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German Pages 240 [242] Year 2017
JbRG Band 35
Jahrbuch für Regional geschichte Geschichte
Franz Steiner Verlag
Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 35
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE
Franz Steiner Verlag
jahrbuch für regionalgeschichte Begründet von Karl Czok Herausgegeben von Mark Häberlein, Bamberg (verantwortlich) / Helmut Bräuer, Leipzig / Josef Ehmer, Wien / Rainer S. Elkar, Siegen / Gerhard Fouquet, Kiel / Franklin Kopitzsch, Hamburg / Reinhold Reith, Salzburg / Martin Rheinheimer, Odense / Dorothee Rippmann, Itingen / Susanne Schötz, Dresden / Sabine Ullmann, Eichstätt Redaktion: Dr. Andreas Flurschütz da Cruz / Sandra Schardt (Bamberg) www.steiner-verlag.de/jrg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Satz: Sandra Schardt, Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1860-8248 ISBN 978-3-515-11702-9 (Print) ISBN 978-3-515-11703-6 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis Editorial .................................................................................................................. 11
I Abhandlungen Martin Rheinheimer: Die Schifffahrt des Herzogtums Schleswig im Spiegel des Sundzolls 1634–1857 ..................................................................................................... 15 Hanns Haas: Wandergewerbe und Wanderhandel aus den und in die Alpen. Ein wirtschaftlicher Funktionstypus im sozialen Umfeld ............................................................ 33 Monika Thonhauser: Der Schlingen- und Spitzenhandel im 17. und 18. Jahrhundert im Salzburger Flachland .................................................................................................... 67 Andrea Serles: Nürnberger Händler und Nürnberger Waren: Reichsstädtische Wirtschaftsinteressen und der Donauhandel in der Frühen Neuzeit ........................................ 93
II Rezensionen und Annotationen 1. Epochenübergreifend Bernd Ulrich Hucker (Hg.): Landesgeschichte und regionale Geschichtskultur Besprochen von Sabine Ullmann ......................................................................... 131 Enno Bünz (Hg.): Geschichte der Stadt Leipzig. Band 1 Besprochen von Helmut Bräuer .......................................................................... 133 Christina Schmid, Gabriele Schichta, Thomas Kühtreiber, Kornelia HolznerTobisch (Hg.): Raumstrukturen und Raumausstattung auf Burgen in Mittelalter und Früher Neuzeit Besprochen von Christian Kübler ....................................................................... 135
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Inhalt
Mark Spohr: Auf Tuchfühlung Besprochen von Reinhold Reith ........................................................................... 138 Peter Rauscher, Andrea Serles (Hg.): Wiegen – Zählen – Registrieren Besprochen von Gerhard Fouquet ...................................................................... 140 Philipp Gassert, Günter Kronenbitter, Stefan Paulus, Wolfgang E. J. Weber (Hg.): Augsburg und Amerika Besprochen von Volker Depkat ........................................................................... 142 Dirk Brietzke, Franklin Kopitzsch, Rainer Nicolaysen (Hg.): Das Akademische Gymnasium Besprochen von Heinz-Elmar Tenorth ................................................................ 145 Margareth Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz ..................................................... 148 Gunhild Berg, Borbála Zsuzsanna Török, Marcus Twellmann (Hg.): Berechnen / Beschreiben Besprochen von Alexander Denzler .................................................................... 151 2. Mittelalter Annekathrin Miegel: Kooperation, Vernetzung, Erneuerung Besprochen von Klaus Unterburger .................................................................... 153 Wolfgang Wille (Bearb.): Das Bebenhäuser Urbar von 1356 Besprochen von Gudrun Gleba ........................................................................... 155 Eduard Mühle (Hg.): Breslau und Krakau im Hoch- und Spätmittelalter Besprochen von Claudia Esch ............................................................................. 157 Kai-Henrik Günther: Sizilianer, Flamen, Eidgenossen Besprochen von Claudia Esch ............................................................................. 160
Inhalt
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Jan Hirschbiegel: Nahbeziehungen bei Hof Besprochen von Hillard von Thiessen ................................................................. 163 Joachim Emig, Volker Leppin, Uwe Schirmer (Hg.): Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470–1525/30) Besprochen von Harald Bollbuck ........................................................................ 166 3. Frühe Neuzeit Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende Besprochen von Olaf Mörke ................................................................................ 169 Alexander Denzler, Ellen Franke, Britta Schneider (Hg.): Prozessakten, Parteien und Partikularinteressen Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz ..................................................... 171 Wolfgang Wüst, Michael Müller (Hg.): Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im spatial turn Besprochen von Johannes Staudenmaier ............................................................ 175 Michael Busch u. a. (Hg.): Die schwedische Landesaufnahme von Pommern 1692–1709 Nicolás Brochhagen: Die landesherrliche Visitation in Grebenstein 1668 Ingrid Baumgärnter (Hg.): Fürstliche Koordinaten Besprochen von Johannes Staudenmaier ............................................................ 177 Stephan Steiner: Rückkehr unerwünscht Besprochen von Astrid von Schlachta ................................................................. 180 Mark Häberlein, Michaela Schmölz-Häberlein (Hg.): Stiftungen, Fürsorge und Kreditwesen im frühneuzeitlichen Bamberg Besprochen von Dorothee Rippmann .................................................................. 182 Tilman Haug: Ungleiche Außenbeziehungen und grenzüberschreitende Patronage Besprochen von Anuschka Tischer ...................................................................... 185
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Inhalt
Elke Schlenkrich: Gevatter Tod Besprochen von Annemarie Kinzelbach .............................................................. 188 Corinna Schulz: Von Bastarden und natürlichen Kindern Besprochen von Sandra Schardt.......................................................................... 191 Martin Mulsow (Hg.): Kriminelle – Freidenker – Alchemisten Besprochen von Sina Rauschenbach ................................................................... 194 Heinrich August Krippendorf (bearb. von Joachim Brüser): Anekdoten vom württembergischen Hof Besprochen von Sybille Oßwald-Bargende ......................................................... 197 Ronnie Po-chia Hsia: Gräfin Maria Theresia Fugger von Wellenburg (1690–1762) Besprochen von Mark Häberlein ......................................................................... 199 Dieter Merzbacher, Wolfgang Miersemann (Hg.): Wirkungen des Pietismus im Fürstentum Wolfenbüttel Besprochen von Hermann Wellenreuther............................................................ 201 András Vári, Judit Pál, Stefan Brakensiek: Herrschaft an der Grenze Besprochen von Peter Thaler .............................................................................. 202 Rainer Bendel, Norbert Spannenberger (Hg.): Katholische Aufklärung und Josephinismus Besprochen von Harm Klueting .......................................................................... 204 Friedemann Pestel: Kosmopoliten wider Willen Besprochen von Matthias Winkler ....................................................................... 207 Joachim Bräuser, Konrad Krimm (Hg.): Die Ortenauer Reichsritterschaft am Ende des Alten Reiches Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz ..................................................... 210
Inhalt
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4. 19. und 20. Jahrhundert Bärbel Sunderbrink: Revolutionäre Neuordnung auf Zeit Besprochen von Jürgen Schlumbohm .................................................................. 213 Olga Weckenbrock: Adel auf dem Prüfstand Besprochen von Markus Raasch.......................................................................... 215 Philipp Teichfischer, Eva Brinkschulte (Hg.): Johann Lukas Schönlein (1793–1864): Unveröffentlichte Briefe Besprochen von Florian Steger ........................................................................... 218 Johann Kirchinger: Zwischen barocker Vielfalt und ultramontaner Uniformierung Besprochen von Norbert Jung ............................................................................. 220 Frauke Schlütz: Ländlicher Kredit Besprochen von Daniel Reupke ........................................................................... 224 Klara van Eyll: Wilh. Werhahn KG Neuss am Rhein Besprochen von Andreas Dornheim .................................................................... 226 Oskar Dohle, Thomas Mitterecker (Hg.): Salzburg im Ersten Weltkrieg Besprochen von Andreas Brandner ..................................................................... 228 Antje Strahl: Das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin im Ersten Weltkrieg Besprochen von Jens Thiel .................................................................................. 232 Elaine Eckert: Die Carbid-Vereinigung GmbH (1921–1958) Besprochen von Andreas Dornheim .................................................................... 234 Heike Kempe (Hg.) Die „andere Provinz“ Besprochen von Philipp Gassert ......................................................................... 236
EDITORIAL Die Beiträge des aktuellen Jahrbuchs haben einen Schwerpunkt in der regionalen Handelsgeschichte, wobei das geographische Spektrum von Nord- und Ostsee bis in den Alpen- und Donauraum reicht. Martin Rheinheimer wertet die Sundzollrechnungen, bekanntermaßen eine einzigartige serielle Quelle zum Handelsverkehr im Nord- und Ostseeraum, im Hinblick auf die Schifffahrt des Herzogtums Schleswig zwischen dem 17. und der Mitte des 19. Jahrhunderts aus. Er kann zeigen, dass das Herzogtum ein wichtiges Rekrutierungsgebiet für Schiffskapitäne war und die Häfen an der Ostseeküste im 18. Jahrhundert einen anhaltenden konjunkturellen Aufschwung erlebten. Hanns Haas gibt einen Überblick über Herkunftsgebiete, Erscheinungsformen und Auswirkungen von Wanderhandel und Wandergewerbe im Alpenraum. Er konstatiert, dass die meisten mobilen Händler und Gewerbetreibenden aus süd- und inneralpinen Regionen stammten; ferner beschreibt er das Spektrum an Handelswaren und Tätigkeitsbereichen und diskutiert Zusammenhänge zwischen Mobilität und Erbrecht. Ein konkretes Fallbeispiel des alpinen Wanderhandels, den Schlingen- und Spitzenhandel im ehemaligen Erzstift Salzburg, unterzieht Monika Thonhauser einer detaillierten Untersuchung. Auf der Basis von Eingaben an die Obrigkeit, Pfarrmatrikeln, Inventaren und Gesundheitszeugnissen aus dem 17. und 18. Jahrhundert stellt sie Aktionsradius, Praktiken und Existenzbedingungen der Händler sowie Probleme der wirtschaftlichen Konkurrenz und Qualitätskontrolle dar. Mit dem Niedergang der Spitzenklöppelei und der Einführung neuer Zollschranken geriet dieser Handelszweig in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in eine existenzielle Krise. Auf der Grundlage der Kremser Waag- und Niederlagsbücher der Jahre 1621 bis 1739 nimmt Andrea Serles schließlich die Rolle Nürnberger Händler und der von ihnen vertriebenen Waren im frühneuzeitlichen Donauhandel in den Blick. Dabei vermittelt sie ein plastisches Bild von der Breite des gehandelten Güterspektrums und dokumentiert eine starke Präsenz Nürnberger Händler und Firmen in Krems in den Jahren 1660 bis 1720. Die Aktivitäten der Nürnberger im Donauraum bestätigen somit den in den letzten Jahren auch in anderen Publikationen betonten wirtschaftlichen Wiederaufstieg der fränkischen Reichsstadt nach dem Dreißigjährigen Krieg. Bamberg, im Februar 2017
Mark Häberlein
ABHANDLUNGEN
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 35, 2017, S. 15–32
DIE SCHIFFFAHRT DES HERZOGTUMS SCHLESWIG IM SPIEGEL DES SUNDZOLLS 1634–1857 Martin Rheinheimer ABSTRACT Im Öresund wurde bei Helsingör seit 1427/29 Zoll von Seiten der dänischen Krone erhoben. Die Sundzollrechnungen vermitteln einen guten Eindruck von den Konjunkturen und der regionalen Verteilung der Seefahrt, die hier für das Herzogtum Schleswig ausgewertet wird. Da aus dem 17. Jahrhundert andere serielle Quellen fehlen, ergänzen sie unser bisheriges Wissen. Das Herzogtum Schleswig insgesamt spielte in der Schifffahrt zwischen Nord- und Ostsee keine sonderliche Rolle. Als Ausgangs- oder Zielregion war es relativ unbedeutend. Es stellte jedoch eine beachtliche Anzahl von Kapitänen auf Schiffen mit anderen Ausgangshäfen. Bis ins erste Drittel des 18. Jahrhundert verharrte die Schifffahrt demnach auf einem niedrigen Niveau. Nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges begann eine lang anhaltende Hochkonjunktur, die nur von den Napoleonischen Kriegen unterbrochen wurde. Die Entwicklung war jedoch im Westen und Osten des Landes unterschiedlich. Während die Nordseeküste stagnierte, boomten die Städte an der Ostsee, vor allem Flensburg, Sonderburg und Apenrade. Im 19. Jahrhundert stieg dann die Insel Ärö zu einem Seefahrtzentrum auf. The Sound Toll was imposed by the Danish crown at Elsinore in 1427–29. The registers, which give a good impression of the economic state and the regional distribution of shipping, are analyzed in this essay for the Duchy of Schleswig. As other serial sources are lacking, the registers complement our existing knowledge, especially concerning the seeventeenth century. Overall, the Duchy of Schleswig did not play a particularly important role in shipping between the North and Baltic Seas. As far as the origins and destinations of voyages are concerned, the region was relatively insignificant. However, the duchy provided a considerable number of ship captains sailing from other ports. Until the first third of the eighteenth century, the merchant fleet remained relatively small. After the end of the Great Northern War, a prolonged boom began that was only interrupted by the Napoleonic wars. This development was unequal on the western and the eastern coast. While the North Sea coast stagnated, the towns on the Baltic Sea, especially Flensburg, Sønderborg and Aabenraa, were booming. In the nineteenth century, the island of Ærø became a maritime center as well.
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Martin Rheinheimer
I. Die Sundzollrechnungen Im Öresund wurde bei Helsingör seit 1427/29 Zoll von Seiten der dänischen Krone erhoben, und es wurden Abrechnungen über jedes Schiff geführt, das den Sund passierte1. Damit wurde die gesamte Schifffahrt zwischen Nord- und Ostsee erfasst, als auch für Schiffe, die in den Großen oder Kleinen Belt auswichen, der gleiche Zoll eingeführt wurde. Besonders unter Christian IV. (König von 1588 bis 1648) wurde der Sundzoll als Machtmittel benutzt, das jeder politischen Vernunft entbehrte. Wiederholt ließ er den Öresund sperren, um höhere Zollsätze durchzusetzen. So brachte er vor allem Schweden und die Niederlande gegen sich auf2. Je höher der Zoll, desto mehr nahm aber auch der Schmuggel zu, so dass die in den Zollrechnungen aufgeführten Waren höchstens einen Ausschnitt der tatsächlich mitgeführten Waren darstellen3. Dennoch lassen sich die Zollrechnungen benutzen, wenn man die richtigen Fragen an sie stellt.
Karte 1: Das Herzogtum Schleswig und der Sundzoll. Auf der Karte sind die wichtigsten Häfen, die in den Sundzollrechnungen genannt werden, eingezeichnet (Karte: Günther Bock).
In den vergangenen Jahren sind die Sundzollrechnungen in einem groß angelegten niederländischen Projekt digitalisiert worden und stehen nun als gewaltige Datenbank im Internet unter der Adresse www.soundtoll.nl zur Verfügung. Die Digita1
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Vgl. Dansk Toldhistorie, Bd. 1, København 1987, 83−137, 187–260; Bd. 2, København 1988, 191−217, 399−422, 539−542; Bd. 3, København 1989, 129−152; OLE DEGN (Hg.): Tolden i Sundet. Toldopkrævning, politik og skibsfart i Øresund 1429−1857, København 2010; HANS CHR. JOHANSEN: Shipping and Trade between the Baltic Area and Western Europe 1784−95, Odense 1983. Vgl. Dansk Toldhistorie (wie Anm. 1), Bd. 1, 231–268. Vgl. ebenda, Bd. 1, 221–230.
Schifffahrt im Herzogtum Schleswig
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lisierung ist inzwischen für die Zeit von 1634 bis 1857, als der Sundzoll aufgehoben wurde, vollständig. Sie erlaubt es somit, Untersuchungen durchzuführen, die noch vor wenigen Jahren unmöglich gewesen wären. Vor der Digitalisierung stand in gedruckter Form nur das große Tabellenwerk von Nina Bang und Knut Korst zur Verfügung, dessen Tabellen nicht zwischen den Herzogtümern Schleswig und Holstein unterschieden. Eine Untergliederung nach den einzelnen Häfen gab es darin auch nicht4. Die Zollrechnungen enthalten in der untersuchten Periode die Namen der Kapitäne, ihre Herkunft, Ausgangs- und Zielhäfen der Schiffe sowie die mitgeführten Waren und den bezahlten Zoll. Sie stellen damit eine fantastische Quelle zur nordeuropäischen Wirtschaftsgeschichte dar. Wegen ihres gewaltigen Umfangs war die Benutzung bislang jedoch schwierig, und Fragestellungen wie die hier verfolgte konnten schwerlich bearbeitet werden. Im Folgenden will ich untersuchen, wie viele Kapitäne aus dem damaligen Herzogtum Schleswig durch den Öresund fuhren und aus welchen Orten im Herzogtum sie stammten. Außerdem will ich der Frage nachgehen, wie viele Schiffe aus schleswigschen Häfen kamen bzw. sie ansteuerten. Der Sundzoll ist ein guter Indikator für die Seefahrt in Nord- und Ostsee. Über die, gemessen an den Metropolen, periphere Region Schleswig will ich versuchen, die Bedeutung der Seefahrt für die Peripherie der dänischen Monarchie zu bestimmen. Mich interessiert dabei, welche Bedeutung das Herzogtum Schleswig, eine Brückenregion zwischen Nord- und Ostsee, in der Seefahrt eigentlich hatte. Zugleich erhalten wir Aufschluss über Konjunkturen sowie regionale Unterschiede und Entwicklungen. Die Sundzollrechnungen sind in diesem Zusammenhang besonders deshalb relevant, da aus dem 17. Jahrhundert keine anderen seriellen Quellen vorliegen. Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts setzen in größerer Zahl andere Quellen ein, die sich statistisch auswerten lassen, so dass ein Gesamtbild entsteht (sonstige Zollrechnungen, Schiffslisten, Volkszählungen usw.)5. Das Herzogtum Schleswig lag zwischen Nord- und Ostsee. Im Süden wurde es von der Eider abgegrenzt, im Norden von der Königsau. Das Herzogtum erstreckte sich also beiderseits der heutigen deutsch-dänischen Grenze. Doch lagen an der Westküste südlich der Königsau noch eine Reihe reichsdänischer Enklaven. Die Zugehörigkeit war zum Teil so kompliziert, dass einzelne Höfe in einem bestimmten Dorf zum Herzogtum, andere zum Königreich gehörten6. Im Folgen4
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Vgl. NINA ELLINGER BANG, KNUD KORST: Tabeller over skibsfart og varetransport gennem Øresund 1497−1660, 3 Bde., København 1906−1933; NINA ELLINGER BANG, KNUD KORST: Tabeller over skibsfart og varetransport gennem Øresund 1661−1783 og gennem Storebælt 1701−1748. 4 Bde., København/Leipzig 1930−1953. Zur Kritik an dem Tabellenwerk vgl. Dansk Toldhistorie (wie Anm. 1), Bd. 1, 221–224. Eine allerdings unvollständige Schiffsliste findet sich für das Jahr 1677; vgl. MARTIN RHEINHEIMER: Die schleswig-holsteinische Handelsflotte im Jahre 1677. In: Rundbrief des Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 113 (2014), 33–40. Vgl. GERRET LIEBING SCHLABER: Hertugdømmet Slesvigs forvaltning. Administrative strukturer og retspleje mellem Ejderen og Kongeåen ca. 1460−1864, Flensborg 2007, 16, 51, 348– 351; PER GRAU MØLLER: Enclaves as Contested Places. In: ANNE MAGNUSSEN, PETER SEE-
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Martin Rheinheimer
den werden deshalb die Enklaven mit zum Herzogtum gerechnet. Dies gilt auch für die Stadt Ribe und die Insel Mandö, die beide noch südlich der Königsau liegen und deshalb hier mit in die Untersuchung aufgenommen wurden7. Hinzuzufügen ist, dass das Herzogtum bis 1721 zwischen der herzoglich-gottorfischen und der königlichen Linie geteilt war. Außerdem gab es auf Alsen und Ärö sowie um Glücksburg abgeteilte herzogliche Linien8. Diese Unterscheidungen wurden in den Sundzollrechnungen nicht berücksichtigt. Die Datenbank ist so aufgebaut, dass man nach Orten suchen und diese jeweils downloaden kann. Man muss jedoch zunächst jeden einzelnen Ort im Herzogtum suchen und kann erst in einem zweiten Schritt daraus Gesamtzahlen generieren. Dies eröffnet aber auch die Möglichkeit, räumlich nach einzelnen Orten und Teilregionen zu differenzieren. Die Ortsnamen sind in den Sundzollregistern oft auf verschiedene Weise geschrieben. Bei der Erstellung der Datenbank hat man die Namen zwar standardisiert, doch muss man als Benutzer die Treffsicherheit der Standardisierung jeweils überprüfen. In den meisten Fällen ist sie durchaus geglückt. Es gibt aber auch Fälle, in denen man nacharbeiten muss. So finden sich unter Højer viele Kapitäne von der Hallig Hooge, unter Hadersleben auch die Hallig Habel. Die Herkunft „Schleswig“ kann im Prinzip sowohl auf die Stadt als auch auf das gesamte Herzogtum hindeuten. Ich habe mich jedoch für die Stadt entschieden, da bei der Region meist nicht zwischen Schleswig und Holstein unterschieden wurde und „Holstein“ auch für das Herzogtum Schleswig verwendet wurde. Fast unmöglich wird die Unterscheidung, wenn zwei Orte gleiche oder ähnliche Namen haben. Dies gilt insbesondere für Friedrichstadt an der Eider und Frederikstad in Norwegen, aber auch für die schleswigsche Nordseeinsel Helgoland und den norwegischen Ort Helgeland oder für die schleswigsche Hallig Oland und die schwedische Insel Öland. In diesen Fällen werden die Orte in der Quelle oft auf die gleiche Weise geschrieben, was die Standardisierung recht zufällig erscheinen lässt. Zum Teil werden die gleichen Personen einmal dem schleswigschen, ein anderes Mal dem norwegischen bzw. schwedischen Ort zugeordnet. Die Zugehörigkeit ist hier im Einzelfall zu kontrollieren und lässt sich jeweils nur über eine Feinuntersuchung der involvierten Personen und Fahrtrichtungen ermitteln. Hier ist vertieftes Wissen um die lokalen Verhältnisse vonnöten. Bei Friedrichstadt und Frederikstad bleibt das Ergebnis allerdings, besonders bei Ausgangs- und Zielhafen der Schiffe, mit so großer Unsicherheit behaftet, dass ich es im Folgenden nicht in die Gesamtzahlen einbeziehe, da es das Bild verändern könnte. Im Sundzoll taucht außerdem wiederholt ein Egersund auf. Es handelt sich jedoch nicht um Egernsund (Ekensund) an der Flensburger Förde, sondern um einen Hafen in Norwegen.
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BERG, KIRSTINE SINCLAIR, NILS ARNE SØRENSEN (Hg.): Contested Places, Odense 2013, 179– 192. Allerdings waren ihre Zahlen vergleichsweise unbedeutend; vgl. Tabelle 2 (S. 31). Vgl. CARSTEN PORSKROG RASMUSSEN, ELKE IMBERGER, DIETER LOHMEIER, INGWER E. MOMSEN (Hg.): Die Fürsten des Landes. Herzöge und Grafen von Schleswig, Holstein und Lauenburg, Neumünster 2008.
Schifffahrt im Herzogtum Schleswig
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Bevor man das Sundzollregister benutzt, muss man sich klarmachen, was es enthalten kann und was nicht. Schiffe von der schleswigschen Ostküste werden nur im Register auftauchen, wenn sie nach Westen fuhren. Alle Schiffe, die innerhalb der Ostsee verkehrten, kamen nicht an Helsingör vorbei und wurden darum auch nicht registriert. Wenn sich die Seeleute in einer Stadt an der schleswigschen Ostseeküste also auf die Ostseefahrt spezialisiert hatten, wird diese Stadt in der vorliegenden Untersuchung unterrepräsentiert sein. Umgekehrt fehlen diejenigen Schiffe von der schleswigschen Westküste, die in westlicher Richtung nach Norwegen, den Niederlanden, England, ins Mittelmeer oder nach Übersee fuhren; Orte, die sich auf diese Destinationen spezialisiert hatten, werden wiederum unterrepräsentiert sein. Dies erklärt auch, warum Hamburg und Altona im Sundzollregister vergleichsweise geringe Zahlen aufweisen, gemessen an Häfen wie Bremen, Emden oder Stralsund, von Amsterdam, Kopenhagen oder London ganz zu schweigen. Hamburgs Schifffahrt war mehr nach Westen orientiert, und Hamburger Schiffer erscheinen daher seltener im Sund. II. Kapitäne aus dem Herzogtum Schleswig Insgesamt 28 788 Passagen von Kapitänen aus dem Herzogtum Schleswig wurden in den Sundzollrechnungen von 1634 bis 1857 registriert9. Gemessen an der Gesamtzahl aller in dieser Periode verzeichneten Passagen (1 483 974) ist der Anteil gering (2 Prozent). Es gab nicht weniger als acht Städte, aus denen allein schon mehr Kapitäne stammten als aus dem ganzen Herzogtum: Kopenhagen (63 045), Amsterdam (52 777), London (46 373), Stockholm (38 131), Newcastle-uponTyne (35 864), Hull (34 795), Stettin (33 032) und Danzig (31 097). Insofern ist der Anteil schleswigscher Kapitäne gering. Man muss allerdings bedenken, dass eine erhebliche Anzahl schleswigscher Kapitäne die großen Häfen aufsuchte, um dort eine Heuer zu finden. Oft nahmen sie dazu auch die Bürgerschaft dieser Hafenstädte an und erscheinen in der Folge in den Sundzollrechnungen unter den Namen dieser großen Häfen. So fuhren insbesondere Kapitäne von der schleswigschen Westküste oft von Amsterdam, Kopenhagen, Hamburg oder Altona und nahmen dort die Bürgerschaft an10. Insofern sagt die Herkunft des Kapitäns nicht unbedingt etwas über seinen Geburtsort und seine eigentliche Herkunft aus. Mit-
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Friedrichstadt bzw. Frederikstad in Norwegen haben zusammen 1 310 Passagen. Da sie nicht klar zuzuordnen sind, sind sie hier nicht mitgerechnet. 10 Vgl. MARTIN RHEINHEIMER: Nordfriesische Seeleute in der Handelsfahrt von Amsterdam, Hamburg, Altona und Kopenhagen 1750–1840. In: Deutsches Schiffahrtsarchiv 35 (2012), 73–111; DERS.: Die Insel und das Meer. Seefahrt und Gesellschaft auf Amrum 1700–1860 (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 53), Stuttgart 2016, 129−131.
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Martin Rheinheimer
unter ist auch nicht die Herkunft des Kapitäns, sondern die des Schiffes angegeben11.
Karte 2: Das Herzogtum Schleswig mit seinen wichtigsten Häfen (Karte: Günther Bock).
Das ganze 17. Jahrhundert hindurch und bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts gab es nur wenige schleswigsche Kapitäne. Dies änderte sich im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts, als eine langandauernde Hochkonjunktur einsetzte und sich die Zahl der Fahrten vervielfachte. Ursache dieser Entwicklung waren die Kriege des 17. Jahrhunderts, die mit dem Eingreifen Dänemarks in den Dreißigjährigen Krieg begannen, sich dann mit einer langen Reihe dänisch-schwedischer Kriege fortsetzten und mit dem Großen Nordischen Krieg 1721 endeten. Danach folgte in Nordeuropa eine lange Friedensperiode, die „Ruhe des Nordens“, in der die dänische Seefahrt durch eine geschickte Neutralitätspolitik begünstigt wurde12. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte die schleswigsche Seefahrt eine Hochkonjunktur. Diese Periode endete 1806. Von 1807 bis 1813 brach die Seefahrt 11 Vgl. für Westfriesland: PIET BOON: Sundtoldtabellerne og Sundtoldbøgerne. Diskussionen om hjemstedet i et vestfrisisk perspektiv. In: OLE DEGN (Hg.): Tolden i Sundet. Toldopkrævning, politik og skibsfart i Øresund 1429−1857, København 2010, 329−345. 12 Vgl. OLE FELDBÆK, HANS JEPPESEN, HANS CHR. JOHANSEN, ANDERS MONRAD MØLLER, FLEMMING RIECK (Hg.): Dansk Søfarts Historie. 7 Bde., København 1997−2001, hier besonders Bd. 3.
Schifffahrt im Herzogtum Schleswig
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infolge der Kontinentalsperre und der Verwicklung Dänemarks in die napoleonischen Kriege komplett ein. Nach 1814 erholte sie sich zwar schnell wieder, erlangte jedoch erst nach 1850 wieder das gleiche Niveau wie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Schaubild 1).
Schaubild 1: Kapitäne aus dem Herzogtum Schleswig in den Sundzollrechnungen 1634–1857.
Die regionale Verteilung im Herzogtum Schleswig zeigt eine unterschiedliche Entwicklung. Waren West- und Ostseeküste im 17. Jahrhundert noch gleichauf, so erlebte die Ostküste nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges (1721) einen langanhaltenden Boom, während die Westküste stagnierte. So entfernte sich die Ostküste weiter und weiter von der Westküste. Insgesamt kamen mehr als sechsmal so viele Kapitäne von der Ostküste wie von der Westküste (Schaubild 2). Dieses Bild entspricht der Verteilung der Handelsflotte, deren weitaus größter Teil in den Städten der Ostküste stationiert war13. Vergleicht man dieses Ergebnis mit der Volkszählung von 1769, so zeigt sich jedoch, dass damals an der Westküste, und vor allem auf den Inseln, viele Seeleute beheimatet waren14. Die Diskrepanz zwischen Sundzollrechnungen und Volkszählung beruht vor allem darauf, dass an der Westküste nur wenige Schiffe zu Hause waren. Die Seeleute mussten also in andere Häfen reisen, um dort eine Heuer zu suchen. In diesen Häfen nahmen Kapitäne die Bürgerschaft an, um wirt13 Vgl. WALTER ASMUS, ANDREAS KUNZ, INGWER E. MOMSEN: Atlas zur Verkehrsgeschichte Schleswig-Holsteins im 19. Jahrhundert (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 25), Neumünster 1995, 29–34, 67–73; INGWER E. MOMSEN: Statistik des schleswig-holsteinischen Schiffsbestandes. In: Rundbrief des Arbeitskreises für Wirtschaftsund Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 66 (1996), 37–51; 67 (1996), 23–47. 14 Vgl. MARTIN RHEINHEIMER: Der Anteil der Seefahrenden an der Bevölkerung im Herzogtum Schleswig 1769. In: Rundbrief des Arbeitskreises für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 112 (2014), 30−39.
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Martin Rheinheimer
schaftliche Vorteile zu erlangen. Daher wurden sie im Sundzoll mit Herkunftsangaben aus denjenigen Städten registriert, in denen sie nun die Bürgerschaft hatten. Entsprechend erscheinen viele von ihnen in den Sundzollrechnungen unter Amsterdam, Kopenhagen, Hamburg oder Altona (s. o. S. 19). Dagegen fuhren Flensburger, Apenrader und Sonderburger Kapitäne von ihrer eigenen Stadt aus und hatten dort die Bürgerschaft.
Schaubild 2: Kapitäne von der schleswigschen Ost- und Westküste in den Sundzollrechnungen 1634–1857.
An der Ostküste war die Seefahrt im Jahre 1769 ein städtisches Phänomen, an der Westküste hingegen ein ländliches. In den Städten der Ostküste wurden damals 824 Seefahrende gezählt (davon 230 in Flensburg, 182 in Apenrade, 140 in Ärösköbing und 123 in Sonderburg), in denen der Westküste (inklusive Ribe) nur 53. Allein auf den Inseln der Westküste fanden sich aber mehr Seefahrende als in den Städten der Ostküste: auf Föhr (ohne den Westteil des Kirchspiels St. Johannis) allein 768, auf den Halligen 412, auf Sylt (ohne List) 396 und auf Amrum 8815. Diese Verteilung war ein Resultat der unterschiedlichen Geografie, denn die Förden der Ostküste schufen gute Häfen, während die Gezeiten und das flache Wattenmeer keine guten Häfen an der Westküste zuließen. Umgekehrt hatten die Bewohner der Nordseeinseln keine anderen Erwerbsquellen als die Seefahrt. Im Folgenden wollen wir die lokalen Unterschiede anhand der Sundzollrechnungen untersuchen. An der Ostküste dominierten drei Städte: Flensburg, Sonderburg und Apenrade. Viele Kapitäne kamen auch von den Inseln Ärö und Fehmarn. Darüber hinaus spielten Eckernförde, Kappeln und Arnis eine gewisse Rolle. Die
15 Landesarchiv Schleswig-Holstein (Schleswig), Abt. 66 Nr. 6608.1−3; Rigsarkivet (København), Rentekammeret 352.31 (Tabeller over folketællingen 1769, Ribe Stift); ebd., 352.34 (Dokumenter vedr. folketællingen 1769).
Schifffahrt im Herzogtum Schleswig
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an langen schmalen Förden weit im Binnenland gelegenen Städte Schleswig und Hadersleben spielten dagegen keine nennenswerte Rolle (Schaubild 3).
Schaubild 3: Lokale Herkunft der schleswigschen Kapitäne in den Sundzollrechnungen 1634–1857 (n=28.788). Die Tortendiagramme sind von der Mitte oben (12 Uhr) im Uhrzeigersinn zu lesen.
Betrachtet man die einzelnen schleswigschen Städte, so finden sich einige unerwartete Ergebnisse. Die größte Stadt des Herzogtums, Flensburg, befand sich im 17. Jahrhundert nämlich auf dem gleichen Niveau wie das wesentlich kleinere Sonderburg. Insgesamt dominierten die drei Städte Flensburg, Sonderburg und Apenrade die Entwicklung an der Ostküste. Flensburg war mit 6 842 Einwohnern im Jahre 1769 die größte Stadt im Herzogtum Schleswig. Apenrade hatte damals 2 701 Einwohner und Sonderburg 2 69216. Im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts begann der Aufstieg aller drei Städte. Apenrade und Sonderburg entwickelten sich jedoch zunächst wesentlich stärker als das viel größere Flensburg. Beide Städte erlebten ihren Höhepunkt im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts. Im letzten Drittel des Jahrhunderts wurden dann jedoch beide von Flensburg völlig abgehängt. Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts konnte Apenrade vorübergehend noch einmal an Flensburg vorbeiziehen, doch seit den 1840er Jahren lag Flensburg wieder klar vorne, während Apenrade und Sonderburg stagnierten. Während Son-
16 Landesarchiv Schleswig-Holstein (Schleswig), Abt. 66 Nr. 6608.3.
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Martin Rheinheimer
derburg im 17. und 18. Jahrhundert vor Apenrade gelegen hatte, lag letztere Stadt im 19. Jahrhundert vorn (Schaubild 4)17.
Schaubild 4: Kapitäne aus Apenrade, Sonderburg und Flensburg in den Sundzollrechnungen 1634–1857.
Neben den drei genannten Hafenstädten gab es weitere lokale Zentren. Die Insel Ärö begann ihren Aufstieg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stammten anfangs die meisten Kapitäne aus der Kleinstadt Ärösköbing, so kamen in den letzten zwei Jahrzehnten auch mehr und mehr Kapitäne von der übrigen Insel. Zudem entstand Ärösköbing nun mit dem Flecken Marstall eine ernstzunehmende Konkurrenz18. In der Folgezeit entwickelte sich Ärö zu einem Zentrum der Seefahrt. Die Insel stellte im 19. Jahrhundert mehr Kapitäne als selbst Flensburg, wobei Marstall nun Ärösköbing deutlich hinter sich ließ (Schaubild 5).
17 Von den drei Städten ist die Seefahrtsgeschichte von Apenrade am besten erforscht. Vgl. HANS SCHLAIKIER: Aabenraa Søfarts Historie (= Skrifter til Aabenraas søfartshistorie 5). 2. Aufl., Aabenraa 2015; OLE MØRKEGAARD: Søen, slægten og hjemstavnen. En undersøgelse af livsformer på åbenråegnen 1700–1900, København 1993; MIKKEL LETH JESPERSEN: Kaptajner og kolonier. Sejlskibstidens oversøiske Aabenraa-søfart (1820–1890), Aabenraa 2014. 18 Zur Seefahrtsgeschichte Marstalls vgl. E. KROMAN: Marstals Søfart indtil 1925, København 1928.
Schifffahrt im Herzogtum Schleswig
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Schaubild 5: Kapitäne aus Ärö in den Sundzollrechnungen 1634–1857.
Schaubild 6: Kapitäne aus Kappeln und Arnis in den Sundzollrechnungen 1634–1857.
Zwar hatte es schon im 17. Jahrhundert einzelne Kapitäne aus Arnis und Kappeln im Öresund gegeben, doch ihre Zahl stieg erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Beide Orte lagen am Ausgang der Schlei. Da Kappeln dem adligen Gut Roest unterstand, gründeten einige Einwohner 1667 auf einer nahen Insel in der Schlei den Flecken Arnis auf landesherrlichem Territorium, um so der Leibeigenschaft zu entgehen. Lange Zeit war Kappeln im Öresund stärker vertreten. Seit 1837 erlebten beide Orte einen regelrechten Boom, wobei jetzt Arnis deutlich stärker als Kappeln wurde. Zusammen kamen sie nunmehr in etwa auf das Niveau von
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Martin Rheinheimer
Marstall (Schaubild 6)19. Beide Orte hatten im 19. Jahrhundert den Status von Flecken. Besondere Merkmale weist die Entwicklung der im Süden des Herzogtums gelegenen Stadt Eckernförde auf. Sie hatte eine vergleichsweise kurze Blütezeit im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts, als der Kaufmann und Fabrikant Friedrich Wilhelm Otte (1715–1766) hier eine große Reederei betrieb20. So stellte Eckernförde im Jahr 1767 im Öresund die meisten Kapitäne aus dem Herzogtum. Doch nach dem Tode Ottes versank die Stadt schnell wieder in der Bedeutungslosigkeit (Schaubild 7).
Schaubild 7: Kapitäne aus Eckernförde in den Sundzollrechnungen 1634–1857.
Die Insel Fehmarn erlebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und besonders im 19. Jahrhundert eine Entwicklung, die in etwa derjenigen im Herzogtum entsprach. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts war die Entwicklung der Insel jedoch besser als die des übrigen Herzogtums. Die kleine Stadt Burg auf Fehmarn spielte keine eigene Rolle (Schaubild 8).
19 Zu Arnis vgl. CHR. SCHARF: Beschreibung und Geschichte der Insel und des Fleckens Arnis, Schleswig 1838. 20 Vgl. LARS N. HENNINGSEN: Provinsmatadorer fra 1700-årene. Reder-, købmands- og fabrikantfamilien Otte i Ekernførde i økonomi og politik 1700–1770, Flensborg 1985.
Schifffahrt im Herzogtum Schleswig
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Schaubild 8: Kapitäne aus Fehmarn in den Sundzollrechnungen 1634–1857.
An der Nordsee kamen die meisten Kapitäne aus Husum (559) und Tönning (386). Mehr Kapitäne kamen aber von den Inseln: von Föhr 722, von Sylt 231, von Amrum 221, von der Hallig Nordmarsch 148 und von der Hallig Hooge 146. An der Nordsee stellten zudem viele der kleinen Ladeplätze und Kirchspiele an der Festlandküste Kapitäne und tauchen in den Sundzollrechnungen auf: Ballum, Sejerslev, Emmerlev, Daler, Højer, Galmsbüll, Dagebüll, Bredstedt, Rödemis, Norderstapel, Bargen, Tielen, Hohn. An der Ostseeküste kamen dagegen fast alle Kapitäne aus den Städten. Nur wenige stammten aus kleineren Dörfern wie Rinkenis oder Holnis an der Flensburger Förde. Die Volkszählung von 1769 zeigt aber, dass auch das nahe Umland der Städte dort viele Seeleute hervorbrachte. Diese fuhren jedoch von dem nahen Hafen aus und erscheinen in den Sundzollrechnungen nicht unter ihrem eigentlichen Heimatkirchspiel. Ein Beispiel ist das Kirchspiel Løjt bei Apenrade, das viele Kapitäne hervorbrachte und 1769 immerhin 91 Seefahrende zählte21, in den Sundzollrechnungen aber überhaupt nicht erscheint. III. Das Herzogtum Schleswig als Ausgangs- und Zielregion Generell kamen Schiffe nur selten von oder nach dem Herzogtum Schleswig. So wurden in den Sundzollrechnungen lediglich 1 763 Schiffe mit Ausgangshafen und 2 004 mit Zielhafen in Schleswig verzeichnet (ohne Friedrichstadt). Es gab 21 Rigsarkivet (København), Rentekammeret 352.34 (Dokumenter vedr. folketællingen 1769). Vgl. CARSTEN PORSKROG RASMUSSEN: Løjt – et maritimt miljø. In: MIKKEL LETH JESPERSEN (Hg.): Søfart selvfølgelig! Festskrift i anledning af Aabenraa Museums 125-års jubilæum (= Skrifter til Aabenraas søfartshistorie 5), Aabenraa 2012, 39−67.
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Martin Rheinheimer
also circa fünfzehnmal so viele Passagen mit schleswigschen Kapitänen als Schiffe aus Häfen im Herzogtum kamen oder dorthin fuhren. Zum Vergleich wurde Amsterdam 109 294-mal als Ausgangshafen genannt, gefolgt von Danzig (103 017-mal) und Riga (96 212-mal). Auf der Liste der häufigsten Ausgangshäfen folgten St. Petersburg, Kopenhagen und London. Bei den Zielen wurde am häufigsten unspezifiziert die Ostsee genannt (123 484-mal). Auf den Plätzen zwei und drei lagen Amsterdam (121 956-mal) und Kopenhagen (95 013-mal), gefolgt von London, Danzig und Riga. Aus diesen Zahlen wird deutlich, dass das Herzogtum Schleswig als Ausgangs- oder Zielhafen im Öresund keine nennenswerte Rolle spielte. Seit 1784 konnte zudem der regionale Verkehr zwischen Nord- und Ostsee über Eider und Eiderkanal abgewickelt werden. Als Zielhafen war Flensburg im Herzogtum Schleswig mit 1 002 Nennungen dominierend. Dass Flensburg als größte Stadt im Herzogtum diese Position einnahm, ist nicht verwunderlich. Die Hälfte aller Schiffe, die das Herzogtum ansteuerten, fuhr dorthin. Es folgten abgeschlagen Apenrade (186) und Sonderburg (149). Andere Häfen spielten keine Rolle. Der wichtigste Ausgangshafen im Herzogtum Schleswig war ebenfalls Flensburg (396), gefolgt von Eckernförde (170), Tönning (165), Fehmarn (160), Apenrade (133), Sonderburg (123) und Föhr (104). Flensburg war nicht so dominant als Ausgangs- wie als Zielhafen, und eine Reihe anderer Orte spielte ebenfalls eine Rolle. Generell war bei den Ausgangshäfen die Streuung auf verschiedene Häfen größer als bei den Zielhäfen.
Schaubild 9: Schleswigsche Zielhäfen von Schiffen in den Sundzollrechnungen 1634–1857 (n=2 004).
Schifffahrt im Herzogtum Schleswig
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Viele Schiffe, die von Flensburg kamen, hatten Mauersteine, Korn oder Branntwein geladen. Nach Flensburg wurden unter anderem Wein, Branntwein, Salz, Kohle, Holz, Eisen, Zucker, Öl, Essig und Kaffee gebracht. Generell wurden die Häfen an der Westküste viel seltener angelaufen als diejenigen an der Ostküste. So machte der Anteil der Nordseehäfen nur ein Siebtel desjenigen der Ostseehäfen aus (Schaubild 9). Bei den Ausgangshäfen war der Unterschied nicht so extrem, obwohl auch hier die Ostküste einen doppelt so hohen Anteil aufwies (Schaubild 10). Auch wenn Friedrichstadt hier nicht mitgerechnet ist, dürfte dessen Anteil das Bild nicht grundsätzlich verändern.22
Schaubild 10: Schleswigsche Ausgangshäfen von Schiffen in den Sundzollrechnungen 1634–1857 (n=1 763).
Eine der Ursachen für die geringere Bedeutung der Westküste war, dass es dort kaum wirkliche Häfen gab, die von größeren Schiffen angelaufen werden konnten. Dies hing nicht zuletzt mit den Gezeiten zusammen, die große Gebiete trockenfallen ließen. Im Gegensatz dazu gab es an der Ostsee weder Ebbe noch Flut. Meist handelte es sich an der Nordsee um kleinere Ladeplätze, wo die Schiffe entweder an Land gezogen wurden oder sich im Watt trockenfallen ließen. Größere Schiffe konnten sich nur in den großen Tideströmen bewegen, die tief genug waren. Sie mussten dann dort Anker werfen und wurden von kleineren Booten be22 Friedrichstadt und Frederikstad sind zusammen recht stark. Als Ausgangshafen erscheinen sie 1 231-mal, als Zielhafen 769-mal. Doch scheint der größte Teil davon auf den norwegischen Ort zu entfallen.
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Martin Rheinheimer
und entladen. Schon lange waren die mittelalterlichen Häfen Ribe und Tondern verlandet, und Schiffe, die dorthin wollten, mussten weit entfernt be- und entladen werden. Lediglich an der Eider gab es mit Tönning und Friedrichstadt bessere Häfen, die entsprechend in den Sundzollrechnungen auch stärker vertreten sind. IV. Zusammenfassung Die Sundzollrechnungen vermitteln einen guten Eindruck von den Konjunkturen und der regionalen Verteilung der Seefahrt. Da aus dem 17. Jahrhundert andere serielle Quellen fehlen, ergänzen sie unser bisheriges Wissen. Bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts verharrte die Schifffahrt im Herzogtum Schleswig demnach auf einem niedrigen Niveau. Nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges begann eine lang anhaltende Hochkonjunktur, die nur von den Napoleonischen Kriegen unterbrochen wurde. Die Entwicklung war jedoch im Westen und Osten des Landes unterschiedlich. Während die Nordseeküste stagnierte, boomten die Städte an der Ostsee, vor allem Flensburg, Sonderburg und Apenrade. Im 19. Jahrhundert stieg dann die Insel Ärö zu einem Seefahrtzentrum auf. Das Herzogtum Schleswig insgesamt spielte in der Schifffahrt zwischen Nord- und Ostsee keine sonderliche Rolle. Als Ausgangs- oder Zielregion war es relativ unbedeutend. Es stellte jedoch eine beachtliche Anzahl von Kapitänen auf Schiffen mit anderen Ausgangshäfen. Wir erkennen damit eine periphere Region, deren Bewohner flexibel die internationalen Konjunkturen auszunutzen wussten, indem sie die großen Häfen aufsuchten, in denen Arbeitskräfte (Seefahrer) gesucht wurden. Während die Städte der schleswigschen Ostküste über eigene Handelsflotten direkt von den positiven Konjunkturen des 18. und 19. Jahrhunderts profitieren konnten, partizipierten die ländlichen Regionen an der Westküste (besonders die Inseln) indirekt über den mitgebrachten Verdienst der Seeleute. Tabelle 1: Die Ostküste des Herzogtums Schleswig in den Sundzollrechnungen 1634–1857. Herkunft der Kapitäne
Hadersleben Apenrade Norburg Alsen Sonderburg Ärö Ärösköbing Marstall Flensburg Rinkenis
1634– 1729
1730– 1813
1814– 1857
1634– 1857
102 197 6 0 598 0 3 0 645 0
191 3 034 291 2 3 984 227 452 149 5 842 5
99 932 64 0 639 20 722 1 070 1 598 0
392 4 163 361 2 5 221 247 1 177 1 219 8 085 5
Ausgangshafen
Zielhafen
6 133 47 2 123 1 10 8 396 0
8 186 11 0 149 13 29 17 1 002 0
31
Schifffahrt im Herzogtum Schleswig Herkunft der Kapitäne
Gravenstein Holnis Steinberghaff Maasholm Schleimünde Kappeln Arnis Schleswig Eckernförde Friedrichsort Holtenau Fehmarn Burg insgesamt
Ausgangshafen
Zielhafen
1634– 1729
1730– 1813
1814– 1857
1634– 1857
0 0 0 0 0 6 37 16 115 1 0 7 5
2 0 0 0 0 243 86 21 1 150 0 1 611 11
2 3 1 3 0 412 589 10 151 0 0 621 44
4 3 1 3 0 661 712 47 1 416 1 1 1 239 60
0 4 0 0 2 29 18 6 170 0 15 160 17
1 0 0 0 0 51 19 10 161 0 2 86 7
1 738
1 6302
6 980
25 020
1 147
1 752
Tabelle 2: Die Westküste des Herzogtums Schleswig in den Sundzollrechnungen 1634–1857. Herkunft der Kapitäne
Ribe Mandö Röm Ballum Sejerslev Emmerlev Daler Højer Tondern Listertief List Sylt Galmsbüll Dagebüll Wyk Föhr Amrum Oland Habel
1634– 1729
1730– 1813
1814– 1857
1634– 1857
150 0 27 8 0 20 0 14 36 9 19 25 32 13 0 317 3 6 0
47 2 121 58 2 14 3 5 19 3 16 196 142 162 10 355 218 7 10
119 1 36 17 0 0 0 10 13 0 0 10 0 0 6 50 0 0 0
316 3 184 83 2 34 3 29 68 12 35 231 174 175 16 722 221 13 10
Ausgangshafen
Zielhafen
66 0 17 9 0 2 0 15 17 14 33 18 2 8 25 104 6 3 0
71 0 6 2 0 0 0 17 16 3 25 1 0 1 4 18 0 2 0
32
Martin Rheinheimer Herkunft der Kapitäne
Langeness Nordmarsch Hooge Pellworm Nordstrand Bredstedt Husum Rödemis Tönning Friedrichstadt Norderstapel Bargen Tielen Hohn Helgoland insgesamt
Ausgangshafen
Zielhafen
1634– 1729
1730– 1813
1814– 1857
1634– 1857
5 8 4 2 5 23 220 6 282 ? 0 0 0 0 45
20 140 139 0 0 7 226 0 38 ? 6 2 0 1 7
1 0 3 0 0 8 113 0 66 ? 0 20 6 2 32
26 148 146 2 5 38 559 6 386 ? 6 22 6 3 84
0 26 3 0 0 9 56 1 165 ? 0 0 0 0 17
0 1 2 0 1 3 29 0 45 ? 0 0 0 0 5
1 279
1 976
513
3 768
616
252
Tabelle 3: Das Herzogtum Schleswig in den Sundzollrechnungen 1634–1857. Herkunft der Kapitäne
Ausgangshafen
Zielhafen
1634– 1729
1730– 1813
1814– 1857
1634– 1857
Ostküste Westküste
1 738 1 279
16 302 1 976
6 980 513
25 020 3 768
1 147 616
1 752 252
insgesamt
3 017
18 278
7 493
28 788
1 763
2 004
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 35 (2017), S. 33–66
WANDERGEWERBE UND WANDERHANDEL AUS DEN UND IN DIE ALPEN Ein wirtschaftlicher Funktionstypus im sozialen Umfeld Hanns Haas ABSTRACT Wandergewerbe und Wanderhandel sind im alpinen Umfeld sehr ungleich verteilt. Das Hauptkontingent an Vazierenden rekrutierte sich im südalpinen Bereich von Piemont, Mailand und dem Tessin über das Trentino, Karnien, Friaul und das Isonzotal (bzw. Sočatal) bis nach Krain sowie inneralpin in Savoyen, Graubünden, Vorarlberg und Tirol. Das Wandergewerbe umfasste eine große Bandbreite an Handwerkern von Zinngießern über Pfannenflicker und Rauchfangkehrer bis hin zu Zuckerbäckern, Optikern, Architekten und Malern. Im Wanderhandel reichte die Palette von selbst erzeugten oder zugekauften Luxusartikeln (z. B. Leinen) über Fabrikware bis zum Massentransport von Getreide und Salz. Im nordalpinen Bereich hingegen spielten Wandergewerbe und Wanderhandel als Profession eine untergeordnete Rolle. Dieses Verbreitungsmuster der vazierenden Wirtschaft deckt sich nicht zufällig mit dem Geltungsbereich unterschiedlicher agrarisch-ländlicher Erbsitten. Die Erbsitte der Realteilung verlangte und gestattete eine Ergänzung der Erwerbsquellen durch nicht-landwirtschaftliche Tätigkeit außerhalb des Siedlungsgebietes; auf dieser Basis konnten sich einzelne Talschaften auf bestimmte auswärtige Wirtschafts- und Handelstätigkeiten spezialisieren und inneralpine Wanderarbeiter zur Besorgung ihrer heimischer Landwirtschaft rekrutiert werden. Das Anerbenrecht hingegen hielt durch späte Heirat, einen hohen Ledigenanteil und strenge Geburtenkontrolle die Bevölkerungszahl möglichst konstant. Itinerant forms of craftsmanship and trade are very unequally distributed in the Alpine region. Most itinerant artisans and traders either came from areas south of the Alps which extended from the Piedmont, Milan and the Ticino via the Trentino, Friuli and the Isonzo (Soča) Valley to the Krajina; significant numbers also hailed from the Alpine regions of Savoy, the Grisons, Vorarlberg and Tyrol. The mobile crafts covered a wide spectrum of professions, including pewterers, pan-patchers, chimney sweeps, sugar bakers, opticians, architects and painters. Itinerant traders dealt with luxury articles, which they had either produced themselves or purchased, with factory-produced goods and with items of mass transport like grain and salt. In most regions north of the Alps, by contrast, itinerant forms of craftsmanship and trade played a secondary role as professions. Not coincidentally, this spatial pattern corresponds with the extent of different agrarian patterns of inheritance in rural areas. Partible inheritance demanded and permitted supplementary sources of income from non-agrarian pursuits outside the area of settlement. Due to this fact individual valley communities were able to specialize on certain itinerant trades, while Alpine migrant workers were recruited to take care of domestic agriculture. Impartible inheritance, on the other hand, tended to keep the population level constant through late marriage, a high percentage of unmarried persons and strict forms of birth control.
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Hanns Haas
I. Einstieg ins Thema Ethnographie und Geschichtsschreibung haben sich seit langem für die mobilen Handwerker und Händler der Alpen interessiert1. Schon der Salzburger Topograph Franz Michael Vierthaler lobte 1816 den wirtschaftlichen Unternehmungssinn der Defregger Teppichhändler und Salzträger, die stets im Jänner eine Straße durch den Tauern brechen und sich jenseits desselben Arbeit und Nahrung suchen2. Ein halbes Jahrhundert später beschrieb der Alpinist Friedrich Simony 1865 die wichtige Zwischenstation Mittersill auf diesem Weg über den Felber Tauern zwischen Osttirol und dem salzburgischen Pinzgau. Er fand hier eine Musterkarte des alpinen Wandergewerbes und Wanderhandels: „Eine bunte Karawane von Marktleuten, Handwerksburschen, Teppichhändlern und ein langer Trieb von Rindern und Pferden zieht an uns vorbei. Die sichtliche Ermüdung an den zweiund vierbeinigen Teilhabern des Zuges läßt sich leicht erahnen, daß alle heute den Weg über den Tauern zurückgelegt haben, um am nächsten Tag auf irgendeiner Pinzgauer Dult als Käufer, Verkäufer und Ware rechtzeitig einzutreffen“3. Eine nächste romantische Annäherung interessierte sich sodann für die kulturellen Sonderformen dieser Begegnung zwischen der Welt der Einheimischen und jener der gewerbsmäßig Mobilen. Schon ihre „Kauf- und Anbietrufe“ brachten eine willkommene Unterbrechung des Alltags4. Gemälde, Lithographien und Holzstiche überliefern uns Genrebilder der Vazierenden in ihren typischen Trachten und Umgangsformen. Eine solche Szene stilisiert der Salzburger Maler Fischbach; da kommen einige Tiroler Wanderhändler in ihren schmucken Trachten auf einen Einschichthof und verkaufen geschäftstüchtig mit anmutigen Gesten ihre Ware, einen Schal, Ohrgehänge und gar ein Fläschchen Riechwasser5. Von dieser romantischen Verklärung war es nur noch ein Schritt zur Vermarktung der alpinen Kultur, welche die Zillertaler und Kärntner Sänger in einen weiten Wirkungskreis bis nach Moskau brachte6. Auch die Piemonter Rauchfangkehrer wurden zum
1 2 3
4 5 6
Für Ratschläge und Literaturhinweise danke ich den KollegInnen Gerhard Ammerer, Josef Ehmer, Sylvia Hahn, Reinhold Reith, Peter Vodopivec und Wilhelm Wadl. Dankbar denke ich an mein letztes Gespräch mit Andreas Moritsch Anfang Dezember 2000. FRANZ MICHAEL VIERTHALER: Meine Wanderungen durch Salzburg, Berchtesgaden und Österreich. 2. Theil, Wien 1816, 241. Zitiert in MICHAEL FORCHER: Mittersil in Geschichte und Gegenwart, Mittersill 1985, 271; vgl. HANNS HAAS: Salzburg in vortouristischer Zeit. In: DERS., ROBERT HOFFMANN, KURT LUGER (Hg.): Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus, Salzburg 1994, 9–15. GÜNTHER JONES: Wanderhändler in der Steiermark. In: GERALD SCHÖPFER (Hg.): Menschen & Münzen & Märkte. Steirische Landesausstellung 1989 Judenburg, Fohnsdorf 1989, 185– 290, hier 285. GERHARD AMMERER: Johann Fischbach; Tyroler Hausierer vor einem salzburgischen Bauernhaus. In: DERS., HEINZ DOPSCH, INGONDA HANNESSCHLÄGER (Hg.): Salzburg Edition (Ringmappen), Salzburg 1993–1999, Nr. 4029. UTZ JEGGLE, GOTTFRIED KORFF: Zur Entwicklung des Zillertaler Regionalcharakters. Ein Beitrag zur Kulturökonomie. In: Zeitschrift für Volkskunde 70 (1970), 20–57.
Wandergewerbe und Wanderhandel
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Genre der französischen Popularmusik7. Selbst bei Goethe erzählt am „Jahrmarktfest zu Plunderweilern“ ein Savoyardenknabe von seinem dressierten Murmeltier, dem marmotte; und Beethoven hat in Marmotte, op. 52, Nr. 7 das Motiv vertont: Ich komme schon durch manches Land, avec que la marmotte, und immer was zu essen fand, avec que la marmotte [. . . ]8. Dem Savoyardenbuben, dem mitten in Ungarn sein Murmeltier verendete, widmete Clemens Brentano eine wehmütige Zeile. Erst recht auf seiner Italienischen Reise gedachte Goethe dieser Volkstypen. Die Männer kennen wir durch die wandernden Tyroler, resümierte er am 14. September 1786 seine Reiseeindrücke9. Zuletzt sorgte die 1789 publizierte Selbstbiographie des Zillertalers Peter Prosch für die kulturelle Stilisierung des heimwehkranken Tirolers10. Im 20. Jahrhundert befasste sich die „Landes- und Volkskunde“ mit den mobilen alpinen Wirtschaftstreibenden. Dieser Wissenschaftstradition verdanken wir beispielsweise die Aufarbeitung der Tiroler vazierenden Erwerbszweige und ihrer Einbindung in die Gesamtwirtschaft des Landes11. Den welschen Architekten, Bildhauern und Malern wiederum widmete sich ausgiebig die Kunstgeschichte. Viele weitere Anregungen kamen von der Handwerker- und Arbeitergeschichte, beispielsweise bezüglich der Gesellenwanderungen sowie der Saison- und Industriearbeiter. Historische Migrationsforschung zu Ursachen und Verlaufsformen der temporären oder dauerhaften Arbeitswanderung hat sich mittlerweile zu einem eigenen Forschungszweig entwickelt12. Die Kehrseite der Migration, die Rückwanderung, ist ebenso zur Sprache gekommen wie das temporäre oder permanente „Zurückbleiben“ eines Bevölkerungssegments in den Auswandergebieten13. Die italienische Forschung befasst sich intensiv mit dem Ineinandergreifen von transeuropäischer und europäischer Auswanderung14. Intensiv erforscht sind die wirtschaftlichen und bevölkerungsgeschichtlichen Facetten von Migration im örtlichen, regionalen und überregionalen/globalen Kontext15. Lebensweltlich 7 8 9 10 11 12 13 14 15
ANTOINETTE REUTER: Auf den Straßen Europas unterwegs. Die „welschen“ Krämer aus Savoyen. In: Geschichte lernen. Geschichtsunterricht heute 33 (1993), 27–31. Kommentar in GERHARD SAUDER (Hg.): Goethe. Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Band 1.1. Der junge Goethe, München 1985, 949. JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: Italienische Reise, Leipzig o. J., 23. HEINRICH CONRAD (Hg.): Leben und Ereignisse des Peter Prosch eines Tyrolers von Ried im Zillerthal. Geschrieben in den Zeiten der Aufklärung, München 1919 (Neuauflage). HERMANN WOPFNER: Bergbauernbuch. Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte, hrsg. von NIKOLAUS GRASS, Bd. 1, Innsbruck 1995. SIGRID WADAUER: Historische Migrationsforschung. Überlegungen zu Möglichkeiten und Hindernissen. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 19 (2008), 6–14. ANDREAS GESTRICH, MARITA KRAUSS (Hg.): Zurückbleiben. Der vernachlässigte Teil der Migrationsgeschichte, Stuttgart 2006. EMILIO FRANZINA (Hg.): Storia dellʼemigrazione italiana, Rom 2002. LAURENCE FONTAINE: Histoire du colportage en Europe (XVe–XIXe siècle) (= Lʼevolution de lʼhumanité), Paris 1993; KLAUS J. BADE: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (= Europa bauen), München 1999; HEINZ NOFLATSCHER: Arbeitswanderung in Agrargesellschaften der frühen Neuzeit. In: Geschichte und Region/Storia e regione 2 (1993), Heft 2, 63–96; GERHARD JARITZ, ALBERT MÜLLER (Hg.): Migration in
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orientierte Studien analysieren die kulturelle Selbstverortung und Fremdwahrnehmung der Vazierenden16. Die deutsche regionalgeschichtliche Forschung hat sich intensiv mit der Integration der Italiener in deutschen Gewerbezentren befasst17. II. Vazierende Wirtschaftstätigkeit Diese kaum mehr überschaubare Forschung hat eine Vielzahl von Beispielen und Sonderformen solcher vazierender Arbeiter und Händler beschrieben. Die Palette der alpinen Wanderarbeiter reicht von den Piemonter Rauchfangkehrern über die bündnerischen Zuckerbäcker bis zu den Zillertaler Ölträgern und den Schwabenkindern Tirols und Vorarlbergs; jene der Wanderhändler vom einfachen Kraxenträger über den Schausteller und Marktfieranten bis zum reisenden Kaufmann mit seinem Pferdewagen – allerdings nur im Alpenvorland.
der Feudalgesellschaft (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft 8), Frankfurt am Main 1988; WILFRIED REININGHAUS (Hg.): Wanderhandel in Europa. Beiträge zur wissenschaftlichen Tagung in Ibbenbüren, Mettingen, Recke und Hopsten vom 9.–11. Oktober 1992 (= Untersuchungen zur Wirtschafts- und Technikgeschichte 11), Dortmund 1993; LUIGI ZANZI: I movimenti migratori nellʼEuropa alpina dal medioevo allʼinitio dellʼetà moderna. In: SIMONETTA CAVACIOCCHI (Hg.): Le migrazioni in Europa secc. XIII–XVII, Florenz 1994, 135– 173. 16 LAURENCE FONTAINE: Selbstdarstellungen und Gruppenportraits. Die sozialen Identitäten der Wanderhändler. In: Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag 8 (2000), 344– 357; KLAUS J. BADE: Historische Migrationsforschung. In: JOCHEN OLTMER (Hg.): Migrationsforschung und Interkulturelle Studien: Zehn Jahre IMIS (= IMIS-Schriften 11), Osnabrück 2002, 55–74; PETER GUTSCHNER: Aus kalter Zeit. „Etablierte“ und „Außenseiter“ in Vorarlberg am Ende des 19. Jahrhunderts. In: INGRID BAUER, JOSEF EHMER, SYLVIA HAHN (Hg.): Walz – Migration – Besatzung. Historische Szenarien des Eigenen und des Fremden, Klagenfurt/Celovec 2002, 121–143. 17 MARTIN ZÜRN: Savoyarden in Oberdeutschland. Zur Integration einer ethnischen Minderheit in Augsburg, Freiburg und Konstanz. In: CARL. A. HOFFMANN, ROLF KIESSLING (Hg.): Kommunikation und Region (= Forum Suevicum 4), Konstanz 2001, 381–419; CHRISTIANE REVES: Von Kaufleuten, Stuckateuren und Perückenmachern. Die Präsenz von Italienern in Mainz im 17. und 18. Jahrhundert. In: MICHAEL MATHEUS, WALTER G. RÖDEL (Hg.): Bausteine zur Mainzer Stadtgeschichte. Mainzer Kolloquium 2000, Stuttgart 2002, 135–160; vgl. ANDREA PÜHRINGER: „Lʼitaliano in Assia“ – Italiener in hessischen Städten der Frühneuzeit. Eine Bestandsaufnahme. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 53 (2003), 95–115; MARGARETA EDLIN-THIEME: Studien zur Geschichte des Münchner Handelsstandes im 18. Jahrhundert (= Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 11), Stuttgart 1969; PAUL SAUER: Fremde in Stuttgart im 17. und 18. Jahrhundert. In: WOLFGANG SCHMIERER u. a. (Hg.): Aus südwestdeutscher Geschichte. Festschrift für Hans-Martin Maurer, Stuttgart 1994, 462–472; GABI JULIA SCHOPF: Zwischen den Welten. Italienische Kaufleute in Bamberg im 17. und 18. Jahrhundert. In: MARK HÄBERLEIN, MICHAELA SCHMÖLZ-HÄBERLEIN (Hg.): Handel, Händler und Märkte in Bamberg. Akteure, Strukturen und Entwicklungen in einer vormodernen Residenzstadt (1300–1800) (= Stadt und Region in der Vormoderne 3), Würzburg 2014, 213–238.
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Dieser Beitrag versucht, Ordnung in diese Formenvielfalt zu bringen, typologisch Gemeinsames zu finden und Muster innerhalb der Variationsbreite zu isolieren. Ein solcher Gliederungsversuch wird sich in erster Linie mit der Tätigkeit selbst befassen, also mit Fragen der räumlich-zeitlichen Organisation von Arbeit zu bestimmten gruppen- und geschlechtsspezifischen „Migrationsmustern“18. Es gilt zu klären, wann wer wo Wanderarbeit in welchen Kooperationsformen durchführte, beispielsweise auch mit Ausbildungswesen und Professionalisierung, mit der Vor- und Zwischenfinanzierung und mit ihren kulturellen Repräsentationen und Selbstdarstellungen. Ein zweites Ordnungskriterium liefert die Einbindung in das zeitgenössische wirtschaftliche Umfeld, die Verortung in der überregionalen Wirtschaftslandschaft. Hier geht es also um die Rolle von Wanderarbeit und Wanderhandel im Zeitalter von Merkantilismus und früher Industrieller Revolution, insbesondere um ihre Bedeutung für den Austausch von Leistungen und Gütern. Der Hauptakzent des Ordnungsversuchs gilt allerdings der Verortung der vazierenden wirtschaftlichen Tätigkeit im alpinen Umfeld und ihrer Verzahnung mit Wirtschaftstätigkeit und Lebensweise der Alpenbewohner, und zwar speziell unter regionalgeschichtlicher Perspektive. Hier geht es um die Fragen: Welche Rolle spielen Wandergewerbe und Wanderhandel im Rahmen der wirtschaftlichen Aktivitäten der Talschaften und Kleinregionen? Wie sind sie in die vorwiegend agrarische alpine Wirtschaftsweise integriert? Sind sie tatsächlich eine Folge tendenzieller Überbevölkerung, oder, um es gelehrter auszudrücken, eines gewissen Ungleichgewichts zwischen Bevölkerungszahl und Subsistenzquellen? Mentalitätsgeschichtliche Fragen nach dem Selbstverständnis der Akteure können leider nur ansatzweise erörtert werden, da Selbstbiographien, tagebuchartige Aufzeichnungen und Briefe dieser mobilen Gruppe selten sind19. III. Wanderarbeiter Was die alpinen Wanderarbeiter betrifft, so reicht die Palette von vazierenden Zinngießern über die Rauchfangkehrer bis hin zu den Zuckerbäckern und Sauschneidern. Die Wanderarbeiter erledigten häufig solche Tätigkeiten, die mit großen körperlichen Anstrengungen bei hoher Kunstfertigkeit verbunden waren, wie eben die Arbeiten in den heißen Backstuben, die Abfallbeseitigung, das Rauchfangkehren, das Abortreinigen oder das Scherenschleifen20. Doch auch spezifische
18 SYLVIA HAHN: Migration, Arbeit und Geschlecht. Mitteleuropa in vergleichender Perspektive. 17. bis 19. Jahrhundert. Habilitationsschrift an der Geisteswiss. Fakultät d. Universität Salzburg 2003. 19 FRANCESCO MICELLI: Stagioni, luoghi e parole. Le lettere di un emigrante temporaneo (1905– 1915). In: ADRIANO DʼAGOSTIN (Hg.): Ti ho spedito lire cento. Le stagioni di Luigi Piccoli, emigrante fiurlano. Lettere famigliari (= Biblioteca dellʼImmagine), Pordenone 1997, 9–57. Den Literaturverweis verdanke ich Andrea Dillinger. 20 So wanderten die Messer- und Scherenschleifer des Trentiner Val Rendena mit ihren Maschinen durch die mittleren Alpen und ganz Oberdeutschland. ALDO GORFER: La dimenticata ep-
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Kenntnisse eines anderen Kulturkreises, etwa der Maurer und Maler, waren nachgefragt. Schließlich sorgten die wandernden Sänger, Schausteller, Theaterspieler, Musikanten und Bärenführer für willkommene Abwechslung im Alltag der Sesshaften oder leisteten als Wahrsager und Wunderheiler die in dieser nachgesagten Qualität vor Ort nicht angebotene Lebenshilfe. Manchmal lässt sich das im Wandern ausgeübte Gewerbe vom begleitenden Handel nicht wirklich trennen. So verkauften die Pfannenflicker zugleich ihre mitgebrachte Ware und praktizierten die Medikamentenverkäufer auch als Heiler. Diese alpine Wanderarbeit umfasste hauptsächlich qualifizierte Tätigkeitsbereiche mit hoher Professionalität, im Gegensatz zur Wanderarbeit anderer europäischer (Gebirgs-)Gegenden wie der Pyrenäen oder des französischen Zentralmassivs, welche das Heer an landwirtschaftlichen Arbeitern rekrutierte. An weniger qualifizierter alpiner Wanderarbeit ist vornehmlich die landwirtschaftliche Saisonarbeit in der Poebene und in geringerem Maße in Südfrankreich zu nennen. Zu ergänzen sind die zumeist weiblichen, gelegentlich auch männlichen Dienstboten, welche für einige Monate in die städtischen Haushalte wechselten. Die „Schwabengängerei“ der alemannischen Mädchen und Buben aus Vorarlberg und Graubünden kommt noch zur Sprache21. Die Wanderarbeit ist allgemein Produkt einer gesamteuropäischen Arbeitsteilung zwischen Zonen unterschiedlicher Entwicklung und Spezialisierung. Vermutlich hat die Lage der Alpen zwischen Süd- und Mitteleuropa diese wirtschaftliche Option begünstigt. Der Nord-Süd-Handel musste von jeher die schwierige Barriere überwinden, und von jeher war die Alpenbevölkerung mit Serviceleistungen in diesen Handelsverkehr eingebunden. Diese Erfahrung lenkte zuletzt die Phantasie der alpinen Bevölkerung in Richtung eigener vazierender wirtschaftlicher Tätigkeit. Professionalität resultierte häufig aus handwerklichen Traditionen. So gesehen war die Wanderarbeit oft eine abgewandelte Form der handwerklichen Gesellenwanderung. Denn während die Gesellen – als flexibler Teil des Arbeitsmarktes – von einer zur anderen Arbeitsstätte wanderten und erst als Meister bzw. als verheiratete Gesellen sesshaft wurden22, verließen die vazierenden Gewerbetreibenden nur auf Zeit ihr festes Domizil, die Familie und zumeist auch ihre erste Profession als Landwirte oder Hausgewerbetreibende. Der Zusammenhang mit handwerklichen Traditionen ist vor allem im Ausbildungsweg zu erkennen, da alle diese Bäcker, Rauchfangkehrer und Maurer eine reguläre Lehre als Voraussetzung opea dellʼ emigrazione trentina. In: RENZO GUBERT, ALDO GORFER, UMBERTO BECCALUVA (Hg.): Emigrazione Trentina, Trient 1978, 51–91, hier 88. 21 OTTO UHLIG: Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg, Innsbruck 1978. 22 JOSEF EHMER: Gesellenmigration und handwerkliche Produktionsweise. Überlegungen zum Beitrag von Helmut Bräuer. In: GERHARD JARITZ, ALBERT MÜLLER (Hg.): Migration in der Feudalgesellschaft, Frankfurt am Main/New York 1988, 232–238. Zum Beispiel der in Wien im 18. Jahrhundert sesshaft gewordene italienische Seidenzeugmacher vgl. JOSEF EHMER: Traditionelles Denken und neue Fragestellungen zur Geschichte von Handwerk und Zunft. In: FRIEDRICH LENGER (Hg.): Handwerk, Hausindustrie und die historische Schule der Nationalökonomie. Wissenschafts- und gewerbegeschichtliche Perspektiven, Bielefeld 1998, 20–77, hier 59.
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der Berufsausübung verlangten. Auch die zünftischen Organisationsformen mancher Wanderarbeiter verweisen auf den handwerklichen Ursprung. So waren beispielsweise die Tiroler Maurer des Außerfern und des Paznaun in eigenen Handwerksladen organisiert. Im Lechtal hatten sich die Bauhandwerker 1693 zur Bruderschaft und Hauptlade St. Josef in Bichlbach zusammengeschlossen und hier eine Zunftkirche errichtet23. Doch auch sie orientierten sich nicht am Bedarf ihrer Herkunftsregion, sondern an einer überregionalen Nachfrage, beispielsweise der Baukonjunktur oberdeutscher Städte, wo sie in Zeiten guter Auftragslage das örtliche Handwerk ergänzten. Die Piemonter Zinngießer betrieben sogar einen Erwerbszweig, der in ihrem Herkunftsmilieu gar nicht (mehr?) oder nur in unbedeutendem Maße praktiziert wurde24. Was die räumliche Verbreitung betrifft, so sind mehrere Richtungen der Arbeitswanderung festzustellen. Es handelte sich vorwiegend – jedoch nicht ausschließlich – um Wanderung aus den Alpen hinaus, entweder in die oberitalienische Ebene oder über den Alpenhauptkamm hinweg nach Frankreich, Deutschland und Österreich. So gingen die Piemonter Rauchfangkehrer hauptsächlich ins Französische, aber auch ins Podelta wie ihre venezianischen Kollegen. Die welschen und deutschen Tiroler Architekten und Maler kamen ins ganze Habsburgerreich, nach Süddeutschland und im Osten bis nach Polen und Russland; die einfachen Außerferner Maurer gingen ins Alpenvorland, aber in Gruppen bis nach Hessen, Luxemburg und Westfalen, gelegentlich auch nach Frankreich25. Eine Sonderstellung nahmen die – sehr gut erforschten – Graubündner ein, die entweder bloß über den Ofenpass mit Milchprodukten, Schmalz, Kerzen, Leder und Schuhnägeln ins Tiroler Etschland oder weiter nach Venedig, Süddeutschland, Österreich, Frankreich und ins übrige Europa wanderten. Händler aus der Region um den Comer See und Südtirol sind in Bamberg seit dem späten 17. Jahrhundert nachgewiesen26. Darüber hinaus ist auch Binnenwanderung im Alpenland anzutreffen. So kamen 1836 zahlreiche in Zürich beschäftigte Maurergesellen aus Vorarlberg, Tirol und Liechtenstein; hier lebten sie in Quartieren zusammen und kehrten zu Saison-
23 REINHOLD REITH: Wanderungsbewegungen zwischen Schwaben und Tirol im 18. Jahrhundert. Tiroler Gesellen in Augsburg. In: Wolfram Baer, Pankraz Fried (Hg.): Schwaben – Tirol. Historische Beziehungen zwischen Schwaben und Tirol von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Bd. 2. Beiträge, Rosenheim 1989, 315–321, hier 318. 24 ADOLF MAIS: Die „Katzelmacher“. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte einer handwerksgebundenen Volksgruppe. In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft 87 (1957), 37–52, hier 43. 25 ERICH EGG, WOLFGANG PFAUNDLER, MEINRAD PIZZININI: Von allerley Werkleuten und Gewerben. Eine Bildgeschichte der Tiroler Wirtschaft, Innsbruck/Wien/München 1976, 208– 211; MARGARETE PIEPER-LIPPE, OTHMAR ASCHAUER: Oberdeutsche Bauhandwerker in Westfalen. Untersuchungen zur gewerblichen Wanderbewegung, besonders vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, unter Einbeziehung des Wanderhandels. In: Westfälische Forschungen 20 (1967), 119–193. 26 LINA HÖRL: Von Schustern, Schneidern und Zitronenkrämern. Die Bürgerbücher der Stadt Bamberg von 1625 bis 1819. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 28 (2010), 79–98.
