untersuchen Hexenprozesse gegen Kinder in Rothenburg ob der Tauber, in der Schweiz, Böh-
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men und Nordnorwegen hinsichtlich ihrer Formen, Verfahrensstrukturen, Ziele und Ausgänge. Dem Themenkomplex „Kinderdevianz im Licht von Jurisprudenz und Pädagogik“ ist die vierte Sektion (333–395) vorbehalten. Hier behandelt Wolfgang Schild rechtstheoretische und rechtspraktische Probleme der Zurechnungsfähigkeit angeklagter Kinder. Pia Schmid thematisiert Herrnhuter Kindererweckung und schlesisches Kinderbeten am Beginn des 18. Jahrhunderts, und Falk Bretschneider untersucht Zusammenhänge von Armut, Arbeit, Zuchthaus und Kinderalltag in Sachsen. Es entspringt durchaus keinem Forschungspessimismus, wenn Bretschneider darauf verweist, dass die Kinder aus dem Dunkel der frühneuzeitlichen Gesellschaft kamen und nach ihrer Entlassung oder Flucht aus der „Einhausung“ wieder in diesen Sphären verschwanden, ohne Spuren zu hinterlassen (395). Die fünfte Sektion „Straßenkinder und Kinderbanden in der Gegenwart“ (397–463) ist ganz auf Afrika und Südamerika fokussiert. Markus Wiencke verdeutlicht mit eindrucksvollen Zeichnungen und Interview-Aussagen von Straßenkindern bzw. -jugendlichen aus dem heutigen Tansania deren Lebensalltag. Hartwig Weber berichtet von Religiosität als Überlebensstrategie von Jugendlichen auf den Straßen Kolumbiens, während Felix Riedel Akteure und Gejagte in afrikanischen Hexenjagden der Gegenwart untersucht und Alexander Rödlach den Anstieg von Kinderhexerei-Vorwürfen in Afrika im Kontext der dortigen AIDSWelle behandelt, aber den behaupteten Zusammenhang durchaus kritisch sieht. Wenn der Covertext unterstreicht, der Band führe die „bisher getrennten Themenbereiche Hexenkinder, Kinderbanden und Straßenkinder zusammen“, so ist damit ein Hauptergebnis des Buches auf kürzest mögliche Weise beschrieben. Helmut Bräuer
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INA MITTELSTÄDT: Wörlitz, Weimar, Muskau. Der Landschaftsgarten als Medium des Hochadels (1760–1840), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015, 470 S., 16 farb. und 40 s/w Abb., (ISBN 978-3-412-22481-3), 69,90 EUR. Die vorliegende Dissertation, die im Fach Neuere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte an der Technischen Universität Dresden entstand, bewegt sich im Grenzbereich zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft und ist der Autorin zufolge „literaturwissenschaftlich geprägt“ (36). Dieser Zugang bestimmt auch die Auswahl der Quellen, die vorwiegend die Sichtweise deutscher Geistesgrößen widerspiegeln. Anhand literarischer Texte und Briefwechsel wird eine Kulturgeschichte des mitteldeutschen Landschaftsgartens in der „Sattelzeit“ angestrebt. Mittelstädts Analyse unterschiedlicher Gartenkonzepte in diesen Ego-Dokumenten führt zu dem Fazit, dass Landschaftsgärten als Medium der Kommunikation ihrer adeligen Besitzer und als Spiegel ihrer Herrschaftskonzepte, Selbst- und Weltentwürfe konzipiert waren. Sie sollten es einer bürgerlichen Umwelt ermöglichen, Sichtweisen und Selbstverständnis ihrer Regenten zu entschlüsseln. Mittelstädt wählte für ihre Untersuchung drei in den Status eines Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommene Gärten aus: Fürst Leopold III. Friedrich Franz
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von Anhalt-Dessaus Wörlitzer Gartenreich, den von Herzog Carl August umgestalteten Ilmpark in Weimar (heute Teil des Ensembles „Klassisches Weimar“) sowie den von Hermann von Pückler-Muskau angelegten Park in Bad Muskau. Die Analyse jedes dieser Gärten beginnt mit der Darstellung der Sozialisation und kulturellen Prägung ihrer Schöpfer als Grundlage für deren Selbst- und Herrschaftsverständnis. Darauf folgt eine eingehende Auseinandersetzung mit den von ihnen konzipierten Landschaftsgärten, die Mittelstädt als Ausdruck dieser Selbstund Herrschaftskonzepte sieht. Im Anschluss wird die Rezeptionsgeschichte der betreffenden Gärten und Parks thematisiert. Die Studie ist anregend zu lesen und eröffnet neue Perspektiven auf adelige Initiativen zur Gartengestaltung und die darin zum Ausdruck kommende Selbstinszenierung. Allerdings erscheint die Rekonstruktion des jeweils intendierten Aussagegehalts unter Verzicht auf die Verwaltungsquellen zur Gartenkonzeption, -anlage, -instandhaltung und -pflege problematisch. Kann man aus der Erziehung der adeligen Protagonisten sowie aus Briefen und Reisebeschreibungen gelehrter Besucher wie des Basler Astronomen Johann Bernoulli, des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch, des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe, des preußischen Staatskanzlers (und Schwiegervaters Pücklers) Karl August von Hardenberg oder des Schriftstellers und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense wirklich auf die Intentionen der Gartenbesitzer bzw. auf deren Reaktionen auf gesellschaftliche Veränderungen schließen? Oder handelt es sich dabei nicht um neue Konstruktionen von Wirklichkeit, die primär die Erwartungshaltungen der Rezipienten wiederspiegeln? Eröffnen die Gärten wirklich einen „panoramatischen Blick auf die sich wandelnden Selbstverständnisse, Werte und Bezugsrahmen von Fürsten zwischen der Aufklärung und der Revolution 1848/49“ (395)? Kann man Gartenkunst entschlüsseln, ohne sich mit der tatsächlichen Bepflanzung, der Flora und Fauna der Gärten zu beschäftigen? Die Studie bietet letztlich eine Darstellung der intellektuellen Diskurse über Gärten, ohne sich mit der historischen Realität dieser Gärten zu beschäftigen, die sich über das Verwaltungsschriftgut hervorragend entschlüsseln ließe. Gerade bei Gärten, die heute den Weltkulturerbestatus besitzen, wäre eine Analyse der Pflanzenwelt für das Selbstverständnis und das Erkenntnisinteresse ihrer Besitzer aufschlussreich. Warum pflanzte beispielsweise Friedrich Anhalt von Dessau einen aus Nordamerika stammenden Tulpenbaum? Bestand hier eine Verbindung zum Besuch des Amerikareisenden Alexander von Humboldt? Die Untersuchung derartiger Fragen könnte der Entschlüsselung der Inszenierungsabsichten der adeligen Besitzer dienen, die im Übrigen hinsichtlich ihrer ständischen Position nur bedingt vergleichbar sind. Dass sich alle drei adeligen Protagonisten meisterhaft auf Selbstmarketing verstanden, steht ebenso außer Frage wie die Feststellung, dass ihre Gärten Produkte ihrer Zeit sind. Dass diese Gärten aber dazu beigetragen haben sollen „eine gerechte Gesellschaft mit Chancen für Menschen wie mich“ (d. h. die Autorin des Buches) „zu verhindern“, erscheint mir diesen doch eine Bedeutung zuzusprechen, die über die „Freude am Schein“ (409) weit hinausgeht. Michaela Schmölz-Häberlein
Bamberg
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REGINA DAUSER, PETER FASSL, LOTHAR SCHILLING (Hg.): Wissenszirkulation auf dem Land vor der Industrialisierung (= Documenta Augustana 26), Augsburg: Wißner 2016, 264 S., 43 Abb., (ISBN 978-3-95786-102-3), 32,00 EUR. Die Erkundung von Wissensgesellschaften ist nicht neu. Der Begriff knowledgeable societes (heute eher knowledge societies bzw. knowledge economies) tauchte in der US-amerikanischen Soziologie in den 1960er Jahren auf und erfasste in der internationalen Forschung zwar nicht ausschließlich, aber doch in hohem Maße die Wissenschaftsgeschichte der Moderne und die Entstehung zunächst der industriellen, dann der postindustriellen Welt. Dabei rückte auch die Agrargeschichte in Form der Agrarindustrialisierungsgeschichte ins Blickfeld. Eine Irseer Tagung im Jahr 2013 lenkte die Aufmerksamkeit auf die Vormoderne. 18 daraus hervorgegangene Beiträge widmen sich der „Sattelzeit zwischen etwa 1750 und 1850“ (10), wobei eine gelegentlich weiter zurückreichende Perspektive durchaus sinnvoll erscheint (insbesondere in den Beiträgen von Daniel Burger und Hubertus Habel). Der Schlusskommentar von Marcus Popplow sucht zudem gedankliche Anschlüsse bis in die Gegenwart (259). Bereits 1978 hatte Reinhart Siegert eine gründliche Studie vorgelegt, die viele Aspekte der Wissensverbreitung in der deutschen Landbevölkerung ausführlich analysierte (Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem „Noth- und Hülfsbüchlein“. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 [1978], 565–1348). Vereinzelt fanden seine Einblicke noch Eingang in den vorliegenden Sammelband (z. B. 207), dessen besonderes Verdienst es ist, in einem weiten Forschungsfeld methodisch spannende und interdisziplinär innovative Wege zu beschreiten. Die Einleitung der Herausgeber (7–14) erklärt prägnant das gemeinsame Vorhaben aller Beiträge, nicht die Geschichte der Wissenschaften, wohl aber des Wissens und dessen Zirkulation zu untersuchen. Um die definitorische Abgrenzung von Wissen und Information wird aus methodisch-praktischen Gründen nicht viel Aufhebens gemacht. Explizites Wissen, das offen liegt, wie implizites, das stillschweigend genutzt wird, „ist kein immaterielles Phänomen, […] ist nicht freischwebend verfügbar“, sondern an materielle, soziale und räumliche Bedingungen gebunden sowie „sozial gekammert“ (9). Kommunikations- und Wissensräume zeichnen sich nicht zuletzt sprachlich ab. Simon Pickl und Simon Pröll belegen dies in ihrer Studie über BayerischSchwaben auch mit Karten und Abbildungen eindrucksvoll (228, 230–238), wie überhaupt die Bildausstattung des Bandes als durchweg gelungen zu bezeichnen ist. In all den einleitend benannten strukturellen Dimensionen verbreiteten sich Informationen als „Aneignung und Sinnzuschreibung“ und als „Weiterverbreitung“ von in Form gebrachtem Wissen (8). Solche Überlegungen folgen dem cultural turn eines großen Teils der Geschichtswissenschaft. Die dazu erforderlichen theoretischen Grundlegungen in der Soziologie, der Wissensgeschichte sowie den Informations- und Kommunikationswissenschaften werden reflektiert, Ausblicke reichen bis in die Linguistik und die Medizinhistorie. Alle Beiträge sind in hohem Maße quellengesättigt und gewinnen just dadurch ihre besondere Innovationskraft – nicht zuletzt, weil sie vermeintlich Offenkundiges oft relativieren und modifizieren: „Denn neues Wissen
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hat sich in der Vormoderne oft keineswegs selbstverständlich durchgesetzt […]. Selbst Innovationen, die sich in der Praxis bewährten, brauchten gelegentlich Jahrhunderte, ehe sie allgemeine Verbreitung fanden.“ (9). So sehr diese Ansätze und Einsichten zu loben sind, nimmt es doch Wunder, dass dieses interdisziplinär angelegte Projekt eine Parallele in der historischen Mobilitätsforschung und zum Teil sogar schon früher einsetzende Forschungsentwicklung nahezu gänzlich außer Acht lässt. Hubertus Habel streift in seiner Studie über „Handel, Migration und Innovationen der Bamberger Gemüsekultur“ ganz kurz die Frage nach dem Wissenstransfer durch die in Bamberg seit 1693 geforderte mehrjährige Wanderung der Gärtnergesellen. Da es hierbei aber zu einer „migrationsbedingten Erosion gärtnerischen Könnens und Wissens“ kam, weil die jungen Gärtner alle auswärts verblieben, wurde die Migration schließlich unterbunden (73). Innovation und Innovationstransfer in Verbindung mit Mobilität und Migration bilden einen großen Forschungskomplex, der von belgischen, britischen, niederländischen, spanischen und deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern seit geraumer Zeit bearbeitet wird. Dessen Anfänge gründeten in der Handwerks-, insbesondere der Gesellengeschichte, sie sind aber längst darüber hinausgewachsen. Eine Einbindung der methodischen Erkenntnisse und zum Teil auch der empirischen Befunde hätte sich angeboten. Die thematische Unterteilung in zehn „Regionale Studien zu Akteuren und Feldern der Wissenszirkulation“ und sechs „Explorative Zugänge zu BayerischSchwaben“ unterstreicht, dass sich das Gesamtthema vor allem aus einer regionalen Differenzierung erschließt, die allerdings nur die spezifisch auf Schwaben gerichteten Untersuchungen von allen übrigen trennt. So sind die Fallstudien zu Bayern (Johann Kirchinger, Lothar Schilling), Franken (Daniel Burger, Hubertus Habel), dem Königreich Hannover (Sylvia Butenschön), der Pfalz (Niels Grüne, Regina Dauser) und Sachsen (Stefan Dornheim) deutlich abgesetzt von jenen zu Schwaben (Peter Fassl, Reinhold Lenski, Corinna Malek, Wolfgang Ott, Simon Pickl/Simon Pröll und Hartmut Steger). Drei Beiträge, die der ersten Gruppe zugeordnet wurden, sind merklich aufeinander bezogen: In einer überregionalen Perspektive beobachtet Gunter Mahlerwein die „Agrarintensivierung und Wissenszirkulation“ an rheinhessischen, nordbadischen sowie schwäbischen Beispielen und kann damit die rheinpfälzischen Befunde von Niels Grüne erweitern (15). Wichtig ist seine Einsicht, dass es zunächst Außenseiter waren, die innovatorisch wirkten, dass die dörflichen Oberund Mittelschichten neue Agrarpraktiken aufgriffen und nicht zuletzt durch den Erfolg ihres wirtschaftlichen Handelns klein- und unterbäuerliche Schichten verdrängten (22). Niels Grüne zeigt detailliert, wie selektiv die Wissensgenerierung und -rezeption waren und wie der Wissenstransfer nur dann zwischen Staat und lokalen Wissensempfängern erfolgreich sein konnte, wenn er in einen aufnehmenden und interpretierenden Diskurs eingebettet wurde, der zuweilen Jahrzehnte brauchte (35). Das besondere Expertenwissen einer Minderheit, der Mennoniten, spielt bei Grüne ebenso ein wichtige Rolle wie in Regina Dausers Ausführungen über Wissenszirkulation und Tabakanbau in der Pfalz, der auch auf die frühe Bedeutung niederländischer und französischer Glaubensflüchtlinge verweist. Es ist
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bemerkenswert, dass es dann die Pfälzer Bauern waren, die zu den „Evaluatoren auswärtiger Praktiken“ wurden (44). Habels Studie über die Bamberger Gemüsekultur liefert wichtige Einsichten in die Vernetzung von Wissen, die sich aus dem internationalen Handel mit hochwertigen Produkten sowie aus der Vernetzung von Zunftmitgliedern ergaben. Gleichzeitig zeigt er Wissensblockaden, die sich ungünstig bis in die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auswirkten (66, 82). Wichtige Akteure und Multiplikatoren waren oft die Pfarrer, früh schon die Lutheraner, dann auch die Vertreter der katholischen Aufklärung: Stefan Dornheim zeigt am Beispiel des sorbischen lutherischen „Bienenpfarrers“ Adam Gottlob Schirach, mit welchem Geschick in der von ihm gegründeten Oberlausitzer Physikalisch-oeconomischen Bienengesellschaft neues Wissen und praktische Erfahrungen volksaufklärerisch zusammengefügt wurden (96). Im Prinzip verfuhr auch der katholische Stiftspropst von Polling, Franziskus Tröpsl, nicht anders, der sich allen Neuigkeiten wie z. B. dem Kleeanbau (117) aufgeschlossen zeigte, aber doch bäuerliches Erfahrungswissen keineswegs verachtete. Über die besondere „Vereinbarkeit des Pfarramtes mit der Landwirthschaft“ (209) ließ sich (der ebenfalls katholische) Pfarrer Christoph von Zwerger aus, der auch ein grundlegendes Lehrbuch über die Stallfütterung verfasste. Er setzte damit, so Wolfgang Ott, praktische Maßstäbe im Dienste der Bauernaufklärung (214). Reinhold Lenski zeigt, wie planvoll landwirtschaftliche Modernisierungsversuche vom geistlichen Landesherrn, im gegebenen Fall von Clemens Wenzeslaus, dem Kurfürsten von Trier und Fürstbischof von Augsburg, ausgingen. Auch er setzte auf Kommunikation und Kooperation sowie auf hilfreiche materielle Anreize (184, 192). Der katholische Fürst Kraft Ernst zu Oettingen-Wallerstein holte sich als Berater für die Verbesserung der Landwirtschaft in seinem gemischtkonfessionellen Territorium Hartmut Steger zufolge den evangelischen Pfarrer Johann Friedrich Mayer als Experten, der sich für vielversprechende Obstbaumkulturen sowie für den bodenverbessernden und futterspendenden Kleeanbau einsetzte (215–219). Blickt man auf die Rolle der Obrigkeit und des Staates im Wissenstransfer, so erweisen sich fünf Beiträge als besonders informativ. Nürnberg hatte seit dem Mittelalter ein ausgeprägtes obrigkeitliches Regiment. Das zeigte sich nicht zuletzt, wie Daniel Burger ausführt, in den Ordnungen, Verfügungen und Weisungen für die beiden Reichswälder, die für Nürnberg zwar durchaus von wirtschaftlicher Bedeutung waren, aber doch nicht so, dass die Reichsstadt – trotz der eigenen Erfindung der Nadelholzsaat – großen Wert auf eine nachhaltige Forstkultur entwickelt hätte. Gleichermaßen waren auch die Untertanen, die selbst über kaum Wald verfügten, wenig an nachhaltiger Wirtschaft interessiert (160). Was die Moorwirtschaft in Bayern und Schwaben anbelangt, so gelingt Corinna Malek der Nachweis, dass hier alte, mündlich überlieferte Verfahren den staatlichen Maßgaben und der wissenschaftlichen Diskussion vorangingen. Die Urbarmachung im staatlichen Interesse konnte auf solches Wissen zurückgreifen, wirkte sich aber spürbar erst im 19. Jahrhundert aus (198, 203). Eine schöne Fallstudie für die Bedeutsamkeit von Wissenstransfer durch staatliche Förderung legt Sylvia Butenschön über die Obstbauförderung im Königreich Hannover vor. Sie analysiert die
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Strategien, das Handeln der Akteure und die Ergebnisse der durchaus zielgerichteten Politik, die ihre Breitenwirkung schließlich im 19. Jahrhundert erreichte (49, 61). Schädlingsbekämpfung war grundsätzlich Aufgabe der Landwirte. Sie aber konnten bei großen „Kalamitäten“ wie den Heuschreckenplagen im 18. Jahrhundert völlig überfordert sein. Jana Sprenger untersucht in diesem Zusammenhang die staatlichen Verordnungen Brandenburgs, wie gegen die Plagen vorzugehen sei. Konflikte zwischen Verwaltung und Bevölkerung blieben nicht aus. Dies änderte aber nichts daran, dass eine gegenseitige Kommunikation, die staatlich entschlossenes Handeln mit dem Erfahrungswissen der Bevölkerung verband, zielführend war (140 f.). Zwei berichtende und reflektierende Quellengruppen fanden die ihnen gebührende Aufmerksamkeit: Lothar Schilling untersucht das im Geiste einer nützlichen Aufklärung verfasste Churbaierische, später Münchner Intelligenzblatt hinsichtlich der darin behandelten Themen, der räumlichen Reichweite der Berichte, der Kommentare und Reflexionen sowie der schreibenden Akteure. Er bemerkt einen europäischen Wahrnehmungshorizont des Blattes, zugleich aber „eine gewisse Blindheit“ bei der Umsetzung der vorgeschlagenen Rezepte in die Praxis (167, 181). Eine Berichterstattung eigener Art verkörpern die bayerischen Physikatsberichte, die, obwohl von Bezirksärzten verfasst, verhältnismäßig wenig ergiebig hinsichtlich medizingeschichtlicher Fragestellungen sind (246). Dagegen geben sie nach Peter Fassl detaillierte Einblicke in landwirtschaftliche Fortschritte und agrarische Wissensvermittlung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (250, 254). Marcus Popplow gibt abschließend einen guten kommentierenden Überblick über die Ergebnisse der Tagung und des Sammelbandes. Dabei überlegt er auch in einem ganzen Fragenbündel, welche Impulse die Modernisierungsprozesse antrieben, ob sie Ausfluss reiner Nächstenliebe, notgetrieben, allgemein ökonomischer Natur oder Auswirkung einer europäischen Konkurrenz waren (259). Damit schließt er einen inhaltlich durchwegs gelungenen und innovativen Sammelband mit weiteren Forschungsperspektiven ab. Rainer S. Elkar
Wilnsdorf bei Siegen
RAINER HENNL, KONRAD KRIMM (Hg.): Industrialisierung im Nordschwarzwald (= Oberrheinische Studien 34). Ostfildern: Thorbecke 2016, 302 S., 99 teils farb. Abb., (ISBN 978-3-7995-7835-6), 34,00 EUR. Die Arbeitsgemeinschaft für geschichtliche Landeskunde am Oberrhein führte 2013 in Gernsbach eine Tagung durch, deren insgesamt zwölf Beiträge (plus eine von Rainer Hennl verfasste Einführung) im vorliegenden Band der Öffentlichkeit vorgestellt werden. In der öffentlichen Wahrnehmung gilt der Schwarzwald im Allgemeinen und der Nordschwarzwald im Besonderen ja keineswegs als industrialisiertes Gebiet, sondern als idyllischer Naturraum, den man allenfalls mit dem Tourismus assoziiert. Aber nur zwei der Beiträge drehen sich im weitesten Sinne um touristische Aspekte (Brigitte Hack: „Das schönbewaldete wildromantische
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Murgthal lohnt auch weiterhin in hohem Grade. Stadt und Wald als Antipoden der Industrialisierung“ und Rüdiger Hitz: „Die Sehnsucht nach der Idylle. Mit Bahn und Postkutsche ans Ziel der Wünsche […]“). Nicht allzu weit entfernt von den landläufigen Vorstellungen ist auch die forstliche Nutzung des Nordschwarzwalds, um die es in mehreren Beiträgen geht. Uwe Eduard Schmidt weist auf „Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Forstwirtschaft im Zeitalter der Industrialisierung“ hin. Rainer Hennl befasst sich mit der „Bedeutung des Holzhandels für die Stadt Gernsbach“ und arbeitet heraus, dass der bis in die Niederlande ausgreifende Holzhandel in der vorindustriellen Zeit zwar fast die einzige Lebensgrundlage der Stadt war, dass diese aber erstaunlich gut davon leben konnte. Bemerkenswert sind die Ausführungen über die Holzflößerei auf der Murg und deren Organisation in der „Murgschifferschaft“. Markus Bittmann betont den Umbruch von der reinen Holzhandelsregion zur Holz- und Papierindustrie im Murgtal. Weitere überregional bedeutende, aber außerhalb der Region kaum bekannte Gewerbezweige sind die Glasmacherei, deren Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert Wolfgang Wiese untersucht, sowie die Entwicklung Pforzheims zur Schmuckbzw. Goldschmiedestadt, die der Beitrag von Hans-Peter Becht behandelt. Dieser Wandel der Stadt durch Zuzug u. a. französischer Fachleute war auch mit einem Wandel der städtischen Mentalitäten verbunden. Überregional bedeutend ist der Nordschwarzwald, speziell das Murgtal mit seinen Wasserkräften, als „Keimzelle der badischen Landeselektrizitätsversorgung“, mit der sich Thomas Herzig befasst. Damit eng zusammen hängt die Murg, deren Flussgeschichte Thomas Fleischhacker in seinem umweltgeschichtlichen Beitrag darstellt. Vollends unbekannt außerhalb der Region ist das Murgtal als Sitz der Automobilindustrie, mit deren Entwicklung von 1895 bis 1926 sich Martin Walter beschäftigt. Außerhalb des deutschen Südwestens wenig bewusst ist auch die bis ins 20. Jahrhundert andauernde territoriale Fragmentierung des Nordschwarzwalds mit dem badischen Pforzheim und einigen weiteren badischen Städten und Dörfern einerseits, dem württembergischen Umland andererseits. Mit Letzterem befasst sich Rainer Looses Beitrag „An der Peripherie des Königreichs. Entwicklungsprojekte im Württembergischen Schwarzwald zur Zeit König Wilhelms I. (1816 bis 1864)“. Loose behandelt zahlreiche verschiedene Aspekte, die von staatlicher Sozialpolitik („Armenbeschäftigungsanstalten“) über den Ausbau des Verkehrsnetzes und die Brennstoffpolitik bis hin zum Ausbau von Bädern (im mondän werdenden Wildbad!) reichen. Außerhalb des Schwarzwalds, aber in der nahen Rheinebene befindet sich Rastatt, dessen Entwicklung im 19. Jahrhundert durch die Bundesfestung bestimmt war, welche die Entwicklung des Gewerbes stark hemmte. Oliver Fieg kann zeigen, wie sich dies mit der Aufhebung der Festung 1890 änderte und die Stadt einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung nahm. Summa summarum rückt der Band viele Klischees zurecht und unterstreicht, wie unerwartet intensiv auch der angeblich gewerbe- und industrieferne Nordschwarzwald von der gewerblichen und industriellen Entwicklung geprägt war. Gerhard Fritz
Schwäbisch Gmünd
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2. Mittelalter FELIX HEINZER, THOMAS ZOTZ unter Mitarbeit von HANS-PETER SCHMIT (Hg.): Hermann der Lahme. Reichenauer Mönch und Universalgelehrter des 11. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 208), Stuttgart: Kohlhammer 2016, 345 S., 36 Abb., (ISBN 978-3-17-030732-0), 34,00 EUR. Der sich 2013 zum 1000. Mal jährende Geburtstag Hermanns von der Reichenau (1013–1054) war der Anlass für diesen Sammelband, der 15 Beiträge versammelt, die verschiedene Aspekte der Biographie Hermanns, seiner historiographischen Arbeiten, seines Werks als Dichter und seines Schaffens als Musiker und (Natur-)Wissenschaftler beleuchten. Diese Anordnung der Beiträge macht nicht nur deutlich, dass Hermann ein äußerst breites und vielgestaltiges Oeuvre hinterlassen hat, sondern auch, dass seine Biographie und die Frage, wie man seine körperliche Behinderung in diesem Zusammenhang einordnen kann und darf, trotz im wesentlichen bekannter Fakten durchaus eine neue Betrachtung lohnt – eine Aufgabe, der sich dieser Band nun stellt. So arbeitet Felix Heinzer (43–64) die Frage nach der körperlichen Beeinträchtigung Hermanns im Kontext einer möglicherweise auch bei Walahfrid Strabo und Notker Balbulus anzutreffenden Verbindung von Autorschaft und körperlicher Behinderung auf. Auch die Aufsätze Walter Erschiens zu biographischen Aspekten (19–24) und Wolfgang Augustyns zum Nachleben Hermanns vor allem in Bildquellen (65–84) widmen sich u. a. Hermanns körperlicher Behinderung, die an keiner Stelle von diesem selbst angesprochen wird, sondern erst durch seine Qualifizierung als contractus durch Berthold von der Reichenau thematisiert wird. Dass genau dieser Punkt trotz des Schweigens Hermanns bei der Beschäftigung mit diesem Autor eine so große Rolle spielte und noch heute spielt, mag in Zeiten, in denen der Umgang mit geistigen, psychischen und körperlichen Behinderungen immer wieder diskutiert wird, eine eigene Untersuchung wert sein. Im 11. Jahrhundert hingegen waren Hermann und seinen Zeitgenossen andere Fragen offenbar weitaus wichtiger. So verortet Thomas Zotz (3–17) Hermann im Zusammenhang seiner Familie, der Grafen von Altshausen, und ihres Netzwerkes; ergänzt wird dies durch die Betrachtungen Helmut Maurers zum Umfeld Hermanns auf der Reichenau samt ihrer vielfältigen Verstrickungen mit den geistlichen und weltlichen Mächten (25–42). Die Bedeutung seiner Familie und des südwestdeutschen Adels war so groß, dass Hermann Hinweise zu deren Geschick und Religiosität in seine Chronik einflocht und sich später nicht auf der Reichenau, sondern neben seiner Mutter in Althausen bestatten ließ. Diese südwestdeutsche Komponente in Hermanns Selbstbild wird von Heinz Krieg (133–146) deutlich herausgearbeitet. Die Weltchronik selbst schildert HansWerner Goetz (87–131) als Kompilation verschiedener Vorlagen, die Hermann in ein strenges chronologisches Gerüst brachte, um so die Wirkmächtigkeit göttlichen Handelns aufzuzeigen. Auch die Beiträge zu Hermanns theologischen, liturgischen und musiktheoretischen sowie komputistischen Arbeiten zeigen ihn als
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Autor, der seine Vorlagen auf höchstem Niveau zusammenstellte und verdichtete, zugleich aber den Weg für Neues wies. Michael Klaper (223–242) zeigt u. a. durch den Vergleich mit Werken Berns von Reichenau und Ekkeharts IV. von St. Gallen Hermanns Offizien als Vorreiter einer Melodik, die erst im 12. Jahrhundert üblicher wurde. Zudem verbesserte Hermann, wie Menso Folkerts (243–258) darlegt, mit der Theorie gewissermaßen die Spielanleitung des Zahlenkampfspiels Rithmomachie und bereitete so seine weitere Rezeption vor. Ähnlich bewerten auch Martin Hellmann (259–271) und David Juste (273–284) Hermanns Leistungen bei der Nutzung des Abakus und des Astrolab sowie Immo Warntjes (285– 321) Hermanns Berechnungen des Osterfestes als wesentliche Bestandteile seiner komputistischen Arbeiten. Eva Rothenberger (175–194) deutet Hermanns Mariensequenz als geistlichen Gesang, der das Auserwähltsein Mariens in den Mittelpunkt stellt, um auf das göttliche Geheimnis zu verweisen. Bernhard Hollick (195–220) stellt Hermanns Tugendlehre als Text vor, der auch die lateinische und griechische Gelehrsamkeit seines Verfassers deutlich macht, was ebenfalls für die von Felix Heinzer (149– 173) als Beispiel für Hermanns Sentenzen vorgestellte Ostersentenz gilt. Zudem arbeitet er die Verbreitung von Hermanns Sentenzen in den Reformzentren des 11. und 12. Jahrhunderts heraus, wobei gerade kein Schwerpunkt auf hirsauisch geprägten Klöstern erkennbar ist. Beschlossen wird der Band durch die konzise Bilanz von Steffen Patzold (325–337), der nicht nur die Ergebnisse der einzelnen Beiträge zusammenstellt und in die Forschung einordnet, sondern auch Desiderata für die weitere Forschung zu Hermann dem Lahmen aufweist, die nicht zuletzt in einer Neuedition von Hermanns Chronik bestehen könnte und sollte. Erschlossen wird der Band durch ein Orts- und Personenregister; eine Reihe von Abbildungen ergänzt die Darstellung. Der Band bringt wichtige Aspekte der Forschung zu Hermann von der Reichenau auf den neuesten Stand und bereichert sie um zahlreiche neue Erkenntnisse. Er profitiert dabei von der Einbeziehung von Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Disziplinen wie der Geschichte, der mittellateinischen Philologie, der Kunstgeschichte, der Musikgeschichte und der Mathematik. Er zeigt Hermann in seinen verschiedenen Bezügen und Interessen als einen ebenso typischen wie herausragenden Mönch der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts zwischen monastischer Gelehrsamkeit und weltlicher Verhaftung. Andrea Stieldorf
Bonn
JANIS WITOWSKI: Ehering und Eisenkette. Lösegeld- und Mitgiftzahlungen im 12. und 13. Jahrhundert (VSWG-Beiheft 238), Stuttgart: Steiner 2016, 340 S., 2 s/w Abb., (ISBN 978-3-515-11374-8), 59,00 EUR. Die vorliegende Studie verfolgt eine finanz- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellung mithilfe einer kulturhistorischen Herangehensweise. In den Blick genommen werden sowohl Vereinbarungen über Lösegeldzahlungen als auch Ehe-
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verträge und die darin enthaltenen Mitgiftregelungen – diesen beiden Phänomenen ist jeweils ein Hauptteil der Arbeit (Kapitel III und IV) gewidmet. Gehören diese auch unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten an, so ist ihnen doch gemeinsam, dass Verwandte – oder im Fall der Lösegeldzahlungen auch Vasallen – für die vereinbarte Summe aufkommen müssen. Entscheidend sind hier freilich nicht die sozialen Funktionen der Vereinbarungen, sondern die konkreten Summen, die jeweils genannt werden und die der Autor miteinander in Beziehung setzt (Kapitel V). Bei einem Untersuchungszeitraum von 200 Jahren und einem Untersuchungsraum, der große Teile Europas und auch die Kreuzfahrerstaaten einbezieht, ist dies kein triviales Unterfangen. So hat sich der Autor entschieden, die Beträge umzurechnen auf die Kölner Mark als Vergleichswert – was natürlich auch nur eine Hilfskonstruktion ist, da sich deren Wert im Verlaufe der beiden Jahrhunderte änderte; möglicherweise wäre die Umrechnung auf den Edelmetallanteil hilfreicher gewesen, die sich lediglich in der Tabelle am Ende des Bandes findet. Aber eine grobe Orientierungshilfe gewinnt man dennoch, wenngleich die Frage nach der Vergleichbarkeit der Werte über 200 Jahre hinweg bleibt. Da es ein Ziel der Untersuchung ist, „die monetäre Bedeutung beider Phänomene [also sowohl der Lösegeld- als auch der Mitgiftzahlungen] herauszuarbeiten und in die Phase gesteigerten Geldgebrauchs im 12. und 13. Jahrhundert einzuordnen“ (13), verwundert schon, dass die Abwicklung entsprechender (Rechts-)Geschäfte nicht zumindest auf der Grundlage bisheriger Forschungen herangezogen wird, um kontrastierend die Usancen vor dem 12. Jahrhundert herauszuarbeiten und gerade die Frage des gesteigerten Geldgebrauchs im Rahmen des Konzepts „Monetarisierung“ besser zu konturieren. Wünschenswert wäre auch die Diskussion gewesen, inwieweit die bearbeiteten Fälle – immerhin 103 Lösegeld- und 80 Mitgiftvereinbarungen – eine Entwicklung mit Blick auf den Geldgebrauch zu erkennen geben. Vor allem auch, da Witowski – aus nachvollziehbaren Gründen – den Geldbegriff nicht nur auf gemünztes, sondern auch auf gewogenes Edelmetall bezieht (23). Die Ergebnisse, die für die Frage des Geldgebrauchs als solchen gewonnen werden, bleiben somit letztlich eher vage, zumal die Zahlenangaben in den Quellen nicht immer zuverlässig sind. Eine Entwicklung in geldgeschichtlicher Hinsicht ist nicht zu erkennen. Die Aussage, dass die vereinbarten Höhen von Lösegeldern und Mitgiften in Relation zur sozialen Stellung der am Rechtsgeschäft beteiligten Persönlichkeiten und ihrer Familien stehen, mag nicht überraschend sein; das Verdienst dieser Studie ist es aber, dies an zwei Untersuchungsfeldern empirisch belegt zu haben. Auch wenn es kein „Tarifsystem“ (Witowski) gab, so kann man bei den Lösegeldern doch erkennen, dass die Summen für Herrscher deutlich über dem lagen, was für andere Adelige zu zahlen war. Wichtig ist hierbei das Ergebnis, dass nicht ausschließlich der Rang eine Rolle spielte, sondern mindestens ebenso die konkrete politische und militärische Bedeutung eines Gefangenen in der jeweiligen Verhandlungssituation und natürlich die Finanzstärke des Gefangenen und seiner Familie. Zudem war nicht nur die Summe selbst eine Frage der Ehre, sondern auch die Zahlungsverpflichtung der Familie und der Vasallen, wobei letztere immer weniger involviert waren. Unter Genderaspekten