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ende in die Heimat zurück27. Ein schönes Beispiel regionaler Verflechtung bietet die Arbeitsmigration zwischen dem oberen Vintschgau und dem Engadin über den Ofenpass hinweg. Dieses „Grenzpendlertum“ der Maurer, Zimmerleute, Hilfsarbeiter, Hausmädchen, Kellnerinnen, der Senner und Hirten reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück und war eine Folge der aufblühenden Engadiner Tourismuswirtschaft. In der Zwischenkriegszeit kam die Wanderung vornehmlich aus politischen Gründen beinahe zum Erliegen. Die „große Pendlerwelle“ folgte jedoch in den Sechzigerjahren, und nunmehr waren es vorwiegend Bauhandwerker, welche in der reichen Schweiz Arbeit fanden. Der wirtschaftliche Aufschwung Südtirols in den Achtzigerjahren beendete diese Arbeitsmigration28. Auch die saisonale landwirtschaftliche Wanderung, beispielsweise aus Welschtirol ins Bozner Unterland, war teils eine inneralpine. Mehrere Beispiele sollen die Organisationsform des Wandergewerbes illustrieren. IV. Maurer, Architekten und Maler Hohe Professionalität überwand leicht den Alpenhauptkamm. So fanden die welschen Maurer, Maler, Bildhauer, Stuckateure und Architekten seit dem 16. Jahrhundert weite Betätigungsfelder nördlich der Alpen, da bei Hof, in Adelskreisen sowie im Stadtbürgertum die hohe Kunstfertigkeit des italienischen Settecento geschätzt wurde, der Festungsbau gegen die Osmanen florierte und außerdem die Gegenreformation die Nachfrage nach Kirchenbauten steigerte29. Italien diktierte von 1450 bis 1650 das europäische Stilempfinden, und davon profitierten nicht zuletzt die Baukünstler30. Ganze oberitalienische Talschaften verlegten sich auf einzelne Zweige der Bauwirtschaft, so dass beispielsweise einem engen Raum des lombardischen Intelvi eine große Zahl von Architekten von hohem Rang entstammt31. Im 18. Jahrhundert partizipierten auch die welschen und deutschen Südtiroler und schließlich auch einzelne Nordtiroler und Vorarlberger Täler von dieser Nähe zur italienischen „Leitkultur“. Die hohe Qualität der Arbeit entwickelte 27 JOSEF EHMER: Die Herkunft der Handwerker in überregionalen städtischen Zentren: Zürich, Wien und Zagreb zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In: KLAUS ROTH (Hg.): Handwerk in Mittel- und Südosteuropa, München 1987, 47–67, hier 60. 28 URBAN STILLEBACHER: Die Grenzpendler im oberen Vintschgau. In: ANTON HOLZER, OTHMAR KIEM, GIORGIO MEZZALIRA, MICHAELA RALSER, CARLO ROMEO (Hg.): Nie nirgends daheim. Vom Leben der Arbeiter und Arbeiterinnen in Südtirol, Bozen 1991, 183–195. 29 So finden sich schon an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert solche „wälsche“ Steinmetzen und Maurer in den Waldviertler Städten Eggenburg und Horn. LUDWIG BRUNNER: Eggenburg. Geschichte einer niederösterreichischen Stadt. 2. Teil, Eggenburg 1939, 75; FRIEDRICH ENDL: Die Stadt Horn. Ein culturgeschichtliches Bild, Altenburg bei Horn 1902, 136. 30 FERNAND BRAUDEL: Modell Italien. 1450–1650, Stuttgart 1991; MICHAEL C. MAURER, ANTON SCHINDLING: Italienische, Graubündner, Tessiner und Vorarlberger Baumeister und bildende Künstler im barocken Europa. In: KLAUS J. BADE u. a. (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, 683–689. 31 FRANCO CAVAROCCHI: Künstler aus dem Valle Intelvi in Salzburg und Österreich. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 119 (1979), 281–304.
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sich auf der breiten Grundlage des gediegenen Handwerks. So zählte die „Lade“ der Maurer des Nordtiroler Stanzertales im Jahre 1706 nicht weniger als 152 Meister und 142 Gesellen. Aus diesem Handwerksmilieu kam der 1660 in Stanz geborene Jakob Prandtauer, der Baumeister von Melk, Seitenstetten, St. Florian und Kremsmünster32. Bei ihm absolvierte sein 1660 im Tiroler Schnann geborener Neffe Josef Mungenast die Maurerlehre; dieser vollendete die Wallfahrtskirche am Sonntagsberg und prägte mit den großen Klosterbauten von Herzogenburg und Altenburg den österreichischen Spätbarock. Die renommierten Architekten integrierten sich durch Einheirat rasch in die örtliche Bürgerschaft. So wirkten die Mungenast bis ins 19. Jahrhundert als Linzer Architekten33. Auf handwerklicher Tradition beruhte auch jene Malerschule des Passeiertales, aus welcher Johann Evangelist Holzer und Paul Troger hervorgingen34. Vorarlberg wiederum profilierte sich im Bauhandwerk. Nicht weniger als 700 Vorarlberger Barockbaumeister sind von der Mitte des 17. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert namentlich bekannt, die mit ihren Trupps größtenteils in der Fremde arbeiteten35. Die welschen Baumeister kehrten zu Beginn in der Wintersaison in ihre Heimat zurück. Cipriano Biasino erlangte allerdings 1623 das Kremser Bürgerrecht; für ihn machte die Doppelstadt Krems-Stein eine Ausnahme, „obwohl [sonst] nit zulässig, frembte Nationen sonderlich wöllische einkhomben zu lassen“36. Bald werkte seine halbe Verwandtschaft im näheren Umkreis der Stadt und war ein Neffe Göttweiger Mönch geworden; sie alle bedachte Biasino in seinem Testament, und einer seiner Neffen, selbst schon längst fern der Heimat, erhielt die italienischen Güter. Bestattet liegt Biasino in der von ihm erbauten Kremser Veitskirche. Dieser fließende Übergang vom Wandergewerbe zur Ansässigkeit blieb jedoch zumeist auf die Künstler unter den Maurern beschränkt. Die vielen zumeist in Gruppen wandernden Maurer des Tiroler Außerfern, des Stanzer- und des Paznauntales kehrten in der Regel im Winter in ihre Täler zurück37. Weil sie aber durch viele Jahrzehnte Sommer für Sommer am gleichen Arbeitsort werkten, bildete sich eine Art von halber Sesshaftigkeit heraus. Nahezu hundert Tiroler Maurergesellen standen 1790 in Augsburg in Arbeit. Sie kamen oft schon dreißig bis vierzig Jahre nach Augsburg; daher wurden sie von den Augsburger Maurermeistern nicht mehr als Fremde bezeichnet und bei der Arbeitsvergabe gleich wie die heimischen Gesellen behandelt38. Zeitlich beginnt das hier beschriebene Modell der alpinen Wanderarbeit Mitte des 16. Jahrhunderts. Seit damals berichten die Zeitgenossen von solchen tempo32 ROMAN SPIESS: Saisonwanderer. Schwabenkinder und Landfahrer, Innsbruck 1993, 32 ff. 33 GEORG WACHA: Peter Mungenast (Munganast). Baumeister in Linz. In: Unsere Heimat 62 (1991), 349–355. 34 WOPFNER: Bergbauernbuch (wie Anm. 11), Bd. 1, 361. 35 ALOIS NIEDERSTÄTTER: Arbeit in der Fremde. In: Montfort 48 (1996), 105–117, hier 108. 36 HARRY KÜHNEL: Die Baumeister Cipriano Biasino und Johann Baptist Spazio der Ältere. In: Mitteilungen des Kremser Stadtarchivs 2 (1962), 53–66, hier 53. 37 EGG, PFAUNDLER, PIZZININI: Von Werkleuten (wie Anm. 25), 224 f.; OTHMAR ASCHAUER: Das Bauernhandwerk im Außerfern. Phil. Diss., Innsbruck 1962. 38 REITH: Wanderungsbewegungen (wie Anm. 23), 318 f.
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rären Wanderungen ganzer Talschaften am Südabhang der Alpen. Weil es sich vornehmlich um Maurer bzw. Architekten handelt, ist eine Kontinuitätslinie zu den mittelalterlichen lombardischen Baumeistern nördlich der Alpen nicht auszuschließen. Eine neue Qualität erreichte die Wanderung der Maurer aber durch ihre zahlreiche Präsenz in ganzen Regionen und Ländern, im habsburgischen Österreich, Böhmen und Oberungarn, in Süddeutschland, aber auch in Polen und in Russland – man denke an die italienischen Baumeister der Kremlmauer39. Der Festungsbau war in der Frühzeit ihre wichtigste Domäne. So finden wir italienische Baumeister und Steinmetze beim Bau der Wiener Neustädter Burg 1526/27 und nach der glücklich überstandenen Türkenbelagerung von 1529 auch bei der Erneuerung der Wiener Hofburg40. Am lokalen Beispiel der niederösterreichischen Stadt Krems lässt sich das Wirken der welschen Baumeister besonders gut verfolgen. Italienisch beeinflusste Bauten datieren hier schon aus dem Jahr 1536; seit den 1550er Jahren waren Italiener an allen großen städtischen Bauvorhaben beteiligt. Der aus Lanzo Intelvi stammende Cipriano Biasino war schließlich in den 1620er Jahren der Erbauer der Kremser Pfarrkirche St. Veit, einer der frühesten Barockkirchen nördlich der Alpen, die zeitgleich mit dem Salzburger Dom des ebenso aus dem Valle Intelvi stammenden Santino Solari enstand. Insgesamt sind die italienischen Maurer und Architekten aus der Wiederaufbauphase und der kulturellen Erneuerung der Barockzeit nicht wegzudenken. Die alpinen Transitländer beteiligten sich mit zeitlicher Verzögerung von einigen Jahrzehnten an diesem Kulturtransfer über die Alpen hinweg41. So beginnt die Arbeitsmigration der Vorarlberger Bauhandwerker so richtig erst im 17. Jahrhundert, und sie ergänzt bzw. ersetzt hier die Söldnerei als traditionelle Form auswärtiger Existenzsuche42. Diese hochqualifizierte süd-nördliche Arbeitswanderung reichte bis ins beginnende 20. Jahrhundert, wobei sie sich vom Kirchen-, Schloss- und Festungsbau auf den Bau von Straßen, Eisenbahnen, Kanälen und Industrieanlagen verlagerte43. Nicht nur der Architekt der Semmeringbahn, Karl Ritter von Ghega, trägt einen italienischen Namen; auch die einfachen Maurer bei den vielen Eisenbahnbaustellen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts kamen zum erheblichen Teil aus Welschtirol oder dem italienischen Königreich. 39 DIETER J. WEISS: „Welsche“ Künstler in Franken während des Barockzeitalters. In: HANS HOPFINGER, HORST KOPP (Hg.): Wirkungen von Migrationen auf aufnehmende Gesellschaften (= Schriften des Zentralinstituts für fränkische Landeskunde und allgemeine Regionalforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg 34), Neustadt a. d. Aisch 1996, 97–108. 40 KÜHNEL: Biasino (wie Anm. 36), 59. 41 PIER CIORGIO GEROSA: Les alpes comme aire de circulation des modèles architecturaux. In: Jean-François Bergier, Sandro Guzzi (Hg.): La découverte des Alpes. La scoperta delle Alpi. Die Entdeckung der Alpen (= Itinera 12), Basel 1992, 284–290. 42 NIEDERSTÄTTER: Arbeit in der Fremde (wie Anm. 35), 107 f. 43 FRIEDRICH SCHÖN: Der Vorarlberger Eisenbahnbau und die Trentiner Zuwanderung. In: KARL HEINZ BURMEISTER (Hg.): Auswanderung aus dem Trentino – Einwanderung nach Vorarlberg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/80 bis 1919, Sigmaringen 1995, 355–378.
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Sie beherrschten die Gewölbetechnik in Stein- und Ziegelbau, das machte sie begehrt. So finden sich auch in Salzburg im 19. Jahrhundert italienische Bauten wie die Eisenhütte von Tenneck und mehrere Ziegeleien. Eine ganze Dynastie des venezianisch-furlanischen Baumeisters Ceconi war tonangebend in der Salzburger Gründerzeit. Ceconis Schüler machten sich als Baumeister im Pinzgau selbstständig44. Außerdem entdeckten die nach dem Eisenbahnbau entlassenen Maurer ein breites Tätigkeitsfeld im bäuerlichen Hausbau des reichen Alpenvorlandes. Aus dieser Zeit stammen die schönen, mit Schlacken und Katzengold verzierten Bauernhäuser im Salzburger Flachgau und im angrenzenden Oberbayern. Bis in die Zwischenkriegszeit finden wir sodann italienische Fachleute als Mineure und für besonders schwierige Abschnitte der Tiroler Wildbachverbauung45. V. Zinngießer, Zuckerbäcker und Rauchfangkehrer Auch an der Gruppe der Zinngießer lässt sich dieser Trend vom wandernden zum sesshaften Gewerbe studieren. Die in den Ostalpenländern vazierenden Zinngießer stammten zumeist aus einem eng umgrenzten Bereich westlich des Lago Maggiore mit dem Zentrum im Piemonter Forno; nur ein Herkunftsort liegt gleich jenseits der Grenze im Tessin. Von dort zogen sie bis ins Rheinland, nach Hamburg und Ostpreußen46. Seit dem 15. Jahrhunderts betrieben sie zunächst einzeln oder in Gruppen ihr ambulantes Gewerbe, indem sie auf offener Straße über einem kleinen Feuer Reparaturarbeiten erledigten oder bestimmte Formen, beispielsweise Schöpfer, Löffel und Zimente (Maße), später auch Schraubflaschen gossen. Von den Schöpfgefäßen, italienisch gazza, deutsch Gatz, leitet sich die Bezeichnung als „Katzelmacher“ ab, welche später zum pejorativen Ausdruck für die Italiener wurde. In Wien ließen sich italienische Zinngießer bereits im 15. Jahrhundert nieder, in den alpinen Ländern in größerer Zahl erst später, beispielsweise in den ländlichen steirischen Gebieten seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und in der Stadt Graz seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Ähnlich behaupteten sie sich in Land und Stadt Salzburg seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gegen die örtliche Konkurrenz. Auch in Salzburg ist anfangs von fremden Zinnhändlern und Zinngie44 WALBURGA SCHOBESBERGER: Baumeister di unʼepoca. In: MATTEO ERMACORA u. a. (Hg.): Baumeister dal Friuli. Costruttori e impresari edili migranti nellʼOttocento e primo Novecento. A cura die Franca Merluzzi, Artegna 2005, 46–58; DARIA GORLATO: I Menis de Artegna. Baumeister a Zell am See e nel Pinzgau. In: ERMACORA u. a. (Hg.): Baumeister (wie oben), 87–114. Die im Pinzgau tätigen italienischen Baumeister sind Gegenstand einer in Arbeit befindlichen Dissertation Andrea Dillingers (Universität Salzburg). 45 RUDOLF PALME: Hauptströmungen der gewerblichen Migration in Nordtirol vom Spätmittelalter bis zur Jetztzeit. In: URSUS BRUNOLD (Hg.): Gewerbliche Migration im Alpenraum. La migrazione artigianale nelle Alpi. Historikertagung in Davos (= Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Alpenländer, hrsg. von der Kommission III, Kultur), Bozen 1994, 225–244, hier 235. 46 MARKUS WALZ: Region – Profession – Migration. Italienische Zinngießer in RheinlandWestfalen (1700–1900) (= Studien zur Historischen Migrationsforschung 11), Osnabrück 2001.
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ßern, gelegentlich sogar „in mehreren Abteilungen“ die Rede. Doch diese „herumziehenden piemontesischen Zinngießer“ wurden bald in der Landeshauptstadt und in Hallein sesshaft und ersetzten das örtliche Handwerk47. Aus dem Mayländer Gebiet stammten die Bregenzer Zinngießer Dromer/Tamporino an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert48. Im Reich kamen die italienischen Zinngießer bis nach Franken, Oldenburg und Ostfriesland49. Tessiner und Walliser lassen sich als Zinngießer auch in Frankreich nachweisen. Südlich der Alpen wirkte vor allem die Metropole Venedig noch in ihrer langen Abstiegsphase als Magnet. Hier beherrschten Bündner die Gewerbe der Schuster und der Bäcker und bald auch anderer Erwerbszweige. Nicht weniger als 3 000 allerhand Sorten Bündner befanden sich 1742 in Venedig, so dass sie 1743 in beinahe allen Zünften die Mehrheit bildeten. Das dauerte bis zum großen Exodus von 1766, als Venedig die Bündner Privilegien für die Stadt und die Terra ferma aufkündigte, weil Graubünden seiner Straßenpolitik im Wege stand und nicht den Bau der „Markusstraße“ ins Veltlin und damit zu den Bündner Alpenpässen unter gänzlicher Umgehung der Lombardei förderte50. Die Bündner Zuckerbäcker, Likör- und Limonadefabrikanten sowie Kaffeeausschenker verteilten sich in der Folge auf halb Europa, die habsburgischen Häfen Triest, Pola und Fiume, auf Krakau, Berlin, Königsberg, Rom, Florenz, Modena, Genua, Neapel, Marseille, Lyon, Madrid, St. Petersburg, Moskau, Kiew, Odessa, die nordischen Länder und zuletzt sogar nach Nordamerika. Mit diesen Professionen wurden sie angesehen und oft begütert, während sie die in Venedig sonst ausgeübten armen Gewerbe der Schuster und Glaser aufgaben. Auch einige Frauen konnten sich in dieser Männerwelt als Konditorin oder Kaffeesiederin behaupten. Der soziale Aufstieg hatte allerdings seinen Preis. Nur „wer leben kann wie ein Hund, erspart“ war geltende Lebensregel dieses harten Umfelds51. Nicht wenige kehrten arm und krank in die Heimat zurück. Doch nie verloren die Bündner den Kontakt zur Heimat, und als die Alpenmode ihre Herkunftstäler erreichte, kehrten viele der über die ganze Welt zerstreuten Bündner zurück und verwandelten ihre Heimat als Hoteliers mit Geld und Initiative in eine mondäne Tourismuslandschaft. Auch die Rauchfangkehrer entstammten den Migrationsgebieten der italienischen Schweiz und dem lombardischen Gebirgsrand. Von hier aus übten sie ihr Gewerbe in einem großen Radius nördlich und südlich der Alpen sowie westlich 47 ALFRED WALCHER VON MOLTHEIN: Das Zinngießerhandwerk der Stadt Salzburg. In: Kunst und Kunsthandwerk 12 (1909), 520–542. 48 GEORG WACHA: Die Zinngießer in Vorarlberg. In: Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins. Freunde der Landeskunde 135 (1991), 311–328, hier 313. 49 GEORG WACHA: Italienische Zinngießer nördlich der Alpen. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs (Festschrift Richar Blaas) 31 (1978), 106–120. 50 DOLF KAISER: Bündner Zuckerbäcker in den Nachbarländern vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. In: BRUNOLD (Hg.): Gewerbliche Migration (wie Anm. 45), 511–525, hier 513. 51 PETER MICHAEL-CAFLISCH: „Wer leben kann wie ein Hund, erspart“. Zur Geschichte der Bündner Zuckerbäcker in der Fremde. In: RETO FURTER, ANNE-LISE HEAD-KÖNIG, LUIGI LORENZETTI (Hg.): Traditions et modernités. Tradition und Moderne (= Histoire des Alpes. Storia delle Alpi. Geschichte der Alpen 12/2007), 273–289.
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bis nach Frankreich aus. Vermutlich hat diese gute Auftragslage seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert mit der Verbreitung der „italienischen“ Schliefkamine zu tun, welche gleichzeitig durch italienische Baumeister eingeführt wurden52. Das Kaminkehren war im direkten Wortsinn Kinderarbeit, da schmächtige acht- bis fünfzehnjährige Buben in die engen Rauchfänge steigen mussten, um den Ruß abzukratzen53. Die spazzacamini wussten ziemlich rasch die örtliche Konkurrenz auszuschalten und erlangten auf diese Weise vielfach auch die Sesshaftwerdung. So beherrschten die italienischen Rauchfangkehrer aus dem Graubündner Misox und dem angrenzenden Tessin im Wien des 18. Jahrhunderts ziemlich unangefochten ihren Erwerbszweig. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Jahre 1826 entstammten alle kaiserlichen Wiener Hofrauchfangkehrermeister dem Ort Soazza im Misox. Die Liste der Wiener Zechmeister der Rauchfangkehrer von 1775 bis 1860 enthält gleichfalls ausschließlich Namen aus Soazza und Mesocco54. Die tatsächliche Emigration bedeutete jedoch keinen abrupten Abbruch der Kontakte. Immer wieder erneuerte sich das Milieu durch Zuwanderung aus dem Verwandten- und Nachbarschaftskreis. Wenn es die Umstände erforderten oder erlaubten, etwa wegen einer günstigen Heirat, zur Hofübernahme oder erst im Ruhestand, dann kehrten sie oder ihre Witwen und Kinder in ihre Herkunftsorte zurück. In Anbetracht dieser dauerhaften Beziehungen kann man im Fall der welschen Rauchfangkehrer förmlich von einer „transnationalen Migrantion“ sprechen55. Von emotionalen Bindungen zeugen die Kirchenstiftungen der Migranten in ihren Heimatorten. Sogar ihr Ableben in der Fremde wurde in den Kirchenbüchern verzeichnet. VI. Spezielle Dienstleistungen Die ländliche Welt entbehrte länger als die Städte einer ausreichenden Versorgung mit Wundärzten und Doktoren, und außerdem hielt sich auch aus Gewohnheit dort 52 ELISE SPIESBERGER, ADALBERT LIBAL: Die „Schwarze Zunft“ im Wandel der Zeiten. Die Geschichte des Rauchfangkehrergewerbes in Niederösterreich (= Schriftenreihe der Handelskammer Niederösterreich), Wien 1974, 9. 53 LINUS BÜHLER: Von Schustern, Kaminfegern und Bauleuten. Zur gewerblichen Migration aus Graubünden bis zum Ersten Weltkrieg. In: BRUNOLD (Hg.): Gewerbliche Migration (wie Anm. 45), 483–495, hier 485 f. 54 CESARE SANTI: Die Rauchfangkehrer aus Misoxtal in Graubünden. In: Adler. Zeitschrift für Genealogie und Heraldik 14 (1986–1988), 369–373; ELSE REKETZKI: Das Rauchfangkehrergewerbe in Wien. Seine Entwicklung vom Ende des 16. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert; unter Berücksichtigung der übrigen österreichischen Länder. Phil. Diss., Wien 1952; HERMANN BERGER: Kaminfeger aus der Mesocina in der Großstadt Wien. In: HANS-JÖRG GILOMEN, ANNE-LISE HEAD-KÖNIG, ANNE RADEFF (Hg.): Migration in die Städte. Ausschluss – Assimilierung – Integration – Multikulturalität, Zürich 1998, 125–133. 55 ANNEMARIE STEIDL: Rege Kommunikation zwischen den Alpen und Wien. Die regionale Mobilität Wiener Rauchfangkehrer. In: RETO FURTER, ANNE-LISE HEAD-KÖNIG, LUIGI LORENZETTI (Hg.): Les migrations de retour. Rückwanderungen (= Histoire des Alpes. Storia delle Alpi. Geschichte der Alpen 14/2009, 25–40, hier 36.
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länger die spezielle Dienstleistungsfunktion des therapeutischen Gewerbes, der Wanderärzte, Zahnbrecher und Medikamentenhändler. Eine solche genuin alpine Variante bildeten die Zillertaler Ölträger und Kräuterhändler, welche geschickt die in heiler Bergwelt gesammelten und hergestellten Heilmittel vermarkteten56. Freilich zählte die lange beliebte Kombination von natürlichen und magischen Heilmitteln seit dem 18. Jahrhundert unter die Betrugsdelikte, und solche Dienstleistungen wurden bei ausbleibendem Erfolg rasch kriminalisiert57. Auch das Unterhaltungsgewerbe mit mechanischen Spielereien und Feuerwerken, die Werkelmänner, Puppenspieler, Theaterproduzenten, Wandermenagerien und Bärenführer hatten in der vormodernen Welt noch ihren Platz und behielten ihn in gewandelter Form bis ins 19. und 20. Jahrhundert. So berichteten nunmehr Kosmoramen dem Landvolk von fremden Erdteilen und Menschen, und versetzten bosnische Bärenführer die Straßenpassanten in einen spendablen Schrecken. Das fahrende Volk war der habsburgischen Bürokratie immer noch nicht ganz geheuer; daher konnten auch nach der offiziellen Abschaffung der Passrevisionen an den Grenzen Gauklern, Seiltänzern und mittellosen Hausierern die Papiere abverlangt werden58. VII. Auf dem Weg zur Industriearbeit Die gering qualifizierte Arbeitsmigration spielte, wie erwähnt, nur eine unbedeutende Rolle im Vergleich zur qualifizierten Arbeitswanderung. Dennoch gab es auch nördlich der Alpen parallel zur gewerblich orientierten eine agrarische saisonale Migration. So verdingten sich seit dem beginnenden 17. Jahrhundert alljährlich Schweizer, Tiroler und Vorarlberger Kleinbauern- und Häuslerkinder im oberdeutschen Getreideland als Schnitter, Ährenleser, Viehhirten oder Gänsedirnen59. Diese Arbeitsmigration sicherte jenen reichen oberdeutschen Getreidezonen die erforderlichen Arbeitskräfte, welche das Alpenland mit Getreide versorgten60. Im Jahre 1832 waren es 1 800 bis 2 000 Schwabenkinder aus Vorarlberg, 2 500 Kinder aus Westtirol und 600 aus dem Außerfern; dazu kamen die Hüterkinder aus Graubünden, und zwar „ca. 1 000“ im Jahre 183761. Die temporäre jugendli56 Drei Lieder zu den Zillertaler Ölträgern siehe bei MARIA VINZENZ SÜSS: Salzburger VolksLieder. Nachdruck der Ausgabe Salzburg 1865. In: Salzburg Archiv 19 (1995), 88–92. 57 GERHARD AMMERER: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (= Sozialund wirtschaftshistorische Studien 29), Wien 2003. 58 HANNS HAAS: Salzburg in der Habsburgermonarchie. In: HEINZ DOPSCH, HANS SPATZENEGGER (Hg.): Geschichte Salzburg. Stadt und Land. Bd. II., 2. Teil, Salzburg 1988, 661–1022, hier 741; SPIESS: Saisonwanderer (wie Anm. 32). 59 MANFRED SCHEUCH: Geschichte der Arbeiterschaft Vorarlbergs bis 1918. 2. Aufl., Feldkirch 1978, 19. 60 ULRICH PFISTER: Protoindustrie und Landwirtschaft. In: DIETRICH EBELING (Hg.): Protoindustrie in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (= Studien zur Regionalgeschichte 9), Bielefeld 1997, 57–84, hier 77. 61 Unsicher ist, ob die 600 Außerferner Kinder bei den Westtiroler Kindern mitgezählt wurden. PALME: Hauptströmungen (wie Anm. 45), 234.
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che Arbeitswanderung aus einigen Regionen Tirols und Vorarlbergs nach Süddeutschland hielt sich in geringem Umfang bis zum Zweiten Weltkrieg, während die Bündner Schwabengängerei schon in den 1860er Jahren durch die Verdienstmöglichkeiten im regionalen Tourismus marginalisiert wurde und im Ersten Weltkrieg ihr Ende fand62. Eine grundlegende Änderung der Arbeitswanderung ist im Zuge der Industriellen Revolution zu beobachten. Nun wurde die temporäre durch die endgültige Migration ersetzt, teils in weit entfernte Destinationen bis nach Übersee, teils in herkömmliche oder neue transalpine Wanderungsgebiete. Die Wanderregionen wurden zu Einwanderungsregionen. Während die Tessiner bisher als wandernde Scherenschleifer oder mit ihren Mausefallen, Büchern und Zeitschriften Vorarlberg bereist hatten, so rekrutierten sie nun im „Ländle“ die stabile Arbeiterschaft der aufstrebenden Textilindustrie. Jetzt gingen auch die Frauen auswärts in Arbeit. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war von 3 000 italienischen Beschäftigten der Vorarlberger Textilindustrie die Hälfte Frauen63. So entstanden in den Industrieorten ganze wälsche Kolonien; die jungen Frauen waren in streng geführten geistlichen Heimen untergebracht. Das Trentino verlor auf diese Weise einen erheblichen Teil der heranwachsenden Generation. Im Jahrzehnt von 1880 bis 1890 verminderte sich die Einwohnerschaft Welschtirols um 2,3 %, jene des deutschsprachigen Tirol stieg hingegen um 21,1 %. Bei annähernd gleich hohem Geburtenüberschuss resultierte der Unterschied aus der großen Trentiner Emigration64. So wanderten unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg jährlich etwa 25 000 Trentiner, das sind 6,5 % seiner Bevölkerung, auf Arbeitssuche aus dem Land. Wenn auch in einer Gesamtrechnung die Rückwanderung zu evaluieren wäre, so erkennt man doch den bedenklichen demographischen Trend. Die Hälfte der Welschtiroler Auswanderer blieb im Jahre 1908 im Kronland Tirol-Vorarlberg; es handelte sich also eine beachtliche inneralpine Wanderung65. Die Auswanderer entstammten nun größtenteils dem rein landwirtschaftlichen, nicht dem gewerblichen Bereich, und sie qualifizierten sich erst in ihren neuen Lebenszusammenhängen. Die Industrie- und Handelskammer von Rovereto unterschied 1909 diese beiden Gruppen recht präzise: Die dauerhafte Emigration rekrutiert sich vor allem aus Landarbeitern, Bauern, Maurern und Arbeiterinnen; die zeitlich gebundene aus Maurern, Steinhauern, Sägewerkern, Erdarbeitern, Arbeiterinnen und Hausgehilfin62 LORETTA SEGLIAS: Die Bündner Schwabengänger. Kinderarbeit und saisonale Emigration nach Oberschwaben. In: FURTER, HEAD-KÖNIG, LORENZETTI (Hg.): Traditions (wie Anm. 51), 291–306, hier 295. 63 FERDINAND ULMER: Das Eindringen der Italiener in Vorarlberg. Eine historische Reminiszenz. In: Vorarlberger Wirtschafts- und Sozialstatistik 2, Bd. 1 (1945), 5–51, hier 24; CASIMIRA GRANDI: Aus dem Lande in die Armut. Landschaft, Bevölkerung und Gesellschaft des Trentino zwischen 1870 und 1914. In: Montfort 49 (1997), 246–292. 64 DIEGO LEONI: „Wie Schmetterlingspuppen: nicht mehr Larve und noch nicht Schmetterling“. Zur Emigration aus dem Trentino nach Tirol. In: HOLZER u. a. (Hg.): Nie nirgends daheim (wie Anm. 28), 167–180, hier 169. 65 RENZO GUBERT: Lʼemigratione trentina verso una sua analisi sociologica. In: DERS., GORFER, BECCALUVA (Hg.): Emigrazione Trentina (wie Anm. 20), 8–29, hier 10.
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nen66. In Vorarlberg wurden so Trentiner Immigranten anfangs als Textilarbeiter ansässig; die nachfolgenden Trentiner Eisenponeri wiederum wurden rasch zu sesshaften Industriearbeitern. Voraussetzung dieser Entwicklung war die Entstehung einer regionalen Industriestruktur mit einem großen Bedarf an Arbeitskräften67. Während auf der einen Seite das Industrieland Vorarlberg fremde Arbeitskräfte anzog und sogar viele Trentiner Maurer ins Land kamen, setzten auf der anderen Seite die Vorarlberger Bauhandwerker ihre in einen stabilen regionalen Wirtschaftszusammenhang eingebetteten saisonalen Arbeitswanderungen in die Schweiz und nach Frankreich fort68. VIII. Wanderhandel Der Wanderhandel war ähnlich wie das Wandergewerbe strukturiert, nur dass nun die Waren und nicht die Dienstleistungen den Abnehmer aufsuchten. Es waren Güter des gehobenen Bedarfs, nicht teure Luxusgüter, welche die Wanderhändler vertrieben. Das Handelsgut musste leicht transportabel sein und in der Buckelkraxn oder einem kleinen Karren Platz finden. Das Sortiment war recht unterschiedlich. Manchmal wurden bestimmte Waren, beispielsweise feinere Textilien und Spitzen, mechanische Werke und Uhren oder Bücher und Bilder angeboten69. Dann wieder umfasste die Palette ganze Listen von Waren in jeweils geringer Stückzahl. Ein solches transportables Warenlager eines vazierenden Ehepaares listete 1790 der Kitzbühler Amtmann auf. Auf dieser seitenlangen Liste finden sich Augengläser, Sackuhren, Gebetbücher, Kreuze, Tabakdosen, Lauskämme aus Elfenbein, Messerbestecke, Drahtsaiten, Baumwollgarn, Nadeln, Schnallen, Pettschierstöckl, Knöpfe, Ringe, Siegelwachs, falsche Perlen, Messer, Skapuliere und vieles mehr70. Daraus resultierten erhebliche Unterschiede in Bezug auf die ökonomische Kapazität vom kleinen Händler bis zum Faktoristen. Ganz unten auf der Palette der Formenvielfalt standen Vazierende, die eine Handelstätigkeit nur vortäuschten, um mit Hilfe einer Wanderberechtigung ungestraft betteln zu gehen. Dabei gab es fließende Übergänge, wenn beispielsweise das geringe Handelsgut schon verkauft war. Mit Handeln und mit Bitten ernährte sich eine 1794 in Kitzbühel aufgegriffene 25jährige Steirerin71. Die Behörden identifizierten freilich solche trübseligen Existenzen oft genug mit kaschierter Kleinkriminalität wie Dieb-
66 Zitiert bei LEONI: Wie Schmetterlingspuppen (wie Anm. 64), 169 f. 67 REINHARD JOHLER: Mir parlen Italiano und spreggen Dütsch piano. Italienische Arbeiter in Vorarlberg 1870–1914 (= Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 21), Feldkirch 1987, 40. 68 KARL HEINZ BURMEISTER, ROBERT ROLLINGER (Hg.): Auswanderung aus dem Trentino – Einwanderung nach Vorarlberg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/80 bis 1919, Sigmaringen 1995. 69 RUDOLF SCHENDA: Der Bilderhändler und seine Kunden im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts. In: Ethnologia Europaea 14 (1984), 163–175. 70 AMMERER: Heimat Straße (wie Anm. 57), Kapitel 9.1. 71 Ebenda.
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stahl oder Betrugsdelikten. Außerdem wurde den nicht Hausgesessenen ohnehin das Hausieren häufig verwehrt. Die Waren wurden teils aus städtischen Gewerbebetrieben – beispielsweise aus Venedig – bezogen, teils als landwirtschaftliche Produkte in den entsprechenden Anbaugebieten aufgekauft. Wieder andere Waren wurden in den Wanderregionen selbst oder benachbarten Gebieten erzeugt, und zwar teils im familiären Verband oder durch wirtschaftliche Kooperation von Nachbarschaften und ganzen Tälern. Oft erzeugten bzw. veredelten die Händler und ihre Familien zumeist im Winter selbst jene Produkte, die sie in der Sommersaison verkauften. Von zunehmender Bedeutung war schließlich der Handel mit modischen, manchmal auch mit unmodisch gewordenen Manufakturwaren, die entweder kontraktmäßig von den Betrieben selbst gekauft oder auf Warenmessen erworben wurden. Auch was die Organisation des Wanderhandels anbelangt, finden sich ähnliche kooperative Formen wie im Wandergewerbe: die gemeinsame Anreise, die Aufteilung eines Gebietes auf einzelne Trupps, gemeinsame Warenlager, Hilfsleistungen in der Fremde. Dazu kam beim Wandergewerbe die Beschaffung der Ware auf Kreditbasis und die daraus resultierende Abhängigkeit vieler kleiner Händler von örtlichen Finanziers. Die alpine Wanderarbeit reicht wie der Wanderhandel in ihren Anfängen ins 15. Jahrhundert zurück. Schon damals galten die Wanderhändler der heimischen Kaufmannschaft als lästige Konkurrenz. Auf ihr Drängen hin erließ Friedrich III. 1457 ein Verbot der Wanderhändlerei. Doch solche Verbote standen nur auf dem Papier. Erneut erließ des Ertzherzogthumbs Khärnten Verbesserte und Neu aufgerichtete Policey Ordnung anno 1557 ein strenge Kontrolle der „Schotten“ (wie die Wanderhändler in Erinnerung an die bis ins 13. Jahrhundert nachweisbaren schottischen Kaufleute bezeichnet wurden), der „Schaffoyer“ (Savoyarden) und anderer Wanderhändler72. Gelegentliche Informationen erhält man aus Berichten über wirtschaftliche Konkurrenz. So beschwerten sich die Vertreter des Schwäbischen Reichskreises am Augsburger Reichstag von 1582, dass nunmehr die fremden Savoyer und andere Hausierer anfingen, mit ihren Waren nicht allein bei dem gemeinen Mann in den Dörfern und Flecken, sondern auch bei denen von Adel und höheren Ständen, indem sie alle Schlösser, Hofhaltungen, Klöster und Wohnungen durchkröchen, dergestalt einzudringen, dass dadurch die Kommerzien den Untertanen der Fürsten und anderer Stände in den Städten entzogen würden.
Sogar die Geschäftspraktiken kamen dabei zur Sprache, dass nämlich die Savoyarden für Tücher, Gewürze und andere nicht notdürftige Waren Kredit bis zur Einbringung der Ernte gewährten73.
72 Zitiert bei RICHARD M. ALLESCH: Arsenik. Seine Geschichte in Österreich (= Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 54), Klagenfurt 1959, 209. 73 Zitiert nach FRANZ DOMINICUS HÄBERLIN: Neueste deutsche Reichsgeschichte vom Anfang des schmalkaldischen Krieges bis auf unsere Zeiten, Halle 1774–1786, Bd. 12, 612 f.; dazu: MARTIN ZÜRN: Einwanderung aus Savoyen nach Deutschland. Grundzüge ausgewählter Familien. In: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins Schau-ins-Land 122 (2003), 73–92.
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Zum Massenphänomen wurde die alpine Handelsmigration jedoch erst im 18. Jahrhundert, und sie erreichte ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das hängt gewiss mit der sukzessiven Liberalisierung des Hausierwesens in den habsburgischen Ländern zusammen. Zuerst wurde 1765 der Handel mit Viktualien in den Erbländern freigegeben; 1768 folgte die Erlaubnis für die Bauern, mit Landesprodukten frei zu handeln74. Das Hausierpatent Josephs II. vom 1. September 1785 gestattete allen Inländern das Hausieren in Dörfern und Märkten; 1787 fiel auch das Hausierverbot in Städten außerhalb der Marktzeiten75. So konnte der Wanderhandel die steigende Nachfrage einer rasch anwachsenden Bevölkerung nach Sachleistungen und Waren erfüllen. Eine große Rolle spielte dabei die Verfeinerung des Geschmacks breiter sozialer Schichten. So gesehen ist der Wanderhandel eine Begleiterscheinung der entstehenden Konsumgesellschaft, der auf Seiten der Produktion ein rasantes Anwachsen der Güterproduktion entsprach76. Allmählich wurde die ganze Bevölkerung in die Wirtschaftskreisläufe eingebunden, und so fand ein Heer von Wanderhändlern ihre Kundschaft selbst in abgelegenen Talschaften und Höfen. Insgesamt sind Wanderarbeit und Wanderhandel somit als Phänomene einer wirtschaftlichen Modernisierung einzuschätzen. Auch der Wanderhandel lief vornehmlich in süd-nördlicher Richtung. Die italienische crassigna gab dieser ganzen Kraxenwirtschaft den Namen. Es waren ursprünglich vor allem Orientwaren und die Erzeugnisse der venezianischen Kunstfertigkeit, welche über die Alpen getragen wurden: Gewürze, Bockshörndl, Schals, venezianische Nähspitzen, feine Wolltücher. Der Venedigerhandel hat eine lange Vorgeschichte. Seit dem hohen Mittelalter fanden die Orientwaren den Weg über die Alpenpässe und in der Gegenrichtung beispielsweise Silber, Kupfer und Eisen. Diese Handelsroute behielt ihre Bedeutung auch nach der Ablenkung der großen Handelsströme vom Mittelmeer und der Orientroute auf den Atlantik und seine westeuropäischen Häfen. Der allerdings erst im 16. Jahrhundert einsetzende welsche Wanderhandel konnte also von einer alten räumlichen Handelsorientierung profitieren. Karnien lag direkt an dieser Handelsroute, wenn auch der im großen Stil nach dem Dreißigjährigen Krieg einsetzende friulanische Wanderhandel möglicherweise erst später als jener der Comasken und der Savoyarden einsetzte77. Der Zusammenhang zwischen dem Konsumbedürfnis der Nachkriegszeit 74 ROMAN SANDGRUBER: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 156. 75 PHILIPP OTTO OTTENTHAL: Hausier=Handel in Oesterreich, Linz 1828, 10–15. 76 ROMAN SANDGRUBER: Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert (= Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studien 15), München 1981. 77 ALESSIO FORNASIN: Nel paese di Esterai. Lʼemigrazione e le relazioni commerciali tra la montagna Friulana e la Stiria nel Settecento. In: BRIGITTE MAZOHL-WALLNIG, MARCO MERIGGI (Hg.): Österreichisches Italien – Italienisches Österreich. Interkulturelle Gemeinsamkeiten und nationale Differenzen vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Zentraleuropa-Studien 5), Wien 1999, 499–516, hier 506; RAINER BECK: Lemonihändler. Welsche Händler und die Ausbreitung der
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nach 1648 und dem welschen Wanderhandel scheint unbestritten. Auch die Savoyarden zogen mit ihren diversen Waren als welsche Krämer vornehmlich in die deutsche Schweiz, nach Süddeutschland, ins Rheinland, in geringerer Zahl auch in die habsburgischen Länder, nach Frankreich, Belgien und in den Kirchenstaat78. Die umgekehrte nord-südliche Richtung spielte eine vergleichsweise geringe Rolle Es wurden nur wenige oberdeutsche und österreichische Produkte ins Italienische verbracht, wenn man vom Modeprodukt Uhren absieht. Auch der frühneuzeitliche Knechtshandel zeigt übrigens eine gewisse strukturelle Verwandtschaft mit dem Wanderhandel79. So wichtig wie das Angebot ist die Nachfrage nach Gütern und Leistungen der Wanderwirtschaft. Die Aufnahmefähigkeit des Marktes von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert steht ebenso wie die Effizienz von Wanderhandel und Wandergewerbe außer Zweifel. Die vazierende wirtschaftliche Tätigkeit war insgesamt eine Facette international vernetzter Wirtschaftsbeziehungen von Produktion und Nachfrage nach Gütern und Leistungen. Kein Geringerer als Fernand Braudel macht darauf aufmerksam, wie wichtig der Wanderhandel – zu ergänzen ist das Wandergewerbe – bis weit ins 19. Jahrhundert für das Wirtschaftsleben war. Wanderhandel ist daher eine Begleiterscheinung des intensivierten Warenverkehrs und nicht Zeichen von Rückständigkeit80. Auf der einen Seite steht ein von Gewerbe und Manufakturwesen immer breiter ausdifferenziertes Warenangebot, beispielsweise von Druckwerken, Bildern, Uhren, Glaswaren, Textilien, Medikamenten, feineren oder notwendigen Lebensmitteln, welche auf der anderen Seite der Wanderhändler in kleinen Mengen unter die Leute brachte, sei es in sonst schlecht versorgte ländliche Zonen, sei es durch zudringliche Werbemethoden auf die städtischen Straßen und Plätze. So gesehen sind Wandergewerbe und Wanderhandel eng mit den wirtschaftlichen Innovationsschüben der Frühen Neuzeit wie des 19. Jahrhunderts verbunden, und sie erbringen jeder auf seine Weise Leistungen im Rahmen internationaler Arbeitsteilung. IX. Beispiel Tirol Tirol und Vorarlberg waren klassische Gebiete saisonaler Arbeitsmigration. Hier spielte die Vermittlung selbst erzeugter oder veredelter Güter eine noch wichtigere Rolle als beispielsweise im karnischen Wanderhandel, der ohnehin zunehmend Zitrusfrüchte im frühneuzeitlichen Deutschland. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 45 (2004), 97–124. 78 REUTER: Auf den Straßen Europas (wie Anm. 7), 30 f.; CHANTAL MAISTRE, GILBERT MAISTRE: Colporteurs et marchands savoyards dans lʼEurope des XVIIe et XVIIIe siècles, Annecy 1992. 79 Vgl. dazu FRANZ FISCHER: Die blauen Sensen. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Sensenschmiedezunft zu Kirchdorf-Micheldorf bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (= Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 9), Graz/Köln 1966, Kapitel E. II, 161 ff. 80 FERNAND BRAUDEL: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Der Handel, München 1986, 72–77.
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eigene Produkte vermarktete. Das alte Tirol war reich an solchen agrarisch armen gewerbetreibenden Talschaften, welche durch Kunstfleiß die bescheidenen Produkte und Rohstoffe des Landes veredelten. Man denke an die Grödner Holzschnitzer, die Proveiser und Ahrntaler Klöppler, die Gürtelmacher des Sarntales, die Hutmacher des Sextentales, die Oberinntaler Rosenkranzmacher. Diesen eher genossenschaftlich strukturierten hausgewerblichen Regionen gesellte sich die Hausindustrie im klassischen Verlagssystem hinzu, beispielsweise die eisenverarbeitenden Gewerbe des Stubaitales, die Pustertaler Teppichknüpfer und die Strehlische Fabrik für Leinen- und Baumwollwaren in Imst. Sie alle erzeugten jene transportablen Waren, die sich durch Wanderhändler vertreiben ließen. Da aber die Erzeugung den Produzenten ohnehin ausreichenden Erwerb garantierte, besorgten den Vertrieb häufig Kleinbauern und Häusler anderer Regionen ohne eigene gewerblich-protoindustrielle Tätigkeit. Besonders tüchtige Händler waren die Defregger aus dem inneren Tal mit seinen hochgelegenen und stark zersplitterten Bauernanwesen. Sie vertrieben die im Pustertal aus Schafwolle, Kuh- und Ziegenhaaren erzeugten Wollteppiche und Wolldecken in einem weiten Rayon ins Reich, in die habsburgischen Lande, nach Italien, Frankreich, in die Niederlande sowie nach Polen und Russland81. Ferner handelten sie mit Südtiroler Obst und Esskastanien sowie mit Schweizer und Schwarzwälder Uhren. Aber auch die Erzeugnisse aus dem Nordtiroler Stubaital, wie Hufeisen, Sensen, Messer, Pfannen, Hacken und Kaffeemühlen wurden von Wanderhändlern bis nach Ungarn, Böhmen, Baden, Württemberg, in die Lombardei und in die Levante verhandelt. Ähnliche symbiotische Beziehungen zwischen Erzeugung und Detailhandel lassen sich auch in anderen alpinen und voralpinen Regionen feststellen. So fanden die Berchtesgadener und die Viechtauer Holzwaren ebenfalls ihre weite Verbreitung durch Wanderhändler, die oft auch kontraktmäßig den Produzenten verpflichtet waren82. Selbst das Massenprodukt der Schwarzwälder Uhren wurde vorwiegend durch Wanderhändler vertrieben. Eine spezielle Variante des Wanderhandels bieten die schon erwähnten Zillertaler, welche sich stets darauf verstanden, eher nebensächliche Produkte geschäftstüchtig mit alpiner Etikette zu vertreiben. Am Anfang handelten sie mit selbst gepressten Steinölen und Salben. Diese Tiroler Ölträger zählten schon im 18. Jahrhundert unter die vazierenden Heilsbringer, zu einer Zeit, als Wanderärzte und Wunderheiler auch auf Jahrmärkten ihre Künste anboten. Schon dem neunjährigen Peter Prosch borgte ein Zillertaler Theriak- und Ölfabrikant Waren im Wert von 3 Gulden 9 Kreuzer, und Peter folgte dem Beispiel der vielen, die ihr Brot mit einer Handelschaft außer Landes suchten. Als er dann am Fürstenhof der 81 WOPFNER: Bergbauernbuch (wie Anm. 11), Bd. 1, 366. 82 Als Viechtau bezeichnete man die oberösterreichische Landschaft zwischen Traunsee und Attersee. GERTRAUD LIESENFELD: Viechtauer Ware. Studien zum Strukturwandel einer Hausindustrie in Oberösterreich mit besonderer Berücksichtigung der letzten 100 Jahre (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-histor. Klasse, Sitzungsberichte 479), Wien 1987; ALOIS MOSSER: Zur sozialen Stellung der Viechtauer Holzschnitzer. In: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 8 (1974) (= Beiträge zur Rechts-, Landes- und Wirtschaftsgeschichte. Festgabe für Alfred Hoffmann zum 60. Geburtstag), 487–501.
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Thurn und Taxis Beschäftigung als Läufer fand, verkaufte er flugs seine Apotheke einem Tyroler83. Danach gelang es dem munteren Burschen sogar, das Herz der Kaiserin Maria Theresia zu erweichen, und er kam mit ihrer Hilfe zu Haus, Schankrecht und Heirat. Später verlegten sich die Zillertaler auf den Handel mit angeblich selbst hergestellten gamsledernen Handschuhen, in Wahrheit industriell verfertigten Handschuhen aus sonstigem Leder. Schon damals steigerten sie ihren Absatz durch das gekonnte Rollenspiel des von Heimweh (Tiroler Krankheit) geplagten Naturburschen. Als sich das alpine Flair auch dieser Produkte verflüchtigte, vermarkteten die Sängergesellschaften Rainer (seit 1820), Leo, Stiegler, Rieser und viele andere den Alpencharme mit „Echten Tiroler Volksliedern“, und sie kamen damit „überall in Europa bis an die Fürstenhöfe“, ja selbst nach Amerika84. Wie beim Wandergewerbe ist auch beim Wanderhandel ein Trend zur Sesshaftwerdung festzustellen. Tatsächlich gelang es einer großen Zahl von Händlern, in Österreich und Süddeutschland dauernd Fuß zu fassen. Viele Namen großer Familien erinnern an diese italienische, respektive lombardische, friaulische oder venezianische Herkunft. Eine große Zahl der Münchner Kaufleute war im 18. Jahrhundert italienischer Herkunft. Ganze Dynastien und familiäre Netzwerke von Kaufleuten umspannten die Alpenländer und Donauprovinzen. Gelegentlich förderte die Obrigkeit die dauernde Niederlassung, um den unkontrollierten Strom des Wanderhandels abzustellen. Ein steirisches Gäuhandelspatent von 1751 gestattete, dass ein oder der andere Materialkrammer [mit seinen Skorpion-, Stein-, Lorbeer- und Wacholderölen sowie bestimmten anderen Drogen und Chemikalien] in gewissen Bezürken geduldet werden mögen, dass solche sich hingegen sonderlich in jenen Städten und Märckhten, alwo sie ihre Niederlagen zu halten pflegen, häuslich niederlassen, das Burgerrecht annehmen und mit ihren Hauspatenten versehen werden85.
Dieser Trend zur sesshaften Vertriebsorganisation sowie die Vernetzung des ganzen Landes mit ortsfesten Krämern bereitete jedoch dem Wanderhandel insgesamt ein Ende. Nicht wenige der welschen Wanderhändler ließen sich in der Fremde als gut situierte Kaufleute häuslich nieder86. Das große Warenlager des zugewanderten Salzburger Kaufmanns Christian Gordana umfasste im Jahre 1800 eine seitenlange Liste von Medikamenten, Pulverchen, Ölen und Tee87. Einige Zeit hielten die Zugewanderten über ein Netz von Klientel, Patronage und Abhängigkeit Kontakt zu ihrem Tal, dann verlor sich die persönliche Bindung. So wurde beispielsweise aus einem von Ravascletto stammenden De Infanti der deutsche Kaufmann 83 PETER PROSCH: Leben und Ereignisse, München 1789, 20 und 24. 84 OTTO STOLZ: Geschichtskunde des Zillertals (= Schlern-Schriften 63), Innsbruck 1949, 222. 85 Zitiert bei FRANZ LESKOSCHEK: Der Wanderhandel in der Steiermark vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Jahresbericht der Staatlichen Wirtschaftsschule Graz, Schuljahr 1939/40, 46. 86 CHRISTIANE REVES: Vom Pomeranzengängler zum Großhändler? Netzwerke und Migrationsverhalten der Brentano-Familien im 17. und 18. Jahrhundert (= Studien zur historischen Migrationsforschung 23), Paderborn 2012. 87 FORNASIN: Nel paese (wie Anm. 77), 503.
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Delefant der steirischen Stadt Weiz88. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert konnte man auch im gebirgigen und flachen Land die meisten Waren vor Ort oder wenigstens im nächsten Markt erwerben. Immer weniger Nischen blieben dem Wanderhandel, beispielsweise die Sammlung von Pränumeranden (Abonnenten) für Zeitschriften und Druckbilder, der Vertrieb von Mausefallen oder Tierarzneien. Die Wanderhändler kamen „aus dem Geschäft“, und noch rascher als jener der Wanderarbeiter verebbte der Strom der Händler seit Mitte des 19. Jahrhunderts, um schließlich überhaupt zu versiegen. X. Gemeinsamkeiten So zeigt sich bei aller Formenvielfalt auch Gemeinsames, ergeben sich gewisse Muster innerhalb der Variationsbreite. Es handelt sich bei Wanderarbeit wie Wanderhandel stets um temporäre vazierende wirtschaftliche Tätigkeit, um zeitweilige Auswanderung für ein paar Monate, eine Saison oder auch für einen ganzen Lebensabschnitt bei zumeist sicherer Rückkehr in die agrarische Existenz. Wanderarbeit und Wanderhandel waren also agrarische Nebengewerbe; daher orientierten sie sich zumeist am Rhythmus der anfallenden landwirtschaftlichen Arbeiten. Man wanderte in Phasen geringerer Beanspruchung durch die Landwirtschaft. Dieses Grundmuster einer wechselseitigen Abhängigkeit von Landwirtschaft und vazierendem Erwerb war vielfältig nach Alter, Geschlecht, landwirtschaftlichem Ökotypus etc. gegliedert. So wanderten zwar zumeist die Männer, doch in anderen Fällen Männer und Frauen bestimmter Alterskohorten, gelegentlich auch nur Frauen. Auch soziale Differenzierungen sind festzustellen, indem je nach Umständen eher die begüterten Bauern oder Wirte, in anderen Fällen eher die weniger begüterten oder landlosen Schichten wanderten. Gelegentlich verursachte die einträgliche Wandertätigkeit eine saisonale oder dauernde Zuwanderung aus anderen alpinen Gegenden zur Besorgung der landwirtschaftlichen Arbeiten. Wieder in anderen Fällen löste sich das Vazieren von der engen Bindung an eine nennenswerte landwirtschaftliche Existenz, und es entstand eine Schicht von Spezialisten, die beinahe ausschließlich durch Wandertätigkeit ihr Leben alimentierte. Außerdem war häufig das örtliche Heimgewerbe eng mit der vazierenden Wirtschaft verbunden, indem die vor Ort, oft in der Wintersaison, erzeugten oder veredelten Waren vertrieben wurden. Dieses vazierende Wirtschafts- und Lebensmodell war ein Gruppenphänomen. Als „Zillertaler“ oder krainische „Gottscheberer“ (die mit Holzwaren handelten) wurden sie mit ihren Tal- und Regionsnamen identifiziert. Daher war die Wanderwirtschaft zumeist durch ein hohes Maß an Kooperation gekennzeichnet. Gemeinsam wurden die Reisevorbereitungen getroffen, in kleineren oder größeren Gruppen ging man gemeinsam auf die Reise; man folgte bestimmten vorgegebenen Routen, traf einander an bestimmten Stützpunkten89, unterstützte einander in 88 Mündlich tradierte Familiengeschichte Sigilde Haas-Ortner, Salzburg-Bergheim. 89 FONTAINE: Histoire (wie Anm. 15), 27.
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Notfällen, sicherte den Informationsfluss untereinander und nach Hause, kehrte oft in Gruppen wieder heim. Auf diese Weise wurde die Kohärenz von Dörfern und Talschaften auf die Solidargemeinschaft einer fahrenden Gruppe übertragen. Die weitläufigen Aktionsgebiete waren auf einzelne Rayons unterteilt. In solche „Gäue“ hatten die Lungauer Sauschneider Südosteuropa gegliedert. Auch die welschen Rauchfangkehrer hatten jeweils ihren Rayon, den sie zumeist von der Peripherie her erschlossen90. Außerdem waren oft die Märkte stillschweigend in großem Stil aufgeteilt. So fand man die karnischen Händler und jene aus dem Canale del Ferro in Kärnten, Salzburg91, der Steiermark sowie im Reich in Bayern, Schwaben und der Pfalz. Später folgten die karnischen Händler der nach den siegreichen Türkenkriegen expandierenden Habsburgermonarchie in den europäischen Südosten92. Auch für die reibungslose Fortführung der heimischen Angelegenheiten war zu sorgen. Daher wanderten oft nur bestimmte Alterskohorten oder Familienmitglieder bzw. Altersgenossen. In diesen Fällen erledigten die zu Hause gebliebenen Geschwister, Frauen oder Männer, auch die Arbeit der saisonal ausgewanderten und tauschten in der folgenden Saison mit diesen die Rolle93. Oft wurde auch das Warensortiment durch heimische Kredite finanziert. Wichtig war ferner der geregelte Erwerb von Qualifikationen, sei es im Dorf selbst, sei es während des Wanderns94. XI. Zum räumlichen Verteilungsmuster Die vazierende wirtschaftliche Tätigkeit wurde vorwiegend von der romanischen und slowenischen Bevölkerung südlich des Alpenhauptkamms betrieben; dazu kamen als inneralpine Gebiete Graubünden, Vorarlberg und das westliche Tirol sowie das nordalpine Savoyen. So waren alle ethnischen alpinen Gruppen von den Slowenen über die Friauler, die Deutschen, Ladiner, Piemonter, Lombarden, die Okzitanier und die Franko-Provenzalen am Phänomen Migration beteiligt. Jedes der Migrationsgebiete spezialisierte sich langfristig auf bestimmte Zweige. Für das Engadin, Puschlav, Bergell, Münstertal und Albulatal, teils auch für die Land90 WALTER AUMAYR: Die Reisen der Sauschneider. In: ALFRED STEFAN WEISS, CHRISTINE MARIA GIGER (Hg.): Reisen im Lungau. Mit alten Ansichten aus drei Jahrhunderten (= Salzburg Archiv 25/1998), 151–171; Trachtenbilder des ausgehenden 18. Jahrhunderts überliefern einen Lungauer „Schweinsschneider, wie er in die Fremde geht“, in der Linken den Knotenstock, über der Schulter einen Schnürsack, sonst in zeittypischer Kleidung, mit einem allerdings sehr breiten Hut und einem schlichten Mantel. 91 HERBERT KLEIN: I „materialisti“ della Carnia in età moderna. In: Ce falu? 30/1–6 (1954), 70– 88. 92 LAURENCE FONTAINE: Les Alpes dans le commerce européen (XVIe–XVIIIe siècles). In: La découverte des Alpes (= Itinera 12/1992), 130–152, hier 131–134. 93 LEONI: Wie Schmetterlingspuppen (wie Anm. 64), 177. 94 NORBERT FURRER u. a. (Hg.): Gente ferocissima. Mercenariat et société en Suisse (XVe– XIXe siècles). Recueil offert à Alain Dubois, Zürich 1997.
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schaft Davos und das Prättigau beispielsweise standen Zuckerbäcker und Cafetiers an erster Stelle95. Eine breitere Palette an Auswanderern, die aber wiederum nach Orten differenziert war, zeigt das Misox mit seinen Maurern, Glasern und Rauchfangkehrern, während sich im benachbarten Calancatal vor allem Harzgewinner und Pechsammler fanden96. Von der regionalen Herkunft der Zinngießer, Architekten und Stukkateure war bereits die Rede. Die Fähigkeit zum Umlernen auf die Vermarktung neuer Produkte kam schon am Zillertaler Beispiel zur Sprache. Zu ergänzen ist die Konzentration bestimmter Schweizer Regionen, etwa des Berner Oberlands oder Mittelbündens, auf den Solddienst, gleichfalls eine hochspezialisierte auswärtige Profession. Auch die Migration aus dem Gebiet von Flitsch/Bovec am Isonzo/Soča veränderte im Laufe der Geschichte Profession und Richtung97. Seit dem 16. Jahrhundert zogen die Männer zeitweise zu auswärtigen Bergwerken, doch verzeichnete das hintere Tal auch Zuwanderung in den im Tal selbst betriebenen Bergbau und das Hüttenwesen. Bis 1880 dauerte außerdem die saisonale Arbeitsmigration der Flitscher als Holzfäller in den Wäldern Slawoniens, der Bukowina, Bosniens und Siebenbürgens an. In großem Stil wurde im 18. und 19. Jahrhundert von Flitsch aus das Hausiergewerbe betrieben, dessen zeitlicher Beginn leider nicht bekannt ist, der aber mit Sicherheit von der Liberalisierung des Kolportagewesens im Habsburgerstaat profitierte. Auch hier beobachten wir die Spezialisierung auf recht unterschiedliche Produkte. Auf der untersten Hierarchiestufe standen die Čunjari, die Lumpensammler und -händler, die zugleich Borsten, Kochen, Hörner und Federn aufkauften. Die Havziravci, kräftige junge Männer um die Dreißig, handelten in bestimmten Bezirken mit Textilien, Galanteriewaren, Metall- und Lederprodukten sowie Schuhen. Sie kauften die Ware gegen Kredit beim Großhändler; einige von ihnen konnten sich in der Fremde als Kaufleute etablieren. Die geschäftstüchtigen Suknarji schließlich handelten mit Tuch; sie hatten für die groben Arbeiten einen Knecht, der sie auf der Reise begleitete. Die Optikarji verdienten recht gut als Augenärzte und Optiker. Die Erschließung des Bergbaus in Raibl/Rabelj bot den Flitscher Männern und jenen aus Mittelbreth/Log pod Mangartom einige Jahrzehnte lang eine sichere, aber schwere Arbeitsmöglichkeit. Viele junge Sloweninnen des Isonzotales wiederum gingen als Dienstmädchen, Haushälterinnen und Erzieherinnen in die Städte Triest und Görz. Sogar bis nach Ägypten verschlug es junge Frauen aus dem Gebiet von Flitsch/Bovec als Hausgehilfinnen und Ammen, und das schon zu Zeiten Österreich-Ungarns98. Die Frauen mancher slowenischer Dörfer lieferten Brot nach Triest oder erledigten Schneiderarbeiten99. 95 KAISER: Bündner Zuckerbäcker (wie Anm. 50), 511. 96 BÜHLER: Von Schustern (wie Anm. 53), 486. 97 DRAGO SEDMARK: Die wirtschaftliche und politische Migration der Bevölkerung des Flitscher Gebiets in den Jahren 1850 bis 1940. In: ANDREAS MORITSCH, GUDMUND TRIBUTSCH (Hg.): Isonzo Protokoll, Klagenfurt/Ljubljana/Wien 1994, 93–144, hier 93–104. 98 Ebenda, 105 f. 99 MARTA VERGINELLA: Ekonomija odrešenja in preživetja. Odnos do življenja in smrti na tržaškem podeželju (= Knižnica Annales 14), Koper 1996.
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Im ostalpinen Gebiet bilden Wanderarbeiter und Wanderhändler eine periphere Erscheinung. Eine nennenswerte Gruppe sind die „windischen Säumer“ des unteren Gailtales und – in geringerer Zahl – jene von Heiligenblut, Mallnitz und Windisch-Matrei, heute Matrei in Osttirol100. Sie besorgten bis ins ausgehende 18. Jahrhundert einen regen Tauschhandel von welschen Weinen gegen Salz aus Hallein, Berchtesgaden und Reichenhall, und zwar in einem weiten Aktionsradius bis hinunter nach Friaul und Görz und herauf bis in die Umgebung der Landeshauptstadt Salzburg. In ihrem Falle resultierte die Handelstätigkeit aus ihrer wichtigen Transitfunktion, lange Zeit als Träger, dann auch mit Pferden und schließlich nach dem Ausbau der Straßen über den Radstädter Tauern mit kleinen Wagen. So lösten sie sich von der reinen Hilfsfunktion für die Kaufleute und machten sich als Händler selbständig, während sonst die Bauern den Transitstrecken entlang nur im Nebengewerbe den Vorspann besorgten. Es mag sein, dass die kargen Erwerbsmöglichkeiten des unteren Gailtales diese wirtschaftliche Innovationsfreudigkeit begünstigten oder dass die dort auf den sauren Talwiesen florierende Pferdezucht den Einstieg in den Transithandel erleichterte. Eventuell mag auch eine Kombination dieser beiden Faktoren an der strategisch günstigen Kreuzung der Tauernstraßen mit dem „schrägen Durchgang“ durch die Ostalpen handlungsrelevant gewesen sein. Nachweislich seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert frequentierten Gailtaler Händler die Alpenpässe, während beispielsweise die Pinzgauer Pferdezüchter kaum in den Handel einstiegen, was vermutlich auch mit obrigkeitlichen Steuerungen zusammenhängt. Die Säumerei war ein bäuerliches Nebengewerbe, in welches die größeren Bauern und Wirte als Großsäumer mit 20 bis 30 Rossen und „Lohnsämern“ und die Kleinbauern als kleine Säumer mit einem Ross und Kreditware einstiegen. Folgerichtig orientierte sich die Säumerei am landwirtschaftlichen Rhythmus: Anbau- und Erntezeit waren dem heimischen Betrieb vorbehalten, Frühsommer und Herbst der Säumerei. Freilich handelten auch die „windischen Säumer“ nur mit wenigen Produkten: Wein gegen Salz, gelegentlich Eisenwaren, Blei, Honig, Weinessig, Obst oder nach beiden Richtungen Getreide. Als schließlich die Konkurrenz der billigeren Transporte auf den neuen Fahrstraßen und zollpolitische Maßnahmen des beginnenden 19. Jahrhunderts den Saumhandel mit den beiden Hauptgütern beendeten, war es mit der Handelstätigkeit vorbei. Die Gailtaler stiegen nicht auf neue Handelsprodukte um, sondern kehrten zu Landwirtschaft und Bergbau zurück, gerade als der Wanderhandel andernorts, beispielsweise aus dem benachbarten Friaul, erst seinem Höhepunkt zustrebte. Das legt den Schluss nahe, dass die Gailtaler Säumerei eine zwar wichtige, aber unter den Voraussetzungen stabiler landwirtschaftlicher Besitzverhältnisse nicht existenznotwendige Tätigkeit darstellte, anders als südlich der Alpen, wo Wanderhandel und Wandergewerbe strukturell mit Hofteilung und einem großen Anteil an nicht landwirtschaftlicher Ökonomie gekoppelt waren. Eine plausible Antwort setzt freilich lokalgeschichtliche Studien solcher vernetzter Ökosysteme vo-
100 Zum folgenden HERBERT KLEIN: Der Saumhandel über die Tauern. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 90 (1950), 37–114, hier 56.
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raus. Auch im krainischen Mittelbreth/Log pod Mangartom verdienten die Bauern ein Zubrot mit Vorspann, Straßeninstandhaltung und Schneeräumen101. Sonst lassen sich nur wenige ostalpine Beispiele für temporäre auswärtige Professionen nennen, etwa die bereits erwähnten Lungauer Sauschneider, welche in einem großen südosteuropäischen Aktionsradius ihrem gut nachgefragten Geschäft nachgingen. In der Steiermark spielte die auswärtige Holzarbeit eine gewisse Rolle. Vereinzelt lesen wir im 18. Jahrhundert auch von saisonaler Arbeitsmigration ins „Österreichische“. Ausser der Schnittarbeit (Kornschnitt) in Österreich, in welche mein Mann jährlich gehet, leben wir lediglich von Betteln, bekannte 1782 eine in Fürstenfeld aufgegriffene Vagantin unbekannter Herkunft102. Ein weiteres Beispiel ostalpiner saisonaler Arbeitsmigration bieten die Kärntner Liedersänger, die gleich den Tirolern als „Natursänger“ auf Tournee gingen103. Die soziale Zusammensetzung der „Kärntner Nationalsänger Gesellschaft aus Klagenfurt“, des 1856 in die Öffentlichkeit tretenden Mischitz-Quintetts, verweist auf ein städtisches bzw. gewerbliches Ambiente: Mitglieder waren ein Sänger und Lautenspieler, ein Seifensieder, ein Posamentiergeselle, ein Zimmermaler und ein (späterer) Gastwirt. Das Quintett kam weit herum bis nach Wien, Laibach, Berlin, Kopenhagen und 1863 gar bis nach St. Petersburg und London104. Damit begründete es eine Tradition, der weitere Kärntner-Liedersänger mit ihren Darbietungen im Land und auswärts, beispielsweise in Salzburg, folgten. Davon abgesehen waren die Ostalpenländer nördlich der Tauern, der Karnischen Alpen und der Karawanken hauptsächlich als Auftraggeber und Käufer in den Wirtschaftskreislauf von migrierenden Handwerkern und Händlern eingebunden. Ein buntes Spektrum solcher Vazierender aus dem südalpinen Bereich und den Karpaten bereiste etwa die Steiermark, „Gottscheberer, Katzelmacher, Tiroler Teppichhändler, schlesische Leinwandhändler, Bandlkramer [aus dem niederösterreichischen Bandlkramerlandl um Groß-Siegharts], Zwiefelkrowoten, slowakische Geschirrverkäufer, Figurimänner, Salamamutschihändler, Lungauer Sauschneider usw.“105. Nach Kärnten brachten Hausierer beispielsweise die schönen Pustertaler Borten, mit denen Decken, Tücher und Polster verziert wurden106. 101 VINCENC RAISP: Die Bevölkerungsentwicklung in den Julischen Alpen unter dem Einfluss der Isonzo-Straße. In: THOMAS BUSSET, JON MATHIEU (Hg.): Mobilité spatiale et frontières. Räumliche Mobilität und Grenzen (= Histoire des Alpes. Storia delle Alpi. Geschichte der Alpen 1998/3), Zürich 1998, 295–307, hier 299. 102 AMMERER: Heimat Straße (wie Anm. 57), Kap. 9.1. 103 Solche Tiroler Musikanten – also mit Instrumentbegleitung – finden sich immer wieder in der Memoirenliteratur. Vgl. LUDWIG GIERSE: Das Salzburger Tagebuch des Malers Friedrich Baudri aus dem Jahre 1836. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 117 (1877), 269–370, hier 318. 104 ANTON ANDERLUH: Musik in Alt-Klagenfurt. In: DERS.: Zu Lied und Musik in Kärnten (= Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 70), Klagenfurt 1987, 94–183, hier 100–102. 105 JONES: Wanderhändler (wie Anm. 4), 285. 106 FRANZ KOSCHIER: „Es ranken Blumen aus dem Herzen, es hüten Hirsch und Pfau“ (Zur Kärntner Kreuzstichstickerei). In: Festgabe für Oskar Moser. Beiträge zur Volkskunde Kärntens (= Kärntner Museumsschriften 55), Klagenfurt 1974, 141–159, hier 144.
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Salzburg schließlich war Durchzugsland für Wanderarbeiter und Wanderhändler. Auf den Holzwänden des Krimmer Tauernhauses kann man bis heute die Informationen lesen, welche die Vazierenden einander mitteilten. XII. Wanderarbeit und Wanderhandel in der Herkunftsregion Zuletzt sind Wanderarbeit und Wanderhandel im Herkunftsfeld zu verorten. Jedenfalls waren sie untrennbar mit der Ökonomie von Dorf und Tal verbunden. Der in der Fremde erwirtschaftete Erlös floss nach Abzug der Kosten zurück in die vorwiegend agrarischen Herkunftsgebiete. Erst dieser Anteil der vazierenden Wirtschaftstätigkeit an der Gesamtökonomie der einzelnen bäuerlichen Anwesen bzw. der Region erlaubte das „dörfliche Überleben“. Es musste Jahr für Jahr ein Teil der zumeist männlichen, manchmal jedoch auch weiblichen Bevölkerung temporär auswandern, um für diese Zeit die Zahl der Esser zu vermindern bzw. um die überlebenswichtigen Transferleistungen zu beschaffen. Einige der Migranten(gruppen) wurden zwar in der Fremde als Professionisten und Kaufleute sesshaft. Doch auch sie blieben in aller Regel mit dem Herkunftsmilieu verbunden, aus dem sie beispielsweise immer wieder Kinder von Verwandten und Nachbarn in ihre Betriebe holten. Viele kehrten im Alter wieder in die Heimat zurück. Wenn nicht auf andere Weise, so sollte jedenfalls die Stiftung einer Kapelle oder eines Kirchenaltars die Erinnerung an die in der Fremde reich Gewordenen aufrechterhalten. In vielen Gegenden wurden die auswärts verstorbenen Talbewohner in die Kirchenmatrikel eingetragen107. Sind also Wandergewerbe und Wanderhandel durch „Überbevölkerung“ bedingt, hervorgerufen durch „un certain déséquilibre entre le nombre des habitants et les ressources nourricières“108? Die Monographie „Europa in Bewegung“ resümiert dazu in wenigen Worten: „Hintergrund war in beiden Fällen meist ein Mißverhältnis von Bevölkerungswachstum und Erwerbsangebot, das sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts besonders auf dem Land verschärfte“109. Nun steht außer Zweifel, dass Wanderarbeiter und Wanderhändler auffallend häufig aus wirtschaftlich benachteiligten Talschaften und Regionen kamen. Auch das Nordtiroler Stanzertal, das Osttiroler Defreggental und Karnien waren Ungunstlagen, sei es in Bezug auf klimatische Verhältnisse, Bodenbonität oder Höhenlage. Die klassischen Piemonter, Tessiner und Bündner Migrationsgebiete hingegen waren keineswegs topographisch benachteiligt. Doch auch in diesen Fällen war wirtschaftliche Migration als zusätzliche Erwerbsquelle und zur zeitweiligen Verringerung der Esser vonnöten. 107 FORNASIN: Nel paese (wie Anm. 77), hier 501 f. 108 JEAN-PAUL LEHNERS: Quelques réflexions sur les migrations. In: ANTOINETTE REUTER, DENIS SCUTO (Hg.): Itinéraires croisés. Luxembourgeois à lʼétranger, étrangers au Luxembourg. Menschen in Bewegung. Luxemburger im Ausland, Fremde in Luxemburg, Luxemburg 1995, 15–57, hier 49. 109 BADE: Europa in Bewegung (wie Anm. 15), 18.
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So ist zu fragen, ob Armut die direkte Ursache der zeitweisen Emigration war oder nicht umgekehrt erst Wanderarbeit und Wanderhandel eine Bevölkerungsvermehrung bewirkten. Die demographischen Verschiebungen sind ja nicht bloß eine mehr oder weniger gelungene Adaption an gleichbleibende (land)wirtschaftliche Verhältnisse. Auch rechtliche und kulturelle Faktoren sowie Veränderungen der Produktionsweise beeinflussen nachhaltig die demographische Entwicklung. Tatsächlich spiegelt das alpine räumliche Verteilungsmuster der wirtschaftlichen Migrationsgebiete nicht bloß die regionalen Unterschiede zwischen landwirtschaftlichen Gunst- und Ungunstlagen, sondern zugleich die unterschiedlichen Erbsitten zwischen Anerbenrecht und Realteilung in ihrer nord- und südalpinen Variante. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass das in den habsburgischen ostalpinen Ländern zuerst gesetzliche und dann usuell beibehaltene Anerbenrecht die Beibehaltung lebensfähiger landwirtschaftlicher Betriebe anstrebte und die weichenden Erben in den Status von Dienstboten absanken oder allenfalls abwanderten110. „Späte Heirat“ und ein hoher Anteil von Ledigen an der Gesamtbevölkerung hielten den Anstieg der Bevölkerung gering111. Bezeichnend für diese ostalpinen Verhältnisse ist die lange Beibehaltung des sogenannten politischen Ehekonsenses, welcher der Obrigkeit und später, von 1848 bis 1891, den politischen Gemeinden das Recht einräumte, die Erlaubnis zur Eheschließung nur bei wirtschaftlicher Subsistenz zu gewähren. Zusätzliche obrigkeitliche Steuerung und kulturpolitische Maßnahmen, beispielsweise eine intensive Frömmigkeitspflege und die geistlichen Berufe, hielten den „Bevölkerungsdruck“ vergleichsweise niedrig. Im Mittelpunkt dieser ostalpinen agrarischen Wirtschaftslogik stand die Erhaltung des ungeteilten Hofes, der nach dem Prinzip der Selbstversorgung möglichst alle benötigten Produkte selbst erzeugte und nur das unbedingt Notwendige zukaufte. Das Anerbenrecht war daher in den ostalpinen Ländern tendenziell mit einer konservativen Wirtschaftsmentalität gekoppelt, die sich nur solchen Veränderungen erschloss, welche nicht zugleich ihre Grundstruktur tangierten. Diese stabile Wirtschaftsordnung war nicht zuletzt die Folge obrigkeitlicher Eingriffe, da der Staat die Beibehaltung lebensfähiger Hofgrößen garantieren wollte. Im Salzburger Beispiel förderte der geistliche Staat zwar die für die ärarischen Bergwerke notwendigen bäuerlichen Nebenbeschäftigungen in der Holzbringung und der Köhlerei; doch nur restriktiv gewährte die Obrigkeit außerhalb der Städte und Märkte nichtagrarische Professionen und nur widerwillig, daher selten, erteilte sie Hausierkonzessionen. So kam es, dass die aus der tessinischen Calanca stammenden Harzsammler auch im Salzburgischen und in Bayern ihrem Gewerbe nachgingen, weil 110 MICHAEL MITTERAUER: Formen ländlicher Familienwirtschaft. Historische Ökotypen und familiale Arbeitsorganisation im österreichischen Raum. In: JOSEF EHMER, MICHAEL MITTERAUER (Hg.): Familienstruktur und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften, Wien 1986, 185–232; JOHN W. COLE, ERIC R. WOLF: Die unsichtbare Grenze. Ethnizität und Ökologie in einem Alpental. Mit einem aktualisierten Vorwort der Autoren und einem Nachwort von Reinhard Johler (= Transfer Kulturgeschichte 3), Wien/Bozen 1995, 230 ff. 111 NORBERT ORTMAYR: Späte Heirat. Ursachen und Folgen des alpinen Heiratsmusters. In: Zeitgeschichte 16 (1989), 119–134.
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sich für diese eher dürftige Profession keine örtlichen Interessenten fanden112. Das war vielleicht sogar im ostalpinen Bereich ein Extremfall, kennzeichnet aber den Gesamttrend. Jedenfalls konnte sich in diesem Ambiente eine vazierende Wirtschaft nur in bescheidenen Ansätzen entwickeln. Ganz anders lagen die Dinge im Realteilungsgebiet. Weil hier das Erbrecht die Teilung der Hofstellen, Eheschließung und Kinderreichtum erleichterten, wurde eine alternative wirtschaftliche Tätigkeit notwendig. Es war also die Erbsitte, welche die vazierende Wirtschaftstätigkeit möglich und notwendig machte. Die Realteilung hat gewiss verschiedene Ursachen. In der Schweiz mag sie mit dem weitgehenden Wegfall leibherrlicher Rechte seit dem Spätmittelalter zusammenhängen. Auch die Fortgeltung römischrechtlicher Grundsätze im italienischen Gebiet mag eine Rolle spielen. Wieder in anderen Fällen, beispielsweise im Veltlin, förderte anfangs der Ertragsreichtum intensiver agrarischer Kulturen die Familien- und Hausstandsgründung; doch auch hier waren nach der Ausschöpfung der landwirtschaftlichen Gunstlage alternative wirtschaftliche Tätigkeiten erforderlich. Dennoch wurde auch im Realteilungsgebiet die wirtschaftliche Lebensgrundlage nicht durch Besitzzersplitterung zerstört. Geteilt wurde nur, solange die Kombination von landwirtschaftlichem Erwerb und migrierender Wirtschaftstätigkeit, bzw. in der Ostschweiz und Vorarlberg die protoindustrielle Beschäftigung, die Existenz sicherstellte. Auch landwirtschaftliche saisonale Arbeitsmigration aus der nördlichen Schweiz ins schwäbische Getreidegebiet schuf eine gewisse Abhilfe. Aus dem Montafon wiederum wanderten saisonal zur Erntezeit die Ährenleserinnen nach Schwaben sowie die Krautschneider mit ihrem sechsmessrigen Krauthobel ins Rheinland, nach Holland und nach Ungarn113. Im Extremfall des Tiroler Lechtales kam es so weit, dass im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts fast jeder zweite Mann im arbeitsfähigen Alter Mitglied der Zunfthauptlade in Bichlbach und damit auf Arbeitsemigration angewiesen war114. Im Mittelpunkt der Wirtschaftslogik der Realteilung stand jedenfalls die Sicherstellung des Familieneinkommens, gleichgültig ob aus agrarischem oder gewerblichem Verdienst, zu Hause oder in der Fremde. So konnten auch die Häuser je nach Bedarf für mehrere Familien als Wohnstätte dienen und im Eventualfall auch die Wirtschaftsgebäude und die Fluren aufgeteilt werden. Daher wurden in Karnien die Häuser zumeist nach Stockwerken untergliedert und im Südtiroler Vintschgau oft ganz zufällig auf die einzelnen Familien aufgeteilt. Dazu gesellte sich im italienischen Ethnikum generell eine gewisse Geringschätzung der agrarischen Tätigkeit und der ländlichen Lebensform, welche die zeitweilige vazierende Wirtschaftstätigkeit auch emotional aufwertete. Schließlich ist in weiten italienischen Gebieten noch das Übergewicht der Gemeinde als Grund- und Almenbesit112 BÜHLER: Von Schustern (wie Anm. 53), 488. 113 NIEDERSTÄTTER: Arbeit in der Fremde (wie Anm. 35), 107–109. 114 OTHMAR ASCHAUER: Tirolische Wander-Bauhandwerker aus dem Außerfern im 17.–19. Jahrhundert. In: TIROLER LANDESMUSEUM FERDINANDEUM (Hg.): Künstler, Händler, Handwerker. Tiroler Schwaben in Europa. Katalog der Tiroler Landesausstellung in Reutte und Breitenwang, Innsbruck 1989, 196.