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freilich ist interessant, dass für Frauen (und Kinder) in der Regel keine Zahlungen verlangt wurden, sondern diese rasch aus der Gefangenschaft entlassen wurden, es sei denn, diese dienten als politisches Pfand, wie man beispielsweise an der Haft der Kaiserin Konstanze im Castell dell’Ovo in Neapel sehen kann, die freilich in dieser Studie unberücksichtigt blieb, weil die Kaiserin nicht aufgrund einer Geldzahlung freikam. Bei den Mitgiften rücken die Frauen als „Objekte“, für die Zahlungen geleistet werden bzw. deren Lebensunterhalt durch die Zahlungen gesichert werden sollte, in den Vordergrund. Auch hier ist die Höhe der Zahlung zu erkennen als Ausgleichsprozess zwischen dem Rang des Bräutigams bzw. seiner Familie und der Stellung des Brautvaters. So gilt hier geradezu die Formel: Je höher der Rang der Brautfamilie im Verhältnis zu der des Bräutigams, desto niedriger fiel die Mitgift aus – und umgekehrt. Hier wäre natürlich interessant gewesen, ob sich vergleichbare Relationen auch bei der Dotierung durch die Familie des Mannes ausmachen lassen. Über diese finanziellen Ergebnisse hinaus ist es ein Verdienst der Arbeit, durch die Analyse der Einzelfälle Einsichten in die soziale Praxis der Lösegeldvereinbarungen und auch der Kriegsgefangenschaften zu bieten, wenn etwa deutlich wird, dass die Gefangenschaft in christlicher Hand nicht ehrenrührig war, die in muslimischer hingegen schon. Geboten wird ein Panorama von Kriegsgefangenschaft und Lösegeldpraxis von den mutmaßlichen Anfängen im 11. Jahrhundert an, das die ökonomischen Aspekte dieser Praktik klar hervortreten lässt. Deutlich wird aber auch, dass zu starker Druck oder gar Gewalt gegen die Gefangenen, um ein (höheres) Lösegeld zu erhalten, von den Zeitgenossen negativ bewertet wurde. Die Beispiele reichen von berühmten Fällen wie dem Loskauf Richard Löwenherzʼ für 100 000 Mark bis hin zum für ca. 1 150 Mark ausgelösten Grafenbruder Rainald von Bar, Herr von Pierrepont. Eine ähnliche Spannbreite findet sich bei den Mitgiften, wo der Böhmenkönig 1225 für die Verheiratung seiner Tochter mit Heinrich (VII.) 45 000 Mark Silber bot, Friedrich II. jedoch 1236 „nur“ 7 000 Mark für die Verbindung einer seiner Töchter mit einem Sohn des Herzogs von Österreich. Am Ende des Bandes finden sich Übersichten zu den Lösegeldzahlungen sowie den Mitgiften mit den Geldangaben aus den Quellen sowie Umrechnungen in Kölner Mark wie auch in Silber, die in absteigender Folge nach den Summen geordnet sind, aber auch deutlich machen, dass keineswegs alle hier aufgelisteten Fälle in die Untersuchung eingeflossen sind. Die Auswahl der tatsächlich behandelten Fälle wird nicht begründet. Beschlossen wird die nicht ganz runde, aber doch ertragreiche Untersuchung durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Ortsregister. Andrea Stieldorf
Bonn
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CHRISTIAN BURKHART, JÖRG KREUTZ (Hg.): Die Grafen von Lauffen am mittleren und unteren Neckar (= Heidelberger Veröffentlichungen zur Landesgeschichte und Landeskunde. Schriftenreihe des Instituts für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde 22), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2015, 369 S., (ISBN 978-3-8253-6251-5), 48,00 EUR. Der Band versammelt die um ein Quellenverzeichnis ergänzten schriftlichen Fassungen von zwölf Referaten, die am 4. und 5. Mai 2012 auf einer Tagung in Ladenburg gehalten wurden. Anlass der Tagung war das 1000-jährige Jubiläum der Erstnennung der Grafen von Lauffen 1012. Dieses Grafengeschlecht erscheint in den Quellen bis 1219. Nach dem über Generationen immer wieder vorkommenden Leitnamen Poppo sind die Lauffener auch als Popponen bekannt. Gerold Bönnen („Das Bistum und das Hochstift Worms und der Neckarraum im hohen Mittelalter“) behandelt nicht nur dessen auffällig kleinen Sprengel und seine insgesamt bescheidenen Besitzungen, sondern arbeitet auch heraus, welche Rolle Worms im Geflecht kaiserlicher und hochadliger Beziehungen spielte. Der Aufstieg der Pfalzgrafen bei Rhein seit Ende des 12. Jahrhunderts war mit dem Abstieg der bischöflichen Macht verbunden. Christian Burkhart ist gleich mit drei Beiträgen vertreten. Im ersten („Die Grafen von Lauffen, die Lorscher Filialklöster am unteren Neckar und die ‚Grafschaft Stalbühl‘“) geht er nicht nur auf die komplexen Verhältnisse der sich herausbildenden Territorialisierung ein, sondern stellt mit ausgeprägtem genealogisch-machtpolitischem Scharfsinn auch dar, wie die Lauffener mit den anderen großen Dynastien verbunden waren, namentlich mit den Grafen von Calw, den Welfen und jener Familie, die im Laufe der Jahrhunderte als Hessonen, Wolfsöldener, Winnender und Schauenburger auftrat und in ganz Süddeutschland umfassende Beziehungen hatte. Intensiv diskutiert werden die Begriffe „Graf“ und „Grafschaft“ sowie das Auftauchen der Bezeichnung „Grafschaft Stalbühl“ statt des älteren „Grafen im Lobdengau“. Hierzu gibt es durchaus Parallelen; z. B. wird im Murrgau vorübergehend der Gerichtsort Ingersheim namengebend. In einem zweiten Beitrag geht Burkhart der Frage „Wer stiftete wann und warum das Ellwanger Tochterkloster St. Georg in Wiesenbach?“ nach. Ein vom selben Autor erstelltes „Verzeichnis ausgewählter Quellen rund um die Grafen von Lauffen […]“, das mit zahlreichen genalogischen Tafeln ergänzt ist, schließt den Band ab. Bis zur Erarbeitung ausführlicher Regesten der Lauffener wird dieses Verzeichnis die Grundlage aller weiteren einschlägigen Forschungen bilden. Katharina Laier-Beifuss behandelt in ihrem Beitrag „Die Anfänge der Ellwanger Propstei Wiesenbach“ ein eng mit Burkharts KlosterAufsatz verbundenes Thema. Ludwig H. Hildebrandts Beitrag „Der Umfang der Grafschaften und Vogteien der Grafen von Lauffen im mittleren und unteren Neckarraum“ schließt sich thematisch eng an Burkharts ersten Aufsatz an und kann Klärendes zum Verhältnis von Gau und Grafschaft hinzufügen, während Jörg R. Müller in seinem Aufsatz „Bruno von Lauffen, Erzbischof von Trier (1102–1124)“ den bekanntesten Vertreter des Grafengeschlechts und insbesondere dessen Verhältnis zu Kaiser Heinrich V. darstellt. Archäologisch-burgenkundlich orientiert sind die Beiträge von Nicolai Knauer („Die Burgen der Grafen von Lauffen im Neckartal“), Uwe Groß
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(„Archäologische Funde aus einem abgebrannten Turmhaus – Zeugnisse des Angriffs Konrads I. von Dürn auf Eppingen (?)“) und Manfred Benner („Die Wiesenbacher Burgenfrage: Wie viele Burgen gab es in Wiesenbach?“). Stefan Kötz geht auf grundlegende Fragen des Münzrechts ein („Zur Frage einer Münzprägung der Grafen von Lauffen […]“). Der heraldische Aufsatz von Harald Drös – „Das (unbekannte) Wappen der Grafen von Lauffen“ – gerät zu einem Fiasko für die bisherige Forschung, denn Drös kann nachweisen, dass der frühere Tübinger Landeshistoriker Hansmartin Decker-Hauff ein völlig falsches Wappen der Lauffener – einen „oberhalben“ Adler – regelrecht zusammenfantasiert hat. Er kann weiter zeigen, wie unkritisch spätere Historiker Decker-Hauffs Gedankenflügen gefolgt sind und dass auf dessen Ratschlag hin der heutige Kreis Heilbronn ebendieses falsche Wappen zum Kreiswappen gemacht hat. Man darf zweifeln, dass der Kreis jetzt sein Wappen ändern und den korrekten Löwen auf einem Balken führen wird. Auf die Beziehungen der Grafen von Lauffen zu ihrem adeligen Umfeld geht Richard Lenz mit „Die Grafen von Lauffen, Eberbach, Dilsberg und die Heidelberger Pfalzgrafen“ ein. Grundsätzlich ergeben die Beiträge auf der Basis umfassender Kenntnis der arg zerstreuten Quellen in Kombination mit genealogischem Scharfsinn ein fundiertes Bild der Verhältnisse am mittleren und unteren Neckar vom 11. bis zum 13. Jahrhundert. Angesichts der weiträumigen Beziehungen der Lauffener geht die Relevanz des Bandes aber weit über dieses Gebiet hinaus. Gerhard Fritz
Schwäbisch Gmünd
ANDREAS SCHMIDT: „Bischof bist du und Fürst“. Die Erhebung geistlicher Reichsfürsten im Spätmittelalter – Trier, Bamberg, Augsburg (= Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte 22), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2015, 1007 S., (ISBN 978-3-8253-6259-1), 98,00 EUR. Ansgar Frenken hat jüngst in einer Besprechung ein relativ vernichtendes Urteil über die hier anzuzeigende Heidelberger Doktorarbeit gefällt: sprachlich spröde, detailverliebt, zuweilen in Metaebenen kreisend mit dürrem Ergebnis – so lauteten einige der Vorwürfe, wenngleich durchaus auch die Verdienste des handbuchartigen Werks betont wurden. Jenem Urteil kann sich die folgende Besprechung nicht anschließen, wenngleich die rund 1000 Seiten der verfassungsgeschichtlichen Studie zweifellos schwere Kost sind. Andreas Schmidt hat sich vorgenommen, die klassische Arbeit Robert L. Bensons aus dem Jahre 1968, welche das Beziehungsgeflecht zwischen kanonistischen Vorgaben und konkreten Besetzungsmodalitäten auf den Bischofsstühlen anriss, mithilfe einer dichten Beschreibung zu füllen und hat sich hierfür nachvollziehbar mit Trier ein Erzbistum, mit Bamberg ein exemtes Bistum und mit Augsburg ein Suffraganbistum ausgewählt, die sich zudem durch eine jeweils gute Quellensituation als Fallbeispiele eignen. Seinem Anliegen folgend skizziert Schmidt zunächst – in notgedrungen dicken Strichen – die Entwicklung des Bischofsamtes, um anschließend aus den kanonistischen Quellen die vier zentralen Stationen für die Besetzung herauszuar-
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beiten: designatio personae, collatio tituli, captio possessionis, Konsekration. Diese werden in den Folgekapiteln anhand der jeweiligen diözesanen Praxis „vor Ort“ überprüft, woran sich mehrere Anhänge anschließen: so zu den behandelten acht (Trier) bzw. neun Fällen (Bamberg, Augsburg) des ausgehenden 14. und vornehmlich des 15. Jahrhunderts. Darauf folgen Editionen zu den beiden heute bayerischen Bistümern, etwa der Bamberger Ordo ad inthronisandum oder des Vertrags zwischen dem Augsburger Oberhirten Johann von Werdenberg und den reichsstädtischen Stadtvätern bezüglich des bischöflichen adventus ad annum 1470 (wobei die Editionsprinzipien durchaus diskussionswürdig sind). Den Abschluss der Arbeit bilden ein rund 100-seitiges Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Register der Personennamen. Leider fehlt ein Sachindex, der die Nutzbarkeit des handbuchartigen Werkes erhöht hätte. Der Ansatz folgt weitgehend klassisch kirchenrechtlichen Kategorien; lediglich die Altarsetzung wird mit der clavis interpretandi ritualmethodischen Zugriffs erschlossen, wobei zwischen der Altarsetzung nach der Wahl, welche als consuetudo gesehen wird, und derjenigen nach der Konfirmation, die als Besitzergreifung gedeutet wird, zu unterscheiden ist. Auch die breiten Ausführungen zum gerade in Augsburg als Symbol der Bischofserhebung begriffenen adventus episcopalis sind eher geistesgeschichtlicher Natur denn ertrinkend in den Begrifflichkeiten symbolischer Kommunikation. Schmidt schlägt dabei vor, die bischöflichen Einzüge als an christologischen Idealvorstellungen orientiert zu deuten, in denen teilweise ein wohl auch zu modern gesehener Dualismus von geistlichem und weltlichem Amt (praesul et princeps) aufzulösen ist. Es ist demnach ein holistisches, zudem transpersonale Züge aufweisendes Verständnis, das die Bischofsstadt als civitas sancta begreift – ein Befund, der sich durchaus mit dem Bild verbinden lässt, das eine neue Politikgeschichte von der spätmittelalterlichen Verfassungswirklichkeit im Allgemeinen zu zeichnen versucht. Zuletzt wurde ja mehrfach auf die Unzeitgemäßheit hingewiesen, mit modernen Kategorien die vermeintlich „unmögliche Zeit“ des 15. Jahrhunderts zu erschließen. Hierzu zählen auch laikale Vorstellungen, die dem spätmittelalterlichen Bischofsamt übergestülpt wurden. So kommt Schmidt zum zentralen Ergebnis: „Da die Reihenfolge der einzelnen Akte – zumal derjenigen im Übergangsbereich von geistlicher und weltlicher Sphäre des Amts – nicht feststand und auch Zwischenstadien einen Rechtsstatus sui generis darstellten, gab es auch keinen Moment, der als Amtsantritt charakterisiert werden könnte – zu eng waren geistlicher und weltlicher Bereich miteinander verwoben“ (824). Da der Autor dabei auch durchaus diözesanspezifische Elemente profilieren kann – obwohl das Kirchenrecht grundsätzlich nur wenig Spielräume offenließ –, wäre es ein lohnendes Forschungsfeld, mit dem von ihm erarbeiteten Instrumentarium auch die anderen Bistümer zu untersuchen, um letztlich zu einer Typologie der spätmittelalterlichen Reichskirche zu gelangen. Die Bischofserhebungen dienten im Falle Triers und Augsburgs auch zur Definition der Rechte zwischen Stadtgemeinde und Oberhirten, was in den allgemein zu beobachtenden Trend zur Kodifizierung und Juridifizierung im 15. Jahrhundert einzuordnen ist. Und es zeigt sich wieder einmal, wie sinnvoll ein Blick auf die
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Domkapitel ist. Auch Schmidt sieht in ihnen die Träger korporativer Verantwortlichkeit und steht damit in Einklang mit der modernen Forschung. Bemerkenswert ist nicht zuletzt die Rolle Roms, die den untersuchten Fällen zufolge nicht überbewertet werden sollte. So installierte zwar erst der kuriale Informativprozess den Kandidaten in das ius in re und gab dem Elekten die potestas administrationis in spiritualibus et temporalibus, doch setzte sich meist der vom Bamberger, Trierer und Augsburger Domkapitel vorgeschlagene Kandidat durch. Nur in zwei Fällen – Augsburg 1413 und Trier 1430 – wurde ein päpstlicher Kandidat eingesetzt, der nicht den Wünschen des Kapitels entsprach. Doch auch dies geschah erst nach der „Verlagerung“ kapitelinterner Spannungsfelder in die ewige Stadt, was wiederum die Sinnhaftigkeit eines binnendifferenzierenden Vorgehens zeigt. Gerade hier scheint sich ein lohnendes Forschungsfeld zu öffnen, das domkapitelische Korporationen als „Spiegel“ der jeweiligen Zeit liest und nach Methoden wie Quellen sucht, jene sozial-religiösen Binnenstrukturen in ihren Verzahnungen und Machtlinien zu erarbeiten. Inwiefern die noch größtenteils systematisch unerschlossenen Domkapitelurkunden hierfür Ansatzmöglichkeiten bieten, wäre zu hinterfragen. Schmidts insgesamt – bis auf kleinere Unsauberkeiten – sehr gründliche Arbeit hat jedenfalls bewiesen, dass die Bischofserhebungen als verfassungsgeschichtliche Seismographen gedeutet werden können. Hierfür eine solide Grundlage geschaffen zu haben, ist das Verdienst der gewichtigen Arbeit. Christof Paulus
München
NIKLAS KONZEN: Aller Welt Feind. Fehdenetzwerke um Hans von Rechberg (†1464) im Kontext der südwestdeutschen Territorienbildung (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B 194), Stuttgart: Kohlhammer 2014, 545 S., 17 Abb., (ISBN 978-3-17023378-2), 47,00 EUR. Die überarbeitete Fassung der 2010 in Tübingen angenommenen Dissertation Niklas Konzens untersucht, warum der schwäbische Niederadlige Hans von Rechberg, in den Augen städtischer Chronisten der gröst wüetrich (3) seiner Zeit, mehr als dreißig Jahre lang Fehde an Fehde reihte. Manche focht er in eigener Sache, andere als (verlautbarter) Anwalt und Vollstrecker ‚des‘ Adels, nicht wenige aber auch als Fehde-Subunternehmer aus. Der Verfasser verfolgt dazu keinen biographischen Ansatz im chronologischen Sinne, sondern möchte die destillierbaren individuellen Beweggründe seines Protagonisten in Beziehung zu den sozialen, wirtschaftlichen und herrschaftlichen Bedingtheiten seiner Zeit – und im Besonderen denen seiner sozialen Gruppe – setzen, um die „Gewaltkarriere Hans von Rechbergs“ (59) umfassend zu analysieren. An der ausführlichen Einleitung, in welcher breit, dabei freilich luzide auch die Forschungsprobleme um Fehde und Recht, Adelsökonomie, Territorialisierung und die wechselhaft gelagerten Beziehungen von Adel und Städten dargelegt werden, wundert etwas, dass der im Buchtitel und durchweg so prominent erscheinende Netzwerk-Begriff nicht eingehender problematisiert wird; Konzen entscheidet sich offenkundig für eine
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pragmatische Verwendung. Danach durchmisst er im zweiten Oberkapitel „Erfahrungsraum und Erfahrungshorizont“ die soziale und herrschaftliche Position des Hauses Rechberg und seines Sprosses Hans zwischen (nieder-)adliger Verwandtschaft, Genossenschaft (Rittergesellschaften mit St. Georgenschild) und der gestaffelten Struktur der Höfe Oberdeutschlands. Bemerkenswert ist hierbei der Umstand, dass die Mehrheit der Georgenschilder – anders als Hans von Rechberg – sich zur Mitte des 15. Jahrhunderts hin bereits mit den Reichsstädten der Region arrangiert hatte, ehe mit dem zweiten süddeutschen Städtekrieg 1449/50 ein letzter großangelegter, vermeintlich ‚ständischer‘ Konflikt dieses Arrangement vorübergehend aufsprengte. Abschnitt III („Fehdeführung und Netzwerk im Überblick 1431–1464“) beleuchtet umsichtig die verschiedenen Konfliktlagen um und mit Hans von Rechberg zwischen interagierenden Individuen und Gruppen, wobei neuerlich die vielen (häufig mehr als nur bilateralen) Fehden zwischen den Großkonflikten jener Jahrzehnte profiliert werden. Das eher kurze, aber fein pointierende Kapitel IV zeigt eindrücklich die „Legitimisierung und Mobilisierung durch Städtefeindlichkeit“ in Rechbergs Schar, wobei die geschilderten „Legitimationsdefizite“ ihn dem Richtblock gefährlich nahe brachten, andere hingegen direkt auf diesen – „Hans von Rechberg als Straßenräuber“ (218). Für Rechberg machte es dabei offenbar Sinn, einer drohenden Krimininalisierung durch seine Gegner mit abschreckender Gewalt und Eskalation zu begegnen. Relative Absicherung bot da die „Selbstdarstellung als Verteidiger des Adels“ (225), die – hier wie in anderen bekannten Beispielen – Städtefeindschaft als situativ bedingtes Befinden „zwischen Affekt und Strategie“ (235) erweist. Deutlich wird hier, dass die widerstreitenden Rechts- und Politikdiskurse um Legitimität und Legalität des Fehde-Handelns (zuweilen bewusst) aneinander vorbeiliefen und wie gefährlich die zunehmend dichtere Interessengemeinschaft von Fürsten und Reichsstädten in Sachen Gerichtsaustrag zwischen und nach den Städtekriegen für Niederadelige wie einen Hans von Rechberg war. Der umfangreiche Teil V „Fehdeführung und adlige Selbstbehauptung“ gilt der Einfädelung der erzielten Befunde in die Erforschung der Territorialisierungsprozesse in der Region. Hans von Rechberg und sein nahes Umfeld gehörten die längste Zeit nicht zur engeren Klientel und Dienstelite zuvorderst der Grafen von Württemberg, ja um ihn „sammelte sich […] eine ganze Reihe von Personen, die eine Pfändung ihres Besitzes durch Württemberg-Urach befürchten mussten oder ihre Güter unter dem Druck einer solchen Maßnahme verkauft hatten“ (354). Angesprochen sind damit sowohl die variantenreichen Praktiken der Durchsetzung von Landeshoheit, wie die Instrumentalisierung des Rottweiler Hofgerichts für solche Maßnahmen, als auch ökonomische Probleme eines Teils des Niederadels, die wesentlich vielgestaltiger sein konnten, als es der Begriff ‚Agrarkrise‘ suggeriert. Bemerkenswert ist, dass Rechberg für wenige Jahre doch noch sozusagen zum Hofmann wurde, freilich – bezeichnend genug – als ‚homme de guerre‘: Er war nämlich württembergischer Feldhauptmann im Fürstenkrieg gegen die Wittelsbacher. So zahlte sich sein über Jahrzehnte angesammeltes militärisches und soziales Prestige am Ende aus, wenn auch nur flüchtig. Konzen zeigt hier das In-
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teraktionsdreieck Fürstenhöfe – Adlige – Städte in seiner Vielschichtigkeit auf und vermag gleichzeitig, Strukturlinien herauszuarbeiten, ohne das Modernisierungsparadigma zu weit zu ziehen (‚Territoralisierung‘ hin zum ‚Staat‘). Das Buch wird beschlossen durch ein treffendes Fazit, ein Register und einen prosopographischen Katalog von 118 Seiten, in dem die „Verbündeten und Gefolgsleute“ des Protagonisten aufgeführt und eingehender nachgewiesen werden. Das „Netzwerk“ Hans von Rechbergs wird implizit also auch hinsichtlich externer Knoten und Kanten beschrieben. Hierfür und für das ganze Werk hat Niklas Konzen einen enormen Aufwand betrieben: 22 Archive in vier Ländern sowie haufenweise gedruckte Quellenbände wurden gehoben, die eigentlich nichts zu wünschen übrig lassen – außer eine Quellensortierung in der Einleitung. Das gehobene Material erscheint nicht nur in Nachweisform, sondern es wird damit durchweg intensiv gearbeitet und argumentiert. Daraus entsteht bei aller analytischen Durchdringung auch ein erfreulich multiperspektivisches, lebendig-quellennahes Bild, das sich zudem gut liest. Damit hat der Verfasser einen wichtigen Beitrag zur Erforschung nicht nur oberdeutscher Konfliktsysteme und politischer Prozesse im ausgehenden Mittelalter geleistet. Gabriel Zeilinger
Kiel
BETTINA PFOTENHAUER: Nürnberg und Venedig im Austausch. Menschen, Güter und Wissen an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (= Studi. Schriftenreihe des deutschen Studienzentrums in Venedig, Neue Folge XIV). Regensburg: Schnell & Steiner 2016, 604 S., 1 s/w und 11 farb. Abb., (ISBN 978-3-79543052-8), 76,00 EUR. Nürnberger Kaufleute im Fondaco dei Tedeschi, Albrecht Dürer im produktiven Wettstreit mit venezianischen Künstlern, Willibald Pirckheimer als Rezipient der humanistischen Drucke des Aldus Manutius – das Thema „Nürnberg und Venedig im Austausch“ weckt vielfältige Assoziationen und hat bereits in zahlreichen, allerdings häufig älteren und weit verstreuten Studien Beachtung gefunden. Das Verdienst der Münchner Dissertation von Bettina Pfotenhauer liegt nicht nur darin, dass sie eine Fülle an Sekundärliteratur synthetisiert; vielmehr hat sich die Autorin in Archiven nördlich wie südlich der Alpen auf eine eingehende Spurensuche begeben und zahlreiche bislang unbekannte oder wenig beachtete Quellen zusammengetragen, auf deren Grundlage sich ein ausgesprochen facettenreiches Bild der fränkisch-venezianischen Beziehungen zwischen ca. 1400 und 1530 ergibt. Methodisch orientiert sich die Autorin an der qualitativen historischen Netzwerkforschung, an migrationsgeschichtlichen Perspektiven auf Integration und Identität, an Fragen der Kommunikation und des Informationsaustauschs sowie am Konzept des Kulturtransfers. Pfotenhauer identifiziert mehrere Trägergruppen der transalpinen Beziehungen: Neben den in den Quellen dominanten Kaufleuten spielten Handwerker – die sich häufig dauerhaft in der Lagunenstadt niederließen – sowie Pilger und Gelehrte unter den über 400 im Untersuchungszeitraum nachweisbaren Nürnbergern eine
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wichtige Rolle. „Die Heterogenität bei Beruf, Dauer und Motiven ihres Aufenthalts erwies sich“ Pfotenhauer zufolge „als ausschlaggebend für die Einbindung und Integration der Nürnberger in venezianische wie in landsmannschaftliche […] Strukturen“ (64). Für Handwerker wie Kaufleute war Venedig ein wichtiger Ausbildungsort, wobei vor allem die kaufmännische Ausbildung in den Quellen gut dokumentiert ist. Neben Kenntnissen der italienischen Sprache, des Rechnungswesens und der Handelsusancen erwarben angehende Kaufleute hier auch eine „Weltoffenheit“ (72), die kulturelle Transferprozesse ermöglichte. Die während der Auslandslehre geknüpften persönlichen Kontakte „trugen zur Dauerhaftigkeit und Stabilität der Beziehungen beider Städte maßgeblich bei“ (94). Den Handelsund Lebensmittelpunkt der oberdeutschen Kaufleute in Venedig bildete der am Rialto gelegene Fondaco dei Tedeschi, in dem den Nürnbergern aufgrund ihrer langen und intensiven Handelsbeziehungen eine Führungsrolle zukam. Um 1500 lebten einzelne Händler zwar außerhalb des Fondaco, doch auch für diese bildete das deutsche Handelshaus weiterhin einen wichtigen Bezugspunkt. Hinsichtlich der im Nürnberger Venedighandel dominierenden Familien beobachtet Pfotenhauer eine signifikante Verschiebung: Während die um 1400 führenden Mendel, Kress und Rummel in den folgenden Jahrzehnten an Bedeutung verloren, stiegen die Hirschvogel und vor allem die Imhoff um die Mitte des 15. Jahrhunderts zu den führen Venedig-Kaufleuten auf. Die Beziehungen zwischen den im Fondaco tätigen Kaufleuten und der venezianischen Regierung waren „durch das ständige Austarieren von Wohlwollen und Kontrolle geprägt“ (149). Bei einer Reihe fränkischer Kaufleute und Handwerker in Venedig beobachtet Pfotenhauer eine intensive soziale Verflechtung – sowohl mit Landsleuten am Rialto als auch mit Venezianern. Neben Bürgschaften, Vollmachten und Testamenten spielten dabei die Mitgliedschaft in Bruderschaften sowie die exklusiv Nürnberger Gemeinschaft am Altar des Heiligen Sebald in der Kirche San Bartolomeo eine wichtige Rolle. Eine Reihe von Handwerkern, aber auch einzelne Kaufleute wie Franz Hirschvogel, Anton Kolb und Sinibaldo Rizzo integrierten sich dauerhaft in die venezianische Gesellschaft, pflegten jedoch zeitlebens auch intensive Kontakte in ihre Heimatstadt. Pfotenhauer spricht in diesem Zusammenhang wiederholt von einer „doppelte[n] Loyalität“ (223 f., 229, 252). Die besondere Position einzelner Nürnberger Familien im Fondaco bestätigt auch die anschließende Betrachtung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Städten. Der Erfolg der Hirschvogel und vor allem der Imhoff im Venedighandel trug Pfotenhauer zufolge maßgeblich zu ihrem sozialen Aufstieg in ihrer Heimatstadt bei (254–256), und die enge Verflechtung zwischen Patriziat und Kaufmannschaft im spätmittelalterlichen Nürnberg führte dazu, dass die Wahrnehmung der Venedig-Interessen der Letzteren die Ratspolitik der Reichsstadt beeinflusste. Fränkische Kaufleute erwarben in Venedig ein breites Spektrum an Waren – insbesondere Spezereien und Erzeugnisse der italienischen Luxusgewerbe –, setzten dort Metallwaren ab und tätigten zunehmend auch Bankgeschäfte, bei denen es zu einer Übernahme venezianischer Finanztechniken kam. Ihr privilegierter Zugang zu Venedig stellte für Nürnbergs Kaufleute „einen entscheidenden Motor des wirtschaftlichen Erfolgs dar“ (297) und verhalf der
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Reichsstadt zu einer zentralen Mittlerstellung bei der Distribution von Gewürzen und Luxuswaren nördlich der Alpen. Venezianische Waren erfüllten zudem Repräsentations- und Distinktionsbedürfnisse der reichsstädtischen Oberschicht. Flankiert wurden die wirtschaftlichen Beziehungen durch einen intensiven Informationsaustausch, für den zunächst die Geschäftsbriefe von Kaufleuten, ab etwa 1500 dann das Medium der „Neuen Zeitungen“ eine wichtige Rolle spielte. Insbesondere für die Verbreitung von Nachrichten über die Expansion des Osmanischen Reichs, die sowohl aus der Lagunenstadt als auch aus Ungarn einliefen, fungierte Nürnberg als Knotenpunkt. Einige handgeschriebene Zeitungen aus Venedig dienten nachweislich als Vorlagen für Nürnberger Drucke. Abschließend betrachtet Pfotenhauer den vor allem vom Süden in den Norden verlaufenden Transfer von Büchern und die damit einhergehende Diffusion humanistischen Gedankenguts. Humanisten wie Willibald Pirckheimer verfügten über ein regelrechtes Netzwerk von Bucheinkäufern in Venedig, das sich durch die Präsenz einer großen griechischen Gemeinde und die hohe Qualität des Buchdrucks zu einem Zentrum der Produktion gelehrter Werke entwickelte. Insbesondere die Erzeugnisse der Offizin des Aldus Manutius erfreuten sich hoher Wertschätzung. Ein Vergleich der Bibliotheken Pirckheimers, Hieronymus Münzers und Hartmann Schedel lässt sowohl einen hohen Anteil venezianischer Drucke als auch einen gemeinsamen „Kanon bevorzugter Autoren“ erkennen (377). Der transalpine Büchertransfer stärkte Nürnbergs Zentralitätsfunktion auch im Bereich der Humanismusstudien. Zwischenresümees, die am Ende der jeweiligen Hauptkapitel nochmals zusammengefasst werden, erleichtern dem Leser die Orientierung, führen jedoch auch zu einigen Wiederholungen. Auch innerhalb der Kapitel kommt es vereinzelt zu Redundanz. Davon und von einigen kleinen Fehlern abgesehen – in Augsburg gab es keine Handelsgesellschaft „Ulrich Fugger und Söhne“ (262 f.) und in Bamberg um 1500 noch keinen Erzbischof (288) – ist diese detaillierte und facettenreiche Studie ausgesprochen lesenswert. Nicht zuletzt die umfangreiche Bibliographie, die Liste aller in Venedig nachgewiesenen Nürnberger im Anhang (467–482) sowie die ausführlichen Register machen das Buch zum zentralen Referenzwerk für dieses Thema. Mark Häberlein
Bamberg
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3. Frühe Neuzeit SUSAN RICHTER, ARMIN KOHNLE (Hg.): Herrschaft und Glaubenswechsel. Die Fürstenreformation im Reich und in Europa in 28 Biographien (= Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte 24), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2016, 493 S., 29 Abb., (ISBN 978-3-8253-6656-8), 78,00 EUR. Die historische Forschung hat verschiedene ‚Herde‘ ausgemacht, von denen aus sich die lutherische Reformation – mancherorts als Lauffeuer, andernorts als Schwelbrand – ausbreitete. Als Initiatoren und Multiplikatoren wurden urbane und ländliche Gemeinden (Peter Blickle) ebenso identifiziert wie (reichs-)städtische Magistrate (Bernd Moeller) oder prominente Einzelpersonen, oft Geistliche. In der Lutherdekade rückte auch die zentrale Bedeutung der Territorialfürsten wieder stärker ins Bewusstsein der Forschung. Ausdruck dessen war bereits die Torgauer Sonderausstellung „Luther und die Fürsten“ von 2015. Den Fürsten als reformatorischen Akteuren widmete sich besonders der Heidelberger Historiker Eike Wolgast, dem der hier zu besprechende Band zum 80. Geburtstag zugedacht wurde. Anhand von 28 Biographien präsentierte er pünktlich zum Beginn des 500. Reformationsjubiläums die neuesten Forschungsergebnisse zum Themenkomplex der Fürstenreformation. Im Band werden 19 deutsche Fürsten des Reformationszeitalters vorgestellt, darunter mit Elisabeth von Sachsen und Elisabeth von Braunschweig-Calenberg auch zwei Fürstinnen. Sie alle waren Zeitgenoss(inn)en Martin Luthers. Ein Schwerpunkt liegt auf den sächsischen, aber auch auf den brandenburgischen Territorien und ihren Herrschern. Es folgen acht Herrscher und zwei Herrscherinnen aus dem europäischen Ausland. Die Autoren versuchen durch ihre biographischen Studien ein „Mosaikbild“ (8) zu vervollständigen, um die abstrakte Idee der Implementierung von Reformation an fürstlichen Persönlichkeiten zu konkretisieren. Als „Reformationsfürsten“ werden dabei diejenigen Landesherren verstanden, die bei der Einführung der Reformation in ihren Territorien „der ausschlaggebende Faktor“ (10) gewesen seien. Deren Motivationen offenzulegen, ist die erklärte Aufgabe der biographischen Skizzen, in denen leitmotivisch das Modell des Change Management nach Kurt Lewin (1890–1947) mehr oder weniger konsequent auf die Landesherren angewandt wird. Konsequenterweise wird die Rolle der Reformationsfürsten als die von „Manager[n] des konfessionell-politischen Wandels“ (16) verstanden. Es handelt sich somit um eine Sammlung problemorientierter Biographien, die sich mit dem konfessionell-politischen Handeln ihrer Protagonisten auf einen ganz konkreten Aspekt konzentrieren. Die betrachteten Herrscher standen indes nicht für sich allein: Susan Richter charakterisiert sie in der Summe als Herzstück einer nicht zuletzt durch intensive verwandtschaftliche Verbindungen ihrer Häuser geprägte „Reformationsfürstengemeinschaft“ (20), deren Mitglieder sich austauschten, aneinander orientierten oder aber sich bewusst voneinander abgrenzten.
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Die wettinischen Fürsten hatten sich bereits vor 1500 erfolgreich um den Aufbau des vorreformatorischen landesherrlichen Kirchenregiments und eine zumindest teilweise administrative Lösung von der römischen Kirche bemüht. Ihrer Dynastie gehörten gleich mehrere Fürsten an, die unleugbar in der ersten Reihe der Reformationsfürsten zu verorten sind. Im Sammelband sind sie mit den Ernestinern Friedrich dem Weisen, seinem Bruder Johann, den Stefan Michel im Hinblick auf seine Verdienste um den Schutz und die Durchsetzung der Reformation „zu Unrecht im Schatten seines älteren Bruders“ (48) stehen sieht, und dessen Sohn Johann Friedrich ebenso prominent vertreten wie mit den Albertinern Heinrich, Moritz und Elisabeth von Sachsen. Dass sich der Einsatz für die Reformation auch abseits von religiöser Überzeugung auszahlen konnte – letztere wird unter anderem Friedrich III. von der Pfalz (Frieder Hepp), Ottheinrich von Pfalz-Neuburg (Michael Roth) oder Georg von Brandenburg-Ansbach-Kulmbach (Gregor Stiebert) von ihren Biographen attestiert –, zeigt Armin Kohnle, der Wolfgang von Anhalt und Albrecht von Mansfeld aufgrund vergleichbarer Parameter gemeinsam vorstellt. Für beide zeitigte das Bekenntnis zur Reformation letztlich auch politische Vorteile: Der mindermächtige Reichsfürst Wolfgang stieg als Unterzeichner der Speyerer Protestation von 1529 und des Augsburger Bekenntnisses von 1530 in die Riege der großen Reformationsfürsten wie Johann von Sachsen und Philipp von Hessen auf. Albrecht von Mansfeld, dem als Reichsgraf nicht mehr als eine „Statistenrolle auf den Reichstagen“ (141) zukam, ragte fortan durch seine entschiedene Parteinahme aus der Masse der mindermächtigen Reichsstände heraus. Dennoch bezeichnet Kohnle beide als „Überzeugungstäter“ (144), die ihr evangelisches Bekenntnis nicht nur nutzten, um ihre rechtliche und ökonomische Situation zu verbessern, sondern auch erhebliche Opfer dafür brachten. Wie Franz Brendle in seiner Kurzbiographie Ulrichs von Württemberg resümiert, sei es bei einem Fürsten des 16. Jahrhunderts letztlich aber ohnehin „müßig, die politische Räson und die persönliche Glaubensüberzeugung gegeneinander aufzurechnen“ (151), denn – so Oliver Plate – dies bedeute eine im Prinzip anachronistische, „künstliche Trennung der eng verschmolzenen Sphären der Politik und Religion“ (369). Neben ihrer persönlichen Gewissensentscheidung waren die Landesherren zudem in verschiedene Netzwerke und Abhängigkeiten eingebunden und mussten entsprechende Rücksichten nehmen, was das Handeln einzelner Fürsten unter Umständen sogar ambivalent erscheinen lassen konnte. Oliver Plate sieht Wilhelm I. von Oranien als religiös-politischen Strategen, wenn nicht sogar Opportunisten, seine Glaubensübertritte als „pragmatische Handlung[en]“ (366). Er eröffnet den Reigen der europäischen Fürstenbiographien. Einen gewinnbringenden Ansatz vertritt Susan Richter in ihrer Analyse letztwilliger Verfügungen, die sie als „dynastisch-politische und konfessionelle Planungs- und Strategiepapiere“ (391) einstuft. Mittels dieser Instrumente nähert sie sich der persönlichen Haltung der Fürsten und identifiziert die Dokumente als „Medium intergenerationeller Steuerung des konfessionellen Wandels“ (400). Anstelle von Testamenten geht Martin Schwarz bei Christian II. und Christian III. von Dänemark von einer anderen Quellengattung aus: Er untersucht die (konfes-
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sionelle) Haltung und Zielsetzung der Herrschenden anhand von Kirchenordnungen. Ein Blick auf die konfessionelle Landkarte Europas lässt bereits erahnen, dass im Mittelpunkt der Biographien europäischer, nicht ins Reich eingebundener Fürsten, die die zweite Hälfte des Bandes bereithält, zum großen Teil Herrscher stehen, denen letztlich nicht das Prädikat „Reformationsfürst“ gebührt. Franz I. von Frankreich (Sven Externbrink) etwa musste sich zwar mit dem Phänomen der Reformation auseinandersetzen, entschied sich aber gegen sie. Jakob V. von Schottland (Sebastian Meurer) betrachtete die Reformation in erster Linie als „außenpolitische Angelegenheit“ (451). Sein ‚reformatorisches Engagement‘ beschränkte sich darauf, dass unter seiner Herrschaft „die Verfolgung von Protestanten eher zurückhaltend“ ausfiel (462). Offenbleiben muss die Frage nach der Motivation für die Einführung der Reformation laut Elisabeth Natour für die englische Königin Elisabeth I., deren Eifer nicht über die Überwachung der vorgeschriebenen äußerlichen Konformität hinausging. Die konfessionell deutbaren Äußerungen ihres Halbbruders Eduard VI. sind freilich schon aufgrund seines jugendlichen Alters mit Vorsicht zu betrachten, Konkret werden sie nur in Querelen mit seiner katholischen Halbschwester Maria Tudor greifbar. Sie zeugen laut Sebastian Schütte sogar eher vom Verhalten „eines pubertierenden kleinen Bruders im Angesicht seiner wesentlich älteren Schwester“ (429) als von tatsächlichem konfessionellem Bewusstsein. Trotz einiger Lücken ist eine Sammlung von Lebensbildern gelungen, die den Typus des Reformationsfürsten und der Reformationsfürstin in einer bisher nicht dagewesenen Form präsentiert. Auch die reformatorischen Errungenschaften bislang vernachlässigter Fürsten wie Friedrich II. von der Pfalz finden darin einen würdigen Rahmen, wenngleich seine Regierung und die seines Neffen Ottheinrich, so Frieder Hepp, als „religionspolitische Kontinuität“ (335) zu betrachten seien und auch so behandelt hätten werden sollen. Während das doppelbiographische Experiment zu Wolfgang von Anhalt und Albrecht von Mansfeld nicht vollends überzeugt, hätte sich ein solches Vorgehen zur Vermeidung von Redundanzen bei einigen anderen im Band behandelten Fürsten durchaus angeboten, so bei Ulrich und Christoph von Württemberg, zumal ja Christophs territoriale Reformationspolitik, wie die jüngere Forschung verdeutlicht hat, mannigfache Kontinuitäten zu derjenigen seines Vaters Ulrich aufweist. Auch bei Moritz von Sachsen und seinem Vater Heinrich wäre eine Zusammenschau zu erwägen gewesen. Die Biographiensammlung zeigt in ihrer zweiten Hälfte schließlich, dass es sich bei der Reformation um ein europäisches Phänomen handelte. Mit Dänemark, Schweden, den Niederlanden, Frankreich, England und Schottland werden hier Länder berücksichtigt, deren Monarchen sich ebenso wie die deutschen Landesfürsten mit der Reformation auseinanderzusetzen hatten, wenngleich in unterschiedlichem Maße und mit teils konträrem Ausgang. Das Verdienst des Sammelbandes liegt somit vor allem darin, die Breite des Spektrums herrscherlichen Verhaltens angesichts der Reformation zu demonstrieren sowie die vielfältigen Initiativen und Strategien der weltlichen Mächte zu veranschaulichen, eine Symbiose mit dem
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Luthertum einzugehen – oder sich zumindest durch die kritische Auseinandersetzung mit seiner Lehre für eigene konfessionell-politische Wege zu entscheiden. Andreas Flurschütz da Cruz
Bamberg
WERNER FREITAG: Die Reformation in Westfalen. Regionale Vielfalt, Bekenntniskonflikt und Koexistenz. Münster: Aschendorff 2016, 383 S., (ISBN 978-3402-13167-1), 29,80 EUR. Pünktlich zum Jubiläumsjahr 2017 hat der an der Universität Münster lehrende Historiker Werner Freitag ein umfangreiches Gesamtpanorama vorgelegt, das die vielfältigen Wege, Erscheinungsformen und Auswirkungen der Reformation in Westfalen darlegt. Erklärtes Ziel der Monographie ist es, „die Reformation in Westfalen sowohl in die lokalen und regionalen Kontexte einzubinden als auch Überlegungen der überregionalen Forschung mit ihr zu verbinden“ (10), wobei die innerwestfälisch-vergleichende Perspektive eindeutig den methodischen Schwerpunkt bildet. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Charakterisierung des historischen Westfalen um 1520 als Region, die sich aus ganz unterschiedlichen kleinen und mittleren Territorien sowie zahlreichen Städten zusammensetzte. Trotz dieser unverkennbaren Heterogenität bildete Westfalen, wie Freitag in Anlehnung an Peter Johanek einleitend hervorhebt, zu Beginn des Reformationszeitalters sehr wohl einen übergreifenden „Traditionszusammenhang“ und „Kommunikationsraum“ (12). Ein zentrales Ergebnis wird gleich anfangs präsentiert: Korrespondierend mit der territorialen Vielfalt Westfalens ergibt sich auch im Hinblick auf den Verlauf der Reformation in den westfälischen Landen kein homogener Befund. Es gab laut Freitag nicht die eine westfälische Reformation. Vielmehr blieben einige Städte und Territorien katholisch, andere setzten das lutherische Bekenntnis um, wiederum andere orientierten sich am Calvinismus, oder es bildeten sich Mischformen bzw. Formen der Koexistenz heraus. All dies vollzog sich in der Regel in evolutionärer und nicht in bruchartiger Weise. Diesen vielschichtigen Prozess detailliert und analytisch differenziert aufgezeigt zu haben, ist das besondere Verdienst der vorliegenden Arbeit. Der Verfasser wählt hierzu keinen chronologischen, sondern einen systematisch-typologisierenden Zugriff, wobei eine erkennbare Schwierigkeit darin besteht, dass die Quellen- und Literaturgrundlage für die jeweiligen Territorien und Städte sehr unterschiedlich ist; bisweilen fehlen entsprechende Quellenbestände und Studien. Grundsätzlich differenziert werden die Stadt-, Territorial-, Adels-, Pfarrer- und Gemeindereformation sowie die humanistische Reform. Bereits dies lässt erkennen, dass die Reformation in Westfalen keineswegs allein als Werk Luthers angesehen werden kann. Vielmehr verweist Freitag auf zahlreiche Akteure jenseits der „großen Gestalter“ und intellektuell-theologischen Eliten, die im Sinne einer „Bewegung von unten“ maßgeblichen Anteil an den vielfältigen religiösen Veränderungen hatten, die unter dem Begriff Reformation subsumiert werden. Westfalen war demzufolge auch keine Region, „in der ein mächtiger Landes-
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herr mithilfe beauftragter Reformatoren von ‚oben‘ das neue Bekenntnis einführte, qua Visitation Pfarrer disziplinierte und eine neue, gut strukturierte Kirchenverwaltung aufbaute“ (349). Wenn die Fürstbischöfe die Reformation ablehnten oder sich indifferent verhielten, dann gab es durchaus Spielräume für Adel, Dorfpfarrer und Landgemeinden, eigenständig die Reformation zu fördern. Die Folge war, dass sich zum Teil sogar innerterritorial regelrechte konfessionelle Flickenteppiche herausbildeten, wie das Beispiel der Grafschaft Mark besonders eindrucksvoll demonstriert. Mit dem Fürstbistum Minden war nur ein größeres geistliches Territorium um 1580 nahezu vollständig lutherisch geprägt. Dass die Reformation in Westfalen trotz der vermeintlich „heilen katholischen Welt“ um 1520, deren Skizzierung den Auftakt der Arbeit bildet, Fuß fassen konnte, führt der Verfasser auf ein ganzes Bündel von Ursachen zurück. Hierzu zählen insbesondere die Kritik an den Privilegien der alten Kirche, die Freitag zutreffend als Riese auf tönernen Füßen bezeichnet, ferner die Zunahme von Herrschaftsbefugnissen der Territorialherren, der Wunsch nach einer Verbesserung der Seelsorge, die Einführung eines veränderten Gottesdienstes (Deutsche Messe), die Aufwertung der Laien und nicht zuletzt auch die offenkundige Faszination, die von dem bibelzentrierten Bezug auf das Wort Gottes ausging. Als maßgebliche Kriterien für einen erfolgreichen Verlauf der Reform werden genannt: erstens die Durchsetzung des neuen Bekenntnisses (im Sinne Luthers oder der Confessio Augustana von 1530), zweitens die Einführung der Deutschen Messe sowie drittens ein neues, durch Ordnungen geregeltes Kirchenwesen. All dies vermag uneingeschränkt zu überzeugen. Insgesamt ist Werner Freitag eine ebenso faktenreiche wie synthetisierende Gesamtdarstellung gelungen, die sowohl dem Spezialisten als auch dem historisch Interessierten umfangreiches lokales bzw. regionales Anschauungsmaterial bietet, das durch ein hilfreiches Glossar und ein Ortsregister gut erschließbar ist. Insofern ist dem Verfasser im Hinblick auf seine eingangs der Arbeit geäußerte Hoffnung, dass dieses Buch dazu dienen möge, „das Wissen über die Reformation in Westfalen kompakt aufzubereiten, die lokalen Geschehnisse in größere Zusammenhänge zu stellen und neue Forschungsfragen aufzuzeigen“ (20), zu bescheinigen, dass er diese Zielsetzungen voll und ganz erreicht hat. Michael Rohrschneider
Bonn
BENJAMIN HITZ: Kämpfen um Sold. Eine Alltags- und Sozialgeschichte schweizerischer Söldner in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015, 385 S., (ISBN 978-3-412-22494-3), 49,90 EUR.. Spätestens seit ihren Erfolgen in den Burgunderkriegen des späten 15. Jahrhunderts waren eidgenössische Söldner, denen ihr Ruf als „unschlagbare Kampfmaschinen“ (André Holenstein) vorauseilte, auf den europäischen Kriegsschauplätzen als Fußtruppen überaus gefragt. Die Erinnerung an dieses Phänomen war lange Zeit vor allem eine Geschichte der Söldnerführer und Offiziere. Benjamin Hitz befasst sich in seiner im Projekt „Menschen als Ware“ an der Universität Luzern
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entstandenen Dissertation mit den Spuren, die einfache Söldner in den Quellen, v. a. in Gerichtsakten, hinterlassen haben, um aus ihnen Rückschlüsse auf deren Lebensalltag zu ziehen und auf dieser Grundlage eine Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Söldner im Luzerner Solddienst der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu schreiben. Inspiriert wird der Autor dabei von der jüngeren deutschen Militärgeschichte, die seit Jan Petersʼ Auseinandersetzung mit Peter Hagendorf verstärkt auch „einfache“ Akteure in den Fokus rückt. Der Autor beackert fünf Themenfelder: Er untersucht (1) den Söldneralltag, (2) das Verhältnis zwischen Hauptleuten und Söldnern mit herausstechenden Momenten wie Meutereien und Desertion, (3) die desolate Mikroökonomie des Solddienstes während der Dienstzeit und (4) nach deren Ende sowie (5) den zeitgenössischen Solddienstdiskurs. Hitz zeigt in acht Kapiteln die Ansichten, normativen Vorstellungen und Handlungsoptionen auf, über die einzelne Akteure verfügten, und kontextualisiert die Situation seiner Protagonisten innerhalb eines freien Söldnertums, das sich im 16. Jahrhundert zu wohl organisierten und von den gesellschaftlichen Eliten kontrollierten Streitkräften wandelte und von Pensionen und politischen Karrieren dominiert wurde. Einen Schwerpunkt legt er auf die Zeit nach dem Solddienst, in der Söldner versuchten, das ihnen Zustehende einzuklagen. Der Kampf beschränkte sich nämlich nicht auf das Schlachtfeld. Vielmehr mussten sie auch um das ihnen zustehende Geld kämpfen, was Hitz bereits im Titel andeutet. Der Alltag der Söldner war laut Hitz von einer „Zweischneidigkeit“ (69) zwischen Ausschweifung und Entbehrung geprägt. Die Strapazen des Solddienstes bestanden vor allem im Ausharren und im Marschieren; nur in Ausnahmesituationen kam es tatsächlich zum Kampf. Krankheiten bildeten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vermutlich die häufigste Todesursache in den eidgenössischen Truppen und stellten zusammen mit der ständig nötigen Improvisationskunst zur Beschaffung von Nahrungsmitteln nahezu die einzige Konstante im Söldnerleben dar. Hitz’ Untersuchungen bestätigen die Thesen Bernhard Kroeners, „daß zu keinem Zeitpunkt des Krieges eine ausreichende Versorgung der Truppe gewährleistet war“ (97). Der informelle Zusammenschluss zu so genannten Bursten erleichterte die Bewältigung solcher organisatorisch-logistischer Herausforderungen. Das hierarchisch strukturierte Verhältnis zwischen Söldnern auf der einen, Hauptleuten und Obrigkeit auf der anderen Seite beleuchtet Hitz aus beiderlei Perspektiven und konstatiert eine „soziale Kluft, die sie trennte“ (115). Direkte Kontakte zwischen Söldnern und Hauptleuten waren selten. Während der Dienst der militärischen Eliten als gut dokumentiert gelten kann, blieb der durchschnittliche Söldner des 16. Jahrhunderts namenlos. Nur im Ausnahmefall – bei Desertion, Straftaten oder Konflikten mit Hauptleuten – werden einzelne Namen fassbar. Die soziale Struktur des Kantons Luzern sieht Hitz mit ihrer Hierarchie im Solddienst reflektiert: „je näher beim Zentrum, desto höher der militärischen [sic] Grad, je weiter weg von der Hauptstadt, desto dichter die Rekrutierung von Kanonenfutter“ (124 f.). Das Spektrum der Dienstwilligen und -tuenden war groß und beschränkte sich keineswegs auf junge Männer zwischen Adoleszenz und Heirats-
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fähigkeit und ebenso wenig auf Luzerner, wie es die Statuten eigentlich vorsahen. Solddienst war auch am Ende des 16. Jahrhunderts „keineswegs ein Unterschichtenphänomen“ (131). Es war standesgemäße Beschäftigung und wichtige Einkommensquelle für die Luzerner Elite, die sowohl die Hauptleute stellte als auch die Truppenzusammenstellungen organisierte und erhebliche Pensionen erhielt. Die Mikroökonomie des Soldwesens war eine über weite Strecken nicht funktionierende. Der Sold, dessen Höhe nicht nur eine diachrone Entwicklung durchlief, sondern auch synchron stark variierte, wurde eher „als Versprechung und nicht als sichere Gegenleistung für den Dienst“ (189) betrachtet. Eine regelmäßige monatliche Bezahlung wie in den Verträgen vorgesehen war daher eher Ausnahme als Regel. Dessen waren sich alle Beteiligten bewusst. Alternativen fanden die Söldner in Nebenerwerbstätigkeiten, in der Aufnahme von Krediten und im Plündern. Man kalkulierte mit dem Faktor Beute als einem legalen und „selbstverständlichen Teil der Solddienstökonomie“: Sie war eine nahezu budgetierte „Einkommensquelle, die sich nicht nur ergab, sondern aktiv bewirtschaftet wurde“ (221). Die häufig prekäre Finanzsituation der Söldner hatte zudem Auswirkungen auf deren Familien zu Hause, was Hitz anhand einer Almosenliste von 1590 veranschaulicht. In der Zeit nach dem Solddienst, die bisher kaum untersucht wurde und deshalb einen Schwerpunkt bildet, versuchte der Einzelne seine während der Dienstzeit als Soldguthaben angehäuften Ansprüche gegenüber dem Dienstherrn geltend zu machen. Um 1560 wurde die Rückkehr ohne vorherige Auszahlung des vollen Solds im Sinne planmäßiger Schuldenwirtschaft zur Normalität. Um an ihr Geld zu kommen, konnten Söldner klagen oder ihre Ansprüche weiterveräußern: Das Aufkaufen von Sold war „eine lukrative, aber sehr langfristige Kapitalanlage“ (259). Mit dem Tod eines Söldners erloschen dessen Ansprüche nicht, sondern konnten durch die Erben weiterverfolgt werden, da auch „tote Söldner […] in einem Geflecht von Schulden und Guthaben gegenüber verschiedenen Personen und Institutionen steckten“ (294). Oft genug wurde der Soldanspruch allerdings zum zwar allgemein anerkannten, schlussendlich aber uneinlösbaren Guthaben, weil die Hauptleute, die von den Fürsten oft selbst nicht bezahlt wurden, ihn nicht an die Söldner ausbezahlen konnten. Hitz’ Beispiele zeigen neben tatsächlich (wenngleich manchmal nur mit großer Kreativität) erfassbaren Aspekten des Alltagslebens eidgenössischer Söldner auch die Schwierigkeit auf, sich ihnen zu nähern. So analysiert Hitz den Prozess um einen Totschlag auch dahingehend, dass er nach der Sättigungsbeilage des bei dieser Gelegenheit gereichten Gänsebratens und nach den Eigentümern der Töpfe fragt, in denen dieser zubereitet wurde (96). Sein Verdienst besteht somit darin, Quellen mit völlig anderer Intention für seine Fragestellung fruchtbar gemacht zu haben. Freilich führen sie oft nur zu weiteren Fragen statt zu Antworten. Hitz aber erkennt die Grenzen seines methodischen Ansatzes und strapaziert seine Befunde nicht. So bestätigen die von ihm untersuchten Gerichtsprozesse etwa den Topos des saufenden Söldners, der sich an keine moralischen Gebote hält. Der Versuchung, daraus zu schließen, dass die große Mehrheit der Söldner zu oft zu viel Alkohol konsumierte und sich anderen Lastern hingab, erliegt Hitz allerdings
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nicht, sondern wahrt den kritischen Blick auf seine der Überlieferungssituation geschuldete Quellenauswahl und ist sich der Tatsache bewusst, dass der weitaus größere, friedliche und unspektakuläre Teil des Alltags sich in ihr nicht fassen lässt. Wenn bei ihm die schlechte Behandlung der frühneuzeitlichen Söldner im Mittelpunkt steht, heißt das für ihn nicht, dass ein freundschaftlicher Umgang ausgeschlossen war – ein solcher produzierte schlichtweg keine schriftlichen Quellen. Die Fokussierung auf den Söldnern ihren Namen gebenden Sold, die sich schon im Titel andeutet, scheint freilich etwas verkürzt. Ging es dem Söldner wirklich nur um Sold? Waren Plünderung und Gewalt nur die Folgen nicht ausbezahlter Ansprüche, oder waren sie nicht vielmehr ein fundamentaler, davon unabhängiger Teil der Lebenswelt? Auch Hitz stellt am Rande die Frage, ob alternative Einkommensquellen vielleicht sogar wichtiger waren als der Sold, und erwägt, dass es die Beute gewesen sein könnte, die den Söldnerberuf attraktiv machte (245). Immerhin gab es sogar Freiwillige, die auch ohne Soldvertrag und somit ohne regelmäßige Bezahlung in den Krieg zogen. Letztlich erscheint dem Autor Beute bei der Bestreitung des Alltags zwar wichtig, insgesamt aber sei sie weniger bedeutsam gewesen (244 f.). Dieser leicht disparate Befund mag auch darin begründet sein, dass Beute und Beutemärkte bei Schlachten und der Erstürmung von Städten nicht annähernd so konsequent dokumentiert wurden wie Soldansprüche. Insgesamt ist Benjamin Hitz eine großartige und anregende Arbeit gelungen. Er schreibt mit seiner Sold- und Söldnergeschichte keine lokalgeschichtliche Arbeit, sondern unternimmt vielmehr den Versuch, die Funktionsweise des Solddienstes am konkreten Beispiel möglichst umfassend zu erläutern und damit auch die Möglichkeit zum Vergleich mit anderen Gebieten zu schaffen, die hoffentlich wahrgenommen werden wird. Andreas Flurschütz da Cruz
Bamberg
TIM NEU: Die Erschaffung der landständischen Verfassung. Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509–1655) (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2013, 581 S., 5 s/w Abb., (ISBN 978-3-412-20980-3), 79,90 EUR. Im Zentrum dieser mehrfach preisgekrönten Münsteraner Dissertation steht die Frage nach Kontinuität bzw. Diskontinuität bei der Entstehung einer landständischen Verfassung in der Landgrafschaft Hessen(-Kassel). Tim Neu geht dabei von dem Paradox aus, dass frühneuzeitliche politische Akteure und Juristen zwar stets die Kontinuität und Stabilität der Herrschaftsordnung betonten, die tatsächliche Entstehung einer landständischen Verfassung – verstanden als institutionalisierte politische Partizipation sozial heterogener, korporativ verfasster und die Gesamtheit der Untertanen repräsentierender Landstände in Form eines Landtags (58–60) – aber zumindest in Hessen mit starken Brüchen und Zäsuren einherging. Diese Diskontinuitäten seien in der Argumentation der Zeitgenossen gleichsam kaschiert worden, indem neue Institutionen und Änderungen der Herrschaftsordnung nach-
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träglich diskursiv legitimiert und mit dem ‚alten Herkommen‘ in Einklang gebracht wurden. Obwohl es im 16. Jahrhundert in Hessen noch keine landständische Verfassung im Sinne der obigen Definition gegeben habe und diese tatsächlich erst im frühen 17. Jahrhundert entstanden sei, wurde deren Legitimität in den Ständekonflikten der folgenden Jahrzehnte diskursiv derart gefestigt, dass sie in den Vergleich, der die Ständekonflikte 1655 beendete, als fester Bestandteil der etablierten Herrschaftsordnung Eingang fand. Dieses hier grob skizzierte Kernargument wird im Anschluss an eine konzise Zusammenfassung der Ständeforschung sowie die Vorstellung des die Untersuchung leitenden Konzepts einer Kulturgeschichte des Politischen (13–95) in drei chronologischen Schritten entwickelt. Obwohl es bereits während der Auseinandersetzungen um die Vormundschaft für den minderjährigen Landgrafen Philipp (1504–1567) zu Ansätzen einer Ständebildung gekommen war und Philipp selbst während seiner langen Regierungszeit im Kontext der Erhebung von Reichssteuern wiederholt Landtage einberief, führte dies noch nicht zur Ausbildung einer landständischen Verfassung, sondern allenfalls zu einer „Form ständisch supplementierter Fürstenherrschaft“ (174). Entscheidende Strukturmerkmale, die diesen Landtagen fehlten, waren die korporative Geschlossenheit und der Anspruch auf alleinige Vertretung des Landes; stattdessen berief der Landgraf situativ auch Ritter-, Stände- und Ausschusslandtage ein, und nach der Landesteilung von 1567 bildeten sich überdies eigene Landtage in den Teilfürstentümern heraus (97–178). Die Entstehung einer landständischen Verfassung im vollen Wortsinn ist Neu zufolge zwischen den 1590er Jahren und dem Exil des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel im Jahre 1623 anzusetzen (179–281). Nun reklamierten die Partikularlandtage in Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel die Repräsentation der gesamten Untertanenschaft für sich, was Neu als „normative Zentrierung“ begreift (192, 198). Ein Fall von Heuchelei liegt insofern vor, als die „Landkommunikationstage“ genannten Ständevertretungen in den Teilfürstentümern jeweils für sich in Anspruch nahmen, für ganz Hessen zu sprechen. Zudem intensivierten sich in dieser Phase im Zuge der Einführung einer neuen Landsteuer und des Marburger Erbfolgestreits die Beziehungen zwischen Fürst und Ständen, was eine Verstetigung der Landkommunikationstage nach sich zog. Bemühungen des Landgrafen Moritz, das Verfahren der Steuerbewilligung durch die Einberufung von Ausschuss- und Kurienlandtagen zu vereinfachen, scheiterten am Widerstand der Landstände (237 f., 279–281). Die Diskrepanz zwischen der Praxis der Partikularlandtage, die sich zwischen 1609 und 1620 institutionell verfestigt hatten, und der Norm gesamthessischer Landtage wurde erst in der folgenden Zeitperiode gelöst, die mit den Wirren des Dreißigjährigen Krieges einsetzte und mit dem Vergleich zwischen Landgräfin Amalie Elisabeth von Hessen-Kassel und den Landständen 1655 endete (283– 476). Die Ständekonflikte um die Mitte des 17. Jahrhunderts sind in den letzten Jahren zwar wiederholt Gegenstand von Untersuchungen gewesen, doch während sich Armand Maruhn und Robert von Friedeburg auf die Genese zentraler Konzepte wie neccessitas und patria konzentrierten, betrachtet sie Neu aus der Perspektive der Verfassungsentwicklung und gelangt dadurch zu teilweise neuen
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Einsichten. Verkompliziert wurde die Lage in dieser Phase dadurch, dass sich die Ritterschaft seit 1623 als neuer Akteur konstituierte und auf der Basis des ‚alten Herkommens‘ und des Gemeinwohlgedankens einen eigenständigen Repräsentationsanspruch formulierte, was zu einer „Destabilisierung der landständischen Verfassung“ führte (470). Erst die Aufgabe dieses Anspruchs ermöglichte 1655 die Festschreibung einer Herrschaftsordnung, die den Landständen die alleinige Repräsentation des Landes gegenüber dem Landesherrn zugestand. Damit kam zugleich ein Prozess der nachträglichen Theoretisierung und Legitimierung der landständischen Verfassung mittels zeitgenössischer juristischer und politiktheoretischer Konzepte zum Abschluss. Insgesamt hat Tim Neu eine eindrucksvolle Studie vorgelegt, die sich zwar auch als gewichtiger Beitrag zur frühneuzeitlichen Geschichte Hessens lesen lässt, deren Signifikanz aber weit über das konkrete territoriale Fallbeispiel hinausgeht. Vielmehr liegt mit dieser theoretisch reflektierten, methodisch umsichtig vorgehenden und klar argumentierenden Untersuchung, die trotz ihres erheblichen Umfangs und hohen Anspruchs streckenweise ausgesprochen spannend zu lesen ist, geradezu ein Musterbeispiel einer Kulturgeschichte des Politischen vor, die grundlegende Einsichten in die Genese und das Funktionieren von Herrschaft in der Frühen Neuzeit eröffnet. Mark Häberlein
Bamberg
BRITTA SCHNEIDER: Fugger contra Fugger. Die Augsburger Handelsgesellschaft zwischen Kontinuität und Konflikt (1560–1597/98) (= Studien zur Fuggergeschichte 36), Augsburg: Wißner 2016, 440 S., 10 Abb., (ISBN 978-3-95786-0521), 29,80 EUR. Die – um es gleich vorwegzunehmen – vorzügliche Bamberger Dissertation führt uns ein in die Geschichte der Fugger-Familie und -Unternehmung der Zeit nach Anton Fugger (†1560), die unter dem Regierer Marx Fugger (1563–1597) von einer deutlich höheren Zahl an innerfamiliären Konflikten geprägt war als in früheren Generationen. Zu deren Beilegung waren die bereits vorhandenen firmen- und familieninternen Konfliktlösungsmechanismen vielfach nicht mehr ausreichend, so dass die – mehrfach auch grundsätzliche – Entscheidung einer Streitfrage vor Gericht gesucht wurde. Dieses bewusste Treten an die Öffentlichkeit erweist sich für – in diesem Falle – die Historikerin als ein besonderes Glück, gewähren doch die daraus entstandenen Gerichtsakten in Verbindung mit bekannten und bislang unbekannten Quellen aus dem Fugger-Archiv tiefe Einblicke in die Entwicklung der – nach der Abspaltung der Georg Fuggerischen Erben 1578 – beiden Fugger-Unternehmungen und vermitteln darüber hinaus Mechanismen und Strategien der Konfliktlösung, die zumindest in der Fugger-Forschung ein bemerkenswertes Desiderat dargestellt haben. Die bereits von 2008 bis 2012 erarbeitete Dissertation bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsgeschichte und bringt für alle drei Bereiche wesentliche Erkenntnisfortschritte. Sie führt zunächst ein in die
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allgemeinen Konfliktlösungsstrategien und -mechanismen der Familie und Handelsgesellschaft seit 1367 und hebt die Bedeutung der Fuggerischen Testamente und Verträge hierfür hervor. Sie analysiert dann die Fuggerische Prozessfrequenz am Reichskammergericht, dessen Präsidenten in diesen Jahren im Übrigen teilweise aus dem Hause Fugger kamen oder diesem zumindest sehr eng verbunden waren. Kernstück der Arbeit sind sieben Fallstudien zu internen Auseinandersetzungen, die sich zwischen gut zwei und mehr als 40 Jahren hinzogen und die um die Gültigkeit der hausinternen Verträge, die Rechtmäßigkeit der Administration, Erbschaftsregelungen, um die Verwendung des Vermögens, die adäquate Lebensführung von Familienmitgliedern und die Zuständigkeit in den verschiedenen Grundherrschaften kreisten. Über allem steht die Hypothese, „dass der Umgang mit internen Konflikten und damit auch die Qualität der fuggerischen Konfliktlösung sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts veränderten […] und die verhandelten Inhalte oft die Grundfesten der Handelsgesellschaft […] betrafen. Diese Führungskrisen könnten die Funktionsfähigkeit der Handelsgesellschaft gefährdet haben“ (107). Mindestens aber – und dies stellt die Verfasserin in ihrem Resümee auch heraus – bedeuteten sie so einschneidende Ereignisse, ja so massive Krisen der Unternehmung, dass man ihnen mit traditionellen Strategien nicht mehr begegnen konnte, sondern zunehmend die Gerichtsbarkeit der Stadt Augsburg und des 1495 gegründeten Reichskammergerichts in Anspruch nahm, um letztlich wegweisende Grundsatzurteile – auch für künftige Generationen – zu erhalten. Der Gang vor Gericht, der im Übrigen nicht nur aus ökonomischen Gründen heraus erfolgte, war somit „nicht immer […] ‚ultima ratio‘, sondern er basierte auf einer strategischen Entscheidung“ (351), die das bisherige Instrumentarium zur Konfliktlösung, möchte man hinzufügen, enorm bereicherte und damit auch zur Stabilisierung der Fuggerischen Unternehmungen beitrug. Britta Schneider legt eine ausgewogene, analytisch reiche und durch intensive Quellenarbeit geprägte Studie vor, die unser Wissen um Konfliktlösungsstrategien und -mechanismen in oberdeutschen Familiengesellschaften des 16. Jahrhunderts, ihre ökonomischen und sozialen Konsequenzen und die deutlich zunehmende Bedeutung von Jurisprudenz und Gerichtsbarkeit in der Kaufmannschaft erheblich bereichert, dies zwar an Fallbeispielen aus dem Hause Fugger, doch in ihren Ergebnissen über die Fugger-Forschung im engeren Sinne hinausweisend. Daher sei dieses im Übrigen auch in seiner Gestaltung und Aufmachung sehr gelungene Buch allen einschlägig arbeitenden Unternehmens-, Wirtschafts- und Rechtshistorikern nachdrücklich zur Kenntnisnahme empfohlen – oder wie es die Verfasserin selbst ausdrückt: Respicite! Markus A. Denzel
Leipzig
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DIANA EGERMANN-KREBS: Jacob Fugger-Babenhausen (1542–1598): Güterpolitik und Herrschaftspraxis (= Studien zur Fuggergeschichte 34), Augsburg: Wißner 2015, 515 S., 29 Abb., (ISBN 978-3-95786-015-6), 34,80 EUR. Der Protagonist der vorliegenden Studie, ein gleichnamiger Großneffe des berühmten Großkaufmanns Jakob Fugger („der Reiche“, 1459–1525) und jüngster Sohn von dessen Nachfolger als Leiter des Familienunternehmens, Anton Fugger (1493–1560), stand in der Historiographie bislang im Schatten seiner berühmten Vorfahren, aber auch seiner älteren Brüder Marx (1529–1597) und Hans (1531– 1598). Während diese von Georg Lutz, Regina Dauser und Sylvia Wölfle als Handelsherren, Kunstmäzene, Stadtpolitiker und „Netzwerker“ gewürdigt wurden, war ihr jüngerer Bruder der Forschung bislang vor allem aufgrund seiner umfangreichen Gütererwerbungen aufgefallen. Wie Diana Egermann-Krebs zeigt, bildete der Ausbau seines Grundbesitzes tatsächlich einen Schwerpunkt von Jacob Fuggers Aktivitäten; zugleich geht sie deutlich über die bisherige Forschung hinaus, indem sie erstmals ausführlich darstellt, wie ein Mitglied der Fuggerfamilie tatsächlich Herrschaft über ländliche Untertanen ausübte. Im Anschluss an eine sehr knappe Einleitung, die auf methodische Vorüberlegungen ebenso verzichtet wie auf eine Darlegung des Forschungsstandes jenseits der Fuggerhistoriographie, wendet sich Egermann-Krebs zunächst der Biographie Jacob Fuggers und seinem familiären sowie verwandtschaftlichen Umfeld zu. Während über seine Vita vor seiner Heirat mit Anna Ilsung von Tratzberg im Jahre 1570 wenig bekannt ist, treten Aspekte seiner Lebensführung und Familienpolitik danach plastischer hervor. Wie andere Familienmitglieder behielt Jacob Fugger seinen Lebensmittelpunkt in Augsburg, pflegte dort eine repräsentative adelige Lebensführung und besaß eine Bibliothek von über 3 000 Bänden (deren thematisches Spektrum allerdings nur summarisch referiert wird, 39 f.). Im Unterschied zu anderen Fuggern, die ihre Ehefrauen weitgehend von geschäftlichen Belangen ausschlossen, hatte Jacob Fugger offenbar großes Vertrauen in seine Gattin und setzte sie 1595 sogar als Testamentsvollstreckerin ein. Eine wichtige Rolle spielte für ihn die Versorgung der Nachkommen: Für die Töchter wurden standesgemäße Ehen mit Adeligen arrangiert. Anschließend widmet sich die Verfasserin der Rolle Jacob Fuggers in der Handelsgesellschaft der Familie. Hier kritisiert sie zwar die vorherrschende Auffassung, dass ihr Protagonist eine rein passive Rolle im Handel gespielt habe, sie führt für eine Modifikation dieses Bildes aber letztlich wenig überzeugende Argumente an. Dass Jacob Fugger einen beträchtlichen Teil seines Kapitals als stiller Teilhaber in der Familienfirma liegen ließ und daraus seinen Lebensunterhalt finanzierte, kann natürlich als ein grundsätzliches „Interesse“ am Handel interpretiert werden – aber genauso ist auch ein moderner Playboy, dem sein ererbter Anteil am Firmenvermögen ein Jet-Set-Leben finanziert, daran interessiert, dass der Geldfluss aus der Firma nicht versiegt! Breiten Raum nimmt zudem die Darstellung der Konflikte um die Firmenleitung nach dem Schlaganfall des „Regierers“ Marx Fugger im Jahre 1595 ein. Diese Auseinandersetzungen beschränkten sich jedoch auf Jacob Fuggers letzte zwei Lebensjahre und waren offenbar primär durch sein tiefes Misstrauen gegen seinen Bruder Hans, der die Geschäftsführung