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zer gegenüber dem geringen privaten bäuerlichen Landeigentum zu nennen, was insgesamt zu einer geringeren agrarischen Bindung und Innovationsfreudigkeit führte. Alle diese Faktoren führten zu einem eklatanten Ungleichgewicht zwischen agrarischer Subsistenz und Bevölkerung, welche durch Migration kompensiert wurde. XIII. Beispiele karnischer und tessinischer Wanderwirtschaft Der Zusammenhang zwischen Erbsitten und vazierender Migration ist also in groben Zügen gesichert115. Dennoch ist es nützlich, die komplexen Verhältnisse von lokaler agrarischer Existenz und saisonaler Wirtschaftsemigration aus der Mikroperspektive von Dorf und Tal bzw. auf der regionalen Ebene zu betrachten. Dafür gibt es zwei gut untersuchte südalpine Beispiele116. Karnien war durch die gesamte Neuzeit hindurch Migrationsgebiet, und zwar nach zwei Richtungen mit unterschiedlichen Wirtschaftstätigkeiten. Die Wirtschaftsmiganten aus den Dörfern des Hochgebirges hausierten mit Ölen und Gewürzen, wie Koriander, Nelken, Pfeffer, Zimt und Muskatnüssen, sowie mit Seide, Posamentierwaren, Gürteln und feinen Tüchern bis weit nach Süddeutschland und in den habsburgischen Ländern. Die Waren kauften sie größtenteils in der Metropole Venedig. Ihr Wanderhandel bildet daher einen Abschnitt der langen Handelskette vom Orient bis Mitteleuropa. Als „Materialisten“ wurden sie in den habsburgischen Ländern wegen ihrer exotischen „Handelsmaterie“ bezeichnet. Die Dörfer der südlichen Carnia hingegen wanderten mit ihren selbst produzierten Textilien in die ebene Terra ferma, nach Friaul und nach Istrien117. Sie waren Handwerker, die zum geringeren Teil im Tal erzeugte Rohmaterialien, überwiegend jedoch aus Kärnten und Schlesien zugekaufte Leinengarne zu Geweben von hoher Qualität verarbeiteten, vorwiegend eine Arbeit der daheim gebliebenen Frauen. So gesehen waren auch die Weber bzw. Textilhändler in eine internationale Arbeitsteilung integriert. Die Wirtschaftstätigkeit war in beiden Fällen zum Haupterwerb geworden. Die Männer verließen ihre Dörfer im Herbst, ehe der erste Schnee die Alpenpässe schloss, und sie kehrten auf den wieder frei gewordenen Straßen im Spätfrühling zurück. Manche blieben bei Bedarf länger auswärts und waren nur wenige Monate zu Hause. Häufig ließen sich die Männer die Ware nachliefern und blieben sogar mehrere Jahre in der Fremde. Das ganze familiäre und dörfliche Leben konzentrierte sich auf die wenigen Sommermonate. Im Sommer wurde geheiratet, zwischen März und Mai die Kinder gezeugt, die sodann mitten im Winter zur Welt kamen, wenn die Männer gerade fern der Heimat waren. Für die eigene Landwirtschaft blieb dabei wenig Zeit und Kraft; sie lastete schwer auf den Frauen und halbwüchsigen 115 JON MATHIEU: Geschichte der Alpen 1500–1900. Umwelt, Entwicklung, Gesellschaft, Wien/Köln/Weimar 1998, 107. 116 GIORGIO FERIGO: „La natura de cingari”. Il systema migratorio della Carnia durante lʼetà moderna. In: BUSSET, MATHIEU (Hg.): Mobilité spatiale (wie Anm. 101), 227–246. 117 Dazu auch FORNASIN: Nel paese (wie Anm. 77), 500 f.
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Kindern, und was diese nicht bewältigten, das wurde von landwirtschaftlichen Saisonarbeitern aus den umliegenden Alpentälern und einem weiten Einzugsgebiet bis nach Tirol geleistet. Diese Saisonarbeiter hüteten das Vieh, pflegten die Almen, verschnitten die Schweine, verkauften das Vieh, fällten das Brenn- und Bauholz und flößten es aus schwierigen Lagen in die Täler. Kurz gesagt, die Emigrantendörfer wurden ihrerseits zum Zielgebiet saisonaler Immigration, und zwar einer „armen“ Immigration im Gegensatz zu ihrer „reichen“ migrantischen Wirtschaftsform. Solche komplexen Verflechtungen waren offenbar nicht selten. Wir lesen auch aus dem sonst als arm beschriebenen Tessin, dass saisonale Kräfte die landwirtschaftlichen Arbeiten der auswärts in Vorarlberg beschäftigten TextilarbeiterInnen übernahmen. So kamen Frauen und Männer aus dem venezianischen Valle di Zoldo zur Heuernte ins Fleimstal und Frauen aus dem Posene bei Vicenza zum Tabakanbau nach Rovereto118. Graubünden verzeichnete gleichfalls auf dem Höhepunkt seiner qualifizierten Wirtschaftsemigration der Zuckerbäcker und Kaffeesieder eine nennenswerte und sogar dauerhafte Immigration von Handwerkern des täglichen Bedarfs, wie Tischler, Schlosser, Gerber und Schmiede119. Auch ins Isonzotal mit seiner eminenten Arbeitsemigration wanderten gleichzeitig Bäcker, Wirtsleute, Kaufleute und Fleischhändler zu, also sogar reichere Gewerbetreibende, die teils auch Kreditgeschäfte besorgten120. Die Gebirgsregionen wurden auf diese Art „ein kreisförmiges System sich ineinander ergießender Gefäße, wenn ein Gebiet von dort ansässigen Arbeiten verlassen wurde, rückten sofort andere nach: so wanderten die Bewohner des Trentino nach Südtirol und nach Vorarlberg aus, die Vorarlberger und Südtiroler hingegen in die Schweiz und nach Deutschland, die Venezianer ins Trentino“121. Die Migration führte zuletzt zu einem gewissen wirtschaftlichen Wohlstand, der sogar die Delegierung der landwirtschaftlichen Arbeit erlaubte bzw. erforderte. Daher spricht man auch von reicher gewerblicher im Gegensatz zu armer landwirtschaftlicher Migration. So hatte auch in den untersuchten karnischen Beispielen die Konzentration auf eine gewerbliche Tätigkeit Familien- und Hausstandsgründung außerordentlich gefördert, und im Regelfall wurde das Erbe auf alle Söhne ungeteilter Hand übergeben. Dennoch löste die vazierende Profession nicht die Bindungen an Haus und Land. Hier lebten die über viele Monate freilich auf Frauen, Kinder und Alte geschmolzenen Familien; hier wurde man begraben; und wer auswärts verstarb, erhielt hier eine förmliche Totenmesse mit allen örtlichen Gewohnheiten. Nicht zuletzt dienten die Immobilien als Sicherstellung für die Warenkredite. Nur wer auf diese Weise hypothekarfähig war, der konnte seiner migrantischen Haupttätigkeit nachgehen. Im Allgemeinen gewährten die Kir118 119 120 121
LEONI: Wie Schmetterlingspuppen (wie Anm. 64), 171 f. BÜHLER: Von Schustern (wie Anm. 53), 492. SEDMAK: Wirtschaftliche Emigration (wie Anm. 97), 104 f. LEONI: Wie Schmetterlingspuppen (wie Anm. 64), 171; RENÉ DEL FABBRO: Transalpini. Italienische Arbeitswanderung nach Süddeutschland im Kaiserreich 1870–1918 (= Studien zur historischen Migrationsforschung 2), Osnabrück 1996.
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che, die Bruderschaften oder Private die Waren selbst gegen mäßigen Zins; die Rückzahlung erfolgte aus dem Warenerlös. Beinahe alle Grundstücke der untersuchten Dörfer waren hypothekarisch belastet122. Dazu muss man wissen, dass sich in den karnischen Dörfern nur ein kleiner Teil des Landes, nämlich die Acker- und Wiesenflächen um das Dorf herum, in Privatbesitz befand, während die – von den Saisonarbeitern bewirtschafteten – großen Weideflächen Gemeindebesitz waren. Das ohnehin schon auf Zwergbesitz geschmolzene Privatland wurde wegen seiner Funktion im Handelssystem weit über seinem tatsächlichen Wert im venezianischen Gesamtmaßstab, bisweilen auf das Zehnfache, bewertet, weil es hier nicht um Bodenrente, sondern um seinen Hypothekarwert für nicht landwirtschaftliche Tätigkeit ging. Wandern konnte aber nur, wer hypothekarfähig war, um den nötigen Kredit für die Ware aufzubringen. Ähnlich war es in Savoyen, wo ebenfalls der eher begüterte Teil der Talbewohner, und zwar beinahe ausschließlich Männer, dem Wanderhandel nachging. „Denn wer als Händler ins Ausland wollte, brauchte ein Startkapital für eine ordentliche Ausrüstung und für Waren.“ Die ärmeren grangers, Taglöhner, blieben zurück und besorgten gemeinsam mit den Frauen die Landwirtschaft123. So wurde in Karnien das Gleichgewicht von Bevölkerung und wirtschaftlichen Ressourcen durch ein sehr komplexes System hergestellt, in welchem die Bindung an die Örtlichkeit einen entscheidenden wirtschaftlichen Stellenwert erhielt, während die Landwirtschaft selbst eine relativ geringe Rolle im gesamtwirtschaftlichen Kalkül einnahm. Auch das Tessiner Beispiel zeigt die lokal unterschiedliche Adaption der Wanderwirtschaft an die ökologischen Verhältnisse124. Luigi Lorenzetti unterscheidet in den untersuchten Gebieten drei unterschiedliche Mischungsmodelle, Phänomene der pluriactivité. Im ersten Modell des Valmaggia handelt es sich um einen Exodus der Männer bis zum Alter von vierzig bis fünfzig Jahren das ganze Frühjahr und den Sommer über, während die landwirtschaftliche Arbeit in dieser Zeit alleine von Frauen, Kindern und älteren Männern zu erledigen war. Hier nahm die Arbeitsmigration also einen hohen Stellenwert in der Wertschöpfung ein. Sie war dennoch angesichts der geringen Qualifikation der Migranten nicht sehr einträglich und reichte eben zur Bezahlung der Steuern und zur Besorgung der am Hof nicht erzeugten unerlässlichen Grundmaterialien. So gesehen behielt die Landwirtschaft ihren zentralen Stellenwert innerhalb der dörflichen Gesamtökonomie. Im zweiten Modell des Valle di Blenio kam es zu einem gewissen Ausgleich zwischen landwirtschaftlicher und migrantischer Wirtschaftstätigkeit. In diesem Fall wanderten die Männer lediglich im Winter in die Fremde und kehrten in der Wachstumsphase wieder zu ihrer vergleichsweise einträglichen Landwirtschaft heim. Im südlichen Hügelland des Kantons Tessin herrschte – neben der völlig anders strukturierten Gutslandwirtschaft der masserie – eine 122 FERIGO: La natura de cingari (wie Anm. 116), 244. 123 REUTER: Auf den Straßen Europas (wie Anm. 7), 27. 124 LUIGI LORENZETTI: Économie et migrations au XIXe siècle: Les stratégies de la reproduction familiale au Tessin (= Publications Universitaires Européennes, Reihe III, 485), Berlin u. a. 1999.
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Wirtschaftsform, in welcher hauptsächlich die Migration das Leben alimentierte, während die Landwirtschaft auf den geringen Anbauflächen nicht mehr als ein Zusatzeinkommen verschaffte. So sind also auf engem Raum drei ganz unterschiedliche Modelle festzustellen, die jeweils aufgrund unterschiedlicher ökologischer Verhältnisse oder Besitzstrukturen der saisonalen Wirtschaftsmigration unterschiedliches Gewicht und Gesicht verliehen. Insgesamt stellen die vazierenden Wirtschaftstätigkeiten ein Zeichen für die Fähigkeit dar, die Zahl der zu versorgenden Menschen auf die gegebenen Verhältnisse anzupassen, nicht umgekehrt die Bevölkerung den unveränderten Chancen des Lokalen zu unterwerfen: Wanderwirtschaft als Chance, nicht als Notlösung. Die unleugbar hohe Bevölkerungsdichte war, so gesehen, erst eine Begleiterscheinung der vazierenden Wirtschaft, und jene wurde auf diese Weise sekundär zur Überlebensnotwendigkeit. Klassische Erwerbsarbeit mit einer Konzentration auf eine wirtschaftliche Tätigkeit und einer strikten Trennung von Arbeit und Freizeit war die Wanderarbeit jedoch nicht. Sie stellte eher eine Addition an Erwerbsmöglichkeiten dar, ein systematisches Ausschöpfen sich bietender Gelegenheiten, ein Phänomen der pluriactivité in der Terminologie von Luigi Lorenzetti. Jedenfalls wirkten in der vazierenden Ökonomie zugleich wirtschaftliche wie mentale Elemente, auf der einen Seite die unbestreitbare Armut einer Parzellenwirtschaft, auf der anderen Seite die erlernte Bereitschaft zum zeitweisen auswärtigen Verdienst. Es war eben nicht nur „die Knappheit der landwirtschaftlichen Nutzfläche, deren geringe Produktivität, die hohen Steuern und […] die strengen Vorschriften für die Waldnutzung“ zu Lasten der Viehwirtschaft; nicht weniger wirkten „psychologische und persönliche Gründe“, welche die Trentiner Männer und Frauen zur Arbeitsmigration ermunterten, rekapitulierte das örtliche Arbeitsvermittlungsamt 1914125. XIV. Schluss Generell wird das in der Bevölkerungswissenschaft so lange beliebte Paradigma der Überbevölkerung als Ursache temporärer oder endgültiger Migration in Frage gestellt. Es gibt keinen objektiven Maßstab, jene Überbevölkerung zu messen, welche gleichsam naturnotwendig ein Ventil sucht; darauf hat Josef Ehmer hingewiesen126. Wanderungen sind daher durch vielfältige Faktoren beeinflusst, gewiss auch durch Pull-Faktoren, welche ein besseres Leben versprechen, aber ebenso durch die Vorbildwirkung. Außerdem sollte nicht die Fähigkeit traditionaler Gesellschaften zur Regelung ihrer demographischen Verhältnisse unterschätzt werden. Man weiß heute aus vielen Lokalstudien, dass die alpine Gesellschaft durchaus in der Lage war, eine annähernd ausgeglichene Balance zwischen Be125 LEONI: Wie Schmetterlingspuppen (wie Anm. 64), 172. 126 JOSEF EHMER: Migration und Bevölkerung. Zur Kritik eines Erklärungsmodells. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 27 (1998), 1–25; dazu ANNA ZSCHOKKE: Die europäischen Wanderhandelssysteme. Phil. Dipl. Wien 2011, 36–39.
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völkerung und materiellen Ressourcen zu halten, sei es durch die schon erwähnten Erbsitten, durch faktische Geburtenkontrolle oder durch späte Heirat. Auch im Realteilungsgebiet wurde durch eine Kombination mehrerer Faktoren, beispielsweise das Ausweichen in geistliche Berufe, diese Bilanz gehalten. Die Vorstellung einer autarken und selbstgenügsamen geburtenreichen Alpenwelt, welche mit ihrem Bevölkerungsüberschuss die Ebenen alimentierte, ist obsolet geworden127. Nur wenn die Rahmenbedingungen stimmten, wie in den behandelten Realteilungsgebieten, dann erlaubte die migrantische Wirtschaftsweise eine neue Balance zwischen Nahrungsquellen und Bevölkerungsvermehrung.
127 PIER PAOLO VIAZZO: Migrazione e mobilità in area alpina: Scenari demografici e fattori socio-strutturale. In: BUSSET, MATHIEU (Hg.): Mobilité spatiale (wie Anm. 101), 37–48.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 35 (2017), S. 67–92
DER SCHLINGEN- UND SPITZENHANDEL IM 17. UND 18. JAHRHUNDERT IM SALZBURGER FLACHLAND Monika Thonhauser ABSTRACT Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Wanderhandel, einer wichtigen Voraussetzung für den nicht-landwirtschaftlichen Zuerwerb in der Frühen Neuzeit, der auch für den Schlingen- und Spitzenhandel in den Pfleggerichten nördlich und östlich der Residenzstadt Salzburg eine Rolle spielte. Die Ausübung des Spitzenhandels wird auf der Grundlage der zahlreichen Eingaben der Schlingen- und Spitzenhändler an die Hofkammer beleuchtet. Neu auftretende Konkurrenz und unrechtmäßige Handelstätigkeiten von Fürkäufern und Hausierern, die zu großen Spannungen innerhalb der Händlerschicht führten, sind ebenso dokumentiert wie die Handhabung des Verlags und die Probleme, die sich durch Absatzschwierigkeiten oder minderwertige Ware ergaben. Nachgezeichnet werden die oft prekäre Situation der Spitzenhändler, die einen Zweit- oder Drittberuf erforderlich machte, und der Aktionsradius bzw. die Gestaltung der Handelsreisen von Spitzenhändlern oder von den von ihnen beauftragten Kraxenträgern. Mit dem Auslaufen der Spitzenklöppelei gegen Ende des 18. Jahrhunderts – die Frauen suchten nun in weniger mühsamen Tätigkeiten ihren Broterwerb – und infolge neuer Zollregelungen der angrenzenden Exportländer kam der Spitzenhandel schließlich zum Erliegen. The following article focuses on the itinerant trade as an important pre-requisite for an additional non-agricultural source of income in the early modern period. This itinerant commerce also played an important role in the lace trade to the north and east of the residential city of Salzburg. The article explores this itinerant lace trade through the many submissions of lace traders to the Archbishop`s authority and documents not only newly emerging competition, namely the illegal trade of peddlers which led to rising tensions between merchants, but also the organization of this cottage industry and the problems that arose from selling inferior goods. The article also documents the precarious living conditions of lace traders, which often forced them to take on a second or third job, and explores the range and organization of the trade routes they themselves or their porters undertook. Lace-making declined towards the end of the 18th century due to many women finding a source of income in less arduous work and newly introduced customs regulations in export countries.
I. Handel und Wandel Die neuere Forschung zeigt ein wachsendes Interesse an der zentralen Bedeutung des Wanderhandels im Europa der Frühen Neuzeit, und mittlerweile liegt eine Reihe von Studien vor, die sich mit den Entstehungsbedingungen und den unter-
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schiedlichen Organisationsformen der ambulanten Distribution beschäftigt1. Ulrich Pfister betont, dass in der Frühen Neuzeit und teilweise noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der Wanderhandel „der Pionier der Konsumgesellschaft“ gewesen sei2. Wenn Pfister auf die besondere Rolle des Wanderhandels als eines nicht-landwirtschaftlichen Zuerwerbs hinweist und ihn als wichtige Voraussetzung für die Entwicklung kleinregionaler Wirtschaftsformen sieht3, so finden sich darin Merkmale, die auch für den ehemaligen Schlingen-4 und Spitzenhandel in den Salzburger Pfleggerichten nördlich und östlich der Residenzstadt Salzburg prägend waren5. Die historische Forschung behandelte um 1900 den Wanderhandel als überregionales Phänomen6, da dieser Erwerbszweig zu dieser Zeit noch sehr bedeutsam war. In diesem Zusammenhang verweist Höher darauf, dass das Forschungsthema 1
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Vgl. LAURENCE FONTAINE: History of Pedlars in Europe, Cambridge 1996; GERHARD AMMERER: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (= Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien 29), Wien/München 2003; RAINER BECK: Die „Kraxentrager“. Zur Ökonomie und Mobilität ländlicher Unterschichten im Oberbayern des 18. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Historischen Sozialkunde 19/3 (1989), 92–98; ROBERT BÜCHNER: Tiroler Wanderhändler. Die Welt der Marktfahrer, Straßenhändler und Hausierer, Innsbruck 2011; MARK HÄBERLEIN: Savoyische Kaufleute und die Distribution von Konsumgütern im Oberrheingebiet, ca. 1720–1840. In: ROLF WALTER (Hg.): Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 23.–26. April 2003 in Greifswald (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 175), Stuttgart 2004, 81–114; PETER HÖHER: Heimat und Fremde. Wanderhändler des oberen Sauerlandes, Münster 1985; HANNELORE OBERPENNING: Gewerbliche Warenproduktion und ländlicher Wanderhandel im 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 71 (1999), 169–186; RAFAEL PAULISCHIN: Die Packenträger sind der Verderb des ganzen Landes. Ambulante Distribution vom 18. bis ins 19. Jahrhundert, Dipl.-Arb., Univ. Salzburg 2009; WILFRIED REININGHAUS: Wanderhandel in Deutschland. Ein Überblick über Geschichte, Erscheinungsformen und Forschungsprobleme. In: DERS. (Hg.): Wanderhandel in Europa. Beiträge zur wissenschaftlichen Tagung in Ibbenbüren, Mettingen, Recke und Hopsen vom 9.–11. Oktober 1992 (= Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte 11), Dortmund 1993, 31–45. ULRICH PFISTER: Vom Kiepenkerl zu Karstadt. Einzelhandel und Warenkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 87/1 (2000), 38–66, hier 41. Ebenda, 42. Schlinge: einfacher Wäschebesatz, mit grobem Faden geklöppelt. Die als Meterware gefertigte Schlinge mit durchbruchartiger, kaum variierender Musterung lässt sich im Vergleich zur Klöppelspitze schneller herstellen. MARIE POSCH: Die Salzburger Spitzenklöppelei und der Spitzenhandel. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 51 (1911), 107–134; MONIKA THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land – eine textile Landschaft. Klöppelei, ein protoindustrieller Erwerbszweig der Frühen Neuzeit und im Konnex von Frauenerwerb und Heimatschutz nach 1900, Diss. Salzburg 2006. REININGHAUS: Wanderhandel in Deutschland (wie Anm. 1), 31. Reininghaus verweist auf die Beiträge führender Vertreter der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie, die 1889/99 in den „Schriften des Vereins für Socialpolitik“ erschienen sind: Untersuchungen über die Lage des Hausiergewerbes in Deutschland, Bd. 1–5, Leipzig 1889–1899, sowie Untersuchungen über die Lage des Hausiergewerbes in Österreich, Leipzig 1899.
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ohne Einbeziehung der gegebenen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen Gefahr laufe, den Wander- und Hausierhandel, der heute einen Randbereich des Einzelhandels darstellt, als ein „isoliertes lokales Phänomen und Kuriosität“ zu betrachten7. Die starke Zunahme des Wander- und Hausierhandels in der Frühen Neuzeit lässt sich auf ein Bündel von Faktoren zurückführen, die diesen Handelszweig in seinen verschiedenen Spielarten nicht allein erforderlich machte, sondern auch besonders förderte. Es entspricht dem Gedankengut der Merkantilisten im 17. und 18. Jahrhundert, dass ein tragfähiger Warenhandel nicht allein die Güterbeschaffung und den Geschäftsabschluss, sondern auch den Transport und den Finanzverkehr umfasste. Für Ökonomen wie Johann Joachim Becher, aber auch für Adam Smith waren Konsum und Nachfrage entscheidende Kriterien der Förderung von „Industrie“ und Gewerbe sowie der Ausweitung des Marktes. Allerdings stellten sie dabei nicht die Versorgung der unteren Schichten in den Mittelpunkt, sondern die Bedürfnisse einer breiten, kaufkräftigen Mittelschicht, für die in den verschiedenen vorindustriellen Wirtschaftszweigen wie der Manufaktur, der Hausindustrie und der ländlichen Heimarbeit Massenware produziert wurde8. Für England weist Joan Thirsk auf die Produktion von Massengütern im 16. und 17. Jahrhundert hin, welche unter Ausnutzung der Arbeitskraft von Unterbeschäftigten billig hergestellt und in vielen Variationen und differenzierten Preisstaffelungen unter die Leute gebracht wurden. Während das Hausinventar eines Landwirtes vor 1550 nur das Notwendige enthielt, findet sich in den Inventaren des späten 17. Jahrhunderts bereits eine Vielfalt an Hausrat, Wäsche und Kleidung9: Über die französischen Konsumenten des 18. Jahrhunderts schreibt John Brewer, dass die Entwicklung der Accessoires es auch weniger Wohlhabenden erlaubte, ihre Kleidung modisch zu akzentuieren. Mit Halstüchern, Borten, Spitzen, Knöpfen, Schnallen etc. konnten sie auf preisgünstige Weise ihre Kleidung den jeweiligen modischen Vorgaben anpassen10. Die staatlichen kameralistischen Verwaltungen besteuerten die Konsumgüter und waren daher am Konsumverhalten der Bevölkerung und der Ausbreitung des Warenverkehrs stark interessiert. Für sie sicherte der gesteigerte Konsum das Wohlergehen des Landes und dadurch wiederum die Macht des Souveräns11. Ein 7 8
HÖHER: Heimat und Fremde (wie Anm. 1), 1. ROMAN SANDGRUBER: Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert, Wien 1982, 11. 9 JOAN THIRSK: Economic Policy and Projects. The Development of a Consumer Society in Early Modern England, Oxford 1978, 106 u. 169–180. Vgl. RAINER BECK: Luxus oder Decencies? Zur Konsumgeschichte der Frühneuzeit als Beginn der Moderne. In: REINHOLD REITH, TORSTEN MEYER (Hg.): „Luxus und Konsum“ – eine historische Annäherung, Münster/New York/München/Berlin 2003, 29–46, hier 36. 10 Vgl. BECK: Luxus oder Decencies (wie Anm. 9), 36; ROY PORTER: Consumption: Disease of the Consumer Society? In: JOHN BREWER, ROY PORTER (Hg.): Consumption and the World of Goods, London/New York 1994, 58–82, hier 67. 11 Vgl. DOMINIK SCHRAGE: Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums, Frankfurt am Main/New York 2009, 58.
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wesentlicher Grund für den vermehrt auftretenden ambulanten Handel wird im starken Anwachsen der Landbevölkerung in der vorindustriellen Zeit gesehen, die sich im Zuge ihrer Anpassungs- und Überlebensstrategien neue Einnahmequellen erschließen musste. Die historische Migrationsforschung hat zu Beginn der 1980er Jahre das Missverhältnis zwischen einer Überbevölkerung und zu geringen wirtschaftlichen Ressourcen, das selbst grundsätzlich sesshafte Menschen zum saisonalen Wandern zwang, als krisenhaftes Phänomen interpretiert. Allerdings kommen neuere Studien im Bereich der historischen Demographie, in denen das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Ressourcen unter dem Einfluss des Ökosystemkonzepts im Blickfeld steht, zu dem Ergebnis, dass sich traditionale Bevölkerungssysteme durch soziale Strategien an den Nahrungsspielraum anpassen konnten und in der Migration ländlicher Bevölkerungsschichten nicht unbedingt ein Krisensymptom zu sehen ist12. So galten in verschiedenen Regionen in den bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten, aber auch unter den kleinen Gewerbetreibenden, die Form des gemischten Erwerbs und die Ausübung von mehreren Berufen gleichzeitig zur Existenzsicherung als durchaus normal. Olwen Hufton prägte dafür den Begriff economy of makeshifts, beschrieb also eine „Ökonomie des Notbehelfs“13, die alle Gelegenheiten wahrnahm, um das Überleben des Einzelnen oder des Familienverbandes zu sichern, sei es durch das Hausieren und Handeln mit allen verkäuflichen Dingen14, sei es durch erworbene Fähigkeiten und berufliche Kenntnisse, letztlich mittels Bettelei oder der Kombination aus all diesen Erwerbsformen, um ein zusätzliches Einkommen zu erzielen. Während der Frühen Neuzeit vermischten sich (klein)agrarische, (heim)gewerbliche und händlerische Tätigkeiten innerhalb der Familienwirtschaften, die ihre eigenen Erzeugnisse selbst im saisonalen Wanderhandel vertrieben15. Diese Produzenten versuchten sich öffnende ökonomische Nischen neben dem Stadtund Landhandwerk zu nutzen, und stellten aus vorhandenen und zugekauften Rohstoffen Bedarfsgüter her. Im nördlichen Salzburger Flachgau16 hatten sich Teile der Bevölkerung nach 1600 auf das Klöppeln von Schlingen und Spitzen spezialisiert; diese wurden von 12 CHRISTIAN PFISTER: Bevölkerungsgeschichte der Frühen Neuzeit im deutschsprachigen Raum. Forschungsdiskussion und Ergebnisse. In: NADA BOŠKOVSKA LEIMGRUBER (Hg.): Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungsergebnisse, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997, 71–90, hier 79 f. Vgl. AMMERER: Heimat Straße (wie Anm. 1), 62. 13 OLWEN H. HUFTON: The Poor of Eighteenth-Century France 1750–1789, Oxford 1974, 83, 109. Vgl. BECK: Die „Kraxenträger“ (wie Anm. 1), 92; AMMERER: Heimat Straße (wie Anm. 1), 379. 14 Vgl. GEORG STÖGER: Sekundäre Märkte? Zum Wiener und Salzburger Gebrauchtwarenhandel im 17. und 18. Jahrhundert, München 2011, 26 f. Stöger beschreibt die Produktpalette der Trödler, die mit Altware, umgearbeiteter Ware, mit „Neuem“ aus Altmaterialien, aber auch mit Neuware und Rohmateriealien wie Garn und Flachs handelten. 15 AMMERER: Heimat Straße (wie Anm. 1), 63. Vgl. BECK: Die „Kraxenträger“ (wie Anm. 1), 92. 16 1867 wurden die Pfleg- und Landgerichte aufgelöst. Die Bezirkshauptmannschaft „Salzburg Umgebung“ besteht seit 1887 und wird seither als „Flachgau“ bezeichnet. Vgl. JOHANN GOI-
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einigen Salzburger Kaufleuten, hauptsächlich Leinwandhändlern, aber auch von den ansässigen Dorfkrämern und den Schlingen- und Spitzenkrämern verlegt. Die Klöppelei bzw. der Schlingen- und Spitzenhandel konzentrierte sich auf ein kleinräumiges Gebiet; er ist dokumentiert im Salzburger Pfleg- und Landgericht Straßwalchen, im Pfleg- und Landgericht Neumarkt bzw. Alt- und Lichtenthann mit den Orten Neumarkt, Köstendorf, Henndorf und Seekirchen, ferner im Pflegund Landgericht Mattsee mit den Orten Mattsee, Schleedorf, Obertrum und Seeham, im Pfleg- und Landgericht Wartenfels mit den Orten Thalgau und Fuschl, im Pfleg- und Landgericht Hüttenstein mit dem Ort St. Gilgen sowie im Pfleg- und Landgericht Neuhaus mit dem Ort Eugendorf. Die Gerichte Straßwalchen, Neumarkt, Wartenfels und Hüttenstein grenzten an das Mondseeland im Land ob der Enns17. Der Ort Mondsee im Gericht Wildeneck wird von den St. Gilgener Schlingen- und Spitzenhändlern, die sich dort mit der Klöppelware, den „Mondseer Schlingen“, eindeckten, in einer Supplik von 1664 genannt18. Nach 1500 hatten sich in den oberitalienischen Städten Venedig, Genua und Mailand erste Zentren entwickelt, in denen Klöppelspitze gewerbsmäßig hergestellt wurde. Ein Modelbuch von 1561/6219 verweist darauf, dass geklöppelte Spitzen erstmals 1536 von italienischen Kaufleuten nach Deutschland gebracht und dort mit großem Fleiß kopiert wurden. Die große Nachfrage nach Spitzen trug zu einer raschen Ausbreitung der Klöppelei in weiten Teilen Europas bei. Noch während des 16. Jahrhunderts etablierten sich Klöppelspitzenzentren in Süddeutschland, im sächsischen20 und böhmischen Erzgebirge21, in der Schweiz (Zürich), in den Niederlanden, in England, Dänemark, Schweden und Spanien. Im 17. Jahrhundert wurden Klöppelspitzen gewerbsmäßig auch in Frankreich und Russ-
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GINGER: Neumarkt am Wallersee. Die Entstehung seiner Landschaft und seine Geschichte, Neumarkt am Wallersee 1993, 164 f. Das Land ob der Enns, heute Oberösterreich. Siehe dazu: FRANZ PFEFFER: Das Land ob der Enns. Zur Geschichte der Landeseinheit Oberösterreichs, Linz 1954, 253. SLA (Salzburger Landesarchiv), 11–19/12 HK Hüttenstein; HIETTENSTAIN 1665, N: 80, Lit: N.; Gebettene Abstellung der Schlingen Vnd Schisslhandler, May 1664. „Mondseer Schlinge“ hat sich bis heute als Begriff für die Schlingenware erhalten, auch wenn diese nicht in Mondsee hergestellt wurde. CLAIRE BURKHARD: Faszinierendes Klöppeln nach Mustern des ältesten Klöppelbuches deutscher Sprache (1561) mit Anwendungsbeispielen für unsere Zeit, Klöppelbriefen und Erläuterungen. Enthält: R. M.: New Modelbuch/Allerley gattungen Däntelschnür/so dieser Zyt in hoch Tütschlanden geng und brüchig sind/zu vunderricht jren Leertöchteren vnd allen schnürwerckeren/zu Zürych, Faksimile des 1561 erschienen Modelbuches, Bern/Stuttgart 1986. Vgl. KATRIN KELLER: Der vorzüglichste Nahrungszweig des weiblichen Geschlechts: Spitzenklöppeln im sächsischen Erzgebirge als textiles Exportgewerbe. In: REINHOLD REITH (Hg.): Praxis der Arbeit. Probleme und Perspektiven der handwerksgeschichtlichen Forschung, Frankfurt am Main/New York 1998, 187–215. JOSEF BLAU: Spitzenklöppelei und andere Frauenheimarbeit. Die Böhmerwälder Spitzenklöppelei. In: DERS (Hg.): Böhmerwälder Hausindustrie und Volkskunst, Prag 1917, 133– 183; ELSE CRONBACH: Die österreichische Spitzenhausindustrie. Ein Beitrag zur Frage der Hausindustriepolitik, Wien/Leipzig 1907.
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land, in Slowenien (Idrija), in Südtirol22 (Grödental, Tauferer Ahrntal) und im Land Salzburg (Flachgau) hergestellt23. Während die Klöppelspitze ihre vollkommene Ausprägung im 17. und 18. Jahrhundert in Flandern und Belgien erhielt, stieg Frankreich zur führenden Macht im Bereich der Spitzenerzeugung auf24. II. Handeln mit der „weissen Wahr“ Zum weiss wahr handl zählte das Handeln mit dem Tream25, den Schlingen und Klöppelspitzen, aber auch mit Rüffet26 und Faden, mit dem die Schlingen- und Spitzenmacherinnen verlegt wurden. Wann der Handel und das Vertragen und Hausieren mit der weissen Wahr im salzburgischen Flachland einsetzte und zu einem lukrativen Geschäft wurde, ist nicht genau festzulegen. Aus einer Eingabe an die Hofkammer aus dem Jahr 1664, die die im Hochfürstl. Pfleggericht Hüettenstain sesshafften Schlingen vnd Schysslhandlern gemeinsam abfassten und in der sie darum baten, den inzwischen ausufernden Handel abzustellen, lässt sich aber schließen, dass zu dieser Zeit der Zugewinn aus dem Schlingenhandel, der rechtlich kaum geregelt war, eine beträchtliche kommerzielle Anziehungskraft ausgeübt haben dürfte und dieser Erwerbszweig bereits starker Konkurrenz ausgesetzt war27. Die Beschwerde richtete sich gegen „Unansässige“, besonders aber gegen die ledigen Bauernknechte, die sich auf den Schlingen- und Schüsselhandel verlegt hatten und weder Steuern noch andere „Herrenforderungen“ zahlten. Die Beschwerdeführer beteuerten, dass es ihnen nicht allein um ihre entgangenen Einnahmen gehe, sondern auch darum, dass sie ja sonst an die Obrigkeit auch weniger Dienste und Steuern leisten und anderen Auflagen nicht nachkommen könnten. Die „haussässigen“ Unterzeichner der Supplik verwiesen auf ihre Häuser, die in solcher Lage in abschlag khomen, wodurch nicht nur ihnen selbst, sondern auch der hochfürstlichen Kammer größter Schaden zufügt würde. Mit der angeführten Wertminderung der Häuser sprachen sie ihren Besitzstand und die damit verbundene Ehre an: [...] damit wür Vnns bey Ehrn erhalten [...] auch der Paursman sein Ehrhalten desto leichter bekhomen möge, Item die hochfürstl. Urbar nit in Abschlag gebracht werden. Die Schlingen- und Schüsselhändler gaben an, dass sie 22 Vgl. MARTINA DEMETZ: Hausierhandel, Hausindustrie und Kunstgewerbe im Grödental. Vom 18. Jahrhundert bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, Innsbruck 1987, 19–21; JOSEF INNERHOFER: Taufers, Ahrn, Prettau. Die Geschichte eines Tales, Bozen 1982, 385; JOHANN ANGERER: Die Hausindustrie im deutschen Südtirol, Bozen 1881, 7. 23 Vgl. ERIKA KNOFF: Klöppelspitzen. Eine Zeitreise, Gammelby 2007; THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 80–104. 24 FRIEDRICH SCHÖNER: Schönheit der Spitzen in Durchsicht und Draufsicht. Leitfaden ihrer Arten und Ornamente im Wandel von Zeit und Landschaft, Wien 2003, 10. 25 Tream leitet sich von „Trum“ ab; mundartliche Bezeichnung für Stückchen oder Ende. Der Tream ist ein Saumschmuck, der aus den hängenden Kettfäden (der vom Webstuhl abgenommenen Leinwand) geklöppelt oder geknüpft wird. 26 Rüffet: Ausdruck heute unbekannt; möglicherweise grobes Fadenmaterial. 27 SLA: 11–19/12 HK, HIETTENSTAIN 1665, Lit: N.
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mit einem kleinen hochfürstlichen Urbar oder Eigentum ausgestattet seien, aber der Ertrag davon zu gering sei. Sie könnten sich nur mit dem Handel von Schlingen, Spitzen und gedrechselten Holzschüsseln erhalten, die sie in der Herrschaft Mondsee kaufen und im In- und Ausland verkaufen könnten28. Der Gerichtsschreiber Lürzer unterstrich, dass die ledigen Stands persohnen und Knechte sich nur selten um heißlicher ankhauffung (Hauskauf) bewerben würden, wenn Häuser zur Versteigerung anstünden. In St. Gilgen musste jeder Spitzenhändler im Besitz eines Hauses oder zumindest eines halben Hauses sein29, daher wird die Verstuckung30 vieler Kleinhäuser auf dieses Gewerbe zurückgeführt. Auch die soziale Komponente führte Lürzer an und betonte, dass dieser Handel die ledigen Bauernknechte der harten Arbeit entwöhnen würde. Dieser Umstand sei sowohl für die Bauern, die einen Mangel an Arbeitskräften zu beklagen hätten, als auch für die Knechte, die damit Zeit ihres Lebens arme Plieter bleiben würden, äußerst schädlich. Tatsächlich wurde den ledigen Händlern diese Handtierung von der Hofkammer verboten31. Die Eingabe der hüttensteinischen (St. Gilgener) Schlingen- und Schüsselhändler von 1664 gegen das Eindringen lediger Personen in ihre Profession deutet darauf hin, dass der Schlingenhandel zu dieser Zeit bereits verbreitet war. Die erforderlichen Krämergerechtigkeiten waren sehr gefragt, da die Ausübung des Gewerbes weder eine besondere berufsspezifische Kenntnis noch eine spezielle Ausbildung erforderte. Anders als die Fernhändler und Kaufleute in der Stadt Salzburg, die der oberen Bürgerschicht angehörten, zählten die kleinen Dorfkrämer nicht immer zum Bürgerstand. Da der Kleinhandel selten für den Lebensunterhalt ausreichte, kam es zu erheblichen Spannungen, wenn ein Marktbewohner um eine neue oder eine ruhend gestellte Handelsgerechtsame nachsuchte32. Der Spitzenhandel war kein radiziertes Gewerbe33 und auch kein zünftiges Personalgewerbe. Aus der Willengeldleistung34 für die Ausübung des Kleingewerbes wurde von den 28 SLA: 11–19/12 HK Hüttenstein, HIETTENSTAIN 1665, N: 80, Lit: N. 29 LEOPOLD ZILLER: Vom Fischerdorf zum Fremdenverkehrsort. Geschichte St. Gilgens und des Aberseelandes, 2. korr. Aufl., St. Gilgen 1988, 206. Ziller verweist auf eine Notiz in einem Anlaitlibell von 1678, in dem vermerkt ist, dass der Preis des zur Versteigerung gekommenen Halbhauses weit über seinem tatsächlichen Wert lag (weil die Spitzenhändler ein Haus benötigten). 30 Verstuckung: Verkauf von Stockwerkseigentum. 31 SLA: 11–19/12 HK Hüttenstein, HIETTENSTAIN 1665, Lit: N. 32 Vgl. BIRGIT WIEDL: Handwerk und Gewerbe in der Frühen Neuzeit. In: ELISABETH u. HEINZ DOPSCH (Hg.): 1300 Jahre Seekirchen. Geschichte und Kultur einer Salzburger Marktgemeinde, Seekirchen 1996, 574–602, hier 599. 33 Radizierung: Rechte und Pflichten, die mit dem Eigentum an Grund und Boden verbunden sind. 34 Das Willengeld ist eine Zustimmungsgebühr, die aus alten Konsenserteilungsrechten der Grundherren abgeleitet wird. Es musste von einem Teil der Gewerbetreibenden jährlich geleistet werden. Die Höhe war regional verschieden (zwischen 6 kr und 1 fl). Vgl. GERHARD AMMERER: Funktionen, Finanzen und Fortschritt. Zur Regionalverwaltung im Spätabsolutismus am Beispiel des geistlichen Fürstentums Salzburg (= Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 126/1986), Salzburg 1987, 145–418, hier 211 f.
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Spitzenhändlern jedoch ein Rechtsschutz abgeleitet, auf den sie in ihren Stellungnahmen als Interessenten pochten, wenn sich unliebsame Konkurrenten um eine Gerechtigkeit bemühten. Die Versorgung einer Familie innerhalb der kleinen Handwerker- und Händlerschicht war mühsam, und jeder Eindringling schmälerte den Verdienst. Wenn selbst die Bittgesuche um die Neuübernahme einer wegen Alters oder Krankheit ruhend gestellten Gerechtigkeit schon zu großen Spannungen führten, so waren auch die unrechtmäßigen Handelstätigkeiten der Fürkäufer oder der Schlingen- und Spitzenträger ständige Streitpunkte, die immer wieder zu Eingaben an die Hofkammer führten. Andreas Mäzinger, ein St. Gilgener Weißbrotbäcker, ersuchte 1665 um die Krämergerechtigkeit, da er meinte, dass die ziemliche Menge Volks mehr als zwei Krämer, die mit weisser Wahr absonderlich handlen, vertragen könne35. Beide Krämer wehrten sich und führten an, dass ihre Kundschaft ja auch in St. Wolfgang und bei den wällischen und anderen Hausierern, die alle Winkhl vnd Heisser aufsuchten, einkaufe. Wenn sie nicht auch mit der weissen Wahr handeln könnten, so könnten sie nicht einmal das trockene Brot, geschweigens waß anders gewinnen36. Gegen Andreas Mäzinger, der in St. Gilgen schon eine Krämerei und ein Backhaus besaß und die Spitzenkrämerei bis ins Pfleggericht Neuhaus ausgeweitet hatte, richtete sich 1694 eine Beschwerde der dort ansässigen Spitzenhändler37. Seine Rechtfertigung gibt Aufschlüsse über die Anfänge des Spitzenhandels, die demnach ins frühe 16. Jahrhundert zurückreichen, sowie darüber, wie der Spitzenhandel organisiert war. Er verwies darauf, dass sich viele Personen in Eugendorf, Mattsee, Henndorf und Thalgau ihr Brot mit der Herstellung von weißen Zwirnspitzen38 und Schlingen verdienten und die Ware auf Kirchtagen, meistens aber im Ausland, in Bayern, Österreich, Kroatien und in der Steiermark, verkauft werde. Da er und sein Vater diesen Spitzenhandel schon über 60 Jahre ausübten, wisse er, dass es notwendig sei, zu verschidenen Orthen, und Gerichtern die Spüzl [zu] erkhauffen. Dabei müsse man viele der Spitzen im Ausland verkaufen und dabei auf andere Leute sowie Spitzenträger und Krämer vertrauen und manchmal dabei auch Verlust erleiden. Um seinen Bedarf decken zu können, sei es für ihn unumgänglich, auch in anderen Gerichten Spitzen aufzukaufen; dies sei schließlich der Status vnsers Gey Spizhandtls39. Die Neuhauser Spitzenhändler beriefen sich auf das geleistete Willengelt oder Noval Stüfft40 und beantragten für Mäzinger ein Kaufverbot in ihrem Pfleggericht, da sie ihren Unterhalt gefährdet sahen. Mäzinger konterte, wenn sich bereits in Mattsee, Seekirchen, Henndorf, Thalgau oder Eugendorf nur wenige vom Spitzenhandel ernähren könnten, so sei es neben den vielen in St. Gilgen ansässigen 35 36 37 38
SLA: 11–19/12 HK Hüttenstein, HIETTENSTAIN 1665, Lit: E, Mai 1665. SLA: 11–19/12 HK Hüttenstein, HIETTENSTAIN 1665, N. 81, Lit: E, 25. August 1665. AStS (= Archiv der Stadt Salzburg): ZA 430/2; 23. Oktober 1694. Die Salzburger Zwirnspitze war eine sehr haltbare Gebrauchsspitze. Der Zwirn dafür bestand aus verzwirnten, d. h. zusammengedrehten Leinenfäden. 39 AStS: ZA 430/2; 23. Oktober 1694. Spitzenhandel im Gäu. 40 Novalien (Novalstift) waren eine Gebühr für die Überlassung von Grund und Boden, die aus der Frey (gemeinsam genutztes Gemeindegut) stammten.
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Spitzenkrämern noch wesentlich schwieriger. Gleichzeitig wies er auf das verbotene, aber gängige Trucksystem41 der Händler hin. Seines Wissens sei das Geben von Zwirn und Geld beim Spitzenkauf und -verkauf in den anderen Pfleggerichten nicht verboten. Zudem bemängelte er, dass er bei den Klöpplerinnen in Eugendorf zwar Spitzen kaufen könne, ihm aber verboten sei, ihnen den Zwirn zu geben. Er bezichtigte den Spitzenhändler, der die Eingabe bei der Hofkammer gemacht hatte, dass dieser selbst die arme Khlöckhlerinen (Klöpplerinnen) mit dem Zwirmb nach seinem aigennüzigen Belieben truchen vnd staigern würde. In diesen schweren Zeiten, in denen kaum die Nahrung erklöppelt werden könne, seien viele zum Betteln gezwungen; daher erscheine es ihm eine schwere Sache zu sein, gerade die Allerärmsten zu truckhen. Einige der Eugendorfer Klöppelleute könnten vor Gericht bezeugen, dass er die Arbeit gut bezahle bzw. auch Geld und Faden oder Zwirn in angemessenem Wert dafür gebe. Mäzingers Kraxe, die der Gerichtsschreiber vorsorglich in gerichtlichen Arrest genommen hatte, wurde ihm mit Neun oder Zöchen [zehn] etc. Pfundt Zwirmb wieder ausgefolgt vnd auff hoches Bitten, den destwögen begehrten Thaller Straff, auff zöchen Schilling nachgelassen42. Mäzinger war zusätzlich beschuldigt worden, dass er die Leute öfters ins Elend gestürzt habe, indem er bei den Klöpplerinnen in Zeiten knappen Warenangebotes nur die besten Stücke kaufte, aber das Schlechtigste zu gross In Faden (zu locker gearbeitete Ware) den anderen Händlern überlassen habe. Gebe es genügend Ware, so falle er als Abnehmer aus, und die Klöpplerinnen müssten betteln gehen. Nur aus Mitleid hätten ihnen die Eugendorfer Spitzenhändler die schlechte Ware abgenommen und ihnen neuen Zwirn geborgt43. Für die Händler war es wichtig, möglichst viele Schlingen- und Spitzenklöpplerinnen zu verlegen, da die Klöppelei höchst zeitaufwändig war und das Angebot auch davon abhing, wie viel Zeit auf diesen Zusatzerwerb neben Hausarbeit, Landwirtschaft oder anderen Gewerben aufgewendet werden konnte. Der Spitzenverlag war nicht nur von den mengenmäßigen Schwankungen der angebotenen Klöppelware geprägt, auch die unterschiedliche Qualität der Erzeugnisse brachte Einbußen mit sich, denn nicht jede Klöpplerin war eine Meisterin bzw. war aufgrund der fehlenden Anleitung zum Erlernen besserer Arbeitstechniken außerstande, die Muster einwandfrei zu arbeiten. Als allgemein verbreitete Klöppeltechnik galt im 16. und 17. Jahrhundert die Freihand-Technik44. Anders als in den großen Klöppelzentren, die sich dem wechselnden modischen Bedarf anpassten, lebte die Freihand-Technik in den ländlichen Gegenden weiter (in Salzburg bis ins 19. Jahrhundert45). Die Freihandspitze wurde „freihändig“, d. h. 41 Entlohnung mit Material oder anderen Waren. 42 Konfiskationsstrafen wurden u. a. wegen verbotenem Vorkauf verhängt. Die konfiszierte Ware sollte nur gegen ein wertäquivalentes Strafgeld herausgegeben werden, doch da die Strafgelder mitunter existenzgefährdende Höhen erreichten, wurde sehr oft ein Nachlass bewilligt. Vgl. AMMERER: Funktionen, Finanzen und Fortschritt (wie Anm. 34), 235. 43 AStS: ZA 430/2; 31. Januar 1695. 44 Vgl. KNOFF: Klöppelspitzen (wie Anm. 23), 201. 45 THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 109 f. Spitzensammlungen des Salzburg Museums und des Heimatkundlichen Museums St. Gilgen.
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ohne einen Klöppelbrief (Mustervorlage) gearbeitet, wobei das Muster „auswendig“ oder bestenfalls nach einem fertigen Spitzenstück geklöppelt wurde, was Unregelmäßigkeiten und Abweichungen in den Rapporten implizierte. Da auch die verhältnismäßig teuren Stecknadeln nur sparsam verwendet wurden, bedurfte es technischer Kniffe, um der Spitze dennoch Form und Festigkeit zu geben46. Die Bezahlung nach abgelieferten Ellen ließ der Klöpplerin zudem nicht viel Zeit, um sich über ungenaues Arbeiten Sorgen zu machen47. Oft war der lokale Händler oder Hausierer nur mit geringem Kapital ausgestattet und gezwungen, für das verlegte teure Garn auch mindere Spitzenware anzunehmen. Ebenso war es für die größeren Händler üblich, dass sie, wenn die Nachfrage das Angebot weit überstieg, auch unbrauchbare Spitzen annahmen, um an brauchbare Ware zu kommen48. Die Bandbreite an Spitzenmustern, die eine Klöpplerin verfertigen konnte, war oft gering, da das Einlernen eines neuen Musters viel Zeit in Anspruch nahm und ihr Einkommen schmälerte49. Um dennoch eine verkaufsfördernde Mustervielfalt anbieten zu können und das Risiko im Bereich der Produktion etwas zu mindern, war der Verleger daran interessiert, gerichtsübergreifend bei verschiedenen Klöpplerinnen arbeiten zu lassen. Dem Händlerrisiko stand jedoch das viel größere Risiko der Klöpplerinnen gegenüber, die bei schlechtem Geschäftsgang auf ihrer produzierten Ware „sitzen blieben“. III. Die Klöppelleute Zu den Herstellern der Klöppelware sind, anders als für die Händler, kaum Hinweise zu finden. Neben den in den Pfarrmatrikeln nur sehr vereinzelt namentlich genannten Klöpplerinnen oder Spitzenmacherinnen50 scheinen auch einige Eheleute auf51, die beide Gewerbe, also Erzeugung und Verkauf ausübten. So bezeichnete sich Mathias Steger erst als Schlingenmacher und titulierte sich dann 46 Vgl. Anm. 43: schlechte Spitzenware, „zu groß in Faden“, d. h. zu locker gearbeitet. 47 Vgl. MANFRED BACHMANN: Berchtesgadener Volkskunst. Geschichte. Tradition. Gegenwart, Leipzig 1985, 42 f. Vgl. KELLER, Spitzenklöppeln im sächsischen Erzgebirge (wie Anm. 20), 109 f. Viele Beispiele finden sich in den Spitzensammlungen des Salzburg Museums der Stadt Salzburg und des Heimatkundlichen Museums St. Gilgen. 48 CRONBACH: Die österreichische Spitzenhausindustrie (wie Anm. 21), 62, 88, 203. 49 Ebenda, 49. Vgl. KELLER, Spitzenklöppeln im sächsischen Erzgebirge (wie Anm. 1), 110. 50 APStG (= Archiv der Pfarre St. Gilgen): Liber Mortuoru, tom. II. (1715–1756): Anna Kloibnerin, Inwohnerin und Klekhlerin alda, soluta, gest. 25. März 1747, im 47. Lj.; Maria Meisinger, Spizmacherin, gest. 1747, im 40. Lj.; Liber Mortuoru, tom. III (1757–1831): Magdalena Moosgassnerin, Schlingenmacherin in Wengl, Ehefrau des Spizhandlers Philipp Moosgassner, gest. 1. Nov. 1774, im 59. Lj. KAS (= Konsistorialarchiv Salzburg): Köstendorf, Sterbebuch III.: Eva Riederin, soluta, Khlökhlerin, 30 J., gest. 12. Nov. 1721. KAS Henndorf: Sterbebuch V 1762–1835: Edmundus Jissinger, Spizenmacher, 70 J., gest. 31. Sept. 1778. 51 APStG: Taufbuch, tom. IV (1737–1775): Paul Stadlmann u. Anna Millbacherin, 1760 u. 1763; Liber Mortuoru, tom. III (1757–1831), 1765; Taufbuch, tom. IV (1737–1775): Aegydius Stadlmann u. Maria Lererin, 1766; Tauf-Buch. Tomus III vom Jahre 1690–1737: Joannis Steger u. Anna Lachnerin, 1718 u. 1719.
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nach seiner Verheiratung als Schlingen- oder Spizhandler52. Aus einigen Ansuchen um eine Spitzen- oder Schlingenkrämerkonzession geht hervor, dass die Klöppelei teilweise von den Händlern selbst ausgeübt wurde. So suchte etwa Georg Friesl um eine Schlingenkrämerkonzession an, [...] da ich vnd mein Ehewürthin seit vnsers Verehelichen, von weissen Faden allerley Spiz auf die gmain Khlöckhlen thuen, ich aber messig auch dergleichen machen khan53, und in einem Bittgesuch um eine Spitzenhandelsgerechtsame führt Simon Rosenlechner an, dass er bei seinem Vater schon seit einiger Zeit im Spitzenhandel mithelfe und auch Spiz zumachen Willens sei54. In der bereits genannten Streitsache zwischen dem St. Gilgener Spitzenhändler Mäzinger und den Eugendorfer Schlingen- und Spitzenhändlern sind Klöppelleute angeführt, die mit größtem Fleiß in wohlfeiler Zeit khaum das truckhne Brodt erkhlöckhlen (erklöppeln) könnten und auch die Tatsache, dass die Eugendorfferische Klöckhler Leüthe (Klöppelleute) als Zeugen vor Gericht auftreten würden55. Der Begriff „Leüthe“ lässt vermuten, dass hier, wie in anderen Klöppelregionen wie z. B. in Südtirol56 und im Erzgebirge, auch Männer mit der Schlingen- und Spitzenherstellung beschäftigt waren57. Während in den 1770er und 1780er Jahren jenseits der Landesgrenze, im benachbarten Mondsee, mehrere Schlingen- und Spitzenhändler als Manufakturisten in den Tabellen der Porten=Franzen=Spiz=und Strümpf Fabrikanten aufgelistet sind und die genaue Anzahl der beschäftigten Schlingenwirker und Spitzenklöppler sowie der vorhandenen Schlingenwirkstühle und der Verbrauch sowohl von weißem und rotem türkischen Zwirn58 als auch von Landzwirn vermerkt ist59, findet sich in Salzburg um 1796 nur der Hinweis, dass der Spitzenhandel und damit auch die Anzahl der Klöpplerinnen abgenommen habe. Der Chronist Lorenz Hübner60 gibt an, dass in Thalgau für die Händlerin Anna Maria Bachlerin noch ungefähr 50 Klöpplerinnen arbeiten würden, für die sie vier Zentner Faden einführe. Zuvor, schreibt er, seien 80 Klöpplerinnen beschäftigt gewesen und der Fadenverbrauch habe bei etwa neun Zentnern gelegen. Für einen Spitzkrämer in der Baderlucken bei Hof sollen zu diesem Zeitpunkt noch etwa 15 Frauen geklöppelt 52 APStG: Tauf-Buch. Tomus IV vom Jahre 1737–1775 u. 1762–1766: Mathias Steger, Schlingenmacher; danach, bis 1774 als Schlingenhandler bzw. Spizhandler bezeichnet. 53 Ansuchen des Georg Friesl im Jahr 1648 um eine Schlingenkrämerkonzession. SLA: 11– 19/34 HK Wartenfels, WARTENFELS 1684, Lit: B. 54 AStS: ZA 430/2; Bittgesuch v. Simon Rosenlechner vom 19. Juli 1709. 55 AStS: ZA 430/2; 23. Oktober 1694. 56 INNERHOFER: Taufers, Ahrn, Prettau (wie Anm. 22), 385. 57 CRONBACH: Die österreichische Spitzenhausindustrie (wie Anm. 21), 87, 89, 91. 58 Um die eintönige Musterung zu beleben, wurde abwechselnd roter und weißer Baumwollzwirn verarbeitet. 59 Oberösterreichisches Landesarchiv, F 13a, Bd. 376, Nr. 19, Verzeichnis der Fabriken und Manufakturisten in Mondseer Jurisdiktion 1772–1786. Vgl. THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 203. 60 LORENZ HÜBNER: Beschreibung des Erzstiftes und Reichsfürstenthums Salzburg in Hinsicht auf Topographie und Statistik. Erster Band. Das Salzburgische flache Land, Salzburg 1796, 189.
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haben61. Zu Henndorf bemerkt Hübner, dass sich in den etwa 50 Häusern rund 360 Einwohner größtenteils mit der Herstellung weißer Fadenspitzen kärglich fortbrächten, die von Weibspersonen und Kindern geklöppelt würden62. Hübner verweist hier auf die Kinder, die zum Familieneinkommen beitragen müssten und in den Arbeitsprozess miteinbezogen würden. Die Kinderarbeit war in den vorindustriellen Gesellschaften alltäglich und in den Familienökonomien ebenso wie in der Landwirtschaft unverzichtbar und ein wesentlicher und selbstverständlicher Faktor63. Die Klöpplerinnen im Salzburger Flachgau wurden von Händlern aus Salzburg, Thalgau und Eugendorf verlegt, doch war der Lohn dermaßen gering, dass selbst die fleißigsten offenbar kaum ihren Unterhalt bestreiten konnten und hier viele herumziehende Bettler samt ihren Kindern zu sehen waren64. Die hohe Anzahl der Spitzenhändler65 in dem kleinräumigen Gebiet lässt vermuten, dass während der Blütezeit zwischen 1660 und 1750 mehrere hundert Personen in Familienwirtschaften mit dem Schlingen- und Spitzenmachen sowie mit dem Vertragen und Handeln beschäftigt waren. IV. Händler, Spitzkramer und Spitztrager Eingebettet in die vielfältigen Formen des Handels – von Geschäftsbeziehungen zu Handelshäusern in Salzburg und dem süddeutschen Raum, die mit Leinen, Flachs und Zwirn handelten, über die Krämer in den Städten und Märkten, hauptsächlich jedoch im Wanderhandel und der Beschickung der Jahrmärkte bis hin zum Fürkauf66 und Hausierhandel – fand der Schlingen- oder Spitzenhändler sein Betätigungsfeld. 61 Hübner: Beschreibung des Erzstiftes (wie Anm. 60), 233. 62 Ebenda, 189. 63 Vgl. KATHARINA SIMON-MUSCHEID: Formen der Kinderarbeit in Spätmittelalter und Renaissance. Diskurse und Alltag. In: ULRICH PFISTER, BRIGITTE STUDER, JAKOB TANNER (Hg.): Arbeit im Wandel. Organisation und Herrschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Le travail en mutation. Interprétation, organisation et pouvoir, du Moyen Age à nos jours, Zürich 1996, 107–125, hier 110, 120. 64 HÜBNER: Beschreibung des Erzstiftes (wie Anm. 60), 190, führt an, „dass die Fleißigsten an einer Elle dieser Spitzen nur 4–9, 10 höchstens 20 Kreutzer, wenn sie sehr fein sind verdienen“. Vgl. THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 147. Für einen Meter einer typischen Salzburger Zwirnspitze mit einer Breite von 7,5 cm in Binche-Technik (wie sie im 18. Jahrhundert für den Export gearbeitet wurde) liegt der Zeitaufwand bei etwa 20 Stunden. 65 Um 1690 waren allein im Pfleggericht Hüttenstein (St. Gilgen) 30 Schlingen- und Spitzenhändler registriert (Höchststand). Vgl. THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 168. 66 Für den Fürkauf (Zwischenhandel), den Kleinverkauf mit Eiern, Schmalz, Hühnern, Flachs, Garn, Leinwand usw. gab es in Salzburg zahlreiche Verordnungen und Verbote, da die Fürkäufer ihre Waren oft neben den regulären Märkten, an Stadttoren und Brücken anboten. Vgl. FRIEDRICH PIRCKMAYER: Mandat und Ordnung wie es hinfüran mit den Märckthen Allhie zu Salzburg sollte gehalten werden. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskun-
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Über die Linzer Straße, die über Straßwalchen, Neumarkt und Henndorf führte, kamen Flachs, Zwirn und Leinwand aus dem Land ob der Enns, von Niederösterreich und Böhmen nach Salzburg. Von hier führten Straßen weiter nach Augsburg, Nürnberg, Innsbruck und über die Alpen in den Süden. Die Linzer und Bozener Jahrmärkte spielten als Großmärkte für den Leinenhandel eine wichtige Rolle: Hier traten die großen ausländischen Kaufherren neben den einheimischen Kaufleuten vielfach als Verleger auf, und bereits 1593 beschwerten sich die Leinwandhändler von Wels, Vöcklabruck und Steyr, dass die Ausländer „alle Leinwand im Lande bestellen und aufkaufen“67. Salzburger Leinwandhändler waren in dieser Zeit stark an der Ausfuhr der obderennsischen Leinwand beteiligt und begannen bereits im frühen 17. Jahrhundert mit dem Verlegen der Schlingen- und Spitzenhersteller68. Für Thalgau ist mit Anna Maria Bachlerin, die Inhaberin des sog. Platzerischen Hauses, eine der großen Verlegerinnen der Schlingen- und Spitzenmacherinnen genannt, die um 1796 noch Schlingen und Spitzen im Wert von jährlich 2 500 fl auf die Jahrmärkte von München und Augsburg brachte69. Der Ort St. Gilgen hatte die größte Dichte an Spitzen- und Schlingenhändlern, die um 1690 mit etwa 30 Gewerbetreibenden ihren Höchststand erreicht hatte. Sie kauften die Schlingen größtenteils in der Herrschaft Mondsee und verkauften sie sowohl im Inland als auch in der Steiermark, in Kärnten, Bayern und Tirol70. Einige der Familien zählten bis in die dritte Generation zu den führenden Spitzenhändlern. Laut einem 1673 erstellten Inventar scheint das halbe Haus des wohlhabenden St. Gilgener Schlingenhändlers Wolf Zopf gut ausgestattet gewesen zu sein, und auch sein Kleiderbestand konnte sich sehen lassen. Das Warenlager bestand aus Rüffetfaden, Zwirn und weißer Schlingenware im Wert von 39 Gulden; seine Forderungen an drei andere Schlingenhändler beliefen sich auf 125 Gulden, seine Verbindlichkeiten auf 165 Gulden71. „Lebende“ Habe hatte er keine aufzuweisen, und nachdem auch kein Wagen oder dergleichen aufscheint, hat er vermutlich den Zwirn, die Spitzen und Schlingen selbst in einer Kraxe (hölzernen Rückentrage) transportiert, oder er hat dafür einen Spitzenträger beschäftigt. Salzburg wurde von verschiedenen Kategorien von Straßen, Fürstenwegen, Wegen und Steigen72 durchzogen, die von den Kraxenträgern, sogenannten Dossern, von Säumern mit Maultieren, Eseln und Pferden, von Melde- und Postreitern
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de 35 (1895), 226–230, hier 226, 228. Nach Ansuchen und gegen ein geringes Willengeld verlieh die Hofkammer Fürkaufpatente. ALFRED MARKS: Das Leinengewerbe und der Leinenhandel im Lande ob der Enns von den Anfängen bis in die Zeit Maria Theresias. In: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereines 95 (1950), 169–286, bes. 246 f., 258. POSCH: Die Salzburger Spitzenklöppelei (wie Anm. 5), 107; THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 105. HÜBNER: Beschreibung des Erzstiftes (wie Anm. 60), 232 f. Vgl. THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 169; SLA: 11–19/12 HK Hüttenstein, HIETTENSTAIN 1665, N: 81, Lit: E, 25. August 1665. SLA: Pfleg Hüttenstein, Gewerbesachen F 2–3, Kart. 16. Fürstenwege waren dem Landesherrn und hochgestellten Personen vorbehalten.
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genutzt und mit Handwägen, Anzwägen73, Deichselwägen und Kutschen befahren wurden. Erst im 18. Jahrhundert wurde die erste wichtige Fernstraße, die Linzer Straße, verbreitert und befestigt74. Pferde und Wägen als Transportmittel für die Spitzenkrämer sind kaum genannt, da der Zwirn, mehr aber noch die Spitzenware, wegen des geringen Gewichtes für die Kraxenträgerei besonders geeignet waren. In Neumarkt scheint 1673 ein Bürger und Kramer auf, der sein Ross mit Leinwand und einer Schachtel mit „Henndorfer Spitzen“ und Borten für Bozen beladen, aber nur die Hälfte der Ware vermautet hatte75. Über die Handelsreisen der salzburgischen Spitzenhändler bzw. der Spitzenträger geben unter anderem einige erhaltene Passierscheine, auch Feden genannt, Aufschluss. Die Fedi di Sanità entstanden Ende des 16. Jahrhunderts in Italien und Deutschland und galten als Gesundheitszeugnisse als Mittel der Gesundheitsund Seuchenabwehrpolitik. Auf der Fede findet sich der Name des Händlers, mitunter die Handelsware und die Bestätigung der Obrigkeit, dass der jeweilige Ort seuchenfrei sei76. Am 24. Februar 1681 machten sich die St. Gilgener Hanns und Christoph Fürperger (Vater und Sohn) mit ihrer Handelsware auf den Weg in das kärntnerische Lavanttal. Auf dem Passierschein, der Fede, ist bestätigt, dass die roth und weisse wahr77, die Spiegel, Borten und Schlingen, im Pfleggericht Hüttenstein hergestellt und gekauft worden waren und dass sich beide Händler über vierzig Tage kontinuierlich in St. Gilgen, einem gottlob frischen und gesunden Ort, aufgehalten hätten. Tags darauf passierten sie bei gesunder Luft das kaiserliche Pfleggericht Wildenstain, und in gleicher Weise bestätigten die Markt- bzw. Stadtrichter von Lauffen, Bad Aussee, Rottenmann, Obdach, Reichenfels, St. Leonhard, Wolfsberg und zuletzt St. Andrä, dem Endpunkt der Reise, dass der angegebene Träger und sein Sohn den jeweiligen Ort passiert hätten. Die Passierbestätigungen nennen auf der Rückreise wieder die genannten Orte, doch der Schreiber des letzten Eintrags bezeugte mit Siegel und Unterschrift, dass die beiden Schlin-
73 Anzwagen: Ein Pferd zieht den Wagen zwischen einer Gabeldeichsel. Anfangs wegen geringer Spurweite nur im Gebirge verwendet (schmale Ausweichen), ab dem 16. Jahrhundert auch in der Ebene, da nur die halbe Mautgebühr eines Deichselwagens abzuführen war. Vgl. FRIEDERIKE ZAISBERGER: Finanzielle, organisatorische und technische Aspekte des neuzeitlichen Wegbaues im Salzburger Bergland. In: Die Erschließung des Alpenraums für den Verkehr im Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Historikertagung in Irsee, 13.–15.IX.1993. In: ERWIN RIEDENAUER (Hg.): Lʼapertura dellʼarea Alpina al traffico nel medioevo e nella prima era moderna, Bozen 1996, 293–309, hier 295 f. 74 HERBERT KLEIN: Salzburger Straßenbauten im 18. Jahrhundert. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 99 (1959), 81–110, bes. 82–100. 75 SLA: 11–19/61 HK Hauptmaut, 1673 Lit: E. 76 SUSANNA GRAMULLA: „Fedi di Sanità“ als Zeugnisse des Kölner transalpinen Verkehrs um 1720. In: FRANZ HUTER, GEORG ZWANOWETZ (Hg.), FRANZ MATHIS (Mitarb.): Erzeugung, Verkehr und Handel in der Geschichte der Alpenländer. Festschrift für Univ.-Prof. Dr. Herbert Hassinger anlässlich der Vollendung des 65. Lebensjahres (= Tiroler Wirtschaftsstudien 33), Innsbruck 1977, 147–155, hier 147. 77 Rote Ware: rot-weiß geklöppelte Schlingen oder auch mit rotem Faden gestickte bzw. gewebte Borten.
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genkrämer am hochfürstlichen Pass Aigen gebührend ausgeräuchert wurden78. Der Hinweis auf die „gesunde Luft“ in jedem Ort bedeutete, dass die Kaufleute mit ihren Waren ohne Gefahr einer Ansteckung in andere Gegenden weiterziehen konnten79. Nicht von ungefähr wurden die beiden Schlingenkrämer zuletzt „ausgeräuchert“, denn in den Jahren 1679 bis 1681 grassierte die Pest in Ungarn, Böhmen, Polen und der Steiermark80. Im Jahr 1691 wurde in einer Fede der Stadt Pettau (heute Ptuj, Slowenien) bestätigt, dass vor Ort zwar keine Seuche herrsche, aber der St. Gilgener Spitzenhändler Veit Zopf und sein Träger wegen grassierender Seuchen vorsichtshalber dennoch in Quarantäne gehalten wurden81. Die Salzburger Spitzen- und Schlingenhändler machten sich in der Regel zu zweit auf den Weg zu ihren Absatzgebieten, den Jahrmärkten im In- und Ausland. Die Rupertidult in der Stadt Salzburg war ein wichtiger Herbstmarkt für Kaufmannswaren, der bei den „ausländischen“ Kaufleuten aus Österreich, Italien, der Schweiz und deutschen Ländern großen Anklang fand. In den Tagen um das Fest des Landespatrons St. Rupert (24. September) waren viele Leute in die Stadt unterwegs, wie z. B. die zinspflichtigen Bauern, die zu „Herbstruperti“ ihre Abgaben zu entrichten hatten, die Bürger, die den Burgrechtszins ablieferten, oder die Dienstboten, die sich jetzt verdingen konnten. Gleichzeitig war es ein günstiger Termin, um Waren zu kaufen oder zu verkaufen82. Der Markt mit seiner komplexen Organisation, dem ökonomischen Austausch, der Unterhaltung, der „Interaktion und Kommunikation“ der unterschiedlichsten Menschen, die auf diesem Schauplatz zusammentrafen, war trotz zunehmender Bedeutung anderer Handelsformen in der Frühen Neuzeit nach wie vor ein gewichtiger Umschlagplatz für Handelswaren. An diesem sozialen Treffpunkt „[...] waren selbst abgelegene Orte und ärmste Bevölkerungsgruppen über regionale Märkte in ein weltweites Marktgeschehen eingebunden“83. Laut einer Fede hatte 1681 der Schlingenhändler Veit Zopf einen Marckht in Graz aufgebauth84. Einen Markt aufzubauen hieß, den festgelegten Marktplatz einzunehmen und einen Stand einzurichten. Vermutlich transportierten die Salzburger Schlingen- und Spitzenhändler oder ihre Träger die weisse Wahr in stabilen Holzkraxen. Eine im Heimatkundlichen Museum St. Gilgen erhaltene Spitzenkraxe gleicht einem kleinen Schrank, hinter dessen verriegelbarem Türchen 78 Passierschein, Heimatkundliches Museum St. Gilgen. Transkription Dr. Thomas Wallnig, Univ. Wien. Actum St. Gilgen den 24. Febr. 1681. Hochfürstl. Salzburg. Pfleggericht Hüttenstain [SI] Balthasar Zürner hochfl. pflegeverwalter mp.; [...] Actum den 11. April 1681 Michael Baumgartner Corporal. 79 GRAMULLA: „Fedi di Sanità“ (wie Anm. 73), 147. 80 SLA: 21–11/15 Pfleggericht Hüttenstein (St. Gilgen), Lit N, Contagionssachen, 3. Bund, 7, Verordnung der Commissio sanitatis wegen der Pest in Ungarn, Böhmen, Polen und der Steiermark 1679. 8 Sto. 81 Passierschein für Veit Zopf, Pettau 1691. Heimatkundliches Museum St. Gilgen. 82 FRANZ VALENTIN ZILLNER: Geschichte der Stadt Salzburg. Geschichtliche Stadtbeschreibung, Bd. 1, Salzburg 1885, 151 f. 83 MICHAELA FENSKE: Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln/Weimar/Wien 2006, 2, 6, 12, 37, 42. 84 ZILLER: Vom Fischerdorf (wie Anm. 29), 208.
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die Handelsware in Laden bzw. Auszügen lagerte. Die Kraxe brauchte nur wenig Standplatz. Als Standbein diente ein mitgeführter Stock mit einer Metallspitze, der in den Boden gerammt wurde. Der dicke Metallknauf am oberen Ende des Stocks passte genau in eine beschlagene Aushöhlung am Kraxenboden. Zusätzlich waren oben am Kraxenrahmen starke Ösenschrauben eingedreht, um die Kraxe an einer Mauer oder ähnlichem befestigen zu können85. Für Handelsreisen ins Ausland war von der Salzburger Obrigkeit festgelegt, dass die Schlingen- und Spitzenhändler oder -träger innerhalb von sechs Wochen wieder zu Hause sein mussten. 1691 war der bereits genannte Hanns Fürperger auf einer Handelsreise über sieben Wochen ausgeblieben und wurde dafür mit drei Tagen Gefängnis bestraft. Er hatte zudem fast den ganzen Erlös aus der Ware zum Schaden seiner Familie und seiner Kreditgeber in den Wirtshäusern durchgebracht. Eine Gefängnisstrafe verbüßte 1727 ein weiterer St. Gilgener Spitzenträger, nachdem er die ihm vom Spitzenhändler anvertraute Ware und Losung angeblich auf liederliche Weise durchgebracht hatte86. Die Aktionsfelder der ansässigen Schlingen- und Spitzenkrämer in den Salzburger Pfleggerichten sind vornehmlich aus den vielfältigen Suppliken um Handelsbewilligungen, aus Beschwerden über Konkurrenz bzw. wegen Angst vor Überbesetzung und aus den Pfarrmatrikeln, die teilweise Berufsbezeichnungen enthalten, ablesbar. In der Regel zählte der Spitzenkrämer zur großen Zahl der Kleinstgewerbetreibenden und musste, wie z. B. auch der Hühnerträger, Leinölhausierer, Lämpel- und Obstträger, über eine Gerechtsame verfügen und ein geringes Willengeld abführen87. Die mitunter schmale Bandbreite des Warenangebots der ortsansässigen Dorfkrämer, die auch mit der weissen Wahr handelten, zeigt sich in einem Gesuch von Anfang 1696 um Ratifizierung einer bereits erhaltenen Krämerei in Thalgau, gegen die sich die vier dort ansässigen Krämer wehrten, obwohl sie selbst kaum Waren anbieten konnten: Ein Handelsmann handelte einstweilen nur mit Tuch, dem zweiten gebrach es an Geldmitteln, um Waren zu besorgen, der dritte konnte sich nicht mit Ware eindecken, da er die Krämerei gerade erst gekauft hatte, und der vierte hatte nur Tauben und Tabak im Angebot, da er sich wegen seiner vielen kleinen Kinder und seiner Armut keine anderen Spezereien außer Pfefferstupp (Pfefferpulver) leisten konnte. Zur mageren Kapitalausstattung gesellte sich die mühsame Beschaffung der Waren: 1749 beklagten sich die Krämer aus dem Pfleggericht Alt- und Lichtenthann, dass sie die Ware aus anderen Ländern mit hart, und sauern Schweiß herzutragen müssten88 und einzig mit der weissen Wahr einige Kreuzer für das Hauswesen und die onera (öffentliche Abgaben) verdienen könnten. Als Verleger fungierten auch die Dorfkrämer, Wirte und andere Gewerbetreibende in der Region, denn oft war der Handel mit der weissen Wahr nicht die einzige Erwerbsquelle. Viele Spitzen- und Schlingenhändler übten bereits ein, mitunter auch zwei andere Gewerbe aus und 85 86 87 88
Spitzenkraxe im Heimatkundlichen Museum St. Gilgen. Ebenda. SLA: 11–19/02 HK, Alt- u. Lichtenthann (Neumarkt). SLA: 11–19/02 HK, Alt- u. Lichtenthann (Neumarkt), Lit A.