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beanspruchte, und die Sorge um die Ansprüche seiner Nachkommen bedingt. Ein instruktives Kapitel über Jacob Fuggers Kreditvergabe zeigt, dass diese keiner klaren Geschäftsstrategie folgte, sondern Kredite vor allem als Medium der Pflege sozialer Beziehungen dienten. Wirkliches Neuland betritt die Studie mit der Darstellung von Jacob Fuggers Gütererwerb und Herrschaftspraxis. Nachdem Anton Fuggers Söhne ihren ererbten Grundbesitz zunächst gemeinsam verwaltet hatten, einigten sie sich 1575 auf eine Güterteilung. Fortan baute jeder der drei Brüder seinen Grundbesitz stark aus und förderte die Herausbildung einer eigenen Familienlinie. Jacob Fugger investierte nicht nur große Summen in seine ererbten Herrschaften, unter denen Babenhausen die wertvollste war, sondern übertraf auch die Güterkäufe seiner älteren Brüder bei weitem. Während die neuerworbenen Herrschaften Wellenburg und Heimertingen im Kerngebiet der Fuggerschen Territorialpolitik zwischen den Reichsstädten Augsburg und Memmingen lagen, kaufte Jacob Fugger mit Wasserburg am Bodensee und Tratzberg in Tirol auch wesentlich weiter entfernte Güterkomplexe. Wie Vergleiche mit Güterschätzungen des frühen 17. Jahrhunderts zeigen, wurden mehrere dieser Güter allerdings tendenziell zu teuer erworben, und Fuggers Bemühungen um die Arrondierung von Grundbesitz und Herrschaftsrechten zahlten sich nicht immer aus (142, 170, 173). Wie die Auswertung des umfangreichen Quellenmaterials, insbesondere für die Herrschaft Rettenbach, zeigt, widmete Jacob Fugger der Ausübung von Herrschaft auf seinen Besitzungen große Aufmerksamkeit. Er bemühte sich darum, unterschiedliche Herrschaftsrechte (Leib-, Grund- und Gerichtsherrschaft, Jagdrecht und Kirchenpatronat) in seiner Hand zu bündeln, stand mit den von ihm eingesetzten Pflegern und Vögten in engem Kontakt und nahm die Verhältnisse vor Ort häufig selbst in Augenschein. Anliegen, die seine Untertanen an ihn herantrugen, prüfte er sorgfältig und suchte „individuelle Lösungen“ (230). Die Ergebnisse, zu denen Robert Mandrou in seiner grundlegenden Studie über „Die Fugger als Grundbesitzer in Schwaben“ gelangte, werden hier in mehrfacher Hinsicht modifiziert: So habe Jacob Fugger Gesuche um Entlassungen aus der Leibeigenschaft durchaus großzügig gewährt (245) und Kreditwünsche der Untertanen keineswegs dazu genutzt, diese von sich abhängig zu machen oder seinen Grundbesitz auf deren Kosten zu erweitern (266, 274 f., 290 f.). Vielmehr habe Fugger „sich stets als sicherer, beständiger und vertragstreuer Kreditpartner“ erwiesen (276) und sei seiner Schutz- und Fürsorgefunktion auf verschiedenen Feldern – durch die Stundung von Krediten, die Anstellung von Hebammen, die Förderung der Babenhauser Schulstiftung, die Unterstützung von Waisen, die Gewährung von Almosen etc. – gewissenhaft nachgekommen. Die Wahrung seiner Patronatsrechte sei ihm zwar ebenfalls ein Anliegen gewesen, doch könne von einer konsequenten Strategie der katholischen Konfessionalisierung keine Rede sein: So wich Jacob Fuggers Haltung zur Gültigkeit von Eheversprechen deutlich von derjenigen des tridentischen Katholizismus ab, was sogar zu Konflikten mit dem Augsburger Bischof führte (354–362). Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht der Erwerb des evangelischen Guts Leeder, das unter Jacob Fugger rekatholisiert wurde. Insgesamt entsteht so das Bild einer gleichermaßen intensiven und flexib-
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len paternalistischen Herrschaftspraxis, die sich Egermann-Krebs zufolge mit dem von Stefan Brakensiek geprägten Begriff der „akzeptanzorientierten Herrschaft“ gut erfassen lässt. Wie der Vergleich mit Thannhausen zeigt, wo der tyrannische Herrschaftsstil der Herren von Bicken massiven bäuerlichen Widerstand heraufbeschwor (448–456), hob sich Jacob Fuggers an den Umständen des jeweiligen Einzelfalls und einem fairen Interessenausgleich orientierte Herrschaftsausübung durchaus positiv von derjenigen mancher seiner Nachbarn ab. Insgesamt erschließt diese quellengesättigte, reflektierte, manchmal allerdings auch ein wenig detailverliebte Studie mit der Herrschaftspraxis der Fugger ein neues Forschungsfeld und leistet darüber hinaus einen fundierten Beitrag zur schwäbischen Regionalgeschichte im konfessionellen Zeitalter. Mark Häberlein
Bamberg
HANNA BROMMER: Rekatholisierung mit und ohne System. Die Hochstift Würzburg und Bamberg im Vergleich (ca. 1555–1700), Göttingen: V&R unipress 2014, 515 S., 3 Abb., (ISBN 978-3-8471-0193-2), 75,00 EUR. Das Hochstift Würzburg unter dem langen Episkopat Julius Echters von Mespelbrunn (1573‒1617) gilt in der älteren wie neueren Forschung als eines der katholischen „Musterterritorien“, in denen Gegenreformation und katholische Reform zielstrebig und erfolgreich durchgeführt wurden. Im Vergleich dazu erscheinen die Bemühungen des benachbarten Hochstifts Bamberg verzögert und in sehr unterschiedlicher Intensität durchgeführt, so dass die konfessionelle Vereinheitlichung der Bevölkerung erst nach dem Dreißigjährigen Krieg gelang. In ihrer 2012 an der Universität Kiel angenommenen Dissertation stellt Hanna Brommer diese Befunde anhand von insgesamt 17 in den Hochstiften Bamberg und Würzburg gelegenen Orten auf den Prüfstand. Im Mittelpunkt ihres Interesses steht dabei das „Wechselspiel zwischen Maßnahmen und Gegenmaßnahmen auf lokaler Ebene“ (13), also die Frage, welche Schritte die Bischöfe der beiden Hochstifte zur Rekatholisierung konfessionell abweichender Untertanen unternahmen, wie diese darauf reagierten und ob das Ziel eines konfessionell vereinheitlichen Territoriums erreicht wurde. Wie die Autorin nicht nur im Untertitel postuliert, soll ihre Perspektive weit über das klassische „Zeitalter der Gegenreformation“ (M. Ritter) hinausreichen und auch die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg mit einbeziehen. Als zentralen Begriff ihrer Untersuchung definiert Brommer Rekatholisierung „als Prozess, der zur Einnahme der Kommunion seitens der vormals lutherischen Untertanen führte, die damit ihre formale Zugehörigkeit zum Katholizismus anzeigten“ (25). Dieser Ansatz ist vor allem deshalb von Vorteil, weil sich der Konfessionswechsel mittels der vor allem für das Hochstift Bamberg überlieferten Kommunikantenverzeichnisse empirisch gut nachweisen lässt. Die Darstellung orientiert sich an einem streng systematischen Aufbau. Auf eine gute Einführung in den Forschungsstand zur Konfessionalisierung sowie zur Regionalgeschichte folgt zunächst ein (zu) kurzer Abriss der Konfessionsentwicklung, der Religionspolitik sowie der Verwaltungsstrukturen in den beiden Hoch-
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stiften und schließlich eine Vorstellung der 17 untersuchten Orte ‒ zehn im Hochstift Bamberg, sieben im Hochstift Würzburg. Den Hauptteil der Arbeit bilden die drei Blöcke „Rekatholisierungsmaßnahmen“, „Gegenmaßnahmen“ sowie „Konversion und Auswanderung“. Als Maßnahmen von bischöflicher Seite identifiziert Brommer rechtlich-politische (Mandate, Absetzung evangelischer Pfarrer, Absetzung evangelischer Amtsträger, Visitationen), wirtschaftliche (Geldstrafen, Zwangsverkäufe, Verbot der Allmendenutzung und Berufsausübung, Lehenentzug) sowie Gewaltmaßnahmen (Verhaftung, Vorladung, Ausweisung, Überfälle). Anders als in den untersuchten würzburgischen Orten, in denen die Autorin klar aufeinander abgestimmte, zunehmend schärfer werdende Maßnahmen mit der persönlichen Visitation Echters als letztem Schritt erkennt, habe es „in Bamberg keine klar gegliederten Eskalationsstufen [gegeben], sondern vielmehr Spiralen, die in jedem Ort anders verliefen“ (221). Zurückzuführen sei dies auf Faktoren wie die teilweise gemischtherrschaftlichen Verhältnisse vor Ort, den mangelnden Durchsetzungswillen der lokalen Amtsträger, aber auch das jeweilige persönliche Engagement der Bischöfe, ihre Regierungsdauer sowie ihre Anwesenheit in ihrem Herrschaftsbereich. Die Untertanen hatten verschiedene Möglichkeiten, sich dem obrigkeitlichen Druck zu entziehen, wobei die einfache Kommunikationsverweigerung, Supplikationen und das Auslaufen in benachbarte lutherische Gebiete die häufigsten Gegenmaßnahmen waren. Im nördlich von Kronach gelegenen Teuschnitz, das einem starken lutherischen Einfluss der umliegenden sächsischen und ritterschaftlichen Gebiete ausgesetzt war, kam es zudem mehrmals zu spontanen Tumulten, wenn der lokale Prädikant abgesetzt werden sollte. Auch Klagen einzelner Orte beim Reichskammergericht sowie „Gegenmaßnahmen auswärtiger Mächte“ (400) wie Beschwerden und Interzessionen sind feststellbar. Dass all diese Versuche der lutherischen Untertanen auf lange Sicht jedoch vergeblich waren, zeigt das Kapitel „Konversion oder Auswanderung“, denn das war die Wahl, vor die die Untertanen letzten Endes gestellt wurden. Untersucht werden in diesem Kapitel die Zahl der Emigranten, ihre Ziele sowie die enormen wirtschaftlichen Belastungen, die die Möglichkeit der Auswanderung vor allem auf Vermögende beschränkt. Ferner kann die Autorin zeigen, dass durch die Einnahme der Kommunion nach katholischem Ritus eine ‒ wenn opportun, auch wiederholte ‒ Konversion im Sinne eines nach außen sichtbaren Konfessionswechsels oftmals stattfand, ohne dass eine tatsächlich internalisierte Bekehrung vollzogen worden wäre. Zusammenfassend betont Hanna Brommer nochmals ihre These, dass im Hochstift Bamberg 15 verschiedene Maßnahmen identifiziert werden können, die jedoch unsystematisch durchgeführt wurden, während im Hochstift Würzburg lediglich sieben, dafür aber systematisch aufeinander abgestimmte Schritte feststellbar sind. Dieses System führte spätestens mit der persönlichen Visitation des Bischofs vor Ort zum Erfolg, während das improvisierte Vorgehen der Bamberger Bischöfe die Rekatholisierung erschwerte und bis zum Dreißigjährigen Krieg nicht flächendeckend gelingen ließ.
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Die Stärke der vorliegenden Studie liegt in der intensiven Auswertung der zahlreich herangezogenen archivalischen Quellen. Vor allem die „Pfarreiakten“ des Bamberger Geistlichen Rats bieten zahlreiche Beispiele der Interaktion zwischen zentraler Verwaltung, Untertanen und geistlichen bzw. weltlichen Amtsträgern vor Ort. Die lokale Umsetzung der obrigkeitlich erlassenen Normen wird mustergültig untersucht und anschaulich dargestellt. Somit wird auf vorbildliche Weise ein an die Konfessionalisierungsforschung gerichtetes Postulat erfüllt, der gerne eine allzu etatistische bzw. normenorientierte Ausrichtung vorgeworfen wird. Im Vergleich zur Quellenarbeit fällt die Einordnung in den Forschungskontext jedoch deutlich ab, so dass die Studie oftmals auf der Ebene der deskriptiven Auswertung stehen bleibt, ohne zu einer wirklichen Analyse der erarbeiteten Ergebnisse zu gelangen. Beispielhaft sei hier nur das Dilemma lokaler Amtsträger zwischen zentraler Verwaltung und lokalem Umfeld genannt, das in der Forschung inzwischen breit rezipiert wurde. Zudem erschließt sich dem Leser die Auswahl der in die Untersuchung einbezogenen Orte nicht vollständig. Auf Bamberger Seite wurden mit Waischenfeld und Forchheim Städte untersucht, in denen es fast keine Protestanten gab, so dass die Ergebnisse hinsichtlich der Rekatholisierungsmaßnahmen entsprechend ausfallen. Für das Hochstift Würzburg wurde hingegen mit dem 1629 aus markgräflicher Pfandschaft ausgelösten Kitzingen ein absoluter Sonderfall ausgewählt, der kaum als repräsentativ für die dortigen Bemühungen gelten kann. Hingegen wäre es wohl sinnvoll gewesen, die jeweiligen Residenzstädte in die Untersuchung aufzunehmen. So hätte sich z. B. für die Stadt Bamberg ‒ dank der einschlägigen Studien von Hans-Christoph Rublack, die die Autorin aber überhaupt nicht berücksichtigt ‒ durchaus gezeigt, dass es auch dort energische und systematische Maßnahmen gab. Zudem wird der Anspruch, die Rekatholisierungsbemühungen über den Dreißigjährigen Krieg hinaus bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zu untersuchen, so gut wie nicht eingelöst. Stattdessen konzentriert sich die Studie auf die ohnehin schon gut erforschten Regierungen Julius Echters und Neithards von Thüngen (Bischof von Bamberg 1591–1598) sowie auf den Zeitraum um das Restitutionsedikt von 1629. Hier hätte im Übrigen ein kleiner Hinweis auf die in beiden Hochstiften stattfindenden Hexenverfolgungen, die zumindest mentalitätsgeschichtlich mit der Gegenreformation in Zusammenhang stehen, gut getan. Die schablonenhafte Vorgehensweise, die jede einzelne (Gegen-)Maßnahme für jeden einzelnen Ort untersucht, mag als Arbeitsinstrumentarium gewinnbringend gewesen sein, sie führt aber in der Darstellung zu häufigen Wiederholungen und trübt insgesamt das Lesevergnügen deutlich. Ohnehin macht die Arbeit den Eindruck, als wäre sie etwas vorschnell abgeschlossen worden. So finden sich zahlreiche Flüchtigkeitsfehler wie wiederholt „setzten“ statt „setzen“ oder falsch geschriebene Orte wie Mainbernhaim statt Mainbernheim, Marktstefft statt Marktsteft (auf Seite 434 jeweils in direkt aufeinander folgenden Zeilen richtig und falsch), um nur einige Beispiele zu nennen. So bleibt das bedauernde Fazit, dass die deskriptive Auswertung der Quellen anschauliche Beispiele hinsichtlich der Rekatholisierungsmaßnahmen vor Ort
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bietet, aber durch eine intensivere Analyse und flüssigere Darstellung noch fruchtbarere Ergebnisse hinsichtlich der Schlussfolgerung „mit und ohne System“ hätten erzielt werden können. Johannes Staudenmaier
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OLAF RICHTER: Niederrheinische Lebenswelten in der Frühen Neuzeit. Petrus Simonius Ritz (1562–1622) und seine Familie zwischen Bürgertum und Adel (= Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein. Neue Folge 3), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015, 752 S., 49 s/w und 15 farb. Abb., (ISBN 978-3-412-22438-7), 80,00 EUR. Im Zentrum der hier zu besprechenden Arbeit – einer erweiterten Fassung der im Jahr 2000 eingereichten Dissertation des Autors – steht die Person des Petrus Simonius Ritz, deren Lebensweg dank einer im Stadtarchiv Mönchengladbach überlieferten handschriftlichen lateinischen Autobiographie gut fassbar ist. Ritz wurde 1562 in Kaster als Sohn des Tuchhändlers und Schöffen Johann Simon Ritz und dessen Ehefrau Anna Pensen geboren. Die katholische Familie ist im gehobenen kleinstädtischen Bürgertum zu verorten und konnte zudem ritterliche Vorfahren vorweisen. Nach dem Besuch der Elementarschule am Heimatort besuchte Petrus Simonius Ritz von 1575 bis 1579 das Düsseldorfer Gymnasium und studierte anschließend an den Universitäten Köln, Bourges und Orléans. 1583 erwarb er das Lizentiat der Rechte und hielt sich anschließend ein Jahr in Straßburg auf, um berufspraktische Erfahrungen zu sammeln. 1584 kehrte er in seine Heimat zurück und wurde schließlich als Jurist am Jülicher Hauptgericht tätig. Seine erste Ehe schloss Ritz 1586 mit Johanna Sengel, die sieben Kinder zur Welt brachte, von denen vier überlebten. Wenige Monate nach dem Tod seiner Frau ging er 1598 eine zweite Ehe mit Christina von Lövenich ein. Der Trierer Kurfürst nahm Ritz 1593 als Rat und Amtmann der trierischen Exklave Güsten in seine Dienste. 1594 erlangte Petrus Simonius Ritz eine Anstellung als Syndikus der Jülicher Ritterschaft, bis er 1595 vom Herzog von Jülich-Kleve-Berg zu dessen Rat berufen wurde. Bis zu seinem Tod im Jahr 1622 und damit auch über den Herrschaftswechsel des Jahres 1609 hinweg behielt er eine hervorragende Stellung am Düsseldorfer Hof. 1604 wurde Ritz vom Kaiser in den Adelsstand erhoben und suchte diesen Status durch den repräsentativen Ausbau seines Hofes Etgendorf und die Errichtung eines aufwendigen Stadthauses in Düsseldorf zu manifestieren. Seinem Sohn Kaspar schien mit der 1615 geschlossenen Ehe mit Anna von Berg genannt Durffenthal zunächst eine Anerkennung durch die adligen Standesgenossen geglückt zu sein, doch scheiterten sowohl alle Bestrebungen, ihm eine Stelle als Amtmann zu verschaffen, als auch sein Versuch, in die Jülicher Ritterschaft aufgenommen zu werden. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts gelang den Nachfahren der Familie Ritz die Anerkennung ihrer adeligen Standesqualität. Ausdrückliches Ziel des Verfassers war es, „keine traditionelle biographische Perspektive“ einzunehmen, sondern die Lebensgeschichte des Petrus Simonius
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Ritz in Bezug zu seinen Vor- und Nachfahren zu setzen, sie in ihren alltäglichen Lebenskontext einzubetten und damit einen „Beitrag zu einer exemplarischen Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit“ zu leisten (22 f.). In mehrerlei Hinsicht ist Richters Werk für eine geschichtswissenschaftliche Arbeit ungewöhnlich. Dieser Eindruck beginnt schon bei der äußerlichen Gestaltung des Buchs: Das Titelbild schmückt ein Triptychon, das die zwei Flügel eines von Petrus Simonius Ritz gestifteten Altarbildes ergänzt um eine moderne, von dem Künstler Martin Lersch gestaltete Mitteltafel, die offensichtlich durch den Verfasser selbst in Auftrag gegeben wurde. Weitere Zeichnungen desselben Künstlers sind dem Text beigegeben. Sprachlich ist die Arbeit in manchen Abschnitten auffallend poetisch gehalten; dazu passt, dass der Verfasser häufig selbst von einer „Erzählung“ spricht und damit eine gewisse Distanz zu einer rein wissenschaftlichen Darstellungsweise zum Ausdruck bringt. Hierzu steht freilich der sehr ausführliche Anmerkungsapparat in einem gewissen Kontrast. Insbesondere die Art und Weise, wie aus der Behandlung von Petrus Simonius Ritzʼ Lebensweg immer wieder einzelne Aspekte herausgegriffen und aus ihnen ganze Lebenswelten entwickelt werden, macht den Charakter dieser Arbeit aus. Man erfährt so zahlreiche Details über Formen der Landwirtschaft und der Grundherrschaft im ausgehenden Mittelalter, das Fehdewesen am Niederrhein, die Ausstattung von Wohnhäusern, das Erscheinungsbild der Städte, Bruderschaften, das Schul- und Universitätswesen, Kavalierstouren, das soziale Miteinander in der Familie und anderen Lebenskreisen, das Gerichtswesen, das kirchliche Leben im Zeitalter der Konfessionalisierung und vieles mehr. Dort wo die Quellen über Ritz oder sein unmittelbares Umfeld versagen, zieht der Verfasser gelegentlich andere Quellen heran, um ein möglichst eindrückliches und farbenprächtiges Bild liefern zu können. So wird dieses Buch streckenweise zu einer kurzweiligen Lektüre, die dem Leser vergangene Lebenswelten äußerst plastisch und facettenreich vor Augen führt und damit die Erwartungen, die der Titel weckt, voll erfüllt. Ein Nachteil dieser Darstellungsweise, in der sich die einzelnen vorgestellten Themen aus dem Erzählfluss heraus entwickeln, ist hingegen, dass ein systematischer Zugriff vielfach nicht möglich ist. Wer würde beispielsweise erwarten, in dem Kapitel „Die Vorfahren mütterlicherseits“ Informationen zum Waidanbau und zum Bierbrauen am Niederrhein zu finden? Der thematische Zusammenhang droht für den Leser verlorenzugehen, wenn auf 50 Seiten die Stadtgeschichte von Kaster in nahezu allen Facetten ausgebreitet wird oder wenn bei praktisch jeder erstmaligen Erwähnung einer weiteren Person aus Ritzʼ Lebensumfeld deren verwandtschaftliche Bindungen bis ins Kleinste nachvollzogen und möglichst viele Belegstellen aus archivalischen Quellen dargeboten werden. Mit dieser Kritik soll keineswegs der Wert der zahllosen akribisch zusammengetragenen Informationen grundsätzlich in Abrede gestellt werden, doch kann die Art ihrer Präsentation nicht als durchgängig geglückt gelten. Unklar bleibt schließlich auch, welchen Leserkreis der Verfasser bei der Konzeption des Werks im Blick gehabt hat. Auch wenn ein ausführliches Register eine gezielte Suche erleichtert, ist die Arbeit für denjenigen Leser weniger gut nutzbar, der sich aus einem wissenschaftlichen Interesse heraus gezielt mit be-
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stimmten Aspekten frühneuzeitlicher Lebenswelten befassen will. So wäre vielleicht eher an interessierte Laien zu denken, die bereit sind, sich bei der Lektüre von einem Themenkomplex zum nächsten treiben und den farbigen Gesamteindruck auf sich wirken zu lassen. Ob dies jedoch gelingt, muss man in Frage stellen; denn während der Verfasser in vielen kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Aspekten weit ausholt, bleibt eine Einordnung in den politischen Kontext weitgehend aus. Die Rahmenbedingungen des Dienstes von Petrus Simonius Ritz am Düsseldorfer Hof – der schwierige Gesundheitszustand der letzten beiden Herzöge von Jülich-Kleve-Berg, das Aussterben des Herzogshauses 1609 und der sich anschließende Erbstreit zwischen den Häusern Brandenburg und Pfalz-Neuburg – werden nur am Rande thematisiert. Hier setzt der Verfasser also umfassendes Vorwissen voraus, ohne das die spezifische Situation am Niederrhein an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert nicht adäquat erfasst werden kann. Manuel Hagemann
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CHRISTIAN LEO: Würzburg unter schwedischer Herrschaft 1631–1633. Die „Summarische Beschreibung“ des Joachim Ganzhorn. Edition und historische Einordnung. Mit einem Beitrag von Winfried Romberg (= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 74), Würzburg: Echter 2017, 489 S., zahlreiche Abb., (ISBN 978-3-429-04374-2), 39,00 EUR. Neben dem verheerenden Bombenangriff vom 16. März 1945 auf Würzburg fand vor allem ein traumatisches Ereignis Eingang in die populäre Erzähl- und Erinnerungskultur und dadurch ins kollektive Langzeitgedächtnis der Mainmetropole: die schwedische Besetzung der Stadt 1631 als „einer der epochalen Wendepunkte in der Reichs-, Regional- und Stadtgeschichte“ (159), der in neueren Publikationen zur schwedischen Herrschaft im Alten Reich indes mit keinem Wort erwähnt wird (vgl. INKEN SCHMIDT-VOGES, NILS JÖRN [Hg.]: Mit Schweden verbündet – von Schweden besetzt. Akteure, Praktiken und Wahrnehmungen schwedischer Herrschaft im Alten Reich während des Dreißigjährigen Krieges, Hamburg 2016). Die „Summarische Beschreibung“ des Zeitzeugen Dr. Joachim Ganzhorn überliefert die Würzburger Ereignisse. Ganzhorn, ein Großneffe des berühmten Stadtchronisten Lorenz Fries (ca. 1490–1550), wurde vom Würzburger Stadtrat zu Beginn des Jahres 1632 mit diesem „Rechenschaftsbericht der letzten bischöflichen Regierungsvertreter unter Fremdbesatzung“ (200) beauftragt, um sich des Vorwurfs des Hochverrats zu entledigen. „[A]us eigener Initiative und in freier Forschung“ (9) hat der Germanist und Historiker Christian Leo den Quellentext erschlossen und legt mit seiner Edition die Primärquelle der lokalen und regionalen Ereignisse aus der Feder des leitenden fürstbischöflichen Beamten „erstmals in zuverlässiger textlicher Rekonstruktion“ (11) vor. Daneben betrachtet er die Hintergründe der Entstehung des Textes, der gleichermaßen als politischer Bericht wie als Rechtfertigungsschrift fungierte, befasst sich intensiv mit dessen Autor, Überlieferung und Rezeption.
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Gemeinsam mit dem Kirchenhistoriker Winfried Romberg leitet Leo im ersten Teil (69–108) in das allgemeine Kriegsgeschehen in Franken ein und beschreibt das Hochstift Würzburg am Vorabend des Einmarsches König Gustav Adolfs (reg. 1611–1632) als einen „sicheren Stütz- und Angelpunkt des altgläubigen Bekenntnisses“ und eine „über den fränkischen Reichskreis hinaus bedeutsame Vormacht des Katholizismus“ (76); die Würzburger Ereignisse werden mithin kriegs- bzw. reichsgeschichtlich kontextualisiert. Angesichts der schwedischen Invasion floh der frisch gewählte Fürstbischof Franz von Hatzfeld nach Köln, während die Schweden in den folgenden Jahren von Würzburg aus die „angestrebte kompromisslose Protestantisierung Frankens“ (94) vorantrieben. Der Umschwung erfolgte mit der Schlacht von Nördlingen im Jahr 1634. Im Zentrum des zweiten Buchteils (109–253) steht der Autor der Quelle. Für Ganzhorn brachte die schwedische Phase große Risiken und Chancen gleichermaßen mit sich, blieb er doch als einer der letzten Angehörigen der bischöflichen Landesregierung in der Residenzstadt, wo er sich mit dem gelehrten Rat Dr. Christoph Faltermayr und dem Geheimsekretär Dietrich Lohr die Statthalterschaft teilte und bald zum „höchste[n] weltliche[n] Vertreter des verbliebenen AltWürzburger Regiments“ (164) avancierte, der zeitweise auch die wichtigsten kirchlichen Ämter der Diözese ausübte. Die Rückkehr der offiziellen und legitimen Amtsinhaber und die Konsolidierung des hochstiftischen Staatswesens ab 1635 bedeutete für Ganzhorn das Ende seiner provisorischen Befugnisse. Mehrmals kommt Ganzhorns zwiespältige Rolle bei den Hexenprozessen gegen Würzburger Kleriker zur Sprache (158 f., 188 f.). Leo stellt ihm aber ein überwiegend positives Zeugnis aus, und dies im wahrsten Sinne des Wortes, wenn er die Jahre der schwedischen Besatzung als Ganzhorns Bewährungszeit beschreibt: „Er wuchs mit jeder seiner Aufgaben und meisterte sie, wobei er eine enorme Menge an Durchsetzungskraft, Erfindungsreichtum und Verhandlungsgeschick an den Tag legte, die über das Normalmaß administrativen Handelns weit hinausgingen. Vor allem verstand er es, die führungslosen und versprengten Reste der Alt-Würzburger Instanzen […] zu mobilisieren und zu einem geschlossenen Lager zusammenzuführen“ (183). Diesen Ausführungen schließt sich die eigentliche Edition als Teil C (255– 400) an. Bei deren Umsetzung, Interpretation und Kontextualisierung lässt Leo kaum Wünsche offen: Er zeigt die Notwendigkeit und die Maximen für eine Neuedition der „Summarischen Beschreibung“ auf, führt in die ab 1640 einsetzenden Abschriften und Überarbeitungen des verschollenen Urtextes von 1632/33 ein, die sich bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts fortsetzten, und entwickelt aus ihnen ein Stemma der handschriftlichen Überlieferungsgeschichte (222). Durch den Vergleich mit den älteren Handschriften legt er sukzessive die Qualität der anderen überlieferten Abschriften und ihre Abhängigkeiten sowie im Zuge der verschiedenen Transkriptionen entstandene Kontaminationen offen. Diese Transparenz setzt sich auch in der mit einem Varianten- und einem Sachapparat ausgestatteten Edition des Quellentextes fort, in der alle relevanten Versionen der Ganzhorn’schen Beschreibung Beachtung finden.
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Hervorzuheben sind die sich in Teil D anschließenden Anhänge (401–464). Auf Kurzbiographien der in der „Summarischen Beschreibung“ erwähnten Personen, in die leider nur zwei Frauen Eingang fanden, was freilich auch der Männerlastigkeit der Quelle zuzuschreiben ist, folgen Transkriptionen weiterer relevanter Quellen aus dem Staats- sowie dem Stadtarchiv und der Universitätsbibliothek Würzburg. Generell liegt hierin die Stärke von Leos Edition: Er stellt zwar die „Summarische Beschreibung“ und deren Autor ins Zentrum seiner Arbeit, bezieht aber eine Vielzahl weiterer Quellen wie die Protokolle des Würzburger Stadtrats mit ein und kontextualisiert Ganzhorns Werk somit auf großzügige Weise. Bei der Einbettung der Quelle in den biographischen Kontext fragt sich der Leser zwar bisweilen, ob diese in einer solchen Ausführlichkeit nötig sei (109–151) – Leo steigt, obwohl „zur Herkunft von Dr. Joachim Ganzhorn keine profunden Zeugnisse“ existierten (152), immerhin bis zur Ururgroßelterngeneration des Autors im frühen 15. Jahrhundert zurück und setzt seine Ausführungen zur Familie Ganzhorn bis ins 18. Jahrhundert fort. Freilich spricht daraus vor allem die Begeisterung des Verfassers für bzw. sein umfangreiches Wissen über den Untersuchungsgegenstand und dessen weiten Kontext. Stammbäume (149–151) erleichtern das Verständnis der genealogischen Zusammenhänge innerhalb der Familie Ganzhorns. Eine Karte zur Verortung der im Ganzhorn’schen Text beschriebenen Ereignisse in der Stadttopographie fehlt hingegen; zudem lassen Qualität und Format mancher Abbildungen eher zu wünschen übrig (113, 235). Insgesamt ist dem Bearbeiter allerdings eine meisterhafte Edition dieser maßgeblichen Würzburger Quelle gelungen, die die älteren Druckversionen Gropps und Scharolds ablöst und weitere Forschungen zu Franken unter schwedischer Herrschaft auf eine solide und moderne Quellengrundlage stellt. Andreas Flurschütz da Cruz
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ULRIKE LUDWIG: Das Duell im Alten Reich. Transformation und Variationen frühneuzeitlicher Ehrkonflikte (= Historische Forschungen 112). Berlin: Duncker & Humblot 2016, 390 S., 16 Abb., (ISBN 978-3-428-14673-4), 99,90 EUR. Ehrkonflikte, die in gewaltsamer Form ausgetragen wurden, begegnen nahezu jedem/-r Forschenden in der frühneuzeitlichen Epoche. Dass diese Konflikte als Duelle bezeichnet werden, auch hinsichtlich eines festgelegten Rituals, schien in der Forschung allgemein akzeptiert zu sein. Ulrike Ludwig räumt in ihrer Habilitationsschrift mit dieser Auffassung auf. Sie verfolgt darin die Fragestellungen, worin ein Duell bestand und wie es sich im Alten Reich in der frühen Neuzeit ausgeprägt hat. Dabei stellt sie fest, dass es ‚das Duell‘ keineswegs gegeben hat, sondern sich erst im Laufe der frühen Neuzeit eine formalisierte Handlungssequenz herausbilden konnte. Quellengrundlage sind neben juristischen und theologischen Schriften sowie literarischen Werken vor allem Gerichtsakten zu 559 Strafverfahren, die das Duell als Verhandlungsgegenstand aufweisen. Der Begriff „Duell“ taucht in dem von Ludwig untersuchten Quellenkorpus erstmalig im Jahr 1641 auf. Dabei kon-
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zentriert sich die Studie in geographischer Hinsicht auf Kursachsen, Mecklenburg, Preußisch-Pommern sowie Schwedisch-Pommern, wobei Kursachsen mit 318 Gerichtsfällen deutlich hervorsticht. Um die Funktion des Duells herauszuarbeiten, wurden nur solche Gerichtsakten aufgenommen, in denen der Begriff vorkam bzw. in denen das Strafverfahren sich nach den jeweiligen Duellmandaten richtete. Dieses Forschungsdesign ist insofern wichtig, als es eben nicht allgemein darum geht, (gewaltsame) Ehrkonflikte zu untersuchen, sondern speziell jene, die explizit als Duell bezeichnet wurden. Dieser methodische Zugriff erlaubt es, die zeitgenössischen Auffassungen vom Duell herauszuarbeiten. Ein wichtiges Ergebnis der Studie besteht darin, dass das Duell im Alten Reich keine formalisierte Handlungsweise darstellte, sondern ein wandelbares Phänomen war. Die Verwendung des Begriffs Duell war nicht klar; verschiedene Arten von Ehrkonflikten wurden so bezeichnet. Die heute verbreitete, aus dem 19. Jahrhundert stammende Annahme, dass sich zwei Männer mit Pistolen gegenüberstehen, hat für die Vormoderne keine Gültigkeit. Dabei kann Ludwig nachweisen, dass der Duellbegriff zunächst aus Frankreich bzw. Italien im frühen 17. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum übernommen worden war. Zunächst war das Duell nur ein weiterer Begriff für altbekannte Ehrkonflikte, die zum Teil in sehr unterschiedlicher Form abliefen. Eine Formalisierung fand daher in dieser Zeit definitiv nicht statt. Zudem war das Duell zur Wiederherstellung der Ehre damals keineswegs alternativlos. Deutlich wird, dass auch Gerichtsverfahren angestrebt wurden, um die Ehre wieder herstellen zu lassen. Zudem stellt Ludwig fest, dass das Duell nicht zur gesellschaftlichen Distinktion genutzt werden konnte, weil es für keine soziale Gruppe spezifisch war, wenngleich der Adel häufiger vor Gericht in Bezug auf Duelle erschien. Auch Handwerker duellierten sich, während Studenten eher seltener vertreten waren. Erst im 18. Jahrhundert wurde das Duell schließlich normativ in Mandaten von anderen gewaltsamen Konfliktlösungen abgegrenzt. Die Autorin konstatiert zudem, dass das Duell bis ins 18. Jahrhundert hinein kaum einer einheitlichen Vorstellung untergeordnet werden konnte. Dabei zeigt sie, dass eine Diskrepanz zwischen den Quellen aus dem juristischen Bereich und theologischen, literarischen sowie populärwissenschaftlichem Texten besteht, unterliegen diese Textformen doch ihren eigenen Gattungstraditionen. Ludwig stellt dar, dass theologische Texte auf biblische Narrative zurückgriffen und somit das zeitgenössische Bild verzerrten. Bei Rechtstexten liegt der Fall ähnlich, da diese bestrebt waren, eine Verknüpfung zu mittelalterlichen Turnierkämpfen herzustellen. Offensichtlich ging der gelehrte Diskurs an der juristischen Praxis vorbei. Das Duell, wie es heute bekannt ist, formierte sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Hier spielen die Kategorien Regelhaftigkeit, Verabredung sowie Verwendung tödlicher Waffen eine wichtige Rolle. Für die frühe Neuzeit definiert Ludwig eine wesentliche Voraussetzung, nämlich die notwendige „Kunst des Beleidigens“. Fast allen Duellen stand eine ehrverletzende Beleidigung voran, Schimpfworte spielten eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung des Duells, gaben sie doch erst den Anlass dazu. Jedoch konnte es auch passieren, dass auf die (ehr-
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verletzende) Beleidigung nicht die gewünschte Reaktion in Form von Gewaltankündigung oder -ausübung folgte. Insgesamt hat Ludwig eine wichtige Studie über ein Phänomen vorgelegt, das zwar fast jedem/-r Forschenden bekannt ist, jedoch bisher nicht in dieser differenzierenden Form betrachtet worden war. Ludwig versteht es zudem, die Diskurse um das Duell mit gut nachvollziehbaren Einzelfällen und Narrativen aus den Gerichtsakten zu unterlegen, die mitunter die Drastik des Geschehens belegen, wenn beispielsweise unter Einsatz von Fäkalien eine besonders heftige Provokation erfolgte. Die Studie appelliert daher, nicht voreilig scheinbar bekannte Phänomene in Deutungsmuster der Gegenwart einzuordnen. Die frühe Neuzeit gehorchte mit ihren Vorstellungen von Ehre eigenen Regeln, die sich erst durch intensives Quellenstudium offenbaren. Daher liegt der Gewinn der Studie nicht allein in der sehr aufschlussreichen Betrachtung des Duells im Alten Reich, sondern sie offenbart zudem einen methodischen Ansatz, der scheinbar gängige und bekannte Begriffe und Konzepte zurechtrückt. Ihr ist daher eine breite, über das Gebiet der Frühneuzeitforschung hinausgehende Rezeption zu wünschen. Benjamin van der Linde
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ANDREA BONOLDI, MARKUS A. DENZEL, ANDREA LEONARDI, CINZIA LORANDINI (Hg.): Merchants in Times of Crises (16th to mid-19th Century) (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 127), Stuttgart: Steiner 2015, 204 S., 15 s/w Abb., (ISBN 978-3-515-11060-0), 42,00 EUR. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Krisenphänomenen und Krisenbewältigung hat seit 2008 eine neue Konjunktur erfahren. In diesen Trend ordnet sich auch der vorliegende Band ein; allerdings befassen sich die Beiträge mit der Frühen Neuzeit bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Vordergrund des historiographischen Interesses standen lange Zeit die vormodernen Agrarkrisen, während Handels- und Finanzkrisen vor allem von Seiten der Wirtschaftsgeschichte primär der Moderne zugeordnet wurden. Jüngere Arbeiten, u. a. von Thomas M. Safley und Mark Häberlein, haben aufgezeigt, dass Handels- und Finanzkrisen in der Vormoderne keineswegs eine außergewöhnliche Erscheinung waren. In ihrer Einleitung verweisen die Herausgeber auf die zahlreichen nichtagrarischen Krisentypen. Sie unterscheiden dabei zwei Arten von Krisen: interne, die sich innerhalb eines Handelsunternehmens (u. a. Konflikte unter den Gesellschaftern) zutragen, sowie externe, verursacht durch Naturgewalten oder politischmilitärische Ereignisse. Die anschließenden Beiträge richten ihr Augenmerk auf einige der zuletzt genannten externen Ursachen. In einem einführenden Beitrag gibt Guiseppe De Luca einen Überblick über die in der Historiographie verbreiteten Krisenkonzepte und weist auf das Fehlen einer allgemein gültigen Definition hin. Er setzt sich in diesem Zusammenhang schwerpunktmäßig mit der historischen Debatte um die Krise des 17. Jahrhunderts auseinander, wie sie vor allem in der italienischen Literatur zu finden ist.