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firmierten gleichzeitig als Bäcker, Metzger, Leinenweber, Krämer, Jäger, Wirt, Strumpfhändler, Glashändler, Fischhändler, Käsehändler oder Rechenmacher, und etliche bezeichneten sich zudem als Halbbauer oder Kleinhäusler89. Mit Hilfe dieser Mischwirtschaften wurde eine Balance gesucht, um prekären Situationen besser begegnen zu können, und sie dienten auch demjenigen, der mit einer gewissen Geschäftstüchtigkeit seinen Aktionsradius auf mehrere Arten zu nützen verstand. Obwohl der Schlingen- und Spitzenhandel jedem Verheirateten nach altem Herkhommen und unbehindert freistand90, galt es, erst die Behinderungen der übrigen Händlerschaft zu überwinden, um dieses Gewerbe ausüben zu können. Beispielhaft zeigt dies das Ansinnen des Spitzenträgers Hans Salzhueber, der im Jahr 1703 das Bürgerrecht und eine Spitzenhandelsgerechtsame erwerben wollte91. Er gab sich als Spitzenkrämer und Hausbesitzer aus, doch der Gerichtspfleger schrieb in einer Stellungnahme, dass Salzhueber khein Spizcramer, sondern den hiesig burgl. Spizcramern nur ein Trager gewesen und kein Hausbesitzer sei, doch nach seinem Dafürhalten könne er für die Bürgerschaft von Nutzen sein, da er beim Spitzentragen so viel erlernt hätte, dass er sich mit dem Handel selbst zu ernähren vermochte92. Nachdem der Antrag dennoch abgelehnt worden war, pochte Salzhueber auf die Heirat mit einer bürgerlichen Schuhmachertochter von Neumarkt, um sich dort niederlassen und für die Lebenshaltung außer Landt (im Ausland) dem Spiz=Handl nachgehen zu können93. Aber auch die Heiratserlaubnis und der angegebene Leykhauff94 verhalfen ihm noch nicht zum Bürgerrecht und der Berechtigung, den Spitzenhandel betreiben zu können. Da der Bettelstab der sozialen Schicht der Taglöhner nicht fremd war, fügte er an, dass er mit Weib vnd Khind ins greste Verderben gerathen und an den Bettelstab kommen würde, wenn er diese Krämerei nicht ausüben dürfe. Mit dem Argument, dass es in Neumarkt schon zu viele weiss Wahrhandler gebe, die vom Spitzenhandel nicht leben könnten, wandten sich die ansässigen Krämer gegen den ortsfremden Freter. Sie verwiesen darauf, dass Salzhueber den Heiratskonsens nicht als Spitzenhändler erhalten habe und das geleistete Willengeld ein „Hollengeld“95 sei, das alle Taglöhner und armen „Hollenleute“ entrichten müssten. Als Spitzenträger eines ehemaligen bürgerlichen Spitzenhändlers müsse er nur dem Tagwerk nachgehen und brauchte 89 APStG: z. B. Johann Eisl, 1665–1699 gen.; SLA: 11–19/02 HK, Alt- und Lichtenthann (Neumarkt), 1706, Lit: A;11–19/02 HK, Alt- u. Lichtenthann (Neumarkt), 1722, Lit: B. 90 SLA: 11–19/12 HK Hüttenstein, HIETTENSTAIN 1665, N: 81, Lit: E, 25. August 1665. 91 AStS: ZA 430/2; Ansuchen an den Hofrat um Bewilligung des Bürgerrechts, 11. Mai 1703. 92 AStS: ZA 430/2; Schreiben des Hofrates an das Pfleggericht Neumarkt, 18. Mai 1703. 93 Da die Pflicht zur Armenversorgung im 17. Jahrhundert den Gerichtsgemeinden auferlegt wurde, erhielt der Ehekonsens einen politischen Charakter. Die Heiratsbewilligungen wurden nur bei Vorliegen einer entsprechenden materiellen Grundlage erteilt. Einen Zusammenhang zwischen Ehekonsens und dem Niederlassungseherecht stellte ein Zirkularbefehl von 1667 her, der in Verordnungen von 1681, 1691 und 1730 näher bestimmt wurde. 94 Leykhauff: Aufgeld für den Immobilienkauf, das bei Vertragsabschluss außer dem bedungenen Kaufpreis fällig war und unmittelbar danach von beiden Vertragspartnern in der Wirtsstube in „Flüssiges“ umgesetzt wurde. Dieser gemeinsame Umtrunk verlieh im Verständnis der breiten Bevölkerung einem Geschäftsabschluss endgültige juristische Wirksamkeit. 95 Begriff „Hollen“ bislang nicht bekannt.
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nicht zu betteln. Außerdem hätte Salzhueber dem Hausierverbot zuwider gehandelt, indem er die Spitzen bei den Klöpplerinnen im Erzstift gekauft habe, die er zuvor mit Faden verlegt habe. Allerdings dürfe er Spitzen nur bei ihnen, den Verlegern, kaufen. Aus den angegebenen Gründen sei er ihnen mehr lästig als nützlich96. Seine konfiszierte Kraxe erhielt Salzhueber zurück97, doch vor der Verkaufsreise in die Steiermark forderten die Spitzenkrämer seine Bestrafung, da er sich unrechtmäßig den Spitzenhandel anmaße und nicht über die geringsten Mittel verfüge, sondern seine Ware mehr durch List und Geschwätz als mit Bargeld zusammenbrächte. Durch seine großen Schulden hätte er vielen Leuten Schaden zugefügt98. Obwohl Salzhueber den Neumarkter Verlegern die Spitzenware abkaufte und im Ausland absetzte, bekam er hier weder das Bürgerrecht noch die Spitzenhandelsgerechtsame. Da im Nachbarort Straßwalchen kein Spitzenhändler ansässig war, konnte er 1704 dort ein Haus erwerben und wurde als Bürger aufgenommen, obwohl er die Gebühr für das Bürgerrecht nicht aufbringen konnte99. Die Verdienstmöglichkeiten zogen eine Reihe von Neueinsteigern an, deren Schlingen- bzw. Spitzenhandel mitunter nur kurze Zeit dauerte, da ihre Kapitalausstattung zu gering war, um die Bevorschussung mehrerer Schlingen- und Spitzenmacherinnen mit Faden über einen längeren Zeitraum hinweg zu gewährleisten. Der Spitzenhandel setzte nicht nur Kapital für das Material voraus, der Händler musste zudem auf Schwankungen auf dem Rohstoffmarkt reagieren und bei Absatzproblemen auch die „auf Lager“ produzierte Ware bezahlen können. Dass sich gelegentlich mehrere Krämer zusammentaten, um Rohware zu importieren, und dass der Verkauf und das Verborgen von Zwirnen und Fertigware an Spitzenträger und andere Händler üblich war, zeigen ein Inventar und die Eingaben an die Hofkammer in Salzburg100. So musste Simon Eder schon nach einem halben Jahr die Gerechtigkeit zurücklegen und seinen Handel 1722 wegen Vnvermögenheit einstellen101. Eder hatte den Klöpplerinnen und anderen Händlern Rüffet, Faden und Spitzen verborgt und konnte die Abgaben nicht leisten. In vielen Suppliken an die Hofkammer lässt sich die missliche wirtschaftliche Lage der meisten weiss Wahrhandler ablesen, die vermutlich bis ins hohe Alter, wenn nicht lebenslang diesem Gewerbe nachgingen. Die Gerechtigkeiten, die ad dies Vita vergeben wurden, zeigen dies ebenso wie die Supplik von Johann Edtenfellner, dessen Krämerei abseits von Kirchenweg und Marktplatz wenig eintrug, weshalb er mit Spitzen und dergleichen Ware, die sowohl im Ort als auch im Land in grosser Quantitet gemacht wurden und die er nicht vorort, sondern in Schwaben, Bayrn vnd solchen Orthen mit grosser Gefahr, Miehe vnd Sorg verkauft und solch miehesamben Rai96 AStS: ZA 430/2; Bericht des Neumarkter Pflegers an den Hofrat, 4. Januar 1704 u. Bericht der Neumarkter Spitzenhändler an den Hofrat . 97 AStS: ZA 430/2; Bittgesuch an den Landesfürsten, 5. November 1703. 98 AStS: ZA 430/2; Eingabe der Neumarkter Spitzenhändler, 3. März 1704. 99 AStS: ZA 430/2; Gesuch von Hans Salzhueber, Schreiber: Sebastian Roither. Vgl. zu Salzhueber: THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 183–187. 100 SLA: 21–11/25 Pfleggericht Hüttenstein (St. Gilgen), Karton 33, Z Gant- und Kridaverhandlungen, Nr. 52 gandierung ao 1667. Lit: Z: No: 5. 101 SLA: 11–19/02 HK, Alt- u. Lichtenthann (Neumarkt), 1722, Lit: B; Präs. 21. März 1722.
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sen aber als ein alberaits 60. jähriger schwacher Mahn unternähme, da er Frau und Kinder zu versorgen habe102. Einen Einblick in das Schlingen- und Spitzenangebot der Händler gibt eine Inventarliste, die angefertigt wurde, als das Haus des verstorbenen Schlingenhändlers Christoph March 1667 auf die Gant103 kommen sollte. In seinem breit gefächerten Angebot sind keine Musternamen, sondern die Preise als Zuordnungskriterien genannt, wie z. B. Kreuzer Arbeit, Groschen Arbeit, Vierzehnpfenniger Arbeit, Halbpatzen Spitze, Groschen Schlinge, 14 Pfenning Arbeit. Sein Haus und die hinterlassene Habe wurden auf 210 Gulden geschätzt, seine Schulden, inklusive vieler offener Wirtshausrechnungen, machten über 350 Gulden aus104. Obwohl in den Matrikeln auch Ehefrauen als Schlingen- und Spitzenhändlerinnen mit der Beifügung loci Sui Mariti absentis, Spizhandlern genannt sind, ist die Zahl der Händlerinnen eher gering. Im Pfleggericht Hüttenstein sind 15 alleinstehende Frauen angeführt, die das Gewerbe nach dem Tod ihres Ehemannes als Witwen weiterführten105. Der Aktionsradius einer Spitzenhändlerin im Wartenfelser Gericht dürfte nicht sehr groß gewesen sein. Der Pfleger106 intervenierte in einem Schreiben an den Erzbischof für die ledige Maria Reinetshueberin: Die junge Frau war erblindet und hatte sich, um dennoch für ihren Lebensunterhalt sorgen zu können, ganz auf den Spitzenhandel verlegt. Damit sie ohne Schwierigkeiten ihren Handel ausüben konnte, hatte ihr der Pfleger bereits ein Attest ausgestellt. Anscheinend half es ihr wenig, denn im Jahr darauf wandte sich die Frau107 selbst an den Erzbischof und betonte, dass ihr Handel trotz des obrigkeitlichen Attestes von den Spitzenkrämern angefochten und sie nicht geduldet werde. Sie bat nun an oberster Stelle um eine Bescheinigung für den Spitzenhandel und das freie Passieren. In der Stellungnahme des Pflegers108 ist nachzulesen, dass Maria Reinetshueberin, ein erblindetes, lediges Mensch, die ein kleines Mädchen bei sich habe, schon vor ihrer Erblindung mit Spitzen für wenige Kreuzer gehandelt und daher den Handel mit groben Spitzen und alten Krägen noch im Griff habe. Es bestehe darum keine Gefahr, dass sie hierinen Umgangen werde. Maria Reinetshueberin bekam für die Pahsierung eine Abschrift des ergangenen Befehls und durfte nunmehr den Spitzenhandel mit groben Spitzen und alten Krägen ausüben109. Immer wieder scheint im Schlingen- und Spitzenhandel auch das verbotene Hausieren auf: einerseits das Kaufen von Ware bei den Spitzenmacherinnen, die ein anderer verlegte, andererseits das Verkaufen „unter der Hand“. Es waren vor 102 SLA: 11–19/02 HK, Alt- und Lichtenthann (Neumarkt), 1749, Lit A, 29. Nov. 1727. 103 Öffentliche Versteigerung des Besitzes. 104 SLA: 21–11/25 Pfleggericht Hüttenstein (St. Gilgen), Karton 33, Z Gant- und Kridaverhandlungen; 3. Christoph March, Schlingenhandler zu St. Gilgen; Nr. 52 gandierung ao 1667. Lit: Z: No. 5. 105 APStG: Sterbebuch tom. II, 1715–1756. 106 AStS: ZA 430/2; 11. August 1725. 107 AStS: ZA 430/2; Bittgesuch vom 12. Mai 1726. 108 AStS: ZA 430/2; Bericht des Pflegers Anton v. Moll, 4. Dezember 1726. 109 AStS: ZA 430/2; Befehl des Hofrates vom 17. Dezember 1726.
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allem die Hausierer, die für die Bedarfsdeckung der Landbevölkerung sorgten, da sie regelmäßig vorbeikamen und den Menschen einen langen Weg in die nächste Stadt oder den nächsten Flecken ersparten110. Diese Mobilität konnte saisonbedingt sein, z. B. um sich und die Familie über den Winter zu bringen, oder es handelte sich um eine von mehreren Tätigkeiten, wenn sich für die unteren Schichten keine andere Einnahmequelle bot. Die sog. Kraxenträger versorgten die Bewohner in Stadt und Land mit Bedarfsgütern jeglicher Art, doch häufig gab es Ärger mit den ansässigen Kaufleuten, die protestierten, wenn sich im Angebot der Hausierer z. B. verbotenerweise Leinwand befand111. Auch die Versorgungslücken der heimischen Händler nutzten ausländische Hausierer wie die „welschen Krämer“ oder die hauptsächlich aus dem friaulischen Bergland stammenden „Carnischen Materialisten“. Den Wanderhändlern haftete nicht selten ein zweifelhafter Ruf an, und um nicht des Landes verwiesen zu werden, mussten z. B. die Hausierer, die in Österreich und Süddeutschland ihre Arznei- und Spezereiwaren feilboten, mit landesfürstlichen Generalmandaten ausgestattet sein. Nach wiederholten, im Detail unterschiedlichen Regelungen wurde 1691 in einem Mandat das Hausieren außerhalb der Jahrmärkte verboten. Die „Landmaterialisten“, die das Land durchstreiften, hatten kaum Schwierigkeiten, ein Patent zu erlangen, doch als sich friaulische Hausierer zu Beginn des 18. Jahrhunderts hier niederlassen wollten, stellte sich die einheimische Kaufmannschaft dagegen112. Von den Hausierern und Wanderhändlern zeichneten Zeitgenossen wie auch spätere Historiker ein ambivalentes Bild, da diese zwar für die Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen, aber auch des gehobenen Bedarfs als unverzichtbar galten, man aber gleichzeitig in ihren Geschäftspraktiken einen schädlichen Einfluss sowohl auf das Konsumverhalten als auch auf die finanziellen Verhältnisse der Kundschaft zu erkennen glaubte113. Eine andere Art von Besorgnis drückte sich in einem Mandat des Salzburger Hofrats von 1687 aus, in dem der Erzbischof Johann Ernst Graf von Thun ausdrücklich auf die Gefahr der Ausstreuung falscher akatholischer Lehren durch die „Carnischen Materialisten“ hinwies114. V. Das Spitzenmachen und die Spitzkramerei als Teil einer „textilen Landschaft“ Die Verfügbarkeit von Rohmaterialien und einem großen Bevölkerungsanteil mit einer niedrigen landwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität nennt Ulrich Pfister als 110 OBERPENNING: Gewerbliche Warenproduktion (wie Anm. 1), 183. 111 SLA: 11–19/23 HK Wartenfels, 1650–1795. Vgl. HÜBNER: Beschreibung des Erzstiftes (wie Anm. 60), 160 f.; Wiedl: Handwerk und Gewerbe (wie Anm. 26), 601 f. 112 VERENA NECHANSKY: Wirtschaftliche und soziale Aspekte der Salzburger Entwicklung in der Regierungszeit des Erzbischofs Johann Graf Ernst Thun, Diss., Salzburg 1985, 34 f. 113 HÄBERLEIN: Savoyische Kaufleute (wie Anm. 1), 88. 114 HERBERT KLEIN: Carnische „Materialisten“ im Salzburgischen. In: Beiträge zur Siedlungs-, Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte von Salzburg: Gesammelte Aufsätze; Festschrift zum 65. Geburtstag von Herbert Klein (= Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Ergänzungsband 5), Salzburg 1965, 585–596, hier 587.
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Kennzeichen der agrarischen Ursprünge verdichteter ländlicher Gewerbe115. Die Herstellung verschiedener textiler Produkte erstreckte sich vom Traunsteiner Umland über den nördlichen Rupertiwinkel und den Raum Henndorf–Thalgau– St. Gilgen-Golling bis Hallein. In diesem Gebiet „spielte die Textilproduktion für die Beschäftigung und Einkommenserzielung der regionalen Bevölkerung eine wesentliche Rolle“116. Innerhalb dieser „textilen Landschaft“ versorgte eine beachtliche Schafzucht die Tuchmacher117 und die ländlichen Wollweber mit Wolle, die daraus einfache Tuche oder Loden herstellten. Bis zum Dreißigjährigen Krieg galt die Lodenweberei als typisches Exportgewerbe118. In den Salinenorten Hallein, Berchtesgaden und Reichenhall hatte sich um 1620 eine Baumwollen-Manufactur angesiedelt, die von Bergknappen begonnen wurde, dann aber hauptsächlich auf den Gerechtsamen119 von Bürgern und Salinenarbeitern basierte. Etwa 16 700 Personen im Salzburger und Berchtesgadener Land waren in diesem Baumwollverlag mit der Aufbereitung des importierten Rohmaterials bis hin zur Herstellung gestrickter Baumwollwaren beschäftigt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts führten von Österreich und Preußen verhängte Einfuhrverbote zum Niedergang des Baumwollverlagswesens120. Mit der Baumwolle arbeiteten auch die Klöppelleute im nördlichen Flachgau und im Mondseeland. Die Schlingen wurden nicht wie die Spitzen aus Leinenzwirn, sondern aus Baumwolle hergestellt, die aus Mazedonien, Zypern und Smyrna kam und über Venedig weiter verhandelt wurde. Obwohl der Beginn der Klöppelei im Salzburger Flachgau und der Handel mit den Schlingen und Spitzen ins frühe 17. Jahrhundert datiert werden können, bezeichneten sich die Händler im Pfleggericht Hüttenstein bis in die 1680er Jahre vielfach als Schlingenhändler und weniger als Spitzen- und Schlingenhändler, oder nur als Spizkhramer. Dies lässt vermuten, dass ein Großteil der Handelsware aus Schlingen bestand. Am Ende des 17. Jahrhunderts war hingegen die Bezeichnung „Schlingenhändler“ bereits die Ausnahme, und der „Spitzenkrämer“ trat an seine Stelle121.
115 ULRICH PFISTER: Protoindustrie und Landwirtschaft. In: DIETRICH EBELING, WOLFGANG MAYER (Hg.): Protoindustrie in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (= Studien zur Regionalgeschichte 9), Bielefeld 1997, 57–84, hier 80. 116 CHRISTIAN DIRNINGER: Wirtschaft und Bevölkerung im späten 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert. In: Heimat mit Geschichte und Zukunft, EuRegio Salzburg – Berchtesgadener Land – Traunstein, Freilassing 2004, 98–118, hier 104. 117 HERBERT KLEIN: Tuchweberei am unteren Inn und der unteren Salzach im 15. und 16. Jahrhundert nach Salzburger Quellen. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 106 (1966), 115–139, hier 121. 118 REINHOLD REITH: Handwerk und Zunft in Mühldorf am Inn zu Salzburger Zeit. In: Mühldorf am Inn, Salzburg in Bayern, 935–1802–2002, Mühldorf am Inn 2002, 98–107, hier 104. 119 Von der Regierung verliehenes, mit Abgaben verbundenes Recht, ein Gewerbe auszuüben. Vgl. AMMERER: Funktionen, Finanzen und Fortschritt (wie Anm. 34), 229 f. 120 Ebenda, 368. Siehe dazu auch FRANZ MATHIS: Handwerk, Handel und Verkehr (1519–1816). In: HEINZ DOPSCH, HANS SPATZENEGGER (Hg.): Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II/4, Salzburg 1991, 2563–2594, hier 2575. 121 THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 158 f.
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Für die Herstellung der Spitzen wurden die Klöpplerinnen mit Leinenzwirn von den heimischen Webern und von den Salzburgischen, Thalgauischen, und Eigendorfischen Spitzen- und Leinwandhändlern122 verlegt. Noch 1810 berichtet Kajetan Lürzer123 in einem Beitrag über die Kleidung im Salzburger Land, dass Leinwand überall für das eigene Bedürfnis, wenigstens des gemeinen Mannes, hinreichend erzeugt werde, und hebt die ehemaligen Pfleggerichte124 Straßwalchen und Mattsee hervor, die für den Flachsanbau besonders geeignet waren. Er führt aus, dass das gute Gedeihen des Flachses hier den Bauren von darum grösseren Profit abwirft, weil gar viele derselben selbst Weber sind, und ihnen die Verfertigung der Leinwand auf nichts oder gar etwas weniges zu stehen kömmt125. Auf den Umstand, dass hauptsächlich für den Eigenbedarf produziert wurde, weisen die vielen Ansuchen der Bauern um die Bewilligung für den Bau eines Brechel- oder Haarbades126 hin, da damit für die Weiterverarbeitung des Flachses im Hause gesorgt war. Der sogenannte Anfeilzwang verpflichtete den Bauern dazu, seine landwirtschaftlichen Überschussprodukte zuerst „der Grundherrschaft bzw. auf einem Markt im Herrschaftsgebiet anzubieten“127; erst danach konnte er die Erzeugnisse auf den Jahrmärkten außerhalb dieses Gebietes oder anderweitig verkaufen. Die Weber klagten allerdings oft, dass der Markt unzureichend beliefert werde, da feine Garnsorten, aber auch Flachs und Leinwand trotz strenger Fürkauf-Verbote unrechtmäßig, also direkt beim Bauern, gekauft würden128. Lorenz Hübner beschreibt 1796 die Bodenbeschaffenheit und den Ertrag der einzelnen Pfleggerichte und erwähnt in Bezug auf den Flachsanbau ebenfalls das Pfleggericht Straßwalchen, wo vorzüglicher Flachs gedeihe, und Neumarkt, wo ein Drittel der Felder mit verschiedenen Früchten, darunter auch Flachs, nach Maßgabe des Hausbedarfs bebaut werde. So gesehen hatte der Flachsanbau in der Region für die Textilproduktion nur eine bescheidene Bedeutung129. Daher musste für die Weberei zusätzlich Leinen- und Baumwollgarn aus Oberösterreich, Niederös122 HÜBNER: Beschreibung des Erzstiftes (wie Anm. 60), 189. 123 KAJETAN LÜRZER: Über die inländischen Bedürfnisse an Nahrung, Kleidung, Prachtwaaren, Werkzeugen des Ackerbaues und der Handwerke; über Maße und Gewichte in: JOSEPH ERNST RITTER V. KOCH-STERNFELD (Hg.): Salzburg und Berchtesgaden in historischstatistisch-geographisch- und staatsökonomischen Beyträgen, Salzburg 1810, 73–84, 80 f. 124 Vgl. DIRNINGER: Staatliche Finanzpolitik (wie Anm. 27), 174. 125 ERNST BRUCKMÜLLER, GERHARD AMMERER: Die Land- und Forstwirtschaft in der frühen Neuzeit. In: HEINZ DOPSCH, HANS SPATZENEGGER (Hg.): Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II, Neuzeit und Zeitgeschichte, 4. Teil, Salzburg 1991, 2501–2562, hier 2522. 126 Der Flachs wurde im Brechel- oder Haarbad getrocknet, um aus den harten, brüchigen Stängeln die Fasern herauslösen zu können. Wegen der Feuergefahr standen die Brechelstuben abseits vom Haus. 127 REINHARD RIEPL: Wörterbuch zur Familien- und Heimatforschung in Bayern und Österreich, 2., verbesserte u. ergänzte Aufl., Waldkraiburg 2004, 28. 128 MARKS: Das Leinengewerbe und der Leinenhandel (wie Anm. 67), 217. 129 GERHARD AMMERER, KLAUS FEHN: Die Land- und Forstwirtschaft. In: WALTER BRUGGER, HEINZ DOPSCH, PETER F. KRAMML (Hg.): Geschichte von Berchtesgaden, Stift – Markt – Land. Von Beginn der Wittelsbachischen Administration bis zum Übergang an Bayern 1810, Berchtesgaden 1993, 505–534, hier 512.
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terreich, Bayern und Böhmen eingeführt werden130. Um 1790 sind in der Region noch mehr als 600 Leinenweber aufgelistet, die damit das größte Dorfhandwerkerkontingent stellten131. Die große Masse der Leinenweber lebte in ärmlichen Verhältnissen und arbeitete unter der Beteiligung der Familienangehörigen meist für einen ortsansässigen Verleger. Der Handel mit der weissen Wahr und, damit quasi „Hand in Hand“ gehend, auch die Klöppelei hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Salzburger Flachgau ihre Bedeutung verloren. Um 1750 war die Anzahl der Schlingen- und Spitzenhändler im Pfleggericht Hüttenstein von 30 (1690) auf zehn gesunken, und 1770 weisen die Matrikeln nur noch fünf Händler aus. Ersichtlich ist dies auch im Pfleggericht Wartenfels anhand der ruhend gestellten Gewerbe. Im Jahr 1792 bat Anna Maria Fischerin um die Streichung des Willengeldes für ihre Spitzengerechtsame und führte an, dass es in Thalgau früher viele Klöppelleute gegeben habe und zahlreiche Interessenten für eine Verschleißbefugnis, doch nun hat das Spitzmachen und Verhandeln so sehr wieder abgenommen, dass das Gewerbe in ihrer Familie seit 50 Jahren brachliege und solche Gerechtsame zu schenken niemand annimt132. Für den Niedergang des Gewerbes könnten mehrere Gründe ausschlaggebend gewesen sein. So kam es wiederholt zu großen Einbußen, wenn die Grenzen wegen Kriegen133 und Seuchen134 gesperrt waren und die Spitzen, die vornehmlich für den Export produziert wurden, nicht abzusetzen waren. Auch die Umstrukturierung der Wirtschaftspolitik in Österreich, einem wichtigen Exportland für die Salzburger Schlingen- und Spitzenware, dürfte dazu beigetragen haben. Österreich erhob ab 1764 hohe Einfuhrzölle und erließ Importverbote zum Schutz der inländischen Produktion. Nach einer Liberalisierungsphase von 1775 bis 1784 wurden die Einfuhrverbote erneuert und wesentlich verschärft135. Und auch Bayern ordnete sein Grenzzollsystem neu, und gemäß dem kurbayerischen Mauttarif 130 POSCH: Die Salzburger Spitzenklöppelei und der Spitzenhandel (wie Anm. 5), 123. 131 MATHIS: Handwerk, Handel und Verkehr (wie Anm. 120), 2567; HÜBNER: Beschreibung des Erzstiftes (wie Anm. 60), 199, 214, 228, 266, 278 führt 1796 für das Pfleggericht Neumarkt 63, für das Pfleggericht Straßwalchen 23, für das Pfleggericht Thalgau 22, für das Pfleggericht Hüttenstein fünf und für das Pfleggericht Mattsee 143 Weber an. Vgl. auch POSCH: Die Salzburger Spitzenklöppelei und der Spitzenhandel (wie Anm. 5), 123. Posch verweist darauf, dass 1790 die Krämer den Faden und Zwirn für den Verlag der Klöpplerinnen hauptsächlich aus den heimischen Webereien bezogen, von denen es um 1790 noch mehr als 600 gab. Zum Mattseer Weberhandwerk (Streik und Auszug wegen Mattseer Knappen 1667) siehe auch: CLAUS-PETER CLASEN: Streiks und Aufstände der Augsburger Weber im 17. und 18. Jahrhundert (= Studien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens 20), Augsburg 1993, 90–94. 132 SLA: 11–19/34 HK Wartenfels, 1792, Lit: G. Vgl. THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 168, 179. 133 Österreichischer Erbfolgekrieg 1740/41–1748; Siebenjähriger Krieg 1756–1763; Bayerischer Erbfolgekrieg 1778–1779, Napoleonische Kriege 1792–1815. 134 STEFAN WINKLE: Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf/Zürich 1997, 390–401 (Ruhr und Typhus), 868–887 (Pocken), 950–953 (ansteckende Gelbsucht), 1031–1037 (Influenzaepidemien, Influenzapandemien). 135 SANDGRUBER: Die Anfänge der Konsumgesellschaft (wie Anm. 8), 94.
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von 1765 wurde die eingeführte Klöppelware nunmehr mit verhältnismäßig hohen Abgaben belegt136. Möglicherweise war auch bereits die steigende Konkurrenz der maschinell hergestellten Spitzenware zu spüren, da in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts der von Hand gearbeitete Spitzentüll schneller und billiger auf einer Wirkmaschine produziert werden konnte. Frankreich als Modezentrum gab diesen neuen spitzenartigen Stoffen den Vorzug, die damit die Spitze als Besatz an den Kleidungsstücken ablösten. Die 1808 patentierte Bobbinetmaschine137 konnte nach mehreren Adaptierungen den gewebten Tüll spitzenartig mustern und brachte der manuellen Spitzenerzeugung schwere Einbußen138. Lorenz Hübner führte 1796 den stetigen Rückgang des Spitzenhandels in Salzburg darauf zurück, dass die Leute statt mit mühsamem Klöppeln nunmehr mit Dienen und mit Stricken ihr Auskommen finden können139. VI. Fazit Aus heutiger Sicht erscheinen die Schlingen- und Spitzenklöppelei und der rege Handel mit der Klöppelware in den ehemaligen Pfleggerichten des heutigen Salzburger Flachgaues vielleicht als ungewöhnliche Aktivitäten, doch konnte sich die damals neue Einkommensmöglichkeit offenbar unproblematisch in die Erwerbslandschaft integrieren. Die Klöppelei hatte sich neben der Hausweberei der Bauern und den vielen Landwebern in der Region etabliert und verwendete wie diese den Leinen- und Baumwollfaden für ihre Erzeugnisse. Der rege Handel mit Leinwand und Zwirn in diesem Gebiet sowie die Möglichkeit der Nutzung der Linzer Straße – als wichtige Fernhandelsstraße für den Leinenhandel, die dazu diente, das Leinen zu den Großmärkten in Linz und Bozen140 zu transportieren – aber auch die Tatsache, dass Leinwand und Zwirn von Böhmen, dem Land ob der Enns und Niederösterreich ins Land kamen, könnten die Einführung der Klöppelei im Salzburger Flachgau angeregt haben. Die Klöppelleute wurden von den heimischen Spitzen- und Leinwandhändlern verlegt, und vermutlich standen die einfachen Schlingenwirkstühle, auf denen die Baumwollschlingen hergestellt wurden, nicht nur im Mondseeland, sondern auch in den Häusern der benachbarten Salzburger Pfleggerichte. Das Ausklöppeln der Zwirnspitzen mit ihrer ornamentalen Musterung erforderte im Vergleich zur Fertigung der Schlingen ein höheres Maß an Können und einen größeren Zeitaufwand.
136 POSCH: Die Salzburger Spitzenklöppelei (wie Anm. 5), 109. 137 JOHN HEATHCOAT: The Most Extraordinary Machine Ever Invented. The Heathcoat Bobbin Net Machine. John Heathcoat & Co. Ltd., Tiverton, Devon o. J. 138 CRONBACH: Die österreichische Spitzenhausindustrie (wie Anm. 21), 28. 139 HÜBNER: Beschreibung des Erzstiftes (wie Anm. 60), 233. 140 Die Messen in Bozen gehörten zu den wichtigsten Knotenpunkten des Handels zwischen Nord- und Mittelitalien und den mitteleuropäischen Märkten. Vgl. ANDREA BONOLDI: Handel und Kreditwesen zwischen Italien und Deutschland: Die Stadt Bozen und ihre Messen vom 13. bis ins 19. Jahrhundert. In: Scripta Mercaturae 42/1 (2008), 9–26, hier 10.
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Der Salzburger Schlingen- und Spitzenhandel, der auf der Klöppelei basierte, etablierte sich nach 1600 und bildete für knapp zweihundert Jahre einen Wirtschaftszweig, der mit unterschiedlichen Handelsstrategien verbunden war. Entsprechend der Verfügbarkeit der Klöppelware, die von der ländlichen Bevölkerung teils ganzjährig, teils – bedingt durch anderweitige Arbeiten in der Landwirtschaft oder im Taglohn – nur saisonal hergestellt wurde, gestaltete sich der Handel. Anders als die Fernhändler und Kaufleute in der Stadt Salzburg, die der oberen Bürgerschicht angehörten, zählten die Händler in den Pfleggerichten, die sich mit dem Spitzenhandel befassten, weniger zum Bürgerstand als vielmehr zur Schicht der Kleingewerbetreibenden. Einige der Händlerfamilien in St. Gilgen konnten in der Zeit der großen Nachfrage nach Schlingen- und Spitzenware zwischen 1650 und 1750 mit dem Spitzenhandel ihr Auskommen finden und dieses Gewerbe an zwei bis drei nachfolgende Generationen weitergeben141; andere übten bereits ein oder zwei andere Gewerbe aus und sahen darin nur die Möglichkeit für einen weiteren Zusatzerwerb, um ihr Fortkommen zu sichern. Der Umstand, dass in den 1680er Jahren die Berufsbezeichnung „Schlingenhändler“ durch „Spitzen- und Schlingenhändler“ abgelöst wurde und sich schließlich um 1700 der Begriff „Spitzenkrämer“ etablierte, lässt vermuten, dass sich die Salzburger Klöppelspitze ein eigenes Marktsegment erobert hatte. Die Aufzeichnungen zum Handel mit der weissen Wahr, die vorwiegend in den Hofkammerakten zu finden sind, geben Einblicke in die Zusammenarbeit von Klöppelleuten und Händlern, aber auch in die Usancen unter den Schlingen- und Spitzenhändlern. In den Schriftstücken der ansässigen Händler spiegelt sich naturgemäß die Angst vor neuer Konkurrenz wider, und wenn auch mancher Händler über mehrere Gerechtigkeiten verfügte und auf Einkünfte aus anderen Gewerben zurückgreifen konnte, so führte er doch an, dass der Spitzenhandel für ihn unumgänglich sei, wolle er nicht an den Bettelstab kommen. Die Salzburger Schlingen und Spitzen wurden in der Stadt Salzburg auf der Dult verkauft, die ein wichtiges Absatzgebiet darstellte, doch wesentlich größer war die Menge der verhandelten weissen Wahr, die im Ausland abgesetzt wurde. Die Berichte nennen die Städte München, Augsburg und Nürnberg als Absatzmärkte; daneben finden aber auch die langen Handelsreisen in das Schwaben- und Schweizerland, nach Bayern, Tirol, in die Steiermark, nach Kärnten und Kroatien142 Erwähnung, wo die Kirchtage und Jahrmärkte besucht wurden und die Händler mit ihrer Spitzenkraxe einen Stand aufbauten. Ebenso kauften ausländische Händler bei den Verlegern die Spitzen- und Schlingenware. Obwohl das soziale Ansehen der Inhaber der Gerechtsamen für den Spitzenhandel oft sehr gering war, bedeutete dieses Gewerbe für einen Tagelöhner oder Spitzenträger dennoch einen erstrebenswerten Aufstieg. Allerdings setzte das Verlagsgeschäft mit der Spitzenware finanzielle Mittel voraus, um die Spitzenmacherinnen mit Zwirn und Mustern verlegen zu können. Nicht jeder Händler konnte die finanziellen Mittel dafür aufbringen, doch scheinen die Geschäftspraktiken mit dem gemeinsamen 141 THONHAUSER: Das Salzburgische flache Land (wie Anm. 5), 167. 142 POSCH: Die Salzburger Spitzenklöppelei (wie Anm. 5), 110.
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Fadenkauf, mit dem Verborgen von Faden und fertiger Ware, mit dem Hausieren und mitunter mit dem Trucksystem den Spitzenhandel dennoch lukrativ gemacht zu haben.
JAHRBUCH FÜR REGIONALGESCHICHTE 35, 2017, S. 93–128
NÜRNBERGER HÄNDLER UND NÜRNBERGER WAREN Reichsstädtische Wirtschaftsinteressen und der Donauhandel in der Frühen Neuzeit Andrea Serles ABSTRACT Die österreichischen Donauländer waren für die Transithandels- und Gewerbeexportstadt Nürnberg ein wichtiger Teil ihres binneneuropäischen Hinterlandes. Seit dem Spätmittelalter wurden die überregional bedeutenden Jahrmärkte in Linz und Krems von Nürnberger Kaufleuten in großer Anzahl besucht, und in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien besaßen Nürnberger Großhändler eigene Handelsgewölbe, die ganzjährig geöffnet waren. Auf Basis der „Kremser Waag- und Niederlagsbücher“, einer 28 Jahrgänge umfassenden Rechnungsbuchreihe (1621–1737), können Nürnberger Kaufleute identifiziert und Informationen über ihre geschäftlichen Aktivitäten gewonnen werden. Diese Analyse erfolgt vor dem Hintergrund verstärkter merkantilistischer Maßnahmen in den österreichischen Donauländern an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. The Austrian Danube region formed an important part of Nuremberg’s central-European hinterland. Since the Late Middle Ages merchants from Nuremberg used to frequent the important fairs of Linz and Krems in great numbers. In the imperial capital of Vienna they belonged to the group of the so-called “Viennese warehousers”, who were privileged to run wholesale businesses throughout the year. The 28 “Registers of the Civic Weigh House and of the Staple Fees of the City of Krems” (“Kremser Waag- und Niederlagsbücher”) for the period 1621–1737 allow us to identify Nuremberg merchants of this period. These data form the basis of an analysis of the economic activities of Nuremberg traders in the archduchy of Austria in the age of mercantilism.
Die Publikation entstand im Rahmen der vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierten Projekte „Der Donauhandel in der Frühen Neuzeit. Erschließung und Analyse der Aschacher Mautregister: Die Zeit der österreichischen Protektionspolitik unter Kaiser Karl VI. (1718–1737)“ (P 25201–G15) und „Trade in the Age of Mercantilism“ (P 22303–G15) sowie des von der Kulturabteilung des Landes Niederösterreich geförderten Projekts „Edition der Waag- und Niederlagsbücher der Stadt Krems“ (P–2792). Siehe auch die Projektwebsite: http://www.univie.ac.at/donauhandel/. Ich danke Herrn PD Dr. Peter Rauscher (Universität Wien) ganz herzlich für zahlreiche Hinweise und Diskussionen, die diesen Beitrag maßgeblich bereichert haben. Für die Unterstützung bei der Archivrecherche in Linz bin ich Herrn Dr. Martin Krenn (Stadtarchiv Linz) und Herrn Mag. Peter Zauner (Oberösterreichisches Landesarchiv) sowie in Nürnberg Herrn Dr. Walter Bauernfeind zu größtem Dank verpflichtet.
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I. Einleitung Als 1668 die erste Ausgabe von Johann Joachim Bechers Politischem Discurs erschien, notierte dieser bezüglich der Nürnberger Händler und Waren durchaus ambivalent: Die Nürnberger Wahren anbelangend / bestehen solche in allerhand Eysen / und Messenzeug / Träht / Nadeln / Fingerhüten / Messer / Wagen / Trehwerck / Bergdesgaden=Arbeit [= Berchtesgadener Arbeit] / Puppengezeug / welche Wahren zum theil / ob sie zwar wenig nutz seyn / noch auff die Thauer gemacht / oder zur Menschlichen Notturfft gereichen / seynd sie doch sehr / so in Indien / als andern umbligenden Königreichen current, und ziehen die Nürnberger dardurch unter allen Teutschen Provintzen noch mit den schlechsten Manufacturn das meiste Gelt auß der Frembde in [= nach] Teutschland1.
Mit der Bedeutung des Exports einheimischer Manufakturwaren zur Erzielung einer positiven Handelsbilanz beschäftigten sich auch die auf Becher folgenden Kameralisten Philipp Wilhelm von Hörnigk und Wilhelm von Schröder in ihren staats- und wirtschaftstheoretischen Schriften. So stellte Hörnigk fest, dass Nürnberg und Augsburg unter allen fürnehmen Handelsstädten im Reich noch fast die ein[z]ige [seien], so dem Vaterland zu Nutzen handeln, indem sie durch ihre Manufakturen Geld aus der Fremde hereinziehen, da andere meistlich nur in der Fremde aufzukaufen und bei uns wieder von Handen zu geben, also bloß das deutsche Geld hinaus, keines aber dafür wieder herein zu bringen gelernet haben2.
Und Schröder schließlich betonte vor allem das schöpferische Element in den beiden Reichsstädten, wenn er anmerkte, [d]aß aber die Teutschen zu erlernung allerley künste und manufacturen geschickt genug seyn / beweiset Augspurg und Nürnberg / welche mit lauter künsten und manufacturen nicht nur angefüllet seyn / sondern es werden auch daselbsten solche künstler gefunden / welche mit ihrer kunst=arbeit in der welt den fürzug für allen haben3.
Erfindungsgeist, Gewerbefleiß und eine aktive Händlerschaft bildeten, der zeitgenössischen Literatur entsprechend, die Grundlage für die wirtschaftliche Stellung der beiden oberdeutschen Metropolen. Diese Elemente mussten auch den Nachteil eher ungünstiger Verkehrsbedingungen ausgleichen: Weder liegen Nürnberg und Augsburg an einem großen schiffbaren Fluss noch kontrollieren sie einen Zugang
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JOHANN JOACHIM BECHER: Politischer Discurs. Von den eigentlichen Ursachen / deß Auf= und Abnehmens / der Städt / Länder und Republicken / in specie, Wie ein Land Volckreich und Nahrhafft zu machen […], Frankfurt am Main 1668, 74. PHILIPP WILHELM VON HÖRNIGK: Österreich über alles, wenn es nur will. Nach der Erstausgabe von 1684 in Normalorthographie übertragen und mit der Auflage von 1753 kollationiert sowie mit einem Lebensbild des Autors versehen von GUSTAV OTRUBA (= Österreich-Reihe 249/251), Wien 1964, 89 f. WILHELM VON SCHRÖDER: Fürstliche Schatz= und Rent=Kammer / nebst seinem nothwendigen Unterricht vom Goldmachen, Leipzig 1704 [Orig. Leipzig 1686], 354.
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zu einem der wichtigen Alpenpässe4. Eine Möglichkeit, diesen verkehrsgeografischen Nachteil auszugleichen, war die Erlangung von Handelsprivilegien. Nürnberg schuf sich bereits im Hochmittelalter mit Hilfe weitreichender gegenseitiger Zollbefreiungen ein „Handelspräferenz-System“, das zunächst auf den Westen des Reichs sowie die angrenzenden französischen Gebiete ausgerichtet war5, im 14. Jahrhundert aber vor allem durch Sicherheitsverträge, die den Nürnberger Kaufleuten freien Verkehr und Handel nach Böhmen, Mähren und Polen sowie in Richtung der österreichischen Donauländer bis Ungarn ermöglichten, erweitert wurde6. Regensburg war der „Donauvorhafen“ Nürnbergs, das während der Frühen Neuzeit einen wichtigen Platz im Transithandel zwischen Nordwesteuropa und den habsburgischen Ländern einnehmen konnte7. Die Entwicklung der Nürnberger Handelsverbindungen, die Aktivitäten großer Handelshäuser sowie die Stellung Nürnbergs als Finanzzentrum während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sind in zahlreichen Aspekten eingehend erforscht worden8. Gemeinsam ist vielen dieser Arbeiten, dass sie sich auf die Zeit 4
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In der älteren Forschung wird immer wieder betont, dass Nürnberg „hervorragende Verkehrsmöglichkeiten“ gehabt und am Ende des Mittelalters über ein gut ausgebautes Straßennetz verfügt habe. So beispielsweise bei HEKTOR AMMANN: Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg im Spätmittelalter (= Nürnberger Forschungen 13), Nürnberg 1970, 11. Jedoch war dieses Straßennetz eher eine Folge der Privilegien und Handelsaktivitäten als deren Voraussetzung. Vgl. dazu ANDREA SERLES: Metropole und Markt. Die Handelsbeziehungen zwischen Nürnberg und Krems/Donau in der Frühen Neuzeit, ungedr. Dipl. Arbeit Wien 2013, 17 f. Zu den Handelsprivilegien Nürnbergs siehe GERHARD HIRSCHMANN: Nürnbergs Handelsprivilegien, Zollfreiheiten und Zollverträge bis 1399. In: STADTARCHIV NÜRNBERG (Hg.): Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs 1 (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 11/I), Nürnberg 1967, 1–48. Zum „Handelspräferenz-System“ vgl. ECKART SCHREMMER: Die Wirtschaftsmetropole Nürnberg. In: ANDREAS KRAUS (Hg.): Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (= Handbuch der bayerischen Geschichte 3/1), 3. Aufl., München 1997, 902–923, hier 904. AMMANN: Wirtschaftliche Stellung (wie Anm. 4), 29–43. Zu Nürnbergs Lage an überregionalen Handelsrouten siehe RAINER GÖMMEL, Die Wirtschaftsbeziehungen Frankens zum europäischen Osten vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert. In: JÜRGEN SCHNEIDER, GERHARD RECHTER (Hg.): Festschrift Alfred Wendehorst. Zum 65. Geburtstag gewidmet von Kollegen, Freunden, Schülern (= Jahrbuch für fränkische Landesforschung 52), Neustadt a. d. Aisch 1992, 263–272, hier 265 f. Zum Nürnberger Donauhandel nach Ungarn siehe ATTILA TÓZSA-RIGÓ: Die Rolle des Donauhandels im Nürnberger Wirtschaftsleben. Beziehungen zwischen den Wirtschaftseliten Pressburgs und Nürnbergs im 16. Jahrhundert. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 69 (2009), 95–120. Die ältere Literatur ist teilweise zusammengefasst bei SCHREMMER: Wirtschaftsmetropole (wie Anm. 5), 902 f.; zu neueren Arbeiten vgl. SERLES: Metropole (wie Anm. 4), 13–16. Zu Nürnberg als Finanzplatz siehe grundlegend MARKUS A. DENZEL: Der Nürnberger Wechselmarkt im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: RAINER GÖMMEL, MARKUS A. DENZEL (Hg.): Weltwirtschaft und Wirtschaftsordnung. Festschrift für Jürgen Schneider zum 65. Geburtstag (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 159), Stuttgart 2002, 169–192; DERS.: Der Nürnberger Banco Publico, seine Kaufleute und ihr Zahlungsverkehr (1621–1827) (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 217), Stuttgart 2012.
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vor dem Dreißigjährigen Krieg, auf einzelne prominente Beispiele unter den Kaufleuten und auf wirtschaftliche Beziehungen zu anderen Handelsmetropolen konzentrieren9. Seit einigen Jahren ist jedoch ein verstärktes Interesse auch am 17. und 18. Jahrhundert festzustellen, das sowohl zu einer differenzierteren Sicht auf die lange gepflegten „Niedergangsthese“, wonach bereits zur Mitte des 16. Jahrhunderts ein steter wirtschaftlicher Verfall eingesetzt hätte, als auch zur Berücksichtigung eines ausgedehnteren Händlerkreises geführt hat10. Durch die Erschließung neuer Quellenbestände wurde in jüngster Zeit auch die Basis für die Erweiterung des geografischen Radius solcher Studien gelegt. Vor allem der österreichische Donauraum war in vielen Publikationen nur am Rande gestreift worden, obwohl Wien als Reichshaupt- und Residenzstadt während der Frühen Neuzeit zur einwohnerstärksten Stadt Mitteleuropas und einem der wichtigsten Konsumptionszentren im Heiligen Römischen Reich aufgestiegen war11. Außerdem waren mit Linz und Krems zwei überregional wichtige Emporien an der Donau zu finden, deren Marktveranstaltungen sowohl von regionalen Händlern und Produzenten für den Verkauf ihrer Güter und den Einkauf von Rohstoffen genutzt wurden als auch von einer internationalen Händlerschaft, die hier einerseits Absatzmärkte für Fernhandelswaren, andererseits aber auch Bezugsmärkte für regionale und überregionale Güter vorfand12. 9
Siehe u. a. die detaillierte Darstellung der Bezugsmärkte für Safran von LAMBERT F. PETERS: Strategische Allianzen, Wirtschaftsstandort und Standortwettbewerb. Nürnberg 1500–1625, Frankfurt am Main u. a. 2005. Zum Handel zwischen Nürnberg und Venedig erschien jüngst BETTINA PFOTENHAUER: Nürnberg und Venedig im Austausch. Menschen, Güter und Wissen an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (= Schriftenreihe des deutschen Studienzentrums in Venedig N. F. 14), Regensburg 2016. 10 Ausführlich wird die Niedergangsthese bei LAMBERT F. PETERS: Der Handel Nürnbergs am Anfang des Dreißigjährigen Krieges. Strukturkomponenten, Unternehmen und Unternehmer. Eine quantitative Analyse (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 112), Stuttgart 1994, 49–58 diskutiert. Unter den neueren Interpretationen ist die umfangreiche Darstellung von GERHARD SEIBOLD: Wirtschaftlicher Erfolg in Zeiten des politischen Niedergangs. Augsburger und Nürnberger Unternehmer in den Jahren zwischen 1648 und 1806, 2 Bde. (= Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 42/1–2), Augsburg 2014, hervorzuheben. Wichtige Impulse gehen auch von den Studien Michael Diefenbachers aus. Vgl. u. a. MICHAEL DIEFENBACHER: Ratspolitik und Handelsinteressen – Wie attraktiv war die Handels- und Wirtschaftsmetropole Nürnberg in der frühen Neuzeit für Nichtnürnberger. In: BRIGITTE KORN, MICHAEL DIEFENBACHER, STEVEN M. ZAHLAUS (Hg.): Von Nah und Fern. Zuwanderer in die Reichsstadt Nürnberg (= Schriftenreihe der Museen der Stadt Nürnberg 4), Petersberg 2014, 15–32. 11 Zur Bevölkerungsentwicklung Wiens siehe ANDREAS WEIGL: Frühneuzeitliches Bevölkerungswachstum. In: KARL VOCELKA, ANITA TRANINGER (Hg.): Wien. Geschichte einer Stadt 2: Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert), Köln/Wien/Weimar 2003, 109–131, hier 110 Fig. 3. Zu Wien als „Konsumptionsstadt“ vgl. ANDREAS WEIGL: Die Haupt- und Residenzstadt als Konsumptionsstadt. In: Ebenda, 137–141. 12 Zu den Märkten im Donauraum vgl. PETER RAUSCHER: Wege des Handels – Orte des Konsums. Die nieder- und innerösterreichischen Jahrmärkte vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. In: MARKUS A. DENZEL (Hg.): Internationale Messen in Vergangenheit und Gegenwart – International Fairs in Past and Present [im Druck]. Zu Krems siehe zusammenfassend PETER RAUSCHER: Die Kremser Märkte im 17. Jahrhundert (ca. 1620–1730). Städtischer Fern-
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Durch die Edition der Rechnungsfragmente der Augsburger Welser-Gesellschaft (1496–1551) konnten nicht nur neue Erkenntnisse über den Handel der Augsburger Welser-Zentrale mit dem (österreichischen) Donauraum gewonnen werden, sondern auch die Beziehungen zwischen der Nürnberger Welser-Niederlassung und den östlich gelegenen Gebieten für die ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts näher beleuchtet werden13. Für die in der Forschung eher vernachlässigte Periode zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der Mitte des 18. Jahrhunderts steht seit jüngster Zeit mit den 28 in Form einer Online-Datenbank erschlossenen Jahrgängen der Kremser Waag- und Niederlagsbücher (1621–1737) eine zentrale Quelle des österreichischen Donauraums für handelshistorische Fragestellungen zur Verfügung: Die grundlegenden Erschließungsarbeiten wurden 2013 abgeschlossen, 2016 wurden die Rechnungsbücher vollständig digitalisiert und die Faksimiles mit der Datenbank verknüpft14. Wie in den meisten vergleichbaren Städten wurden auch in Krems die Warenniederlage und die Stadtwaage in Personalunion durch den vom Rat der Stadt bestellten Waagmeister verwaltet. Die Einkünfte aus diesen städtischen Ämtern führte der Waagmeister an die Kremser Stadtkammer ab, und ihr war er auch zur Rechnungslegung verpflichtet15. Die in den Rechnungsbüchern handel und staatliche Wirtschaftspolitik im Zeitalter des beginnenden Merkantilismus. In: SANDRA RICHTER, GUILLAUME GARNER (Hg.): ‚Eigennutz‘ und ‚gute Ordnung‘. Ökonomisierung der Welt im 17. Jahrhundert (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 54), Wiesbaden 2016, 95–112. Vgl. auch ANDREA SERLES: gmainer statt nuz und fromen. Serielle Quellen zur Handelsgeschichte in städtischen Archiven am Beispiel von Krems an der Donau. In: PETER RAUSCHER, ANDREA SERLES (Hg.): Wiegen – Zählen – Registrieren. Handelsgeschichtliche Massenquellen und die Erforschung mitteleuropäischer Märkte (13.–18. Jahrhundert) (= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 25), Innsbruck/Wien/Bozen 2015, 91–134, hier 110–125. Zu den Linzer Märkten noch immer maßgeblich: WILHELM RAUSCH: Handel an der Donau 1: Die Geschichte der Linzer Märkte im Mittelalter, Linz 1969. 13 PETER GEFFCKEN, MARK HÄBERLEIN (Hg.): Rechnungsfragmente der Augsburger WelserGesellschaft (1496–1551). Oberdeutscher Fernhandel am Beginn der neuzeitlichen Weltwirtschaft (= Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit 22), Stuttgart 2014. Auf Basis der „Rechnungsfragmente“ entstanden die Studien: MARK HÄBERLEIN, Der Donauraum im Horizont Augsburger Handelsgesellschaften des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. In: RAUSCHER, SERLES (Hg.): Wiegen (wie Anm. 12), 411–431, und DERS.: Nürnberg im Handelsnetz der Augsburger Welser-Gesellschaft (1496–1551). In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 101 (2014), 79–114, hier bes. 90 f., 94–99, 106, 110 f. 14 PETER RAUSCHER, ANDREA SERLES (Hg.): Kremser Waag- und Niederlagsbücher – Datenbank, http://www.univie.ac.at/donauhandel/datenbank-krems/. Erhalten sind die Jahrgänge: 1621, 1624, 1626, 1627, 1640–1642, 1647, 1650, 1660–1663, 1681, 1692, 1694, 1699, 1701, 1706, 1710, 1711, 1720, 1726, 1729, 1730, 1733, 1736, 1737. Die Digitalisate der Rechnungsbücher können auch unter http://www.univie.ac.at/donauhandel/db-krems-scans/ durchblättert werden. 15 Die genaue Zuständigkeit und Arbeitsweise des Kremser Waagmeisters sowie seine Verantwortlichkeit für die Niederlage sind mit Hilfe der erhaltenen Instruktion vom 10. Juli 1656 nachvollziehbar. Diese ist in SERLES: Metropole (wie Anm. 4), 125–130, ediert. Eine eingehende Studie über eine Stadtwaage und deren Waagmeister liegt im österreichischen Donauraum nur für Linz vor. HERTHA AWECKER: Die Linzer Stadtwaage. Die Geschichte des
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überlieferten Informationen bieten in erster Linie ein riesiges Reservoir an Namen, Orten und Gütern: Genannt wurden neben dem Datum die an den Transaktionen beteiligten Personen (Händler und Handelsfirmen, Produzenten, Faktoren, Spediteure/Transporteure, Endverbraucher)16, ihre Herkunftsorte, die gehandelten bzw. transportierten Güter und/oder deren Verpackungen sowie die bezahlten Gebühren. Im Fall der Waagbücher wurde auch das Gewicht der Güter angegeben17. 21 569 solcher Einträge, die Informationen zu ca. 900 Orten, 400 unterschiedlichen Gütern und 6 000 bis 7 000 Personen18 beinhalten, konnten in der Datenbank erfasst werden und bilden die Grundlage für die folgenden Abschnitte19. Jedoch ist zu beachten, dass diese Rechnungsbücher nur einen Ausschnitt des gesamten Kremser Handelsaufkommens abbilden, da die Reihe lückenhaft ist, viele Güter nicht gewogen wurden, sondern Mengenangaben durch Hohl- oder Längenmaße überprüft wurden, Spezialwaagen wie z. B. für Safran existierten, nicht für alle Waren Niederlagsgelder verlangt wurden oder die Angabe der Waren ganz weggelassen und dafür nur die Verpackungsart angegeben wurde20. Trotz dieser Einschränkungen werden mit Hilfe der Kremser Waag- und Niederlagsbücher viele Händler bezüglich ihrer Aktivitäten an der Donau zum ersten Mal fassbar. Daher bieten sie die Möglichkeit, ein Licht auf all jene Kaufleute zu werfen, die neben den bekannten Namen wie Tucher, Imhoff oder Viatis und Peller in der Forschung kaum Berücksichtigung gefunden haben, die aber die große Masse der Handelsleute ausmachten und zur Versorgung der Bevölkerung mit Handelsgütern einen maßgeblichen Beitrag leisteten21. Von 21 569 Datensätzen können knapp über 1 000 eindeutig Nürnberger Händlern und Handelsfirmen zugeordnet werden, was einem Anteil von 4,7 Pro-
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Waag- und Niederlagamtes der Stadt Linz (= Sonderpublikationen zur Linzer Stadtgeschichte 3), Linz 1958. Da Frauen nur an ca. zwei Prozent aller verzeichneten Geschäftsfälle beteiligt waren, wird im Folgenden von der Verwendung der weiblichen Form abgesehen. Zum genauen Aufbau der Quelle und der einzelnen Datensätze sowie zur Erschließung durch eine Online-Datenbank siehe PETER RAUSCHER, ANDREA SERLES, BEATE PAMPERL: Die Kremser Waag- und Niederlagsbücher. Bedeutung und Möglichkeiten der digitalen Erschließung von wirtschaftshistorischen Massenquellen. In: Pro Civitate Austriae N. F. 17 (2012), 57–82. Die in SERLES: gmainer statt (wie Anm. 12), 107 angegebene Zahl von ca. 9 000 Einzelpersonen und Firmen ist zu korrigieren, da sich durch biografische Studien gezeigt hat, dass in etlichen Fällen Personen unterschiedlicher Schreibung als identisch anzusehen sind. Ein geplantes „Personen- und Ortsregister“ wird hier weiteren Aufschluss bringen. Sämtliche Daten sind unter RAUSCHER, SERLES (Hg.): Kremser Waag- und Niederlagsbücher (wie Anm. 14), online nachprüfbar und werden im Folgenden nicht einzeln belegt. Eine ausführliche Quellenkritik findet sich bei SERLES: gmainer statt (wie Anm. 12), 103– 110. Auf die Bedeutung nichtpatrizischer Händler für Nürnberg in der Frühen Neuzeit wies insbes. PETERS: Handel Nürnbergs (wie Anm. 10), hin; ebenso ROLF WALTER: Nürnberg in der Weltwirtschaft des 16. Jahrhunderts. Einige Anmerkungen, Feststellungen und Hypothesen. In: STEPHAN FÜSSEL (Hg.): Die Folgen der Entdeckungsreisen für Europa. Akten des interdisziplinären Symposions am 12./13. April 1991 in Nürnberg (= Pirckheimer Jahrbuch 7), Nürnberg 1992, 145–169, hier 148, 155.
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zent an allen Transaktionen entspricht. Auf das Konto der Augsburger Konkurrenz hingegen gehen nur etwas mehr als 200 Einträge bzw. ein Fünftel der Geschäfte der Nürnberger; selbst Regensburger Kaufleute liegen mit ca. 600 eindeutig identifizierbaren Geschäftsfällen deutlich zurück. Eine ähnlich umfangreiche Aktivität wie Nürnberger Händler entfalteten nur noch Kaufleute aus Krakau sowie aus Breslau und Schmiedeberg in Schlesien mit jeweils zwischen 1 200 und 1 300 Nennungen, abgesehen von der zahlreichen Wiener Händlerschaft mit über 2 800 Nennungen und den Kremsern selbst mit knapp 2 450 Einträgen. Infolge einer weitreichenden Aktenvernichtung des Linzer Stadtarchivs im 19. Jahrhundert liegt keine vergleichbare Quelle für den wichtigsten Handelsplatz an der österreichischen Donau vor22. Durch die seit 2013 laufende Erschließung der Protokollbücher (Mautregister) der Donaumaut Aschach (1627–1775), einer Privatmaut rund 20 Kilometer stromaufwärts von Linz gelegen, sind in den nächsten Jahren grundlegend neue Erkenntnisse für den gesamten Handel im Raum der Oberen Donau und damit auch für den Handelsplatz Linz zu erwarten23. Ausgehend von einleitenden Überlegungen zur Bedeutung des österreichischen Donauraums für die Kaufleute der Reichsstadt Nürnberg in der Frühen Neuzeit und einer knappen Darstellung der Entwicklung der Märkte in Linz, Krems und Wien sollen mit Hilfe der Online-Datenbank der Kremser Waag- und Niederlagsbücher vorrangig folgende Fragen beantwortet werden: War die berühmte Nürnberger Ware auch in der Donauregion ein zentrales Handelsgut? Und wer waren die dort agierenden Händler aus der fränkischen Reichsstadt? Damit soll ein Beitrag zur Erforschung von Nürnberger Kaufleuten geleistet werden, die im 17. und 18. Jahrhundert in einer Region aktiv waren, die trotz der Reichshauptund Residenzstadt Wien und der überregional wichtigen Märkte in Linz und Krems relativ wenig Beachtung in der Forschung gefunden hat. II. Nürnberg und der österreichische Donauhandel24 Nürnberger Kaufleute gehörten seit dem 14. Jahrhundert zu den bestimmenden Kräften des Handels im Donauraum – eine Stellung, die sie auch im 17. Jahrhundert noch zu behaupten vermochten. Das Faktum, dass Nürnberger 1627/28 die wichtigste Gruppe überregional operierender Kaufleute an der Maut von Aschach 22 Zur Archivalienvernichtung im Linzer Stadtarchiv siehe MICHAEL HOCHEDLINGER: Österreichische Archivgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Papierzeitalters (= Historische Hilfswissenschaften), Wien u. a. 2013, 290. 23 Zum Gesamtprojekt der Erschließung von Quellen zum Donauhandel des 17. und 18. Jahrhunderts siehe den Forschungsbericht von PETER RAUSCHER, ANDREA SERLES: Der Donauhandel. Quellen zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Frühneuzeit-Info 25 (2014), 244–247; zu den Aschacher Mautprotokollen eingehend PETER RAUSCHER: Die Aschacher Mautprotokolle als Quelle des Donauhandels (17./18. Jahrhundert). In: RAUSCHER, SERLES (Hg.): Wiegen (wie Anm. 12), 255–306. 24 Die folgenden Kapitel basieren zum Teil auf der ungedruckten Qualifikationsarbeit SERLES: Metropole (wie Anm. 4).
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stellten, belegt nachdrücklich die Bedeutung der Händler aus der Pegnitzstadt für den Donauhandel jener Zeit25. Dass sie während des gesamten Dreißigjährigen Krieges die Marktorte an der Donau aufsuchten, ist auch aus einem Geleitsbrief König Ferdinands III. zu schließen, in welchem Linz und Krems in einer Reihe mit Frankfurt, Naumburg und Leipzig genannt werden: Am 29. August 1635 wurde den gesampten Handelsleuten zu Nürnberg auff ihr untertänigstes Anhalten / nacher Franckfurth / Naumburg / Leiptzig / Lintz / Krembs und anderer Orten / auff die Meß daselbst […] Ihre Handlungen zuführen / auff: und abzuraisen / gnädigst verwilligt26. Selbst Frauen scheuten während des Dreißigjährigen Krieges den gefährlichen Weg an die Donau nicht, wenn sie wirtschaftliche Interessen zu vertreten hatten. So reiste Kunigunde Endter, die Witwe des Buchdruckers und Verlegers Georg Endter d. J., während des Krieges immer wieder nach Wien, um in der dortigen Niederlassung nach dem Rechten zu sehen27. Während des Dreißigjährigen Krieges begannen Nürnberger Kaufleute auch mit dem Import von Tabak in den Donauraum: Bereits 1647 scheinen mit Arnold Depeyr (der Beyer/de Beyer) und Franz Rösel zwei reichsstädtische Kaufleute als Tabaklieferanten in den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern auf, womit sie zu den ersten quellenmäßig belegbaren ausländischen Importeuren des neuen Genussmittels in Österreich gehören28. Ebenso war der Export von Eisen und Stahl bzw. von Produkten der eisenverarbeitenden Gewerbe aus der steirisch-oberösterreichischen „Eisenwurzen“ über die Donau eine Domäne Nürnbergs: 1618/19 gründeten Händler aus der Reichsstadt in Übereinkunft mit dem Hauptverlagsort Steyr in Oberösterreich eine eigene „Compagnie der Steyrischen Stahelhandlung zu Nürnberg“29. Nürnberger Kaufleute investierten teilweise auch beträchtliche Summen in die 1625 gegründete „Innerberger Hauptgewerkschaft“, die bis 1781 alle Zweige der Produktion und des Handels mit steirischem Eisen und Stahl kontrollierte. In der Pegnitzstadt hatte sich sogar ein eigener Stand der „Steyrer Ei25 ERICH LANDSTEINER: Die Kaufleute. In: VOCELKA, TRANINGER (Hg.): Wien (wie Anm. 11), 205–214, hier 209; OTHMAR PICKL: Handel an Inn und Donau um 1630. In: JÜRGEN SCHNEIDER u. a. (Hg.): Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege 2: Wirtschaftskräfte in der europäischen Expansion. Festschrift für Hermann Kellenbenz (= Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte 5), Stuttgart 1978, 205–243, hier 212, 221; DERS.: Österreichisch-ungarische Handelsbeziehungen entlang der Donau vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz (1987), 11–40, hier 23–27. 26 Stadtarchiv Nürnberg, E8 1398, Geleitsbrief König Ferdinands III., Philippsburg, 29.8.1635. Vgl. dazu auch RAUSCHER: Wege des Handels (wie Anm. 12). 27 LORE SPORHAN-KREMPEL: Zur Genealogie der Familie Endter in Nürnberg. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 8 (1967), 505–532, hier 512. 28 Zum Tabakhandel an der Donau siehe PETER RAUSCHER, ANDREA SERLES: Märkte, Monopole, Manufakturen. Der Tabakhandel im österreichischen Donauraum um 1700. In: Annales Mercaturae. Jahrbuch für internationale Handelsgeschichte / Yearbook for the History of International Trade and Commerce 1 (2015), 61–96, hier 82. 29 JOSEF OFNER: Zur Geschichte des Stahlhandels der Steyrer Eisenkompagnie nach Regensburg und Nürnberg. In: Veröffentlichungen des Kulturamtes der Stadt Steyr 32 (1975), 3–35, hier 23.
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senhändler“ etabliert30. Wer in Nürnberg ein „steyrisch Gewölbe“ betrat, wusste, dass er dort Waren wie Messer, Sicheln, Sensen und Strohmesser aus der Steiermark und den Donauländern finden würde31. Alles, was diesen Handel zu stören drohte, wurde in Nürnberg aufmerksam verfolgt. Insbesondere die Erhöhung von Mauttarifen führte regelmäßig zu heftigen Reaktionen der reichsstädtischen Händlerschaft. 1672 etwa beklagten sich in einer Eingabe an die Stadt Linz mehr als 100 Kaufleute über eine im selben Jahr erfolgte Mautsteigerung in Österreich. Unter diesen stellten die Nürnberger mit 26 namentlich bezeichneten Händlern bzw. Firmen die bei Weitem größte Gruppe vor Regensburgern, Augsburgern, Breslauern, Frankfurtern, Salzburgern, St. Gallenern und Wienern32. Die unter Kaiser Leopold I. mehr theoretisch formulierten als praktisch umgesetzten Ansätze einer merkantilistischen Wirtschaftsordnung gelangten erst unter Kaiser Karl VI. zu ihrer eigentlichen Entfaltung. Mit kaiserlichem Patent vom 14. Juni 1728 wurde die Einfuhr einer ganzen Reihe von Waren verboten, um einheimische Manufakturen zu schützen33. In Reaktion darauf wandten sich im Januar 1729 jene Nürnberger Händler, die von diesen Maßnahmen besonders hart ge30 JOHANN FERDINAND ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels. Ein Versuch, 4 Bde., Leipzig 1800–1802, hier Bd. 2, 213; LUDWIG BITTNER: Das Eisenwesen in InnerbergEisenerz bis zur Gründung der Innerberger Hauptgewerkschaft im Jahre 1625. In: Archiv für österreichische Geschichte 89 (1901), 451–646, hier 584; HERMANN KELLENBENZ: Nürnberger Handel um 1540. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 50 (1960), 299–324, hier 302; PHILIPPE BRAUNSTEIN, ERICH LANDSTEINER: The Production and Trade of Steel and Steel Tools in the Early Modern Semi-Periphery. A Commodity Chain Approach to the Innerberg District (Austria) in the 16th and 17th Centuries. In: PHILIPPE DILLMANN, LILIANE PEREZ, CATHERINE VERNA (Hg.): L’acier en Europe avant Bessemer. Actes du colloque international, Conservatoire national des Arts et Métiers, Paris, les 8, 9, 10 décembre 2005, Toulouse 2011, 405–446, hier 419 f., 423 f., 427–430. 31 [JOHANN FRIEDRICH RIEDERER:] Die Illustre Negocianten oder hier geweßene Kauff-Leute, Dero Leben, so viel davon hat in Erfahrung gebracht werden können, nach den meisten Particularitaeten beschrieben wird, mühsam gesammelt, von einem Mitglied des Pegnes. Blumenordens, 2 Bde., Frankfurt am Main/Leipzig 1734–1739, hier Bd. 1, 103. 32 Oberösterreichisches Landesarchiv Linz, Ständisches Archiv, Landschaftsakten, G. VIII, Bd. 805, Nr. 22, Eingabe der auswärtigen Kaufleute an die Stadt Linz in Sachen Mautsteigerung, 1672. Siehe auch Alfred Hoffmann: Wirtschaftsgeschichte des Landes Oberösterreich 1: Werden – Wachsen – Reifen. Von der Frühzeit bis zum Jahre 1848, Salzburg 1952, 141 f. 33 SEBASTIAN GOTTLIEB HERRENLEBEN: Sammlung Oesterreichischer Gesetze und Ordnungen, wie solche von Zeit zu Zeit ergangen und publiciret worden, so viel deren vom Jahr 1721. Bis auf Höchst-traurigen Tod-Fall Der Römisch-Kayserlichen Majestät Caroli VI. aufzubringen waren, Wien 1752, 476–478, Verbot der Einfuhr verschiedener Waren und Verringerung des Sensen-Aufschlags, Laxenburg, 14.6.1728. Siehe dazu auch JOHANNES FALKE: Die Geschichte des deutschen Zollwesens. Von seiner Entstehung bis zum Abschluß des deutschen Zollvereins, Leipzig 1869, 253–256. Zur Gewerbepolitik vgl. GUSTAV OTRUBA (Hg.): Österreichische Fabriksprivilegien vom 16. bis ins 18. Jahrhundert und ausgewählte Quellen zur Frühgeschichte der Industrialisierung (= Fontes Rerum Austriacarum III/7), Wien/Köln/Graz 1981; MAX ADLER: Die Anfänge der merkantilistischen Gewerbepolitik in Österreich, Wien/ Leipzig 1903.
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troffen wurden, an den Rat ihrer Heimatstadt34. Zu ihnen zählten vor allem die „Österreichischen Fieranten“ – in Nürnberg ansässige Marktfahrer, die hauptsächlich die Jahrmärkte in den Donauländern besuchten – wie auch die „Wiener Niederleger“ – auswärtige Groß- und Fernhändler, die in ihren Wiener „Niederlagsgewölben“ ganzjährig Engroshandel betreiben durften35. In ihrem Schreiben legten die Fieranten dar, dass sie, ebenso wie die Niederleger und andere Kaufleute, bis dato ein[en] starcke[n], dem Publico nicht weniger als ihnen erspriesliche[n] handel nach Wien, Linz und Crems getrieben hätten; durch das Patent von 1728 würde der einst freye lauf der Commercien der orten so gar sehr auf einmahl gehemmet und gesperret seyn36. Gleichzeitig beklagen die Kaufleute, dass ohnehin handel und wandel dahier [= in Nürnberg] von seinen vorigen Lustre kaum nur noch einigen Schatten übrig behalten und hingegen Armuth und Elend die leidige folgen Nahrungsloser Zeiten sich immer zu mehr und mehr äussern würden37, da das Einfuhrverbot von 1728 nicht die erste habsburgische Maßnahme dieser Art war. 1724 etwa war bereits der Import von etlichen feineren Tuchsorten und ganzwollenen Zeugen massiv erschwert worden38. 1728 wurde der österreichische Markt für Baumwoll- und Seidenstoffe, Seidenstrümpfe, Schaf- und Kalbfelle, Hüte, verschiedene Silber- und Goldwaren (darunter Borten, Drähte, Gespinste, Spitzen und Point d’Espagne) sowie für Wohntextilien (Tischwäsche, Wandbespannungen aus Atlas etc.) gesperrt bzw. Prohibitivzölle für diese Waren eingeführt39. 34 Stadtarchiv Nürnberg, Rep. E 8: Archiv des Handelsvorstandes, Nr. 4183, Stück 75, Anzeige von denen Österreichischen Fieranten, Nürnberg, 29.1.1729 [präs. 4.2.1729]. Vgl. auch ebenda, Stück 76 zu den „Mährischen Fieranten“. 35 Zu den Wiener Niederlegern siehe PETER RAUSCHER, ANDREA SERLES: Die Wiener Niederleger um 1700. Eine kaufmännische Elite zwischen Handel, Staatsfinanzen und Gewerbe. In: OLIVER KÜHSCHELM (Hg.): Geld – Markt – Akteure / Money – Market – Actors (= Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften / Austrian Journal of Historical Studies 26/1), Innsbruck/Wien/Bozen 2015, 154–182. 36 Zu den Auswirkungen der Zollpolitik Karls VI. auf die Geschäfte der Niederleger auf den Märkten in Wien, Linz und Krems siehe ADOLF BEER: Die österreichische Handelspolitik unter Maria Theresia und Josef II. In: Archiv für österreichische Geschichte 82 (1899), 1–204, hier 31. Einen guten Eindruck von den Folgen der merkantilistischen Politik Karls VI. für die Marktorte an der Donau durch das Ausbleiben fremder Händler bieten auch die sog. Kronprinzenvorträge: [CHRISTIAN AUGUST VON BECK, KARL HIERONYMUS HOLLER VON DOBLHOFF:] Kurze Nachricht von der innerlichen Beschaffenheit und Verfaßung des Erzherzogthums Oesterreich Unter und Ob der Ennß. In: FRIEDRICH HARTL, JÜRGEN BUSCH, ERWIN REISINGER (Hg.): Niederösterreich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Dargestellt in den Kronprinzenvorträgen für Joseph (II.) über Österreich Unter- und Ob der Enns. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich N. F. 79 (2013), 12–105, hier 27. 37 Stadtarchiv Nürnberg, Rep. E 8: Archiv des Handelsvorstandes, Nr. 4183, Stück 75, Anzeige von denen Österreichischen Fieranten, Nürnberg, 29.1.1729 [präs. 4.2.1729]. 38 KARL PŘIBRAM: Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik von 1740 bis 1860. Teil 1: 1740 bis 1798, Leipzig 2010 [Orig. Leipzig 1907], 15 f.; FRANZ MARTIN MAYER: Die Anfänge des Handels und der Industrie in Oesterreich und die orientalische Compagnie, Innsbruck 1882, 38 f. 39 HERRENLEBEN: Sammlung (wie Anm. 33), 476 f.
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Den Einfuhrverboten von 1728 standen eine Reduzierung der Ausfuhrzölle auf inländische Erzeugnisse und eine Senkung der Zollsätze zwischen den einzelnen habsburgischen Territorien gegenüber40. Durch diese Neugestaltung des Zollsystems wurde versucht, sonst nicht konkurrenzfähige Manufakturen zu stützen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die 1739 in Wien errichtete „Leonische Gold- und Silberdrahtfabrik“, deren Produkte mit jenen aus Nürnberg, die führend im Donauraum waren, zwar qualitativ nicht mithalten konnten, durch das gleichzeitig verhängte Importverbot das reichsstädtische Gewerbe und die involvierten Händler dennoch schwer traf41. Der Aufbau „nationaler Märkte“ durch den Fürstenstaat, der im 18. Jahrhundert an Dynamik zulegte, ließ die Stadtrepubliken, zu welchen auch die Reichsstädte zu zählen sind, als Verlierer zurück42. Die „Transithandels- und Gewerbeexportstadt“ Nürnberg, deren Kaufleute die bestimmende Kraft im Austausch zwischen den Bezugs- und Absatzmärkten des reichsstädtischen Gewerbes waren, geriet durch die merkantilistischen Maßnahmen der sich formierenden frühmodernen europäischen Staaten zunehmend in Bedrängnis43. Trotz der fortschreitenden Abschottung der habsburgischen Länder blieben diese auch im letzten Jahrhundert reichsstädtischer Selbständigkeit für die Nürnberger Wirtschaft von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Wie Johann Ferdinand Roth noch um 1800 hervorhob, spielten sie sowohl als Rohstofflieferanten für das Nürnberger Gewerbe als auch für den Bezug von Transithandelsgütern eine wichtige Rolle: Ein sehr beträchtlicher Theil jener Artikel für Nürnbergs Manufakturen und für den Zwischenhandel des Kaufmanns, wird aus Oestreichs Erbstaaten bezogen44. An zweiter Stelle nannte Roth, nach dem für die Messing40 Ebenda, 477. Das Einfuhrverbot von 1728 beinhaltet eine Zollreduktion auf Sensen, eines der Hauptausfuhrprodukte des 18. Jahrhunderts aus den Donauländern. Der „Sensen-Aufschlag“ wurde von 20 Gulden pro Fass zu 800 Stück auf 3 Gulden und 20 Kreuzer gesenkt. Zur Handels- und Zollpolitik vgl. HERBERT KNITTLER: Die Donaumonarchie 1648–1848. In: ILJA MIECK (Hg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 4: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1993, 880–915, hier 909–913. 41 Zur Gesamtentwicklung dieses Gewerbezweigs in Nürnberg und Wien vgl. FRIEDRICH LÜTGE: Beiträge zur Geschichte des Edeldrahtgewerbes in Nürnberg und Wien. In: DERS. (Hg.): Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gesammelte Abhandlungen. Aus dem Nachlaß hg. von ECKART SCHREMMER, Stuttgart 1970, 216–238. 42 Aus gesamteuropäischer Perspektive: VIOLET BARBOUR: Capitalism in Amsterdam in the Seventeenth Century, Baltimore 1950, 13: „Her [= Amsterdam’s] reign, like those of Venice and Antwerp before her, was the reign of a city – the last in which a veritable empire of trade and credit could be held by a city in her own right, unsustained by the forces of a modern unified state.“ 43 Vgl. dazu SEIBOLD: Wirtschaftlicher Erfolg (wie Anm. 10), Bd. 1, 15, der den Einbruch ab den 1730er Jahren ansetzt. Noch später bei ECKART SCHREMMER: Gewerbe und Handel zur Zeit des Merkantilismus. In: KRAUS (Hg.): Geschichte Frankens (wie Anm. 5), 930–955, hier 931–933. Zu Nürnberg als „Transithandels- und Gewerbeexportstadt“ siehe FRIEDRICH LÜTGE: Der Handel Nürnbergs nach dem Osten im 15./16. Jahrhundert. In: DERS. (Hg.): Beiträge (wie Anm. 41), 134–192, hier 192. 44 ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 30), Bd. 2, 149.
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herstellung essenziellen ungarischen Kupfer45, österreichischen Stahl – ein Haupthandelsgut mit jahrhundertelanger Tradition46. Zentren des Handels am österreichischen Donauabschnitt waren Wien, Linz und Krems, wobei jede dieser drei Städte einen anderen Schwerpunkt in Bezug auf das Handelsgeschehen aufzuweisen hatte. Wien entwickelte sich seit den 1620er Jahren, nachdem es dauerhaft Residenzstadt der Habsburger geworden war, zum Typus einer „Konsumptionsstadt“. Charakteristisch war der Zuzug der höfischen Oberschicht mit ihren gigantischen Vermögen, die Luxusgüter und Dienstleistungen nachfragte47. Ein bereits 1221 erlangtes Niederlagsrecht, das zu einem umfangreichen Sperrstapel ausgebaut werden konnte, hatte noch bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts Bestand und sicherte den Wiener Kaufleuten den lukrativen Zwischenhandel mit Ungarn. 1515 jedoch wurde den bereits erwähnten Wiener Niederlegern gestattet, ganzjährig mit anderen Gästen en gros zu handeln sowie eigene Maße und Gewichte in ihren Verkaufsgewölben zu benutzen. Städtischen Amtsträgern wurde die Kontrolle ihrer Warenlager untersagt48. Diese Bestimmungen gelten als Gründungsurkunde der Wiener Niederleger, unter welchen Nürnberger eine führende Stellung einnahmen49. Ein Weitertransport ihrer Waren nach Ungarn blieb auswärtigen Kaufleuten zwar grundsätzlich auch nach 1515 verboten; besonders den Nürnbergern gelang es dennoch, Handelsinteressen in den Ländern der Stephanskrone wahrzunehmen. Nach den Registern der ungarischen Außenhandelszölle („Dreißigiste“) Mitte des 16. Jahrhunderts war Nürnberg mit Abstand der wichtigste auswärtige Handelspartner Ungarns mit Ausnahme Wiens50. Besonders stark waren Nürnberger zu Beginn der Frühen Neuzeit im Handel mit den berühmten ungarischen Ochsen engagiert51. 45 Zum Vordringen der Nürnberger in den ungarischen Bergbau siehe WOLFGANG VON STROMER: Oberdeutsche Hochfinanz 1350–1450, Teil 1 (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 55), Wiesbaden 1970, 90–154. 46 Für die vollständige Liste der aus den habsburgischen Ländern bezogenen Güter siehe ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 30), Bd. 2, 148–154. 47 WEIGL: Haupt- und Residenzstadt als Konsumptionsstadt (wie Anm. 11), 138; DERS.: Residenz, Bastion und Konsumptionsstadt: Stadtwachstum und demographische Entwicklung einer werdenden Metropole. In: DERS. (Hg.): Wien im Dreißigjährigen Krieg. Bevölkerung – Gesellschaft – Kultur – Konfession, Wien/Köln/Weimar 2001, 31–105, hier 35 f.; GÜNTHER CHALOUPEK: Die Konsumtionsstadt. In: DERS., PETER EIGNER, MICHAEL WAGNER (Hg.): Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938, Teil 1: Industrie, Wien 1991, 24–32. 48 [FRANZ ANTON VON QUARIENT UND RAAL:] Codicis Austriaci ordine alphabetico compilati [...], 2. Teil, Wien 1704, 57–59, Niederlagsordnung Maximilians I., Innsbruck, 19.1.1515. 49 Zur Niederlagsordnung von 1515 und ihren Auswirkungen siehe RAUSCHER, SERLES: Wiener Niederleger (wie Anm. 35), 156–160, dort mit einer Zusammenfassung der älteren Literatur. 50 GYŐZŐ EMBER: Ungarns Außenhandel mit dem Westen um die Mitte des XVI. Jahrhunderts. In: INGOMAR BOG (Hg.): Der Außenhandel Ostmitteleuropas 1450–1650. Die ostmitteleuropäischen Volkswirtschaften in ihren Beziehungen zu Mitteleuropa, Köln/Wien 1971, 86–104, hier 99 f. 51 Siehe u. a. LÁZLÓ MAKKAI: Der ungarische Viehhandel 1550–1650. In: BOG (Hg.): Außenhandel Ostmitteleuropas (wie Anm. 50), 483–506, hier 495; ISTVÁN KENYERES: Die Finanzen des Königreichs Ungarn in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: FRIEDRICH EDELMA-
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Durch das rasante Bevölkerungswachstum Wiens ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts – zwischen 1650 und 1750 verdreifachte sich die Einwohnerzahl von 50 000 bis 60 000 auf ca. 175 00052 –, den Wegfall der direkten Bedrohung Wiens durch osmanische Heere nach 1683 und die Anziehungskraft des Kaiserhofs auf den Adel hatte sich Wien weitgehend von einem mittelalterlichen Güterumschlagplatz zwischen Ungarn und Oberdeutschland zum Absatzmarkt für Waren aller Art sowie zu einem Dienstleistungs- und Finanzzentrum gewandelt53. Der Aufstieg der beiden Linzer Märkte zu Ostern und um St. Bartholomäi (24. August) zu den dominierenden Zwischen- und Fernhandelsveranstaltungen im österreichischen Donauraum begann bereits im 15. Jahrhundert54. Um 1500 hatten die oberdeutschen Händler mit einem Anteil von 63 Prozent am umsatzstarken Tuchverkauf eine deutliche Vormachtstellung vor Kaufleuten aus Böhmen (30 Prozent) inne. Besonders bedeutend waren Nürnberger Kaufleute, deren Anteil am Tuchhandel über 33 Prozent betrug, und die damit weit vor Eichstätt, Salzburg und Ingolstadt eine führende Position einnahmen55. Hingegen hatten Nürnberger am Leinwandhandel jener Zeit noch keinen Anteil56. Für das 17. und 18. YER,
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MAXIMILIAN LANZINNER, PETER RAUSCHER (Hg.): Finanzen und Herrschaft. Materielle Grundlagen fürstlicher Politik in den habsburgischen Ländern und im Heiligen Römischen Reich im 16. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 38), Wien/München 2003, 84–122, hier 118 f.; LAJOS GECSÉNYI: Handelsbeziehungen zwischen Ungarn und den süddeutschen Städten am Anfang der Frühen Neuzeit. In: HERBERT W. WURSTER, MANFRED TREML, RICHARD LOIBL (Hg.): Bayern – Ungarn. Tausend Jahre. Aufsätze zur Bayerischen Landesausstellung 2001. Vorträge der Tagung „Bayern und Ungarn im Mittelalter und in der frühen Neuzeit“ in Passau, 15. bis 18. Oktober 2000, Passau/Regensburg 2001, 121–136. WEIGL: Frühneuzeitliches Bevölkerungswachstum (wie Anm. 11), 110; ROMAN SANDGRUBER: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995, 107. Im 16. Jahrhundert lagen im Reich die Städte Augsburg, Köln und Nürnberg mit ihren Einwohnerzahlen wohl noch deutlich vor Wien. HERBERT KNITTLER: Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit. Institutionen, Strukturen, Entwicklungen (= Querschnitte 5), Wien/München 2000, 264 f. und 279. Zur Bedeutung Wiens als Finanz- bzw. Wechselplatz im Vergleich zu Nürnberg siehe MARKUS A. DENZEL: Die Integration Deutschlands in das internationale Zahlungsverkehrssystem im 17. und 18. Jahrhundert. In: ECKART SCHREMMER (Hg.): Wirtschaftliche und soziale Integration in historischer Sicht. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Marburg 1995 (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 128), Stuttgart 1996, 58–109, hier 90–94. Ausführlich dazu RAUSCH: Handel an der Donau (wie Anm. 12); DERS.: Jahrmärkte, Messen und Stadtentwicklung in den habsburgischen Ländern Österreichs. In: PETER JOHANEK, HEINZ STOOB (Hg.): Europäische Messen und Märktesysteme in Mittelalter und Neuzeit (= Städteforschung A/39), Köln/Weimar/Wien 1996, 171–187, hier 179–187, zur Dominanz von Linz: 182; JOSEPH KENNER: Bruchstücke über die Linzer-Jahrmärkte. In: Fünfter Bericht über das Museum Francisco-Carolinum (1841), 111–248; RAUSCHER: Wege des Handels (wie Anm. 12). RAUSCH: Handel an der Donau (wie Anm. 12), 212–224, 227–245; DERS.: Jahrmärkte (wie Anm. 54), 182; GÜNTHER PROBSZT: Die Linzer Jahrmärkte im Spiegel der Reichsmünzgesetzgebung. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz (1965), 43–83, hier 51. RAUSCH: Handel an der Donau (wie Anm. 12), 225.
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Jahrhundert dürfte dies nicht mehr zutreffen, da beispielsweise das renommierte Nürnberger Handelshaus Viatis & Peller bis 1618 sogar eine eigene Faktorei in Wels, einem Zentralort der oberösterreichischen Leinwandproduktion, unterhielt und Aktivitäten in Linz und Wels bis in die 1650er Jahre wahrscheinlich sind57. Mangels verwertbarer Archivalien wurde der oberösterreichische Leinwandhandel der merkantilistischen Ära noch nicht erforscht, sodass auch die Rolle auswärtiger Kaufleute kaum geklärt ist58. Abgesehen von Tuch und Leinwand wurden vor allem venezianische Waren, Wachs, Unschlitt, Pferde, Häute, Eisen und Eisenwaren, Papier und Bücher, Spezereien, Seide, Pelze, Felle und Federn sowie Färberröte in Linz in großen Mengen gehandelt59. Die Linzer Märkte waren während der Frühen Neuzeit nicht nur die wichtigste Fernhandelsveranstaltung im Donauraum, sondern gehörten auch zu den großen Jahrmärkten im Heiligen Römischen Reich. Daran lassen auch die auswärtigen Händler in der bereits erwähnten Eingabe des Jahres 1672 keinen Zweifel, wenn sie im Zusammenhang mit der geforderten Rücknahme der Mauterhöhung vermerkten, dass ain unersez- und unwiderbringlichen schaden durch diese mauthstaigerung albereith beschehen und hinfüro noch erfolgen möchte, mit vertreibung der handlung auß diesen ländern [= Österreich ob und unter der Enns/Ober- und Niederösterreich] und insonderheit hiesiger statt Linz, derer märkht für die berühmbtesten und nechst Leibzig in ganz Teutschlandt maist florirent gehalten werden […]60.
Linz, das um 1600 ca. 3 000 und Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr als 10 000 Einwohner zählte61, war nicht nur der wichtigste Marktort an der Donau, die Stadt fungierte bis ins 18. Jahrhundert auch als Wechselplatz62. Zahlreiche oberdeutsche und italienische Firmen sahen sich veranlasst, eigene Handelsniederlassungen in Linz und im nahen Wels zu gründen63.
57 ALFRED MARKS: Das Leinengewerbe und der Leinenhandel im Lande ob der Enns von den Anfängen bis in die Zeit Maria Theresias. In: Jahrbuch des oberösterreichischen Musealvereins 95 (1950), 169–286, hier 245 f., 252; GERHARD SEIBOLD: Die Viatis und Peller. Beiträge zur Geschichte ihrer Handelsgesellschaft (= Forschungen zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 12), Köln 1977, 290, 334–338. 58 Zur eingeschränkten Quellenlage vgl. MARKS: Leinengewerbe (wie Anm. 57), 240, 243, 245 f., bes. 253. Zu den Aktenvernichtungen im Linzer Stadtarchiv siehe oben Anm. 22. Die Bearbeitung der Aschacher Mautprotokolle wird diese Lücke teilweise schließen können. 59 HOFFMANN: Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 32), 138 f. 60 Oberösterreichisches Landesarchiv Linz, Ständisches Archiv, Landschaftsakten, G. VIII, Bd. 805, Nr. 22, Eingabe der auswärtigen Kaufleute an die Stadt Linz in Sachen Mautsteigerung, 1672. 61 KNITTLER: Europäische Stadt (wie Anm. 52), 279; SANDGRUBER: Ökonomie und Politik (wie Anm. 52), 107. 62 PROBSZT: Linzer Jahrmärkte (wie Anm. 55), passim. Zu Linz als Wechselmarkt für Nürnberger Kaufleute siehe DENZEL: Nürnberger Wechselmarkt (wie Anm. 8), 172. 63 HOFFMANN: Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 32), 141.
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Die zwischen Wien und Linz liegende Stadt Krems verkörperte mit ihren im 17. und 18. Jahrhundert durchschnittlich 4 000 Einwohnern64 eine weitere Variante eines Marktortes: Sie steht exemplarisch für jene zahllosen Knotenpunkte, die im internationalen Handelsnetz zwar nachrangig waren, die aber aufgrund spezieller Handelsmonopole und eines großen Hinterlandes dennoch ein vielfältiges Marktgeschehen aufwiesen und die in ihrer Gesamtheit für das Vertriebsnetz der großen Gewerbe- und Handelsmetropolen von nicht zu unterschätzender Bedeutung waren65. Das nur mit dem oberösterreichischen Freistadt geteilte Monopol des Exports von Stahl, Eisen und Eisenwaren in die Gebiete der Böhmischen Krone und nach Polen brachte begehrte Waren wie Juchtenleder, Färberröte, Honig oder Wachs als Gegenfracht nach Krems, das mit diesen Gütern weite Teile Niederösterreichs versorgte und auch Händler aus anderen Regionen anziehen konnte. Dazu kam eine selbständige Weinproduktion mit einem weit gestreuten Abnehmerkreis66. Krems hatte zwei bereits seit dem 14. Jahrhundert bestehende Jahrmärkte: Sowohl der Jakobimarkt (25. Juli) als auch der Markt zu Simon und Judas (28. Oktober) verfügten über eine 14-tägige Marktfreiung67 und wurden außer von lokalen und regionalen Händlern vor allem von Kaufleuten aus Böhmen, Mähren, Schlesien und Südpolen im Nordosten sowie aus Nürnberg, Regensburg, Passau und Augsburg, aus Tirol, Salzburg, Norditalien und Savoyen im (Nord-)Westen regelmäßig besucht, wie aus den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern hervorgeht. Die beiden Kremser Märkte sind bereits im 1558 gedruckten Märkteverzeichnis des Nürnberger Kaufmanns Lorenz Meder erwähnt, wie auch noch unter 64 EDUARD KUNZE: Wandlungen der sozialökologischen Struktur zweier historischer Städte in Österreich (Krems und Stein). In: HEIMHOLD HELCZMANOVSZKI (Hg.): Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs. Nebst einem Überblick über die Entwicklung der Bevölkerungs- und Sozialstatistik, Wien 1973, 333–372, hier 338 f. 65 Zur Bedeutung dieses Markttypus vgl. KARL HEINRICH KAUFHOLD: Messen und Wirtschaftsausstellungen von 1650 bis 1914. In: JOHANEK, STOOB (Hg.): Europäische Messen (wie Anm. 54), 237–294, hier 247 f. 66 Trotzdem existiert über die frühneuzeitliche Handelsgeschichte von Krems lediglich eine einzige umfassende Arbeit, die als ungedruckte Dissertation nur schwer zugänglich ist und außerdem mit dem Dreißigjährigen Krieg endet: ELEONORE HIETZGERN: Der Handel der Doppelstadt Krems-Stein von seinen Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, ungedr. Diss. Wien 1967. An Beiträgen, die (auch) das 17. und 18. Jahrhundert behandeln, sind hervorzuheben: OTTO BRUNNER: Die geschichtliche Stellung der Städte Krems und Stein. In: Krems und Stein. Festschrift zum 950-jährigen Stadtjubiläum, Krems 1948, 19–102; HERBERT KNITTLER: Abriß einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Doppelstadt Krems-Stein. In: HARRY KÜHNEL (Hg.): 1000 Jahre Kunst in Krems, 2. Aufl., Krems a. d. Donau 1971, 43– 73; DERS.: Agrarraum und Stadtraum. Ländliches und städtisches Wirtschaften im Waldviertel vom 16. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert. In: DERS. (Hg.): Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels (= Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 47), Horn/Waidhofen a. d. Thaya 2006, 77–194; RAUSCHER: Kremser Märkte (wie Anm. 12); DERS.: Wege des Handels (wie Anm. 12). 67 Zu den einzelnen Marktprivilegien siehe OTTO BRUNNER (Hg.): Die Rechtsquellen der Städte Krems und Stein (= Fontes Rerum Austriacarum III/1), Graz/Köln 1953, bes. 38 f. (Nr. 40), 40 (Nr. 44), 55 (Nr. 77), 64 f. (Nr. 102).
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jenen Messen und Märkten, die um 1800 von Johann Ferdinand Roth als bedeutend für die Nürnberger Kaufleute eingeschätzt wurden68. Wien, wo Nürnberger als Niederleger eine maßgebliche Rolle spielten und ganzjährig aktiv waren, sowie die beiden Marktorte Linz und Krems, die von Nürnbergern vorrangig während der großen Jahrmärkte besucht wurden, bildeten auf unterschiedliche Weise wichtige Knotenpunkte im vielfältigen Handelsnetz der fränkischen Reichsstadt. So essentiell die Verbindungen zu den großen Handelsmetropolen wie Venedig, Lyon, Frankfurt, Amsterdam oder Leipzig gewesen sein mögen, so notwendig war es, auch die Handelsplätze im binneneuropäischen „Hinterland“ als Bezugs- und Absatzmärkte für Nürnberger Gewerbeerzeugnisse und Transithandelsgüter im Auge zu behalten. In diesem Sinne argumentierte auch Johann Heinrich Zedler in seinem Universallexikon, wenn er den unternehmerischen Fleiß der Nürnberger Kaufleute rühmte: Die Ursache aber, warum die Stadt Nürnberg so voller Künstler und Manufacturen ist, rühret daher, weil diese berühmte Stadt auf einem sandigen Boden liegt, welcher die grosse Menge der Einwohner nicht würde ernähren können, wenn es nicht durch die Handlung und Manufacturen geschähe, vornemlich durch die grosse Sorgfalt und Bemühung ihrer Kaufleute, welche leicht keine Teutsche Messe oder Jahr=Marckt versäumen, daß sie nicht dabey mit ihren Waaren sich einstellen sollten69.
III. Zwischen Gewerbeerzeugnissen und Transithandelsgütern – Nürnberger Waren im Donauhandel Unter Sammelbezeichnungen wie „Nürnberger Waar“, „Nürnberger Kramwaren“, „Nürnbergerei“, „Merces Norimbergenses“, „Nürnberger Kram“ oder „Nürnberger Cramerye“ wurden zeitgenössisch Gebrauchswaren aus der reichhaltigen Nürnberger Gewerbeproduktion zusammengefasst70. Vor allem Erzeugnisse des Kleinmetallgewerbes wie Nadeln, Beschläge, Becken und Schüsseln, Kannen und Becher oder Zirkel und Schellen gehörten zu dieser Gruppe, aber auch Knöpfe, Pinsel, Kämme und Spiegel, um nur einige zu nennen. Wegen des zumeist geringen Wertes wurden diese Handelswaren häufig auch als „Nürnberger Pfenwert“
68 HERMANN KELLENBENZ (Hg.): Das Meder’sche Handelsbuch und die Welser’schen Nachträge. Handelsbräuche des 16. Jahrhunderts (= Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit 15), Wiesbaden 1974, 64, 249; ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 30), Bd. 2, 209 f. Zur Bedeutung der Kremser Märkte im 17. und frühen 18. Jahrhundert siehe zusammenfassend RAUSCHER: Kremser Märkte (wie Anm. 12), 95–100. 69 Art. „Nürnberger Handlung“. In: JOHANN HEINRICH ZEDLER (Hg.): Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste 24, Leipzig/Halle 1740, 1611–1614, Zitat: 1612. 70 HERBERT MAAS: Der Name Nürnberg in Sprichwörtern, Redensarten und Bezeichnungen. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 79 (1992), 1–59, hier 45 f. Zu Nürnberger Waren allgemein vgl. HEIDI A. MÜLLER: „Tand“ und Nürnberger Waren. In: HERMANN MAUÉ, THOMAS ESER, SVEN HAUSCHKE, JANA STOLZENBERGER (Hg.): Quasi Centrum Europae. Europa kauft in Nürnberg. 1400–1800, Nürnberg 2002, 73–95.
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bezeichnet71. So findet man beispielsweise im Nachlassinventar des 1720 verstorbenen Kremser Händlers Matthias Hölzl unter der Rubrik Nürnberger Waren mehr als ein Dutzend verschiedener Produktgruppen – darunter Bügeleisen aus Stahl und Messing, Pfeffermühlen, Schlittenschellen, Schneid- und Schermesser sowie Messingnägel –, die zusammen lediglich einen Warenwert von 182 Gulden hatten72. Wie das Vorkommen der Bügeleisen zeigt, war die Produktpalette keineswegs statisch. Vor dem 18. Jahrhundert fehlen Bügeleisen im Sortiment ebenso wie etwa Maultrommeln oder Kaffeemühlen73. Im 19. Jahrhundert wurde die Bezeichnung Nürnberger Ware zunehmend als Sammelbegriff für die von Nürnberger Kaufleuten verlegten Spielwaren verwendet74. Nach Maßstäben des 17. Jahrhunderts wurden Nürnberger Waren weltweit vertrieben, wie aus einer 1640 verfassten Stellungnahme des Leipziger Rats gegen die Erhöhung der Akzise und der darin zum Ausdruck gebrachten Sorge, dass der profitable Zwischenhandel aus Leipzig abwandern könnte, eindrucksvoll hervorgeht: Die Nürnberger Kurze-, Messing- und Pfennigwerthwaaren, so jährlich mit grossen Summen anher kommen, und von hier weiter auf Hamburg, nach Schlesien, Polen, England, Schottland, Preussen, ja sogar nach Ost- und Westindien gehen, die können an andere Orte […] kommen […]75.
Der Vertrieb erfolgte einerseits über Kaufleute während der großen Messen und Jahrmärkte, andererseits eignete sich die kleinteilige, billige Nürnberger Ware aber auch ideal für den Hausierhandel auf dem flachen Land. Noch 1775 versuchte Maria Theresia die Einschwärzung von Nürnberger Waren durch Hausierer in die Donauländer abzustellen: Den Handel, der durch Hausiren mit Schnitt=Specerey=Droguerie- und Nuernbergerwaaren geschieht, und welcher zu vielen Schwärzungen Anlaß giebt, wollen Wir auch in jenen Ländern, wo das Hausiren annoch erlaubet ist, von der Gränze an, auf 1. Meile oder 2. Stunden in das Land, gaenzlich abgestellet haben76.
71 MÜLLER: Tand (wie Anm. 70), 76 f. Vgl. auch den Artikel „pfenni(n)gwert, pfenwert 1“. In: ULRICH GOEBL, OSKAR REICHMANN (Hg.): Frühneuhochdeutsches Wörterbuch 4, bearb. von JOACHIM SCHILDT, Berlin/New York 2001, 130–133. 72 Stadtarchiv Krems, Testamentsprotokolle/Inventarbücher 44, 1717–1721, Verlassenschaftsinventar nach Matthias Hölzl (1720), fol. 154v–195v, hier 173r–174r. 73 MÜLLER: Tand (wie Anm. 70), 87. 74 Zur Verengung des Begriffs auf Kinderspielzeug siehe MARION FABER: Nürnberger Tand. In: VOLKER KUTSCHERA, GOTTFRIED STANGLER (Hg.): Spielzeug, Spiel und Spielereien, Wien 1987, 115–124. 75 Zitiert nach: ERNST HASSE: Geschichte der Leipziger Messen, Leipzig 1963 [Orig. Leipzig 1885], 459. 76 Mandat gedruckt als: Zoll=Ordnung, und Tarif Ihrer Roemisch=Kaiserl. auch in Germanien Hungarn und Boeheim Königl. Apostolischen Majestaet für Dero deutsche Erblaender, benanntlich Das Koenigreich Boeheim, Markgrafthum Maehren und Herzogthum Schlesien, Erzherzogthum Oesterreich unter und ob der Enns, Dann die Herzogthuemer Steyermark, Kaernten und Krain, beyde Grafschaften Goerz und Gradiska, nebst dem Oesterreichischen Littorali, Wien 1775, Zitat: § 94.
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Eine generelle Schwäche der Kremser Waag- und Niederlagsbücher besteht darin, dass bei rund einem Drittel aller Einträge keine konkrete Angabe der gehandelten Güter erfolgte. Für die von Nürnberger Kaufleuten nach Krems gebrachten Waren gilt dies in einem signifikant höheren Maß, da hier sogar bei fast zwei Drittel der Einträge entweder überhaupt keine Bezeichnung oder nur sehr allgemeine wie „Ware“ oder „Krämerei“ angegeben wurde. Es scheint jedoch nicht unplausibel, dass dies mit der enormen Vielfalt der Nürnberger Waren und dem meist geringen Wert der einzelnen Produkte zusammenhängen könnte, weshalb eine genaue Verzeichnung häufiger als bei anderen Gütern unterblieb und etliche der nicht identifizierbaren Lieferungen den klassischen Nürnberger Waren zuzuordnen wären77. Handelstransaktionen mit explizit als Nürnberger Ware bezeichneten Gütern scheinen nur 40 Mal in den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern auf, wovon zwölf von Nürnberger Händlern vorgenommen wurden und der Rest vor allem unter Krakauer Händlern verbucht wurde. Diese nutzten die Kremser Niederlage bis in die 1660er Jahre häufig für den Einkauf von Gütern aus dem Süden Deutschlands und dem Norden Italiens, wenn sie große Ladungen von Eisen und Eisenwaren in Krems holten78. Dass Polen ein wichtiger Absatzmarkt für Nürnberger Waren war, kommt selbst im Ausdruck „Nurenbergiskie“, der sich im Polnischen lange als allgemeine Bezeichnung für Klein- und Metallwaren gehalten hat, zum Ausdruck79. Auch im Eisenwareninventar des in Krakau ansässigen Händlers Bartholomäus Schedel von 1620 finden sich drei unterschiedliche Warengattungen, die nach ihrer regionalen Herkunft bezeichnet wurden: Rakusische [= österreichische], Breslauer und Nürnberger Waren80. Neben der Nürnberger Ware fanden auch andere Produkte des reichsstädtischen Gewerbes ihren Weg an die Donau. Besonders hervorzuheben ist dabei die starke Stellung der Nürnberger Buchdrucker, Verleger und „Buchführer“ bzw. Buchhändler. Bereits in den erhaltenen „Standgeldverzeichnissen“ der Kremser und Linzer Märkte des 16. Jahrhunderts sind Nürnberger prominent in dieser Sparte vertreten. So finden sich in Krems unter den sieben Buchführern des Jahres 1556 neben drei nicht näher bezeichneten Händlern und jeweils einem aus Krems und Passau gleich zwei aus Nürnberg81. Im Standgeldverzeichnis des Linzer Bartholomäimarktes von 1583 ist die Dominanz noch deutlicher, denn vier der neun Buchhändler, die einen Stand von der Stadt Linz gemietet hatten, kamen aus Nürnberg82. In den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts finden sich so prominente Namen wie Georg, Martin und Michael End77 Friedrich Lütge thematisierte dieses Problem bereits in Bezug auf andere Quellen zu den Nürnberger Handelsgütern. LÜTGE: Handel Nürnbergs (wie Anm. 43), 343. 78 Zu Lieferungen von Nürnberger Waren über Krems nach Krakau siehe auch JANINA BIENIARZÓWNA: Die Handelsbeziehungen zwischen Krakau und Krems vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Prace Historyczne 121 (1996), 109–122, hier 115 f. 79 MAAS: Name Nürnberg (wie Anm. 70), 46. 80 BIENIARZÓWNA: Handelsbeziehungen (wie Anm. 78), 112. 81 Stadtarchiv Krems, Kammeramtsrechnungen, 1556, fol. 40v–41r. 82 Vgl. ALFRED HOFFMANN: Die Hütten und Stände am Linzer Bartholomäimarkt des Jahres 1583. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz (1954), 479–500, hier 489.
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ter, der „Bildermann“ Paulus Fürst, Johann Martin Eßlinger oder Georg und Johann Christoph Lochner. Außer Büchern spielten traditionell auch die in Nürnberg gedruckten Kalender und Landkarten eine wichtige Rolle83. Eine Stichprobe der Aschacher Mautprotokolle von 1719 zeigt allein sechs Lieferungen von Landkarten der Firma Homann aus Nürnberg in diesem einen Jahr84. Nürnberger Buchdrucker und -händler unterhielten zudem eigene Niederlagen in Wien, wie z. B. Peter Konrad Monath, der zwischen 1718 und 1737 über 400 Mal in den Aschacher Mautprotokollen mit „Buchführerei“, Büchern, „Schriften“ und Pergament aufscheint85. Eine Untersuchung des Linzer Buchhandels zeigte, dass Nürnberger nicht nur überaus aktiv als Händler während der Märkte tätig waren, sondern einige sich auch dauerhaft in Linz niederließen oder Zweigstellen gründeten86. An der Schnittstelle zwischen Gewerbeexport- und Transithandelsgütern stehen im Falle Nürnbergs die Textilwaren: Die Reichsstadt war zugleich Zentrum des Handels, der Erzeugung und vor allem der Veredelung von Textilien87. Da der Handel mit Tuch in den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern keinen Niederschlag gefunden hat, können weder Namen wichtiger Händler noch Mengen der unterschiedlichen Sorten angegeben werden. Einen kleinen Einblick in die Bandbreite der gehandelten Stoffqualitäten bietet jedoch die bereits zitierte Eingabe der „Österreichischen Fieranten“ von 1729, in welcher diese hervorhoben, dass unter den mit Einfuhrverboten belegten Textilien nun die ganz und halbe cattons, cadife, wurschete-rasche, crepons, quinets, grabgrün, concents, polomits, barcans, calamanquen, engelsatt, seyetten, ganz und halbe camelot, weiße und gefarbte barchet, schnürtuche, halb seidene zeug von vielerley arten, seidene bande, wollene ganz und halb seidene strümpf, schaaf- und kalbfelle etc
83 FRITZ SCHNELBÖGL: Stadt des Buchdrucks und der Kartographie. In: GERHARD PFEIFFER (Hg.): Nürnberg – Geschichte einer europäischen Stadt, Nürnberg 1971, 218–224, hier 220– 224. 84 Oberösterreichisches Landesarchiv Linz, Depot Harrach, Hs. 106, Protokollbuch der Maut zu Aschach 1719, pag. 41, 96, 308, 543, 657, 893. Digitalisate abrufbar auf der Website „Der Donauhandel“, http://www.univie.ac.at/donauhandel/datenbank-aschach-scans/. 85 Allein 1728 wurden 61 Ladungen Monaths verzeichnet (40 unterschiedliche Schiffspassagen). Diese sind in einer Testversion der Online-Edition der Aschacher Mautprotokolle bereits recherchierbar. PETER RAUSCHER, ANDREA SERLES (Hg.): Aschacher Mautprotokolle – Datenbank, http://www.univie.ac.at/donauhandel/datenbank-aschach-suche/, „Monath, Peter Konrad“+„1728“. Zu Peter Konrad Monath siehe u. a. NORBERT BACHLEITNER, FRANZ M. EYBL, ERNST FISCHER: Geschichte des Buchhandels in Österreich (= Geschichte des Buchhandels 6), Wiesbaden 2000, 118. 86 Zu den vielfachen Nennungen von Nürnberger Buchhändlern in Linz siehe RUDOLF MARIA HENKE, GERHARD WINKLER: Geschichte des Buchhandels in Linz (= Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 1999/2000), Linz 2002, 39–41, 49–52, 55 f., 68–79. 87 Zur Unterscheidung in Transit- und Gewerbeexportgüter vgl. SCHREMMER: Wirtschaftsmetropole (wie Anm. 5), 908. Zu Nürnberg als Zentrum der Textilveredelung siehe u. a. ARNO KUNZE: Zur Geschichte des Nürnberger Textil- und Färbergewerbes vom Spätmittelalter bis zum Beginn der Neuzeit. Nürnberg als Mittelpunkt der Ausrüstung von Tuchen und von Farbleinwand. In: STADTARCHIV NÜRNBERG (Hg.): Beiträge (wie Anm. 5), 669–699. Zum Textilimport nach Krems siehe BRUNNER: Geschichtliche Stellung (wie Anm. 66), 50.
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seien, mit welchen bis jetzt gute Geschäfte in Linz, Krems und Wien gemacht worden wären88. Gerade der Raum der Oberen Donau wurde überdies mit Tuchen aus Mähren und Sachsen versorgt. So gaben die Chemnitzer Tuchmacher zu Beginn des 17. Jahrhunderts an, dass ihr Tuch zumeist auf den Märkten in Linz, Freistadt, Krems, Wien und Prag abgesetzt oder an den Rhein, den Bodensee und nach Bayern gehandelt würde, jedoch nicht (nur) von ihnen selbst, sondern vor allem auch von Nürnbergern89. Ober- und Niederösterreich war in Ermangelung einer eigenen dauerhaft leistungsfähigen Produktion während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit eine besonders aufnahmefähige Region für Textilimporte. Erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurde von Reichsvizekanzler Ferdinand Sigmund Graf Kurz von Senftenau in Horn ein erster Versuch unternommen, eine Tuchmanufaktur zu betreiben. Diese musste ihren Betrieb jedoch bereits nach zwei Jahrzehnten wieder einstellen90. Ebenso schwierig gestaltete sich die Errichtung der ersten Seidenmanufaktur in den Donauländern. Die „Walpersdorfer Seidenmanufaktur“ des Hofkammerpräsidenten Georg Ludwig Graf Sinzendorf hatte nur von 1666 bis 1682 Bestand. Erst unter Maria Theresia kam es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Blüte der Seidenmanufakturen in Österreich. Um 1800 arbeitete bis zu einem Fünftel aller Wiener Erwerbstätigen in der Seidenindustrie91. Am kontinuierlichsten verlief die Entwicklung der 1672 gegründeten „Linzer Wollenzeugfabrik“, deren Eigentümer in den 1720er Jahren die „(Zweite) Orientalische Handelskompagnie“ wurde. Diese erhielt 1724 ein weitreichendes Monopol zur Erzeugung von feinen Tüchern, Kronrasch und anderen ganzwollenen Zeugen in den österreichischen Ländern, womit sich die Habsburgermonarchie zunehmend unabhängig von ausländischen Importen machen wollte92. Ein weiteres Handelsgut, das zwischen Transithandel und Erzeugung bzw. Veredelung angesiedelt war, ist der Tabak. Mit dieser Kolonialware wurde nicht nur Zwischenhandel getrieben, sondern die Tabakblätter aus Übersee wurden in 88 Stadtarchiv Nürnberg, Rep. E 8: Archiv des Handelsvorstandes, Nr. 4183, Stück 75, Anzeige von denen Österreichischen Fieranten, Nürnberg, 29.1.1729 [präs. 4.2.1729]. 89 KUNZE: Nürnberger Textil- und Färbergewerbe (wie Anm. 87), 682 f., bes. Anm. 30. 90 THOMAS WINKELBAUER: Manufaktur und Gewerbe: Die Horner Tucherzeugung im 17. Jahrhundert und die Tuchmachersiedlung in der „Öttinger Vorstadt“. In: ERICH RABL (Red.): Eine Stadt und ihre Herren. Puchheim, Kurz, Hoyos. Ausstellung der Stadt Horn im Höbarthmuseum, 9. Mai bis 29. September 1991, Horn 1991, 55–67; SANDGRUBER: Ökonomie und Politik (wie Anm. 52), 171 f. 91 HERBERT HASSINGER: Johann Joachim Becher 1635–1682. Ein Beitrag zur Geschichte des Merkantilismus (= Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 38), Wien 1951, 155–159; DERS.: Johann Joachim Bechers Bedeutung für die Entwicklung der Seidenindustrie in Deutschland. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 38 (1951), 209–246, hier 232–244; SANDGRUBER: Ökonomie und Politik (wie Anm. 52), 171, 183. 92 MAYER: Anfänge (wie Anm. 38), 48–58; GUSTAV OTRUBA: Linz, seine neue Strafanstalt, die Messingfabrik im Schloß Lichtenegg bei Wels und die Wollenzeugfabrik in Linz in Berichten der „Vaterländischen Blätter“ 1812–1816. In: Oberösterreichische Heimatblätter 43/4 (1989), 295–318, hier 316–318.
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Nürnberg zu Schnupf-, Kau- und Rauchtabak veredelt93. Außerdem wurden Tabakpflanzen seit den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts bereits im Nürnberger Umland kultiviert, sodass auch eigene Erzeugnisse vertrieben werden konnten94. 1639/40 werden Tabak und Pfeifen bereits in den Aschacher Mautprotokollen, 1641 Tabak in den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern erwähnt – die frühesten bislang bekannten Hinweise auf Tabak als Handelsgut in Österreich95. Zwischen 1647 und 1663 scheinen in den sechs erhaltenen Jahrgängen 67 Ladungen aus Nürnberg mit zumeist zwischen 200 und 500 Pfund – gelegentlich auch über 1 000 Pfund – auf. Diese Konjunktur währte jedoch nur kurz, da 1670 in Österreich ob der Enns und 1678 in Österreich unter der Enns ein „Tabakappalt“ eingeführt wurde, welcher den beiden Appaltatoren das ausschließliche Recht auf Einfuhr, Erzeugung und Verkauf zubilligte, wodurch Tabak dem freien Markthandel entzogen wurde96. Gleichzeitig wurde der Anbau in weiten Teilen der Monarchie gefördert und 1676 eine erste Tabakmanufaktur („Spinnerei“) in Enns in Oberösterreich errichtet97. 1722 erfolgte die Gründung der ersten k. k. TabakManufaktur in Hainburg an der Donau, womit Karl VI. selbst zum „Tabakfabrikanten“ und Monopolisten wurde. Nach 1723 wurde das gesamte Tabakwesen endgültig im Sinne des Merkantilismus reorganisiert. Auswärtige Händler konnten künftig nur noch Geschäfte mit den Tabakadministratoren in Linz und Wien machen, was den Kreis der Lieferanten auf wenige Großhändler verengte98. Zu den erfolgreichen Lieferanten der Linzer Tabakadministration zählten in den 1720er Jahren die Nürnberger Handelshäuser Wernberger & Geiger sowie Heinrich Krochmann & Co.99. Im Gegensatz zum Tabak eigneten sich alle anderen Kolonialwaren wie Kaffee, Tee, Kakao und Zuckerrohr ebenso wenig wie die begehrten Gewürze Pfeffer und Ingwer für den Anbau in Mitteleuropa. Gewürze wurden zeitgenössisch häufig unter der Sammelbezeichnung „Spezereien“ subsummiert, zu welchen gelegentlich auch Apothekerwaren („Materialwaren“) und Farbstoffe gezählt wur-
93 Zu den unterschiedlichen Formen des Tabakkonsums siehe ROMAN SANDGRUBER: Genußmittel. Ihre reale und symbolische Bedeutung im neuzeitlichen Europa. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1994/1, 73–88, hier 79 f. 94 JÜRGEN SCHNEIDER: Nürnberg und die Rückwirkung der europäischen Expansion (16.–18. Jahrhundert). In: HELMUT NEUHAUS (Hg.): Nürnberg. Eine europäische Stadt in Mittelalter und Neuzeit (= Nürnberger Forschungen 29), Nürnberg 2000, 293–359, hier 333 f. 95 RAUSCHER, SERLES: Märkte, Monopole, Manufakturen (wie Anm. 28), 62 Anm. 5. 96 Zur Fiskalisierung des Genussmittels Tabak in Österreich siehe ROMAN SANDGRUBER: Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 15), Wien 1982, 210 f.; RAUSCHER, SERLES: Märkte, Monopole, Manufakturen (wie Anm. 28), passim. 97 RAUSCHER, SERLES: Märkte, Monopole, Manufakturen (wie Anm. 28), 69. 98 Ebenda, 78 und passim. 99 Ebenda, 90–94. Zur Firma Krochmann & Co. siehe auch SEIBOLD: Wirtschaftlicher Erfolg (wie Anm. 10), Bd. 1, 379–384.
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den100. Nürnberg konnte durch Flexibilität bei der Beschaffung all dieser Güter zwischen Venedig, Antwerpen, Amsterdam, Hamburg, Frankfurt, Leipzig und anderen Fernhandelsmärkten auf der einen Seite und seiner gleichzeitigen Ausrichtung auf die binneneuropäischen Verbrauchermärkte auf der anderen Seite eine starke Position als Transithandelsplatz für Kolonialwaren und Spezereien im 17. und 18. Jahrhundert wahren101. Dies belegen zahlreiche Einträge zu diesen Waren – mit Ausnahme von Tee und Schokolade, die in den Waag- und Niederlagsbüchern vollständig fehlen – in den Kremser Quellen. Konkurrenten im Spezereihandel waren Kaufleute italienischer Abstammung, die die Kremser Märkte zumeist von ihren Niederlagen in Wien aus belieferten. Die Italiener nutzten neben dem Semmering auch die Donau als Transportroute: Venezianische Waren wurden sowohl über die Tauernpässe und das Erzbistum Salzburg mit dem wichtigsten überregionalen Salzach-Hafen Laufen als auch über den Brenner bis Hall in Tirol und von dort weiter auf dem Inn in den Donauraum verfrachtet102. Eine beachtliche Rolle im vielfältigen Handel mit hochpreisigen Lebensmitteln spielten an der Donau auch Steyrer103 und Linzer104 Kaufleute, die traditionell gute Kon100 Grundlegend zum neuzeitlichen Farbstoffhandel: ALEXANDER ENGEL: Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1550–1900, Frankfurt am Main/New York 2009; DERS.: Von Commodities zu Produkten. Die Transformation des Farbstoffmarktes im 18. und 19. Jahrhundert. In: HARTMUT BERGHOFF (Hg.): Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt am Main 2007, 61–86. Zur schwierigen Unterscheidung von Spezereien, Kolonialwaren, Materialwaren und Krämerei vgl. RAUSCHER: Kremser Märkte (wie Anm. 12), 109. 101 MICHAEL DIEFENBACHER: Art. „Gewürzhandel“. In: DERS., RUDOLF ENDRES (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg, 2. Aufl., Nürnberg 2000, 359; HERMANN KELLENBENZ: Le déclin de Venise et les relations économiques de Venise avec les marchés au nord des Alpes (fin du XVIème– commencement du XVIIIème siècle). In: Aspetti e cause della decadenza economica Veneziana nel secolo XVII. Atti del convegno 27 Giugno–2 Luglio 1960, Venezia 1961, 107–183, hier 147 f. 102 Zur Anbindung Norditaliens über den Brenner und Hall in Tirol an die Märkte an der Donau siehe MARION DOTTER: Transalpiner Warenverkehr. Italienische Kaufleute im Donauhandel in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: ANDREA BONOLDI, ANNE-LISE HEAD-KÖNIG, LUIGI LORENZETTI (Hg.): Transits. Infrastructures et société de l’antiquité à nos jours / Transit. Infrastrukturen und Gesellschaft von der Antike bis heute (= Histoire des Alpes/Storia delle Alpi/Geschichte der Alpen 21), Zürich 2016, 123–143. 103 JOSEF OFNER: Die „venedigischen Handelsleute“ der Stadt Steyr. Ein Beitrag zur Geschichte des Steyrer Italienhandels im 16. und 17. Jahrhundert. In: Veröffentlichungen des Kulturamtes der Stadt Steyr 21 (1960), 29–46; FERDINAND TREMEL: Zur Geschichte des Steyrer Südhandels in der Mitte des 16. Jahrhunderts. In: Oberösterreichische Heimatblätter 23 (1969), 18–20; ROSINA WEINDL: Der Venedigerhandel Steyrs im 16. und 17. Jahrhundert. Versuch einer Skizze von Handel und Leben einiger Patrizierfamilien Steyrs mit der Lagunenstadt, ungedr. Dipl. Arbeit Wien 1989. 104 Linzer Spezereiwarenhändler internationalen Formats waren die Mitglieder der Familie Peisser (Peißer), die auch in Krems sehr aktiv waren. Vgl. EDUARD STRASSMAYR: Die Linzer Patrizier Peißer von Wertenau. In: Jahrbuch der Stadt Linz (1937), 155–165; ARTUR MARIA SCHEIBER: 600 Jahre Familie Peisser. In: Neues Jahrbuch der heraldisch-genealogischen Gesellschaft „Adler“ 47/50 Folge 3/2 (1950), 53–74; FRANZ WILFLINGSEDER (Bearb.): Chronik der Peisser (1653–1703). In: STÄDTISCHE SAMMLUNGEN LINZ (Hg.): Linzer Regesten E2,
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takte nach Venedig unterhielten, wohin sie Eisenprodukte und Leinwand verkauften. Ein weiteres wichtiges Handelsgut auf den Märkten an der Donau war Juchtenleder105. In den erhaltenen Kremser Waag- und Niederlagsbüchern sind über 1 600 Transaktionen mit diesem hochwertigen russischen Leder belegt. Krems war der Umschlagplatz für das gesamte nördlich der Donau gelegene Gebiet und teilweise auch für die angrenzenden Regionen südlich der Donau. Juchten war die bei Weitem wichtigste Gegenfuhr für die Eisenexporte nach Schlesien und Krakau106. Während die ältere Forschung davon ausgegangen ist, dass Juchten auch als Gegenfracht für die Nürnberger Waren, Spezereien und andere Güter donauaufwärts geführt worden wären, hat die Erschließung der Kremser Waag- und Niederlagsbücher erwiesen, dass nach dem Dreißigjährigen Krieg Juchtenleder donauabwärts transportiert wurde. Nur drei Lieferungen erfolgten im Jahr 1642 – also noch während des Dreißigjährigen Krieges – von Krems nach Nürnberg107; nach 1642 wurde Juchtenleder von Nürnberg nach Krems gebracht (51 Eintragungen in den Rechnungsbüchern). Auch die Aschacher Mautprotolle der 1720er und 1730er Jahre belegen eindeutig diese Handelsrichtung. Dominierend sind hier jedoch nicht Nürnberger, sondern Regensburger Händler, auf welche z. B. im Jahr 1728 mit mehr als 80 Prozent weitaus die meisten der über 120 Juchtentransporte entfallen108. Mit der Erwerbung Galiziens 1772 und der Erklärung der Grenzstadt Brody zur Freihandelsstadt 1779 erlangte die Habsburgermonarchie einen direkten Zugang zu russischen Importwaren wie Juchten, Fellen und Wachs109. Ein sowohl für Nürnberg als auch für Krems sehr prominentes Gut fehlt in den Waag- und Niederlagsbüchern vollständig: der Safran. Für dieses kostbare Gewürz, das vom 15. bis ins 19. Jahrhundert als sogenannter Landsafran im öster-
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Linz 1953, 62–109; MARTIN SCHEUTZ, HARALD TERSCH: Memoria und „Gesellschaft“. Die Stadt als Bühne in drei oberösterreichischen Selbstzeugnissen von Frauen aus dem 17. Jahrhundert. In: BIRGIT STUDT (Hg.): Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (= Städteforschung A/69), Köln u. a. 2007, 135– 161. Art. „Juchten“. In: JOHANN GEORG KRÜNITZ (Hg.): Oekonomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft, in alphabetischer Ordnung 31, Berlin 1784, 233–268. Vgl. RAUSCHER: Kremser Märkte (wie Anm. 12), 110. So BRUNNER: Geschichtliche Stellung (wie Anm. 66), 51, der die Waag- und Niederlagsbücher für seine Studien nur bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges auszugsweise herangezogen hat. Auch ERICH LANDSTEINER: Der Güterverkehr auf der österreichischen Donau (1560–1630). In: RAUSCHER, SERLES (Hg.): Wiegen (wie Anm. 12), 217–254, hier 232 berücksichtigt nur die Zeit bis 1627/28. RAUSCHER, SERLES (Hg.): Aschacher Mautprotokolle (wie Anm. 85), „Juchten“+„1728“. FRIEDRICH J. ELSINGER: Die Juchtenlederherstellung im Wandel der Zeit. In: GUSTAV OTRUBA, FRIEDRICH J. ELSINGER: Zur Entstehung des „Russischen Juchten-ZubereitungsGeheimnisses“, Wien 1967, 48–74, hier 50. Zur habsburgischen Grenzhandelsstadt Brody siehe KLEMENS KAPS: Ein Messinstrument für Güterströme. Die Merkantiltabellen der Habsburgermonarchie unter besonderer Berücksichtigung des galizischen Außenhandels im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: RAUSCHER, SERLES (Hg.): Wiegen (wie Anm. 12), 481– 505, hier 494–501.
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reichischen Donauraum angebaut wurde, stand seit 1524 eine eigens verwaltete Waage in Krems zur Verfügung, von welcher sich keine Aufzeichnungen erhalten haben110. Um sich im internationalen Safrangroßhandel etablieren zu können, mussten Kaufleute über erhebliche Finanzmittel verfügen. Erntemengen und Qualitäten waren extrem wetterabhängig und schwankten stark von Jahr zu Jahr. Um solche Schwankungen ausgleichen zu können, mussten Kaufleute die relevanten Bezugsmärkte laufend beobachten und in den Anbaugebieten gut vernetzt sein111. Finanzkräftige Nürnberger Händlerfamilien wie die Tucher, Imhoff und Welser oder die Berner Diesbach-Watt-Gesellschaft hatten seit dem Spätmittelalter ein weitgehendes Monopol auf den internationalen Safranhandel erworben112. Dass Nürnberger Safranhändler zumindest phasenweise Interesse am österreichischen Landsafran hatten, belegen Briefe zwischen Linhart, Martin und Anton Tucher aus dem Jahr 1520, in welchen sie sich über die in Österreich zu erwartende Safranernte austauschten113. Außerdem war bereits 1511 von einem Konsortium Nürnberger Kaufleute in Wien eine eigene Niederlassung zum Zweck des Safranaufkaufs errichtet worden114. Jedoch dürften die Erntemengen mit dem rasanten Bevölkerungswachstum Wiens nicht mitgehalten und klimatische Einflüsse sich negativ ausgewirkt haben, denn in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war Niederösterreich ein Importgebiet und Krems, Linz und Wien Absatz- und 110 CAROLIN SCHECK: Kulturgeschichte des Safrans. Unter besonderer Berücksichtigung der Produktion, des Handels und der Verwendung im Mittelalter und der beginnenden Neuzeit (mit Schwerpunktsetzung Österreich), ungedr. Dipl. Arbeit Wien 1997, 80. 111 HERMANN KELLENBENZ: Nürnberger Safranhändler in Spanien. In: DERS. (Hg.): Fremde Kaufleute auf der Iberischen Halbinsel (= Kölner Kolloquien zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1), Köln/Wien 1970, 197–225, hier 200 f.; KURT WEISSEN: Safran für Deutschland. Kontinuität und Diskontinuität mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Warenbeschaffungsstrukturen. In: ANGELIKA WESTERMANN, STEFANIE VON WELSER (Hg.): Beschaffungs- und Absatzmärkte oberdeutscher Firmen im Zeitalter der Welser und Fugger, Husum 2011, 61–78, hier 68 f. 112 Umfassend dazu PETERS: Strategische Allianzen (wie Anm. 9); vgl. auch MICHAEL DIEFENBACHER: Handel im Wandel: Die Handels- und Wirtschaftsmetropole Nürnberg in der frühen Neuzeit (1550–1630). In: BERNHARD KIRCHGÄSSNER, HANS-PETER BECHT (Hg.): Stadt und Handel. 32. Arbeitstagung in Schwäbisch Hall 1993 (= Stadt in der Geschichte 22), Sigmaringen 1995, 63–81, hier 67. 113 Stadtarchiv Nürnberg, E 29/IV, Tucher/Ältere Linie/Briefarchiv, Nr. 317, 460–462, Linhart Tucher an Anton Tucher, Nördlingen, 22.10.1520; Martin Tucher an Anton Tucher, Regensburg, 12.10.1520; Martin Tucher an Anton Tucher, Regensburg, 20.10.1520; und bes. Martin Tucher an Anton Tucher, Regensburg, 30.10.1520. Zu den Tucherbriefen siehe WALTER BAUERNFEIND: Marktinformationen und Personalentwicklung einer Nürnberger Handelsgesellschaft im 16. Jahrhundert – Das Briefarchiv von Anthoni und Linhart Tucher in der Zeit von 1508 bis 1566. In: WESTERMANN, WELSER (Hg.): Beschaffungs- und Absatzmärkte (wie Anm. 111), 23–60; MICHAEL DIEFENBACHER, STEFAN KLEY (Hg.): Tucherbriefe. Eine Nürnberger Patrizierfamilie im 16. Jahrhundert. Eine Ausstellung des Museums für Kommunikation Nürnberg und des Stadtarchivs Nürnberg im Museum für Kommunikation Nürnberg vom 28. November 2008 bis 1. Februar 2009, Nürnberg 2008. 114 SCHECK: Kulturgeschichte des Safrans (wie Anm. 110), 79.
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nicht Bezugsmärkte115. Zeitgenössische Quellen lassen darauf schließen, dass sich an dieser Situation auch während des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wenig geändert haben dürfte. So betonte der Kameralist Hörnigk 1684 zwar, dass der in aller Welt berühmte österreichische Safran gut gedeihe, aber in Mengen, die ein Importverbot ausländischer Qualitäten unmöglich machen116. Ähnlich berichtet auch Gottfried Christian Bohn in seinem 1763 erschienenen „Neueröffneten Warenlager“, dass der Saffran häufig in Italien, Hungarn, Oestreich, Frankreich und England [wachse]: es wird aber der hungarische und östreichische für den besten gehalten, doch sei von diesen beiden in der Handlung wenig oder gar nicht[s] zu sehen […]117. Um 1800 dürfte die Produktion einen Umfang erreicht haben, der auch eine Ausfuhr ermöglichte, denn Roth reiht den Safran unter jenen Gütern ein, die von Österreich nach Nürnberg exportiert wurden118. Eine rare Zahlenangabe ist für das Jahr 1807 überliefert, für das der Gesamtexport von niederösterreichischem Safran auf 3 854 Kilogramm beziffert wird119. Die Palette der von Nürnberger Händlern auf den Kremser Märkten eingekauften Waren nimmt sich im Vergleich zu den verkauften äußerst bescheiden aus. Nennenswert sind vor allem Senf und Weinstein als Nebenprodukte der Kremser Weinproduktion. Der aus Weinmost und grob geschroteten Senfkörnern, die bereits seit dem 15. Jahrhundert in der Gegend um Krems angebaut wurden, bestehende „Kremser-Senf“ war eine überregional bekannte Spezialität120. In den Waag- und Niederlagsbüchern scheinen Nürnberger unter den Senfeinkäufern erst ab 1681 auf. Die größten Lieferungen fallen in den Zeitraum zwischen 1710 und 1720, aber auch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird Senf von Roth als österreichische Importware genannt121. Der Großteil der über 400 Weinstein-Einträge in den Kremser Büchern betrifft Abnehmer aus den Textilzentren Schlesiens, Böhmens und Mährens, aber auch fast 30 Lieferungen nach Nürnberg sind für das erste Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts belegt. Weinstein wurde einerseits zur Erzeugung von Arzneien wie dem 115 RUDOLF ENDRES: Die Nürnberg-Nördlinger Wirtschaftsbeziehungen im Mittelalter bis zur Schlacht von Nördlingen. Ihre rechtlich-politischen Voraussetzungen und ihre tatsächlichen Auswirkungen (= Schriften des Instituts für Fränkische Landesforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg 11), Neustadt a. d. Aisch [1963], 169; PETERS: Strategische Allianzen (wie Anm. 9), 84 f. 116 HÖRNIGK: Österreich über alles (wie Anm. 2), 75. 117 GOTTFRIED CHRISTIAN BOHN: Neueröffnetes Waarenlager, worinnen aller im Handel und Wandel gangbaren Waaren, Natur, Eigenschaft, Beschaffenheit, verschiedene Arten, Nutzung und Gebrauch, wie auch der Unterschied der guten und verfälschten Waaren, der Ort ihrer Erzeugung, und alles, was zur Erkenntniß derselben nöthig ist, nach alphabetischer Ordnung kurz und deutlich beschrieben wird […], Hamburg 1763, zu Safran: 760–764, hier 760 f. 118 ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 30), Bd. 2, 152. 119 [ERNST] M(ORIZ) KRONFELD: Vergangenheit und Gegenwart des niederösterreichischen Safranbaues. In: Blätter des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich N. F. 26 (1892), 69– 75, hier 73. 120 KNITTLER: Abriß (wie Anm. 66), 51; HIETZGERN: Handel der Doppelstadt Krems-Stein (wie Anm. 66), 268 f. 121 ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 30), Bd. 2, 152.
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Abführmittel „Cremor Tartari“ benötigt, andererseits spielte es eine wichtige Rolle als Beizmittel in den Färbereien, was die bevorzugten Absatzmärkte erklärt122. In das Umfeld der Färbereien und Gerbereien gehören auch die Knoppern (Valonea) bzw. das Knoppermehl und Galläpfel („Gallus“), die vereinzelt von Nürnbergern in Krems als Zwischenhandelsplatz ge- und verkauft wurden. Gerade Galläpfel dürften auch im 17. und 18. Jahrhundert vorrangig aus Venedig bezogen worden sein, da viele Linzer und Steyrer Händler als Lieferanten aufscheinen und Venedig traditionell ein wichtiger Umschlagplatz für die aus dem Orient stammenden Galläpfel war123. Erwähnenswert sind auch Bettfedern und Wachs, zwei weitere Güter, für die Krems – wie auch Linz124 – reiner Umschlagplatz war, und die gelegentlich von Nürnbergern auf den Märkten an der Donau gekauft wurden. Während der Zwischenhandel mit Bettfedern in Krems und Linz von mährischen Juden dominiert wurde125, stammte das Wachs mehrheitlich aus Polen und Russland und wurde von mährischen, schlesischen und Krakauer Händlern als Gegenfracht für die Eisenwaren mitgebracht126. Honig hingegen diente auf den Kremser Märkten der lokalen Versorgung; als Transitware wurde Honig in Wien oder Wiener Neustadt gekauft, wohin große Mengen aus Ungarn gebracht wurden127. Zu dem für Krems wichtigsten Gut aus eigener Produktion, dem Wein, enthalten die Waag- und Niederlagsbücher keine Informationen. Bezüglich der Handelsverbindungen nach Nürnberg dürfte Wein im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts aber ohnedies kaum mehr eine Rolle gespielt haben, war doch schon im Laufe des 16. Jahrhunderts ein deutlicher und dauerhafter Rückgang zu bemerken
122 Zum Weinstein als Beizmittel siehe SABINE STRUCKMEIER: Die Textilfärberei vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Eine naturwissenschaftlich-technische Analyse deutschsprachiger Quellen (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 35), Münster u. a. 2011, 77 f. 123 Die Linzer Familie Peisser wurde in diesem Zusammenhang bereits erwähnt (Anm. 104); bezogen auf Steyr wären v. a. die großen Eisenhändlerfamilien Achtmark, Mittermayr, Luckner und Schinnerer zu nennen, die alle auch mit „Gallus“ in den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern aufscheinen. 124 Siehe VIKTOR KURREIN: Die böhmisch=mährischen Federjuden auf den Linzer Märkten. In: Heimatgaue 12 (1931), 242–248. 125 BRUNNER: Geschichtliche Stellung (wie Anm. 66), 59, 65. Zum Bettfedernhandel in Mittelund Osteuropa siehe JOSEF BLAU: Der böhmische Bettfedernhandel. Kulturgeographisch, statistisch, geschichtlich und volkskundlich. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 69 (1931), 56–114, hier 62, 75–82. Zu jüdischen Händlern in Krems siehe HANNELORE HRUSCHKA: Die Geschichte der Juden in Krems an der Donau von den Anfängen bis 1938, ungedr. Diss. Wien 1978. 126 Zu den Bezugsregionen für Wachs vgl. BOHN: Neueröffnetes Waarenlager (wie Anm. 117), 1009 f. Zum Nürnberger Wachsimport über Posen siehe ADELHEID SIMSCH: Die Handelsbeziehungen zwischen Nürnberg und Posen im europäischen Wirtschaftsverkehr des 15. und 16. Jahrhunderts (= Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 50), Wiesbaden 1970, 130–138. 127 LANDSTEINER: Güterverkehr (wie Anm. 107), 236.
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gewesen128. Wie eine kürzlich erschienene Studie auf Basis der Aschacher Mautprotokolle der Jahre 1721 bis 1731 ergeben hat, waren die Abnehmer des exportierten niederösterreichischen Weins zum weitaus größten Teil Klöster bzw. Stifte in Bayern und Salzburg, die selbst über Weingartenbesitz an der Donau verfügten („Eigen- und Bauwein“). Der verbleibende Rest wurde zumeist von den Transporteuren in ihren eigenen Weinschenken verkauft. Ein nennenswerter Exporthandel über die Donau ins Reich konnte für das frühe 18. Jahrhundert jedenfalls nicht nachgewiesen werden129. Nachdem im 17. Jahrhundert das Importverbot für nördlich der Donau angebaute niederösterreichische Weine nach Wien aufgehoben worden war, wurde die rapide anwachsende Wiener Bevölkerung zu einem wichtigen Abnehmer für Kremser Wein130. Maximal als Nischenprodukt konnte Wein aus Österreich („Osterwein“) nach einigen Missernten in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch in Nürnberg wieder Fuß fassen. Da die deutschen Weine so theuer geworden sind, sind sehr viele Ungarische und Oestreichische rothe und weisse Weine hierher gekommen […] und machen nun auch einen Gegenstand des hiesigen [= Nürnberger] Handels aus131, konnte daher Roth 1802 vermerken. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass neben der Nürnberger Ware ein vielfältiges Spektrum an Gewerbeerzeugnissen und Transithandelsgütern an einem Marktort wie Krems von Nürnberger Händlern verkauft werden konnte, diesem jedoch kaum nennenswerte Gegenfrachten gegenüberstanden. Krems war demnach für Nürnberg in erster Linie Absatzmarkt, ein Befund, der wohl auch weitgehend für die Konsumptionsstadt Wien zutreffen dürfte. Die Erschließung der Aschacher Mautprotokolle wird in Zukunft vor allem die Datenlage zum Marktort Linz, der kaum über eigene Quellen zum frühneuzeitlichen Handel verfügt, maßgeblich verbessern. Hier fanden die größten Marktveranstaltungen im Donauraum statt, und hier wurden die bei Weitem wichtigsten Exportgüter aus dem österreichischen Donauraum für den Nürnberger Handel – Eisen, Stahl und Eisenwaren – umgeschlagen132. 128 HERMANN KELLENBENZ: Gewerbe und Handel am Ausgang des Mittelalters. In: PFEIFFER (Hg.): Nürnberg (wie Anm. 83), 176–186, hier 178; KNITTLER: Abriß (wie Anm. 66), 53. 129 Siehe dazu PETER RAUSCHER: Schifffahrt, Weintransport und Gastgewerbe. Die Aschacher Mautprotokolle als Quelle zur frühneuzeitlichen Transportgeschichte. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Landeskunde und Denkmalpflege Oberösterreich 160 (2015), 405–421. 130 ERICH LANDSTEINER: Weinbau und bürgerliche Hantierung. Weinproduktion und Weinhandel in den landesfürstlichen Städten und Märkten Niederösterreichs in der Frühen Neuzeit. In: FERDINAND OPLL (Hg.): Stadt und Wein (= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 14), Linz 1996, 17–50, hier 27, 40; DERS.: Wien – eine Weinbaustadt? In: VOCELKA, TRANINGER (Hg.): Wien (wie Anm. 11), 141–146, hier 145 f. 131 ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 30), Bd. 3, 254. 132 Zur Bedeutung des steirischen Erzbergs für Nürnberg siehe RAINER STAHLSCHMIDT: Die Geschichte des eisenverarbeitenden Gewerbes in Nürnberg von den ersten Nachrichten im 12.–13. Jahrhundert bis 1630 (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 4), Nürnberg 1971, 72–90; MANFRED WELKER: Die Reichsstadt Nürnberg, ein Zentrum des Schmiedeeisen verarbeitenden Handwerks. In: MAUÉ, ESER, HAUSCHKE, STOLZENBERGER (Hg.): Quasi Centrum Europae (wie Anm. 70), 117–137, hier 117. Vgl. auch OFNER: Ge-
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IV. Nürnberger Händler auf Kremser Märkten In den überlieferten Kremser Waag- und Niederlagsbüchern können 35 Handelsfirmen und ca. 120 Kaufleute eindeutig Nürnberg zugerechnet werden. Die Unsicherheit bei der Anzahl der einzelnen Kaufleute ergibt sich aus einer häufigen Namensgleichheit zwischen Vätern und Söhnen bzw. Onkeln und Neffen. Auffallend ist eine Häufung der Handelsgesellschaften zwischen den 1690er und 1720er Jahren, während zwischen 1621 und 1681 bzw. nach 1730 weitgehend Einzelpersonen aufscheinen133. Der fragmentierten Quellenlage entsprechend kommen viele Händler nur in einzelnen Rechnungsbüchern mit wenigen Nennungen vor, weshalb kaum Aussagen über den tatsächlichen Umfang ihrer Aktivitäten im Donauhandel gemacht werden können. Andere Händler und Unternehmen können hingegen über einen längeren Zeitraum und mit einer ausreichenden Anzahl von Geschäftsfällen nachgewiesen werden, sodass sich ein detaillierteres Bild zeichnen lässt. Zu dieser Gruppe gehören vor allem Händler wie Jakob und Wilhelm Blommart (32 Nennungen, 1660–1694), Martin De Neufville (53 Nennungen, 1681–1711), Johann Freneau (35 Nennungen, 1660–1699), Abraham Sieß (inkl. zweier Firmen: Abraham Sieß, Ambrosius Stenzmann & Co., Abraham Sieß, Söhne & Co., 21 Nennungen, 1647–1662) und die Firma Buirette & Söhne (12 Nennungen, 1699– 1706). Damit entfallen alleine auf diese Gruppe fast 15 Prozent aller Nürnberger Einträge in den Waag- und Niederlagsbüchern. Gemeinsam ist diesen Kaufleuten, dass sie reformierte Religionsflüchtlinge aus den Niederlanden waren134; gemeinsam ist ihnen aber auch, dass sie in den habsburgischen Erblanden nicht nur im Handel, sondern auch im Zusammenhang mit Geldgeschäften, Heereslieferungen und dem Montanwesen in Erscheinung traten135 und vielfach miteinander verschwägert waren136. schichte des Stahlhandels (wie Anm. 29). Zum Handel mit einem der wichtigsten österreichischen Exportgüter des 18. Jahrhunderts, den Sensen, siehe FRANZ FISCHER: Die blauen Sensen. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Sensenschmiedezunft zu Kirchdorf-Micheldorf bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (= Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 9), Linz 1966. 133 Vgl. dazu HERMANN KELLENBENZ: Wirtschaftsleben im Zeitalter der Reformation. In: PFEIFFER (Hg.): Nürnberg (wie Anm. 83), 186–193, hier 192. 134 Um 1620 waren Niederländer mit über 30 Firmen bereits vor den Italienern die größte Gruppe auswärtiger Kaufleute in Nürnberg. DIEFENBACHER: Handel im Wandel (wie Anm. 112), 71; DERS.: Art. „Niederländische Handelsgesellschaften“. In: Stadtlexikon Nürnberg (wie Anm. 101), 743; DERS.: Ratspolitik (wie Anm. 10), 22 f.; STEVEN M. ZAHLAUS: Fluchtpunkt Nürnberg. Die Reichsstadt als Zielort und Durchgangsstation für Glaubensflüchtlinge in der frühen Neuzeit. In: KORN, DIEFENBACHER, ZAHLAUS (Hg.): Von Nah und Fern (wie Anm. 10), 33–46, hier 35–38. 135 Zu Abraham Blommart (Blumart), dem Vater von Jakob und Wilhelm Blommart, als Financier Wallensteins siehe HERMANN KELLENBENZ: Wirtschaftsleben zwischen dem Augsburger Religionsfrieden und dem Westfälischen Frieden. In: PFEIFFER (Hg.): Nürnberg (wie Anm. 83), 295–302, hier 298; ANTON ERNSTBERGER: Hans de Witte. Finanzmann Wallensteins (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 38), Wiesbaden 1954, 201. Zu Isaak Buirette als „Grenzpagator in der Landschaft Steyer auf den croatischen
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Einer der wohlhabendsten niederländischen Händler Nürnbergs um die Mitte des 17. Jahrhunderts war Abraham Sieß. Er und seine Söhne waren nicht nur Metallgroßhändler, sondern auch selbst Hammerwerksbesitzer, weshalb es nicht verwundert, dass die Familie Sieß in Krems vor allem mit Zinn- und Messinggeschäften erwähnt wird137. Der Warenhandel der Familien Blommart und Buirette kann aus den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern nicht erschlossen werden, da nur der wenig differenzierte Begriff „Gut“ zur Anwendung kam. Jedoch zählte Jakob Blommart in Nürnberg zu den führenden Händlern mit französischen Waren, weshalb er 1677 zu jenen Vertretern der Stadt Nürnberg gehörte, die mit den kaiserlichen Kommissaren Johann Joachim Becher und Philipp Wilhelm von Hörnigk über das Verbot der Einfuhr französischer Waren ins Reich verhandelten138. Die Expansion Isaak Buirettes von Oehlefeld nach Wien führte zur Gründung einer eigenen Niederlage, die 1725 unter dem Namen seiner Söhne Johann Wilhelm und Noe Buirette („Gebrüder Buirette“) im ersten Wiener Merkantilprotokoll, einem Verzeichnis aller Händler in der kaiserlichen Residenzstadt, eingetragen wurde139. Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden nach Großbritannien, von wo man Textilien importierte. Der Zeitgenosse Johann Friedrich Riederer wusste daher zu berichten, dass das Buirettische Handels=Haus selbiger Zeit annoch viel mit Englische Lacken und dergleichen zu thun hatte, davon in Oesterreich und Steyermarckt [!] ansehenliche Partheyen consumiret wurden140. Die Familien Blommart und Buirette waren auch mit der Familie Freneau über mehrfache Eheverbindungen in engem Kontakt141. Die in der Literatur ange-
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Confinien“ sowie Inhaber des „Tirolischen Kupfer- und Stahlappalto“ siehe GERHARD SEIBOLD: Die Blommart und ihr Handelshaus. Ein Beitrag zur Geschichte der niederländischen Kaufleute im Nürnberg des 17. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Familien de Brasserie, Buirette und von Lierdt. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 68 (1981), 164–220, hier 193 f. Zu seinen Aktivitäten als Wechselherr siehe ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 30), Bd. 3, 247; zu den Buirette als Unternehmer in Erlangen siehe HORST-DIETER BEYERSTEDT, WERNER JÜRGENSEN: Art. „Buirette von Oehlefeld, Kaufmanns-, Bankiers- und Juristenfamilie“. In: Stadtlexikon Nürnberg (wie Anm. 101), 171. Vgl. dazu die Stammtafeln im Anhang von SEIBOLD: Die Blommart (wie Anm. 135). Ebenda, 171. INGOMAR BOG: Die kaiserliche Kommission Johann Joachim Bechers in Nürnberg 1677. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 11/12 (1953), 283–295. Zum Kontext vgl. DERS.: Der Reichsmerkantilismus. Studien zur Wirtschaftspolitik des Heiligen Römischen Reiches im 17. und 18. Jahrhundert (= Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1), Stuttgart 1959, 76–151; HASSINGER: Johann Joachim Becher (wie Anm. 91), 203–230. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Merkantil- und Wechselgericht, B6 – Merkantilprotokoll 1. Reihe: Protokoll I (1725–1758), fol. 41r; RAUSCHER, SERLES: Wiener Niederleger (wie Anm. 35), 170. RIEDERER: Illustre Negocianten (wie Anm. 31), Bd. 2, 204–206, Zitat: 230; WERNER SCHULTHEISS: Wirtschaftliche Beziehungen zwischen der Reichsstadt Nürnberg und England. In: Norica. Beiträge zur Nürnberger Geschichte. Bibliothekar a. D. Dr. Friedrich Bock zu seinem 75. Geburtstag die Stadt Nürnberg, Nürnberg 1961, 77–89, hier 88. Siehe dazu neben SEIBOLD: Die Blommart (wie Anm. 135), 172, auch RIEDERER: Illustre Negocianten (wie Anm. 31), Bd. 2, 207.
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gebenen Lebensdaten von Johann Freneau [IV.] (1645–1686) machen die Zuordnung der Nennungen in den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern zu einer einzelnen Person unmöglich, da sich die diesbezüglichen Einträge von 1660 bis 1699 erstrecken; es könnte sich deshalb um bis zu drei verschiedene Personen gleichen Namens handeln. Mehrere Mitglieder der Familie Freneau können in Nürnberg, Wien und Frankfurt am Main als Händler nachgewiesen werden142. In den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern scheinen Indigo und Tabak als Handelswaren auf, die sowohl zum Nürnberger als auch zum Frankfurter Sortiment passen würden. Eindeutig ist, dass Johann Freneau IV. zusammen mit Johann Haignet in Frankfurt Großhandel mit böhmischer Wolle betrieb143. Zum Familiengeflecht der Blommart, Buirette und Freneau kann auch Christoph Kreisner (Kreußner), ein Schwager Jakob Blommarts, gezählt werden, der mit 29 Geschäftsfällen in den Kremser Rechnungsbüchern (1660–1663) genannt ist, die Indigo und Pfeffer betreffen. Kreisner war jedoch nicht aus den Niederlanden zugezogen, sondern gehörte einer reformierten Familie aus der Oberpfalz an144. Ein besonders aktiver Händler aus der niederländischen Gruppe unter den Nürnbergern war Martin de Neufville. Dieser wird in den Waag- und Niederlagsbüchern ausschließlich mit der Herkunft Nürnberg angegeben, doch gab es auch eine prosperierende Familie De Neufville in Frankfurt am Main. In den Ahnenreihen der bei Alexander Dietz ausführlich behandelten Frankfurter De Neufville konnte kein Träger des Vornamens Martin nachgewiesen werden145. Auf jeden Fall sind aber Kontakte zwischen Frankfurt und Nürnberg belegt, da beispielsweise eine Schwägerin Johann Wilhelm Buirettes aus Nürnberg mit einem De Neufville aus Frankfurt verheiratet war. Außerdem standen die Frankfurter De Neufville eine Zeit lang in engem Bezug zum Donauhandel, wie die 1683 erfolgte Bestellung der Frankfurter „Bankiers und Spediteure Gebrüder de Neufville“ zu Faktoren der Innerberger Hauptgewerkschaft in Steyr hinlänglich beweist146. In Nürnberg war die Familie De Neufville spätestens seit 1612 ansässig, da in diesem Jahr Kaspar de Neufville, der Großvater Martins, das Bürgerrecht erwarb. Die ge142 Ein Familienmitglied verbrachte zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch einige Zeit im niederösterreichischen Wiener Neustadt. ALEXANDER DIETZ: Frankfurter Handelsgeschichte, 4 Bde., Frankfurt am Main 1910–1925, hier Bd. 2, 30, 32, 260. 143 SEIBOLD: Die Blommart (wie Anm. 135), 172. Zum aus Valenciennes stammenden Johann Haignet vgl. DIETZ: Frankfurter Handelsgeschichte (wie Anm. 142), Bd. 2, 260. In den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern findet sich 1681 auch ein Eintrag zur Firma Haignet & Freneau unter der Ortsbezeichnung Wien. Zum Wollhandel von Haignet & Freneau in Böhmen siehe MILOŠ DVOŘÁK: Pobělohorská Praha a velkoobchod s českou vlnou na západoevropských trzích. In: Pražský sborník historický 37 (2009), 67–140, 38 (2010), 53–173 [Prag nach der Schlacht am Weißen Berg und der Großhandel mit böhmischer Wolle auf den westeuropäischen Märkten], dt. Zusammenfassung in Bd. 37 (2009), 141–148 und in Bd. 38 (2010), 174–184, hier 182. 144 SEIBOLD: Wirtschaftlicher Erfolg (wie Anm. 10), Bd. 1, 386; DERS.: Die Blommart (wie Anm. 135), 170, 175. 145 DIETZ: Frankfurter Handelsgeschichte (wie Anm. 142), Bd. 2, 46, 282, 296, Bd. 3, 265–270. 146 Ebenda, Bd. 4, 118, 260 f.
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schäftliche Laufbahn Martin de Neufvilles dürfte recht schwankend gewesen sein – spätestens 1717 fallierte sein Unternehmen. In Krems ist er bis 1711 nachweisbar; um 1725 dürfte er verstorben sein147. Nach Krems brachte De Neufville Indigo, der an Juden aus Nikolsburg (Mikulov) und Landskron (Lanškroun) in Mähren verkauft wurde, zusätzlich Beuteltuch, Pfundhäute, Teppichleinwand und Tuch. Von mährischen Juden und Wiener Händlern bezog er Federn und Wachs, von Kremser Händlern bzw. Produzenten Senf und Knoppermehl. Die Namen Freneau und De Neufville scheinen nicht unter den auswärtigen Kaufleuten der Eingabe an die Stadt Linz von 1672 auf, sehr wohl aber – und zwar prominent an erster Stelle – jene von Johann Haignet (Frankfurt), Jakob Blommart und Isaak Buirette (Nürnberg) sowie unter weiteren Nürnbergern Wilhelm Blommart und Daniel Sieß, ein Sohn von Abraham Sieß. Dies belegt nachdrücklich, dass die niederländischen Kaufleute aus den oberdeutschen Reichsstädten neben Wien und Krems auch in Linz, und damit in allen wichtigen Marktorten an der Donau, maßgeblich engagiert waren148. Eine weitere Gruppe von Religionsflüchtlingen kann unter den Nürnbergern in Krems identifiziert werden: Infolge der räumlichen Nähe und der traditionell engen Beziehungen zwischen den österreichischen Handelsorten und den oberdeutschen Reichsstädten wählten viele Protestanten aus den Ländern ob und unter der Enns zwischen 1600 und 1680 neben Regensburg, das zumeist erste Anlaufstation war, Nürnberg als Zufluchtsort149. Eindeutig gehörten Sebastian Wernberger und Zacharias Kriner (Krienner/Krinner/Krüner) dieser Gruppe an. Auch die Händler Johann und Franz Rösel dürften österreichische Exulanten gewesen sein, jedoch ist die Zuordnung angesichts des häufig vorkommenden Namens Rösel/Rößel nicht eindeutig. Sebastian Wernberger kann in den Kremser Rechnungsbüchern nur einmal (1647) nachgewiesen werden; seine bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts bestehende Handelsgesellschaft Wernberger & Geiger fehlt vollständig. Zwar ist dieser Umstand wohl auch der lückenhaften Überlieferung geschuldet, das Hauptinteresse von Wernberger & Geiger galt im Donauraum aber zweifels-
147 Stadtarchiv Nürnberg, E 56/VI, Ebner/Genealogische Sammlung, Nr. 268, Genealogien und Dokumente zu anderen Familien, Neubronner bis Neufville, 1473–1764. 148 Oberösterreichisches Landesarchiv Linz, Ständisches Archiv, Landschaftsakten, G. VIII, Bd. 805, Nr. 22, Eingabe der auswärtigen Kaufleute an die Stadt Linz in Sachen Mautsteigerung, 1672. Zur Bedeutung der Niederländer in Nürnberg siehe zusammenfassend SEIBOLD: Die Blommart (wie Anm. 135), 193 f. 149 Zu dieser Thematik vgl. die umfassenden Darstellungen von WERNER WILHELM SCHNABEL: Oberösterreichische Protestanten in Regensburg. Materialien zur bürgerlichen Immigration im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 16 (1990), 65–133; DERS.: Österreichische Exulanten in Oberdeutschen Reichsstädten. Zur Migration von Führungsschichten im 17. Jahrhundert (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 101), München 1992; ferner HANS KRAWARIK: Emigrationen und Ausweisungen von Protestanten aus Oberösterreich. In: KARL VOCELKA, RUDOLF LEEB, ANDREA SCHEICHL (Hg.): Renaissance und Reformation. Oberösterreichische Landesausstellung 2010, Linz 2010, 347–357.