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Die folgenden acht Fallstudien behandeln schwerpunktmäßig die Reaktionen und Strategien von Kaufleuten in Umbruchphasen und Kriegssituationen. Abgesehen von Nürnberg liegt der geographische Schwerpunkt auf Norditalien und dem Alpenraum. Sie basieren alle auf Quellenfunden in regionalen und lokalen Archiven und bieten aufschlussreiche Einblicke in krisenbedingte Praktiken. Neben erfolgreichen Handelsstrategien werden auch weniger erfolgreiche Beispiele beschrieben. Edoardo Demo befasst sich mit Gewerbe und Handel auf der venezianischen Terra Ferma des 16. Jahrhunderts und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen, die dem vorherrschenden Bild eines allgemeinen Niedergangs der oberitalienischen Wirtschaft widersprechen. Er weist auf eine erstaunlich aktive und flexible Kaufmannschaft hin, die durchaus versuchte, neue Märkte zu erschließen. Christof Jeggle untersucht das Verhältnis zwischen einheimischen Händlern und italienischen Immigranten in Nürnberg um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine darniederliegende Wirtschaft verschärfte die Konflikte zwischen beiden Gruppen, doch trugen diese auf Seiten der Italiener zu einer verstärkten Netzwerkverbindung sowohl untereinander als auch mit der Herkunftsregion bei. Die folgenden vier Beiträge untersuchen kaufmännische Überlebensstrategien während der Kriege des 18. Jahrhunderts. Pierre Gervais beschäftigt sich mit einer Gruppe von Kaufleuten im transatlantischen Handel, die zur Risikominimierung durch Preis- und Mengenabsprachen versuchten, den Zuckermarkt zu beeinflussen. Diese wiesen Gervais zufolge bereits kartellartige Strukturen auf. Praktiken der Marktbeeinflussung waren jedoch unter den Zeitgenossen keineswegs neu. Während Marie-Claude Schöpfer am Beispiel der Gebrüder Loscho aus Brig und Cinzia Lorandini anhand der Trienter Salvadori zwei Handelshäuser vorstellen, die den Kriegsrisiken durch Flexibilität und Netzwerkbildung erfolgreich begegneten, beschreiben Francesco Vianello und Markus A. Denzel zwei Beispiele von scheiternden Kaufleuten. Der Rückzug eines Kapitalgebers sowie das Fehlen eines soliden Netzwerks brachten den Seidenkaufmann Bonin aus Vicenza in der Napoleonischen Zeit in Schwierigkeiten. Mangelnde Anpassungsfähigkeit an die sich verändernden Wirtschaftsverhältnisse nach 1815 verursachte Denzel zufolge das letztliche Scheitern des Handelshauses von Peter Paul von Menz in Bozen. Der Band schließt mit einem Beitrag von Andrea Bonoldi über den Niedergang des Bozener Merkantilgerichts im frühen 19. Jahrhundert, der sowohl durch den Protektionismus der Wiener Regierung als auch durch den Niedergang der Bozener Messen verursacht wurde. Das größte Monitum betrifft die sprachlichen Mängel des Bandes: Manche Beiträge hätten dringend einer Überarbeitung durch einen Muttersprachler bedurft. Nicht alle Ergebnisse sind zudem grundlegend neu, doch bieten die Fallstudien insgesamt ein facettenreiches Bild kaufmännischer Strategien in Krisensituationen. Margrit Schulte Beerbühl
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DETLEF DÖRING: „Dann sprach ich bei Professor Gottsched vor …“. Leipzig als literarisches Zentrum Deutschlands in der Frühen Neuzeit, Leipzig: Universitätsverlag 2014, 208 S., (ISBN 978-3-86583-849-0), 19,00 EUR. Eine persönliche Bemerkung vorweg: Ich habe Detlef Döring in der Wendezeit im Juli 1990 kennengelernt, als ich das Promotionsstudium in den USA begann und drei Wochen lang in Leipzig zu barocker Musikgeschichte forschte. Döring, der damals an der Leizpiger Universitätsbibliothek arbeitete, beriet mich nicht nur ausführlich; er und seine Frau Beate luden mich in ihre Wohnung, die schon damals eine in die Tausende gehende Büchersammlung beherbergte, ein. Der Besuch wurde kurz von auf dem Dach randalierenden Neonazis und einem Polizeieinsatz unterbrochen. Als ich von 1993 bis 1995 in Leipzig und Dresden forschte, war ich gelegentlich bei ihm zu Besuch und erzählte ihm von meinen archivalischen Funden. Danach vergingen manchmal sechs oder sieben Jahre zwischen meinen Besuchen in Leipzig, und ich verlor nach 2009 den Kontakt mit dem nun an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften tätigen Kollegen. Ich freute mich darauf, während eines Forschungsaufenthaltes im Juni 2015 den Kontakt wieder aufzunehmen, erfuhr aber mit Bestürzung, dass Detlef Döring im April im Alter von nur 62 Jahren an Krebs gestorben war. Diese Rezension ist also auch ein Abschied. Detlef Döring wäre aber der letzte gewesen, der eine unkritische Besprechung gewollt hätte. Das Buch widmet sich der Rekonstruktion der Sozialgeschichte der Literatur einer Stadt. Leipzig eignet sich wegen seiner mehrfachen Funktion als Universitäts-, Verlags- und Handelsstadt gut für eine solche Untersuchung. Da Leipzig auch ein – und zwischen etwa 1680 und 1760 der – führende Verlagsort im deutschsprachigen Raum war, handelt es sich auch um eine für die allgemeine Literaturgeschichte wichtige Studie. Es gelingt dem Verfasser zu zeigen, wie vielschichtige Verbindungen zwischen Professoren, Studenten, Verlegern, Buchdruckern und Käufern bzw. Lesern über dreieinhalb Jahrhunderte hinweg literarische Produkte prägten. Das Buch basiert auf geradezu enzyklopädischer Kenntnis der deutsch- und lateinsprachigen Literatur wie auch der Leipziger Stadt- und Universitätsgeschichte. Es handelt sich um eine Kombination von originärer Forschung und Synthese. Die thematische Organisation des Buches und die chronologische Behandlung der einzelnen Themen zeigen langfristige Kontinuitäten auf, z. B. die taktgebende Funktion der Periodika und das enge Verhältnis zwischen den Periodika und anderen literarischen Gattungen. Andere Einsichten des Buches sind die Vielschichtigkeit und die vielen praktischen Rollen der Literatur im kulturellen Leben der Stadt. Döring betont, dass Leipzigs literarisches Leben nur in bescheidenem Maße von den berühmten Schriftstellern wie Gottsched – und noch weniger von Goethe – bestimmt war. Er rekonstruiert Netzwerke von Studenten, Graduierten, Professoren, und Einwohnern, die oft auf die Studienzeit der Beteiligten zurückgingen. Die meisten Autoren wurden nicht berühmt, trugen aber dennoch zum literarischen Leben bei – eine Einsicht des sozialgeschichtlichen Ansatzes. Der hohe Wert, der dem literarischen Können beigemessen wurde, und die Allgegenwärtigkeit des Schreibens waren die Ecksteine dieser Welt. Man konnte als Student un-
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ter seinen Kommilitonen und sogar außerhalb der Stadt bekannt werden, wenn man in seinem Freundeskreis gute lateinische Dichtung vortrug. Ein Schwerpunkt des Buches ist die lateinsprachige literarische Kultur, die an der Universität, aber auch in breiteren akademischen Kreisen in der Stadt – bei Anwälten, Beamten, Pfarrern – angesiedelt war. Dichtung, Periodika, Romane und sogar der Poesieunterricht waren weit verbreitet. Zum Beispiel wurde erwartet, dass man während des Studiums lernte, Verse für Anlässe wie Hochzeiten und Geburtstage zu verfassen. Die Verzahnung von Literatur und Musik ist ein durchgehendes Thema des Buches. Johann Sebastian Bach etwa vertonte Werke Leipziger Dichter. Andere Thomaskantoren, insbesondere Johann Kuhnau, der Jura studiert hatte, verfassten selbst Romane. Der Kreissteuereinnehmer Christian Felix Weiße verfasste den Text des ersten deutschen Singspiels. Der Ratsherr und Hofgerichtsadvokat Johann August Apel schrieb Werke in vielen Gattungen, darunter Texte für Vokalwerke. Thomasschüler und -studenten komponierten die Musik für informelle theatralische Aufführungen. Döring beurteilt viele existierende Werke zum Thema kritisch. Oft ist dies gerechtfertigt, etwa hinsichtlich der Wiederholung alter Klischees der Romantiker über die Leipziger als spießbürgerlich. Manchmal übersieht er aber auch neuere Beiträge, einmal sogar in einem Buch (von Theresa Schmotz), das er an anderer Stelle zitiert. Dies dient seiner These, dass Leipzig und seine Bürger in der Forschung zu Unrecht als mittelmäßig und uninteressant gelten. Die Geschichtsforschung hat die zentrale Stellung der Stadt indessen reichlich gewürdigt. Musikologen mussten ihre Bedeutung wegen des Wirkens J. S. Bachs in Leipzig von 1723 bis 1750 nie betonen. Literaturgeschichtlich gab es aber, und da hat Döring Recht, seit Georg Witkowskis „Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig“ von 1909 keine allgemeine Darstellung. Dass es sie jetzt gibt, ist eine Leistung dieser gut lesbaren, kurz gefassten Studie, die einen breiten Leserkreis verdient. Tanya Kevorkian
Millersville/PA
OLIVER HEYN: Das Militär des Fürstentums Sachsen-Hildburghausen 1680–1806 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 47). Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015, 488 S., 33 s/w Abb., (ISBN 978-3-41250225-6), 59,90 EUR. Die Neue Militärgeschichte ist in der Geschichtsforschung seit Jahren etabliert; für die Epoche der frühen Neuzeit ist das Konzept breit rezipiert worden. Dabei ist das Forschungsbild heterogen: Sowohl über militärische Großmächte wie Preußen, Frankreich und die Niederlande als auch über einzelne Reichsterritorien und Reichsstädte liegen Studien vor. Das hier zu rezensierende Werk beschreitet das bisher kaum beachtete Feld der sehr kleinen Fürstentümer des Alten Reichs. Heyn wendet sich dem Militär des kleinen Fürstentums Sachsen-Hildburghausen zu und untersucht es in voller Breite. Die Arbeit thematisiert die Landesdefension in Form des Landesregiments, die fürstlichen Garden, die Rolle des Fürstentums bei
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der Reichsdefension sowie die Militärgerichtsbarkeit. Dabei ist der Forschungsansatz sozialgeschichtlich, mit Ausgriffen auf methodisch benachbarte Disziplinen wie die Alltagsgeschichte, ausgerichtet. Heyn begrenzt die Studie zeitlich mit dem Entstehen des Fürstentums Sachsen-Hildburghausen im Jahr 1680 sowie dem Ende des Fürstentums im Jahr 1806, nachdem es im Zuge der Napoleonischen Kriege dem Rheinbund beitreten musste und fortan zum Herzogtum erhöht wurde. Zunächst untersucht Heyn die Landesdefension, unter der sich die Aufbietung wehrfähiger Männer zu Verteidigungszwecken versteht. Das Aufgebot einer Landesdefension war 1555 durch eine Reichsexekutionsordnung verpflichtend geregelt worden. Während 1680 zwei Kompanien mit jeweils 278 Mann vorhanden waren, stieg die Zahl um 1690 auf fast 800 Mann; im 18. Jahrhundert sank sie jedoch wieder ab, zum Teil unter 500 Mann. Heyn stellt die Frage, ob die Landesdefension in Form der dienstverpflichteten Untertanen eine Alternative zum stehenden Heer darstellte. Für das kleine Fürstentum ist dies, wie er darlegt, sicher zu konstatieren. Bis ins 18. Jahrhundert agierte die Landesdefension in Form einer Landesmiliz; erst 1711 wurde ein Landesregiment errichtet, wozu die nötigen Verwaltungsstrukturen geschaffen worden waren. Die Kompanien wurden fortan zu einem Regiment zusammengefasst. Bereits 1717 wurden etliche Soldaten aus dem Dienst entlassen. Der Herzog unternahm den Versuch, ein stehendes Heer einzuführen, indem er die Garde zu Fuß sowie die Garde du Corps (Leibgarde), die Ende 1700 gegründet worden waren, mit deutlich mehr Soldaten ausstatten ließ. Die Garde sollte die Aufgaben des Landregiments größtenteils übernehmen, wenngleich jenes weiterhin bestehen blieb. Zu den Aufgaben der Truppen gehörten Wachdienste, policeyliche Funktionen (u. a. die Verfolgung von Bettler- und Diebesbanden) sowie die Landesverteidigung. Zudem sollte das Militär bei Unruhen die innere Sicherheit garantieren. Außerhalb des Fürstentums eingesetzt wurde das Landregiment im Römhilder Krieg (1710/11), einem Konflikt um die Erbfolge im Fürstentum SachsenRömhild, in dem es gleichwohl nicht in Kampfhandlungen verstrickt war. Heyn interpretiert diesen Einsatz vor allem hinsichtlich seiner außenpolitischen Wirkung, indem er feststellt, dass das Landregiment „ein Instrument war, mit dem man durchaus gegenüber mindermächtigen Nachbarn eine drohende Haltung einzunehmen und Druck auszuüben vermochte“ (104). Die militärischen Unternehmungen dienten ansonsten allein zur Verteidigung des Fürstentums; offensive militärische Unternehmungen waren nicht beabsichtigt. Bereits 1716 hatte das Fürstentum zudem geplant, Subsidientruppen nach Venedig zu verkaufen, was schnell scheiterte. Auch ein weiterer Versuch im Jahr 1750, als Soldaten in die Niederlande verkauft werden sollten, glückte nicht. Die bereits dafür angeworbenen Soldaten wurden in der Folge zu einer neuen Leibgarde zusammengefasst, sodass das Militär im Fürstentum verblieb. Einen militärischen Einsatz erlebten 164 Mann, die im Reichskontingent während des Spanischen Erbfolgekrieges eingesetzt waren. Die Landmiliz und das spätere Landregiment waren eng mit dem Fürstentum verbunden. Diese Lokalgebundenheit des Militärs zeigt sich auch darin, dass nahezu alle Offiziere des Landregiments aus dem mitteldeutschen Raum stammten;
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zum Teil waren sie eng mit dem Hof verbunden. Bei der Garde zeigt sich ein etwas anderes Bild: Rund zwei Drittel der Offiziere stammten hier nicht aus Sachsen-Hildburghausen. Das Militär verfügte über eine eigenständige Gerichtsbarkeit. Sicherlich erstaunlich ist, dass auch gemeine Soldaten im 18. Jahrhundert noch an der Rechtsfindung beteiligt waren, zeugt dies doch davon, wie wenig sich das Militärrecht entwickelt hatte, wenn das alte Schulzengericht – hier zudem in Form eines nicht stimmberechtigten Auditeurs – mit Anklängen aus der Landknechtszeit noch existierte. In der Regel wurden vor diesen Gerichten Desertionsvergehen verhandelt. Kartelle zur Auslieferung von Deserteuren mit umliegenden Fürstentümern wurden nicht geschlossen. Insgesamt schließt Heyns Studie in der Neuen Militärgeschichte der frühen Neuzeit erfolgreich die Lücke der (sehr) kleinen Fürstentümer im Reich. Die Arbeit hat systematisch alle verfügbaren Quellen ausgewertet. An einigen Stellen wäre eine stärkere methodische Untermauerung wünschenswert gewesen; die in der Einleitung erwähnten Forschungskonzepte der Alltags-, Sozial- oder Mikrogeschichte werden im Verlauf der Arbeit nicht mehr explizit aufgegriffen bzw. anhand der ausgearbeiteten Ergebnisse diskutiert. Diese Anmerkung schmälert jedoch den generellen Ertrag der Arbeit nicht, da das Buch zu weiteren Fragen anregt, wie etwa nach der Professionalität des Militärs in der frühen Neuzeit und den Unterschieden zwischen kleinen und großen Fürstentümern sowie den unterschiedlichen dahinter stehenden Konzepten. Daher ist zu wünschen, dass die Arbeit in der Forschungsdiskussion ausgiebig rezipiert wird. Benjamin van der Linde
Innsbruck
NADIR WEBER: Lokale Interessen und große Strategie. Das Fürstentum Neuchâtel und die politischen Beziehungen der Könige von Preußen (1707–1806) (= Externa. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 7), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015, 656 S., 4 s/w Abb., (ISBN 978-3-412-224516), 90,00 EUR. 1707 wurde der preußische König Friedrich I. zum Prince souverain de Neuchâtel et Valangin gewählt. Die Neuenburger Personalunion mit den fernen Hohenzollern dauerte 150 Jahre, freilich mit einer Unterbrechung zwischen 1806 und 1814, als der napoleonische General Louis Alexandre Berthier Fürst von Neuchâtel war. 1815 erkannte dann der Wiener Kongress Neuchâtel als Schweizer Kanton und Fürstentum der Preußenkönige an. In den 1830er und 40er Jahren wogten Auseinandersetzungen zwischen Republikanern und Monarchisten. 1857 verzichtete König Friedrich Wilhelm IV. auf seine Ansprüche. Seitdem bezeichnet sich Neuchâtel in der Schweiz offiziell als République et Canton. Nadir Weber wendet sich in seiner voluminösen Berner Dissertation der ersten, hinsichtlich des Staatsoberhauptes unumstrittenen Phase zu. Dabei hat er für das seiner Ansicht nach erstaunlich schlecht erforschte Terrain (51) in deutschen, französischen und Schweizer Archiven einen beeindruckenden Quellenfundus
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erschlossen. Die Einleitung (13–61) zeichnet sich aus durch differenzierte theoriegeleitete Überlegungen und Fragestellungen, die historisch-kulturwissenschaftliche, soziologische und politologische Fragestellungen auf einer breiten Literaturgrundlage verknüpfen. Das allgemeine Forschungsinteresse der Studie ist auf das Phänomen der in verschiedenen Territorien miteinander verbundenen Staaten ohne gemeinsame Landesgrenzen (composite states bzw. composite monarchies) gerichtet. Weber sieht in diesen zusammengesetzten Monarchien der Frühen Neuzeit „nicht nur ein weit verbreitetes, sondern auch ein durchaus erfolgreiches Herrschaftsmodell“ (30). Der weit entfernte König und Fürst aus dem Hause Hohenzollern und seine Regierung verfolgten strategische Ziele, die nicht zuletzt auf Macht und Status in den größeren europäischen Zusammenhängen ausgerichtet waren. Die Neuenburger hatten ihre eigene lokale Perspektive; ihre ökonomischen und politischen Interessen waren handfest. Je genauer Weber diese Grundkonstellation betrachtet, desto komplexer wird das Gefüge, das sich vor ihm ausbreitet. Um es erschließen zu können, wählt er als „analytische Leitkategorie“ den Begriff der „politischen Beziehungen“, die er allgemein als „Wechselwirkungen zwischen kommunikations- und handlungsfähigen“ Akteuren mit unterschiedlicher „Spielstärke“ ansieht. Macht, Herrschaft, Nutzen, Innen- und Außenbeziehungen, Kooperationen werden zu Bestimmungsgrößen der Beziehungen, die auch dem untergeordneten Akteur zugutekommen, je nachdem, wie sie in Handlungen eingehen. Positionierungen wie „von unten“ und „von oben“, „von außen“ und „von innen“ verlieren an dichotomischer Schärfe, so dass sie nutzstiftend zusammenwirken können. Der Hauptteil der Ausführungen folgt einer dreigeteilten „Dramaturgie“: Erstens geht es um das „Szenarium“ (63–185), zweitens um die „Interaktionen“ (187–425) und drittens um „Konfrontationen“ (427–588). Das hat viel mit der Inszenierung eines Schauspiels zu tun. Unterschiedliche Personen handeln auf Vorder- und Hinterbühnen. All dies bedarf auch einer geschickt angerichteten Requisite (57 f.). Im „Spiel der Interessen“ traten mehrere Akteure auf: Wilhelm III. von Oranien-Nassau, seit 1688 König von England, Schottland und Irland, gelang es nicht, Erbansprüche auf Neuenburg durchzusetzen. Er schied aus dem Wettbewerb aus, so dass die französischen und preußischen Akteure um die Entscheidung fochten. Während französische Begierden buchstäblich naheliegend waren, erschließt sich das preußische Interesse nicht sogleich. Für Friedrich I., seit 1701 selbstgekrönter König in Preußen, war es durchaus verlockend, in einem weiteren, wenn auch kleinen Territorium ein echter Souverän zu sein. Prestige auf oberster europäischer Ebene war damit verbunden, der Rang des brandenburgischen Kurfürsten im Reich lag darunter (106). Die Neuenburger wählten mit dem Hohenzollern einen Souverän der gleichen, d. h. evangelisch-reformierten Konfession, zugleich aber – und dies war gewiss nicht weniger wichtig – einen Potentaten, der ihre Unabhängigkeit von Frankreich gewährleisten konnte. Dass sie überdies kaum Abgaben und keinen Militärdienst leisten mussten, war ein für sie zweifellos vorteilhaftes Ergebnis ihrer Wahl, die von den preußischen Agenten mit „finanziellen und symbolischen Ressourcen“ vorbereitet wurde, welche die Konkur-
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renz in vergleichbarer Höhe nicht aufbrachte (75, 106). Frankreich empfand das Resultat als „störend“ (127), was zu napoleonischen Zeiten die erwähnten Folgen haben sollte. In der Schweiz missfiel vor allem den katholischen Orten die Neuenburger Entscheidung, während das protestantische Bern sich mit dem Argument anfreundete, dass somit eine solidere Barriere gegen Frankreich errichtet worden sei (136–140). Bereits in diesem, dem kürzesten der drei Hauptkapitel, zeichnet sich eine methodische Stringenz ab, die den mächtigen Theorieapparat der Einleitung mit einer überreichen, die Theorie bestätigenden quellenbasierten Empirie ausstattet. Im konkreten Zusammenhang bedeutet dies, dass Weber von der obersten europäischen Handlungsebene bis zu einer überaus bunten Lokalgeschichte vordringt. Er zeigt die Interessen und Handlungsspielräume von Familien und Kooperationen auf, verweist auf alte Bräuche und beobachtet – wie im Weinhandel (468) – sogar nachbarschaftliche Importbeziehungen zum politisch immer ein wenig bedrohlichen Frankreich, die der neue Landesherr respektierte oder respektieren musste. Die Fülle der dargebotenen, zum Teil je nach Interessenlagen der beteiligten Familien widersprüchlichen Details ist beeindruckend. Der große zweite Hauptteil analysiert unter der Überschrift „Interaktionen“ das beständige „Verhandeln und Aushandeln“, das einerseits die fernen (189– 282), andererseits die lokalen (282–425) Beziehungen gestaltete. Was die über weite Distanzen reichenden Interaktionen anbelangt, mag es etwas befremden, dass Gesandte und Gouverneure als „Medien“ bezeichnet werden, doch präzisiert dies durchaus ihre Funktion in der Interessenvermittlung. Weber beobachtet auch besondere Veränderungen: Zwar verliefen Interaktionen immer noch oft in Form persönlicher Begegnungen, doch wuchs die Bedeutung schriftlicher Korrespondenzen. Auszeichnungen und Geschenke unterstützten zielgerichtetes Handeln. Sprache spielte eine wichtige Rolle. Freundschaften, Protektionen und Patronage taten ihre Wirkung. Im Unterschied zum vorausgehenden Kapitel ist hier der auf das Lokale gerichtete Fokus merklich stärker. Eigentlich hätte der Neuenburger Conseil d’État diplomatische Verhandlungen mit dem Ausland in weiten Teilen gern selbst und direkt geführt, doch dies ließ der Souverän so nicht zu (295–297, 350). Was sich freilich bestens entwickelte, war eine „delegierte Diplomatie“, die lokale Amtsvertreter zu Akteuren der Außenbeziehungen bestellte und auch „Privatleute“ zu nützlichen Korrespondenten werden ließ. Durch eine sorgsam analysierende Beobachtung dieser Aktionen, die auf der Vorder- wie auf der Hinterbühne stattfanden, die sich häufig informell gestalteten, die „innere“ wie „äußere“ Politik miteinander verflochten, vermag Weber der lange Zeit ziemlich erstarrten Diplomatiegeschichte neue Impulse zu geben, weil sein Blick eben nicht vorrangig auf die oberste Ebene der Diplomatie gerichtet ist, sondern das „Spiel der Ebenen“ (382–425) mit (lokalem) Leben erfüllt. Wenn – allgemein gesehen – die beschriebenen Interaktionen in notwendigem und gebotenem Maße funktionierten und in der Regel zu einer vernünftigen Interessenwahrung führten, so blieben die preußischen Zeiten Neuenburgs dennoch keineswegs frei von „Konfrontationen“ und zwar solchen, die unter dem Eindruck von Kriegen standen, wie solchen, die Konflikte zwischen Obrigkeit und Untertanen anzeigten (427–429). Derartigen „politische[n] Beziehungen in der Krise“
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wendet sich der dritte, nun wieder etwas kürzere Hauptteil zu. In preußischen Auseinandersetzungen mit Frankreich wurde Neuchâtel stets als neutral respektiert (446), was aber nichts daran änderte, dass es entweder als Akquisitionsobjekt des grenznahen Nachbarn oder aber als eventuell nützliches Tauschobjekt des in der Ferne residierenden Souveräns betrachtet wurde. Dies hatte zwangsläufig Konsequenzen für die inneren Verhältnisse Neuenburgs: Tatsächlich mehrten und steigerten Vertreter Frankreichs während und nach dem Siebenjährigen Krieg ihren Einfluss auf den Neuenburger Magistrat, was auch dazu führte, dass die oppositionellen Kräfte in Neuchâtel durch „latente Protektion“ gestärkt wurden. Vor allem im Valangin wurden „herrschaftskritische Töne“ laut (463, 469). 1766 entstand der schwerste innenpolitische Konflikt um das Steuersystem. Die daraus erwachsenden troubles erregten europaweites Aufsehen. Friedrich II. war nicht bereit nachzugeben. Er sorgte dafür, dass der Kleine Rat von Bern als Schiedsgericht fungierte, dessen Urteil nach gezieltem „Einsatz symbolischer und materieller Ressourcen“ (493) zugunsten des preußischen Souveräns ausfiel, was sogar zu einer Truppenentsendung, nicht der Preußen, wohl aber der vier Schweizer Burgrechtsorte führte. Die Französische Revolution erregte auch Neuenburg. Selbstbezeichnungen als „Republikaner“, Anreden als Citoyens, „Losungen von Freiheit und Gleichheit“ oder Datierungen nach dem Revolutionskalender tauchten auf. Der Lobpreis der besten Nachbarschaft zu Frankreich wurde zeitweilig schier überschwänglich (560 f.). Doch nach dem Pariser Frieden hatte der Überschwang ein Ende: Wenn von Nation die Rede war, war die preußische und nicht die Schweizer gemeint. Auch die Grenzschilder machten dies deutlich (571). Schlussendlich bringt Weber seine Ausführungen nochmals auf einen eigenen Begriff: die „zusammengesetzte Diplomatie“ (595–600). Das entspricht stark dem zuvor verwendeten Terminus der delegierten Diplomatie. Einen solch deutlichen Akzent zu setzen, der „lokale Interessen und große Strategie“ zusammenfügt, leuchtet ein. Man wird sehen, ob er sich in der Frühneuzeitforschung durchsetzt. Wenn Weber schreibt, dass es sich um eine gekürzte Fassung seiner Dissertation handele, dann nimmt es schon etwas den Atem, wenn man bedenkt, dass alles ursprünglich noch ausführlicher abgehandelt wurde. Wer aber die Kondition aufbringt, die immer noch stattliche gekürzte Form gänzlich zu lesen, wird durch eine Fülle theoretischer Überlegungen und ausführlicher Einsichten in das 18. Jahrhundert an einem bestens gewählten Fallbeispiel reichlich entlohnt. Rainer S. Elkar
Wilnsdorf bei Siegen
ALEXIS JOACHIMIDES, CHARLOTTE SCHREITER, RÜDIGER SPLITTER (Hg.): Auf dem Weg zum Museum. Sammlung und Präsentation antiker Kunst an deutschen Fürstenhöfen des 18. Jahrhunderts, Kassel: Kassel University Press 2016, 280 S., (ISBN 978-3-7376-014-5), 39,00 EUR. Sammlungen antiker Kunst spielen nach wie vor eine große Rolle in der Erforschung der Sammlungsgeschichte. Es gibt viele Facetten, unter denen Archäologen, Kunsthistoriker, Sammlungshistoriker und Museologen sie bereits untersucht
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haben und weiterhin erforschen. Irgendwie scheinen sie im öffentlichen Bewusstsein am Ausgangspunkt aller Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit zu stehen. Einer solchen Sichtweise zufolge ist eine frühe Sammlung – vielleicht noch mehr ein frühes Museum – nur dann ernst zu nehmen, wenn es auch Antiken enthält. Deren Bedeutung ist durchaus auch als Ausdruck politischer Machtansprüche interpretiert worden. Der vorliegende Tagungsband umfasst drei Gruppen von Aufsätzen mit einem chronologischen Schwerpunkt im 18. Jahrhundert, einem geographischen Schwerpunkt in Deutschland und einem speziellen Sammlungsfokus auf dem Museum Fridericianum in Kassel. Auch wenn die Konzentration auf Sammlungen in deutschsprachigen Territorien sicher zu begrüßen ist, wäre es vermutlich noch besser gewesen, wenn diese von der internationalen Forschung bislang oft vernachlässigten Sammlungen stärker in der europäischen Sammlungsgeschichte kontextualisiert worden wären. Schließlich waren die häufigsten Sammler, d. h. die Aristokraten, die sich so ein kostspieliges Hobby leisten konnten, durch ihre Familienpolitik häufig multinational verknüpft. Die Beiträge untersuchen u. a. Sammlungen aus der Zeit der Aufklärung in Gotha (23–42), Braunschweig (43–62), Mannheim (63–80) und Erbach (81–96), doch das Hauptaugenmerk liegt auf Kassel und dort auf der Entwicklung von der Kunstkammer zum Museum Fridericianum (99–188) einschließlich der Rekonstruktion von Hängung, Zusammensetzung, Aufbewahrung und Präsentation. Das bereits von Anfang an als solches benannte Museum wurde in den 1770er Jahren neu errichtet, nachdem Friedrich II. von Hessen-Kassel in Italien, vor allem in Rom, so viele Antiken erworben hatte, dass die bestehenden Sammlungsräumlichkeiten nicht mehr ausreichten (152–161). Somit wurde die Sammlung vom Hof in einen separaten Kontext überführt, in dem der fürstliche Besitzer zwar allgegenwertig blieb, doch in dem er nicht mehr das Lebensumfeld mit der Sammlung teilte. Das Museum Fridericianum wurde deshalb zu einer Präsentations- und Bildungsanstalt, einer Art „Tempel der Bildung“ (154), sogar wieder einer Art Tempel der Musen, wie sich dies auch etymologisch seit der Antike herleiten lässt. Das Gebäude selbst war in seiner Fassade von der Architektur Roms inspiriert. Im Inneren beherbergte es Bibliothek, Antikensammlung, Kunstkammer, Naturalienkabinett und ein Observatorium. Eine Société und eine Académie wurden gegründet, um der Idee der kulturellen Vermittlung über die reine Präsentation hinaus gerecht zu werden. Friedrichs Interessen waren dabei breit gefächert, doch schlug sein Herz sicherlich in besonderem Maße für die Antiken, die er unter großem Aufwand in Rom erworben hatte. Diese Stücke wurden ursprünglich in der Antikengalerie gezeigt, und anhand eines Inventars lässt sich ihre Präsentation trotz der Umnutzung des Gebäudes unter König Jérôme Bonaparte Anfang des 19. Jahrhunderts und der späteren Neuordnung der Exponate stückweise rekonstruieren. Wie die Beiträge zeigen, bestehen gewisse Konstanten der Sammlungsgeschichte seit der frühen Neuzeit. Sammlungen entstehen, weil ein Fürst Interesse daran zeigt, die Vorteile eines solchen Prestigeobjektes zu schätzen weiß und Zu-
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gang zu Finanzmitteln und Quellen hat. Die Sammlungen bestehen nicht nur aus Antiken und all’antica Objekten. Kunstwerke im eigentlichen Sinn bilden auch nur einen Teil der Ausstellung. Ein besonderes Interesse gilt Gegenständen des täglichen Bedarfs, und vor allem die Grabkultur vergangener Zivilisationen übt eine große Faszination aus. Die Kunst- und Wunderkammer besteht als Sammlungsort zwar weiterhin, doch es zeichnen sich gerade dort vor allem seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einige Entwicklungen ab. Einerseits werden die Ausstellungsräumlichkeiten immer vielfältiger und weitläufiger; andererseits entfernen sie sich immer weiter von den eigentlichen Wohnungen der Fürsten. Außerdem kommen neue Sparten an Ausstellungsstücken hinzu, z. B. erleben die Gipsabguss-Sammlungen antiker Kunstwerke (35– 37, 243–258) wie auch Korkrekonstruktionen antiker Gebäude (38 und 177) eine Blüte. Münzen und Medaillen werden vor allem durch Ankäufe bestehender Sammlungen so zahlreich, dass sie nun immer häufiger ein eigenes Kabinett bilden. Nicht zuletzt wandelt sich die Nutzung von Sammlungen, die zwar immer noch der fürstlichen Repräsentation dienen, aber zunehmend Aufgaben in Wissenschaft und Lehre übernehmen. Nichts davon ist völlig neu und spätestens seit dem 16. Jahrhundert zu beobachten, aber es geschieht nun mit einer gewissen Regelmäßigkeit und flächendeckenden Verbreitung, während die theoretischen Abhandlungen zu Sammlung und Ausstellung sich ebenfalls weiterentwickeln. Antiquarische Werke sind nun illustriert und wenden sich immer öfter an eine wissenschaftlich interessierte, sogar universitäre Öffentlichkeit über das bisher maßgebliche Publikum fürstlicher dilettanti oder Hofkünstler hinaus. Oder sie fungieren als Reise- und Besucherführer zu den Hauptsammlungen, die im Rahmen eines wachsenden kulturellen Tourismus immer häufiger von Männern und selbst von Frauen aufgesucht werden (211–241). Eine fürstliche oder sonstige Privatsammlung konnte im Normalfall nur auf Einladung und in Gegenwart des Besitzers besucht werden, und bei so einer Gelegenheit passte der Sammler oder sein „Kurator“ nicht nur auf die Stücke auf, sondern präsentierte sie auch entsprechend. Seit dem späten 16. Jahrhundert demokratisiert sich der Zugang hin zu einer Art musealer Darbietung, die auf der einen Seite die Sammlungsstücke zu ihrem eigenen Schutz immer weiter vom Betrachter entfernen muss und auf der anderen den Zugang über Eintrittskarten und Besucherbücher immer leichter möglich macht. In manchen Fällen reichte es im 17. Jahrhundert aus, ordentlich gekleidet zu sein. Der nötige Schutz ist vielleicht einer der Hauptfaktoren, der die Antikensammlungen immer mehr zu Museen im heutigen Sinne macht. Die Steuerung der Lichtzufuhr wie auch des taktilen Zugangs vor allem zu kleinformatigen Exponaten sorgte für den Einsatz von Vorhängen und Vitrinen. Letztere machten eine Betrachtung von allen Seiten unmöglich, während durch den geringeren zur Verfügung stehenden Platz und die Notwendigkeit, die Besucher durch Informationen auf kleinen Karten zu unterrichten, der Betrachter gewissermaßen zum Einzelkämpfer wird, anstatt die Sammlung in geselliger Runde auf sich wirken zu lassen. Solche Glasvitrinen und Glastische kamen natürlich auch in anderen Sparten zum Einsatz, z. B. im Bereich der Naturkunde für die Ausstellung von Tierpräparaten und Mineralien (175 f.).