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ohne den Linzer Märkten150. Neben Tabak, der an die Appaltatoren Johann Geiger und Johann Höllinger geliefert wurde, war der Großhandel mit Eisen und Eisenwaren bzw. Stahl aus Steyr von größter Bedeutung151. In den späten 1620er Jahren hatte Sebastian Wernberger aus Glaubensgründen sein Bürgerrecht in Steyr aufgegeben und übersiedelte nach einem fast zehnjährigen Zwischenaufenthalt in Regensburg 1638/39 endgültig nach Nürnberg, wo er bereits seit 1630 ein Gewölbe mit „Steyrerwaren“ besaß152. Nach dem Tod Wernbergers führte dessen Schwiegersohn Peter Geiger die Handlung unter dem Namen „Sebastian Wernbergers sel. Erben und Peter Geiger“ fort. Diese Handelsgesellschaft kontrollierte in den 1670er Jahren einen Großteil des Nürnberger Sensenhandels: Die Firma vermautete an der Donaumaut Aschach allein 1675 über 12 000 Stück Sensenblätter und damit fast die Hälfte aller auf der Donau nach Nürnberg transportierten Sensen153. „Sebastian Wernbergers sel. Erben und Peter Geiger“ waren ebenso in Linz engagiert wie der bereits erwähnte Zacharias Kriner154. Kriner und die ihm zuzurechnenden Handelsgesellschaften gehören zu den am häufigsten genannten auswärtigen Händlern in den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern (81 Nennungen, 1660–1711). Er war spätestens 1654 aus dem Mühlviertler Ort Leonfelden nach Nürnberg übersiedelt155. Bis 1692 wird er als Einzelunternehmer in den Rechnungsbüchern geführt, zwischen 1694 und 1706 firmieren die Einträge unter Zacharias Kriner & Co., 1710 und 1711 dann unter Zacharias Kriner & Schmidt. Der Name Zacharias Kriner, dessen einziger Sohn vor ihm verstorben war, blieb nach Kriners Tod 1697 in den Firmenbezeichnungen erhalten: Im Wiener Merkantilprotokoll wurde unter den Niederlegern 1725 die Firma seines Schwiegersohns Johann Georg Schmidt156 und dessen Kompagnon Matthias Laßgallner unter dem Namen Zacharias Kriner & J. G. Schmidt eingetragen; 1727 wurde sie zu Zacharias Kriner, Schmidt & Co. erweitert, im folgenden Jahr zu Kriner, Schmidt & Scheidlin. 1748 trennten sich die beiden Schwäger Johann 150 Die weitgespannten Geschäftsbeziehungen von Wernberger & Geiger reichten von Lyon, wo man „zu den maßgeblichsten deutschen Handelshäusern“ gehörte, bis Lübeck und Hamburg. SEIBOLD: Wirtschaftlicher Erfolg (wie Anm. 10), Bd. 1, 380; INGOMAR BOG: Oberdeutsche Kaufleute zu Lyon 1650–1700. Materialien zur Geschichte des oberdeutschen Handels mit Frankreich. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 22 (1962), 19–65, hier 61. 151 Zu Wernberger & Geiger als Tabakhändler siehe RAUSCHER, SERLES: Märkte, Monopole, Manufakturen (wie Anm. 28), 71 f. Zu den verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Kompagnons sowie zu anderen Nürnberger Großhändlern siehe SEIBOLD: Wirtschaftlicher Erfolg (wie Anm. 10), Bd. 1, 379–381; vgl. auch ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 30), Bd. 2, 113–116. Dieser Abschnitt beruht auf RIEDERER: Illustre Negocianten (wie Anm. 31), Bd. 1, 98–105. 152 SCHNABEL: Österreichische Exulanten (wie Anm. 149), 229. Vgl. auch ZAHLAUS: Fluchtpunkt Nürnberg (wie Anm. 134), 39 f. 153 FISCHER: Blaue Sensen (wie Anm. 132), 175–179. 154 Oberösterreichisches Landesarchiv Linz, Ständisches Archiv, Landschaftsakten, G. VIII, Bd. 805, Nr. 22, Eingabe der auswärtigen Kaufleute an die Stadt Linz in Sachen Mautsteigerung, 1672. 155 SEIBOLD: Wirtschaftlicher Erfolg (wie Anm. 10), Bd. 1, 450 f. 156 Zu Johann Georg Schmidt siehe ebenda, 452–454.
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Andreas Schmidt und Johann Kaspar Scheidlin – Johann Andreas Schmidt firmierte ab 1749 wieder unter Kriner & Schmidt, Johann Kaspar Scheidlin unter seinem eigenen Namen157. Neben den lediglich als „Gut“ bezeichneten Waren sowie den in Kisten und Kisteln transportierten, nicht näher identifizierbaren Handelsgütern können vor allem Garn und Wachs in den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern gefunden werden, die den Kriner’schen Firmen zuzurechnen sind. Genauere Aufschlüsse bringen hier die Aschacher Mautprotokolle. Eine Auswertung des Jahres 1728, das als repräsentativ für den Warentransport der Firma Kriner & Schmidt in den 1720er Jahren angesehen werden kann, ergab 85 Ladungen, die in diesem Jahr in Aschach vermautet wurden158. 15 Ladungen betrafen so unterschiedliche Güter wie Seidenflor, Samtborten, silberne Uhren, Farbwaren und Schmiedeeisen; ganze 70 Ladungen wurden jedoch dezidiert als „beschlagenes Gut“ bezeichnet. Darunter wurde in Baumwolle eingeschlagene oder in Kisten transportierte, hochwertige Fernhandelsware wie Gewürze und Seidenwaren verstanden, womit auch der eher diffuse Begriff „Gut“ der Kremser Bücher in diesem Fall präzisiert werden könnte159. Zwischen 1718 und 1737 wurden in Aschach von der Firma Kriner & Schmidt über 1 100 Ladungen mit einem ähnlichen Warensortiment wie 1728 vermautet, was das ungebrochene Engagement dieses Nürnberger Handelshauses im Donauhandel lange nach dem Ableben des aus Oberösterreich stammenden Gründers Zacharias Kriner zeigt. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts hatte sich eine italienische Händlerkolonie in Nürnberg niedergelassen, die um 1600 aus ca. 25 Familien bestand160, jedoch blieben die wenigsten von ihnen dauerhaft in der Pegnitzstadt, da sie als Katholiken im protestantischen Nürnberg immer wieder Repressionen seitens der Stadt, aber auch der Kurie, die es nur ungern sah, wenn sich Katholiken in protestantischen Städten ansiedelten, ausgesetzt waren161. Als Nürnberg während des Drei157 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Merkantil- und Wechselgericht, B6 – Merkantilprotokoll 1. Reihe: Protokoll I (1725–1758), fol. 158r–v. 158 RAUSCHER, SERLES (Hg.): Aschacher Mautprotokolle (wie Anm. 85), „Kriner und Schmidt“+„1728“. 159 Zur Klärung des Begriffs „beschlagenes Gut“ vgl. HERBERT KLEIN: Beschlagenes Gut. In: Beiträge zur Siedlungs-, Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte von Salzburg. Gesammelte Aufsätze von Herbert Klein. Festschrift zum 65. Geburtstag von Herbert Klein (= Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Ergänzungsband 5), Salzburg 1965, 549– 558; LANDSTEINER: Güterverkehr (wie Anm. 107), 226. 160 PETERS: Strategische Allianzen (wie Anm. 9), 176–181; WALTER: Nürnberg in der Weltwirtschaft (wie Anm. 21), 149; GERHARD SEIBOLD: Zur Situation der italienischen Kaufleute in Nürnberg während der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 71 (1984), 186–207, hier 189, geht sogar von über 40 italienischen Firmen in Nürnberg um 1600 aus. 161 LOTHAR BAUER: Die italienischen Kaufleute und ihre Stellung im protestantischen Nürnberg am Ende des 16. Jahrhunderts. (Zu einem Bericht an die Kurie vom Jahre 1593). In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 28 (1968), 1–18, hier 3 f.; KELLENBENZ: Wirtschaftsleben zwischen dem Augsburger Religionsfrieden und dem Westfälischen Frieden (wie Anm. 135), 301.
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ßigjährigen Krieges Schauplatz von Kampfhandlungen wurde und eine Seuchenwelle über die Stadt hinwegzog, verlagerten so gut wie alle Italiener den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten an andere Orte. 1684 wurden gerade einmal sieben italienische Unternehmen in Nürnberg gezählt, die alle erst nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder in Nürnberg ansässig geworden waren162. Dementsprechend schwach ist auch die Präsenz italienischer Händler aus Nürnberg in den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern. Lediglich zwei [!] Einträge können hier angeführt werden: Die Erben des Bartholomäus Viatis im Jahr 1641 und [Franz] Guai(t)ta & Co. 1699163. 1641 und 1642 scheinen die Erben des Bartholomäus Viatis außerdem fünfmal mit der Herkunftsangabe Breslau auf – ihre Lieferungen beziehen sich auf Ziechen, ein Gewebe, das vorrangig für Bettwäsche verwendet wurde. Die Handelsgesellschaft des Franz Guaita wird 1699 noch 16 Mal unter der Herkunft Wien vermerkt – gehandelt wurde mit Reis, Pfeffer, Weinbeeren, Öl, Lorbeer, Kastanien und Wolle. Für viele Italiener, die sich im Donauhandel engagieren wollten, scheint es weit zweckmäßiger gewesen zu sein, statt den Umweg über eine protestantische Reichsstadt zu nehmen, sich gleich in der kaiserlichen Residenzstadt Wien – entweder als Niederleger, Hoflieferant oder, da die Religion der Aufnahme in die Bürgerschaft hier nicht entgegenstand, als bürgerlicher Händler niederzulassen und ihre Geschäfte auf den Märkten an der Donau von Wien aus zu betreiben. Seit dem Beginn der Frühen Neuzeit hatte die Bedeutung patrizischer Kaufleute in Nürnberg stark abgenommen164. Durch Weiterentwicklungen im Bereich der Wechsel- und Kommissionsgeschäfte, des Versicherungs-, Transport- und Nachrichtenwesens sank die Eintrittsschwelle in den Groß- und Fernhandel, sodass die Anzahl kleinerer Einzelunternehmen mit weitreichenden Geschäftsverbindungen während des 16. Jahrhunderts zunahm165. Durch das Ausscheiden der Patrizier aus dem Handel, demografische Entwicklungen und die konfessionell bedingten Migrationsströme war die Zusammensetzung der Nürnberger Händlerschaft außerordentlichen Veränderungen unterworfen. Dennoch lassen sich auch 162 SEIBOLD: Situation (wie Anm. 160), 201. 163 Bartholomäus Viatis und das Handelshaus Viatis & Peller wurden eingehend von SEIBOLD: Viatis und Peller (wie Anm. 57), untersucht. Zur Geschäftstätigkeit der Viatis am Banco Publico siehe auch DENZEL: Nürnberger Banco Publico (wie Anm. 8), 212–217. Zur Familie Guaita in Nürnberg bzw. Wien liegen keine Studien vor, jedoch bietet JOHANNES AUGEL: Italienische Einwanderung und Wirtschaftstätigkeit in rheinischen Städten des 17. und 18. Jahrhunderts, Bonn 1971, Informationen zur weitverzweigten Familie Guaita in Frankfurt. 164 Als letzte Familien des Patriziats zogen sich die Imhoff (1635) und die Tucher (1646) aus dem Handelsgeschäft zurück. Vgl. ALBERT BARTELMESS: Die Patrizierfamilie Tucher im 17. und 18. Jahrhundert. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 77 (1990), 223–243, hier 228 f.; GERHARD SEIBOLD: Die Imhoffsche Handelsgesellschaft in den Jahren 1579–1635. Eine Charakterisierung im Spiegel verschiedener Nachlaßinventare, Gesellschaftsverträge und der Nürnberger Banco Publico-Akten. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 64 (1977), 201–214, hier 213. 165 ERICH LANDSTEINER: Kein Zeitalter der Fugger. Zentraleuropa. In: PETER FELDBAUER, JEANPAUL LEHNERS (Hg.): Die Welt im 16. Jahrhundert (= Globalgeschichte. Die Welt 1000– 2000), Wien 2008, 52–82, hier 57; SEIBOLD: Situation (wie Anm. 160), 189 f.
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Kaufleute und Firmen mit etwas längerer Tradition im Nürnberger Handelsleben auf den Kremser Märkten nachweisen. Dazu gehörten die Handelshäuser Berlin & Ebermayer166 (36 Nennungen, 1701–1711), Patzer & Eisenreich167 (31 Nennungen, 1692–1701) sowie Rüdel & Huth168 (66 Nennungen, 1699–1720). Zieht man noch die Nennungen der Geschäftspartner, die auch als Alleinhandelnde in den Rechnungsbüchern aufscheinen, in Betracht (Wilhelm Bernhard Berlin: 19169; Jakob Patzer: 48; Jakob Rüdel: 10), so summieren sich die Einträge dieser drei Firmen und ihrer Kompagnons auf 210 Geschäftsfälle bzw. 20 Prozent aller Nürnberger Nennungen in den Kremser Waag- und Niederlagsbüchern. Das verbindende Element ist dabei das einheitliche Güterspektrum. Alle genannten Firmen bzw. Personen handelten mit Juchten, Farbstoffen (v. a. Indigo und Farbhölzer), teuren Gewürzen und Materialwaren; gleichzeitig kauften sie Senf, Weinstein und Wachs in Krems ein. Sie waren damit auf Güter spezialisiert, die von merkantilistischen Maßnahmen nicht berührt wurden. V. Resümee Die Nürnberger Kaufmannschaft war in der Frühen Neuzeit im Vergleich zum späten Mittelalter internationaler geworden. Glaubensflüchtlinge aus den Niederlanden und den habsburgischen Erblanden ließen sich ebenso wie italienische Neuankömmlinge in Nürnberg nieder und nutzten Kapital, Know-how und Kontakte für ihre Handelsgeschäfte. Damit belebten sie die Nürnberger Wirtschaft weit über den Dreißigjährigen Krieg hinaus. Diese Entwicklung spiegelte sich auch auf einem entfernten Marktplatz wie Krems eindrucksvoll wider. Nürnberg nützte seine zentraleuropäische Korridorlage, um eine breite Palette an Gütern – je nach Bedarf und Möglichkeit – vom Mittelmeer und/oder vom Atlantik sowie aus dem Osten des Kontinents zu beschaffen und gleichzeitig eine Vielzahl an Märkten, für welche Krems exemplarisch stehen kann, mit Waren des Transithandels und aus eigener Gewerbeproduktion zu beliefern170. Mit Hilfe der Kremser Waag- und Niederlagsbücher ist es möglich, viele Nürnberger Händler, deren Beziehungen nach Linz, Wien oder Krems bis dato kaum bekannt waren, mit dem Donauhandel eindeutig in Verbindung zu bringen. 166 Biografisches zu Ebermayer und teilweise auch Berlin bei SEIBOLD: Wirtschaftlicher Erfolg (wie Anm. 10), Bd. 1, 396–402. 167 Zu Patzer ebenda, 429. 168 Zu Rüdel & Huth siehe ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels (wie Anm. 30), Bd. 2, 227 f. 169 Davon sieben Nennungen als Wilhelm Berlin. Ob es sich hierbei nur um eine Vereinfachung des Waagmeisters ab 1729 handelt oder um eine von Wilhelm Bernhard Berlin zu trennende Person, ist ungewiss. 170 Zu diesem Handelskorridor siehe LANDSTEINER: Kein Zeitalter der Fugger (wie Anm. 165), 55; WILFRID BRULEZ: L’exportation des Pays-Bas vers l’Italie par voie de terre au milieu du XVIe siècle. In: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 14/3 (1959), 461–491, hier 465– 470.
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Die starke Zunahme der Zahl größerer Handelsgesellschaften und die vermehrten Handelsaktivitäten von Nürnbergern in Krems zwischen 1660 und 1720 können als ein Indiz für den Wiederaufschwung nach dem Dreißigjährigen Krieg in beiden Städten gewertet werden. Die punktuelle Einbeziehung der Aschacher Mautprotokolle in die Darstellung hat überdies deutlich gemacht, dass die Erschließung dieser wichtigsten Quelle zum (österreichischen) Donauhandel der Forschung neue Perspektiven auf Händler, Handelswaren und Handelskonjunkturen weit über die Region zwischen Linz, Krems und Wien hinaus eröffnen wird.
REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN
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1. Epochenübergreifend BERND ULRICH HUCKER (Hg.): Landesgeschichte und regionale Geschichtskultur. Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2013, 258 S., (ISBN 978-3-7752-5937-8), 32,00 EUR. Der sorgfältig redigierte und mit hilfreichen Literaturverzeichnissen versehene Sammelband dokumentiert die Vorträge einer Ringvorlesung an der Universität Vechta, die um vier Beiträge einer Tagung zum Thema „Regionale Geschichtskulturen“ ergänzt wurden. Der Herausgeber intendiert damit, die gewachsene „Bedeutung der landeshistorischen Methode für die allgemeine Geschichte“ sowie die „regionalen Geschichtskultur(en)“ (7) zu dokumentieren und miteinander zu verknüpfen. Gelungen ist dabei eine eindrucksvolle Zusammenstellung von insgesamt neun Studien, die die Vorzüge verschiedenster methodischer Zugriffsformen, Erkenntnisperspektiven und Arbeitsweisen der Landesgeschichte offen legen und damit einen breiten Einblick in die Forschungsfelder des Faches geben. Dabei lässt sich freilich nicht jeder der hier versammelten Autoren dieser Fachdisziplin zurechnen – gleichwohl arbeiten alle mit räumlich-regionalen Paradigmen. Eingeleitet werden die Beiträge durch eine Einführung des Herausgebers sowie einen methodisch-theoretisch angelegten Beitrag von Eugen Kotte. Dieser gibt einen instruktiven Überblick über die Historiographie und Methodengeschichte der Landesgeschichte und verknüpft darin geschichtskulturelle Konzeptionen, wie sie in der Geschichtsdidaktik entwickelt wurden, mit aktuellen konstruktivistischen Ansätzen einer Regionalgeschichte, die vom spatial turn der Kulturwissenschaften beeinflusst sind. Leider wird dieser weiterführende Ansatz in den einzelnen Beiträgen dann kaum mehr aufgegriffen, so dass der theoretische Teil und die empirisch ausgerichteten Fallstudien etwas unverbunden nebeneinander stehen. Bei den Einzelbeiträgen, die in einem epochenübergreifenden Zugriff verschiedene historische Landschaften Deutschlands thematisieren, handelt es sich durchweg um lesenswerte Studien von ausgewiesenen Expertinnen und Experten, die einen Einblick in ihre aktuellen landesgeschichtlichen Arbeiten geben. Stephan Freund beleuchtet das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Frankenreich und dem Herzogtum Bayern im 8. Jahrhundert und fokussiert dabei die Auseinandersetzung zwischen Karl dem Großen und Tassilo III., wobei er auch nichtfränkische Quellen mit heranzieht. Neben der hier im Mittelpunkt stehenden frühmittelalterlichen Herrschaftsgeschichte greift Christoph Lang mit der Stadtgeschichte ein ebenfalls klassisches Themenfeld der Landesgeschichte auf. Ausgehend von der bayerischen Landstadt Aichach entfaltet er die Besonderheiten der altbayerischen Städtelandschaft, deren zentralörtliche Funktionen insbesondere herrschaftlich-territorial begründet waren und die in ihrer Entwicklung ab dem 16. Jahrhundert zugunsten des bayerischen Fürstenstaates stagnierten. Wie sehr die räumlich-örtliche Verankerung eines Mythos spezifische regionale Zuschreibun-
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Rezensionen und Annotationen
gen und Bewusstseinsstrukturen ausformen kann, demonstriert Bernd Ulrich Hucker an der Erzählung von Till Eulenspiegel aus der Region Braunschweig. In akribischer Rekonstruktion werden dabei die narrativen Entwicklungen und Adaptionen der Hofnarrenfigur vom 14. Jahrhundert bis zur DDR-Zeit offen gelegt. Die Entwicklungsgeschichte territorialer Staatlichkeit gehört zweifelsohne zu den traditionsreichsten Forschungsgebieten der Landesgeschichte. Christine Reinle führt am Beispiel der Einbindung des Niederadels in die entstehende hessische Landesherrschaft vor, wie erkenntnisperspektivisch spannend dieses Thema sein kann, wenn man es auf gesicherter empirischer Basis mit neuen Fragestellungen, hier zum Verhältnis von Fehderecht und Landfriede, bearbeitet. Jens E. Olesen fokussiert mit Schwedisch-Pommern (1630–1815) eine Region, die in der Frühen Neuzeit durch ihre staatsrechtliche Zwitterstellung als Reichsterritorium und schwedische Provinz hervorsticht. Nachgezeichnet werden die daraus erwachsenen strukturellen Prägungen der Landschaft in verfassungsrechtlicher, militärischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Ebenfalls unter einem strukturgeschichtlichen Ansatz stellt Georg Seiderer die politischen Auswirkungen der Bikonfessionalität Frankens bis ins 20. Jahrhundert hinein vor, wobei er in überzeugender Weise die Rolle der konfessionellen Struktur für die Ausprägung einer spezifisch regionalen politischen Kultur nachzeichnet sowie umgekehrt die „Regionalisierung des Konfessionellen im 19. Jahrhundert“ (161) betont. Nicht konfessionelle, sondern die Wirkungsmacht ethnisch-religiöser Unterschiede stehen im Zentrum des Beitrags von Joachim Tautz, der das Schicksal jüdische Einwanderer aus den Niederlanden sowie aus Osteuropa in die Regionen Oldenburg und Ostfriesland untersucht. Dabei handelt es sich zwar um singuläre Phänomene, die aber gleichwohl, insbesondere anhand der restriktiven Aufnahmepolitik der Gemeinden wie des Staates, den Anstieg antisemitischer Tendenzen im 19. Jahrhundert aufzeigen. Die beiden letzten Aufsätze des Bandes beleuchten nochmals aus unterschiedlichen Perspektiven die ideologische Besetzung und Nutzung von Räumen bzw. Orten. Jürgen Joachimsthaler zeigt, wie zwischen den 1890er Jahren und 1930 in Oberschlesien, wo sich deutsche und polnische Einflüsse seit Jahrhunderten überlagert hatten, Nationalismen die Region neu besetzten und überformten. Anhand einer Bildanalyse zu Schulbüchern werden die Zeichen- und Bedeutungssysteme rekonstruiert, über die nun eine deutsche Kulturraumdeutung der Region erfolgte. Die Böttcherstraße in Bremen steht als städtischer Raum im Mittelpunkt des Aufsatzes von Lukas Aufgebauer. Über einen biographischen Ansatz wird die in der Stadtgeschichte offensichtlich wenig präsente national-regionale Narration der Architektur offen gelegt. Ludwig Roselius, der Gründer der Kaffee HAG, schuf hier, beeinflusst von der völkischen Ideenwelt der Heimatschutzbewegung, ein Architekturprojekt, das durch die Verbindung von Bautraditionen und reformarchitektonischen Elementen den kulturellen Führungsanspruch der germanischnordischen Kultur untermauern sollte. Sabine Ullmann
Eichstätt
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ENNO BÜNZ (Hg.): Geschichte der Stadt Leipzig. Band 1: Von den Anfängen bis zur Reformation, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015, 1055 S., 288 Abb., 31 Ktn., (ISBN 978-3-86583-801-8), 49,00 EUR. In den letzten Jahren haben sich mehrere mitteldeutsche Städte in mitunter mehrbändigen Darstellungen ihrer jeweiligen Vergangenheit erinnert. Dresden (2005) und Halle (2006) seien beispielhaft genannt; Zwickau wird demnächst folgen. Diese Abhandlungen stellen einesteils weit ausgreifende Zusammenfassungen einer beträchtlichen Flut von Spezialarbeiten in Buch- oder Zeitschriftenform dar, anderenteils sind sie (momentane) Endpunkte langer historiographischer Traditionen, die oft bis ins Spätmittelalter zurückreichen. Bei diesen großen Synthesen handelt es sich nahezu immer um die Ergebnisse kollektiven Wirkens, d. h. es tritt zu Fragen des Inhalts, der Komposition und der Ausstattung dieser Bücher die mehr oder weniger ausgeprägte Kunst der Vereinheitlichung der konzeptionellen und schreib-gestalterischen Arbeit der Einzelautoren hinzu. Anlässe für das Erscheinen solcher Werke bilden in erster Linie Jubiläen. Aus all diesen Gründen fungieren sie in mehrfachem Sinne als Formen der menschlichen „Selbstbesinnung“. Im Leipziger Fall handelte es sich um die 1 000. Wiederkehr der namentlichen Ersterwähnung des Ortes in der Chronik Bischof Thietmars von Merseburg, d. h. die tatsächliche Gründung der Siedlung lag vor diesem Datum. An Attributen, alten und neuen, mangelt es im Falle der Stadt an der Pleiße nicht: Universitäts-, Messe-, Musik-, Literatur-/Verlags-/Buch- und Sportstadt. Zu einem beträchtlichen Teil treffen diese Markenzeichen bereits für den anzuzeigenden ersten Band der auf vier Bände veranschlagten „Gesamtgeschichte“ zu, womit zugleich die Mühen und Sachzwänge der Herausgeber und der 28 Autoren angemerkt seien, die Masse der Menschen, ihrer Leistungen, der Prozesse und Entwicklungen, der Konflikte und Variablen gedanklich-konzeptionell und sprachlich zu fassen. Dieses Problem betrifft auch den Rezensenten. Wenn vom Oberbürgermeister im Geleitwort allerdings betont wird: „In Leipzig begann am 9. Oktober 1989 das Ende der bipolaren Welt“, so wäre angesichts einer mehrtausendjährigen Geschichte der Welt etwas mehr Zurückhaltung angebracht gewesen. Wie viele große „Stadtgeschichten“ sind die frühen Jahrhunderte in die Bereiche Vor- und Frühzeit (samt Naturraum, Klima, [Be]Siedlung und Leipzigs Name, 33–76), Stadtentstehung und Entwicklungsphasen vom 10. bis zum 13. Jahrhundert (79–176), Spätmittelalter (177–643), Reformationszeit (641–682) und Dörfer in Leipzigs Umfeld (samt einem historischen Ortsverzeichnis, 683) gegliedert. Die Einzelkapitel werden, sofern spezielle Sachfragen nicht schlüssig in den Text des jeweiligen Abschnitts einzubinden waren, durch „Schlaglichter“ vertieft. Das hat sich auch anderswo bewährt. Am Beginn des Bandes steht ein historiographiegeschichtlicher Abriss des Herausgebers Enno Bünz (15–30), der von Erasmus Sarcerius über David Peiffer und Johann Jacob Vogel bis zu Gustav Wustmann, Ernst Kroker, Ernst Müller, Karl Czok und Bünz selbst sowie seinem Mitarbeiter- und Schülerkreis reicht und damit den gesamten Zeitraum des vierbändigen Werks abdeckt. Angesichts dieser vorrangig lokalgeschichtlichen Orientierung wirken Rudolf Kötzschke (Sied-
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lungs- und Landesgeschichte) und seine Schüler Walter Schlesinger (Verfassungsund Landesgeschichte; Studien zu Schönburg, Glauchau und Chemnitz) und Herbert Helbig (Landes- und Wirtschaftsgeschichte; Studien zur Universität Leipzig) nur bedingt passgerecht (23 f.). Eine Besprechung kann auf viele wichtige Aspekte bedauerlicherweise nicht eingehen; sie möchte aber drei Themenbereiche etwas näher in den Blick nehmen. Erstens: Der von Enno Bünz äußerst skeptisch gesehene „Feudalismus“Begriff, der „einseitige Sichtweisen auf die politische Ordnung“ einschließe, wird durch den Begriff der „Vormoderne“ ersetzt, die von „zwei konträren Rechtsprinzipien“ geprägt gewesen sei – „Herrschaft und Genossenschaft“. Die mittelalterliche Stadt „verkörpere“ das genossenschaftliche Prinzip mit „Selbstorganisation und Selbstverwaltung“ (27–30). In den Abschnitten über Stadtverfassung und -verwaltung (183–213) schreibt zwar Henning Steinführer detailliert über die Wurzeln von „Genossenschafts- und Kaufmannsrecht“, unter anderem über die zentralen Positionen der Bürger in der Stadtverfassung, lässt aber auch wesentliche Faktoren wie Bürgerrechtserwerb, Eid, Bürgergeld, Inanspruchnahme von Rechten und Pflichten sowie Gehorsam aufscheinen, womit ein wichtiger Aspekt der innerstädtischen Machtausübung angesprochen wird. Im Laufe des Spätmittelalters wird der Einfluss von Handwerkern – also eines großen Teils der Bewohnerschaft – auf den Rat und damit seine Teilhabe an der tatsächlichen Macht immer geringer, derjenige der schwerreichen Fernhändler, Kuxspekulanten sowie der Gelehrten immer ausgeprägter. Schließlich demonstriert Bünz mit vielen Steuerdaten, wie reich die Leipziger Oberschicht trotz „heimlicher Besteuerung“ war und wie deutlich das Sozialgefälle in der Stadt ausfiel (274–322). Der Fernhandel, speziell die Messen mit ihren markanten Etappen 1497, 1507 und 1514 (Markus A. Denzel, 322–340), und die Beteiligung an Bergbaugeschäften führten zur Akkumulation großer Vermögen wie Heinrich Scherls 100 000 Gulden (307). Bünz stellt fest: „Die reichsten Bürger saßen entweder im Rat oder waren mit Ratsfamilien verwandt“ (305) – ein Umstand, der mit dem Genossenschaftsprinzip doch ein wenig kollidiert. Zweitens: Für jede mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt ist das Verhältnis zwischen Kommune und Kirche von zentraler Bedeutung; mit ihm befassen sich Markus Cottin, Enno Bünz, Armin Kohnle, Christoph Volkmar und Sabine Zinsmeyer sowie Henning Steinführer (435–533 und 634–682). Auch das Kapitel „Kulturelles Leben“ weist zu diesem Teil des Bandes eine Fülle von Bezügen auf (534–640). Konfliktfrei war dieses Verhältnis keineswegs. Die sog. „Laikalgemeinschaft“ erwies sich eher als Etikett. Generell wird das gesamte Spektrum kirchen- und glaubensbezogener Gegenstände abgearbeitet: die Merseburger Bischöfe, Stadtkirchen und Kapellen, Klöster und Stifte, Friedhöfe und Begräbniswesen. Schließlich wird der „lange Weg zur Reformation“ nachgezeichnet, der maßgeblich vom Landesherrn Herzog Georg bestimmt worden ist, aber auch die Disputation zwischen Luther und Eck 1519, das „Auslaufen“ der Bürger zur lutherischen Predigt und die Gegenbewegung einschließt. Die „evangelische Zukunft“ habe in Leipzig nicht vor Georgs Tod im Jahre 1539 begonnen (667).
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Eine solche Feststellung wirft natürlich auch die Frage nach den vorherigen Verhältnissen auf und verweist auf die sog. Laienfrömmigkeit (498–520). Enno Bünz unterscheidet hierbei die Frömmigkeit der Geistlichen und die „ständisch und sozial geprägten Frömmigkeitsformen“ (498 f.) der Laien. Vom Terminus „Volksfrömmigkeit“ sieht er ab. Das ist sinnvoll, denn dieses methodische Vorgehen vermischt nicht ein allgemeines Frömmigkeits- und Glaubensbild, das hohe intellektuelle oder künstlerische Fähigkeiten und soziales Vermögen aufweist, mit individuellen Glaubensanliegen armer Leute, die in der Regel nicht fassbar sind. Drittens: Markus Cottin geht hinaus vor die Tore der Stadt und schaut sich in den Vororten um. Er beschreibt Mühlen, Fischerei und Teiche, die Gewässer im Umland und die Grundbesitzungen der Bürger, das Landhandwerk, aber auch Ausgleich und Konflikt zwischen Stadt und Land (683–714). Und er richtet den Blick darüber hinaus auf die Dörfer des Umlands (715–752), wo der Rat mit Klosterverwaltungen und Grundherren „gemeinsam“ die Oberherrschaft führte. Es gab viel „Städtisches“ in diesen Dörfern (Gasthöfe, Spielhäuser, Bäder, Hirten etc.), und sie behielten dennoch zunächst ihre dörflichen Strukturen. Diese Abschnitte sind zu einem erklecklichen Teil aus den Quellen geschöpft; dennoch klaffen noch manche Lücken. Ein Historisches Ortsverzeichnis (723–787) listet auf dem Stand vom September 2015 „alle Dörfer, Nachbarschaften, Vorstädte, Wüstungen und Einzelgüter“ auf, die zum mittelalterlichen Siedlungsbestand gehörten. Das Verzeichnis der 123 Ortsteile reicht von Abtnaundorf bis zu Zweinaundorf. Rund 140 Seiten Anmerkungen, ein von Jürgen John gefertigtes Quellen- und Literaturverzeichnis (941–1011) sowie ein Orts- und Personenregister schließen den Band ab. Zum tausendjährigen Jubiläum der Stadt liegt somit ein großes, opulent illustriertes Werk vor – zugleich eine vorzügliche Historikerleistung und ein verlegerisches Stück Arbeit, das mit Stolz präsentiert werden kann. Helmut Bräuer
Leipzig
CHRISTINA SCHMID, GABRIELE SCHICHTA, THOMAS KÜHTREIBER, KORNELIA HOLZNER-TOBISCH (Hg.): Raumstrukturen und Raumausstattung auf Burgen in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 2), Heidelberg: Winter 2015, 541 S., (ISBN 978-3-8253-6324-6), 68,00 EUR. Ausgangspunkt für den hier zu besprechenden Band bildete ein internationaler und interdisziplinärer Kongress, der vom 22. bis 24. März 2010 in Krems an der Donau stattfand und vom Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL) organisiert wurde. Das Thema ist Teil des bereits seit längerer Zeit am IMAREAL etablierten Forschungsschwerpunktes „Der domestizierte Raum in Mittelalter und früher Neuzeit: Raumstruktur – Raumkonstitution – Raumkonstruktion“. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit durch die Schaffung und Wahrnehmung von Innen- und Außenräumen soziale Identität im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gebildet und ausgedrückt wurde und wie diese künstlich oder natürlich beschaffenen Raumstrukturen wiederum Einfluss auf die
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damaligen Menschen genommen haben könnten. Ein Teilprojekt, das unter der Leitung von Thomas Kühtreiber (Krems) zwischen 2007 und 2010 durchgeführt und im Rahmen eines von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) geförderten interdisziplinären Dissertationsstipendiums finanziert wurde, beschäftigt sich speziell mit dem adeligen Wohnen auf Burgen und Schlössern im Spätmittelalter im süddeutsch-österreichischen Raum und deren möglichen sozialen Implikationen. Dass der Tagungsband nach längerer Wartezeit doch noch erscheinen konnte, ist erfreulich und leider nicht selbstverständlich, da sich das IMAREAL aufgrund der heftigen Budgetkürzungen der Jahre 2011/12 bereits der Schließung gegenübersah. Nachdem es Anfang November 2012 aus der ÖAW ausgegliedert wurde, hat es am Interdisziplinären Zentrum für Mittelalterstudien (IZMS) an der Universität Salzburg allerdings eine neue Heimat gefunden, wo auch der 18 Beiträge umfassende Tagungsband fertiggestellt werden konnte. Eröffnet wird der Band durch die drei StipendiatInnen Josef Handzel, Gabriele Schichta und Christina Schmid, die das gemeinsame Dissertationsprojekt vorstellen. Am Beispiel „RaumOrdnungen – Raumfunktionen und Ausstattungsmuster auf Adelssitzen im 14. bis 16. Jahrhundert“ wird verdeutlicht, wie wichtig der interdisziplinäre Forschungsansatz – in diesem Falle der Geschichtswissenschaft, der Archäologie und der Germanistik – für das Projekt ist. Dabei ist weniger das harmonische Abgleichen der unterschiedlichen Quellengattungen von Interesse. Im Gegenteil – gerade die Fälle, in denen es keine Entsprechungen oder gar Kontraste zwischen den Quellen gibt, sind für eine umfassende, kritisch-reflektierte Betrachtung vergangener Lebenswelten weitaus produktiver. Darauf folgt der posthum veröffentlichte Vortrag von Kari Jormakka (Wien), in dem die mittelalterliche Rezeption antiker Architekturtheorien und deren Aussagemöglichkeiten zum Innenraum, vornehmlich von Kirchengebäuden, im Vordergrund stehen. Während das Hochmittelalter noch ganz der sinnbildlichen Zahlensymbolik verfallen war, setze sich mit der Gotik der Trend zu geometrischen Formen durch. Ebenfalls zu berücksichtigen ist der Symbolgehalt kirchlicher Bauformen. Carolina Cupane-Kislinger (Wien) verdeutlicht in ihrem Beitrag „Die Wirklichkeit der Fiktion. Palastbeschreibungen in der byzantinischen Literatur“, dass fiktionale Literatur oft die einzige Möglichkeit darstellt, an Informationen über Struktur und Ausgestaltung profaner Bauwerke zu gelangen, da von den byzantinischen Kaiserpalästen nur noch Ruinen vorhanden sind und auch die historischen Quellen nur selten genügend Informationen über die Innenräume der Anlagen preisgeben. Ähnlich ist der Beitrag von Kai Lorenz (Bamberg) gelagert. Er konstatiert, dass Räume in der mittelalterlichen höfischen Literatur in ihrer Funktionalisierung drei Kategorien zuzuordnen seien: Transit-, Schwellen- und Gesellschaftsräume. Sie dienen als Ordnungsprinzip menschlicher Raumkonstruktion und -wahrnehmung. Transiträume zeigen den Helden in Bewegung und stehen für den erzählerischen Freiraum gegenüber gesellschaftlichen Normen. Schwellenräume bilden einen Übergangszustand, sowohl für die Raumsituation selbst als auch auf figuraler Ebene. Gesellschaftsräume dienen der Interaktion des Protagonisten mit einem
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Sozialsystem. Der Beitrag von Anja Grebe (Krems) „Wahr-Scheinliche Räume. Überlegungen zur Semiotik des Interieurs in der spätmittelalterlichen Buch- und Tafelmalerei“ ist ebenfalls stark interdisziplinär geprägt. Ihre Bildbeispiele weisen deutlich auf die Multifunktionalität bzw. die Offenheit der Wohnfunktion von Räumen hin. Für neue Erkenntnisse müssen kunstgeschichtliche, bauhistorische, literaturwissenschaftliche und historische Quellen von Räumen und Möbeln, aber auch deren zeichenhafte Funktion auf bildlichen Darstellungen miteinbezogen werden. Um die symbolische Ausstattung und Ausschmückung böhmischer Renaissanceschlösser drehen sich die Überlegungen von Vaclav Bužek (České Budějovice). Die Ausstattung repräsentativer Räume wie z. B. der Wappenstuben diente neben der Zurschaustellung der Altehrwürdigkeit der eigenen Familie auch zur Stilisierung als Hüter des Gemeinwohls und der ständischen Landesfreiheiten. Mit Minnesang und Räumlichkeit beschäftigt sich Ursula Schulze (Berlin). Dabei kommt sie zunächst zu dem vermeintlich überraschenden Befund, dass die Minne im Raum nur selten vorkommt. Dies könne aber dadurch erklärt werden, dass die Burg den Raum der höfisch anerkannten Liebe repräsentiert, während es sich bei der Minne ja um die gerade entgegengesetzte, verbotene Liebe handele. Andere zwischenmenschliche (Liebes-)Beziehungen, die erlaubt und somit in einem öffentlichen Raum wie einer Burg demonstriert werden dürfen, werden durch Architekturelemente wie Zinnen, z. B. im berühmten Codex Manesse, durchaus zur Schau gestellt. Volker Ohlenschläger (Bad Soden im Taunus) untersucht die deutschen Hofordnungen des 15. Jahrhunderts auf deren Raumstrukturen. Auch wenn diese nicht immer wörtlich zu nehmen sind, finden sich dort wichtige Aussagen zur sozialen Differenzierung von Räumen oder sogar ganzen Raumkomplexen, wie er am Beispiel des Frauenzimmers ausführt. Michael Rykl (Prag) stellt die Frage nach der „Raumanordnung im Wohnbereich der Feste in Böhmen (14.–16. Jh.)“. Nach Ausführungen zur „minimalen Wohnung“ – bestehend aus Diele, Stube und Kammer – führt sein Beitrag über die Nutzung der unterschiedlichen Räume hin zu deren späterer Ausdifferenzierung und Anordnung. Um „Raum und Repräsentation in der Gozzoburg“ geht es im Beitrag von Paul Mitchell. Die zwischen 2005 und 2007 getätigten Sanierungsarbeiten der Burganlage in Krems verdeutlichen die massiven Umbauarbeiten, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts durchgeführt wurden. Zwei von Mitchell erarbeitete access diagrams zeigen auf beeindruckende Weise, wie ausgeklügelt die Raumanordnung angelegt und für repräsentative Zwecke genutzt wurde. Sabine Felgenhauer-Schmidt (Wien) versucht am Beispiel des Herrenhofes im Dorf Hardt zu überprüfen, ob sich die These der Raumsoziologie, dass Herrschaft im Mittelalter immer auch symbolisch konstituiert wird, im tatsächlichen archäologischen Befund nachweisen lässt. Für die Burg Mali Grad in Slowenien rekonstruiert Benjamin Štular (Ljubljana) nicht nur ältere Areale und deren Nutzungszwecke der im 13. Jahrhundert teilweise zerstörten Anlage, sondern untersucht auch durch Sichtbarkeitsanalysen die Rolle der Burg in der sie umgebenden Landschaft. Über die Aussagemöglichkeiten archäologischer Funde von Burgen in Be-
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zug auf adelige Repräsentation geht es bei Norbert Gossler (Berlin), der auf das schwierige Verhältnis zwischen ökonomischer Situation und Macht- bzw. Prestigeanspruch verweist. Diese stünden nicht unbedingt im Einklang. Außerdem macht Gossler auf die Möglichkeiten, aber auch die methodischen Grenzen beim Zusammenspiel von archäologischen, archäobotanischen, archäozoologischen sowie schriftlichen und bildlichen Quellen aufmerksam, mit deren Hilfe Aussagen über niederadelige Lebensumstände getroffen werden können. Anhand der spätmittelalterlichen Rechnungsbücher der Herren von Thun verdeutlicht Claudia Feller (Wien) beispielhaft, welche Aussagemöglichkeiten zu Burgenbau, Wohn- und Raumgestaltung und somit zur adeligen Wohnkultur möglich sind. Ulrich Stevens (Pulheim) beschäftigt sich mit Zugängen und Emporen von Burgkapellen und der Frage, wie man von diesen auf die sie nutzenden Personenkreise schließen kann. Er postuliert Kapellen mit „öffentlichem Charakter“ und solche, die lediglich dem Herrscher und dessen Gefolge zugeordnet werden können. Dies trifft auch für die Emporen zu. Diese dienten meist der herrschaftlichen Repräsentation, wobei auch andere Nutzungsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen werden können. Mit einigen bauarchäologischen Thesen zum Wohnturm in der Schweiz setzt sich Lukas Högl (Wien) auseinander. Dort lassen sich sowohl Winter- als auch Sommerräume identifizieren. Bei dem Raum auf der Höhe des Burgeinstieges mit Feuerstelle handelt es sich nicht nur um die Küche, sondern um das Zentrum des Wohnturmes. Zu guter Letzt besitzt der Wohnturm auch Elemente der Wehrhaftigkeit. „Zwischen Burgkapelle und Kammer – Formen persönlicher Andacht auf Burgen“ ist das Thema von Gabriele Schichta (Krems) und Christina Schmid (Linz). Gelebte Frömmigkeit auf Burgen soll dabei anhand der Konfrontation von literarischen und archäologischen Quellen untersucht werden. Dies sei jedoch nur unter Einbezug von Visualität, Körperlichkeit und politisch-sozialen Verflechtungen möglich. Diese drei Aspekte lassen sich in beiden Quellengattungen fassen und in Bezug auf ihre Aussagemöglichkeiten vergleichen. Zum Abschluss widmen sich Josef Handzel und Thomas Kühtreiber (Krems) den sozial konnotierten Lebensräumen Herrenstube und Frauenzimmer am Beispiel der Burg Pürnstein, für die ein detailliertes Nachlassinventar aus der Mitte des 16. Jahrhunderts erhalten geblieben ist. Der Vergleich des Inventars mit dem überlieferten Baubestand und weiteren normativen Quellen der Haushaltsliteratur sowie mehrere access diagrams haben gezeigt, dass zwischen dem 15. und dem 16. Jahrhundert eine Separierung zwischen weiblichen und herrschaftlichen Wohnräumen vorgenommen wurde. Christian Kübler
Tübingen
MARK SPOHR: Auf Tuchfühlung. 1000 Jahre Textilgeschichte in Ravensburg und am Bodensee (= Historische Stadt Ravensburg 6), Konstanz: UVK 2013, 160 S., (ISBN 978-3-86764-442-6), 4,99 EUR. Der vorliegende Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung soll an die textile Vergangenheit der Stadt Ravensburg und Oberschwabens erinnern. Ravensburg
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war vom 13. bis zum 16. Jahrhundert einer der großen Standorte der Produktion von Leinen und Barchent in einem der wichtigsten Textilreviere Europas. Nicht zuletzt die Große Ravensburger Handelsgesellschaft besorgte seit dem späten 14. Jahrhundert deren internationalen Absatz. Nach dem schon im 16. Jahrhundert einsetzenden Rückgang, der sich nach dem Dreißigjährigen Krieg verstärkt bemerkbar machte, konnte die Stadt im 19. Jahrhundert wieder an ihre textile Tradition anknüpfen. In den 1960er Jahren vollzog sich dann allerdings der Untergang der Ravensburger Textilindustrie. Der vorliegende Band stellt die Entwicklung Ravensburgs in den Kontext des oberdeutschen Leinwand- und Barchentgebiets. Eingangs werden die textilen Rohstoffe und der Flachsanbau in der Region behandelt, mit der Weiterverarbeitung von Flachs zu Garn verschiedene Techniken bis hin zum Tretspinnrad vorgestellt und die Probleme der Garnbeschaffung durch die oberschwäbischen Garnbünde und den Garnmarkt erläutert. Dass sich mit John Kays Schnellschützen die Produktivität der Webstühle verdoppelt habe und der Garnhunger ausgelöst worden sei, ist allerdings überholt. Weitere Kapitel geben Einblick in die Werkstatt, in Arbeitstechniken (Bindung), in die Zunft sowie die Land- bzw. Gäuweber und die Textilveredelung (Mangen und Färben). Raumgreifende Aktivitäten wie das Bleichen werden z. B. durch einen schönen Ausschnitt aus dem Stadtprospect von 1625 dargestellt. Es ist bemerkenswert, dass bei der Schau der Leinwand Stadtzeichen vergeben, für den Barchent jedoch überregional verbindliche Güteklassen (Ochse, Löwe, Traube, Brief) eingeführt wurden. Der weit ausgreifende Handel der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft (seit 1380), die Leinen zunächst nach Italien, Südfrankreich und Spanien, dann besonders über Barcelona und Valencia vermittelte, unterstreicht die Bedeutung des Textilzentrums. Barchent, ein Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle, wurde 1379 erstmals in Ravensburg erwähnt. Die dazu notwendige Baumwolle kam aus dem östlichen Mittelmeerraum und bot einen Ansatzpunkt für Verlagsbeziehungen. Räumlich ergab sich eine Spezialisierung, denn der südliche Teil Schwabens blieb eher bei der Leinwand, Städte wie Augsburg, Ulm, Memmingen und Biberach produzierten hingegen Barchent. Der Sprung zur amerikanischen Baumwolle erfolgt in der Darstellung etwas abrupt, und die Phase des Umbruchs und des Wandels erfährt (abgesehen von der Zulieferfunktion für St. Gallen) nur knappe Berücksichtigung. Das liegt natürlich auch daran, dass kaum Forschungen zum 17. und 18. Jahrhundert vorliegen, weshalb auf ältere Deutungsmuster zurückgegriffen wird. Dies zeigt sich mitunter auch an allgemeinen Einschätzungen, dass die „Zunftpolitik“ durch starre Beharrung den technischen Fortschritt gehemmt habe und das Handwerk in Württemberg Anfang des 19. Jahrhunderts „mit seinen verkrusteten Ordnungen“ ein „Hemmnis der wirtschaftlichen Entwicklung“ gewesen sei (119). Insgesamt liegt mit dem vorliegenden Band jedoch ein instruktiver und gut bebilderter Überblick zur Textilgeschichte Ravensburgs und der oberdeutschen Textilregion vor. Reinhold Reith
Salzburg
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PETER RAUSCHER, ANDREA SERLES (Hg.): Wiegen – Zählen – Registrieren. Handelsgeschichtliche Massenquellen und die Erforschung mitteleuropäischer Märkte (13.–18. Jahrhundert) (= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 25), Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag 2015, 542 S. (ISBN 978-3-7065-5420-6), 49,90 EUR. Der vorliegende Band versammelt die Akten einer 2013 in Krems veranstalteten Tagung der am ‚Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeitʻ und am ‚Institut für Österreichische Geschichtsforschungʻ angesiedelten Forschungsprojekte zum Donauhandel. Peter Rauscher und Andrea Serles, die jene Vorhaben zu den Waag- und Niederlagsbüchern der niederösterreichischen Handelsstadt Krems bzw. zu den Rechnungen der Donaumaut im oberösterreichischen Aschach wissenschaftlich zu verantworten haben, versuchen in ihrem Vorwort zunächst, den Stellenwert der Arbeit mit Massenquellen in der zeitgenössischen Historiographie zu verorten. Gewiss – mit der schier herkulischen Erschließungsarbeit der ca. 100 000 Quellenseiten der pipe rolls für die englische Monarchie allein des 13. Jahrhunderts ist in den akademischen Aufstiegskarussellen weniger Staat zu machen als mit der Erfindung von Paradigmenwechseln und neuen turns, die über exklusive peer-groups und exklusives Sprechen durchgesetzt werden. Doch turns laufen in immer schnelleren Rhythmen innovativ ins Leere, und die in ‚antiquarischerʻ Quellenarbeit verharrende Wirtschafts- und Sozialgeschichte versammelt neue Wissensbestände in bleibenden Editionen oder Datenbanken, die nur wenige in der innovativen Hektik der Szene zur Kenntnis nehmen. Es ist Rauscher und Serles Recht zu geben, wenn sie angesichts dieses Paradoxons zeitgenössischer Geschichtswissenschaft „längerfristig konzipierte, auf kritischer Quellenarbeit basierende Forschungsprojekte oft [für] die einzigen wenigen Felsen in der Brandung historiografischer Beliebigkeiten“ halten (20). Doch diese Felsen sind nicht gerade einfach zu erklimmen, sie setzen ‚Verrückteʻ voraus – ich weiß, wovon ich rede –, die bereit sind, sich durch Quellenmassen des schier Immergleichen zu arbeiten, um jenem „Reiz von englischen Telefonbüchern“ (N. Vincent) neues Wissen, gelegentlich auch Kurioses abzutrotzen. Der königliche Befehl – um in meinem Beispiel zu bleiben – an alle männlichen Mitglieder des englischen Hofes, sich ihre Haare kurz schneiden zu lassen, findet sich jedenfalls nur in den genannten pipe rolls. Und so mag eine weitere Feststellung von Rauscher und Serles ihre Berechtigung haben, dass es in der aktuellen Forschung nicht mehr darum geht, mit der Erschließung von Massenquellen „die Grundlage für strukturgeschichtliche Untersuchungen einer entseelten Wirtschaftsgeschichte“ der 1970er und 80er Jahre zu schaffen, „sondern Material für (gruppen-)biografische Studien ebenso wie für stadt- oder regionalgeschichtliche Forschungen“ zu sammeln (21). Freilich scheint mir dieser Gegensatz zu apodiktisch: Denn methodisch müssen die individuellen oder milieubedingten Befindlichkeiten einer sozialen (Klein-)Gruppe einem Allgemeinen – sei es einer Theorie oder einem größeren historiographischen Zusammenhang (Hof und Staat, Recht, Urbanisierung, Märkte, Verkehr, ökonomische oder soziale Entwicklungsprozesse, Konsumtionsbedingungen etc.) – zugeordnet und damit eingeordnet werden, wollen sie nicht in die Beliebigkeit historischer Narrationen abgleiten. Unbestreitbar da-
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gegen ist der bedenkliche Zustand der vormodernen Wirtschaftsgeschichte in den deutschsprachigen Ländern – Teil einer sich zunehmend geschichtsblind gebenden Wirtschaftsgeschichte des Industriezeitalters als selbst stark gefährdetes fünftes Rad der in ihren Paradigmen völlig anders ausgerichteten Volkswirtschaftslehre. Der Band geht in der faszinierenden Fülle seiner 17 Einzelbeispiele, gebündelt in vier Kapiteln, tatsächlich ‚Ad Fontesʻ. Reizvoll und informativ zugleich ist der Umstand, dass in vielen der Beiträge die vorzustellende Quellengruppe genau beschrieben und eingeordnet wird und endlich Möglichkeiten der Auswertung ausgelotet werden. Das erste Kapitel, überschrieben mit „Städte und Handel“, eröffnet Elisabeth Gruber: Sie zeigt anhand von Maut- und Zollordnungen, Mautverzeichnissen, Stapel- und Niederlagsrechten etc. vornehmlich österreichischer Provenienz die rechtlichen Grundlagen der Stadt als Ort von Gewerbe und Handel auf, in denen sich Handelspolitik wie Handelspraktiken widerspiegeln. Städtische Willkürrechte und herrschaftliche Privilegien sagen freilich noch wenig über die Möglichkeiten aus, die sich dadurch ergebenden Chancen auch nutzen zu können. Eine derartige Fragestellung untersucht Davina Benkert anhand der Basler Messbücher und Messrechnungen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Andrea Serles kann in ihrem Beitrag anhand der Kremser Waag- und Niederlagsbücher des 17. und frühen 18. Jahrhunderts über 900 fremde Kaufleute in diesem Marktort nachweisen. Dass sich aber aus derartigen Befunden solch schöne, am Schreibtisch ersonnene Begriffe wie ‚Fernhandelsdrehscheibeʻ in der Realität des Einzelhandels jener derart bezeichneten Städte anders darboten, zeigen beileibe nicht nur die von Davina Benkert dargestellten Maßnahmen Basels, den häufig fremd bestimmten Großhandel als erdrückenden Konkurrenten vom internen Markt fernzuhalten. Die Streitkultur von Kaufleuten ist auch in den Prozessakten des 1635 gegründeten Bozener Merkantilmagistrats überliefert. Andrea Bonoldi analysiert in quantitativer Methodik Konfliktfelder, die sich durch den Wandel von den Waren- zu Muster- und Wechselmessen beträchtlich vermehrten. Und wie stets: In der Auseinandersetzung werden Funktionsweisen (hier der Bozener Messen) sichtbar, die sonst verborgen geblieben wären. Zollregister bieten, dort, wo sie wie in Krakau vom Ende des 16. Jahrhunderts an überliefert sind – Jacek Wijaczka weist darauf hin –, solide Einblicke in den Handelsverkehr und in die vielfältige Welt der Waren. Die Zollregister leiten schon zum zweiten Kapitel über, in dem sich sechs Beiträge den Massenquellen zu „Warenströme[n] und Wasserwege[n]“ widmen: Die vielfältige Überlieferung zum vormodernen Warentransport auf der Donau wird durch Erich Landsteiner (verschiedene Mautregister des 16. und frühen 17. Jahrhunderts), Peter Rauscher (Aschacher Mautregister seit den 1670er Jahren mit einer wichtigen Diskussion der Möglichkeiten und Probleme von OnlineEditionsprojekten) und Attila Tózsa-Rigó (die erhaltenen westungarischen Dreißigstzollregister und das Verbotbuch der Stadt Pressburg) dargestellt. Die Verkehrsströme auf Elbe und Rhein sind durch die von der Mitte des 15. Jahrhunderts an erhaltenen Elbzollrechnungen von Torgau und Wittenberg (Uwe Schirmer) und durch die geldrischen Zollrechnungen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts (Job
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Weststrate) zu erschließen. Die Flussschifffahrt war zwar gerade beim Transport von Massengütern wesentlich effektiver als der Landtransport, dennoch waren Wege und Straßen für die Verteilung der Güter wichtig und hätten durchaus auch einen Beitrag verdient. Immerhin stellt Jan Willem Veluwenkamp die für den internationalen Austausch von Waren und Wissen entscheidende Hochseeschifffahrt mit seinem Projekt einer Online-Datenbank zur Dokumentation der dänischen Sundzollregister (‚STROʻ) vor. Das dritte Kapitel macht deutlich darauf aufmerksam, dass für die Geschichte vieler vormoderner Handelshäuser ‚Massenquellen‘ allenfalls punktuell überliefert sind. Heinrich Lang zeigt dies anhand der kleinen Serie zum Seidenzoll an der Rhône (1532–1540) auf, den Welser und Salviati gepachtet hatten. Mark Häberlein verwendet die kürzlich von ihm zusammen mit Peter Geffcken edierten Fragmente der Welser-Buchhaltung für die Untersuchung des Donauhandels des Handelshauses; er folgt dabei einem klugen akteurszentrierten Ansatz. Auf Ausnahmen der schwierigen Quellenlage macht Christof Jeggle aufmerksam: die Geschäftskorrespondenz der Florentiner Firma Ascanio di Baccio Saminiati des 17. Jahrhunderts mit ihren ca. 300 000 Schriftstücken. Methodische Fragen der Auswertung von Massenquellen bilden das letzte Kapitel des aufschlussreichen, anregenden Bandes: Werner Scheltjens trägt am Beispiel der dänischen Sundzollregister mit der Konvertierung frühmoderner Maße und Gewichte in das metrische System, der Standardisierung von Produktbezeichnungen und der Geo-Referenzierung historischer Ortsnamen eine Lösungsmöglichkeit für vergleichende Auswertungen von Massenquellen vor. Am Beispiel der Merkantiltabellen Galiziens um 1800 weist Klemens Kaps auf das bekannte Phänomen hin, dass die Ratio zeitgenössischer Verwaltungen ihren eigenen Funktionalitäten folgte und sich von daher wissenschaftlicher Quantifizierbarkeit entziehen mag. Und Jürgen Jablinski bietet mit Softwarelösungen für die Automatisation der Erfassung von Massenquellen virtuelle Zukunftsträume für diesseitig geplagte Historikerinnen und Historiker, die sich Seite um Seite durch vormoderne Rechnungen arbeiten und sich dabei fragen, ob ihre Lebenszeit überhaupt dazu ausreichen wird, buchstäblich Licht am Ende jenes Tunnels zu sehen. Gerhard Fouquet
Kiel
PHILIPP GASSERT, GÜNTHER KRONENBITTER, STEFAN PAULUS, WOLFGANG E. J. WEBER (Hg.): Augsburg und Amerika. Aneignungen und globale Verflechtungen in einer Stadt (= Documenta Augustana 24), Augsburg: Wißner 2013, 310 S., 38 Abb., (ISBN 978-3-89639-967-0), 24,90 EUR. Die vierzehn Beiträge dieses gelungenen Bandes thematisieren Aspekte der Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte zwischen Augsburg und Amerika von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Der thematische Schwerpunkt liegt auf der Zeitgeschichte seit 1945, doch gewinnen auch die Entwicklungen der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts Kontur. Ausgehend von der Überlegung, dass Globalisierungs- und Verflechtungsprozesse stets in lokalen Kontexten stattfinden
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und sich dort auch niederschlagen, wollen die Herausgeber Phänomene globaler Interaktion „vor Ort“ in Augsburg studieren. Amerika heißt dabei Nord- und Südamerika, denn mit beiden Teilen des Doppelkontinents war Augsburg im Laufe seiner Geschichte verflochten. Die ersten vier Beiträge beschäftigen sich mit der Frühen Neuzeit. Mark Häberlein gibt einen Überblick über die vielfältigen Aktivitäten Augsburger Handelshäuser in der Neuen Welt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert und macht dabei deutlich, in welchem Maße Augsburg als frühneuzeitliche Handels- und Finanzmetropole in die transatlantischen Handelszusammenhänge eingebunden war, nicht zuletzt auch durch den Sklavenhandel. Anschließend analysieren Christine R. Johnson und Rainald Becker die Rolle Augsburgs als Drehscheibe für die Produktion und Zirkulation von Amerikawissen. Johnson untersucht das Amerikaschrifttum in der Bibliothek des Augsburger Humanisten Konrad Peutinger und schreitet das Spektrum der in ihm zirkulierenden Amerikabilder ab, das neben kühl kalkulierender wirtschaftlicher Rationalität und christlichen Missionshoffnungen auch jede Menge an Wunderbarem und Fabelhaftem widerspiegelt. Weil Augsburg zwar allgemein ein Nachrichtenzentrum, aber kein Umschlagplatz für Nachrichten aus der Neuen Welt gewesen sei, so Johnson, habe Peutinger sich seine Amerikaliteratur woanders besorgen müssen. Dieser These widerspricht Rainald Becker in gewisser Hinsicht, billigt er der Reichsstadt doch eine wichtige Rolle bei der Formierung von Amerikabildern im Expansionszeitalter zu. Zwar habe Augsburg als Vermittlerin von Amerikawissen im Reich nicht die gleiche Bedeutung gehabt wie Nürnberg, doch habe die Reichsstadt in der Frühen Neuzeit durchaus eine wichtige Position bei Produktion und Vertrieb amerikakundlicher Nachrichten eingenommen, wobei er vor allem die Jesuiten und die Pietisten als wesentliche Träger der süddeutschen Überseepublizistik identifiziert. Um die Pietisten, genauer gesagt um die Beziehungen zwischen Samuel Urlsperger, seit 1723 Erster Senior der lutherischen Stadtgemeinde in Augsburg, und der Exklave der Salzburger Protestanten in Ebenezer, Georgia, geht es im Beitrag von Rudolf Freudenberger. Dicht beschreibend und quellengesättigt beleuchtet er die Rolle Urlspergers als Organisator der Auswanderung einer Gruppe Salzburger Protestanten nach Amerika im Jahre 1733. Diese pietistische Connection Augsburgs war lange Zeit vergessen; Freudenberger ruft sie anschaulich ins Gedächtnis zurück. Zwei Beiträge erörtern Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Marita Krauss gibt einen so gerafften wie soliden Überblick über Entwicklungsprozesse, Dimensionen und Grundprobleme der Auswanderung aus Bayerisch-Schwaben nach Nordamerika. Karl Borromäus Murr analysiert das Agieren Augsburger Textilunternehmer auf dem internationalen Baumwollmarkt. Er liefert im Kern eine Mikrostudie des Großbetriebs Mechanische Baumwollspinnerei und Weberei Augsburg (SWA) von den 1830er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg. Dessen Verflechtung mit dem internationalen Baumwollmarkt reflektiert Murr einerseits im Kontext der institutionellen Vernetzung der Baumwollwirtschaft im regionalen, nationalen und internationalen Rahmen. Andererseits schreibt er diese Geschichte
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auch als Geschichte eines sich formierenden weltwirtschaftlichen Bewusstseins auf Seiten der Augsburger Unternehmer, die sich im Prozess der ökonomischen Expansion zunehmend als global players begreifen lernten. In sieben Aufsätzen thematisiert der Band die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Egbert Klautke untersucht die Amerikanismusdebatte in der Augsburger Publizistik der 1920er Jahre im Hinblick auf die in ihr präsenten Amerikanisierungsängste. Deutlich wird, dass die USA hier als Chiffre der Moderne zu einem Vehikel für die deutsche Auseinandersetzung mit eben dieser durch die USA repräsentierten Moderne wurden, wobei es stets um die Frage ging, ob diese Moderne für Deutschland gewollt war oder nicht. Die übrigen sechs Beiträge erörtern die Zeit seit 1945. Edith Raim liefert eine dicht beschreibende, überaus informative Rekonstruktion der Besatzungszeit in Augsburg, die sie aus ethnologischer Perspektive und unter steter Berücksichtigung der Erfahrungen von Besatzern und Besetzten als Aufeinandertreffen zweier Kulturen begreift. Dabei sind vor allem die durchgehend aus den Quellen gearbeiteten Ausführungen zur Perspektive der US-Soldaten auf die Deutschen sehr interessant. Nahtlos daran an schließt das Kapitel von Reinhild Kreis, das das Verhältnis zwischen der Augsburger Bevölkerung und den amerikanischen Soldaten für die Jahre von 1945 bis 1970 untersucht. Dabei stellt sie für die deutsche Sicht auf die Amerikaner eine komplexe Gemengelage von Faszination und Abgrenzung fest: Einerseits erkannte die Augsburger Bevölkerung die technische Fortschrittlichkeit der USA an, andererseits war ihre Haltung auch durch ein Gefühl der kulturellen Restüberlegenheit geprägt, das auf der vermeintlichen Kultur- und Geschmacklosigkeit der Amerikaner basierte. Einige Bereiche und Formen deutsch-amerikanischer Interaktion in Augsburg auslotend, zeigt Kreis, wie die räumliche und soziale Trennung zwischen Deutschen und Amerikanern ungeachtet aller offiziellen und offiziösen Bemühungen um Partnerschaft im Kern bestehen blieb. Tobias Brenner untersucht die wirtschaftlichen und städtebaulichen Konsequenzen der US-Militärpräsenz in Augsburg. In seinem Beitrag geht es einerseits um die Rolle der in Augsburg stationierten US-Soldaten als Wirtschaftsfaktoren im Auf und Ab der europäisch-amerikanischen Wechselkursentwicklung, andererseits um die städtebauliche Bedeutung der für die amerikanischen Truppen errichteten Wohnsiedlungen in der Nähe der US-Kasernen. Diese Bauten symbolisierten die städtebauliche Moderne Amerikas in Augsburg – und wurden von der Bevölkerung mit einer Mischung aus Bewunderung und Ablehnung zunächst auch so gesehen. Peter Bommas erörtert anschließend das Problem der Amerikanisierung von Jugend- und Populärkultur in Deutschland nach 1945. Allerdings handelt es sich hier eher um einen Beitrag zur höchst widersprüchlichen Aneignung der amerikanischen Populärkultur in Westdeutschland allgemein, der, den aktuellen Forschungsstand solide zusammenfassend, zwar durchaus informativ ist, aber bezogen auf Augsburg eher vage bleibt. Konkret wird es dafür wieder im Beitrag von Stefan Paulus, der anhand dreier Fallbeispiele aus den Jahren 1950 bis 1972 die Adaption amerikanischer Architekturformen in Augsburg als Manifestation von Amerikanisierungs- und Moderni-
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sierungsprozessen untersucht. Die als amerikanisch wahrgenommenen Gebäude wurden von den Zeitgenossen einerseits als sichtbare Belege für die Überwindung von NS-Architekturauffassungen gesehen; andererseits erschienen sie in den 1950er Jahren auch als Fremdkörper in der Fuggerstadt mit ihren bis ins Mittelalter zurückreichenden städtebaulichen Traditionen. Dies änderte sich erst um 1970. Im letzten Beitrag des Bandes nimmt Gundula Bavendamm das geplante Augsburger Museums- und Erinnerungsprojekt „Lernort Frieden“ zum Anlass, die Entstehung von Erinnerungslandschaften zur Geschichte des Kalten Krieges in Deutschland Revue passieren zu lassen. Bei dem geplanten Augsburger Projekt handelt es sich um Halle 116 der ehemaligen Luftnachrichtenkaserne, in der während der nationalsozialistischen Herrschaft eine Außenstelle des KZ Dachau untergebracht war und die dann nach 1945 von den Amerikanern in der SheridanKaserne als Fahrzeughalle weitergenutzt wurde. Auf dieses Projekt geht Bavendamm in ihrem Beitrag jedoch gar nicht ein, sondern liefert stattdessen eine deskriptive Inventur der musealen Erinnerung an die Alliierten in Berlin und dem gesamten Bundesgebiet. Insgesamt umreißt der Band plausible Themen, Kontexte und Dimensionen der über fünfhundertjährigen Beziehungs-, Verflechtungs- und Interaktionsgeschichte von Augsburg und Amerika. Ungeachtet der starken Konzentration auf die Zeigeschichte nach 1945 beeindruckt der Band durch die langen zeitlichen Schneisen durch das Geschehen. Immer da, wo die Beiträge sich auf die Geschehnisse, Entwicklungen und Verhältnisse in Augsburg konzentrieren, wird das Vorhaben, Globalisierung im lokalen Rahmen zu studieren, eindrucksvoll eingelöst. Allerdings ist nicht jeder Beitrag primär mit Augsburg beschäftigt. Einige Beiträge widmen sich eher allgemeinen historischen Phänomenen, so dass die Augsburg-Spezifik des jeweiligen Verflechtungs- und Transferzusammenhangs nicht so richtig greifbar wird. Gleichwohl handelt es sich um einen Band, der zum Weiterdenken und -forschen einlädt – und vor allem auch dazu, diesen Ansatz auf andere deutsche Städte zu übertragen. Volker Depkat
Regensburg
DIRK BRIETZKE, FRANKLIN KOPITZSCH, RAINER NICOLAYSEN (Hg.): Das Akademische Gymnasium. Bildung und Wissenschaft in Hamburg 1613–1883 (= Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 23), Berlin/Hamburg: Reimer 2013, 245 S., (ISBN 978-3-496-02865-9), 39,95 EUR. Das „Akademische Gymnasium“, auch als Gymnasium Illustre bezeichnet, hatte als Institution zwischen Lateinschule und Universität im deutschen Bildungssystem, zumal im protestantischen Deutschland, seit dem frühen 16. Jahrhundert eine eigene Karriere und Funktion. Mit der Neuordnung der Universitäten, dem Funktionswandel der Artisten- zur Philosophischen Fakultät und der Einrichtung des gymnasialen Weges bis zum Abitur endete diese Geschichte. Das Akademische Gymnasium in Hamburg, dessen Geschichte hier in insgesamt elf Beiträgen prä-
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sentiert wird, hatte als letzte Einrichtung dieser Art bis 1883 Bestand, bis es mangels Nachfrage – am Ende unterrichteten fünf Professoren einen Studenten – einging. Gibt es heute aber mehr Gründe als eine Ringvorlesung (der die Texte entstammen), Nostalgie, lokalhistorisches Interesse und die Neugier der Spezialisten, erneut auf diese Einrichtung zu schauen? Die Herausgeber verorten den Band in ihrer Einleitung natürlich lokalhistorisch, aber auch in der langen Dauer der Hamburger „Wissenschaftskultur“ insgesamt, und sie diskutieren das Akademische Gymnasium systematisch in einem zweifachen Sinne als „Voruniversität“ (mit einem Begriff Werner von Melles): sachlich wegen der propädeutischen Funktion vor der Universität und zeitlich, weil es zur Vorgeschichte der Gründung der Hamburger Universität gehört. Gleichzeitig betonen sie aber – zu Recht, wie die Lektüre nachdrücklich und sogar mit Unterhaltungswert bestätigt – die nicht nur für Hamburg signifikante Rolle dieser Institution in der Geschichte der vormodernen europäischen „Gelehrsamkeit“. Franklin Kopitzsch einleitend und Rainer Nicolaysen abschließend behandeln, hier wie durchgehend in der Forschung reichhaltig abgestützt und höchst lesbar dargestellt, Anfang und Ende der Institution, die seit 1613 unter dem Dach des renommierten Johanneums und in enger Kooperation mit ihm existierte, aber in eigener Lehre (seit 1615) und in öffentlichen Vorlesungen sichtbar war. Sie stellen diese Geschichte sowohl in den Hamburger Kontext als auch in die deutschsprachige Tradition dieser Gymnasien. Für Einzelfragen, z. B. die Studierenden (die Matrikel endet mit der Nummer 3 708 und ist seit 1891 ediert), wird man bei beiden Autoren eher neugierig als schon in allen Details hinreichend bedient. Fragen der Rekrutierung von Studierenden und Professoren, auch quantifizierend, oder die Finanzierung der Institution könnten intensiver behandelt werden, und ein catalogus professorum (möglichst im Netz) wäre wünschenswert. Kurz, wer Neugier stimuliert, sieht sich unbescheidenen weiteren Fragen ausgesetzt. Die größte Gruppe der Abhandlungen gilt Gelehrten, die auch über Hamburg hinaus bekannt waren und sind. Sie werden in der Regel von den Spezialisten für ihr Thema vorgestellt; die entsprechenden Beiträge sind belehrend, reichhaltig und anregend für weitere Forschungen und andere Kontexte. Christoph Meinel beginnt – natürlich – mit Joachim Jungius (1587–1657). Seine Forschungen, unter anderem seine „diakritische Methode“, werden als Exempel späthumanistischer Gelehrsamkeit vorgestellt. Inspiriert durch den Pädagogen Ratke und zugleich geleitet und irregeführt von dessen ebenso utopisch-enzyklopädischer wie empirizistischer Ambition, dass „Seinsordnung, Erkenntnisordnung und Lehrordnung […] in eins fallen“ (35) sollen, entwickelte er eine eigene Forschungspraxis, und zwar als „Aufschreibepraxis“, für die Exzerpierkunst und die Erfindung des Zettelkastens signifikant sind – bei ihm selbst eher noch chaotisch, weil noch ohne stringentes Ordnungssystem. Man versteht aber sehr gut, was der „Primat des Didaktischen“ bedeutet und was der „Übergang“ zur Moderne in der Forschung einträgt. Forschung, durchaus in einem modernen Sinne, kann dagegen Holger Fischer an Jungiusʼ Schüler Martinus Fogelius (1634–1675) dokumentieren. Fogeliusʼ sprachwissenschaftliche und -historische Studien über die finnougrische Sprachverwandtschaft (erst spät im 20. Jahrhundert wurde er als Vorläufer aner-
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kannt) belegen das sehr nachdrücklich. Fischer ist gleichzeitig einer der zahlreichen Autoren in diesem Band, der in den Bibliotheken der Gelehrten die materielle Basis solcher Entdeckungen diskutiert und Hamburg als literarischen „Umschlagplatz“. Nebenbei wird man über die Vergesslichkeit von Leibniz informiert, der ausgeliehene Manuskripte nicht zurückgab. Ingrid Schröders exemplarischer Gelehrter ist Michael Richey (1678–1761), sein zentrales Opus das „Idioticon Hamburgense“, ein prominentes Beispiel der zeitgenössischen Lexikographie und frühes und bis heute bedeutendes Denkmal lokal orientierter Sprachforschung – und auch hier ist es eine Bibliothek mit 26 019 Titeln, die ahnen lässt, wie Richeys Gelehrsamkeit fundiert war. Johann Anselm Steiger widmet sich Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), dessen Ruhm in Hamburg und dessen Platz in der Geschichte der Theologie spätestens mit Lessings Editionen des „Unbekannten“ und den nachfolgenden Kontroversen unstrittig sind. Steiger stellt ihn in den Kontext der Deismus-Debatte, allerdings nicht nur der deutschen, sondern auch der englischen, und bekräftigt damit noch einmal, dass Beziehungen in diesen Kultur- und Sprachraum zu dieser Zeit durchaus als Hamburger Besonderheit gesehen werden können. Jürgen Overhoff schreibt über Reimarus und seinen Schüler, den Theologen und Pädagogen Johann Bernhard Basedow (1724–1790), und diskutiert die biografische und systematische Inspiration, die Basedow und damit die philanthropische Pädagogik aus Reimarusʼ Lehrart bezogen haben. Overhoff zeigt aber auch, wie wenig tolerant Hamburg in Religionsfragen war; denn erst Basedow wagte es, das Thema der religiösen Toleranz und der Erziehung dazu aktiv aufzunehmen. Auch er konnte aber erst in Dessau praktizieren, was er in Hamburg gelernt hatte. Frank Haje stellt den Mathematiker Johann Georg Büsch (1728–1800) vor, der vor allem als Ökonom – für die Probleme seiner Zeit „besser“ als Adam Smith (113) und von Marx rezipiert – als Mentor der Handlungsakademie und in der Bildung der Kaufleute Meriten erwarb. Dirk Brietzke widmet sich dem Liberalen Christian Friedrich Wurm (1803–1859). Der „Historiker, Pädagoge, Publizist und Politiker“ (140) ist ein Beleg dafür, dass die Professoren des Gymnasiums im Vormärz und danach nicht nur an den Debatten über die Neuordnung der Hamburger Verfassung aktiv teilnahmen, sondern auch in der Phase der „Agonie“ des Gymnasiums neue, universitätsnahe Reformpläne entwarfen – in beidem erfolglos. Eher im Längsschnitt von der Gründung des Gymnasiums bis zur Frühphase der Universität argumentieren schließlich zwei disziplinhistorische Beiträge: Karin Reich stellt die Mathematiker in Hamburg im Übergang von der Lehrbuchkonstruktion zur Forschung vor, womit auch die Differenz der Institutionen vom Primat der Propädeutik zum Forschungsimperativ bewusst wird. Achim Rohde diskutiert 400 Jahre Orientalistik und Hebraistik, quasi von Reimarus zu C. H. Becker und dem Kolonialinstitut sowie in kritischer Auseinandersetzung mit der These Edward Saids, dass „Orientalismus“ und Anti-Judaismus bzw. -semitismus kontinuierlich verbunden seien. Insgesamt liest man den Band mit großem Gewinn, wissenschaftsgeschichtlich wie lokalhistorisch. Er ist aufschlussreich für den Wandel der Gelehrsamkeit
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zur Moderne und auch für die Hamburger Wissenschaftskultur, die ja erst gegen erhebliche lokale Widerstände in der Universität ihre dauerhafte Form fand. Zu deren Centenarfeier 2019 werden wir sicherlich genauso informativ über die Folgezeit unterrichtet. Heinz-Elmar Tenorth
Berlin
MARGARETH LANZINGER: Verwaltete Verwandtschaft. Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18. und 19. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2015, 405 S., 9 Abb., 4 Tab., (ISBN 978-3-205-78752-5), 54,90 EUR. Bereits seit über zwei Jahrzehnten bewegt sich Margareth Lanzinger auf dem sich sukzessive konturierenden und ausdifferenzierenden Feld der Historischen Verwandtschaftsforschung. Als Erträge dieser Arbeit sind sowohl ihre Dissertation (2003) als auch zahlreiche Herausgeberschaften und Aufsätze zum Thema u. a. in deutscher, italienischer, englischer und französischer Sprache zu nennen. Die vorliegende Habilitationsschrift stellt nun einen beeindruckenden Höhepunkt Lanzingers langjähriger Forschungen zu Ehe und Familie dar. Die Studie, die quantitative Befunde mit qualitativen verknüpft und sie politisch-rechtlich-administrativ kontextualisiert, ist im österreichisch-italienischschweizerischen Grenzraum der katholischen Diözesen Brixen, Chur, Trient und Salzburg des späten 18. und 19. Jahrhunderts angesiedelt. In ihrem Zentrum steht der kirchliche und staatliche Umgang mit speziellen Paarkonfigurationen und den aus ihnen resultierenden Ehehindernissen sowie deren mögliche Dispensierung. Lanzinger konzentriert sich mit Blutsverwandten und Verschwägerten auf zwei der zahlreichen dispensablen Konstellationen. Diese Heiratsprojekte untersucht Lanzinger aus der Perspektive sich wandelnder Dispenspolitiken und verknüpft dabei die aufwändigen kirchlichen und staatlichen Verwaltungs- und Verfahrenswege mit Logiken der häuslichen und familialen Organisation. Die unterschiedlichen Profile der Nachbardiözesen ermöglichen einen Einblick in das synchrone Spektrum der Dispenspraxis und damit verbundene strukturierte Handlungsrepertoires, aber auch diachrone Entwicklungen werden greifbar: Die Geschichte des Verbots von Ehen in der Verwandtschaft nahm keinen linearen Verlauf in Richtung einer sukzessive liberaleren Handhabung, sondern war bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein von Wechselfällen und beträchtlichen konfessionellen und regionalen Unterschieden gekennzeichnet. Konsanguine und affine Partnerschaften waren seit dem IV. Laterankonzil (1215) durch die katholische Kirche mit bis zum Jahr 1917 wirksamen Eheverboten belegt. Nur eine erteilte Dispens schützte in den betroffenen Schwägerschaftsund Verwandtschaftsgraden vor dem Straftatbestand des Inzest und konnte (v. a. in familien- und erbpolitisch heiklen Situationen und Konstellationen) die rechtliche Position aller Betroffenen auf lange Sicht absichern, denn Annullierungen nicht rechtmäßig geschlossener Ehen mit all ihren unter Umständen verheerenden Konsequenzen waren grundsätzlich auch nach Jahrzehnten noch möglich. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verzeichnet die Forschung in unterschiedlichen europä-
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ischen Kontexten einen signifikanten Anstieg von Verwandtenheiraten – ein Trend, der bis ins 20. Jahrhundert hinein anhalten sollte. Die steigende Zahl erteilter Dispense im katholischen Bereich in nahen Graden verweist auf eine veränderte Praxis innerhalb des starren normativen Rahmens des kanonischen Rechts. Der gesellschaftliche Wandel am Übergang von der Frühen Neuzeit in die Moderne mag die skizzierte Entwicklung losgetreten haben. Er wurde begleitet von neuen Liebes- und Ehekonzepten, die auf Nähe und Vertrautheit setzten und eine „Horizontalisierung von Verwandtschaft“ (284) mit sich brachten, aber auch Vermögensfragen und sachliche Kriterien spielten eine Rolle: Lanzinger spricht sich konsequenterweise für „[e]in systematisches Zusammendenken von Verwandtschafts- und Ehegüterlogiken“ (273) aus. Vor allem im bürgerlichen Milieu ging verwandtschaftliche Endogamie mit sozialer Homogamie einher. So schloss sich der Kreis, in dem Erbe, Kapital und andere Ressourcen zirkulierten: „Die Pflege der verwandtschaftlichen Kontakte schuf das entsprechende soziale Umfeld und damit zugleich den Pool für die Wahl von geeigneten Ehepartnern und Ehepartnerinnen. Soziale Nähe und Vertrautheit galten als ideale Grundlage einer Ehe“ (284). Ehen zwischen Cousins und Cousinen wurden zur klassischen Paarkonstellation der Zeit. Während Verwandtenehen zuvor eher Adelssache gewesen seien, konstatiert Lanzinger für den Untersuchungszeitraum eine „‚Demokratisierung‘ von Verwandtenheiraten“ (25). Ab den 1770er Jahren und spätestens mit dem josephinischen Ehepatent von 1783 versuchte das österreichische Staatsrecht, die Vorherrschaft der katholischen Kirche im Bereich der Dispensvergabe zu durchbrechen. Dennoch blieb diese durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch in unterschiedlichem Ausmaß involviert, in Diözesen wie Brixen sogar als „Hauptakteurin“ (13). Kirche und Staat konkurrierten über die ‚Verwaltung von Verwandtschaft‘, während in Preußen, Frankreich und Großbritannien bereits liberalere Regelungen von Verwandtenheiraten zum Tragen gekommen waren. In einem größeren Kontext gesehen, ging es in diesem nicht mit letzter Konsequenz ausgefochtenen Machtkampf freilich um „das Ausschalten von Rom als einer ‚fremden‘ Jurisdiktion auf staatlichem Territorium einschließlich der Nuntiatur in Wien und deren Vertretung“ (34). Es handelte sich somit um einen von mehreren Schauplätzen in dem zwischen Papst und Kaiser in der josephinischen Ära ausgetragenen Konflikt. Neben nahen konsanguinen Konstellationen bilden die affinen, durch Schwägerschaft ‚vorbelasteten‘ Beziehungen den zweiten Schwerpunkt in Lanzingers Studie. Die Schwagerehe sei im Gegensatz zu blutsverwandten Ehepaaren „vor 1770 nahezu inexistent“ (224) gewesen. Die biblische Vorstellung von ‚einem Fleisch‘ (Mk 10,8) machte aus den Verwandten des einen Teils auch Verwandte des anderen Teils; so wurde die Schwägerschaft „gewissermaßen biologisiert“ (90). In der Stigmatisierung der Schwägerehe sieht Lanzinger eine Gegenposition zur jüdischen Leviratsehe (345). Da Heiratsprojekte aber situativen Logiken folgten, stieg die Nachfrage: Während auf internationaler Ebene im 19. Jahrhundert eine Diskussion um das Thema entbrannte, war die Kirche darum bemüht, die Schwägerschaft angesichts der zunehmenden Präsenz der auf die Blutsverwandt-