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Vielleicht der interessanteste Teil des Bandes neben der Kasseler Rekonstruktionen ist derjenige, der die Anforderungen des Publikums an sowie die Auswirkungen eines erstarkenden Tourismus auf die Ausstellungform und die Exponate beleuchtet. Auch wenn zahlenmäßig noch recht überschaubar, vor allem im Vergleich zum heutigen Kulturtourismus, zeigen sich spätestens im 18. Jahrhundert schon Anzeichen gravierender Probleme, die wir alle kennen. Schlechtes Benehmen, der Drang, alles anzufassen, und mangelnde Vorbereitung sind nur einige davon, aber sie führen damals wie heute dazu, dass Ausstellungsstücke immer stärker geschützt und erklärt werden müssen. Vieles an den Beiträgen ist zumindest für ein Fachpublikum nicht gänzlich neu und erscheint im Vergleich mit der reichen und wachsenden Forschung zu Fragen des Sammelns und Ausstellens ein wenig altmodisch – oder sollte man sagen: klassizistisch? – konzipiert. Die Wahl einer chronologischen Rahmung ist im Hinblick auf moderne Fragestellungen eigentlich nicht mehr angemessen. Wäre der Kontext z. B. stärker auf internationale Verknüpfungen sowie politische und kulturelle Ereignisse im Heiligen Römische Reich und Europa ausgerichtet, hätten ihre Auswirkungen auf Sammlungs- und Ausstellungstrends eventuell einen sinnvolleren Hintergrund geboten. Andrea M. Gáldy
Ottobeuren
ALEXANDER DENZLER: Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776 (= Norm und Struktur 45), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2016, 612 S., 32 Abb., (ISBN 978-3-412-22533-9), 85,00 EUR. Die von Sabine Ullmann betreute Eichstätter Dissertation bedient sich der Darstellungsmethode einer „dichten Beschreibung“ (27). Das macht die Lektüre nicht gerade leicht. Konzeptionell und materiell-inhaltlich bietet sie indessen einen innovativen Beitrag zur Geschichte des Alten Reiches, der die verbreitete positivistisch-antiquarisch-nostalgische Reichsgeschichte deutlich deklassiert. Ziel der überdurchschnittlich umfangreichen Studie ist es, mittels einer Kombination „archiv-, alltags-, verwaltungs-, verfahrens-, wissens-, begriffs- und diskursgeschichtliche[r] Ansätze“ in „praxeologischer“, also auf das alltägliche Handeln der beteiligten Akteure bezogener Perspektive der „Genese und Funktion“ besonders „massenhaft überlieferter Schriftlichkeit“ eines spezifischen Falls höchster reichsrechtlicher bzw. -politischer Aktivität nachzugehen (ebd.). Dieser Zugriff wird konzeptionell und kontextuell eingehend und überzeugend entwickelt: von der Schriftlichkeit in ihrer kombiniert hand- wie druckschriftlichen Erscheinungs- und Überlieferungsform sowie wissensproduzierenden, wissensfixierenden, mnemotechnischen, kommunikativen und politischen Funktion auch im Hinblick auf die Ritual- und Symbolverfassung des Reiches her; im Rahmen der untersuchten Zeit als nach Rudolf Schlögl „finale[r] Transformationsphase der Anwesenheitsgesellschaft“ zur medienkommunikativen Gesellschaft oder „mit Koselleck als Beginn der Sattelzeit“ bzw. in eigener Charakterisierung „als ‚Wertherzeit‘“ (54); mittels
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Definition der Visitation im Allgemeinen und in ihrer Ausprägung als Reichskammergerichtsdiagnose- und -reforminstrument der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als anspruchsvolles Verfahren einfacher (Kanzlisten) und höherer (Sekretäre, Räte) juristisch nicht nur gebildeter, sondern auch erfahrener Funktionsträger, im Auftrag der jeweiligen Visitationsstände anhand bestimmter Vorgaben und unter konkreten Bedingungen Kontrolle und „Herrschaft vor Ort zu inszenieren und durchzusetzen“ (50). Mit der sowohl von den Reichsständen als auch vom Kaiser nach den Erfahrungen der jüngsten Kriege (Stichwort Hubertusburger Friede 1763) und der verbreiteten Unzufriedenheit mit den Leistungen der beiden höchsten Gerichtsinstanzen, aber auch vom Reichskammergericht selbst gewünschten Visitation von 1767 von 1776 wird zudem unzweifelhaft ein besonders erkenntnisträchtiges Fallbeispiel herangezogen. Dem umsichtigen Untersuchungsarrangement entsprechen die detaillierte, aufwendige Befunderarbeitung aus einem umfangreichen und verstreuten Quellenbestand, die hier nicht rekapituliert werden kann, und die zusammenfassende Ergebnisreflexion. Der Befund ist komplex, aber eindeutig. Die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit ihrer politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen, ihre Einbettung in die überkommene Zeitökonomie und Arbeitskultur sowie die überzogenen Erwartungen, denen die Visitation unterlag, bewirkten, dass sie dem mächtig aufstrebenden aufgeklärt-vernünftigen „(kosten-)rationalisierenden Zeitgeist“ (466) nicht folgen konnte und deshalb schon zeitgenössisch als gescheitert erschien und vorzeitig abgebrochen wurde. Ihre Verteilung auf vier „Reformsphären“ (467) mit dem Zentrum Wetzlar brachte nicht nur erheblichen zusätzlichen Aufwand in der Schriftlichkeit und oralen Kommunikation, sondern auch deutlichen finanziellen Zusatzaufwand sowie zeit- und energiezehrende, daher auch demotivierende Rangabstimmungsbedürfnisse mit sich. Ebenfalls mit Problemen waren die Zusammenstellung, Koordination und produktive Bändigung der professionellen und persönlichen Dynamiken der Akteursgruppe (im Kern 56 Visitatoren und rund 80 andere Kräfte) verbunden. Erst recht gestaltete sich das Visitationsverfahren selbst in seiner Kombination unterschiedlicher Informationsbeschaffungs-, Verschriftlichungs- und Berichtsschritte in insgesamt 1 056 Sitzungen höchst schwierig und unter den gegebenen Bedingungen nahezu unvermeidlich „weitläufig“, wie der Autor in Übernahme des Quellenbegriffs überzeugend konstatiert, ohne unreflektiert Weitläufigkeit gegen Gründlichkeit auszuspielen (127–135). Allerhand hier im Einzelnen nicht aufzuführenden Widrigkeiten begegnete schließlich auch und vor allem die Suche nach den Defiziten und den Reformmöglichkeiten des RKG, also die Umsetzung der eigentlichen Inhalte und Zwecke der Visitation. Die Konkretisierung der „geradezu zeitlosen Reformmaxime der Prozessbeschleunigung“ (480) durch Verfahrensstraffungen, Instanzen- und Aufgabenneuverteilung etc. kollidierte erneut mit wesentlichen Komponenten der zeitgenössischen Arbeits, Sozial- und Politikkultur, wie ein einschlägiger Korruptionsskandal indiziert. Die Erfordernis korrekten Rituals und akzeptanzsichernder symbolischer Inszenierung, auf deren Bekräftigung im Reich auch durch die Schriftlichkeit selbst schon lange Barbara Stollberg-Rilinger aufmerksam macht, spielte dabei keine geringe, zeitgenössisch erst ansatzweise erkannte Rolle. Dass also „mit der Schriftlichkeit in Abgrenzung, aber auch im Zusammenspiel mit dem Symbolischen eine Inszenierungs-
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logik sui generis entstand“ (482), die ihrerseits zu Schriftaufwertung und Steigerung des Schriftaufkommens beitrug, ist jetzt durch diese mit informativen Diagrammen und Übersichten angereicherte, wegweisende Dissertation nachgewiesen. Auf einzelne Detailausmalungen und gelegentliche rhetorische Fragen hätte die Darstellung vermutlich verzichten können. Sehr selten sind grammatikalische Flüchtigkeiten stehen geblieben, so auf den Seiten 66 und 67 jeweils ein Satz, in dem auf ein plurales Subjekt ein Prädikat im Singular folgt. Die vom Autor selbst entwickelte Kennzeichnung seiner Untersuchungszeit als „Wertherzeit“ überzeugt nicht unbedingt, auch wenn ein biographischer und werkgeschichtlicher Bezug der untersuchten Visitation zu Goethe und den „Leiden des Jungen Werthers“ besteht (37 f.). Der ausgreifend literarisch-prätentiöse Haupttitel scheint mir weder besonders attraktiv, d. h. fachwissenschaftlich rezeptionsfördernd, noch inhaltlich wirklich zutreffend: Untersucht wurde mit dem Visitationsereignis doch gerade nicht der allgemeine Schriftalltag. Der Schlusssatz „Am Ende stritt man um Akten“ (483) hätte zu übergreifenden reichskritischen Überlegungen anregen können, ansetzend am richtig erkannten Verständnis großer Teile der Reichselite der Politik wesentlich als Recht. So bekräftigt diese faszinierende Erstlingsstudie am Ende doch den Eindruck, dass den Verantwortlichen des Alten Reiches an dessen Ausgang ein realistisches Politikverständnis, die hinreichende Einsicht in die Reichsräson, abging, wodurch sie den letztlich von außen bewirkten Einsturz mit bewirkten. Wolfgang E.J. Weber
Augsburg
BARBARA RAJKAY, ANGELA SCHLENKRICH (Bearb.): Paul von Stetten d. J. Selbstbiographie. Die Lebensbeschreibung des Patriziers und Stadtpflegers der Reichsstadt Augsburg (1731–1808). Bd. 2: Die kalendarischen Aufzeichnungen 1791– 1804 (= Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe 6: Reiseberichte und Selbstzeugnisse aus Bayerisch-Schwaben 5.2), Augsburg: Wißner 2015, 744 S., 24 s/w Abb., (ISBN 978-3-89639-991-5), 39,80 EUR. BARBARA RAJKAY, RUTH VON STETTEN (Bearb.): Paul von Stetten d. J. Selbstbiographie. Die Lebensbeschreibung des Patriziers und Stadtpflegers der Reichsstadt Augsburg (1731–1808). Bd. 3: Die Aufzeichnungen zu den Jahren 1804–1807 (= Veröffentlichungen der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe 6: Reiseberichte und Selbstzeugnisse aus Bayerisch-Schwaben 5.3), Augsburg: Wißner 2016, 328 S., 26 Abb., (ISBN 978-3-95786-076-7), 24,80 EUR. 2009 erschien der erste Band einer auf drei Bände angelegten Edition der Lebensbeschreibung des letzten evangelischen Stadtpflegers der Reichstadt Augsburg, Paul von Stetten d. J. (1731–1808), mit der Barbara Rajkay und Ruth von Stetten ein lange bekanntes Desiderat einlösen möchten. Mustergültig transkribiert und kommentiert war hier der erste von insgesamt vier Teilen der Lebensbeschreibung Pauls von Stetten bis kurz vor seiner Wahl zum Stadtpfleger 1792 (vgl. die Rezension in JbRG 31 [2014], 156‒158). Wie die Bearbeiterinnen in ihrer damaligen Einleitung hervorhoben, sind der zweite und dritte Teil der Aufzeichnungen, die Jahre 1791– 1804 betreffend, unglücklicherweise verschollen. Die Herausgeber entschieden sich
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Rezensionen und Annotationen
daher, diese Lücke durch die sogenannten Circularia, kurze tagebuchartige Einträge Paul von Stettens, zu schließen. In einem dritten Band sollte schließlich wieder auf die Lebensbeschreibung zurückgegriffen werden, konkret den noch erhaltenen vierten Teil von 1804 bis 1808. Mit den beiden nun vorliegenden Bänden lösen die Bearbeiterinnen dieses Vorhaben in erneut beeindruckender Art und Weise ein. Die Circularia, im Titel des zweiten Bands der Edition als „kalendarische Amtsaufzeichnungen“ bezeichnet, ähneln einem Ein- und Auslaufjournal und dienten von Stetten wohl vor allem als Hilfsmittel seiner eigenen Schriftgutverwaltung sowie als Gedächtnisstütze. Die beschriebenen Seiten haben immer dieselbe in drei Spalten gegliederte äußere Form. In der ersten Spalte ist das Eingangsdatum des empfangenen Schreibens notiert, die zweite enthält den Betreff und die dritte das Datum der Weitergabe. Denn die hier festgehaltenen Schreiben waren in erster Linie an den Geheimen Rat adressierte Schriftstücke, die im Umlaufverfahren (daher der Name Circularia) durch dessen Mitglieder behandelt wurden. Wer nun Ein- und Auslaufjournale kennt, weiß, dass sie einen eher geringen historischen Wert besitzen und ihre Lektüre meist monoton und wenig erquicklich ist. Doch die vorliegenden „sperrig und spröde anmutenden Aufzeichnungen“ (XIII) werden dadurch wertvoll, dass von Stetten zu vielen eingegangenen Schreiben seine Gedanken notiert oder sogar ausformulierte Konzepte für seine Stellungnahmen in den Sitzungen des Geheimen Rats niedergeschrieben hat. Auf diese Weise erfährt der Leser relativ direkt und ungefiltert die Gedanken des höchsten städtischen Amtsträgers zu den im wichtigsten Gremium zirkulierenden Themen wie die ständige Finanznot der Reichsstadt, die Verfassungskrise, Probleme des Patriziats, Konflikte mit der Handwerkerschaft und nicht zuletzt die Koalitionskriege sowie die in diesem Kontext intensivierten Bestrebungen Kurbayerns und des Herzogtums Württembergs, die Reichsstadt zu mediatisieren und in ihr Territorium zu integrieren. Der dritte Band der Edition hingegen greift wieder auf die Lebensbeschreibung von Stettens zurück. Die Themen bleiben auch in dieser Zeit (1804‒1808) im Wesentlichen dieselben; in eindringlichen Schilderungen wird aber die Zuspitzung der alle Lebensbereiche erfassenden Krisen und Umwälzungen erkennbar: Kriegshandlungen, Einquartierungen fremder bzw. feindlicher Truppen, verbunden mit Kontributionen, Zwangsaushebungen, Teuerungen und Krankheiten. Einhergehend mit der Auflösung der reichsstädtischen Verfassung, die schließlich 1805/06 in die vollständige Mediatisierung der Reichsstadt und deren Eingliederung in das Kurfürstentum Bayern mündete, verschlechterte sich auch der Gesundheitszustand von Stettens stetig. Kurz nach der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. resignierte er von seinen Ämtern und zog sich sich in den Ruhestand zurück; am 11. August 1808 verstarb er im Alter von 76 Jahren. Die Lebensbeschreibung ist kein administratives Hilfsmittel wie die Circularia, sondern geht als autobiographische Textgattung qualitativ weit darüber hinaus. Gleichzeitig trägt sie Züge eines Tagebuchs sowie eines Rechenschaftsberichts. In längeren Passagen schreibt von Stetten Erlebnisse, Gerüchte, Geschehnisse nieder und notiert seine Gedanken dazu. Mit Ausnahme der Schilderung seines 50-jährigen Hochzeitsjubiläums konzentriert er sich dabei auf politische Entwicklungen.
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Sowohl die Circularia als auch insbesondere die Lebensbeschreibung zeigen ihren herausragenden Quellenwert vor allem dann, wenn von Stetten über politische Ereignisse, die beteiligten Akteure, ihre Ansichten, Verflechtungen und (Inter-)Aktionen berichtet. Anders aber als im ersten Band der Edition, der die Jahre bis 1792 abdeckt, wird deutlich, dass von Stetten nicht mehr im Zentrum der für die Reichsstadt wichtigen politischen Entscheidungen agiert. Allzu häufig zeugen seine Berichte von erfolglosen Gesandtschaften an auswärtige Höfe, Konferenzen ohne Ergebnis sowie Gerüchten über das Schicksal seiner Heimatstadt, die in Kombination mit den eindringlichen Schilderungen der krisenhaften Zustände veranschaulichen, wie sehr Augsburg und sein Magistrat zum Spielball der Territorialstaaten geworden sind. Wie beim ersten Band ist die Qualität der editorischen Arbeit auch hier als vorbildlich zu bezeichnen. Die Einleitungen führen jeweils anschaulich in die politischen und privaten Umstände ein und erklären die Quellen inhaltlich und formal. Die exakte Transkription, die bei den Circularia durch viele, heute nicht mehr gebräuchliche Abkürzungen erschwert wurde, wird durch einen erneut herausragenden Anmerkungsapparat ergänzt: Die zahlreichen im Text vorkommenden Namen werden in den Fußnoten gut aufgelöst, Rahmenereignisse, rechtliche oder konstitutionelle Eigenheiten sowie seltene Begriffe und Krankheiten erklärt. Auf ergänzendes Archivmaterial weisen die Bearbeiterinnen ebenso hin wie auf die einschlägige Literatur. Zeichnungen und Stiche erwähnter Personen und Schauplätze vermitteln dem Leser ein gutes Bild. In den Anhängen findet sich jeweils ein umfangreiches Personen- und Ortsregister, das die Edition in Kombination mit den Annotationen beinahe zu einem biographischen Nachschlagewerk macht. Der zweite Band enthält darüber ein umfangreiches Glossar, das juristische und allgemeine zeitgenössische Begriffe erklärt. Im dritten Band schließlich sind genealogische Stammtafeln der Familie von Stetten sowie Kurzbeschreibungen der reichsstädtischen Verfassung um 1800 aufgeführt. Was gibt es an der Edition zu kritisieren? Der Rezensent kann nichts anführen, was ihn nicht als kleinlichen Pedanten erscheinen lassen würde, und so schweigt er an dieser Stelle voller Hochachtung. Johannes Staudenmaier
Bamberg
MARK HÄBERLEIN, MICHAELA SCHMÖLZ-HÄBERLEIN: Adalbert Friedrich Marcus (1753–1816). Ein Bamberger Arzt zwischen aufgeklärten Reformen und romantischer Medizin (= Stadt und Region in der Vormoderne 5), Würzburg: Ergon 2016, 453 S., 23 Abb., (ISBN 978-3-95650-134-0), 48,00 EUR. MICHAELA SCHMÖLZ-HÄBERLEIN, MARK HÄBERLEIN: Die Medizinische Bibliothek des Adalbert Friedrich Marcus. Privater Buchbesitz und ärztliches Wissen in Bamberg um 1800 (= Bamberger Historische Studien 15), Bamberg: University of Bamberg Press 2016, 140 S., (ISBN 978-3-86309-429-4), 19,00 EUR. Die anzuzeigende Studie über Adalbert Friedrich Marcus erschien pünktlich zu dessen 200. Todestag im April 2016. Wie die Autoren ausführen, bot ihnen dieses Jubiläum einen willkommenen Anlass für eine „überfällige moderne Biographie“
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Rezensionen und Annotationen
(17) des vor allem für die Bamberger Stadt- und Kulturgeschichte bedeutsamen, aber ebenso im Kontext der Wissenschafts- und Medizingeschichte bekannten und wichtigen Arztes und Gesundheitsreformers Marcus. Das erklärte weitergehende Ziel ist es, damit zugleich „die Grundlage für eine Neubewertung seiner Person und seines Wirkens zu schaffen“ (17). Der der neuen Biographieforschung verpflichtete Ansatz bedeutete, die gedruckte wie ungedruckte Überlieferung möglichst umfassend zu berücksichtigen, speziell auch die bislang kaum beachteten Archivbestände auszuwerten. Implizit wurde zugleich die bisherige Rezeptionsgeschichte unter einen kritischen Vorbehalt gestellt. Marcus wurde als Israel Marcus 1753 in eine jüdische Familie hineingeboren, deren Mitglieder als Hoffaktoren in der Residenzstadt des Fürstentums Waldeck angesiedelt waren. Statt wie seine Brüder ein kaufmännisches Gewerbe aufzunehmen, studierte er Medizin in Göttingen – eine akademische Laufbahn, die auch Juden offenstand. Über Würzburg kam er nach Bamberg und konnte dort 1777 eine ärztliche Praxis eröffnen. Mit seiner Konversion zum katholischen Glauben 1781 folgte er einem Trend; sie eröffnete ihm den Zugang zu einem „emanzipatorischen Raum“ (69) und zur Integration in die Mehrheitsgesellschaft. Als Adalbert Friedrich Marcus erhielt er kurz darauf die Position eines Leibarztes des Fürstbischofs Franz Ludwig von Erthal. Dessen Regierung war deutlich sozialpolitisch ausgerichtet; so ergab sich für Marcus die Gelegenheit, sich an innovativen Projekten zu beteiligen. Hervorzuheben ist das 1789 eingeweihte Allgemeine Krankenhaus, das in Verbindung mit dem Gesellen- und Dienstboteninstitut, einer frühen Form der Krankenversicherung, eine wesentliche Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung, insbesondere der labouring poor bedeutete. Unter Marcus‘ Leitung entwickelte sich dieses Haus in den folgenden Jahren zu einem internationalen Anziehungspunkt der Fort- und Weiterbildung von Ärzten. Hier konnten sie praktische Erfahrungen am Krankenbett sammeln, was durchaus nicht überall möglich war. Durch die klinischen Vorlesungen wurde zudem die therapeutische Praxis mit der Theorie verbunden, und hier wurden die zeitgenössisch-modernen medizintheoretischen Konzepte vertreten, so dass auch deren prominente Repräsentanten, wie etwa Andreas Röschlaub, in Bamberg anzutreffen waren. Häberlein und Schmölz-Häberlein zeigen jedoch zugleich auf, in welchem Ausmaß dieses moderne Krankenhaus auch ein „Machtraum“, ein „Kräftefeld“ (113) unterschiedlicher Gruppen und Interessen war. Nach 1795 verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen für Marcus deutlich, denn der neue Fürstbischof Christoph Franz von Buseck distanzierte sich davon und entzog dem Krankenhaus die Mittel. Hinzu kamen die politischen Auseinandersetzungen, in deren Folge Kapazitäten für Militärlazarette bereitgestellt werden mussten. In dieser Phase wandte sich Marcus – offiziell weiterhin der Klinikleiter – vermehrt publizistischen Aktivitäten und kulturellem Engagement zu; ferner verfolgte er eigene spekulative Projekte. Erst mit der Eingliederung Bambergs nach Bayern konnten weitere unerledigte gesundheitspolitische Vorhaben umgesetzt werden, wie die Hebammenlehranstalt oder die geplante Irrenanstalt. Als bayerischer Medizinaldirektor hatte Marcus zudem noch weiterreichende Handlungsoptionen erlangt. Ob
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seiner vielseitigen Leistungen auf lokaler Ebene stand er in Bamberg in hohem Ansehen, was die Trauerfeierlichkeiten anlässlich seines 1816 erfolgten Todes eindrücklich demonstrierten. Häberlein und Schmölz-Häberlein haben eine ausgesprochen verdienstvolle Studie vorgelegt, die ihren eingangs formulierten Ansprüchen durchaus gerecht wird. Es gelingt ihnen in beeindruckender Weise, ihren Protagonisten in seinen vielschichtigen Facetten zu fassen und vorzustellen. Wir lernen einen Mediziner kennen, in dessen familiärem Umfeld ein weitgespanntes Netzwerk von Beziehungen bestand, das er selbst punktuell nutzte. Die Konversion erleichterte ihm, wie vielen anderen Juden, die berufliche Karriere wie auch die gesellschaftliche Anerkennung. Marcus partizipierte an den aktuellen gesundheitspolitischen Diskursen seiner Zeit und fand in Bamberg Gelegenheit, an deren praktischer Umsetzung mitzuwirken – welchen Anteil er im Einzelnen an den Projekten hatte, ob er Impulsgeber war und in der Regierungszeit von Erthals auf günstige Umstände traf, oder ob er als medizinischer Experte bei der Umsetzung bestehender Pläne Akzente setzen konnte, müssen weitere Forschungen zeigen. Konfrontiert mit einer Medizin, die von einem Krisengefühl gekennzeichnet war und sich in einer Umbruchphase befand, bezog Marcus stets eine offene Position gegenüber dem Neuen, was ihn jedoch zu Widersprüchen führte und angreifbar machte. Zugleich wird er als eine schillernde Persönlichkeit gezeichnet, die mit erstaunlicher Energie und Tatendrang nicht nur in der Medizin, sondern auch im kulturellen Leben präsent war und die zugleich über ein Durchsetzungsvermögen verfügte, der manches auch unlautere Mittel Recht war, um ihre Interessen durchzusetzen; dies galt sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich. In Verbindung mit der hier eingefangenen Vielschichtigkeit der Person Marcus stehen die ebenso vielschichtigen Kontexte, auf die er während seines Lebens traf und in denen er agierte. Seine Lebensgeschichte wird neu erzählt, weil die Autoren umfassend gefragt und recherchiert haben und weder Ambivalenzen noch Untiefen ausgewichen sind. Damit zeigt die neue Biographie zugleich ein Kaleidoskop der deutschen Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, und sie hält auch auf dieser Ebene einige neue Erkenntnisse bereit. Gut lesbar und mit zahlreichen (teilweise zu vielen) Zitaten versehen, empfiehlt sie sich zu anregender Lektüre. Ergänzend zur neuen Biographie haben sich die beiden Autoren mit der medizinischen Bibliothek von Marcus beschäftigt. Hier handelt es sich nicht um ein Nachlassinventar; vielmehr hat Marcus das Verzeichnis seiner Bestände selbst angelegt und fortlaufend Einträge vorgenommen. Insgesamt sind die Titel von 546 Büchern und Zeitschriften erfasst. Sie werden hier nach verschiedenen Kriterien sortiert präsentiert (u. a. zeitliche Zuordnung nach Erscheinungsdatum, Zuordnung zu Fachgebieten, Literatur jüdischer Autoren etc.). Verzeichnisse privater Bibliotheken, die einen Zugang über dingliche Überlieferung bieten, können von unterschiedlichem Erkenntniswert sein. Da die Bücher selbst jedoch nicht mehr vorhanden sind und über deren Verbleib bis dato nichts bekannt ist, ist der Aussagewert dieser Aufstellung allerdings sehr begrenzt. Zwar sind Werke aus verschiedenen Zeitepochen vertreten – und die Ausführungen sind hier mit sehr
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Rezensionen und Annotationen
schönen, teils farbigen Titelkupfern versehen –, aber über die Herkunft und den Zeitpunkt des Erwerbs können vorzugsweise nur Vermutungen angestellt werden. Auch die Frage, welche zeitgenössischen Werke wohl als Geschenke in Marcusʼ Hände gelangt sind, lässt sich nicht sicher beantworten. Nähere Auskünfte über „ärztliches Wissen“ aus privatem Buchbesitz, wie es der Untertitel der Publikation ankündigt, würde jedoch die autoptische Beurteilung der Exemplare in ihrer Materialität selbst bedingen: Spannend wäre zu erfahren, ob sie Gebrauchsspuren (z. B. Marginalien, Anstreichungen), Widmungen etc. aufwiesen, um übernommene Bücher von eigenen Anschaffungen zu unterscheiden, die Intensität der Bearbeitung durch Marcus einschätzen und möglicherweise einen zeitlichen Bezug zu seinen eigenen Projekten herstellen zu können. Irmtraut Sahmland
Marburg
4. 19. und 20. Jahrhundert HOLGER TH. GRÄF, ALEXANDER JENDORFF, PIERRE MONNET (Hg.): Land – Geschichte – Identität. Geschichtswahrnehmung und Geschichtskonstruktion im 19. und 20. Jahrhundert – eine historiographische Bestandsaufnahme (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 174), Darmstadt/Marburg: Selbstverlag der Hessischen Historischen Kommission Darmstadt und der Historischen Kommission Hessen 2016, 269 S., 8 Abb., (ISBN 978-3-88443-329-4), 28,00 EUR. Der Band enthält Beiträge einer 2015 anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Archivs im Hochtaunuskreis in Bad Homburg v. d. Höhe abgehaltenen Tagung, die den zwar nicht erstmals in den Blick genommenen, nichtsdestotrotz aber erörterungswürdigen Zusammenhang zwischen „Geschichtskonstruktionen und historischen Identitätsbildungen“ (5) unter verschiedenen Akzentsetzungen beleuchten. Im ersten Teil, der auch den programmatischen Beitrag des vormaligen Kasseler Neuzeit- und Landeshistorikers Winfried Speitkamp enthält, wird die Thematik durch Einbezug benachbarter „Landesgeschichten“ betrachtet. Der Band kommt hier dem schon lange artikulierten Desiderat einer über die gegenwärtigen Staatsgrenzen hinausführenden Vergleichenden Landesgeschichte nach. Im zweiten Teil wird die Entwicklung und Konstruktionsleistung der Historiographie in der MainTaunus-Region thematisiert. Die Herausgeber verweisen mit Recht darauf, dass „Geschichte und Geschichtsschreibung […] eo ipso nicht unpolitisch sein“ kann, so dass „eine stete Selbstreflexion der Erkenntnisinteressen, des Zugriffs, der Sprachverwendung und der Verwendung historisch-politischer Begrifflichkeiten“ (7) erforderlich ist. Der dritte Teil ist dann den (außeruniversitären) Institutionen der Landesgeschichte gewidmet, den Vereinen, Archiven und – im Falle Hessens – gleich mehreren Historischen Kommissionen. Die Beiträge sollen zur Erkenntnis beitragen, „dass es mittlerweile weniger darum gehen darf, ‚Landesgeschichte‘
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als Disziplin zu definieren oder gar zu legitimieren, sondern vielmehr zu einer Analyseebene zu machen, um Probleme allgemeiner und interdisziplinärer Natur – sinnvollerweise in einer vergleichenden Perspektive – zu untersuchen“ (7). Winfried Speitkamp, der schon früher auf die kulturwissenschaftlichen Herausforderungen der Landesgeschichte reagiert hat, führt in seinem Beitrag den Nachweis, dass allgemeine (geschichts-)wissenschaftliche Fragestellungen durch die Betrachtung landes- und regionalgeschichtlicher Zusammenhänge in besonderer, ja unverzichtbarer Weise erhellt werden können. Landesgeschichte kann in „dichten Beschreibungen“ (Clifford Geertz) die Entstehung von identifizierbaren Grenzen trotz dynamischer Veränderungsprozesse, die einem statischen Verständnis widersprechen, erörtern und „dabei auch die Aushandlungen untersuchen, die Identität, Integration und Exklusion hervorrufen, also zugleich mentale Raumbildungsprozesse betrachten“ (12). Speitkamp erörtert die konstitutiven Komponenten Raum, Land und Landesgeschichte vor dem Hintergrund eines bereits eineinhalb Jahrzehnte lang diskutierten konstruktivistischen Raumverständnisses. Dabei verortet er beim Landesbegriff die Identitätsfrage, die – basierend auf Ritualen, Erinnerungsorten und kulturellem Erbe – zwischen „obrigkeitlichwissenschaftlicher Reglementierung und kommunikativer Vermittlung“ (21) divergiert. Hilfreich sind außeruniversitäre Institutionen (Ausstellungen, Museen, Denkmalpflege), in denen die von selbständigen Subjekten vollzogene, in der Landesgeschichte seit langem intendierte „[p]artizipative Geschichtsproduktion“, die das angesichts von Globalisierung und zunehmenden Prozessen der Hybridisierung feststellbare „Bedürfnis nach Nähe, nach Teilhabe, nach Authentizität“ (24) aufnehmen kann. Derartige Ausführungen sind nicht grundsätzlich neu, aber zwingende Voraussetzung im Kontext der Zielsetzung des Bandes. Aufschlussreich sind angesichts der von Speitkamp dargelegten Unverzichtbarkeit der Landesgeschichte in Deutschland die Ausführungen des französischen Mittelalterhistorikers Pierre Monnet, der die weitaus schwächere Position der französischen Landesgeschichte(n) mit der stärker zentralistisch ausgerichteten historischen Entwicklung Frankreichs begründet: „Wo in Frankreich die Leistung einer Regionalgeschichte als ein Beispiel zur Nationsbildung konzipiert werden konnte, verstand sich die deutsche Landesgeschichte als die Geschichte des Menschen in dem von ihm besiedelten Land und der in ihm errichteten herrschaftlichen Ordnungen“ (32). Für Länder wie Luxemburg und die Schweiz hingegen bedeutet die deutsche landesgeschichtliche Ebene schon Nationalgeschichte. Der Schweizer Mentalitätsund Alltagshistoriker Guy P. Marchal streicht aber die Bedeutung der Identitätsdiskurse über einzelne Orte heraus, die sich in der Eidgenossenschaft verbanden, deren selbst empfundene Prädestination in Sinnzuschreibungen an die alpine Landschaft reflektiert wurde. Marchal konzentriert sich auf „die Rolle der Landschaft für das schweizerische Selbstverständnis“ (38) und hebt die Bedeutung der Differenzierung von Geschichtsschreibung und Geschichtskultur (40) hervor. Während für das 15. und 16. Jahrhundert in der Historiographie ein religiös begründeter Bezug zur Landschaft mit der Vorstellung vom auserwählten Volk der Schweizer (wie dies ja auch in anderen europäischen Ländern im Selbstbezug
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Rezensionen und Annotationen
geschah) hergestellt wurde, sind in jüngster Zeit in der schweizerischen Nationalgeschichtsschreibung keine näheren Verbindungen „zwischen historischer Entwicklung und alpiner Landschaft“ (46) zu verzeichnen. Ganz anders ist es in der Geschichtskultur, in der „Landschaft und Geschichte […] durch ein Wechselspiel der Kausalitäten […] miteinander verschränkt“ werden (47). In populärer Weiterwirkung der Prädestinationsthesen wird die Bedeutung der Schweiz für Europa in ihrer Selbstdefinition als „Willensnation“ (= Eidgenossenschaft verschiedener Orte) gesehen. Marchals Ausführungen zeigen die wichtige Bedeutung der Differenzierung zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit (vereinbar mit den geschichtskulturellen Dimensionen Jörn Rüsens), aber sie belegen auch deren unabdingbare Interdependenz. Für den luxemburgischen Fall zeigt der Landes- und Mittelalterhistoriker Michel Pauly, wie im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus einer im deutschen Kontext als Landesgeschichte wahrgenommenen historischen Entwicklung Luxemburgs erst nach dem politischen Scheitern der 1848er Revolution(en) in Wechselwirkung mit krisenhaften Ereignissen sukzessive eine Nationalgeschichte konstruiert wurde (57–59). In einem direkten Vergleich stellt der Gießener Mitteleuropahistoriker HansJürgen Bömelburg die Besonderheiten der (west-)polnischen Regionalgeschichte heraus. Er wählt als Kontrast die „ostdeutschen Landesgeschichte“, in der sich lange Zeit die „Vorstellung deutschen Kulturträgertums“ (81) bis zur Selbstzuschreibung als „Bollwerk des Deutschtums“ (83) im Nationalsozialismus hielt. Sie war damit konfrontativ gegenüber polnischen Versuchen regionaler Geschichtsschreibung angelegt, die sich – so Bömelburg – überhaupt nur entweder als exklusives Konstrukt von Eliten mit einem zur Absicherung der eigenen Position institutionell geschaffenen und verfestigten Landesbegriff entwickeln konnte oder in Gebieten wechselnder Zugehörigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg (77 f.). So wie die deutsche Variante das Preußenland bereits im 19. Jahrhundert nationaldeutsch vereinnahmte (83), wies die westpolnische Regionalgeschichte spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen polonitätsorientierten Zug auf, der nach 1945 gesteigert wurde. Erst seit Beginn der 1990er Jahren entsteht langsam „eine undogmatische und regionalistische Kulturgemeinschaft“, unter anderem durch zivilgesellschaftliches Engagement, das Speitkamps These von der partizipativen Geschichtskonstruktion untermauert. Bömelburgs Beitrag zeigt eindringlich die Notwendigkeit einer interdependenten, nach Verflechtungen suchenden Landesgeschichte. Mit Analysen zur regionalen Historiographie des Main-Taunus-Gebiets wird an die im ersten Teil elaborierten Begriffe angeknüpft. Holger Th. Gräf untersucht die ethnisierende Vereinnahmung der regionalen Geschichte, Gregor Maier die konstituierende Rolle von Landschaft und Gestaltung unter Verwendung des Begriffs der Geschichtslandschaft (133), den Karl-Georg Faber Ende der 1960er Jahre entwickelte und der besonders an das neue kulturwissenschaftliche Raumverständnis anschlussfähig erscheint. Stefan Krieb widmet sich dem die Landesgeschichte lange Zeit prägenden Zusammenhang von „Land und Territorium […] am Beispiel Nassaus“ (135), während Alexander Jendorff und Bernd Blisch histo-