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schaft bezogenen physiologisch-medizinischen Vererbungs- und Gefährdungslehre nicht aus dem Relevanzspektrum herausfallen zu lassen. Der Diskurs über Eheverbote führte über die biologische Aufladung der ‚Blutsbande‘ letztlich zur „Rassifizierung des Arguments“ (94 f.) und mündete im 20. Jahrhundert in den nationalsozialistischen Rassenbegriff: „Verwandtes Blut fungierte in der Abgrenzung von dem über ‚Rasse‘ definierten ‚fremden‘ Blut gewissermaßen als höchste Steigerungsform des ‚eigenen‘“. (345) Lanzinger stellt diesbezügliche Parallelen zur „limpieza de sangre“ in der iberischen Welt des 15. Jahrhunderts sowie zum „branqueamento racial“ in Brasilien her. In der Zusammenschau entsteht ein differenziertes Bild von Verwandtschaftsstrategien. Die Autorin bewegt sich dabei auf einem zugleich von gesellschaftlichen, theologischen, juristischen, medizinischen und naturwissenschaftlichen Positionen geprägten Diskursfeld. Letztlich konstatiert sie „regionale Disparität“ (336): Verfahrenswege und Erfolgschancen variierten, was nicht ohne Auswirkungen blieb, und zwar nicht nur in Hinblick auf die Zahl der erteilten Dispense, sondern auch auf die Zahl der gestellten Ansuchen. Abgeschlagene Dispensansuchen zogen spätestens seit dem Erlass des Konkubinatsparagraphen in Österreich 1807 eine zwangsweise Trennung unverheiratet zusammenlebender Partner und die Auflösung des gemeinsamen Haushalts mit bisweilen existentiellen Folgen nach sich. Antragsteller hatten grundsätzlich keinen Anspruch auf Dispens: Sie stellte einen kirchlichen Gnadenerweis dar, bezüglich dessen Lanzinger allerdings „[g]ewisse Spielräume des Auslegens und Manövrierens“ (349) der Geistlichen auf den verschiedenen Ebenen sowie eine „soziale Hierarchisierung von Dispensbewerbern“ (207) ausmacht. Das wirkungsvollste Instrument der Antragsteller, die in konfessionellen Grenzgebieten lebten und mitunter Jahrzehnte auf Dispens warten mussten, war neben der „Macht der Beharrlichkeit“ (349) nur die Androhung der Konversion, ein Argument, das unter Gregor XVI. sogar zum einzig anerkannten Dispensgrund für die deutschsprachigen Diözesen wurde. Die präzise Beleuchtung der katholischen Verhältnisse macht neugierig auf den Vergleich mit protestantischen Gebieten, der in Lanzingers Studie freilich nur punktuell angerissen werden kann. An mancher Stelle, etwa bei der Betrachtung von zu erbringenden Eides- und Abbittleistungen (218), wäre der Verweis auf Parallelen und Begrifflichkeiten im nichtkatholischen Bereich (Kirchenbuße) wünschenswert. Die Einschätzung, dass Regelungen in protestantischen Gebieten tendenziell liberaler, aber gleichzeitig auch strikter gehandhabt worden seien, indem sie mancherorts als absolut gesetzt galten und „keine Möglichkeit einer Dispensierung vorsahen“ (26), bildet die vielfältige und bisweilen äußerst kleinteilige kirchliche Verfasstheit protestantischer Territorien und deren Ehe-, Buß- bzw. Dispenspraktiken jedenfalls nur ungenügend ab. Da im Mittelpunkt der Studie mit den Heiratsvorhaben und Dispensgesuchen kommunikative Prozesse stehen, die sich vom örtlichen Pfarrhaus und Gemeindeamt über Dekanate und Bistümer bis in die römische Kurie und in die Wiener Hofkanzlei erstrecken konnten, also mithin die gesamte kirchliche und teilweise die weltliche Hierarchie durchlaufen konnten, legt die Autorin gleichzeitig ein gelungenes Beispiel der Verknüpfung von Mikro- und Makrohistorie vor. Ebenso
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finden sich starke Anklänge an den mikropolitischen Ansatz, wenngleich die Autorin ihre Studie selbst nicht explizit innerhalb dieser Forschungskonzepte verortet. Anhand der Dispensakten und vor allem der Protokolle der Matrimonialexamen als deren „Kernstück“ (192) stellt Margareth Lanzinger einerseits die (teils freilich im Sinne strategischer Kommunikation verfremdeten) Motive und Perspektiven der Antragsteller dar und erläutert diese an Beispielen, andererseits zeichnet sie die kirchlichen Dispensmöglichkeiten und -verfahren nach. Vor allem aber besticht die in dieser Form erstmalige systematische, bistumsübergreifende und dabei immer noch zeitlich wie räumlich differenzierende Darstellung, Analyse und Interpretation des Sachverhaltes, den Lanzinger auf beeindruckender Quellenbasis erarbeitet. Stellenweise werden gar interdisziplinäre, etwa kultur- und literaturwissenschaftliche Impulse gesetzt (262 f.). Der Autorin gelingt es auf diese innovative Art nachzuweisen, dass das so oft totgeglaubte Konzept von Verwandtschaft auch in der europäischen Moderne als horizontal und vertikal wirkende Ordnungs- und Orientierungsstruktur weiterhin eine zentrale Kategorie mit vieldimensionaler Bedeutung darstellt. Andreas Flurschütz da Cruz
Bamberg
GUNHILD BERG, BORBÁLA ZSUZSANNA TÖRÖK, MARCUS TWELLMANN (Hg.): Berechnen / Beschreiben. Praktiken statistischen (Nicht-)Wissens 1750–1850 (= Historische Forschungen 104), Berlin: Duncker & Humblot 2015, 233 S., 3 Abb., (ISBN 978-3-428-14500-3), 69,90 EUR. Der Sammelband vereint zehn Beiträge von Kulturwissenschaftlern, Historikern, Germanisten und Soziologen, die sich mit den Praktiken der Statistik, vor allem im deutschsprachigen Raum, von 1750 bis 1850 auseinandersetzen. Der Band fokussiert neben dem Wissen gerade auch die Grenzen eines mittels Statistiken generierten (Nicht-)Wissens. Damit wird an jene Forschungen zur Wissenssoziologie sowie zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte angeknüpft, die den Optimismus der modernen ‚Wissensgesellschaft’ kritisch hinterfragen. Neben Wissen/Nichtwissen ist es die titelgebende Leitdifferenz Beschreiben/Berechnen, für die sich die Autoren interessieren. Mit diesem Zugriff wird jener Entwicklung Rechnung getragen, die dazu führte, dass sich im behandelten Jahrhundert das Reden über die Statistik „zunehmend an einer Unterscheidung zwischen Operationen des Zählens und Rechnens einerseits und solchen des Beschreibens andererseits“ orientierte (10). Martin Gierl betont dementsprechend, dass es vor 1800 eine statistisch operierende Geschichtsschreibung gab, die sich statistischer Verfahrensweisen bediente, um sich nicht zuletzt von einer narrativen, philosophisch wertenden Geschichtsschreibung abzusetzen. Dies wird am Beispiel Johann Christoph Gatterers aufgezeigt, der versuchte, mittels der tabellarischen Erhebung von Fakten den Zustand der damaligen Staatenwelt zu beschreiben und dergestalt praktisch aufklärerisch zu wirken, indem er „die Fortführung der Statistik von der Verfassungsbeschrei-
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bung hin zu einem Beschreibungs-, Mess- und Kontrollinstrument der gesellschaftlichen Produktion“ (25) intendierte. Die Zahlenstatistik trat jedoch allmählich in Konkurrenz zu der – ihrer institutionellen Verankerung wegen – als Universitätsstatistik bezeichneten Staatenkunde, welche, aufgrund der untergeordneten Bedeutung von numerischen Angaben, ‚Statistik ohne Zählen‘ (Harm Klueting) betrieb. Justus Nipperdey differenziert hier gleichfalls, indem er aufzeigt, dass mit einem Werk des Pastors Johann Peter Süßmilch von 1741 über Mortalität, Natalität und Nuptialität die Bevölkerungsdichte nunmehr zunehmend berechnet und verglichen wurde. Die zahlenbasierte Argumentation befand sich somit in einem Versuchsstadium, welches geprägt war von „Hypostasierung, Akzeptanz, Verwendung und Missbilligung der Zahl“, bevor nach 1800 „der Konflikt zwischen Zahl und Wort offen ausbrach“ (59). Johannes Scheu behandelt, ausgehend von Friedrich Engelsʼ Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ von 1845, die Anfänge der Soziologie, die sich keineswegs nur der Zahlenstatistik bediente, um ‚authentisch‘ die Armutsproblematik des 19. Jahrhunderts zu beschreiben. Vielmehr war es die direkte Beobachtung vor Ort und damit eine ethnographische Perspektive, die teils in Vergessenheit geratene Soziologen wie Frédéric Le Play als eine geeignete Methode verstanden, um in Abgrenzung zur sozialwissenschaftlichen Tatsachenempirie soziale Gesetzmäßigkeiten zu analysieren. An diese Befunde knüpft Justin Stagl an, der die frühneuzeitliche ‚Protostatistik‘ und deren krisenbedingten Übergang zu den ‚Ethnosdisziplinen‘ Völker- und Volkskunde beschreibt. ‚Protostatistik‘ bezeichnet hierbei jene frühneuzeitliche Staatenkunde, die Wissen mittels der eigenen Erfahrung unter Einbezug quantifizierbarer Daten generierte. Die sprachliche Beschreibung überwog jedoch stets und stieß der Fülle wegen an Grenzen, die die zahlenbasierte Statistik scheinbar überwand. Thematisch und methodisch vermochte es auch die Ethnographie, sich im Rahmen von amtlichen Landesbeschreibungen des 19. Jahrhunderts zu behaupten, wie Lioba Keller-Drescher am Beispiel Württembergs zeigt. Martin Knoll betont, dass auch bei dem kurbayerischen Verwaltungsangestellten Joseph Hazzi um 1800, neben dem Studium von Akten, die lokale Autopsie dazu diente, (statistisches) Wissen zu generieren. Statistik wurde aber auch und gerade außerhalb von Staat und Universität populär, wie Mária Hidvégi und Borbála Zsuzsanna Török ausführen. Ihr gemeinsamer Beitrag befasst sich mit primär akademischen Lehrbüchern, die einen Wandel des Verständnisses von Statistik dokumentieren: „von der schnellstmöglichen Bereitstellung staatsrelevanter Daten (Schwartner) bis hin zur Verzweigung der Statistik in Richtung eines seinen Platz suchenden akademischen Faches zwischen Politik-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften (Michnay) einerseits und der modernen Statistik und den Datenerhebungen der Statistikämter (Fényes) andererseits“ (119). Dieser Wandel vollzog sich ungeachtet von „Wissenslücken, Ungenauigkeiten und Fehlern“ (119). Statistiken ermöglichten aber nicht nur den Austausch, etwa zwischen Wien und Ungarn, sondern sie markierten auch gesellschaftspolitische Grenzen. Denn Statistiken waren, wie Patrick Eiden-Offen zeigt, im Vormärz sowohl ein Instru-
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ment der Revolutionsverhinderung als auch der Revolutionsförderung. Gefordert wurde mitunter eine ‚oppositionelle Statistik‘, um den Ungenauigkeiten und Einseitigkeiten der ‚offiziellen Statistiken‘ zu begegnen. Neben dem statistisch erhobenen ‚Falschwissen‘ gab es auch ein mit Zahlen nicht zu erfassendes Wissen. Über dieses Nichtwissen reflektierten Texte der Spätaufklärung, der Romantik und des Realismus, wie Gunhild Berg deutlich macht. Universitäts- und Verwaltungsstatistik wurden so „narrativ flankiert und kritisch reflektiert“ (139). In Reaktion auf die mit Zahlen arbeitende Bürokratie stieg gerade mit der Romantik, wie Marcus Twellmann darlegt, die literarische Beschreibungskunst auf. Die verbale Deskription vermochte es nämlich, sich vom „zweckbezogenen, hoch selektiven und gleichförmigen“ (145) Wissen, welches die großräumigen Verwaltungseinheiten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hervorbrachten, abzugrenzen. Das „absichtsvolle Nichtwissen der Statistik“ hat so die „romantische Hinwendung zu […] vernachlässigten, mitunter bewusst ignorierten Gegebenheiten provoziert“ (145). Sätze wie dieser verdeutlichen, dass es dem Sammelband keineswegs an großen Deutungen mangelt. Wer sich also für das numerische, aber auch nichtnumerische Wissen in der Sattelzeit interessiert, findet ein reichhaltiges, Disziplinen übergreifendes Deutungsangebot sowie viele empirische Fallstudien, die hier eine geeignete Klammer finden. Alexander Denzler
Eichstätt
2. Mittelalter ANNEKATHRIN MIEGEL: Kooperation, Vernetzung, Erneuerung. Das benediktinische Verbrüderungs- und Memorialwesen vom 12. bis 15. Jahrhundert (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 74), Ostfildern: Thorbecke 2014, 272 S., (ISBN 978-3-7995-5274-5), 39,00 EUR. In ihrer Tübinger Dissertation untersucht Annekathrin Miegel Wandel und Konstanz im Verbrüderungswesen süddeutscher Klöster zwischen der Zeit der Hirsauer Reform im 12. Jahrhundert und dem Ende des 15. Jahrhunderts. Die mittelalterlichen fraternitates hatten eine Urform in den frühmittelalterlichen Gebetsverbrüderungen, also in einer Zeit, in der sich die Ungewissheit über das Heil der Verstorbenen verbreitet hatte und der Gebetsbund mit einer klösterlichen Gemeinschaft als der beste Garant erschien, dass fehlende Bußwerke stellvertretend ins Jenseits nachgeliefert würden (vgl. die angelsächsische Mission, den Gebetsbund von Attigny und die im 8. Jahrhundert einsetzende Überlieferung von Verbrüderungsbüchern). Angestrebt wird eine synthetische Zusammenschau, die sich explizit auch auf das bislang noch wenig untersuchte Spätmittelalter erstreckt; eine Forschungsmeinung, nach der die Gebetsverbrüderungen im späten Mittelalter nur noch wenig Bedeutung besaßen, soll so korrigiert werden. Unter-
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sucht werden neben Hirsau vor allem die mit diesem verbrüderten Klöster St. Emmeram und Prüfening in Regensburg, St. Ulrich und Afra in Augsburg, Mönchsdeggingen, Donauwörth, Elchingen, Irsee und Wiblingen. Für andere Bruderklöster liegt kaum noch Memorialüberlieferung vor. Neben Consuetudines und erzählenden Texten sind die Verbrüderungsverträge, die Nekrologien und die Rotelsammlungen die Hauptquellen. Während die von Gorze oder St. Maximin in Trier ausgehenden Reformen in der Regel keine langfristigen Beziehungen begründeten (das damalige Beziehungsnetz des Nekrologs etwa von St. Emmeram spiegelte den Herrschafts-, nicht den Reformverband), war dies bei der Cluniacensis ecclesia anders: Die Reform verbreitete sich vielfach über die Klosterverbrüderungen. Feste rechtliche Verbandsstrukturen entstanden, die die cluniazensischen Nekrologien prägten. Den jungcluniazensischen Zentren im deutschen Gebiet wie Hirsau oder St. Blasien gelang es freilich ebenfalls nicht, einen mit Cluny vergleichbaren Klosterverband zu errichten. Verbrüderungen waren hier aber ein Substitut: Durch Totengedenken und karitative Leistungen entstand ein monastisches Beziehungsnetz. Seit dem 12. Jahrhundert schufen zunächst die Zisterzienser einen festen Verband mit Generalkapitel und Aufsichtsrechten zwischen den Klöstern; diese Elemente prägten dann auch die weiteren neuen Orden, wurden aber von den Benediktinern im Mittelalter bewusst nicht übernommen, obwohl die Päpste dies immer wieder forderten. Seltsamerweise wird scheinbar durchgehend in diesem Kontext Papst Innozenz III. von der Verfasserin als Innozenz II. bezeichnet. Von Seiten der Benediktiner setzte man auf den Zusammenschluss selbstständiger Äbte, die sich freiwillig auf dieselben consuetudines verpflichteten und untereinander durch Verbrüderungen verbunden waren. Freilich hatten die Klöster überall bald mit einer Überlast an Gedenkverpflichtungen zu kämpfen. Mitunter die Benediktiner und dann prinzipiell die Zisterzienser sowie die neu entstehenden Orden setzten auf Pauschalisierungen; Verbrüderungen gingen auch in diese ein. Inhaltlich bleibt das liturgische Gedenken der zentrale Vertragsinhalt; vielfach gewährten sich Klöster oder Orden nun die wechselseitige Teilhabe an den guten Werken ihrer eigenen Gemeinschaft und ein gemeinsames jährliches Gedenken. Durch die Analyse der Verbrüderungsverträge im 13. und 14. Jahrhundert kann Miegel für die untersuchten süddeutschen Benediktinerklöster zum einen einen Anstieg der Vertragsschlüsse ab etwa 1300 herausarbeiten; zum anderen korrespondierte dieser vielfach mit Phasen wirtschaftlicher Stabilität. Schließlich tritt ein neuer wichtiger Vertragsinhalt zur Totenmemoria hinzu: die Aufnahme von Mönchen aus den verbrüderten Klöstern in Krisen oder Konflikten. Seit dem späten 14. Jahrhundert wurden die Benediktiner durch die von Kastl, Bursfelde und Melk ausstrahlenden Reformbewegungen erfasst. Interessanterweise ersetzten diese nicht einfach das Verbrüderungs- und Memorialwesen, sondern führten zu dessen erneuter Intensivierung. Gerade mit den angesehensten Klöstern, den Reformzentren und den Stätten exemplarischer Regelsobservanz, wollte man sich verbinden. Freilich beschränkte sich die Verbrüderung nicht einfach auf den Reformkreis; ebenso wichtig waren die räumliche Nähe oder die traditionellen Beziehungen aus der Vergangenheit. Die Klöster der Melker Reform verbündeten
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sich zudem auch mit den reformierten Augustiner Chorherren. Der Vertragsinhalt konzentrierte sich zunehmend wieder auf die memoria und die participatio bonorum operum, die Aufnahme von Brüdern verschwand allmählich. Vor allem im Umfeld der Melker Reform wurde die Gedenkleistung dafür erheblich extensiviert, vorzugsweise für Mitglieder des eigenen Reformkreises. Während es in Bursfelde zu einer rechtlichen Verbandsstruktur mit Generalkapiteln kam, war dies der Kastler und der Melker Reform fremd. Die spirituelle Vernetzung mittels Verbrüderungen wurde durch Einzelvertragsschlüsse weiterhin geregelt. Die breit überlieferten Quellen belegen eine blühende Memorialkultur für das 15. Jahrhundert. In der synthetischen Zusammenschau konstatiert die Verfasserin, dass für die raumübergreifende Vernetzung von Klöstern seit den Reformverbänden des 11. Jahrhunderts die Klosterverbrüderung das zentrale Mittel war. Bei den Benediktinern, die überwiegend bis ins Spätmittelalter hinein einen festen rechtlichen Zusammenschluss zugunsten der Selbständigkeit der Einzelklöster vermeiden wollten, substituierte diese sozusagen in geistlicher Hinsicht die fehlende Verbandsstruktur. Auch wo man von den geforderten Gedenkleistungen etwa aus wirtschaftlichen Gründen überfordert war und zu Pauschalisierungen überging, hatte dies nicht unbedingt einen Niedergang transklösterlicher Gedenkbeziehungen zur Folge. In spiritueller Hinsicht hatte die Verbrüderung zur Folge, dass man sich als ein Konvent, als ein corpus begriff. Die Verbrüderung war eine Rechtsbeziehung, die bestimmte gegenseitige Gebetsleistungen fest vereinbarte; da rechtliche Sanktionierungen kaum möglich waren, war wechselseitiges Vertrauen die zentrale Grundlage. Besonders erstrebenswert war es, mit in spiritueller Hinsicht besonders angesehenen Gemeinschaften verbrüdert zu sein. Dauerhafte Beziehungen wurden so aufgebaut, ohne jedoch die Eigenständigkeit zu gefährden. Die Verlässlichkeit fester Strukturen und die Flexibilität der Akteure scheinen hier zu einer Balance gefunden zu haben. Mit den Mitteln der Netzwerkanalyse ist die Verfasserin so zu durchaus zentralen Einsichten in das Beziehungsgeflecht zwischen den Benediktinerklöstern gelangt; die Bedeutung der Verbrüderung, vor allem für das spätere Mittelalter, ist wohl bislang unterschätzt worden. Durch frömmigkeitsund mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen können diese Einsichten in Zukunft noch vertieft werden. Klaus Unterburger
Regensburg
WOLFGANG WILLE (Bearb.): Das Bebenhäuser Urbar von 1356 (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A: Quellen 47), Stuttgart: Kohlhammer 2015, 626 S., 13 Abb., 1 Karte, (ISBN 978-3-17-019222-5), 65,00 EUR. Eines gleich vorweg: Die nunmehr zweifache Verfügbarkeit dieses umfangreichen Bebenhäuser Urbars (einer einige Jahrzehnte später entstandenen Abschrift des nicht überlieferten Originals von 1356) als wissenschaftliche Edition und als Digitalisat des Archivs (https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/bild_zoom/thumb
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nails.php?bestand=5241&id=7457323&syssuche=&logik) wird es künftigen Forscher/-innen erleichtern, ihre eigenen Fragen und Thesen an dieser Quelle zu überprüfen. Allerdings: Die Edition folgt, mit wenigen Abweichungen, hauptsächlich den Vorgaben der Geschichtswissenschaft, und erst im Anmerkungsapparat werden z. B. die verschiedenen Schreibweisen von Namen und Wörtern berücksichtigt, so dass Linguist/-innen und Medienwissenschaftler/-innen für ihre Fragen insbesondere die Fußnoten werden durchstöbern sowie das Digitalisat oder das Original zu Rate ziehen müssen. Deshalb kann man auch gleich die Frage anschließen, ob gedruckte Editionen – ohne dass das einmal bearbeitete und aufbereitete Material gleichzeitig in digitaler Form mit deren vielfältigen Bearbeitungsmöglichkeiten zur weiteren Auswertung zur Verfügung steht – überhaupt noch sinnvoll sind. Doch dies zu beantworten, ist nicht die Aufgabe einer Buchbesprechung. Sicherlich ungewöhnlich ist der Einstieg in das Buch über ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Wäre es nicht, wie allgemein üblich, alphabetisch geordnet, sondern nach Erscheinungsjahren, läse es sich wie eine Entwicklungsgeschichte der sich verändernden Fragestellungen bei der Auswertung von Urbaren oder wie eine Themenliste: Urbare als Quellen zur Wirtschafts- und Sprachgeschichte, zur grundherrschaftlichen Organisation, zu Interdependenzen mit landesherrschaftlichen Territorialisierungsprozessen, zu lokal- und regionalgeschichtlichen Untersuchungen, zur klösterlichen Wirtschaft, insbesondere der Zisterzienser, zu einzelnen landwirtschaftlichen Branchen wie dem Weinbau, zur pragmatischen Schriftlichkeit und zur Vergleichbarkeit mit anderen Gattungen sowie allgemein zur Frage nach Archiven und ihren Aufgaben. Die Einordnung dieses besonderen Urbars leisten vier knappe, aber konzentrierte Beiträge, die der Edition vorgeschaltet sind. Sönke Lorenz behandelt die unklaren Anfänge des erst als Prämonstratensergemeinschaft geplanten, dann aber zisterziensisch realisierten Klosters am Ende des 12. Jahrhunderts, die Gründungsausstattung, die Erweiterung der Besitzlandschaft und die sich verändernden Bewirtschaftungsformen im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, das Kloster als Zentrum der Memorialfürsorge der Stifterfamilie mit einem Höhepunkt in deren Grablege sowie die Einbindung in herrschaftliche Zusammenhänge bis hin zur Übernahme der klösterlichen Liegenschaften durch das Herzogtum Württemberg während der Reformationszeit und einer weiteren Bewirtschaftung in einem eigenen Klosteramt. Robert Kretzschmar zeichnet anhand des Umgangs mit dem Bebenhäuser Urbar geradezu detektivisch ein Stück Archivgeschichte nach: Seit mehr als 650 Jahren wird es – vielfach als Spiegelung herrschaftlicher und damit eben auch archivalischer Veränderungen – umgebettet, umgelagert und neu signiert; es war und bleibt für viele Forschungsfragen von Interesse und ist gleichzeitig doch nur ein Bruchteil des in verschiedenen Archiven überlieferten Bestands zu Bebenhausen. Kretzschmars Wunsch, dass es mit der Vergabe der nun gültigen Bestellnummer im heutigen Hauptstaatsarchiv Stuttgart zur Ruhe gekommen sein möge, bezieht sich also keineswegs auf seine Nutzung als wissenschaftliches Quellenmaterial! Peter Rückert beschäftigt sich mit den urbarialen Überlieferungen des Mittelalters überhaupt, den Schwierigkeiten der unterschied-
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lichen zeitgenössischen wie archivalischen Bezeichnungen, der notwendigen Unterscheidung zwischen laufend verwendeten Gebrauchsregistern einerseits und den auf Dauer gesetzten „rechtserheblichen, herrschaftslegitimierenden und traditionsbildenden“ (XLVI) Urbaren andererseits sowie mit der sich intensivierenden Verwaltungsschriftlichkeit und dem Überlieferungszufall solchen Schriftgutes. Er verweist aber auch darauf, wie sehr Urbare auf neue historische Fragestellungen, etwa zu pragmatischer Schriftlichkeit, Kommunikation, Herrschaftsrepräsentation und -legitimierung Antworten bereithalten und entsprechend genutzt und ausgewertet werden. Gerd Brinkhus schließlich macht auf die Materialität von Archivalien aufmerksam, indem er deren Wandel im Laufe der Zeiten anspricht, wie hier beim Bebenhäuser Urbar durch die Notwendigkeit eines neuen Einbandes, der die ursprüngliche Optik und Haptik deutlich veränderte. Es folgen die ausführliche Beschreibung der Handschrift durch den Bearbeiter Wolfgang Wille, die Liste der Schreiber, die detaillierte Darlegung der Umsetzung des Urbartextes in die Editionsform und der Verweis auf bisherige Auswertungen sowohl von Seiten der Geschichtswissenschaft wie von Seiten der historischen Sprachforschung. Die eigentliche Edition erfolgt buchstabengetreu, nicht aber zeilen- oder gar seitengenau, mit einem auf wesentliche Aspekte beschränkten Anmerkungsapparat. Die Einträge der sich anschließenden umfänglichen Orts- und Personenregister (mit Aufnahme der unterschiedlichen Schreibweisen) sind direkt aufeinander bezogen, so dass eine leichte Auffindbarkeit gewährleistet ist. Im Sachregister und im Glossar wurde dieses leserfreundliche Vorgehen (leider) nicht ganz konsequent fortgesetzt. Bei einer großen, aber interessanten Gruppe alphabetisch geordneter Überbegriffe (Abgaben und Dienstleistungen; Bäume; Berufe; Feldfrüchte; Gebäude; Grenzen und Gebiete; Kirche und Kloster; Landwirtschaft; Leistungen des Klosters; Maße; Rechtswesen; Termine; Titel und Amt; Verkehrswesen; Weinbau) muss letztlich doch jeder einzelne Begriff separat nachgeschlagen werden, um ihn im Text wiederfinden zu können. Eine Karte zu Besitz und Einkünften des Klosters Bebenhausen um 1356 sowie einige gut ausgewählte Abbildungen, die die durchgängig beibehaltene Seitengestaltung des originalen Urbars zeigen, runden diese Veröffentlichung ab. Jetzt bleibt also nur noch, wie bereits anfänglich angedeutet, zu klären, wie und ob weitere Auswertungen durch die Komplettierung dieser ansonsten so dankenswerten Edition in digital verfügbarer Form ermöglicht werden. Gudrun Gleba
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EDUARD MÜHLE (Hg.): Breslau und Krakau im Hoch- und Spätmittelalter. Stadtgestalt – Wohnraum – Lebensstil (= Städteforschung, Reihe A: Darstellungen 87), Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2014, 384 S., 77 Abb., (ISBN 978-3-412-22122-5), 49,90 EUR. Der vorliegende Sammelband stellt bereits das zweite Buchprojekt Eduard Mühles dar, das aktuelle Ergebnisse der mediävistischen Stadtgeschichtsforschung in
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Polen einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich machen soll. Bereits 2011 erschien, ebenfalls in der renommierten Reihe des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster, ein Band zu mittelalterlichen Rechtsstadtgründungen in Polen. Der Band knüpft darüber hinaus nicht nur konzeptionell, sondern mit insgesamt fünf in beiden Bänden vertretenen Autoren auch personell an das Vorgängerprojekt an. Die 14 Beiträge des aktuellen Bands stellen bis auf zwei Ausnahmen Aufsätze oder Kapitel aus Monographien dar, die zwischen 2006 und 2011 auf Polnisch erschienen und für die Neuveröffentlichung übersetzt und überarbeitet wurden. Der Herausgeber entschied sich hier für einen thematisch vielfältigen, dafür geographisch engeren Zuschnitt. Am Beispiel Breslaus und Krakaus werden die topographischen und baulichen Veränderungen des Stadtbilds zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert sowie die materiellen Aspekte städtischen Wohnens und Lebens aus historischer, kunstgeschichtlicher, archäologischer und baugeschichtlicher Sicht beleuchtet. Die Rechts- und Verfassungsfragen, die im ersten Band im Mittelpunkt standen, spielen nur im einleitenden Beitrag von Marek Słoń eine größere Rolle. Erklärtes Ziel ist es, einen repräsentativen Querschnitt der aktuellen polnischen Stadtgeschichtsforschung zu bieten. Vor allem neue baugeschichtliche und archäologische Erkenntnisse, die durch umfangreiche Innenstadtsanierungen in beiden Städten in den letzten Jahren ermöglicht wurden, sollen so außerhalb des polnischen Sprachraums besser bekannt gemacht werden. Dies ist ein äußerst verdienstvolles Anliegen, das – um das gleich vorwegzunehmen – in der sprachlichen Umsetzung gelungen ist. Die Beiträge lassen sich stilistisch sehr gut lesen. Hilfreich ist auch die Beigabe einer deutschen Übersetzung aller Titel in den Fußnoten. Ein gewisser Nachteil der Konzeption des Bandes ist allerdings die Dominanz von Details zu Lasten übergreifender Fragestellungen. Zwar gibt es zahlreiche inhaltliche Berührungspunkte zwischen den Aufsätzen, doch wurde auf eine Herausarbeitung der Gemeinsamkeiten, etwa in Form einer ausführlicheren Einleitung, verzichtet. Die Anordnung der Beiträge nach geographischen statt inhaltlichen Kriterien – auf sieben Aufsätze zu Breslau folgen zwei Beiträge zu Kontakten zwischen beiden Städten, bevor sich die letzten fünf Texte auf Krakau konzentrieren – unterstützt diesen Eindruck. Vor allem bei einigen der materialreichen baugeschichtlichen Beiträge hätte man sich zudem eine kurze Zusammenfassung am Ende gewünscht. Nichtsdestotrotz bieten die Beiträge, von denen einige im Folgenden näher besprochen werden, aufschlussreiche Einblicke in die Entwicklung zweier komplexer Städte. Der einleitende Beitrag von Marek Słoń widmet sich der Frage, warum es in Breslau lediglich zur Ausbildung einer einzigen dauerhaften Stadtgemeinde kam, während benachbarte Städte ähnlicher Größe und Rangs stets Agglomerationen aus mehreren Stadtgemeinden bildeten. Vergleichend arbeitet er in überzeugender Weise die strukturellen Hintergründe – die außergewöhnliche Förderung und Erweiterung der Altstadt durch die Herzöge im 13. Jahrhundert sowie die geschickte Politik des Breslauer Patriziats im 14. Jahrhundert – heraus. Dadurch gewannen die Eliten der Altstadt eine so dominierende Stellung, dass sie die Gründung konkurrierender Rechtsbezirke verhindern konnten.
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Zwei lesenswerte Aufsätze befassen sich mit der Entwicklung des Breslauer Stadtgrundrisses. Jerzy Piekalski zeigt auf, dass die Parzellierung des Stadtgebiets im 13. Jahrhundert nicht mit einer rechtlichen Privilegierung der Stadt zusammenfiel, sondern ein langgestreckter Prozess war, innerhalb dessen allmählich auch vorher besiedeltes Gebiet umgeformt und in den regulierten Stadtgrundriss integriert wurde. Pawełel Konczewski befasst sich anschließend nochmals detailliert mit der Parzellierung Breslaus, wobei er einerseits auf das Bemühen um die Abmessung gleichmäßiger Parzellen, andererseits auf die große Flexibilität und den Einfluss der topographischen Gegebenheiten auf die Größe der Grundstücke aufmerksam macht. Ein durchweg verwendetes, einheitliches Modul für die Grundstücke lässt sich daher nicht nachweisen. Seine Ergebnisse fügen sich bestens in ähnliche Diskussionen ein, die in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Forschung, vor allem am Beispiel der Zähringerstädte, geführt wurden (vgl. ARMAND BAERISWYL: Zähringerkreuz und Urparzelle. Stadtentstehung und -planung am Beispiel von „Zähringerstädten“ im Licht archäologischer Quellen. In: ALBERT DIETL u.a. (Hg.): Utopie, Fiktion, Planung. Stadtentwürfe zwischen Antike und Früher Neuzeit, Regensburg 2014, 111–130). Der baugeschichtlichen Entwicklung der Bürgerhäuser, insbesondere der Patrizierhäuser und der Bebauung der prestigeträchtigen Ringplätze, widmen sich drei Beiträge zu Breslau und vier zu Krakau. Margorzata Chorowska zeichnet gemeinsam mit Czesław Lasota detailliert die Entwicklung der Steinhäuser in Breslau vom 13. bis ins 16. Jahrhundert nach, bevor sie in einem weiteren Aufsatz die Vorbildfunktion der Adelspaläste für die Wohnhäuser der Patrizier darlegt. Ein wichtiges Merkmal der Übernahme höfischer Gebräuche ist für sie dabei die außerhalb des Wohngebäudes situierte Küche. Im 14. und 15. Jahrhundert übertrafen die Patrizierhäuser schließlich im Hinblick auf Wohnkomfort sogar die Landsitze des schlesischen Adels. Die baugeschichtlich-archäologischen Beiträge zu Breslau werden ergänzt durch Mateusz Golińskis Analyse der Grundstücks- und Immobilienentwicklung am Breslauer Ringplatz anhand der Schöffenbücher. Seine Ergebnisse betonen nochmals die Bedeutung, die einem repräsentativen Wohnsitz zukam. Der Erwerb eines Hauses am Ringplatz scheint in zahlreichen Fällen die soziale Voraussetzung für den Aufstieg in den Rat dargestellt zu haben. Mit Funden von Luxusgütern (nicht nur) in den patrizischen Wohngebieten Breslaus befassen sich Jerzy Piekalski und Krzysztof Wachowski. Die herausragende Bedeutung des Ringplatzes sowie die Pracht und Größe der Patrizierhäuser lassen sich in ähnlicher Weise auch für Krakau beobachten, wie die Beiträge von Waldemar Komorowski, Marek M. Łukacz sowie eines Autorenteams unter Leitung von Sławomir Dryja verdeutlichen. Mit der Grundlage des Wohlstands beider Städte befasst sich Grzegorz Myśliwski, der die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Breslau und Krakau analysiert. Diese wurden maßgeblich von den Maßnahmen der Könige Böhmens und Polens beeinflusst, wie Myśliwski am Beispiel des Zollkriegs Kasimir des Großen 1348–1361/64 zeigt. Nach Beendigung des Konflikts stabilisierte sich der Warenhandel, der vor allem Textilien, Salz, Blei, Kupfer, Silber und Pelze umfasste. Die zahlreichen Kreditbeziehungen zwischen Breslauer und Krakauer Kaufleuten im
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15. Jahrhundert unterstreichen die Intensität der Handelskontakte, wobei die Krakauer häufiger Kredite in Breslau aufnahmen als umgekehrt. In beiden Städten waren vielfach Mitglieder des Patriziats an den wirtschaftlichen Kontakten beteiligt. Daher ist es umso bemerkenswerter, dass – wie Mateusz Goliński in seinem zweiten Beitrag belegt – dennoch nur wenige Mitglieder Breslauer Patrizierfamilien nach Krakau auswanderten. Die Migration in umgekehrter Richtung scheint auf den ersten Blick im 14. Jahrhundert häufiger, doch weist der Autor zu Recht auf die problematische Quellenlage hin. Mit der Gründung der Krakauer Universität im 15. Jahrhundert kam schließlich eine weitere Kontaktmöglichkeit zwischen den Eliten hinzu, deren Wirkung nicht zu unterschätzen ist. Jakub Wysmułek beschließt den Band mit einem Beitrag zu den Testamenten Krakauer Bürger im 14. Jahrhundert. Anhand von 79 Belegen für religiöse Stiftungen analysiert er städtische Frömmigkeitsformen im Spätmittelalter. Auch wenn Formulierungen wie „Verein“ als Äquivalent zu Bruderschaften und anderen Verbindungen etwas gewöhnungsbedürftig sind, bieten seine Ausführungen einen interessanten Einblick in eine Stiftungspraxis, die ähnlich auch in Städten des Reichs zu beobachten ist. Der Sammelband bietet insgesamt eine Fülle an Material zum Wohn- und Lebensstil der städtischen Eliten in Breslau und Krakau im späteren Mittelalter. Die Beiträge beinhalten zahlreiche Anknüpfungspunkte an aktuelle Forschungsfragen, so dass die deutschsprachige Stadtgeschichtsforschung durch neue Erkenntnisse zu zwei bislang sicherlich nicht immer ausreichend gewürdigten Beispielen bereichert wird. Unter der Prämisse, dass der Sammelband gerade Forscherinnen und Forscher mit einem Schwerpunkt außerhalb der polnischen Stadtgeschichtsforschung ansprechen soll, sind einige Beiträge allerdings sehr spezifisch. Wer sich davon aber nicht abschrecken lässt, wird mit vielen interessanten Einblicken belohnt. Claudia Esch
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KAI-HENRIK GÜNTHER: Sizilianer, Flamen, Eidgenossen. Regionale Kommunen und das soziale Wissen um kommunale Conjuratio im Spätmittelalter (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 57), Stuttgart: Lucius & Lucius 2013, 340 S., (ISBN 978-3-82820-548-2), 54,00 EUR. Das Phänomen der sogenannten „regionalen Kommune“ steht im Zentrum dieser Studie, die Ende 2007 als Dissertation an der Universität Göttingen angenommen wurde. Mit diesem Begriff bezeichnet Kai-Henrik Günther eine territorial verankerte Schwurgemeinschaft, die sich im Gegensatz zu einer Stadt- oder Landkommune über eine ganze Region erstreckte. Von den ebenfalls räumlich ausgedehnten Städtebünden grenzt Günther diese Form der Eidverbrüderung ab, indem er auf die Aufnahme sowohl von Stadt- als auch von Landgemeinden in die regionale Kommune verweist. Auch das „bisweilen schon national aufgeladene regionalkommunale Gemeinschaftsgefühl“ (7) ist für ihn ein zentraler Unterschied zu den Städtebünden. Ausgehend von dieser Definition beschäftigt sich die Arbeit mit
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den drei frühesten Beispielen dieser speziellen Form der Kommune, die alle zwischen dem Ende des 13. und der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts anzusiedeln sind. Es handelt sich erstens um eine im Zusammenhang mit der Sizilianischen Vesper 1282 errichtete regionale Kommune, zweitens um eine von 1323 bis 1328 bestehende Schwurgemeinschaft in Flandern sowie drittens um die Schweizer Eidgenossenschaft. Diese drei in der jeweiligen nationalen Forschung bereits ausführlich diskutierten Beispiele betrachtet der Autor vergleichend unter dem Gesichtspunkt ihrer strukturellen Ähnlichkeit als regionale Schwurverbände. Der theoretische Bogen, der die drei geographisch weit auseinanderliegenden und in ihrem Entstehungszusammenhang durchaus unterschiedlichen Beispiele zusammenführen soll, ist das maßgeblich von Otto Gerhard Oexle entwickelte Konzept der sozialen Gruppen. Die Vereinigung in Form einer Conjuratio, die in allen drei Fällen zu beobachten ist, wird allgemein als Gruppenbildung durch Verbrüderung zum Zweck der Friedenssicherung aufgefasst. Die auf Konsens und Gleichheit beruhende Schwureinigung stand dabei im Gegensatz zur mittelalterlichen Ständegesellschaft, ohne jedoch letztere prinzipiell in Frage zu stellen. Günther möchte nun am Beispiel der drei regionalen Großkommunen das handlungsleitende Wissen der Akteure um die Conjuratio untersuchen und damit auch einen Beitrag zur Diskussion um die ‚Modernität‘ der mittelalterlichen Conjuratio leisten. Diesem Vorhaben liegt die zentrale Annahme zu Grunde, dass die hier im Fokus stehenden regionalen Großkommunen eine „mittelalterliche Hochform kommunaler Conjuratio“ darstellen, so dass sich an ihnen die mit der Kommune verbundenen Dynamiken der Vergesellschaftung „wie durch ein Brennglas“ (8) beobachten lassen. Als Argumente für die herausragende Bedeutung der regionalen Kommunen dienen ihre ständeübergreifende Zusammensetzung, da jeweils neben Adeligen, Geistlichen und Bürgern auch Bauern beteiligt waren, sowie ihre stark ausgeprägte gruppenbezogene Identität. Damit skizziert der Autor ein durchaus ambitioniertes Forschungsprogramm, das angesichts seines – sowohl geographisch als auch konzeptionell – weit gespannten Rahmens jedoch auf interessante Ergebnisse hoffen lässt. Die Untersuchung ist in fünf thematische Kapitel gegliedert, in denen die Fallbeispiele jeweils zunächst getrennt analysiert werden, bevor die Ergebnisse am Ende des Kapitels knapp zusammengeführt sind. Eine kurze Zusammenfassung rundet die Arbeit ab. Während das erste Kapitel eine knappe ereignisgeschichtliche Einführung in die Entwicklung der drei regionalen Kommunen gibt, werden im zweiten Kapitel die sozialen Milieus der Akteure betrachtet. Günther kann dabei aufzeigen, dass es sich in allen drei Fällen trotz der unterschiedlichen Entstehungskontexte um Schwureinigungen handelte, die von einer bäuerlichen und städtischen Mittelschicht maßgeblich getragen, aber von Mitgliedern der Oberschicht – Niederadelige, Großbauern und Patrizier – geführt wurden. Damit widerlegt er etwa ältere Annahmen eines flämischen „Bauernaufstands“ oder einer adelsfeindlichen Schweizer Eidgenossenschaft. Der dritte Abschnitt widmet sich den Handlungsmotiven und -zielen der an der Conjuratio Beteiligten. In Sizilien und Flandern lagen die Gründe für die Kommunebildung maßgeblich bei den als gravierend empfundenen Missständen der königlichen bzw. gräflichen Verwal-
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tung, wobei die Kommune von den Zeitgenossen aufgrund vorangegangener Erfahrungen als geeigneter Schutz vor bestehender oder drohender tyrannis wahrgenommen wurde. Im Fall der Schweiz war dagegen zunächst die innere Friedenswahrung das Ziel; erst im zweiten Schritt ging es um die Sicherung dieses Zustands durch den Schutz der kommunalen Freiheit vor anderen Herrschaftsträgern. Der organisatorische Aufbau, der im folgenden Abschnitt behandelt wird, war bei allen drei regionalen Großkommunen bemerkenswert ähnlich und zeichnete sich durch einen dezentralen Charakter aus. Die politische und rechtliche Souveränität lag stets bei den Versammlungen von Schwurgenossen auf lokaler Ebene, die beispielsweise in Kirchspielen, Städten oder Gilden organisiert waren, die wiederum bevollmächtigte Repräsentanten in Versammlungen auf der Ebene der regionalen Gesamtkommune entsandten. Ähnlichkeiten weisen auch die im letzten Kapitel untersuchten Gruppenidentitäten der jeweiligen Kommunen auf, die ständeübergreifend funktionierten und sich jeweils in Abgrenzung gegenüber adeligen bzw. fürstlichen Herrschaftsansprüchen herausbildeten. Nur im Fall Sizilien waren diese Gegenidentitäten allerdings mit der Sprache als Distinktionsmerkmal verknüpft. Der thematische Aufbau der Studie hat bisweilen Nachteile. So ermöglicht er zwar die geschickte Kombination von quellennahen, detaillierten Ausführungen zu den drei Regionen mit einer systematischen Analyse des Phänomens der Conjuratio, verstellt aber durch die starre Struktur gelegentlich den Blick auf interessante Beobachtungen. So arbeitet Günther in den einzelnen Kapiteln durchaus signifikante Unterschiede hinsichtlich der Kommuneentwicklung der drei Regionen heraus. Da der Aufbau der Studie und die Fragestellung vor allem auf die Gemeinsamkeiten der drei Conjurationes abzielen, wird das sich daraus ergebende Erkenntnispotenzial jedoch nicht immer voll ausgeschöpft. Während beispielsweise in Sizilien und Flandern das Aufbegehren gegen eine bestehende Herrschaft das zentrale Element der Kommunebildung war, entstand die Eidgenossenschaft eher aus einem Friedensbedürfnis in Zeiten eines Machtvakuums und entwickelte erst im Nachhinein ihre Attraktivität in Auseinandersetzungen von Talgemeinden mit Herrschaftsträgern. Interessanterweise war es aber gerade die Eidgenossenschaft, die langfristig Bestand hatte und andere Herrschaftskonzepte in ihrem Raum verdrängte. Im Fall Siziliens und Flanderns fungierte die Großkommune dagegen offenbar trotz ihres revolutionären Charakters gerade nicht als dauerhafte Alternative zu anderen Herrschaftsformen; vielmehr versuchten die Akteure, mit Peter III. von Aragon bzw. Robert von Cassel einen neuen, ihnen mehr entgegenkommenden Herrschaftsträger einzusetzen. Es wäre an dieser Stelle durchaus spannend gewesen, der Frage nach der (intendierten) Dauerhaftigkeit regionaler Großkommunen nachzugehen. Dieser Aspekt steht auch in engem Zusammenhang mit der Frage nach einem prinzipiellen Gegensatz zwischen Ständegesellschaft und kommunaler Herrschaftsform, die zwar in der Einleitung kurz erwähnt, dann aber nicht intensiver verfolgt wird. In diesem Licht hätte auch der Befund, dass die eidgenössische Geschichtsschreibung seit dem 15. Jahrhundert gerade den in den zeitnahen Quellen nicht nachweisbaren Rebellions-
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Charakter der Schwurgemeinschaft nachträglich konstruierte, noch ausführlicher beleuchtet werden können. Diese Bemerkungen sollen jedoch nicht das Verdienst der Studie schmälern, die drei sehr unterschiedliche und räumlich weit gestreute Beispiele regionaler Kommunen quellennah analysiert und dabei den Blick auf bemerkenswerte Gemeinsamkeiten zwischen den Conjurationes lenkt. Drei bislang eher parallel laufende Forschungsstränge werden so gewinnbringend zusammengeführt. Für die Erforschung des Phänomens der Conjuratio und seiner sozialen Relevanz im späteren Mittelalter stellt die Studie daher eine wichtige Anregung dar. Bei den Schlussfolgerungen drängt sich allerdings gelegentlich der Eindruck auf, dass die Zielsetzung der Arbeit allzu umfassend angelegt war. In Bezug auf die großen Fragen – etwa nach der Modernität oder dem demokratischen Charakter mittelalterlicher Schwurgemeinschaften – bleiben die Erkenntnisse oft eher blass. Die Beantwortung solcher grundlegender Fragen ist aber auch nicht unbedingt Aufgabe einer Dissertation. Nicht zuletzt auf der Grundlage von quellennahen vergleichenden Studien wie der vorliegenden bietet sich Stadtgeschichtsforschern und -forscherinnen sicherlich noch reichlich Gelegenheit, über diese Probleme zu diskutieren. Claudia Esch
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JAN HIRSCHBIEGEL: Nahbeziehungen bei Hof – Manifestationen des Vertrauens. Karrieren in reichsfürstlichen Diensten am Ende des Mittelalters (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 44). Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2015, 417 S., 3 Abb., (ISBN 978-3-412-22441-7), 52,90 EUR. Vormoderne Herrschaft bedingt die Gewährung von Vertrauen – und zwar weniger in Institutionen als in Personen. Denn der Herrscher bedarf Personen in seinem Umfeld, die seine Anordnungen verlässlich ausführen und ihm die Last der Verwaltung abnehmen. Vertrauensbeziehungen bei Hofe entwickeln sich in einer Rangordnung; sie basieren zwar auf Gegenseitigkeit, nicht aber auf sozialer Gleichheit der Beteiligten. Jan Hirschbiegel widmet sich in seiner Habilitationsschrift über Vertrauensbeziehungen an den Höfen des Alten Reiches um 1500 mithin einer wichtigen Analysekategorie. Er untersucht Nahbeziehungen zwischen Fürsten und deren Amtsträgern und fragt danach, wie Personenvertrauen generiert wurde, ob sich Typen von Vertrauen identifizieren lassen und wie belastbar diese Beziehungen waren. Hirschbiegels Unterscheidung zwischen der „Mechanik“ fürstlicher Gunst und individuellen Vertrauensbeziehungen von Fürsten zu einzelnen Dienern erscheint etwas überzeichnet. „Gunst“ und „Günstlinge“ sind seiner Auffassung nach „funktional Symptome eines spezifisch höfischen Rahmenvertrauens und ausschließlich strukturell bedingt“ (63) – im Gegensatz zu individuellen personalen Vertrauensbeziehungen. Es ist aber durchaus lohnend, sich auf die Argumentation des Verfassers einzulassen. Denn so schwer es ist, im Einzelfall gesell-
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schaftliches „Rahmenvertrauen“ vom Vertrauen in eine individuelle Person abzugrenzen, so erklärungsbedürftig ist doch, warum und wie sich besonders enge Vertrauensbeziehungen zwischen bestimmten Personen im höfischen Umfeld entwickelten und dabei auf informeller Ebene formale Rangdifferenzen überbrückten. Die Beteiligten bauten Vertrauen auf der Basis von vergangenen Erfahrungen mit einer Person auf und erwarteten – als risikobehaftete Option für die Zukunft – ein Fortdauern, ja eine Vertiefung dieses Verhältnisses. Vertrauensbeziehungen im Übergang zur Neuzeit sind nicht nur mangelhaft erforscht, sie werden in den Quellen auch selten direkt expliziert. Hirschbiegel untersucht daher Karrieren von Fürstendienern nach Symptomen von Vertrauen des fürstlichen Herrn. Denn das Amt einer Person im Fürstendienst allein ist noch kein hinreichender Hinweis auf die Existenz einer auf Vertrauen gegründeten Beziehung. Vielmehr ist nach weiteren Anhaltspunkten wie materiellen und immateriellen Zuwendungen, auffallend steilen Karrieren, der Betrauung mit besonders heiklen Aufträgen und ungewöhnlich großen Handlungsspielräumen bei ihrer Ausführung zu achten. Mittels dieses Rasters werden im Hauptteil der Studie Karrieren von Amts- und Vertrauenspersonen im Umfeld von Reichsfürsten um 1500 betrachtet, wobei die Kategorien zunächst am Beispiel des Verhältnisses zwischen dem Magdeburger Erzbischof Albrecht von Brandenburg und dessen Kammerdiener Hans Schenitz eingeführt werden. Dabei behandelt der Verfasser zunächst die Kurfürsten, dann geistliche Reichsfürsten, weiterhin den Hof des Königs bzw. Kaisers und schließlich die weltlichen Reichsfürsten sowie deren jeweilige Vertrauenspersonen oder aber Reichsfürsten als Vertrauenspersonen des Kaisers bzw. Königs. Die Forschungs- und Überlieferungslage erweist sich als äußerst divergent. Das Kapitel über die geistlichen Reichsfürsten beklagt in erster Linie die desolate Forschungslage und bietet wenig mehr als Namen und Ämter. Ausnahmen bilden nur wenige (Erz-)Bischöfe, die in besonderer Vertrauensbeziehung zu Kaiser Maximilian I. oder zu Ferdinand I. standen. Kaum besser sieht es bei den Kurfürsten aus, die auf ganzen fünfeinhalb Seiten abgehandelt werden. Hingegen bietet das gut erforschte Umfeld Maximilians I. reichlich Material. Ausführlich werden dessen Beziehungen zu Vertrauenspersonen wie Zyprian von Northeim gen. Serntein und Matthäus Lang von Wellenburg dargestellt und charakterisiert. Bei den weltlichen Reichsfürsten zeigt sich eine sehr heterogene Forschungslage, aus der vor allem die Vertrauensbeziehungen der Herzöge Wilhelm IV. von Bayern, Ulrich von Württemberg und Heinrich II. d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel sowie des Landgrafen Philipp von Hessen hervorstechen. Bei den erfassten Beziehungen handelte es sich, so der Verfasser resümierend, fast durchgehend um personalisierte Vertrauensbeziehungen, die nicht an das Amt, sondern an die Person des Fürstendieners gebunden waren. Er musste Vertrauen durch Leistung erwerben, musste seinem Herrn etwas bieten, bevor er dann, wenn Vertrauen hergestellt war, auch jenseits jeglicher Amtslogik mit ganz unterschiedlichen Aufgaben betraut wurde. Vertrauen war ein konvertibles Kapital, von dem Vertraute in materieller und immaterieller Hinsicht zu profitieren vermochten. Vertrauenspersonen von Herrschern hatten dafür mehr in die Bezie-
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hung zu investieren als ihre Herren und genossen zwar in der Verfolgung eigener Ziele oft eine gewisse Narrenfreiheit, mussten aber gegenüber herrschaftlichen Interessen zurückstecken. Denn ihre Position war prekär, da Vertrauensentzug ihre Existenz vernichten konnte, durchaus auch im physischen Sinne – hier zeigt sich klar die schwächere Position des Fürstendieners. Nicht alle diese Ergebnisse sind überraschend. Anregend aber ist vor allem die Herausarbeitung zweier Idealtypen von Vertrauenspersonen, die Hirschbiegel anhand von zwei intensiver betrachteten Beispielsfällen entwickelt. Johann von Schwartzenberg, Hofmeister des Bamberger Bischofs Georg III. Schenk von Limburg, wird als „höfischer Normalfall“ eines gewöhnlichen „Vertrauensträgers“ vorgestellt, der keine herausragende Nähe zu seinem Herrn entwickelte, diesem aber zahlreiche nützliche Dienste leistete. Dietrich von Schönberg hingegen, in Diensten des Deutschordens-Hochmeisters Albrecht von Brandenburg, kann als enger „Vertrauter“ seines Herrn bezeichnet werden, der mit seinem Herrn in vertrautem Ton korrespondierte, auf heikle Missionen geschickt wurde und unter der schützenden Hand des Hochmeisters über einen erheblichen Handlungsspielraum verfügte. Abschließend stellt Hirschbiegel die verschiedenen Bestimmungsfaktoren von Vertrauensbeziehungen in Tabellen zusammen und untersucht etwas flüchtig Fürstenspiegel und Äußerungen der Hofkritik nach zeitgenössischen Theorien von Vertrauen. Problematisch am Faktorenkatalog des Autors ist, dass nur für einen Bruchteil der untersuchten Personen und Beziehungen überhaupt ausreichende Forschungsergebnisse vorliegen. Weniger die quantitativ-tabellarische Herangehensweise als vielmehr die Fallbeispiele, für die genügend Material vorliegt, belegen das Modell gestufter Vertrauensbeziehungen. Das Buch macht es dem Leser nicht immer leicht. Einer sehr reflektierten, durch mitunter hyperkomplex strukturierte Sätze mit vielen Parenthesen aber unnötig umständlichen Einleitung folgt der empirische Teil. Dessen Wert erschließt sich dem durch die langen Aufzählungen von Namen und Ämtern sowie die wiederholten Klagen über Forschungslücken irritierten Leser erst auf den zweiten Blick: Hirschbiegel hat ein enormes Korpus an Literatur und edierten Quellen selbst nach entlegensten Hinweisen auf sein Thema durchgesehen – damit erweist er weiteren Forschungen gute Dienste, denn eine derartige Übersicht über das politische Personal des Alten Reiches und den einschlägigen Forschungsstand dürfte einmalig sein. Stärker hätten dagegen die Ergebnisse der Hof- und Patronageforschung zur Frühen Neuzeit Berücksichtigung finden können, zumal Hirschbiegel in seinem Schlusskapitel auch nach langfristigem Wandel in Vertrauensbeziehungen fragt. Nichtsdestotrotz bietet seine Studie viele Anregungen für weitere Forschungen zu soziopolitischen Nahbeziehungen und politischer Praxis in der Vormoderne und eröffnet für das Reich um 1500 ein bislang nur punktuell erschlossenes Forschungsfeld. Hillard von Thiessen
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JOACHIM EMIG, VOLKER LEPPIN, UWE SCHIRMER (Hg.): Vor- und Frühreformation in thüringischen Städten (1470–1525/30) (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 1), Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2013, 482 S., 16 Abb., (ISBN 978-3-412-20921-6), 54,90 EUR. Dieser Sammelband gliedert sich in 17 lokale Fallstudien, umrahmt von einem einleitenden Aufsatz und einer Zusammenfassung. Die quellengesättigten Beiträge stellen das archivalische Material fokussiert in den Dienst aktueller spätmittelalterlicher und reformationsgeschichtlicher Fragestellungen, sodass die Lektüre ein großer Gewinn ist. Ziel ist es, Lücken der Forschung aufzuzeigen und – wo möglich – zu schließen. Einleitend wirft Volker Leppin die Fragen und Probleme auf, denen sich die einzelnen Untersuchungen stellen. Angesichts der Reformation als in erster Linie städtisches Phänomen seien die Unterschiede der Transformation in verschiedenen Stadttypen stärker aufzufächern. Als Indikator für eine antiklerikale bzw. reformatorische Stimmung sei nicht allein die Entwicklung des Ablasswesens zu betrachten, wie es Wilhelm Ernst Winterhager in seinem wegweisenden Aufsatz (Ablaßkritik als Indikator historischen Wandels vor 1517. Ein Beitrag zu Voraussetzungen und Einordnung der Reformation. In: Archiv für Reformationsgeschichte 90 [1999], 6–71) herausgestellt hat, sondern das Stiftungs- und Altaristenwesen auf breiterer Basis. Schließlich müssten die multiplen Erscheinungsformen der frühen Reformation Beachtung finden. Zu diesem Zweck versammelt der Band Untersuchungen zu unterschiedlichen Stadttypen, die repräsentativ für Thüringen sind: die freie Reichsstadt (Mühlhausen, Nordhausen); den Sonderfall Erfurt als Bistumsstadt, die sich auf dem Weg zur freien Stadt wähnt; Residenzstädte (Gotha, Weimar, Altenburg, Arnstadt) bzw. ehemalige Herrschaftszentren (Eisenach); eine Amtsstadt (Weißensee); religiöse Zentren (Naumburg, Weida); sowie eine Mittel- und Landstadt (Neustadt). Die herangezogenen Quellen bilden das Spektrum der Herangehensweisen der Beiträger ab: Kirchenfabrikrechnungen aus Arnstadt, das bislang unedierte Altenburger Urkundenbuch, das Mirakelbuch der Fronleichnamskapelle von Heiligenleichnam, das Hartmut Kühne hier ediert, sowie das – trotz Ankündigung im Band leider noch immer nicht edierte – Totenbuch des Predigerkonvents Erfurt. Angesichts der Fülle des Materials kann nur ein kurzer Rundgang durch die Aufsätze erfolgen. Stephan Flemming weist nach, dass sich das städtische Predigtwesen und die Seelsorge im vorreformatorischen Thüringen in der Hand des Deutschen Ordens befanden. Nach einer Krise erlebte der Orden seit 1450 einen Aufschwung, auch weil er von Priesterbrüdern und nicht von Ritterbrüdern geprägt war, was die Unterhaltskosten erheblich senkte. Spannungen mit der Bevölkerung waren die Ausnahme. Hartmut Kühne erhebt aus seiner Edition des Mirakelbuchs kulturhistorische Fragen nach der Stellung des Kindes und der Geschlechter sowie der Absenz von Klerikern unter den Votanten. Dieter Stievermann zeigt das Zusammenspiel der städtischen Gerichtsbarkeit mit der geistlichen als Vollstreckungsbehörde in Erfurt auf und führt vor, dass der Ausbau der indirekten Steuern zu einer Verweigerungsallianz von Geistlichen und Bürgern führte. Die Konfliktlinien waren nicht immer eindeutig. Die Stadt verstand sich als
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Heilsgemeinschaft, und der Rat fundierte seine Herrschaft transzendental mit dem Ratskirchgang. In der Reformation aber wurde die Stiftsgeistlichkeit propagandistisch für die hohe Schuldenlast der Stadt verantwortlich gemacht. Dabei stellt der Autor fest, dass die Erfurter Reformation weder den Idealtypen von Rats- und Gemeindereformation noch einer Reformation „von oben“ oder „von unten“ entspricht. Den Bauernkrieg nutzte der Rat für eine faktische Säkularisation des Klosterguts, indem er es seinem Schutz unterstellte. Julia Mandry beschäftigt sich mit dem Stiftungswesen und den Grablegen im Erfurter Predigerkonvent. Während die Stiftungen einen Höhepunkt um 1450 erreichten und danach stark abnahmen, was eine Analogie zu Winterhagers Befund einer Verringerung der Ablasseinnahmen in den Reichsstädten nahelegt, erlangte die Zahl der Grablegen um 1500 einen Höhepunkt, der bis zur Reformation anhielt. Mandry erkennt vor allem eine Verlagerung der Aktivitäten der Gläubigen, nicht eine generelle Reduzierung. Stattdessen spielten ein zunehmender Drang nach Selbstrepräsentation und der Ausdruck einer individuellen Frömmigkeit eine Rolle. Thomas T. Müller stellt einige spektakuläre Verfehlungen des Klerus vor, die als Einzelfälle aber nicht als Movens eines breiten Antiklerikalismus gelten können. Armin Kohnle befasst sich mit der Einführung der Reformation in Nordhausen und der Frage nach dem dortigen Wirken Thomas Müntzers, das vermutlich kürzer war als in der älteren Forschung vermutet. Müntzer wirkte dort nicht als Sprecher der Unterschicht, und sein Weggang erfolgte aus beruflichen Gründen. Aufschlussreich sind die Änderungen der Naumburger Prozessionsordo, die Matthias Ludwig beschreibt. Martin Sladeczek, der zuerst die Sakraltopographie Arnstadts vorstellt, wertet anhand der Kirchenfabrikrechnungen die Spendeneinnahmen aus. Demnach ist ein Rückgang der Spenden erst für die Jahre 1522 bis 1524 zu verzeichnen, als der Rat die Reformation bereits eingeführt hatte. Die Präsenzgelder sanken weniger stark als die Spenden. Die Einführung der Reformation war in Städten wie Arnstadt ein langsamer Prozess. Zu einem ähnlichen Befund kommt Stefan Michel in seiner institutionen- und sozialgeschichtlich angelegten Studie zu Weida als religiösem Zentrum. Ohne die Konflikte, u. a. mit den Dominikanerinnen, auszublenden, blieb die vorreformatorische Frömmigkeitskultur in Bruderschaften, Messpfründenstiftungen und Annenkult bis ungefähr 1520 intakt. Die Unterstützung für die Franziskaner hielt sich in der Landbevölkerung sogar bis 1527. Bemerkenswert ist Michels Hinweis, dass gerade die soziale und wirtschaftliche Unzufriedenheit über die Verteilung der Güter für den Rat die Anschlussmöglichkeit an die Reformation gebildet habe. Hartmut Kühne gelangt hinsichtlich des Funktionierens von Schlossstift und Reliquienfest in Altenburg bis zur Reformation zu vergleichbaren Ergebnissen. Am Ende seines Beitrages liefert er einen Überblick über die Stiftungen in der Stadt. Dagegen gab es am Vorabend der Reformation in Gotha zahlreiche Spannungen zwischen Rat, Bürgerschaft und Stift, die, wie es Ernst Koch schildert, 1524 zum Sturm auf das Marienstift und zu Eingriffen des Rates wie Begrenzung des Zinsfußes, Festlegung von Tarifen und einem städtischen Zugriff auf das Hospital führten. Johannes Mötsch stellt knapp die gewalttätigen Auswirkungen des Bau-
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ernkrieges in Meiningen und anderen Orten der Grafschaft HennebergSchleusingen vor. Als klassische „Reformation von oben“ sind die Umformungsprozesse in Weimar zu begreifen. Der Rat, so Volker Graupner, war dort nur ein Sprachrohr des Herzogs. Schon früh erfolgten Visitationen, Sequestrationen und eine Ausgestaltung des landesherrlichen Kirchenregiments. Ein ähnliches Bild, jedoch mit anderer Konsequenz, bietet die herzoglich-sächsische Amtsstadt Weißensee. Ulman Weiß zeigt, dass der Rat sich in religiösen Belangen zurückhielt und jegliche Initiative vom Herzog ausging (Reform der Johanniterkomtur, Installierung der Legende vom guten Conradt). Daher blieb diese Stadt bis 1539 altgläubig, als die Reformation von oben, durch Herzog Heinrich, eingeführt wurde. Die Reformation in Jena wie in den Saalegemeinden stand theologisch im Bann Karlstadts (Joachim Bauer, Enno Bünz). Die Jenenser Druckerei Hans Michels druckte Texte Karlstadts und Westerburgs. In Neustadt an der Saale berief der Rat einen reformatorischen Pfarrer. Da der Herzog das Patronatsrecht des säkularisierten Benediktinerklosters Saalfeld für die städtische Pfarrkirche an sich zog, entstand ein Konflikt um die Besetzung. Wiederum anders stellte sich die Lage in Eisenach als ehemaliger Residenzstadt mit einer reichhaltigen Kirchen- und Klosterlandschaft dar, die Franziska Luther beschreibt. Schon 1523 wurde der evangelische Prediger Jakob Strauß berufen, der sich mit seinen Schriften gegen Zinswucher einen Namen machte und eine erste Visitation durchführte, die nicht von Martin Luther autorisiert war. Auf Grund seiner obrigkeitskritischen Äußerungen musste er bald nach dem Bauernkrieg, in den Eisenach direkt verwickelt war, im Herbst 1525 die Stadt verlassen. In der Zusammenfassung verweist Uwe Schirmer nach einem kurzen Gang durch die Forschung auf den Zusammenhang von disparaten Herrschaftsstrukturen in Thüringen und konfessioneller Ausrichtung der Herrschaften, um dann Fragen des Einflusses von Herrschaft und Gemeinde auf die Einführung der Reformation und die Kleruskritik zu resümieren. Im Ausblick stellt er die Frage nach der Bedeutung von theologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen auf die Umbruchsituation. Der Band ist ein Plädoyer für eine mikrohistorische Untersuchung der städtischen Sakraltopographien und für eine sozialhistorische Analyse der Trägerschichten der Reformation. Winterhagers Befund, angesichts der Abnahme der Ablassstiftungen in den Reichsstädten von einer antiklerikalen, rationaleren Haltung vor der Reformation zu sprechen, muss eingeschränkt werden. Die Einführung der Reformation war in praxi ein langwieriger Prozess. Trotz dieser Differenzierungen fiel dem Rezensenten auf, dass in vielen Beiträgen weiterhin mit Franz Lau vom „Wildwuchs“ der frühen Reformation gesprochen und etwas spezifisch „Lutherisches“ als Vergleichsmaßstab angelegt wurde. Angesichts der Varietäten der frühen reformatorischen Bewegung, zumal auch in Oberdeutschland, erscheint dies unangebracht. Ohne dem marxistischen Konzept einer „frühbürgerlichen Revolution“ das Wort zu reden, offenbart dieser Band, dass die Reformation nicht auf theologische Themen zu reduzieren ist, sondern in gleicher Weise
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integral von sozio-ökonomischen Fragestellungen (Zinsstreit, Klerikerprivilegien, Zehnt) getragen wurde. Harald Bollbuck
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3. Frühe Neuzeit RUDOLF SCHLÖGL: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz: Konstanz University Press 2014, 563 S., (ISBN 978-3-86253-056-4), 29,90 EUR. Was macht die frühe Neuzeit zur Frühen Neuzeit? Das ist, auf einen knappen Nenner gebracht, die Frage, der Rudolf Schlögl nachspürt. Er unternimmt den Versuch, „die epochale Einheit der Frühen Neuzeit als einer historischen Sozial- und Gesellschaftsformation zu bestimmen“ (12). Dabei orientiert er sich in den „begrifflichen Grundlagen am Theorienentwurf Niklas Luhmanns und an Soziologen, die daran anschließen“. Einschlägige systemtheoretische Konzepte sollen so ausformuliert werden, „dass sie für die Forschungsarbeit von Historikerinnen und Historikern brauchbar werden“ (25). Nachvollziehbar begründet wird eine Begrenzung der Untersuchung auf den Zeitraum von ca. 1500 bis 1800. Dass dies gewissermaßen der Konvention folgt, zeigt die Anbindungsfähigkeit an bestehende Periodisierungsmodelle mit letztlich handlungstheoretischer Fundierung oder besser: die epistemische Dialogbereitschaft des Vorhabens gegenüber diesen Modellen. Im Sinne Luhmanns setzt Schlögl Kommunikation „als das prozesshafte Herstellen von Sinn durch soziale Akteure“ als basalen Faktor gesellschaftlicher Organisation. In der „Kommunikation unter Anwesenden“ konstituiere sich wesentlich die frühneuzeitliche Gesellschaft. Freilich seien „die anwesenheitsbasierten Formen des Sozialen durch eine Evolution ihrer Strukturen einer fundamentalen Transformation in den drei beobachteten Jahrhunderten“ unterworfen gewesen (13). Die zunehmende Kommunikation mit Abwesenden, ermöglicht insbesondere durch den Buchdruck, veränderte gesellschaftliche Ordnungszusammenhänge, weg von traditioneller Statik – etwa im Sinn scholastischer Ständelehre – hin zu einer durch „selbsterzeugte Eigendynamik“ (18) hervorgerufenen grundlegenden Transformation zur Moderne. Dieses genrebedingt abstrakte Design, das morphologisch wiederholt an bestehende epochencharakterisierende Leitbegriffe erinnert, z. B. den von der frühneuzeitlichen Medienrevolution, folgt jedoch stets der systemtheoretischen Eigenlogik der Begriffe. Sie entfaltet sich in drei Hauptkapiteln. Zunächst skizziert Schlögl die Grundmuster der frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaft. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht unter dem Leitbegriff Macht letztlich das, was anderwärts als Etappen frühneuzeitlicher Staatsbildung gefasst worden ist, hier als lange Transformation von Herrschaft in Politik gedeutet. Drittens schließlich wird unter dem Titel „Die Ordnung der Gesellschaft“ der Öffentlichkeitsbegriff nachvollziehbar
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systemtheoretisch gewendet und die „Semantik der ‚Krise‘“ zum Kern zeitgenössischer Wahrnehmung und inhaltlicher Figurierung der offenen Transformationssituation gegen Ende der Frühen Neuzeit. Im Schlusskapitel mit dem Titel „Wie moderne Gesellschaft möglich wurde“ passiert Schlögl die Stationen der Einbeziehung von „Abwesenden und Abwesendem“ zusammenfassend Revue, um schließlich zu konstatieren, dass, entsprechend den Phasen der Frühen Neuzeit, die „Semantiken sozialer Strukturen und von Gesellschaft sich [...] drei Modellen zuordnen lassen“ (435). Diese markieren jeweils Stadien der Kommunikation zwischen Anund Abwesenden, bis sich seit den 1760er Jahren Semantiken entfalteten, „die von einer Pluralität von sozialen Systembezügen ausgingen, von ihrer zirkulären Schließung und der damit verbundenen Fähigkeit zur reflexiven Selbststeuerung“. Mit der „semantischen Imagination des modernen Subjekts“ (436) wird die Frühe Neuzeit gleichsam durch sich selbst aufgehoben. Die Abstraktheit und die scheinbar so unausweichliche Logik der Entwicklung mögen irritieren. Beides ist aber nun einmal gesellschaftsgeschichtlichen Epochenkonzeptualisierungen eigen und nicht Eigenheit des systemtheoretischen Zugangs. Auch dieser muss sich natürlich an Ereigniszusammenhängen und Strukturbildungen austesten lassen. Das geschieht unter anderem dort, wo Schlögl die „evolutionäre Dynamik, die aus der Verbindung von Anwesenheitskommunikation und Medien der Gutenberggalaxis“ (17) im 16. und 17. Jahrhundert entstand, auf verschiedenen Ebenen vormoderner Gesellschaftsbildung thematisiert. Er sucht dafür mit guter Begründung das Dorf, die Stadt und den Hof aus. Und hier erliegt er dann doch wiederholt der Versuchung, die Komplexität der Strukturbildungen auf die Perspektive der „Kommunikation unter Anwesenden“ herunter zu brechen. Da erscheint mitunter etwas als intentional handlungsrelevant, was man dergestalt kaum wird fassen können. So setzt sich Schlögl mit dem Phänomen der Stadtreformation auseinander und sieht die Entwicklung in Wittenberg zwischen 1521 und 1523 als Blaupause für den städtisch-reformatorischen Prozess insgesamt (232). Derartige Reduktionen von Komplexität sind auch für Großthesenbildungen wenig hilfreich. Auch die Ausführungen über die Rolle des Hofes werden flugs über einen solchen komplexitätsreduzierenden Leisten geschlagen. Dass es noch immer wirkmächtige Forschungstraditionen erschweren würden, „den Hof wirklich als ein soziales und damit gesellschaftsgeschichtliches Phänomen zu begreifen“ (247), kann man kaum noch allen Ernstes behaupten. Bezüglich Hof- und Residenzbildung wird an anderer Stelle eine eigentlich unnötige Komplexitätsreduktion deutlich, wenn festgestellt wird, dass Schrift „als Verbreitungsmedium [...] die Voraussetzung für Residenzenbildung auch in den großen Monarchien Westeuropas“ schuf (175 f). Ein notwendiger, jedoch bestimmt nicht hinreichender Grund für den Residenzbildungsprozess wird hier überhöht, um das Phänomen letztlich in das vorliegende gesellschaftsgeschichtliche Erklärungsmuster einzupassen. Das mag als Modellbildung im Sinn eines Idealtypus zulässig sein, fordert jedoch Fragen an die Tragweite und Tragfähigkeit des Untersuchungsdesigns sowie an dessen Anspruch als Grundriss einer frühneuzeitlichen Gesellschaftsgeschichte geradezu heraus. Ob man von dem Werk angetan oder enttäuscht ist, hängt gerade bei einem so ambitioniert auftretenden Programm von der Erwartungshaltung des Rezipienten
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ab. Enttäuscht wird derjenige, der einen Paradigmawechsel der Frühneuzeitforschung erwartet. Der explizite Anspruch Schlögls, einen Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit anzubieten, suggeriert dies zwar, bleibt gleichwohl hinsichtlich der empirischen Befunde im Spannungsfeld von An- und Abwesendem an etlichen Stellen defizitär. Es bleibt nach wie vor Aufgabe des Historikers, historische Ereignisse in ihrem Zusammenhang zu beschreiben, und das gelingt dem Autor nicht immer bzw. vielfach nicht so, dass es über Bisheriges hinausgeht. Dies zu erwarten, wäre freilich auch zu viel verlangt. Angetan sicherlich ist derjenige, der neue Überlegungen hinsichtlich eines konsistenten Erklärungsmodells der epochalen Entwicklungsmuster erwartet. Sie systematisieren Bekanntes, kommen zu klugen Schlussfolgerungen, lassen die Frage nach der Möglichkeit, das Proprium der Frühen Neuzeit im Sinn eines argumentativ konsistenten Grundrisses der Epoche zu erfassen, in einem freilich produktiven Sinn offen. Schlögls Schlussplädoyer für die konsequente Historisierung der Begriffe, für den „Verzicht auf ontologische Gegenstandsbestimmungen“ fußt auf seiner Einsicht, „dass Ursachen [...] oft in zirkulären Anfängen verschwanden und man von Emergenz reden muss“. Er habe dies „nicht als Verlust empfunden“ (alle Zitate 347). Dem schließt sich der Rezensent an. Es ist höchst lohnend, sich den Mühen der Lektüre zu unterziehen, weil epochenerklärende Grundrissversuche zwar genrebedingt zum Scheitern verurteilt, aber trotzdem dringend notwendig sind, will man nicht am Ende des Fragens angekommen sein. Olaf Mörke
Kiel
ALEXANDER DENZLER, ELLEN FRANKE, BRITTA SCHNEIDER (Hg.): Prozessakten, Parteien und Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis zum 19. Jahrhundert (= bibliothek altes Reich 17), Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, 217 S., 8 Abb., (ISBN 978-3-11-035981-7), 59,95 EUR. Der Band gibt die Beiträge der 12. Tagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit wieder, die vom 22. bis 23. November 2013 in Kooperation mit der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. unter dem Titel „Höchstgerichte im Heiligen Römischen Reich – Stand und Perspektiven der Forschung“ in Wetzlar stattfand. Sowohl die Tagung dieses interdisziplinären Netzwerks von Allgemeinund Rechtshistorikern, die inzwischen mehrere Fortsetzungen gefunden hat, als auch der Tagungsband zeigen, dass „die Höchstgerichtsbarkeit nach wie vor ein sehr ertragreiches Forschungsfeld“ (8) darstellt. In ihrer Einleitung resümieren die Herausgeber den Stand der Forschung zu den beiden Reichsgerichten, die inzwischen eher als paralleles und komplementäres „Doppelangebot“ (26) denn als konkurrierende Institutionen verstanden und wahrgenommen werden. In zwei ausführlichen Kapiteln stellen sie dem noch keineswegs vollständig beleuchteten Reichskammergericht den Reichshofrat gegenüber. Die sich anschließenden Aufsätze veranschaulichen die zeitliche und thematische Bandbreite, durch die sich moderne Studien zu den Höchstgerichten auszeichnen. Daniel Luger stellt mit dem ältesten bekannten Amtsbuch des königli-
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chen Kammergerichts Friedrichs III. für die Jahre 1442 bis 1451 eine bislang unbeachtete Quelle zur Reichsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert vor und demonstriert daran gleichermaßen Kontinuität und Wandel des königlichen Gerichtswesens am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Der Codex bietet auf 120 Blättern eine Fülle an bislang unbekannten Informationen zur Aktivität des Kammergerichts in der frühen Regierungszeit Friedrichs III., so etwa zur Sitzungsfrequenz, zu inhaltlichen Schwerpunkten in den Verfahren und zur differenzierten Produktion von Prozessschriftgut. Robert Riemer setzt anschließend die Tätigkeit des Reichskammergerichts in Relation zu kriegerischen Konflikten. Am Beispiel der frühneuzeitlichen Reichsstadt Frankfurt am Main weist er zum einen kriegsbedingte Einbrüche der Inanspruchnahme des Gerichts nach. Zum anderen generierten Kriege, gerade in Finanz- und Handelsmetropolen wie Frankfurt, selbst Auseinandersetzungen und Prozesse. Der Krieg war somit „Motor der Verflechtung“ von Militär, Handel und Justiz; es entstand „Dynamik durch Gewalt“, wie es aktuelle Tagungstitel formulieren1. Zudem wurde Krieg in Prozessen als Argument verwendet (etwa als Grund für ausbleibende Lieferungen), wobei dahingestellt bleiben muss, ob dies tatsächlich zutraf oder lediglich vorgegeben wurde. Ulrike Schillinger stellt Bezüge zwischen den beiden Reichsgerichten und dem Hofgericht Rottweil her, indem sie die Neuordnung des dortigen Verfahrens 1572 vor der Folie der Reichskammergerichtsordnung von 1555 betrachtet. Die Rottweiler Ordnung orientierte sich zwar an der des Kammergerichts; Schillinger weist aber noch weitere Einflüsse nach, etwa die nach 1555 ergangenen Reichsabschiede und Gemeinen Bescheide, und verortet das Rottweiler Hofgericht in einem Spannungsfeld zwischen „Streben nach Attraktivität für den Rechtsuchenden“ und „Konservierung der bestehenden Formen“ (69). Als Desiderat benennt sie die weitgehend unerforschten personellen Verflechtungen zwischen dem Rottweiler Hofgericht und dem Reichshofrat in Wien. Der Akt des Supplizierens stellte eine gängige Kommunikationspraxis zwischen Untertanen und Obrigkeiten dar, weshalb Suppliken als „integraler Bestandteil der sich in der Frühneuzeit verdichtenden Kommunikation zwischen Herrschern und Untertanen“ (72) anzusehen sind, so Ulrich Hausmann und Thomas Schreiber. Sie präsentieren erste quantitative und qualitative Ergebnisse zur inhaltlichen Bandbreite des Supplikationswesens, der Häufigkeit von Bittschriften reichsmittelbarer Untertanen und deren weit gestreuter geographisch-politischer, sozialer und konfessioneller Herkunft. Gerade im Hinblick auf die letztgenannte Kategorie sollten die Befunde freilich nach Konfessionen aufgeschlüsselt und die Akten dahingehend ausgewertet werden, in wie vielen Fällen die Konfession(en) 1
„Der Krieg als Motor der Verflechtung? Globale Konflikte der Frühen Neuzeit“, GeorgAugust-Universität Göttingen, 3.–4.11.2016. „Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts“, Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und die Abteilungen für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, 7.–9.9.2016.