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riographiegeschichtliche Zusammenhänge von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert betrachten. In der letzten Rubrik des Bandes werden verschiedene landesgeschichtliche Institutionen in ihrer Entwicklung beleuchtet und in ihrer Funktion charakterisiert: Barbara Dölemeyer tut dies für den im gastgebenden Ort wichtigen Verein für Geschichte und Landeskunde Bad Homburg v. d. Höhe, Astrid Krüger für die Schaffung des ersten lokalen Archivs und weiterer geschichtskultureller Institutionen dort. Peter Maresch beschreibt Entwicklung und heutige Aufgaben des in seinem Jubiläum mit der Tagung geehrten Kreisarchivs. Besonders interessant sind die Ausführungen Klaus Eilers zu den verschiedenen Historischen Kommissionen im Bereich des heutigen Bundeslandes Hessen, deren Gründungen zwar sämtlich in die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert fallen, deren Zuständigkeitsbereiche mit der „Scharnierfunktion zwischen wissenschaftlicher Forschung und regionalem Geschichtsbewusstsein“ (263) jedoch an ältere landesherrliche oder administrative Untergliederungen des Gebiets anknüpfen (259). Fraglich ist allerdings das Plädoyer für den Fortbestand der drei größeren Kommissionen, deren Zusammenarbeit in einer Arbeitsgemeinschaft Eiler als durch das Land Hessen dekretiert ausweist (262). Trotz seiner unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen im transregionalen (und sogar transnationalen) Vergleich, in der regionalhistorischen Konkretisierung im Main-Taunus-Gebiet und schließlich in der Vorstellung geschichtskultureller wie landesgeschichtlicher Institutionen in Bad Homburg ist dem Band ein kohärentes Konzept zu bescheinigen: Auf der am weitesten gespannten Ebene werden jene programmatischen Begriffe entwickelt, die dann am regionalen Beispiel überprüft werden, nicht ohne auf die Bedeutung gefestigter Institutionen für die Landesgeschichte zu verweisen. Der Band überzeugt durch diese Ineinanderfügung landes- und regionalgeschichtlich relevanter Rahmen, durch die der Zusammenhang von Geschichtskonstruktionen und gesellschaftlichen Identitätsbildungen erhellt und die nützliche Funktion der Landesgeschichte in diesem Zusammenhang überzeugend belegt werden kann. Eugen Kotte
Vechta
CATHARINA RAIBLE: Rangerhöhung und Ausstattung. Das Staats- und Privatappartement König Friedrichs von Württemberg in Schloss Ludwigsburg (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg, Reihe B Forschungen 201), Stuttgart: Kohlhammer 2015, 503 S., 97 Abb., (ISBN 978-3-17-026339-0), 45,00 EUR. Mit der Untersuchung der Königsappartements im württembergischen Schloss Ludwigsburg an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert schließt Catharina Raibles Dissertation quasi nahtlos an frühneuzeitliche Forschungen zu herrschaftlicher Raumausstattung an. Sie konzentriert sich ebenfalls auf die Bau- bzw. Ausstattungstätigkeit als Reaktion auf die Rangerhöhung, allerdings in der nachabsolutistischen, politisch instabilen Zeit um 1800 mit der Fragestellung, „welche
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Formen der Repräsentation […] in einer Zeit großer Umwälzungen, kostspieliger kriegerischer Auseinandersetzungen und aufkeimender parlamentarischer Bestrebungen noch möglich und angebracht [waren], um den neu erlangten Herrschaftsstatus zum Ausdruck zu bringen“ (2). Die exzellente Quellenlage sowie die in großen Teilen erhaltene Ausstattung erlauben der Autorin eine umfassende Analyse der Ausstattungsprozesse in dem ab 1797 offiziell als Zweitresidenz für die Sommermonate genutzten Königsschloss. Sie rekonstruiert detailreich die durch die gestiegenen zeremoniellen Ansprüche unumgänglichen Modernisierungsmaßnahmen und verschränkt diese schlüssig mit der politischen Situation des württembergischen Herzogs- und nachmaligen Königshauses. Catharina Raible hat ihr Forschungsthema durch eine sehr gute thematische Strukturierung bewältigt, indem sie zunächst einen inhaltsreichen Überblick über den sich wandelnden Status des württembergischen Hofes um Friedrich II./I. und dessen politische und wirtschaftliche Stellung im Mächtegefüge des Alten Reiches, über dessen regionale und überregionale Beziehungen sowie die Hofkünstler und -handwerker bietet. Diese Hintergrundinformationen bilden das Fundament für den über 250 Seiten starken Hauptteil, indem sie sich der Analyse und Rekonstruktion der mobilen und immobilen Ausstattung über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren bis zum Tod des Königs 1816 widmet. Es ist fraglos eine beachtliche Leistung, die unüberschaubare Menge an schriftlichem und bildlichem Quellenmaterial zu erschließen und im Hinblick auf Bauchronologie, Aufstellungsrekonstruktion, Erhaltungszustand des Mobiliars sowie Nutzung und Funktion Zimmer für Zimmer auszuwerten, um einen ausführlichen Eindruck vom Ausmaß und der Qualität der Ausstattungsaktivitäten auch im räumlichen Gesamtzusammenhang zu bieten. Aber gleichzeitig stellt die dichte Fülle der erstmals vollständig publizierten Bauinformationen den Leser vor die enorme Herausforderung, sich nicht in dem Detailreichtum zu verlieren. Eine hilfreiche Ergänzung stellt hierbei die tabellarische Übersicht im Anhang dar, in der die Autorin die Ausstattungsveränderungen zwischen 1797 und 1957 bzw. 2004 raumweise veranschaulicht. Als erstes Ergebnis hält sie fest, dass eine zeitgemäße Ausstattung durchaus gewünscht und besonders in den herrschaftlichen Paradeappartements realisiert wurde, aber dass die Aspekte der Sparsamkeit und gleichzeitigen Nutzbarkeit während der Bautätigkeit gegenüber dem Topos der Pracht überwogen. In den nachfolgenden Kapiteln spannt Raible anhand von Schlossvergleichen den Bogen von Württemberg über die Nachbarterritorien Bayern und Baden hin zu europäischen Dynastien. Insgesamt fallen die vergleichenden Erläuterungen recht knapp aus; hier hätte man sich nach der Ausführlichkeit des Rekonstruktionskapitels ausführlichere Vergleiche gewünscht. So wäre aufgrund des doppelten Residenzcharakters eine Gegenüberstellung des Neuen Schlosses in Stuttgart mit Schloss Ludwigsburg hinsichtlich der Repräsentationsstrategien vielleicht aufschlussreicher gewesen als ein knapper Vergleich mit den anderen Landschlössern. Weiterführend kann die Autorin verdeutlichen, dass die Ausstattungsaktivitäten in den Nachbarterritorien nach deren Statuswechseln eine zunehmende Orientierung am französischen Empirestil zeigen, was auch aufgrund zahlreicher Eheschließungen mit der napoleonischen Familie evident ist. Abschließend hebt
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sie anschaulich hervor, dass Friedrich II./I. aufgrund seiner verwandtschaftlichen oder standesmäßigen Beziehungen zu den großen europäischen Dynastien eine umfassende Sachkenntnis der dortigen kulturellen und künstlerischen Strömungen hinsichtlich der zeitgemäßen Ausstattungspraxis hatte. Eine direkte Übernahme ländertypischer Ausstattungselemente oder die Erschaffung raumübergreifender Ausstattungskonzepte ist für die Autorin hingegen nicht erkennbar. Als wesentlich erachtet sie auch die strategischen Motive, wie die Perzeption des Empirestils trotz des von Napoleon erzwungenen Bündnisses Württembergs mit Frankreich oder die neogotischen Einflüsse infolge der Heirat Friedrichs II./I. mit der englischen Prinzessin. Raible hebt pointiert die Zwänge hervor, in die der württembergische Hof eingebunden war und die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Wahl der Ausstattungsmodi hatten. Im abschließenden Teil ihrer Arbeit greift sie die Forschungsthematik wieder auf und wertet ihre Ergebnisse im Hinblick auf die tatsächlichen Beweggründe für die Modernisierung der Gemächer aus: Rangerhöhung, funktionale Anforderungen, Kunstströmungen und Vorbilder, Sparsamkeit und Weiterverwendung. Obwohl Catharina Raible sich vornehmlich auf die Analyse und Rekonstruktion der räumlichen Ausgestaltung fokussiert hat, wodurch die Vergleichsbeispiele und die Einbettung in das politische Geschehen der Aufklärungszeit zum Teil etwas knapp geraten sind, vermag sie dennoch eine sehr gute Vorstellung davon zu vermitteln, wie das Repräsentationsbedürfnis infolge der veränderten Wertvorstellungen einen anderen Stellenwert erfuhr: Der Charakter des aufgeklärten Herrschers – des ersten Dieners des Staates – kam in einem veränderten Ausstattungsverständnis und damit eher funktionsbetonten und nutzungsbedingten Wohnverhältnissen zum Ausdruck. Gleichzeitig gelingt es Raible in herausragender Weise zu visualisieren, wie König Friedrich I. auch hinsichtlich der Raumdekoration strategisch klug zwischen den wechselnden Bündnissen im Alten Reich agieren musste, um das dynastische Überleben auch über das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hinaus zu gewährleisten. Catharina Raible hat ein bemerkenswertes Buch vorgelegt, das eine Forschungslücke schließt und weiteren Forschungen in diesem thematischen Rahmen als Grundlage dienen kann. Katja Heitmann
Marburg
MARITA KRAUSS (Hg.): Die bayerischen Kommerzienräte. Eine deutsche Wirtschaftselite von 1880 bis 1928. München: Volk Verlag 2016, 848 S., zahlreiche Abb., (ISBN 978-3-86222-216-2), 69,00 EUR. Der voluminöse und im wahrsten Sinne gewichtige Band beinhaltet die Ergebnisse eines langjährigen Forschungsprojektes von Marita Krauss, Inhaberin des Lehrstuhls für Europäische Regionalgeschichte sowie Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg. Krauss beschäftigt sich hier nicht zum ersten Mal mit einem Thema der bayerischen Wirtschaftsgeschichte. So war es auch ihre 2009 erschienene Publikation über die bayerischen Hoflieferanten,
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welche den Anstoß gab, sich näher mit den bayerischen Kommerzienräten zu befassen (358, Anm. 4). Allerdings liegen manche Vorarbeiten sogar mehr als 25 Jahre zurück, wie eine Durchsicht der Bibliografie verrät (730–776). Entstanden ist auf diese Weise ein Großoktavband, der den Anspruch erhebt, ein „Grundlagenwerk“, ja ein „‚Who is whoʻ der bayerischen Wirtschaftselite zwischen 1880 und 1930“ (7) zu sein. Dies ist kaum allein zu schaffen: Nicht weniger als 27 Autoren versuchen, in 35 Aufsätzen die verschiedenen Aspekte der Thematik zu beleuchten und damit „Wirtschaftsgeschichte greifbar und anschaulich zu machen“ (846). Nicht vergessen werden darf die Arbeit des vielköpfigen Redaktionsteams, ohne die der Band heute nicht in den Buchläden liegen würde. Ein klar strukturierter Aufbau sorgt dafür, dass der Leser in dem umfangreichen Werk nicht die Übersicht verliert. Das Buch besteht aus einem Aufsatzteil, einem farbig abgehobenen Lexikonteil mit 1 850 (!) Kurzbiografien der bayerischen Kommerzienräte und einem Anhang, der nicht nur eine ausführliche Bibliografie enthält, sondern auch einen differenzierten Registerteil mit Personen-, Ortssowie Firmen-, Stiftungs-, Vereins- und Sachregister. Die Autoren nähern sich im Aufsatzteil dem Thema in mehreren Schritten: Im Einführungskapitel werden Ergebnisse und Perspektiven des Projekts vorgestellt. Angereichert werden die Aufsätze durch statistisches Material. Das zweite große Kapitel widmet sich den Kommerzienräten in München (am Beispiel der Großfamilie Sedlmayr), Nürnberg, Amberg, Landshut, Schweinfurt, Selb und Memmingen. Ein Aufsatz von Justina Bayer beleuchtet die außergewöhnliche Biografie der Nähmaschinenfabrikantin Lina Pfaff, der ersten und einzigen Kommerzienrätin Bayerns und Deutschlands aus Kaiserslautern in der damals bayerischen Pfalz. Welche exponierte Stellung Kommerzienräten gerade auf dem Land zukam, veranschaulicht Karl-Maria Haertle in seinem Aufsatz über den „Gemeindepaternalismus“ dieser Wirtschaftselite. Mit der Einführung des Ehrentitels „Kommerzienrat“ durch König Ludwig II. im Jahr 1880 ging Bayern einen Sonderweg: In Preußen und einigen anderen deutschen Staaten gab es einerseits den Titel schon längst. Andererseits wagte es die bayerische Regierung als einzige nach dem Verbot durch die Weimarer Verfassung, die Auszeichnungspraxis 1923 wieder aufzunehmen, was sich im Nachhinein als lukratives Geschäft entpuppte. Dabei zeigen die Forschungsergebnisse, dass die Titelvergabe keineswegs linear verlief und das Auswahlverfahren kein Selbstläufer war. Mehrere kommunale und staatliche Instanzen mussten einen Unternehmer positiv begutachten, ehe der Titel verliehen werden konnte. Zwei Drittel aller Anträge wurden dabei zurückgestellt oder gar abgelehnt. Ein gutes Netzwerk, Finanzkraft und eine gewisse Freigiebigkeit waren für die Verleihung des Titels unabdingbar, wie das Kapitel „Stiften und Spenden“ belegt. Ein außerordentlich wichtiges Thema für nahezu alle Kommerzienräte war ihre Repräsentation und Selbstdarstellung. Konsequenterweise wird diesem Aspekt große Aufmerksamkeit gewidmet. Wie mehrere, reichhaltig illustrierte Aufsätze verdeutlichen, beschränkte sich diese Thematik nicht nur auf den Wohnstil und die Architektur im weitesten Sinne (selbst Grabanlagen werden berücksichtigt), sondern bezog auch die Werbung der Unternehmen mit ein. Erich Kasberger zeigt
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auf, dass das aufsteigende bayerische Unternehmertum auch von Literatur und Bühne gerne thematisch rezipiert wurde. Dabei mussten die bayerischen Kommerzienräte oft Hohn und Spott über sich ergehen lassen. Federführend waren hier Ludwig Thoma und die satirische Zeitschrift „Simplicissimus“. In jener Zeit, als in Bayern der Titel „Kommerzienrat“ verliehen und getragen wurde, waren die politischen Rahmenbedingungen nicht immer dieselben: Monarchie, Revolution, Republik und Diktatur wechselten sich ab. Mehrere Analysen zeigen, wie die tendenziell staatsnahen Kommerzienräte es verstanden, „sich anzupassen und von neuen politischen Konstellationen zu profitieren“ (7). Unangenehmen Fragen, wie nach dem Schicksal jüdischer Kommerzienräte während der Naziherrschaft oder nach der Behandlung von Kommerzienräten in den Spruchkammern der Nachkriegsjahre, gehen die Autoren nicht aus dem Weg. Die jüdische Herkunft und Religion stellten während der Monarchie und der Weimarer Republik keinen Hinderungsgrund für eine Ernennung dar. In der NS-Zeit verloren jüdische Kommerzienräte hingegen nicht nur ihren Besitz (an dem sich bisweilen die nichtjüdische Wirtschaftselite bereicherte), sondern oft auch ihr Leben (285). Viele Kommerzienräte schwiegen nach der sog. Machtergreifung angesichts von Verfolgung, Exil und Tod der jüdischen Kollegen, konstatiert Marita Krauss. Nur vereinzelt half man sich gegenseitig. Ein „Wir“-Gefühl unter den Kommerzienräten gab es nicht (8). Kann es in diesem Zusammenhang wirklich verwundern, dass die gefällten Spruchkammerurteile ein Beleg dafür sind, „dass der überwiegende Teil der Wirtschaftsführer ein fester Teil des nationalsozialistischen Systems war und davon profitierte“ (300)? Allzu viel ist ihnen denn auch nicht passiert, resümiert Maria Christina Müller, weil man sie und ihre Unternehmen für den Wiederaufbau benötigte. Es ist das erklärte Ziel des Autorenteams, sich in diesem Band vor allem den Unternehmerbiografien zu widmen (7), einem in der bayerischen Geschichtsschreibung bislang vernachlässigten Thema. Dem wird der Band insofern gerecht, als er zum einen tatsächlich exemplarische Lebensbeschreibungen bayerischer Wirtschaftsführer liefert und zum anderen 1 850 Kurzbiografien von Kommerzienräten erstellt wurden. Die akribische Detailarbeit, die allein hinter diesem Kompendium steckt, ist kaum zu ermessen und verdient Respekt. Mit diesem biografischen Ansatz folgt der Band einem seit der Jahrtausendwende zu beobachtenden neuen Trend in der Historiografie, den man als eine „Renaissance der Biografik“ bezeichnen könnte. Die neuere Kulturgeschichte und ihre Subdisziplinen haben der historischen Biografik derart starke Impulse verliehen, dass inzwischen sogar von einem biographical turn (Simone Lässig) in den Geschichtswissenschaften die Rede ist. Der Band schließt ohne Frage eine große Lücke in der bayerischen Geschichtsschreibung. Wer bislang biografische Daten bayerischer Unternehmer suchte, wurde häufig erst nach ausgiebigen Recherchen fündig. Das wird sich auch in Zukunft nicht ganz vermeiden lassen, da nicht jeder bayerische Unternehmer Kommerzienrat wurde. Doch für die Gruppe der Kommerzienräte liegt nun ein fundiertes Nachschlagewerk vor. Wer sich künftig mit bayerischer Wirtschaftsgeschichte rund um die vorletzte Jahrhundertwende beschäftigen will, wird
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den Band zur Hand nehmen müssen. Dabei ist den Autoren durchaus klar, dass die Thematik keinesfalls umfassend abgehandelt wurde. So wäre beispielsweise noch manche sozialgeschichtliche Fragestellung interessant. Aber der Band soll auch, so Marita Krauss, Anregungen für weitere Forschungen liefern (9). Allein der Registerteil stellt hierfür eine Fundgrube dar. Auf einige positive Aspekte sollte noch hingewiesen werden: Dazu zählen der außerordentlich günstige Preis (trotz Großformat, Fadenheftung und Hardcovereinband) und die reichhaltige Illustration des Aufsatzteils mit über 400 teils farbigen Fotos, denen im Satzspiegel genügend Raum zur Verfügung gestellt wurde, sodass man auch Details erkennen kann. In den Kurzbiografien und in der Bibliografie werden neben der einschlägigen Literatur auch ungedruckte Quellen – seien es einzelne Aktenbände oder ganze Bestände – angeführt. Die Kritikpunkte halten sich demgegenüber in Grenzen und sind eher formaler Natur: Der wissenschaftliche Apparat zu den einzelnen Aufsätzen wurde zusammengefasst und hintangestellt, was zur Folge hat, dass man ihn erst einmal suchen und dabei mitunter 500 Seiten hin und her wälzen muss. Angesichts des großen Umfangs des Bandes wäre es vielleicht ratsam gewesen, die Anmerkungen als Fußnoten auf die jeweilige Seite zu setzen. Außerdem erschließt es sich dem Leser nicht, warum die Fotos teils im Satzspiegel platziert wurden und teils aus diesem herausfallen – Layout ist eben Geschmackssache. Die Schraffierung der Seiten des Vorwortes und der Einführungen hätte man getrost weglassen sollen, sie wirkt beunruhigend für die Augen. Alles in allem jedoch gilt ein Kompliment allen, die an diesem Band mitgearbeitet haben. So ist eine Publikation entstanden, die man gerne in die Hand nimmt – trotz ihres Gewichtes von knapp drei Kilogramm. Elmar Kerner
Bamberg
GISELA METTELE, ANDREAS SCHULZ (Hg.): Preußen als Kulturstaat im 19. Jahrhundert (= Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 20), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 188 S., (ISBN 978-3-506-78077-5), 25,90 EUR. Am Ende des vorliegenden Bandes steht der berüchtigte Aufruf „An die Kulturwelt“ der im Oktober 1914 von 93 führenden deutschen Künstlern und Wissenschaftlern verfasst wurde. Dieses Dokument, das die preußische Armee als Bollwerk für Deutschlands Kultur gegen die Kriegsgegner legitimierte, hat lange Zeit die historische Auffassung von Preußen als Obrigkeits- und Militärstaat bestimmt, in der Kultur als Herrschaftssymbol ausgebeutet wurde, um die staatliche Machtpolitik zu rechtfertigen. Für mehrere Generationen von Historikern bildete diese Interpretation ein zentrales Thema der Sonderwegsthese: Die adlig-militärische und bürokratische Elite hätten ihre Machtposition nie den unteren sozialen Schichten geöffnet, und das Bildungsbürgertum habe sich feudalisieren lassen, um in untergeordneter Rolle Preußen als Kulturstaat zu stützen. Obwohl die Sonderwegsthese in den letzten Jahrzehnten weitgehend revidiert wurde, gilt der Aufruf von 1914 oft noch immer als schlagender Beweis für die
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bedenkliche Verbindung von Machtpolitik, Militärwesen und kulturellem Elitismus in Preußen. Nicht so in diesem Band, für den der Aufruf kein teleologisch determiniertes Resultat eines Jahrhunderts staatlich kontrollierter Kultur darstellt, sondern als abweichende Coda einer viel komplexeren sozialen Entwicklung, in der Macht, Kultur und soziale Positionen sich zu Netzwerken verflochten, in denen auch Bildungsbürger erheblichen Einfluss auf die Regierungspolitik ausüben konnten. Abweichend von der „lange überschätzten Dichotomie“ (11) zwischen autoritärem Staat und oppositioneller, politisch ausgegrenzter Zivilgesellschaft enthüllt der Band eine weitgehende und wirkungsvolle kulturpolitische Interessenkonvergenz zwischen bürokratischen und bürgerlichen Akteuren. Wenn das liberale Bildungsbürgertum in der zweiten Jahrhunderthälfte den Bismarckʼschen Staat akzeptierte, so geschah das nicht aus einem antimodernen Drang zur Untertänigkeit heraus, sondern weil diese Synthese ihm handfeste Vorteile und Zugang zu den Hebeln der staatlichen Macht verschaffte, wenn auch außerhalb des parlamentarischen Systems. In diesem Band wird das Bild Preußens somit „nicht demokratischer, aber es wird gesellschaftlicher“ (11). Nach einer konzisen Einleitung thematisiert der erste Teil des Bandes den Preußen-Mythos, wie er von zeitgenössischen Historikern, liberalen Kritikern und ausländischen Beobachtern ausgestaltet wurde. Dabei tritt eine Verschiebung des Mythos hervor zwischen der ersten Jahrhunderthälfte, in der Preußen als Reformstaat liberale Hoffnungen nährte, und der zweiten, in der sich die Vorstellung von Preußens „deutschem Beruf“ nach 1848 verbreitete und die obrigkeitliche Instrumentalisierung von Kultur staatliche Machtpolitik vermeintlich legitimierte. In den übrigen Essays wird ein ganz anderer Mythos hinterfragt, nämlich das Bild Preußens als Kulturstaat mit einer höchst effizienten bürokratisierten Struktur ähnlich dem Militär. So stellt der Band auch zur Debatte, welchen Anteil an Preußens kultureller Prominenz der Staat eigentlich hatte angesichts der vielen Beispiele, in denen Bürger selbst die Initiative ergriffen, um kulturelle Entwicklungen zu fördern – besonders dort, wo die Staatsverwaltung selbst strukturell zu schwach war, um diese kulturellen Institutionen auszubauen. So waren es das unablässige Engagement von August Wilhelm Iffland, Direktor des Nationaltheaters, und Carl Friedrich Zelter, Direktor der Sing-Akademie, die ein erstklassiges Theaterwesen und eine blühende Musikkultur in Berlin ins Leben riefen. Statt den bürokratischen Staat als Antipoden einer defizitären liberalen Zivilgesellschaft zu konzipieren, zeigen die Autoren, dass keine der beiden Seiten unabhängig oder dominant war. Vielmehr begründeten die staatlichen Unzulänglichkeiten und Defizite ein System der Zusammenarbeit, von dem beide Seiten profitierten. Um diese Synergien zwischen staatlicher Bildungsbürokratie und bürgerlichen Bildungsreformern aufzudecken, verwenden die Autoren andere Maßstäbe des Einflusses als die herkömmliche Forschung; diese erscheinen aber angemessener im deutschen Kontext. In der bisherigen Forschung ist die Auffassung etabliert, dass die britische Zivilgesellschaft im 19. Jahrhundert auf der Basis klassenübergreifender Heiraten zwischen Aristokratie und Bürgertum an Macht gewann, da diese Klassen dabei zu einer Herrschaftselite verschmolzen, während das deutsche Bürgertum über Heiratsallianzen kaum Zugang zur Macht fand. In diesem
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Band steht eine andere Art von Vermischung der Klassen im Mittelpunkt – nicht durch Verwandtschaftsmuster, sondern durch die alltägliche Zusammenarbeit adliger und bürgerlicher Bildungseliten in den staatlichen Ministerien, die damit auch eine Fusion von bildungspolitischen Zielen einleitete. So zeigt Wolfgang Neugebauer, dass das Kultusministerium in seiner Struktur und Funktion ein Terrain bildete, auf dem eine Bildungselite adeliger und bürgerlicher Mäzene in relativer Parität kooperierte. Susanne Kill erörtert, wie der Staat durch den Ausbau der Ostbahn hochwertige Technologie und Ästhetik lieferte und dadurch das Profil dieser zentralen bürgerlichen Werte sichtbar erhöhte. Für Hartwin Spenkuch unterstützte der preußische Staat bahnbrechende wissenschaftliche Forschung im Hochschulwesen, die auch im Bürgertum als intellektuelle Tugend wertgeschätzt wurde, um des Prestigegewinns für die Regierung willen. Auch wenn andere Staaten mehr Geld in einzelne Universitäten investiert haben mögen, hat Preußen doch die meisten Universitäten gegründet. Preußen war in der Lage, das Hochschulwesen zu fördern, weil es als Machtstaat über eine ausgeprägte Industrie verfügte und so seinen Status als Bildungsmacht finanzieren konnte. Indem es an diesen staatlichen Institutionen mitwirkte, unterstützte das Bürgertum die staatliche Macht und förderte zugleich seine eigenen sozialen Interessen, auch wenn es damit keine voll entwickelte Zivilgesellschaft erreichte. Wichtig ist auch Michael Maurers Erkenntnis, dass Konflikte um Schulpolitik und Lehrpläne nicht auf der Ebene von Staat und Bürgertum verliefen, sondern zwischen einzelnen Gemeindeverwaltungen und dem Zentralstaat. Bildungspolitische Spannungen traten zwischen den regionalen Behörden, die die Volks- und Realschulen verwalteten, und der in der Reichshauptstadt wohnenden staatlichen Bildungselite aus Adligen und Bildungsbürgern auf, sobald die pragmatischen lokalen Belange von der elitären Perspektive des zentralisierten Staates divergierten. Diese Feststellung bestätigt erneut die Notwendigkeit, das Bürgertum nicht als undifferenzierte Klasse zu behandeln, sondern es als vielschichtiges Geflecht mit oft divergierenden Interessen zu begreifen. Am Ende des Bandes bleibt eine Frage offen: Wäre mit fortwährender Mitwirkung des Bildungsbürgertums im Staat das stärker zivilgesellschaftlich geprägte Preußen auch demokratischer geworden? Hätten diese Synergien auf kultureller Ebene zu einer größeren Liberalisierung der Politik geführt, wenn der Erste Weltkrieg nicht, wie der Aufruf von 1914 andeutet, die Bildungselite entschieden in eine subalterne Position im preußischen Militärstaat gedrängt hätte? Ein abschließendes Kapitel, das die einzelnen Stränge in einem Fazit bündelt, wäre eine willkommene Coda eines ansonsten hervorragenden Bandes gewesen. Eva Giloi
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SWEN STEINBERG: Unternehmenskultur im Industriedorf. Die Papierfabriken Kübler & Niethammer in Sachsen (1856–1956) (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 52), Leipzig: Universitätsverlag 2015, 580 S., (ISBN 978-3-86583-746-2), 62,00 EUR. Die Kultur von Industrieunternehmen im ländlichen Raum bildete bislang selten einen Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Studien. Dieser Umstand gilt zumal für die sächsische Industrialisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit dem vorliegenden Buch möchte Swen Steinberg einen Beitrag zu dieser Thematik liefern. Das Werk, eine leicht veränderte Fassung seiner Dissertation an der Technischen Universität Dresden, beinhaltet eine mikrohistorische Studie zum Unternehmen Kübler & Niethammer, das in der Papiererzeugung tätig und im mittelsächsischen Kriebstein/Kriebethal angesiedelt war. Der Autor stellt die soziokulturellen Interaktionen des Unternehmens in den Mittelpunkt seines Buches (12). Der Untersuchungszeitraum reicht von 1856 bis 1956, wobei das Kaiserreich und die Weimarer Republik den Schwerpunkt bilden. Drei Fragekomplexe sind für den Autor zentral: Erstens interessiert ihn, wie sich die Werte des Unternehmens und deren Zusammenhang mit der Betriebsorganisation ausgestalteten. Zweitens fragt er nach deren zeitlicher Kontinuität, zumal infolge des Austauschs mit der politischen und gesellschaftlichen Umwelt des Unternehmens. Drittens möchte der Autor klären, welchen „Stellenwert die ideelle[…] Bindung und kollektive[…] Identifikation“ für die wirtschaftliche Entwicklung Sachsens bis 1945 hatte, insbesondere für dessen Industrialisierung (35). Trotz seines mikrohistorischen Zugriffs verharrt der Autor keineswegs nur beim Unternehmen an sich, sondern berücksichtigt ausdrücklich dessen Interaktionen mit der Außenwelt. Sein methodisches Vorgehen wird weiterhin durch die Annahme bestimmt, dass die Wertekonstruktion im Wesentlichen vom Unternehmer ausging und dabei ‚christlich inspirierte‘ Führungskonzepte eine zentrale Rolle spielten. An die Ausführungen Hartmut Berghoffs anknüpfend möchte er die ‚Stärke‘ bzw. ‚Schwäche‘ dieser Unternehmenskultur herausarbeiten. Als Quellenmaterial kommen Dokumente aus dem Unternehmens- und anderen Archiven zum Einsatz. Der Autor bezieht zudem Korrespondenzen aus den Nachlässen ebenso mit ein wie Druckschriften. Die Darstellung erfolgt in fünf Schritten: Zunächst geht es um die allgemeine Unternehmensentwicklung von Kübler & Niethammer (Kapitel 2). Dem folgt eine nähere Untersuchung der Familie Niethammer, die das Unternehmen über drei Generationen hinweg leitete (Kapitel 3). Sodann analysiert der Autor das Kulturkonzept, das unter den Familienmitgliedern zirkulierte (Kapitel 4) und thematisiert, wie sich dieses Kulturkonzept in der Kommunikation und den Praktiken des Unternehmens niederschlug (Kapitel 5). Schließlich geht es um Aushandlungsprozesse und Handlungsspielräume des Unternehmens in dessen räumlichem Umfeld (Kapitel 6). Swen Steinberg ist eine flüssig geschriebene und lesbare Studie gelungen, deren klare Gliederung überzeugt. Leserinnen und Leser erhalten umfassende Informationen darüber, wie ein Industrieunternehmen im ländlichen Sachsen kulturell grundiert war und wie es in internen und externen Aushandlungsprozessen agierte. Im Einzelnen erfahren sie, dass sich Kübler & Niethammer im späten
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19. Jahrhundert rasch zu einem Großunternehmen und einem führenden Papierhersteller in Sachsen entwickelte. Interessant sind zudem die Ausführungen zu den einzelnen Mitgliedern der Familie Niethammer, die das Unternehmen über drei Generationen hinweg führten und sich sowohl parteipolitisch als in den Unternehmensverbänden engagierten. Innerhalb der Familie etablierte sich, ausgehend vom Firmengründer Albert Niethammer, ein christlich-protestantisch fundierter, patriarchaler Wertekanon, der bis zum Ende des Unternehmens handlungsleitend war. Im Kern beinhaltete dieses „Kriebsteiner Unternehmensführungskonzept“ (192) das Selbstverständnis des Unternehmers, seinen Mitarbeitern gegenüber verantwortlich sowie fürsorglich zu agieren und im Gegenzug deren unbedingte Loyalität zu erwarten. Besonders spannend ist der Hauptteil der Darstellung, in dem es um die Kommunikation dieses Wertverständnisses innerhalb des Betriebes geht. Der Autor kann zeigen, wie die im Unternehmen Tätigen über vielfältige Medien wie Gratifikationen, Kindergärten, Betriebsseelsorge, Festaktivitäten oder die Betriebszeitschrift angehalten wurden, die Werte zu internalisieren und ihnen durch eigene Handlungen Ausdruck zu verleihen. Zudem geht er darauf ein, wie das Unternehmen mit dem politischen Engagement seiner Mitarbeiter zumal im sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Kontext umging. Abgesehen von diesen betriebsinternen Arenen berichtet Steinberg von den Aushandlungsprozessen des Unternehmens mit seiner sozialen Umwelt, sei es bei Ressourcenkonflikten mit lokalen Adeligen oder in Bezug auf zirkulierende Ästhetikkonzepte über die lokale Landschaft. Es handelt sich insgesamt um eine sehr detaillierte Studie, die ausgiebig aus den Quellen schöpft und eine Fülle bislang unbekannten Materials verwendet. Dieser Umstand darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Leserinnen und Leser vergleichsweise wenig zu zwei wichtigen Interaktionsfeldern erfahren, nämlich zum Austausch zwischen Unternehmen und Lieferanten sowie zwischen Unternehmen und Kunden. Diese Interaktionen dürften durchaus aufschlussreich sein, zumal für den Zusammenhang von Unternehmenskultur und Unternehmenserfolg. Möglicherweise ist diese Lücke auch dem Umstand geschuldet, dass der Autor zu Beginn seiner Untersuchung ‚Unternehmenskultur‘ (aber auch ‚Unternehmenserfolg‘) zu wenig operationalisiert. Zwar verweist er auf die abstrakten Kriterien Berghoffs, um ‚Stärken‘ und ‚Schwächen‘ von Unternehmenskultur herauszuarbeiten, doch unterbleibt ihre Konkretisierung. Diese fehlende Operationalisierung führt etwa im zentralen Kapitel 5 dazu, dass unklar bleibt, welchen Stellenwert die aufgeführten Maßnahmen jeweils hatten, um die Unternehmenskultur zu kommunizieren. Zudem enthält die Darstellung bisweilen Verweise auf bestimmte theoretische Konzepte, etwa von Pierre Bourdieu (332, 458), ohne dass der Autor auf deren Rolle für die Analyse eingeht. Eine Erläuterung ihrer Funktion für die Gesamtkonzeption hätte zur Erhellung beigetragen. Schließlich stellt sich die Frage, ob die von Steinberg angenommene – und durchaus diskutierte – Wertekonstruktion nicht doch zu sehr top-down gedacht ist. Es ließe sich doch argumentieren, dass die von den Unternehmern konstruierten Werte bzw. eingeleiteten Maßnahmen schlicht eine Reaktion auf sozialdemokratische Konzepte waren – und
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dadurch gewissermaßen auch ein Aushandlungsergebnis mit den Arbeitern. Darauf weisen jedenfalls die Entstehungszeitpunkte der verwendeten Quellen hin. Ungeachtet dieser Einwände hat Swen Steinberg eine sehr interessante und lesenswerte Studie geschrieben, die wertvolle Einsichten in die Unternehmensgeschichte im ländlichen Raum liefert und einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Unternehmenskultur leistet. Robert Bernsee
Göttingen
THOMAS MEDICUS (Hg.): Verhängnisvoller Wandel. Ansichten aus der Provinz 1933–1949: Die Fotosammlung Biella, Hamburg: Hamburger Edition 2016, 312 S., 276 Abb., (ISBN 978-3-86854-302-5), 38,00 EUR. Gunzenhausen? Die fränkische Kleinstadt stand bislang kaum im Fokus historischer Forschung zum Nationalsozialismus, und auch fotografiehistorisch hat der Ort für wenig Aufmerksamkeit gesorgt. Wenig unterscheidet ihn von anderen Städten ähnlicher Größe, aber gerade das macht Gunzenhausen zu einem exemplarischen und gleichzeitig besonderen Fall. Denn die Zeit zwischen 1933 und 1949 deckt den Aufstieg des Nationalsozialismus in Franken ebenso ab wie die kriegsbedingten Besonderheiten, den Zusammenbruch des Hitler-Regimes und die ersten Jahre alliierter Besatzung. All diese Jahre hindurch hat das Fotostudio Biella die Menschen und Ereignisse vor Ort dokumentiert. Anhand der Bildüberlieferung des Fotostudios entfaltet der Band seine Themen. Ausgangspunkt der acht Beiträge sind jeweils Fotografien, die in der Bildsammlung des Stadtarchivs Gunzenhausen aufbewahrt werden. Die visuelle Überlieferung wird mit dem historischen Kontext verknüpft und eröffnet damit einen spezifischen und horizonterweiternden Zugriff auf die Geschichte, wie es nur eine visuelle Geschichtsschreibung vermag. Insgesamt konnten die Autorinnen und Autoren des Bandes auf etwa 2 500 Einzelbilder zurückgreifen, die zwischen 1919 und den frühen 1950er Jahren entstanden, wobei der Schwerpunkt auf den 1930er und 1940er Jahren liegt. Es ist gerade die visuelle Geschichte, die andere Einblicke in die Entwicklungen von der späten Weimarer Republik bis zum Ende des Nationalsozialismus gewährt. Im Lokalen vollzog sich die Durchdringung der Gesellschaft mit radikalen und rassistischen Denkweisen, die sich an den Bildern der Protagonisten und Ereignissen eines kleinstädtischen Sozialgefüges ablesen lässt. Die Fotografien von Curt (1890–1938) und Mina Biella (1893–1983) sowie deren Töchtern Olga und Vera dokumentierten und inszenierten die Menschen und Ereignisse auf eine Weise, die Alltag und besondere Geschehnisse miteinander verwoben. Dabei verweisen einzelne Bilderserien auf spezifische Themen, wie etwa die Praxis der Erfassung jüdischer Bürgerinnen und Bürger oder von Zwangs- und Fremdarbeitern während des Krieges. Dazu kommen Überlegungen zur Selbstdarstellung der Bewohner Gunzenhausens, die Bilder von sich erstellen ließen, die von ihrem Selbstverständnis und ihren Wunschvorstellungen zeugen. Dabei sind die Fotografien keine neutralen Dokumente, sondern liefern ein facet-
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tenreiches und zuweilen gebrochenes Bild, welches Ambivalenzen sichtbar macht, die sich in schriftlichen Zeugnissen der Zeit kaum auf vergleichbar kompakte Weise äußern. Die ersten beiden Beiträge von Thomas Medicus und Werner Mühlhäuser legen den Kontext dar: die Geschichte der Stadt in den fraglichen Jahrzehnten sowie die Geschichte der Sammlung Biella und des Fotostudios. Die Biellas waren – typisch für die Zeit – nicht allein mit dem Porträtieren von Personen beschäftigt, sondern auch Chronisten städtischer Ereignisse. Sandra Starke und Linda Conze verorten die Bilderproduktion der Biellas im Spannungsfeld zwischen privater und öffentlicher Repräsentation, denn Fotografien sind niemals nur das Eine oder das Andere, sondern ihre Verwendung bestimmt letztlich ihre Rolle im Diskurs. Ulrike Jureit kann anhand der Porträt- und Ereignisserien darlegen, wie Gunzenhausen zunehmend zu einer nationalsozialistischen Gesellschaft mutierte. Felix Axster setzt sich sehr differenziert mit den Bildern jüdischer Gunzenhauser auseinander, die teils als „Judenarchiv“ vom damaligen Bürgermeister Johannes Appler gesammelt wurden. Axster erkennt in diesem Plan einerseits die perfide Ausgrenzungsstrategie lokaler NS-Machthaber, andererseits macht er deutlich, dass zahllose Porträts sich kaum in die rassistische Logik der Nationalsozialisten einpassen ließen, zumal es sich teilweise um Bilder handelte, die die Personen vor 1933 in Auftrag gegeben hatten. Britta Lange macht deutlich, dass sich über Porträts, die im Auftrag von Behörden von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiterinnen angefertigt wurden, Einzelschicksale erschließen lassen. Karin Wieland analysiert einfühlsam und subjektiv Porträts von Gunzenhauser Männern und Frauen. Bettina Greiner schließlich widmet sich der Arbeit des Fotostudios Biella nach 1945. Der Band macht deutlich, wie fruchtbar die Auseinandersetzung mit einer Bildüberlieferung generell ist. Er macht zudem eindringlich klar, wie umfangreich die fotografische Überlieferung gerade in kommunalen und regionalen Archiven ist und welche Chancen sie für die Forschung bietet. Wünschenswert wäre indes eine bessere Verknüpfung mit anderen Bildbeständen des städtischen Archivs, das immerhin 15 000 Bilder umfasst, um die visuelle Geschichte Gunzenhausens auf eine breitere Grundlage zu stellen. Insgesamt handelt es sich jedoch um einen gelungenen und nachahmenswerten Anfang. Jens Jäger
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WOLF-INGO SEIDELMANN: „Eisen schaffen für das kämpfende Heer!“ Die Doggererz AG – Ein Beitrag der Otto-Wolff-Gruppe und der saarländischen Stahlindustrie zur nationalsozialistischen Autarkie- und Rüstungspolitik auf der badischen Baar, Konstanz/München: UVK 2016, 478 S., 20 s/w und 20 farb. Abb., (ISBN 978-3-86764-653-6), 36,00 EUR. Der Führer sei sich im Klaren darüber, dass er beim Aufbau des neuen Europas im Großdeutschen Wirtschaftsraum eine starke Wirtschaft und Industrie mit privater Initiative brauche, um von der großdeutschen Zentrale aus die übrigen Länder, insbesondere auch Skandinavien und den Südosten, wirtschaftlich erfolgreich zu binden.1
So lautete eine Aktennotiz für den Großindustriellen Friedrich Flick vom Juli 1940. Die Frage nach der Rolle der deutschen Konzerne im „Dritten Reich“ wird seit 1945 kontrovers diskutiert. In diese Kontroverse muss auch Wolf-Ingo Seidelmanns Buch über die „Doggererz AG“ eingeordnet werden. Die „Doggererz AG“ stellte ein rüstungswirtschaftliches Projekt der Schwerindustrie in Zusammenarbeit mit dem „Dritten Reich“ auf der badischen Baar dar, dessen Ziel darin bestand, die Rohstoffgrundlage der Kriegsrüstung durch Verwertung minderwertiger deutscher Erze zu sichern. Seidelmanns Untersuchung dreht sich um die Frage nach der „unternehmerischen Freiheit im Dritten Reich“. Seidelmann fragt, ob das Rüstungsprojekt nur ein Projekt des NS-Staates war und für die Privatwirtschaft unter Zwang erfolgte, oder ob es auch einer „betriebswirtschaftlichen Interessenlage“ der beteiligten Konzerne entsprang und somit unter deren freiwilliger Mitarbeit zustande kam (11 f., 16, 381). Seine Schlussfolgerungen lauten, dass das Doggererz-Projekt ein „hochdefizitäres Rüstungsprojekt“ gewesen sei, welches die Industrie in letzter Konsequenz eher belastet hätte (384). Den beteiligten Industriellen kommt im Rahmen des „Dritten Reiches“ nach Seidelmann jedoch zumindest eine Mitschuld zu, weil sie durch ihre Mitarbeit einen Unrechtsstaat begünstigt, sich mehrerer Rechtsverletzungen schuldig gemacht und Zwangsarbeit angewendet hätten (384). Seine Argumente bezüglich der mangelnden Rentabilität des Projektes sind, dass die Kosten der Erzaufbereitung um vieles höher lagen als bei der Verwendung hochwertiger Erze aus dem Ausland (26, 293–309) und die Anlagen für die Erzaufbereitung beträchtliche Investitionen erfordert hätten (26, 218–221). Bezüglich der „unternehmerischen Freiheit im Dritten Reich“ argumentiert er, man hätte den Konzernen mit „Zwangsmitteln“ gedroht und „Zwang“ angewendet (31). Dabei hätten die Vertreter der NS-Behörden den Industriellen „Sabotage“ und „Gemeinheit“ vorgeworfen (36, 77, 82). Zudem habe die „Enteignung“ der Salzgittererze angezeigt, dass der NS-Staat das „Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft durchzusetzen begann“ (175). Seidelmanns Hauptquellen bilden umfangreiche Aktenbestände aus Wirtschafts- und Staatsarchiven, die im Quellenverzeichnis vier Seiten umfassen und viel Fleiß erkennen lassen. Sowohl der Detailreichtum seiner Darstellung und die 1
Aktennotiz für Friedrich Flick, 10.07.1940, Akten des Flick-Konzerns, Bundesarchiv Berlin, R 8122, Mikrofilm Nr. 80899.
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Erschließung vieler technikgeschichtlicher Aspekte (23, 52 f., 73 f., 213–217), als auch die Einbeziehung sozialgeschichtlicher Themen, bis hin zur Zwangsarbeit, können als Verdienste der Arbeit betrachtet werden. Es gibt allerdings auch Kritisches anzumerken. Seidelmanns Fragestellung nach der „betriebswirtschaftlichen Interessenlage“ der beteiligten Unternehmen ist zu kurz gefasst. Die jüngste Forschung hat gezeigt, dass es zwischen NS-Führung und Großindustriellen bereits vor der Machtübernahme Absprachen und Austausch hinsichtlich der späteren Rüstungspolitik, verbunden mit der Aussicht auf militärische Auseinandersetzungen gegeben hat (KARSTEN HEINZ SCHÖNBACH: Die deutschen Konzerne und der Nationalsozialismus 1926–1943, Berlin 2016, 58–60, 72–80, 116 f., 128 f., 369 f.). Die neuesten dokumentarischen Funde belegen, dass führende Vertreter der Ruhrindustrie bereits 1934 der NS-Regierung erste Forderungen zur Übernahme von Werken und Rohstoffquellen in einem zukünftig besetzten Frankreich vorlegten (ebd., 517). Die jüngst entdeckten Dokumente aus Konzernakten zeigen, dass auch in anderen Branchen der deutschen Großwirtschaft schon vor dem Krieg Vorbereitungen in dieser Richtung im Gange waren. Im Zuge der Besetzungen europäischer Gebiete durch die Wehrmacht erfolgte eine zügellose Beutepolitik deutscher Konzerne. Die jüngere Forschung hat gezeigt, dass sich führende deutsche Unternehmen dabei gegen divergierende Interessen des NS-Staates durchgesetzt haben. Allein das Scheitern des „BormannHitler-Planes“ – einer staatlichen Bewirtschaftungskonzeption für die besetzten Gebiete – an der geschlossenen Front der Industrie und ihren privatwirtschaftlichen Interessen zeigt, dass die führenden deutschen Unternehmer weit mehr als nur „Opfer des Nationalsozialismus“ waren (ebd., 499–602). Die Aussicht auf wirtschaftliche Beute und die Vernichtung der ausländischen Konkurrenz lässt die Frage nach der Rentabilität auch betriebswirtschaftlich fragwürdiger Rüstungsprojekte in einem anderen Licht erscheinen. Zudem zeigt die Tatsache, dass die Großindustrie Einfluss auf die Besatzungspolitik auch gegen divergierende Interessen der NS-Führung zu nehmen vermochte, eindeutig an, dass sie mehr Macht besaß, als die konservativ geprägte Geschichtsschreibung der Bundesrepublik einzugestehen bereit ist. Daher entsprechen frühere Darstellungen dieser Thematik, wie diejenigen Mollins, Luntowskis, Buchheims, Scherners oder auch Toozes, nicht mehr der aktuellen Faktenlage. Auch bei Seidelmann führt der starke Bezug auf diese konservativen Positionen zu Gegensätzen in seinen Darstellungen. Einerseits ist er bemüht, den Aspekt des „Zwanges“ vonseiten des NS-Staates gegenüber den Großindustriellen in den Vordergrund zu rücken. Andererseits stellt er im Gegensatz dazu fest, dass die führenden Industriellen den Druck des Staates auch von sich aus wünschten, um weitere Teilhaber zur Beteiligung am Projekt zu drängen (80–83). Dabei hätten diese Großindustriellen selbst Druck auszuüben versucht (169). Nach Seidelmann fühlte sich der Großindustrielle Otto Wolff dem Vertreter des Staates, von Hanneken, „persönlich“ verpflichtet (207) und die Otto-Wolff-Gruppe entschied sich letztlich dafür, „eine Hauptrolle bei der Projektdurchsetzung zu übernehmen“ (384). Insgesamt muss Seidelmann am Schluss eingestehen, dass der „Zwang“ des Staates zum Teil „auf Initiative der Wirtschaft selbst geschah“ (380). Würde Sei-
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delmann anerkennen, dass seine mit Fleiß und Sorgfalt zusammengetragenen empirischen Befunde auch den Schluss zuließen, dass die Industriellen auf Augenhöhe mit der NS-Führung zusammenarbeiteten – wenn auch oft in Auseinandersetzung um divergierende Konzepte – so würde dies die beobachteten Gegensätze aufheben und seine Darstellung entscheidend abrunden. Karsten Heinz Schönbach
Berlin
PETER FASSL (Hg.): Die NS-Zeit in Ortsgeschichten (= Schriftenreihe der Bezirksheimatpflege Schwaben zur Geschichte und Kultur 8), Augsburg: Bezirksheimatpflege Schwaben 2014, 120 S., (ISBN 978-3-934113-14-5), 14,50 EUR. Die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus in (West-)Deutschland hat bekanntlich erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts schrittweise an Dynamik gewonnen, ist inzwischen jedoch zu einem selbstverständlichen Bestandteil nationaler Erinnerungskultur geworden. Mindestens einen, wenn nicht mehrere Schritte langsamer entwickelt sich eine solche Rückbesinnung jedoch, wenn man sich auf die regionale oder gar lokale Ebene begibt. Hier befindet sich die entsprechende Forschung – im Vergleich zum großen Ganzen – bestenfalls am Anfang, was sich in zahlreichen Gegenden immer wieder hautnah beobachten lässt. Gerade für den Nahraum mag dabei auf den ersten Blick eine Faustregel gelten: Je kleiner die betroffene Gemeinde, desto stärker deren Beharren auf einem bewussten Neuanfang nach 1945, vermeintlichem Nichtwissen über die in Rede stehende Zeit oder die nassforsche Behauptung, man sei lediglich ein kleines, unbedeutendes Rädchen im Getriebe des nationalsozialistischen Großapparats gewesen. Bereits in den 1980er Jahren haben engagierte Bürgerinnen und Bürger (nicht selten Schülerinnen und Schüler) etwa in Passau, Landsberg am Lech oder Hersbruck in ihren Bestrebungen zur Erforschung der NS-Vergangenheit allenthalben missliche Erfahrungen gemacht und nur dank eines langen Atems (v. a. nach zahllosen Auseinandersetzungen mit lokalen Honoratioren) letztlich Entscheidendes zu Tage gebracht. Nichtsdestotrotz ist aus heutiger Sicht festzuhalten, dass diesem Kapitel der Lokalgeschichte in der Breite noch immer einige Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Den Apologeten einer – in Facetten jeweils neu daherkommenden, faktisch jedoch nie enden scheinenden – politischen Schlussstrichdebatte sei daher entgegengehalten, dass v. a. die Aufarbeitung lokaler NSGeschichte, d. h. die Formung einer spezifischen örtlichen Erinnerungslandschaft, bestenfalls noch in den Kinderschuhen steckt. Der einen oder anderen Gemeinde scheint dies heute allmählich zu dämmern, so dass – langsam, aber kontinuierlich – erste Manifestationen der Erinnerung (in Form von Denkmälern, Erinnerungstafeln, Stolpersteinen oder Ähnlichem) in der materiellen Kultur vor Ort sichtbar werden. Literatur zu alledem ist derzeit leider ebenfalls noch rar. Umso verdienstvoller sind daher aktuelle Publikationen, die jene misslichen lokalen Umstände verstärkt in den Fokus nehmen. Um eine solche handelt es sich bei dem vorliegenden Buch, das den schwäbischen Nahraum ins Blickfeld nimmt. Analog zum oben Festge-
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stellten heißt es im Vorwort: „Einem schwierigen Kapitel in der Geschichte widmen sich die Beiträge dieses Bandes: der Darstellung der Zeit des Nationalsozialismus und seiner historischen Einbettung in der Ortsgeschichte, ein Thema, das man lange gemieden hat und das man auch heute noch nicht ganz selbstverständlich aufgreift“ (V). In der Tat vereint der Band Beiträge diverser Stoßrichtung, die allesamt von Erfahrungsträgern vor Ort verfasst sind und einschlägige Erfahrungen mit mehr oder minder beharrlicher Nicht-Erinnerung zum Ausdruck bringen: Barbara Sallinger zu Krumbach, Johannes Mordstein zu Buttenwiesen, Paul Hoser zu Memmingen, Peter Fleischmann zum gesamten Regierungsbezirk Schwaben, Gerhard Hetzer zu den bayerischen Ernährungsämtern, abgerundet durch eine bibliografische Zusammenstellung von Arbeiten zur Ortsgeschichtsschreibung durch Katrin Holly. Es kann nicht Sinn dieser Besprechung sein, besagte Beiträge im Einzelnen zu charakterisieren. Eher soll es darum gehen, Verbindungslinien der Befunde vor Ort offen zu legen und darauf aufbauend den Versuch einer systematisierenden Abstraktion zu unternehmen. Zu Grunde liegt dem ein knappes, jedoch in mehrfacher Hinsicht programmatisches Einführungskapitel des Herausgebers Peter Fassl (1–7): In diesem betont er, dass gerade kleine dörfliche Gemeinden (im Gegensatz zu kleinen Städten wie Mindelheim) noch immer erhebliche Probleme mit der Aufarbeitung ihrer NS-Geschichte hätten (1). Zu Recht verweist er bei der Suche nach Gründen dafür auf die Tatsache, dass „Dorfgeschichte in gewissem Sinne als vernetzte Familiengeschichte“ (3) zu begreifen sei. Dass „jeder jeden kannte“ (ebd.), beeinflusste eben nicht nur die NS-Zeit selbst, sondern bedeutete auch für die Aufarbeitungsbemühungen nach 1945 eine erhebliche Hypothek: „Das Verschweigen der NS-Zeit hat notwendigerweise die Verzerrung der Nachkriegszeit und der 1950er-Jahre zur Folge“ (4). Dies umso mehr, als auch hier – jenseits des Problems des massiven Zuzugs von Heimatvertriebenen aus vormaligen deutschen Ostgebieten, das natürlich nicht rascher Aufklärung diente – recht früh die üblichen Verklärungen der im Dorf erlebten Zeit sowie Uminterpretationen der eigenen Rolle („vom Täter bzw. Mitläufer zum Opfer“) aus dem Boden schossen – Fassl spricht hier mit Recht von „einer verfehlten Erinnerungskultur“ (5). Hieraus ergäben sich in Orten wie Gunzenhausen Folgen bis heute, da allein „der Verdacht eines absichtlichen Verschweigens“ in vielfacher Hinsicht lähmende Wirkung auf „unser Dorf“ bzw. das heutige soziale Miteinander in diesem haben könne (6). Richtig ist auch, wenn Fassl nachdrücklich auf das schwierige Spannungsfeld zwischen „Verantwortung“ (statt „Schuld“) von Nachgeborenen bzw. Familienangehörigen einerseits und der Unerlässlichkeit lokaler Befunde als Basis weiterer Abstraktionen andererseits hinweist (6 f.), vor dem man die Augen letztlich ebenso wenig verschließen dürfe. Die weiteren Beiträge dokumentieren diese Aussagen für einzelne Orte und spezifizieren Manches mit konkreten Zahlen, worin jeweils Mehrwert für künftige Einzelforschungen liegen kann. Dass dabei da und dort (etwa für Memmingen) auch Namen örtlicher Täter explizit genannt werden, hätte in den 1950er und 60er Jahren wohl zu endlosen, mitunter durchaus ergebnisoffenen Klageverfahren geführt, ist im Kontext moderner Erinnerungskultur jedoch erfreulich normal, ja
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konstitutiv geworden. Auch erfährt man Einiges über angestrengte Aktenvernichtungsaktionen in Bayerisch-Schwaben insgesamt oder über die Tatsache, dass die bislang wenig systematisch durchforsteten Gemeindearchive stets recht eindeutige Bilder von nicht selten sehr frühen, nachdrücklichen NS-Verstrickungen (z. B. Bestellungen von Propagandamaterial für Schulen oder Zwangsarisierungen) zu skizzieren in der Lage sind. Man könnte dem weitere Details hinzufügen. Indes ist der Tenor all dessen recht klar: Der vorliegende Sammelband zur „NS-Zeit in Ortsgeschichten“ liefert ein eindrückliches Bild vom Mikrokosmos Kleinstadt bzw. Dorf, der in der Tat – weit mehr als von örtlichen Honoratioren lange Zeit zugegeben – einen wesentlichen Kern der Ausbreitung und Festigung nationalsozialistischer Strukturen und Gedankengebäude gebildet hat. Noch intensivere Befassung der heutigen Zivilgesellschaft, mit noch systematischerer Aufarbeitung des v. a. in örtlichen Archiven weiterhin Schlummernden, wird hier künftig dazu beitragen können, nicht nur ein deutlich profunderes Bild der NS-Zeit jenseits der (bekannten) Großstädte zu zeichnen, sondern auch wesentliche Phänomene der Genese und des Selbstverständnisses heutiger Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus aufzuzeigen. Man wird um solche vermeintlich kleinen, aber in der Sache unerlässlichen Dokumentationen wie die vorliegende demnach künftig nicht herumkommen. Bert Freyberger
Bamberg
RITA GARSTENAUER, ANNE UNTERWURZACHER (Hg.): Aufbrechen, Arbeiten, Ankommen. Mobilität und Migration im ländlichen Raum seit 1945 (= Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 11), Innsbruck/Wien/Bozen: Studien Verlag 2014, 264 S., zahlreiche s/w Abb., (ISBN 978-3-7065-5402-2), 29,90 EUR. In diesem Jahrbuch sind elf, durch Zwischenüberschriften gut gegliederte, Aufsätze zu finden, die sich aus verschiedenen Perspektiven, mit vielfältigen Forschungsansätzen und auf unterschiedlicher Quellenbasis mit zahlreichen Personengruppen beschäftigen und in der Regel mit einem Resümee schließen. Darauf folgen in der Rubrik Forum zwei Beiträge: Einer zu Forschungen im Bereich der ‚neuenʻ Agrargeschichte von Clemens Zimmermann und einer zum Thema „Ländliche Geschichte neu schreiben“ von Ulrich Schwarz, da 2014 das Jahrbuch sein zehnjähriges Bestehen feierte. Geografisch sind die Forschungen auf Regionen in Österreich, Deutschland, Luxemburg und der Schweiz begrenzt. Unter dem Aspekt der Zeit werden in einigen Aufsätzen historische Perspektiven untersucht, wie beispielsweise bei Ute Bretschneider („Zwangsmigration und Neubeheimatung. ‚Umsiedler‘ als ‚Neubauern‘ in der SBZ/DDR“, 37–52) oder bei Angelika Laumer („‚Er hat alles gekonnt, wenn’s hat sein müssen, er war ein fleißiger Mann.‘ Wie Kinder von ZwangsarbeiterInnen im ländlichen Bayern NS-Zwangsarbeit und deren Konsequenzen erinnern“, 19–36). In anderen Aufsätzen stehen zeitgeschichtliche Untersuchungen an, wie z. B. bei Gudrun Kirchhoff und Claudia Bolte („Migration und Integration im ländlichen Raum. Besonderheiten und zukünftige Herausforderun-
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gen“, 185–197) oder bei Verena Sauermann und Veronika Settele („Migration sichtbar und erzählbar machen. Zeithistorische Migrationsforschung in einer Tiroler Kleinstadt“, 126–145). Der Aufsatz von Gerhard Hetfleisch mit dem Titel „Geschichte der Arbeitsmigration Tirols 1945–2013“ (95–125) gibt tatsächlich einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Arbeitsmigration in Österreich. Für deutsche MigrationsforscherInnen birgt dieser Aufsatz aufschlussreiche Parallelen zur Geschichte der Arbeitsmigration in (West-)Deutschland, vor allem hinsichtlich des Umgangs der Regierungen mit „GastarbeiterInnen“, z. B. als Konjunkturpuffer (109), bei den Anwerbeabkommen (102 f.), beim Familiennachzug (113) oder in der Zeit nach 1990 (114–118). Lobenswert ist, dass das Thema Gender, sofern es die Quellenlage hergibt, mitgedacht und dargestellt wird. Zum Teil liegt der Schwerpunkt der Forschung auf dem Geschlecht, um die frauenspezifischen Aspekte von Migration herauszuarbeiten, z. B. im Aufsatz von Ute Sonnleitner, Anita Ziegenhofer und Karin Schmidlechner: „Aufbruch als Chance. Steirische Arbeitsmigration in die Schweiz 1945–1955“ (53–77). Des Weiteren erwähnen Isabella Skrivanek, Lydia Rössl und Anna Faustmann unter anderem die Heiratsmigration in ihrem Aufsatz „Die Erwerbsintegration von MigrantInnen in der ländlichen Steiermark im Kontext der Zuwanderungsgeschichte“ (199–224). Generell erfreulich ist, dass in allen Aufsätzen eine gendergerechte Sprache verwendet wird. Neben Bezügen zu Migrationstheorien werden, wie im Aufsatz von Vladimir Ivanovic („Der Traum von der Melange. Ein Beitrag zur Geschichte der Rückkehr der jugoslawischen ArbeitsmigrantInnen“, 146–163), transnationale Perspektiven berücksichtigt. Hinzu kommt eine Fülle von Quellenmaterial wie Interviews, Tagebücher, Archivalien, Briefe und vor allem Statistiken, die gegen den Strich gebürstet viele neue Erkenntnisse bringen. Dadurch ergibt sich eine multiperspektivische Sicht auf die Untersuchungsgegenstände und ein neuer bzw. veränderter Blick auf bisherige Forschungsergebnisse. Die Herausgeberinnen haben sich zum Ziel gesetzt, „gezielt ländliche Räume in den Blick“ zu nehmen und „die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft“ (7) herzustellen, um diverse Forschungsdesiderate aufzuarbeiten. Dies ist ihnen gelungen, denn die MigrationsforscherInnen haben den ländlichen Raum bisher vernachlässigt. Des Weiteren vertreten die Herausgeberinnen den Ansatz, dass der politische Zeitkontext mit diversen Krisenszenarien und der sozioökonomische Kontext nicht getrennt werden soll, da beide eng miteinander verwoben sind (12). Auch dieser Ansatz wird in den Darstellungen berücksichtigt. In vielen Aufsätzen wird zudem die Prozesshaftigkeit und Dynamik von Wanderung, Niederlassung und Eingliederung in Bezug auf den ländlichen Raum anschaulich dargestellt. Hinzu kommen Langfristigkeit und generationenübergreifende Effekte von Migration. Die AutorInnen(teams) bieten anhand bisher vernachlässigter Themen interessante Einblicke in die Mikrogeschichte und machen deutlich, welche Auswirkungen diese auf die Makrogeschichte der Migration hat. Trotz ihrer Ausrichtung
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bzw. Beschränkung auf bestimmte Regionen liefern die AutorInnen wichtige und interessante Fakten und Erkenntnisse für eine Gesamtschau und weisen auf globalgeschichtliche Zusammenhänge hin. Sie eröffnen so neue Blickwinkel auf Migration, wie z. B. Ingrid Machold und Thomas Dax in ihrem Beitrag „Schlüsselfaktoren Zuwanderung. Migration in ländlichen Regionen Österreichs“ (164–184). Sie legen dar, dass viele ländliche Regionen in westeuropäischen Ländern von Zuwanderung profitieren (165) und in zahlreichen Ländern die Binnenmigration einen weit größeren Anteil ausmacht, wie z. B. in China und Indien (175). Des Weiteren untersuchen sie das Wanderungsverhalten ausländischer und österreichischer Staatsangehöriger mit dem Ergebnis, dass „ausländische Staatsangehörige innerhalb Österreichs weit häufiger wandern als inländische Staatsangehörige“ (183). Ebenso interessant sind die Forschungsergebnisse von Elisabeth Boesen, Gregor Schnuer und Christian Wille zur „Urbanität im ländlichen Raum. Wohnmigration in der deutsch-luxemburgischen Grenzregion“ (225–244). Sie weisen durch ihre Habitus- und Einstellungsuntersuchungen darauf hin, „dass Ruralität positiv bestimmt, nicht lediglich als ein Mangel an Urbanität verstanden wird“ (241). Zahlreiche Aufsätze basieren auf größeren Untersuchungen, Projekten oder Dissertationen. Die Anmerkungsapparate sind durchweg umfangreich und basieren auf neuer und neuester Literatur. Sehr lobenswert ist, dass die meisten AutorInnen den Forschungsstand explizit darlegen. Das Forschungsdesign wird nicht immer differenziert dargestellt, was an der Beschränkung des Umfangs liegen mag, doch sind die angewandten Methoden ersichtlich. Mehrere AutorInnen nutzen unterschiedliche Interviewmethoden und geben so der Migrationsgeschichte und -forschung ein konkretes Gesicht. Die Interviews sind in den historischen Kontext eingebettet und theoretisch verortet, wie z. B. bei Nina Kulovic („,Hast das erfahren halt, dass die dort wen aufnehmen und dass du dir ein Geld verdienen kannst, weil wir selbst nichts gehabt haben.’ Die südburgenländische Arbeitsmigration in die Schweiz von 1950 bis 1970 in lebensgeschichtlichen Interviews“, 78–94). Die gelungene Mischung aus Detailstudien und Überblick regt zum Weiterdenken und Weiterforschen an, da Forschungsansätze und Forschungsfragen auf andere Gebiete (nicht nur im geographischen Sinn) angewandt werden können. Somit liegt ein durchweg lesenswertes und inspirierendes Jahrbuch mit interessanten und spannenden Themen vor, die Lust auf weiterführende Forschung machen. Sabine Liebig
Karlsruhe
AUTORENVERZEICHNIS Pavel Bolina
V Úvoze 245/12, 15900 Praha 5, Tschechische Republik
Birgitta Coers
Kunsthistorisches Institut, Eberhard Karls Universität Tübingen, Bursagasse 1, 72070 Tübingen
Alexander Denzler Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Universitätsallee 1, 85072 Eichstätt Simon Falch
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Universitätsallee 1, D-85072 Eichstätt
Dorothée Goetze
Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn, Konviktstraße 11, 53113 Bonn
Tomáš Klimek
Referát Manuscriptorium – HHF, Národní knihovna ČR, Klementinum 190, 11000 Praha 1, Tschechische Republik
Christina Patz
Forschungsstelle für geistliche Literatur des Mittelalters FGLM, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Marktplatz 7, 85072 Eichstätt
Maria Weber
Graduiertenkolleg 2337 „Metropolität in der Vormoderne“, Universität Regensburg, Friedenstraße 30, 93053 Regensburg
Jörg Widmaier
Landesamt für Denkmalpflege, Alexanderstraße 48, 72072 Tübingen
Die Wahrnehmung und Nutzung von Straßen und Wegen in Mittelalter und Früher Neuzeit bildet den thematischen Schwerpunkt des Jahrbuchs. Die Verkehrswege dienten der Landwirtschaft und dem Handel, aber auch der Kommunikation – und sie waren ein wesentliches Element der Raumgestaltung. An ihrer Bedeutung kann daher kein Zweifel bestehen. Allerdings bleibt zu fragen, wann, warum, für wen und wie Straßen
in der Vormoderne prägend waren, wie sie genutzt und wahrgenommen wurden. Historikerinnen und Historiker, aber auch Vertreterinnen und Vertreter der Kunstgeschichte, Archäologie und der germanistischen Mediävistik gehen dem in ihren Beiträgen nach. Auch neue Perspektiven auf Straßen und Wege in europäischen Regionen, die bislang noch kaum im Fokus des Jahrbuchs standen, geraten so in den Blick.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-12135-4
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7835 1 5 1 2 1 354
ISSN 1860-8248