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der Parteien tatsächlich auch inhaltlich eine Rolle spielte(n). Die Autoren jedenfalls schlussfolgern aus ihrem Befund (Angaben zur Konfession in 7 % der Fälle), das konfessionelle Zeitalter sei „in einem weit geringeren Maß konfessionell“ (89) gewesen als bisher angenommen. Dass aber Protestanten, die im Sample Hausmanns und Schreibers überrepräsentiert sein dürften (sie behandeln die vorwiegend protestantischen Reichsstädte Nürnberg, Augsburg und Frankfurt), gegenüber dem dezidiert altgläubigen Kaiser und seinen Räten ihre Konfession möglicherweise ganz bewusst und aus dem gleichen Grund verschwiegen, aus dem katholische Supplikanten sie demonstrativ nannten, nämlich zugunsten höherer Chancen auf Gewogenheit und Erfolg im Prozess, erwägen die Autoren nicht. Fabian Schulze stellt die oberdeutschen Reichskreise den Reichsgerichten hinsichtlich ihrer Rolle bei der Bekämpfung der Kipper- und Wipperkrise 1618– 1626 als „eine der größten grenzüberschreitenden Münz- und Währungskrisen im frühneuzeitlichen Europa“ (97) in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Dies tut er auf der Grundlage der Münzprobationstagsakten süddeutscher Reichskreise. Während er der Reichsjustiz Untätigkeit in der Angelegenheit attestiert – möglicherweise, weil der Kaiser wie auch viele seinem schlechten Beispiel folgende Fürsten sich mit Beginn des Dreißigjährigen Kriegs nicht mehr an die grundlegenden Prinzipien der Reichsmünzordnung gebunden fühlte –, zeigt Schulze die Lösungswege auf, die die Kreise beschritten. Sie nahmen insgesamt eine viel aktivere Rolle in der unmittelbaren Krisenbewältigung ein als die Reichsjustiz und traten bisweilen sogar selbst als „gerichtsähnliche Instanzen“ (116) auf. Einen ganz anderen Zugang zu den Quellen wählt Christel Annemieke Romein: Sie untersucht, welche Rolle Begriffe wie Vaterland bzw. patria und Patriot in Rechtsangelegenheiten der Landgrafschaft Hessen-Kassel mit ihrem landsässigen Adel um die Mitte des 17. Jahrhunderts spielten. Die Behauptung, ein Patriot zu sein, war juristisch konnotiert, wie Romein anhand konkreter Prozessbeispiele zeigt. Das Argument des Patriotismus diente dem Adel als alternative Rechtsgrundlage, um gegen die landgräfliche Obrigkeit, die man als unpatriotisch disqualifizierte, und deren absolutistisch anmutende Maßnahmen vorzugehen. Konträr zu älteren Arbeiten weist die Autorin nach, dass die Vaterlandsrhetorik nicht ausschließlich vom Adel verwendet wurde, sondern auch – wenngleich eher reaktiv – von landgräflicher Seite. Wie dieser Diskurs am Reichsgericht wirkte, vor dem die Angelegenheit ausgetragen wurde, bleibt indes unbeachtet. Thomas Dorfners Beitrag untersucht mit der Patronage am Reichshofrat in der Regierungszeit Leopolds I. und seiner beiden Söhne eine „Hinterbühne“ (138) der reichsgerichtlichen Aktivitäten. Anhand von Empfehlungsschreiben, mit denen sich Reichshofräte bei reichsständischen Prozessparteien für die Bestallung eines bestimmten Prozessvertreters einsetzten, geht er der Frage nach, welche neuen Erkenntnisperspektiven diese Quellengattung birgt, und demonstriert, dass sie nur eine von vielen informellen Interaktionen zwischen Reichshofräten, Reichshofratsagenten und Prozessparteien abbildet. In der Republik Bern war für Streitigkeiten in Zivilsachen der Große Rat in oberster Instanz zuständig und bildete somit die Spitze des vierstufigen Instanzenzuges. Ihn beleuchtet Carlo Steiner und betritt damit weitgehend Neuland, denn
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im Gegensatz zum Reich liegen zu den Höchstgerichten im Raum der Eidgenossenschaft kaum Untersuchungen vor. Steiner ordnet die Streitgegenstände in 20 Kategorien, die er in vier Gruppen zusammenfasst: Konflikte um kollektive Ressourcen, Konflikte mit der Obrigkeit und den Gemeinden, familienrechtliche Konflikte sowie solche um private Ressourcen (Erb-, Sachen- und Schuldrecht). Stefan Andreas Stodolkowitz untersucht die Verfahrenswirklichkeit des Zivilprozesses am Oberappellationsgericht Celle am Ende des Alten Reiches. Er betont die enge Verbindung zwischen Territorialjustiz und Reichsgerichtsbarkeit in Form einer „Gesamtrechtsordnung, zu deren Funktionieren alle Ebenen gleichermaßen beitrugen“ (176). Rechtsmittel wurden in Celle vor ihrer Zulassung einer eingehenden Prüfung unterzogen: Zwei Drittel wurden außerhalb des förmlichen Appellationsprozesses abgeschlagen; für die zugelassenen Fälle – Ende des 18. Jahrhunderts nur noch rund 5 % – entwickelte man die Praxis, das Urteil aufzuheben und das Verfahren an die Vorinstanz zurückzuverweisen, was die Territorialgerichte stärkte und die Reichsgerichte entlastete. Stodolkowitz ermuntert zum Vergleich mit anderen Territorialgerichten, zu deren Verfahrenspraxis es bisher an einschlägigen Untersuchungen mangele. Sie setzten ihre Tätigkeit im Gegensatz zu den Reichsgerichten nach dem Ende des Alten Reiches zunächst weitgehend fort. Der Autor versteht sie daher als „die Brücke, die den gemeinen Zivilprozess der frühen Neuzeit mit dem modernen Zivilprozess verbindet“ (193). Stefan Xenakis schließt den Band mit seinem Beitrag zu Untertanenprozessen an den Höchstgerichten des Reiches und der Erkenntnis ab, dass diese ein häufiges Phänomen darstellten. Die Reichsgerichte sieht er eher als „Steuerungsinstanz“ (197) zwischen Obrigkeit und Untertanen, die mit ihrer Rechtsprechung demnach weniger die Beendigung von Konflikten durch ein Urteil als vielmehr deren Einhegung und die Vermittlung zwischen den Parteien betrieben. Seine Analyse der diesbezüglichen Literatur konzentriert sich auf entscheidende Schlüsselsituationen von Konflikten und entwickelt die These, dass sich vor allem die häufige Einflussnahme von Nachbarterritorien im eigenen Interesse hinderlich auf die Konfliktlösung auswirkte. Die meisten Beiträge entspringen Dissertationsprojekten, die zum Zeitpunkt der Tagung (2013) noch nicht abgeschlossen waren. Sie lassen sich aufgrund ihrer – der Konzeption und Ausrichtung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit entsprechenden – Bandbreite und hohen Spezifität kaum zusammenfassen oder sinnvoll in Sektionen gruppieren, weshalb auch der Tagungsband auf eine inhaltliche Strukturierung verzichtet. Was die Aufsätze zusammenhält, ist der gemeinsame, mehr oder minder stark ausgeprägte Bezug zur Reichsgerichtsbarkeit. Diese thematische Offenheit ist für Nachwuchstagungen üblich und bis zu einem gewissen Grad sinnvoll, und es gelingt den Herausgebern tatsächlich, die Kohärenz zu wahren. Besonders hervorzuheben ist die Eigengeschichte der Höchstgerichte und ihrer Angehörigen, die in diesem Band erfreulich starke Beachtung findet. Umwelt- und Wirtschaftshistoriker arbeiten immer noch sehr selten mit den Akten der Gerichte, doch auch hier beschreitet der Band neue Wege. Das Verdienst der Netzwerktagungen liegt sicher darin, wie es Stefan Andreas Stodolkowitz formuliert, „mehr Perspektiven eröffnen als Ergebnisse präsentieren“ zu wollen (187).
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Diese Maxime, die die Forschung zur Höchstgerichtsbarkeit voranzutreiben und zu bündeln vermag, hat der Band vortrefflich erfüllt. Andreas Flurschütz da Cruz
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WOLFGANG WÜST, MICHAEL MÜLLER (Hg.): Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im spatial turn. Tagung bei der Akademie des Bistums Mainz, Erbacher Hof, 3.–5. September 2010 (= Mainzer Studien zur Neueren Geschichte 29), Frankfurt am Main: Peter Lang 2011, 490 S., (ISBN 978-3-631-60963-7), 78,80 EUR. Die sechs bzw. zehn Reichskreise, die 1500/1512 ins Leben gerufen wurden, fristeten in der historischen Forschung lange ein Schattendasein, rücken aber seit rund zwanzig Jahren verstärkt in den Fokus. Besteht dabei über einige grundlegende Aspekte, z. B. das gute Funktionieren des nicht von einer Vormacht dominierten Schwäbischen und Fränkischen Reichskreises, Einigkeit, gehen die Meinungen zu anderen Fragen auseinander. So nehmen die Herausgeber des vorliegenden, auf eine 2010 in Mainz durchgeführte Tagung zurückgehenden Bandes die These Peter Claus Hartmanns, dass die Reichskreise Regionen konstituierten, zum Anknüpfungspunkt, „den Forschungsstand zu bilanzieren und neue Perspektiven zu eruieren“ (13). Hierzu versammeln sie unter dem Paradigma des spatial turn Beiträge von 21 Autorinnen und Autoren, darunter beinahe alle namhaften Reichskreishistoriker, und gliedern diese in vier Abschnitte. In „Sektion I: Die Reichskreise im Verfassungsgefüge des Alten Reiches“ zeichnet Tobias Riedl die Diskussion um die kulturwissenschaftlichen turns sowie speziell um den spatial turn nach und bietet so gewissermaßen die methodologische Einführung. Johannes Burkhardt untersucht die Stellung der Reichskreise innerhalb der Reichsverfassung und schlägt in der Frage, ob diese als Ergänzung der Reichsgewalt oder der Landesgewalt zu sehen sind, eine Charakterisierung als „verfassungsmäßige Einspringinstitution“ und somit als „dritte Gewalt“ vor. Peter Claus Hartmann gibt einen routinierten Überblick über „Entstehung, Funktionen und Leistungen“ der Reichskreise, bevor Roland Sturm Überlegungen zur „Raumkonzeption in Europa aus politikwissenschaftlicher Sicht“ anstellt. Wolfgang E. J. Weber untersucht die – quantitativ geringe und qualitativ kritische – Wahrnehmung der Reichskreise im politisch-rechtlichen Diskurs des 17. und 18. Jahrhunderts. Harm Klueting rückt schließlich die Rolle der geistlichen Fürsten in den Blickpunkt und erklärt deren fortschreitenden Bedeutungsverlust auf Kreisebene mit dem kanonischen Verbot des Kriegsdienstes für Kleriker: Das machtvolle Kreisobristenamt blieb ihnen dadurch verwehrt. Die „Sektion II: Außenwahrnehmung und Interdisziplinärer Diskurs“ bietet einen interessanten Perspektivwechsel, indem sie die Reichskreise von außen betrachtet, und zwar in der zeitgenössischen Wahrnehmung italienischer Diplomaten (Matthias Schnettger), aus der Sicht französischer Historiker und Geographen um 1900 (Thomas Nicklas) sowie von frühneuzeitlichen Reisenden (Axel Gotthard). In einem (nicht ganz geglückten) Vergleich sucht András Forgó nach Parallelen
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zwischen den Reichskreisen und der Verwaltungsstruktur des Königreichs Ungarn. Andreas Otto Weber stellt in einem kurzen Abriss dar, wie sich der Fränkische Kreis im Laufe des 16. Jahrhunderts trotz massiver macht- und religionspolitischer Differenzen und gewalttätiger, auch intracircularer Auseinandersetzungen zu einem funktionstüchtigen und effektiv handelnden Organ entwickeln konnte. In „Sektion III: Reichsreise und Regionen – Raumkonzeption in und für Europa“ stellt Karl Härter dar, wie „Ordnungsnormen, Sicherheitspolitik und Strafverfolgung“ der Reichskreise grenz- und konfessionsübergreifende Ordnungsund Sicherheitsräume definierten, die im Alten Reich aber mit anderen Räumen verwoben waren. Alexander Jendorff geht der Frage nach, ob „die (neuen) Reichskreise die bis dahin gewachsenen Regionen ersetzten oder diese substituierten“ (252), wobei er für den Kur- und den Oberrheinischen Kreis zu dem Schluss kommt, dass diese während des 16. Jahrhunderts das traditionelle regionale System um ein weiteres Handlungsfeld ergänzten. Am Beispiel der Region im Westen des Reiches zwischen Kleve und dem Elsass zeigt Konrad Schneider, wie es nicht gelang, einen einheitlichen Währungsraum zu etablieren, da aufgrund qualitativen und quantitativen Mangels an Münzen immer wieder ausländisches Geld als Ersatzwährung herangezogen wurde. Markus Nadler untersucht die Rolle des Bayerischen Reichskreises während des Dreißigjährigen Kriegs und am Beispiel Pfalz-Neuburgs die Handlungsmöglichkeiten seiner Mitglieder, die insgesamt jedoch nicht sehr ausgeprägt waren. Die abschließende „Sektion IV: Kreiskonvente, Kreisexekutive, Kreisassoziationen – supra-territoriale Kommunikation und frühmoderne Politik“ nimmt die Verwaltungstätigkeit stärker in den Blick. So spiegelt Wolfgang Wüst die „Arbeit frühmoderner Kreiskonvente in Schwaben, Franken und Bayern“ an der meist pejorativen Geschichtsschreibung des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts und kommt dabei zu positiveren Urteilen. Komplementär zu Alexander Jendorff untersucht Michael Müller den Kur- und den Oberrheinischen Kreis während des 17. und 18. Jahrhunderts und zieht das Fazit, dass u. a. aufgrund der Personalunion an der Spitze ein effektives Handeln möglich war, das schließlich eine „politische Region“ (346) etablierte. Max Plassmann vergleicht die militärischen Kontingente der Kreisassoziationen mit denen stehender Heere und relativiert auf diese Weise ältere Forschungsurteile über die mangelnde Qualität der Kreistruppen. Anhand fünf verschiedener Publikationsformen – juristische Fachliteratur, Flugschriften, Kalender, topographische Werke und Nürnberger Tageszeitungen – analysiert Nicola Humphreys die öffentliche Wahrnehmung des Geschehens auf Kreistagen. Abweichend von Wolfgang E. J. Weber beobachtet sie durchaus eine breite Rezeption. Martina Heller widmet sich der „Kriminalitätsbekämpfung im Fränkischen Reichskreis“ anhand der grenzüberschreitenden Vagantenverfolgung, wobei sie auch einen Blick auf die Kooperation mit den Reichsrittern wirft, die ja nicht zu den Reichskreisen gehörten. Ludolf Pelizaeus schließt den Band mit seinem Vergleich zwischen Oberrheinischen Kreis und Steiermark hinsichtlich der Verschickung von Sträflingen auf die Galeeren im 18. Jahrhundert ab. Den Autorinnen und Autoren, die entweder auf jahrzehntelange Forschungen zurückgreifen oder neueste, etwa im Rahmen von Dissertationen erzielte Ergeb-
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nisse präsentieren, gelingt es, bekannte Einsichten neu zu akzentuieren sowie neue Schwerpunkte in der Reichskreisforschung zu setzen. Nicht erwarten darf man allerdings eine profunde Diskussion über das Paradigma des spatial turn. Dazu streifen zu viele der Beiträge diesen Ansatz nur am Rande, und methodisch wird er kaum konsequent angewendet. So bleibt die Frage, warum dieser ob seiner Beliebigkeit in der Anwendung oft kritisierte Begriff hier an so prominenter Stelle im Titel auftaucht. Angemerkt werden können zudem einige redaktionelle Unsauberkeiten (wie die z. T. falsche Nummerierung der Fußnoten im Beitrag von Pelizaeus), die jedoch durch das gerade in Sammelbänden sehr hilfreiche Ortsund Personenregister wieder wettgemacht werden (allerdings: Bamberg war nie Erzstift). Trotz dieser Kritikpunkte ist ein positives Fazit zu ziehen: Wer sich mit den Reichskreisen beschäftigen möchte, muss diesen gelungenen Band zur Hand nehmen. Johannes Staudenmaier
Bamberg/Nürnberg
MICHAEL BUSCH u.a. (Hg.): Die schwedische Landesaufnahme von Pommern 1692–1709. Perspektiven eines Editionsprojekts. Beiträge des Workshops am 9. und 10. Oktober 2009 im Pommerschen Landesmuseum Greifswald (= Die schwedische Landesaufnahme von Vorpommern 1692–1709, Sonderveröffentlichung 2), Kiel: Ludwig 2011, 200 S., 47 Abb., (ISBN 978-3-86935-050-9), 24,90 EUR. NICOLÁS BROCHHAGEN: Die landesherrliche Visitation in Grebenstein 1668. Eine Fallstudie zur Herrschaftsvermittlung durch Visitationsverfahren in der Landgrafschaft Hessen-Kassel (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 165), Darmstadt/Marburg: Historische Kommission für Hessen 2012, 125 S., 7 Abb., (ISBN 978-3-88443-320-17), 18,00 EUR. INGRID BAUMGÄRTNER (Hg.): Fürstliche Koordinaten. Landesvermessung und Herrschaftsvisualisierung um 1600 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 46), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014, 356 S., (ISBN 9783-86583-817-9), 60,00 EUR. Konsens der Forschung zur frühneuzeitlichen Herrschaftspraxis ist die Erkenntnis, dass die Wissensproduktion der herrschaftlichen Verwaltung verschiedene Aspekte mit sich brachte. Zum einen ging es den Amtsträgern um Informationsgewinnung zur rationaleren und besseren Herrschaftsausübung. Dies implizierte zugleich die Visualisierung der Herrschaft vor Ort: Nur die Vertreter des Fürsten durften Informationen erheben. Diese Ortstermine boten jedoch den Untertanen immer auch die Möglichkeit der Beteiligung und Einflussnahme. Insofern lassen sich die drei vorliegenden, auf den ersten Blick heterogenen Werke gemeinsam unter den Stichworten „Wissensproduktion und Herrschaftsvermittlung“ besprechen. Ein 2011 erschienener interdisziplinärer Tagungsband stellt die schwedische Landesaufnahme von Pommern zwischen 1692 und 1709 sowie das Vorhaben
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ihrer digitalen Edition vor. Diese kartographische und statistische Erfassung des seit 1648 zum Königreich Schweden gehörenden Teil Pommerns gilt als ältestes einheitliches Katasterwerk von Gebieten im heutigen Deutschland. Es umfasst mehr als 900 Ur- und 700 Reinkarten sowie 70 deskriptive Bände und hat damit eine Beschreibungsdichte, wie sie in anderen Teilen Deutschlands erst im 19. Jahrhundert erreicht wurde. Schon nachdem die Karten und Bände Anfang des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt worden waren, wurde die Edition dieses gewaltigen Werks beschlossen. Das Vorhaben machte zunächst jedoch nur zögerliche Fortschritte und schlief nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein. Erst nach der Wiedervereinigung konnten die Editionsbemühungen wieder aufgenommen werden, im Zeichen des informationstechnologischen Fortschritts indes unter ungleich besseren Vorzeichen. Ziel der Institutionen, die sich zu einer Kooperation zusammengeschlossen haben – das Archiv Greifswald, die Universitäten Greifswald und Rostock, die Historische Kommission für Pommern sowie die DFG – ist nun eine internetbasierte Edition der Katasterkarten inklusive Georeferenzierung und Vektorisierung sowie der beschreibenden Texte einschließlich einer Übersetzung ins Deutsche. Der Tagungsband stellt dieses Programm näher vor und fasst den damaligen Bearbeitungsstand zusammen. Ferner gibt er einführend einen Überblick über schwedische Vermessungsarbeiten außerhalb Pommerns, d. h. in Schweden selbst (1630–1655) sowie in den Ostseeprovinzen Livland, Estland und Ösel (zwischen 1681 und 1710), und schildert das dänische Äquivalent der Erfassung des nördlichen Vorpommerns (1717/18). Der abschließende Beitrag von Stefan Kroll zu Forschungsperspektiven der Auswertung geht zudem kurz auf Fragen der Herrschaftspraxis ein, etwa die Einflussnahme lokaler Herrschaftsträger auf die Erfassungen. Aus verschiedensten Perspektiven wird somit ein Editionsvorhaben vorgestellt, das ähnlich ambitioniert ist wie die damalige Landesaufnahme selbst. Auch wenn die einzelnen – gelungenen – Beiträge immer wieder auf die Genese der Quellen eingehen, wäre eine ausführliche historische und quellenkundliche Einleitung zu Beginn des Bands wünschenswert gewesen. In seiner von Stefan Brakensiek betreuten Magisterarbeit untersucht Nicolás Brochhagen die landesherrliche Visitation im hessisch-kasselischen Amt Grebenstein und der gleichnamigen Stadt aus dem Jahre 1668. Wie er in seiner instruktiven, die Kulturgeschichte des Politischen vorstellenden Einleitung erläutert, möchte der Autor die Funktion der Visitation in Bezug auf die Herrschaftsvermittlung klären, d. h.: Welchen Einfluss hatte die im Rahmen der Visitation als praktisches Verfahren erfolgende diskursive Wissensproduktion auf die Dynamik der Machtbeziehungen? Und inwieweit konnten die Untertanen hier Einfluss nehmen? Zu diesem Zweck stellt Brochhagen zunächst den Wandel der Visitationspraxis von einem kirchlichen zu einem landesherrlichen Instrument dar und gibt einen kurzen Überblick über die Visitationen in der Landgrafschaft Hessen-Kassel bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. In seinem Hauptkapitel widmet er sich dann ausführlich der Visitation des Jahres 1668: Eingebettet in eine Schilderung der lokalen administrativen und gerichtlichen Strukturen analysiert er minutiös die am Visitationsverfahren beteiligten Akteure – Zentralverwaltung, lokale Amtsträger, visitierte Beamte und Untertanen – sowie die Schriftstücke selbst. Denn wie für
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die Frühe Neuzeit üblich, erfolgte die Visitation über einen Fragebogen, der im hier untersuchten Fall 91 Fragen umfasste. Die teilweise zögerlich und teilweise mit Verweis auf das eigene Nicht-Wissen überhaupt nicht gegebenen Antworten der Visitierten bezeichnet Brochhagen als flexibel und selektiv, wobei er insgesamt fünf verschiedene Strategien identifiziert. Auffallend sind allgemein die häufigen Beschwerden über Amtsträger, die sich nicht an die Gesetze halten. Hier scheint durchaus das politische Wissen der Visitierten auf, die sich immer wieder auch auf die zentralen frühneuzeitlichen Ordnungskategorien wie das alte Herkommen, die Wohlfahrt oder den gemeinen Nutzen beziehen. Die intensive mikrohistorische Studie, die auch durch einen ausführlichen Anhang überzeugt, kommt zu dem Schluss, dass der „Visitation als Verfahren der Herrschaftsvermittlung sowohl Disziplinierungseffekte, als auch eine Förderung der Akzeptanz fürstlicher Herrschaftspraxis auf lokaler Ebene zugeschrieben werden“ können (102). Bemängelt werden muss abschließend lediglich die häufig falsche Kommasetzung, die den Lesefluss allzu oft hemmt. Einen bemerkenswerten Schwerpunkt setzt der von Ingrid Baumgärtner herausgegebene Sammelband zur „Landesvermessung und Herrschaftsvisualisierung um 1600“. Ausgehend von der gut erhaltenen und dokumentierten Sammlung des Reißgemachs als persönliches Arbeitszimmer des sächsischen Kurfürsten August (reg. 1554–1586) wird der „Zusammenhang zwischen der Ausbildung eines frühneuzeitlichen Flächenstaates und dessen Herrschaftsdurchdringung mittels Geodäsie und Kartographie“ (14) untersucht. Besondere Aufmerksamkeit erfahren dabei die annähernd 8 000 Werkzeuge und Instrumente, die in der aus dem Reißgemach hervorgegangenen Staatlichen Kunstkammer Dresden aufbewahrt werden, um zu erörtern, „ob, wann und inwieweit die neuen Technologien im Dienste herrschaftlicher Zielsetzungen eingesetzt wurden“ (ebd.). Diesem Thema widmen sich insbesondere die ersten beiden Aufsätze von Barbara Marx und Wolfram Dolz, die auch die persönliche Nutzung der Instrumente durch den Kurfürsten beschreiben. Die folgende Sektion mit drei Beiträgen schildert den übergeordneten Zusammenhang, d. h. das „Messen und Kartieren im frühneuzeitlichen Sachsen“. Anschließend werden andere deutsche Territorien wie Hessen und Bayern beleuchtet, wobei auch die Vermessung von Städten, v. a. im Rahmen von Fortifikationsbemühungen, thematisiert wird. Der vierte Abschnitt bietet schließlich eine vergleichende Perspektive auf Kartierungskampagnen in den norditalienischen Stadtstaaten und den Niederlanden. Die Beiträge können an dieser Stelle nicht im Einzelnen gewürdigt werden, das Gesamtergebnis lässt sich jedoch als äußerst gelungen bezeichnen. Die Konzeption des Bandes überzeugt ebenso wie die Qualität der einzelnen Aufsätze, deren Argumentation durch eine Vielzahl farbiger Abbildungen und Graphiken gestützt und veranschaulicht wird. Verdeutlicht wird hierdurch die zweifache Funktion nicht nur der Karten, sondern auch der Instrumente, nämlich den Raum beherrschbar zu machen, indem man ihn einerseits überhaupt erst einmal erfasst und andererseits durch diese Erfassung Herrschaft und politische Ziele symbolisiert. Ziel zukünftiger Forschungen zur „Kultur- und Technikgeschichte des Vermessens und Kartierens“ müsse es daher sein, „den
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praktischen Gebrauch und die Symbolhaftigkeit von Instrumenten und Karten stärker miteinander zu vernetzen“ (27). Johannes Staudenmaier
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STEPHAN STEINER: Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2014, 653 S., (ISBN 978-3-205-79499-8), 69,00 EUR. Die vorliegende Monographie, die engagiert argumentierende und inhaltliche spannende Druckversion der Habilitationsschrift von Stephan Steiner, behandelt ein Thema, das sich begrifflich nicht ganz leicht fassen und als Phänomen ebenfalls nicht einfach einordnen lässt – die als Deportationen interpretierten Verschickungen nicht zu duldender Untertanen in der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie. „Rückkehr unerwünscht“ ist somit eine ideelle und thematisch erweiterte Fortsetzung von Steiners Dissertation, die sich mit der Transmigration der Protestanten aus Kärnten beschäftigt hat. Der Fokus der Untersuchung liegt auf der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie, deren Entwicklung Steiner unter der Fragestellung betrachtet, inwieweit die Politik gegenüber Bevölkerungsgruppen, die nicht geduldet werden sollten, durch Phänomene und Begriffe von Gewalt und Unterdrückung interpretiert werden kann, die eigentlich erst das 20. Jahrhundert prägten. Als Leitlinien, die die Interpretation bestimmen, klassifiziert er neben der alles überspannenden „Deportation“ sechs „Schlüsselbegriffe“, über die er die Verbindung zwischen den Epochen herstellt: Rassismus, Kolonialismus, Genozid, Ethnische Säuberung, Kriegsverbrechen und Totalitarismus – Begriffe und Phänomene, die der Frühen Neuzeit zunächst einmal fern sind. So faszinierend, erfrischend und einleuchtend der auf diese Weise neu entwickelte andere Blick auf die frühneuzeitliche Habsburgermonarchie im Großen und Ganzen ist, so modifizierend wirkt der historische Einzelfall auf das große Bild, das diese Interpretation und Klassifizierung entwirft. Die jeweiligen Rahmenbedingungen brechen manche Analogie, und zu schmal wird der Pfad der Interpretation gerade durch den historischen Einzelfall. Wie ein roter Faden zieht sich die Rechtfertigung für die gewählte Perspektive durch den vorliegenden Band. Das Anliegen von „Rückkehr unerwünscht“, die Deportationsidee und -interpretation des 20. Jahrhunderts in die Frühe Neuzeit zurückzuführen, erfordert offenkundig eine Legitimation. Steiner betont unermüdlich, gegen eine „Verdrängungsgeschichte der Deportation“ anschreiben und die „zwar prinzipiell nachvollziehbare, jedoch allzu rigorose Anachronismus-Scheu“, die er Teilen der Historiographie vorwirft und die seiner Meinung nach zu einer „Lähmung“ geführt habe, überwinden zu wollen (512). Fast gebetsmühlenartig wiederholt sich die Feststellung des Autors, es könne nicht verboten sein, das 20. Jahrhundert mit der Frühen Neuzeit zu vergleichen. Neben allen Versuchen, sich gegen Vorwürfe abzusichern, er würde anachronistische Bezüge herstellen, räumt Steiner in seinen Ausführungen jedoch selbst ein, dass eine Eins-zu-einsÜbertragung von Begriffen und Phänomenen nicht immer so einfach ist.
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Grundsätzlich definiert Steiner „Deportation“ als „staatlich verordnete und planmäßig durchgeführte Zwangsverschickung von ausgewählten Bevölkerungsgruppen unter Beiziehung militärischer Eskorten oder anderer Bewachungseinheiten von einem Ort A nach einem Ort B, wobei Letzterer unter Strafandrohung meist lebenslänglich nicht mehr verlassen werden darf“ (32). Die wesentliche Unterscheidung zwischen der Deportation und verwandten Phänomenen wie der Emigration nimmt er insofern vor, als Letztere ab dem Zeitpunkt des Grenzübertritts „zumindest potenziell“ Handlungsspielraum bot (33). Auf der Basis dieser Definition entwickelt Steiner seine Interpretation der frühneuzeitlichen Deportationen in der Habsburgermonarchie. Die Brücke zwischen der Grundannahme, dass Deportationen frühestens als Phänomen des Kolonialismus betrachtet werden können, und der frühneuzeitlichen Situation schlägt er, indem er von der Überlegung ausgeht, in Österreich habe sich bereits nach der Rückeroberung der südöstlichen Gebiete eine Politik des Kolonialismus entwickelt, die sich allerdings nicht auf Gebiete außerhalb des eigenen Territoriums bezog, sondern als „Binnenkolonialismus“ für die Deportation von größeren und kleineren Bevölkerungsgruppen gesorgt habe. Diese Zuordnung eines Binnenkolonialismus zur Habsburgermonarchie ebnet somit der Deportationsidee den Weg in die Frühe Neuzeit, was die Interpretation dieser Epoche habsburgischer Geschichte unter dem Vorzeichen der Gewalt und sie begleitender Phänomene in den Vordergrund rückt. Ausführlich beschäftigt sich Steiner zunächst mit jenen Verschickungen unliebsamer Untertanen in anderen Ländern Europas, die sich seiner Definition zufolge als Deportationen klassifizieren lassen. So verortet er das erste frühneuzeitliche „Deportationssystem“ (60) in Portugal, wo seit dem 15. Jahrhundert die degredados verschickt wurden. Als direktes Vorbild für die Vorgänge in der Habsburgermonarchie identifiziert der Autor jedoch vor allem Spaniens Vorgehen gegen die Morisken; der habsburgische Verwaltungsapparat habe auf die spanischen Deportationspraktiken zurückgegriffen. Zieht man Steiners Analyse konsequent durch, ergibt sich so auch eine neue Markierung der Epochengrenzen. Die Deportation der Morisken bildet nämlich den Beginn der Moderne, wenn man diese unter dem Aspekt ihrer Gewaltgeschichte sieht – wobei Steiner feststellt, die Verschickung der Morisken sei nicht die „Ouvertüre zu einem danach immer heftiger aufbrandenden Konzert“, sondern sie sei „es bereits selbst“ gewesen (512). Von den europäischen „Deportationssystemen“, die Steiner auch für Frankreich, Russland, England, die Niederlande, die skandinavischen Länder und das Alte Reich beschreibt, wendet er sich der Habsburgermonarchie zu, deren Zielregionen für Deportationen die südöstlichen Gebiete, etwa das Banat, Siebenbürgen und die Militärgrenze, waren. Historische Beispiele, an denen er seine Theorie entwickelt, sind die Uskoken von Senj, die ins Banat abgesiedelten spanischen Exulanten in Wien, die protestantischen Transmigranten, der Temesvarer Wasserschub, die Salpeterer aus Vorderösterreich sowie die kroatischen und slawonischen „Tumultanten“. Auch wenn Steiner eine inhaltlich äußerst spannende, mit Weitblick an das Thema herangehende Studie vorgelegt hat, ist die Unterscheidung, ob Verschickungen als Deportationen, Transmigrationen, Auswanderungen oder Vertreibun-
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gen klassifiziert werden sollen, nicht immer einfach. Zwar hält das Wort „Deportation“ viele Vorteile bereit, um den Zwang, die obrigkeitliche Kontrolle sowie die Gewalt zu beschreiben, die mit der Verschickung, etwa im Fall der Protestanten in den habsburgischen Ländern nach Siebenbürgen, verbunden waren. Doch die Frage nach der Übertragbarkeit der Phänomene und der Begriffe stellt sich immer wieder. So könnte man bereits bei den Bewegungsmöglichkeiten der Deportierten in den neuen Siedlungsgebieten einhaken. Zu verschieden waren die Rahmenbedingungen, so dass nicht pauschal von einem fehlenden Handlungsspielraum gesprochen werden kann, wie dies nach der zugrunde gelegten Definition der Fall sein müsste. Auch der diachrone Vergleich birgt manche Gefahr. Die Möglichkeiten der Kontrolle, das Potenzial von Gewalt und Zwang, aber auch die rechtlichen Rahmenbedingungen unterscheiden sich in der Frühen Neuzeit doch deutlich von der Situation des 20. Jahrhunderts. So naheliegend und verführerisch der Begriff der „Deportation“ auch ist – ob er wirklich passend ist, bleibt fraglich. Nach dem Lesen von „Rückkehr unerwünscht“ bleibt somit ein ambivalentes Gefühl. Das Buch ist sprachlich exzellent – hinsichtlich der Formulierungsgabe wünscht man sich mehr wissenschaftliche Analysen dieser Art. Auch dramaturgisch ist der Band spannend und kreativ aufgebaut, manchmal allerdings etwas nachträglich psychologisierend, etwa wenn die Kindswegnahme als „zutiefst sadistisches Moment“ charakterisiert wird. Steiner wählt einen interessanten Blickwinkel, der alle Verbote ignoriert und Neues zu denken wagt, jedoch die Interpretation streckenweise zu einer Ideologie werden lässt. Astrid von Schlachta
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MARK HÄBERLEIN, MICHAELA SCHMÖLZ-HÄBERLEIN (Hg.): Stiftungen, Fürsorge und Kreditwesen im frühneuzeitlichen Bamberg (= Bamberger Historische Studien 13), Bamberg: University of Bamberg Press 2015, 202 S., (ISBN 978-386309-312-9), 17,50 EUR. Ein kurzes Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers leitet folgende Aufsätze über Stiftungen im frühneuzeitlichen Bamberg ein: „Der Antoni-Siechhof in Bamberg“ (M. Baumgartl, H. Silberer, M. Schmölz-Häberlein), „Das Reiche Almosen und die öffentliche Armenfürsorge in Bamberg“ (M. Berger, A. Lutz, F. Schilkowsky, A. Spenninger, M. Häberlein), „Die Aschhausenstiftung für Bamberger Bürgersöhne und -töchter im 18. Jh.“ (A. Herold). In den Kontext von Armenfürsorge, Armut und prekären Ökonomien passt der vierte Artikel von Franziska Deuter über „Schulden und Privatkredit im 18. Jahrhundert am Beispiel des Bamberger Heinrichsviertels“. Der fünfte Aufsatz von Michaela Schmölz-Häberlein beleuchtet die Bevölkerungsgruppe der Juden in der Bischofsstadt Bamberg; deren Stiftungstätigkeit berücksichtigt, soviel dem Band zu entnehmen ist, als einzige nicht nur die (Familien-)Mitglieder, die Schulen und Begräbnisgemeinschaften der eigenen Glaubensgemeinschaft, sondern auch Projekte der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Ein Beispiel wäre die Mitfinanzierung des Priesterseminars in Bamberg zwischen 1730 und 1738 durch den Hoffaktor Wolf Nathan.
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Während die anderen Beiträge vornehmlich pragmatisches Schriftgut, nämlich Rechnungen, Protokolle und Listen von Almosenempfängern auswerten, ergänzt Deuter das Spektrum, indem sie Gerichtsaufzeichnungen auswertet. SchmölzHäberlein untersucht in ihrem Beitrag „Jüdische Stiftungen im Bamberg des 18. und frühen 19. Jahrhunderts“ Testamente und Stiftungsbriefe zu den fünf zu Beginn des 19. Jahrhundert existierenden jüdischen Stiftungen. Mit dem Schwerpunkt auf Stiftungen der Armenfürsorge ergänzen die Artikel die neueren Studien zu den beiden städtischen Spitälern St. Katharinen und St. Elisabeth von Wolfgang Reddig (1998) und zum Waisenhaus auf dem Kaulberg von Kathrin Imhof und Sven Schmidt (In: MARK HÄBERLEIN, ROBERT ZINK (Hg.): Soziale Strukturen und wirtschaftliche Konjunkturen im frühneuzeitlichen Bamberg, Bamberg 2013). Um das Fazit vorwegzunehmen: Im Lichte der untersuchten Stiftungen erscheint quasi die ganze Bamberger Stadtgesellschaft (in verschiedenen Rollen, als Geber und als Empfänger) zumindest mit scharfen Streiflichtern beleuchtet vor den Augen der Leser, im Zeithorizont bis zur Säkularisierung des Hochstifts Bamberg. Zwei rote Fäden ziehen sich durch den Band: die institutionellen Formen der obrigkeitlich gesteuerten, jedoch privat alimentierten Armenfürsorge einerseits und die Lebensbedingungen und Überlebensstrategien jener breiten Bevölkerungsschichten, die teilweise als Hausarme in ärmlichen und ärmsten Verhältnissen lebten. Das bedeutete: Sie waren auf Kredite angewiesen (Deuter), viele indes auf die Almosen wohltätiger städtischer oder privater Stiftungen. Während die hauptsächlich in den 1970er und 1980er Jahren betriebene Forschung zur sozialen Schichtung der Stadtbevölkerung sich für die Analyse der Sozialstruktur vornehmlich auf Steuerregister stützte und damit ein relativ statisches Bild zeichnete, bietet nun die mikrohistorische Untersuchung von Stiftungs- und Gerichtsprotokollen zu privaten Schuldeintreibungsverfahren den Vorteil, dass – wie insbesondere im Artikel von Deuter – die Interaktionen der Akteure und Akteurinnen sichtbar werden. Die seit 1571 vom Almosenschreiber (nicht wirklich konsequent) geführten Almosen- und Bettelbücher geben ebenfalls Aufschluss über Lebenswege oder Lebensphasen von Almosenempfängern; gleichzeitig sind sie in Verbindung mit den Bettel- und Almosenordnungen und der Institution der Bettelvögte auch ein zunehmend elaboriertes Instrument der Ratsbehörden, die Kontrolle über das Armenwesen und damit über die unterstützten Personen zu üben (95). Und wer das hierfür ersonnene Bettelabzeichen tragen musste, dem haftete damit ein ausgrenzendes, (ab-)wertendes Stigmazeichen an (57–59). Almosenempfänger und besonders Empfänger/-innen von Waren- und Geldkrediten handelten in der face-to-face-Gesellschaft des Quartiers und der Stadt in den Bezugsfeldern von Familie, Nachbarschaft, Berufsgenossen, Glaubensgenossen (Juden/Christen) usw. Kredite waren immer Einsatz und Zeichen in einem vielfältigen sozialen Beziehungsgeflecht, in dem der oder die Einzelne bzw. die Familie stand, und sie waren – im Unterschied zum heutigen Kleinkredit bei der Bank – Elemente persönlichen Austauschs von Leistungen, Waren, Verpflichtungen und Gefälligkeiten. Diese Ergebnisse sind insgesamt nicht überraschend, wenn man die neuere Literatur berücksichtigt. Armut und Bedürftigkeit figurieren in den Beiträgen nicht nur als (statistisches) Abstractum, sondern gemäß den unterschiedlichen Stiftungsgründen und -zwecken
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in vielfältigen Facetten. Im ersten Beitrag erscheinen zunächst die Leprösen oder Sondersiechen, die im Antoni-Siechhof (Männer; die Frauen lebten im Frauensiechhof) ihr Leben in mehr oder minder strikter Absonderung von der Gesellschaft führten, von denen aber am Ende des Dreißigjährigen Kriegs nur noch eine Handvoll als Pfründner in der Institution lebten. Sie wandelte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts zu einer Pfründneranstalt zur Versorgung der Hausnotdürftigen Armen (30). Aus den Mitteln der Stiftung wurden indes auch wöchentlich Geldbeträge für Arme gespendet. Armut hat viele Gesichter. So kann man beginnen mit den auf sich allein gestellten kleinen Waisen, der Situation erwerbsunfähiger Dienstboten (45, 95) und weiter gehen mit den verminderten Chancen junger (elternloser) Bürgersöhne und -töchter (meist wohl aus der Gruppe hausarmer Stadtbewohner), deren Zukunftsaussichten durch die Gewährung eines Stipendiums bzw. einer einmaligen Aussteuerstiftung, der sogen. Godefridischen Stiftung, gebessert werden konnte: Bürgersöhne sollten aus der Stiftung des Fürstbischofs Johann Gottfried von Aschhausen mit Hilfe eines Stipendiums ein Handwerk [...] zu Vermeidung des Streunens Bettlens und anderer üblen folgen erlernen, Bürgertöchtern durch die Bezahlung einer Aussteuerpräbende ein Leben als ehrbare Handwerkergattin ermöglicht werden. Für diese Zwecke legierte Johann Gottfried von Aschhausen (†1622) in seinem Testament die hohe Kapitalsumme von 3 000 Gulden. Bezüglich des Stiftungszwecks hätte er sich auf berühmte Vorbilder in anderen Städten berufen können. Was es wiederum bedeutete, wenn ein Arbeitspaar (Heide Wunder) durch den frühen Tod des Partners getrennt wurde, erfuhren auch Ehepartner in Bamberg, deren wirtschaftliches Überleben als Witwer oder Witwe höchst prekär war. Dass vor allem Witwen in die Armut absanken, lässt sich anhand der überlieferten Rechnungen des Reichen Almosens zwischen 1677 und 1696 indes nicht belegen. In diesem Zeitraum waren maximal ein Drittel der Empfänger männlich, nur ein geringer Prozentsatz waren Kinder, die Mehrzahl jedoch Frauen. Von ihnen wurden 1677 ca. 30% als Witwe bezeichnet, von den 75 im Jahr 1696/97 unterstützten Frauen indes nur eine einzige. Jedenfalls erscheint „Armut als primär weibliches Phänomen“ (69 f.). Aufschlussreich ist gerade bei dieser Stiftung die Dauer, während der die betreffenden Personen Almosen bezogen: Von 477 Einträgen sind nur 76 Personen während vier oder mehr Jahren in den Listen eingetragen und waren somit längerfristig auf Unterstützung angewiesen. Doch nicht (nur) die von den Stiftungsverwaltern festgestellte bzw. anerkannte Bedürftigkeit eines Menschen gab den Ausschlag für die Unterstützung mit Nahrungs- und Geldspenden des Reichen Almosens; vielmehr entschied darüber der Rat nach Maßgabe der Finanzlage, die im Dreißigjährigen Krieg in eine drastische Schieflage geriet. Dass die Unterstützung gerade in Kriegszeiten ausblieb, in denen sie besonders nötig gewesen wäre, davon ist in diesem Buch mehrmals die Rede – stumme Zeugen der Not sind gewissermaßen die Lücken in den Rechnungsserien. Konkret zeugen davon die Einnahmeausfälle und der Rückgang der Kapitalzinsen (die SchuldnerInnen sind zahlungsunfähig) beispielsweise beim Reichen Almosen, wo als Krisenzeit das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts mit Preissteigerungen und der „kleinen Kipper- und Wipper-Inflation“ hervorsticht. Ganz konkret wird die Not
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im Antoni-Siechhof sichtbar, wo die jährliche Palmarumsmahlzeit, die rituell am Palmsonntag den Insassen, den auf dem Weg zur Lepraschau in Nürnberg im Antoni-Siechhaus gastierenden auswärtigen Leprösen sowie vielen Armen gereicht wurde, 1648 ganz ausfiel. Von diesem Zeitpunkt an wurde dieses vormals reichhaltige Festmahl massiv geschmälert, während von der entsprechenden Kapitalanlage bei der Stadtwochenstube seit 1632 112 Jahre lang keine Zinsen mehr eingingen. Im Unterschied zu (Stiftungs-)Urkunden belegen serielle Quellen wie Protokolle und Rechnungen die enge funktionale Verschränkung von Armenfürsorge und Kreditwesen, waren doch die Institutionen wie Spitäler, Leprosorien und das Reiche Almosen prominent im Kreditgeschäft aktiv. Denn sie nutzten die Stiftungskapitalien als Kapitalanlage, indem sie gewinnbringend Kredite verliehen. Als Empfänger kleinerer Kredite traten neben Einwohnern Bambergs auch viele Menschen aus dem Umland auf. Blieben die Renten aus Landbesitz und die Kapitalzinsen aus, wie das im Dreißigjährigen Krieg und den nachfolgenden Jahrzehnten der Fall war, verfügten die betreffenden Stiftungen nicht mehr über ausreichendes Betriebskapital. Seit dem Spätmittelalter bildet die christliche Sorge um die Sicherung des Seelenheils das Hauptmotiv von Mildtätigkeit und Armenunterstützung; das wird 1419 bei der Stiftung des Nürnberger Ehepaars Burkhard und Katharina Helchner explizit gesagt (Reiches Almosen). Ebenso erscheint im konfessionellen Zeitalter dieser durch die Fegefeuer-Vorstellung genährte Grundgedanke im Testament von Fürstbischof Johann Gottfried von Aschhausen (19, 47, 96–99). Demgegenüber stehen bei den jüdischen Stiftungen die Verpflichtung zur Gerechtigkeit gegenüber bedürftigen Glaubensgenossen und die Förderung des (jüdischen, aber auch christlichen) Gemeinwesens im Vordergrund (Schmölz-Häberlein). Das Buchprojekt ist aus einer Lehrveranstaltung an der Universität Bamberg im Wintersemester 2012/13 hervorgegangen, die sich seriellen Archivquellen zur frühneuzeitlichen Geschichte Bambergs widmete und den Schwerpunkt auf bislang kaum erforschtes pragmatisches Schriftgut aus dem 17. Jahrhundert legte. Es ist zu begrüßen, dass solche universitären Veranstaltungen nicht Sandkastenübungen bleiben, sondern zu exemplarischen regionalgeschichtlichen Studien ausgebaut werden. Dorothee Rippmann
Zürich
TILMAN HAUG: Ungleiche Außenbeziehungen und grenzüberschreitende Patronage. Die französische Krone und die geistlichen Kurfürsten (1648–1679) (= Externa. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 6), Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 2015, 540 S., (ISBN 978-412-22360-1), 79,90 EUR. Tilman Haug untersucht in seiner bei Christian Windler in Bern entstandenen Dissertation die Beziehungen zwischen der französischen Krone und den Kurfürsten von Köln und Mainz, Maximilian Heinrich von Bayern und Johann Philipp von Schönborn, im Zeitraum zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Frieden von Nimwegen. Am Beginn steht damit die Neujustierung reichsständischer Bündnispolitik durch deren ausdrückliche völkerrechtliche Bestätigung, am Ende der erste Höhepunkt der Expansionspolitik Ludwigs XIV., die das Vertrauensver-
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hältnis der Reichsstände zu Frankreich untergrub. Der Untersuchungsgegenstand zielt auf aktuelle Forschungsfragen, denn während die lange Zeit nahezu selbstverständliche Rückprojektion von Staatlichkeit auf vormoderne politische Beziehungen mittlerweile kritisch gesehen wird, bleibt die Frage, wann und wie man Staatlichkeit historisch verorten kann. Daran knüpft die Diskussion um ein „Westfälisches System“ an, das Souveränität und Nichteinmischung mit dem Westfälischen Frieden ansetzt und in dieser Form von vielen Historikern abgelehnt wird. Gerade die Beziehungen unmittelbar nach dem Westfälischen Frieden sind aber wenig erforscht, und vielfach muss man auf ältere Studien zurückgreifen, die ihre zeitgenössischen politischen Kategorien anwendeten. Die „ungleichen Außenbeziehungen“ zwischen Frankreich und den Reichsständen sind von besonderem Interesse, weil mit ihnen zwei Gemeinwesen in Beziehung standen, die bereits strukturell unterschiedlich waren. Die Kategorisierung des Heiligen Römischen Reiches war schon in der frühmodernen Staatsrechtslehre umstritten. Die moderne Geschichtswissenschaft bleibt unschlüssig in der Frage, ob sich Staatsbildung auf Reichs- oder auf Territorialebene vollzog oder ob das Reich zum Sonderfall wurde. Die Beziehungen von Mitgliedern eines Gemeinwesens zu auswärtigen Mächten stellen dabei eine Praktik dar, die durch den modernen Staatsbegriff delegitimiert, im Reich aber affirmiert wurde. Angesichts dessen, dass die Reichsgeschichte 1806 endet, bleibt die Diskussion über seine Entwicklungstendenzen ein Stück weit hypothetisch. Umso dringlicher ist es, dieser Diskussion eine solide Basis an Fakten in Bezug auf die Praktiken, den rechtlichen Rahmen und das Selbstverständnis der Akteure zu geben. Dazu trägt Haugs Studie wesentlich bei. Haug geht mit hoher methodischer Kompetenz an das Thema heran und reflektiert einleitend nicht nur ausführlich die Forschungsproblematik und sein eigenes Vorgehen, sondern fasst dieses in einem präzisen Arbeitsplan zusammen. Er arbeitet sich nicht an Quellen oder zeitlichen Abläufen ab, sondern präsentiert seine Ergebnisse nach analytischen Kategorien, die er unter Einbeziehung von Ansätzen moderner Diplomatiegeschichte wie der Kulturgeschichte des Politischen oder der von Christian Windler und Hillard von Thiessen im programmatischen ersten Band der Schriftenreihe „Externa“ postulierten akteurszentrierten Perspektive selbst entwickelt. Das macht die Untersuchung nicht nur inhaltlich, sondern auch für die weiteren methodischen Diskussionen über Verflechtungsund Diplomatiegeschichte relevant. Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile, an deren Ende jeweils eine pointierte Zusammenfassung der Zwischenergebnisse steht. Zunächst präsentiert Haug die Strukturen der von ihm untersuchten Außenbeziehungen, das heißt die Akteure der jeweiligen Netzwerke in ihren rechtlichen und politischen Handlungsräumen. Als zentrale Kategorie der Patronage identifiziert er Vertrauen und analysiert diese im zweiten Teil der Studie in ihrem jeweiligen kommunikativen Kontext. Der dritte Teil fragt nach den Normen der Patronage, wodurch insbesondere die anachronistische spätere Klassifizierung grenzüberschreitender asymmetrischer Beziehungen als Verrat oder Korruption konterkariert wird, während der Blick auf Normkonflikte zugleich deutlich macht, dass nicht jede Beziehung als legitime vormoderne Praktik gedeutet werden kann. Dass Haug zu seinen Ergebnissen für
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die geistlichen Kurfürsten, anders als der Titel suggeriert, auf der Basis von nur zwei Beispielfällen kommt und sich dabei vorrangig auf französische Quellen stützt, stimmt zunächst kritisch, doch kann er durchaus schlüssig den vermeintlich strukturellen Bedeutungszuwachs der Kurfürsten mit dem Westfälischen Frieden hinterfragen, indem er aufzeigt, dass es sich in den untersuchten Fällen um eine situationsbedingte Aufwertung handelte. Die beiden Jahrzehnte nach dem Westfälischen Frieden waren geprägt von dem Versuch, Sicherheit und Stabilität unter dem weiterhin gültigen Wahrnehmungsparadigma der habsburgischen Bedrohung herzustellen. Die aktive reichsständische Diplomatie mit dem Rheinbund von 1658 als sichtbarem Ergebnis bewegte sich in einem Zeitfenster, das sich bald wieder schloss. Den Beziehungen zur französischen Krone, die vermeintlich die reichsständische Freiheit zum Ausdruck brachten, wurde von eben dieser Krone stets ein enger Handlungsrahmen gesetzt. Insgesamt schlägt Haug eine Schneise für Neubewertungen der reichsständischen Spielräume, an der künftige Historiker weiterarbeiten können, wobei die unterschiedlichen Parameter geistlicher und weltlicher Reichsstände noch hinterfragt werden müssten. Haugs Studie macht insgesamt deutlich, dass die von ihm untersuchten Beziehungen weder Beziehungen zwischen Staaten noch zwischen Institutionen oder regierenden Fürsten waren. Es handelte sich vielmehr um komplexe Verbindungen zwischen Netzwerken, innerhalb derer sich jeder einzelne Akteur in seinem eigenen Geflecht aus Loyalitäten und Interessen befand. Die Dynastie blieb ein zentraler Faktor, und politische Parteinahme oder Gegnerschaft waren daran ausgerichtet. Delegitimerungen auswärtiger Beziehungen oder Umorientierungen blieben in diesem Rahmen und waren kein Ausdruck eines etwaigen Staatsverständnisses. Konkrete Interessen wie materieller Gewinn oder sozialer Aufstieg strukturierten die Beziehungen. Rhetorische Formen und symbolische Praktiken waren kein Selbstzweck, sondern ein Mittel der Interaktion, die auf eben diese konkreten Interessen zielte. Haugs Studie liefert wichtige Impulse zur Einordnung reichsständischer Politik, aber er dekonstruiert aus diplomatiehistorischer Perspektive zugleich den französischen Absolutismus. Anknüpfend an Wolfgang Reinhard bewertet Haug die personellen Verflechtungen in den französischen Außenbeziehungen nicht als Konkurrenz zur Modernisierung, sondern sieht Entwicklungen wie die Abgrenzung von Kompetenzen oder Ausrichtung der Loyalität auf die Krone gerade durch die personellen Netzwerke getragen. Haugs methodisches Vorgehen setzt grundsätzlich ein hohes Maß an Faktenkenntnis voraus, doch es kommt durchaus zu Fehlurteilen. So übernahm der französische König mit dem Westfälischen Frieden nicht die Rechte des Kaisers im Elsass, sondern die einer habsburgischen Nebenlinie. Keiner von beiden hatte dafür zuvor Sitz und Stimme auf dem Reichstag gehabt, so dass diese bei der Übertragung dem französischen König nicht verweigert wurden, sondern es war eine französische Forderung, diese bei der Übertragung neu zu gewähren. Die Entscheidung, die habsburgischen Herrschaftsrechte zu souveränem Besitz zu übernehmen, ging denn auch, was bei Haug nicht deutlich wird, auf eine kaiserliche Initiative bei den Friedensverhandlungen in Münster zurück, durch die eine französische Reichsstandschaft verhindert werden sollte. Die Rezensentin, die
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Haug zu diesem Thema zitiert (110), kann ausschließen, dazu etwas Anderes geschrieben zu haben. Es gelingt Haug auch nicht immer, den eigenen methodischen Anspruch einzulösen. So greift er trotz akteurszentrierter Perspektive die konventionelle Vorstellung auf, die französischen Könige hätten konsequent nach der Kaiserkrone gestrebt und diese mit ihrem eigenen Selbstverständnis beansprucht. Dabei setzt er die Kandidatur von Franz I. 1519 in eine Linie mit der sehr vagen Option einer Kandidatur Ludwigs XIV. 1658. Die französischen Könige gingen mit der Möglichkeit, Kaiser zu werden, jedoch realpolitisch um, auch wenn dies sicher eine Wunschvorstellung war. 1658 stand, wie Haug selbst darlegt, das Ziel im Vordergrund, Leopold I. als Kaiser zu verhindern, nicht Ludwig XIV. dazu zu machen. Die französische Königsideologie war weniger auf die Übernahme des Kaisertums ausgerichtet denn auf seine Relativierung und Betonung der eigenen Wertigkeit, wie es später Ludwig XIV. in seinen Memoiren für den Dauphin explizit formulierte. Ein weiteres Manko des Buches sind diverse formale Fehler: So erscheint Axel Gotthard in den Anmerkungen fast durchweg als Gotthardt. Das auf Seite 14 Anm. 8 nur mit Kurztitel zitierte Buch von Hedley Bull fehlt im Literaturverzeichnis. Ein Titel von Peter Burke ist dort (480) doppelt aufgenommen, beim ersten Mal aber unter der vermeintlichen Autorschaft von Eckhart Buddruss, der zudem zur Autorin wird. Die mehrfach zitierte, online erschienene Sammelpublikation zum ersten Rheinbund von Martin Peters und Heinz Duchhardt (u. a. 17 Anm. 27) ist im Literaturverzeichnis nicht als eigene Publikation nachgewiesen, sondern nur über einen darin erschienenen Beitrag von Peters zu erschließen und zudem abweichend zur Zitierung in der genannten Anmerkung aufgenommen. Der mehrfach vorkommende Claude d’Avaux wird im Register fälschlich als Jean d’Avaux, offensichtlich eine Verwechslung mit seinem Neffen Jean-Antoine, identifiziert. Für ein Werk, das aufgrund seines Inhalts ein Standardwerk zu werden verspricht, ist eine solche Nachlässigkeit umso bedauerlicher, denn Haugs Darlegungen liefern zahlreiche Anregungen für weitere Forschungen und Diskussionen, wobei sie mitunter durchaus zum Widerspruch herausfordern. Die solide Basis und Haugs konzise Argumentationen machen das Werk insgesamt zur einschlägigen Lektüre für die damit verknüpften Themenfelder. Anuschka Tischer
Würzburg
ELKE SCHLENKRICH: Gevatter Tod. Pestzeiten im 17. und 18. Jahrhundert im sächsisch-schlesisch-böhmischen Vergleich (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 36). Stuttgart: Steiner 2013, 491 S., 45 Abb., (ISBN 9783-515-10620-7), 86,00 EUR. Seuchengeschichte(n) faszinieren Beobachter und Publikum, wie zahllose Berichte über das sogenannte „Zika-Virus“ in den Medien oder ein kurzer Blick in die Geschichte illustrieren. Seit der Antike bezeugen Dichter, Chronisten, Ärzte und Historiker ein starkes Interesse an Epidemien. Auch die regionale Sammlung der Universitätsbibliothek Leipzig zum (späteren) 17. und 18. Jahrhundert belegt
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diesen Fokus: Elke Schlenkrich konnte in ihrer 2013 publizierten Habilitationsschrift aus dem Jahre 2007 immerhin fast zwei Seiten mit Titeln einschlägiger gedruckter Schriften füllen (442–444). „Gevatter Tod“ behandelt das Thema Seuchen in politik-, kultur- und sozialhistorischer Betrachtung regionaler Verhältnisse und gehört deshalb in eine Reihe von Studien, die in jüngerer Zeit diesen Aspekt der Geschichtswissenschaft wiederbeleben. Seit Otto Ulbricht eine Vernachlässigung der „Pest“-Historiographie der Frühen Neuzeit konstatierte, sind mehrere einschlägige Dissertationen entstanden. Sie beschäftigen sich beispielsweise mit regionalen Normen und ihrer Umsetzung, auch in ländlichen Gebieten, im späteren 17. und im 18. Jahrhundert (Kirsten Seelbach), betrachten einen historiographisch vernachlässigten geographischen Raum unter dem Aspekt der Pest-Kommunikation und Politik in den Jahren 1708 bis 1713 (Carl Christian Wahrmann) oder analysieren am Beispiel mittelgroßer Reichsstädte für den Zeitraum vom späten Mittelalter bis ins frühe 17. Jahrhundert die Auswirkungen von Seuchen auf Demographie, Wissen und Perzeption, Politik und Verwaltung, religiöse Praktiken, Armenfürsorge und Wirtschaft (Patrick Sturm). Mit ihrer Studie zu den eng verflochtenen Regionen Sachsen, Schlesien und Böhmen möchte Schlenkrich einen „Beitrag zum Alltag in der späten frühen Neuzeit unter den Bedingungen von Pestbedrohung und Pestausbrüchen“ leisten (30). Methodisch bewegt sie sich damit im Kontext von seit den 1990er Jahren erschienenen Studien zur Sozialgeschichte der Medizin. Innovativ erscheinen ihre Kombination städtischer und ländlicher Siedlungen sowie die transregionale Herangehensweise, mit der sie Grenzen überwindet und zu einer europäischen Geschichtsschreibung beiträgt. Wer auf schnelle Lektüre bedacht ist oder nach vergleichbaren Informationen sucht, erhält im vorliegenden Buch viele Hilfestellungen. Eine zügige Orientierung ermöglichen eine vierseitige Inhaltsangabe sowie ein nach Namen und Orten geordnetes Register. Nur ein Sachregister fehlt. Die einzelnen Kapitel versprechen eine abwechslungsreiche, häufig die Perspektive wechselnde Darstellung. Die Themen werden eher gereiht als hierarchisch geordnet. Vielmehr bewegen sich Lesende zwischen abstrakteren, von klassischen historiographischen Fragestellungen gelenkten Abschnitten und sehr detailreichen konkreten Untersuchungsergebnissen: Beispielsweise folgen auf das zweite Kapitel zur Demographie (39–70) faktenreiche Ausführungen über konkrete Auswirkungen einzelner Epidemien auf Handel und Finanzen einzelner Städte und Regionen (71–102), denen ein historiographisches Problem, die „Pest als Armutskatalysator“, zugeordnet ist (102–114). Im vierten Kapitel stehen „Maßnahmen“ im Mittelpunkt, Reaktionen und Aktionen der zuständigen Vertreter der Obrigkeit; eher implizit sind auch (medizinische) Konzepte und deren Perzeption eingebunden (117–174). In der darauf folgenden Analyse der „Pestbediensteten“, die dazu beiträgt, eine Forschungslücke zu schließen, wechselt beständig der Blick auf Personen und deren Arbeits- und Lebensbedingungen mit der Betrachtung obrigkeitlicher Strategien und Maßnahmen (175–213). Warum allerdings die Untersuchung zum medizinischen Alltag und medizinischen Personal in ein separates Kapitel abgetrennt wurde, leuchtet der Rezensentin nicht ein (214–269). Ge-
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radezu verwirrend gestaltet sich schließlich im siebten Kapitel, das der „Wirkung der Pest auf den städtischen Alltag“ nachgeht, die Abfolge der Themen: Einer vor allem in den Fußnoten detailreichen Schilderung der „Alltagssituation“ schließen sich Abschnitte an zu „Deutung“ und „Wahrnehmung“, zur „Versorgung“ und zum Begriffspaar „Verstöße“ und „Bestrafung“, dem verwirrenderweise wieder ein Perzeptionsabschnitt (Magie und Wunder) sowie abschließend Ausführungen über „Pestwaisen“ folgen (270–324). Zwar wurde in der Forschungsliteratur schon häufiger das Thema Religion und kirchlicher Alltag im Kontext von Seuchen behandelt als dies Schlenkrich erwähnt, aber mit ihrem achten Kapitel zum kirchlichen Handeln und religiösen Alltag in lutherischen und katholischen Regionen ermöglicht sie fakten- und facettenreiche Einblicke in Praktiken der späteren Frühen Neuzeit, die bislang hauptsächlich aus der Perspektive des katholischen Barocks beleuchtet worden sind (325–352). In ihrem letzten Kapitel „Pest auf dem Lande“ (355–377) erhebt die Autorin den Anspruch, aufzuzeigen, „inwiefern sich städtischer und ländlicher Alltag während der Pest voneinander unterschieden“ (354). Die deutlich geringere Faktendichte zum ländlichen Alltag kann als Anreiz verstanden werden, sich künftig stärker systematisch mit diesem Aspekt der Seuchenhistoriographie zu befassen. Insgesamt bringt die fakten- und detailreiche Studie neben einer Bestätigung von bereits bekannten Tendenzen auch für bislang vernachlässigte Regionen eine Reihe von Ergebnissen, die der künftigen Forschung zur Herausforderung werden dürften. Schon im einführenden demographischen Kapitel weist Schlenkrich beispielsweise nach, dass auch ländliche Räume stark von Seuchen in Mitleidenschaft gezogen worden sind; ein Ergebnis, das neuerdings auch für andere Regionen in Europa diskutiert wird. Ihre These, für Sachsen müsse bezogen auf „Pestabwehrmaßnahmen“ von einer „bewussten Ignoranz der Problemsituation im ländlichen Raum“ ausgegangen werden (359), dürfte weitergehende Vergleiche anregen. Darüber hinaus relativieren Schlenkrichs Befunde eine ganze Reihe von verallgemeinernden Aussagen. Mit ihrer Ermittlung von sehr konkreten Zahlen zu finanziellen Ausgaben von Städten in Sachsen und Böhmen sowie von einzelnen Regionen in Schlesien widerlegt sie beispielsweise die Auffassung, frühneuzeitliche Seuchenbekämpfung habe nur geringe (staatliche) Ausgabenlasten hervorgebracht (93–95). Allerdings erscheinen gelegentlich auch Schlüsse der Autorin zu allgemein, insbesondere bezogen auf zeitliche Abfolgen oder Ungleichzeitigkeit. Wenn sie zum Beispiel aus Verordnungen zum Bau von Quarantänehäusern auf deren erstmalige Anwendung schließt (138 f.), berücksichtigt sie nicht, was die Erfahrung aus süddeutschen Reichsstädten lehrt: dass nämlich solche Gebäude für fast jeden Seuchenzug erneut ausgewiesen oder neu gebaut wurden, sofern nicht ein großer, separater Komplex vorhanden war, der ständig (auch anderweitig) genutzt werden konnte. Abgesehen von solcher Detailkritik liegt mit Schlenkerichs faktengesättigter Studie ein Buch vor, auf dessen vielfältige Ergebnisse in Zukunft einschlägige Arbeiten zurückgreifen können und müssen. Vor allem aber bleibt die eindrucks-
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volle Quellenedition im Anhang zu erwähnen. Jede einzelne Quelle besticht durch Einblicke in den Alltag. Hier sei stellvertretend ein zeitgenössischer anonymer Bericht über Leipzig während der „Pest“ der Jahre 1680–1683 erwähnt. Dieser schildert faktenreich, wie der städtische Rat schrittweise auf die sich nähernde, dann die Stadt beherrschende Contagion reagierte. Sogar Einzelheiten sind erwähnt, etwa die Anzahl der Räume für Spezialpersonal und Kranke oder die Überlebensquoten der bestallten Personen, die der materiellen, pflegerischen, medizinischen und seelsorgerischen Versorgung dienten. Diese Edition wird Spezialisten ebenso begeistern wie Personen, die nach Unterrichtsmaterial suchen. Annemarie Kinzelbach
München
CORINNA SCHULZ: Von Bastarden und natürlichen Kindern. Der illegitime Nachwuchs der Mecklenburgischen Herzöge 1600–1830 (= Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns 17), Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2015, 332 S., 11 Abb., (ISBN 978-3-412-22425-7), 45,00 EUR. In der detailreichen landesgeschichtlichen Studie von Corinna Schulz zum unehelichen Nachwuchs der Herzöge von Mecklenburg-Schwerin vom 17. bis zum 19. Jahrhundert geht es besonders um dessen Lebenswege und gesellschaftliche Stellung. In der Einleitung gibt Schulz einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu unehelichen Adligen protestantischer Konfession, die in der bisherigen Literatur vernachlässigt worden seien. Daneben erörtert sie ihren historisch-anthropologischen Zugang zum Thema, beschreibt ihre Quellengrundlage und hebt die Herausforderungen ihrer Studie hervor. Diese bestanden vor allem darin, die Mütter der unehelichen Kinder in den Quellen greifbar zu machen, und in der methodischen Schwierigkeit, Erkenntnisse zu den von ihr bearbeiteten Individuen in allgemeingültige Aussagen zu übertragen. Zunächst werden die Bedeutung und Verwendung zeitgenössischer Bezeichnungen für illegitime Kinder, beispielsweise naturales und spurii oder Bastarde sowie deren teilweise negative Implikationen geklärt, wobei Schulz das Phänomen der Illegitimität nicht in der Handlung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs und dessen Folgen sieht, sondern die Kinder erst im „Kontext der Vorstellung einer legitimen Ordnung“ (25) unrechtmäßig werden. Bei der Verwendung des Begriffes der natürlichen Kinder hält sie sich dabei an die seit Mitte des 18. Jahrhunderts gängige Bezeichnung. Im zweiten Kapitel erfolgt eine Einschätzung der Stellung unehelicher Kinder in der Frühen Neuzeit, die Schulz zwischen den beiden Polen „Randgruppe“ und „gesellschaftlich akzeptierte Tatsache“ (28) verortet. Danach stellt sie die Problematik der Erfassung der Häufigkeit von Unehelichkeit in der Gesamtbevölkerung dar. Hier wäre eine Einschränkung auf adlige Illegitime sinnvoll gewesen, denn dass die Häufigkeit unehelicher Kinder in der Stadt und auf dem Land differierte und als moralisches wie auch als demographisches Problem aufgefasst werden konnte, hat die bisherige Forschung bereits herausgearbeitet. Wichtig ist anschließend die Zusammenfassung der rechtlichen Stellung unehelicher Kinder, die stark
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vom Verhältnis der Eltern zueinander abhing. Hier bietet Schulz einen kurzen Überblick über Römisches, Germanisches und Kanonisches Recht. Ausgehend von Mecklenburg als protestantisches Territorium zeigt sie dessen rechtliche Eigenheiten. Anschließend geht die Autorin auf die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Kinder ein, die, anders als in niedrigeren Ständen, weniger der Stigmatisierung unterworfen, aber gleichzeitig stark an das Ansehen und die Beziehung zur Familie (besonders an den Vater) gebunden waren. Die Familie bildet den nächsten Untersuchungsgegenstand, wobei Schulz hier Bezeichnungen wie Familie, Haus, Dynastie, adlige Familienordnung, Heiratsverhalten und Emotionalität kritisch beurteilt. Darauf folgt die Analyse der Beziehungen der Herzöge zu den Müttern ihrer unehelichen Kinder, die die Autorin als morganatische Ehefrauen, Mätressen oder Geliebte klassifiziert, wobei nur zwei der Frauen den angestrebten Status einer morganatischen Ehefrau tatsächlich erreichten. Anschließend beleuchtet sie die Versorgung der Frauen, die, sobald sie schwanger waren, in der Regel ausreichend finanziell ausgestattet oder verheiratet wurden, und beschreibt das Verhältnis zwischen den Kindern und ihren Müttern: Dieses war abhängig von der Dauer und der Beziehung der Eltern und fiel im Untersuchungszeitraum sehr unterschiedlich aus: Wenn die Mutter verheiratet wurde, blieb das Kind häufig bei ihr, und ihr Einfluss vergrößerte sich (76–85). Den Kontakt zum Vater kann Schulz nur anhand von Briefen rekonstruieren. Er variierte wie bei den Kindern Herzog Friedrich Franzʼ I. stark, lässt allerdings auf Seiten des Vaters durchaus ein den ehelichen Kindern vergleichbares Maß an Zuneigung erkennen. Die Abhängigkeit der unehelichen Kinder von der Familie wurde nach dem Tod des Vaters besonders deutlich, da diese nun auf weitere finanzielle Versorgung angewiesen waren. Als eng beschreibt Schulz schließlich die Beziehung der (Halb-)Geschwister untereinander, da diese häufig gemeinsam aufwuchsen, obwohl Rangunterschiede aufgrund der Reihenfolge der Geburt bestanden. Das vierte Kapitel widmet sich der Kindheit und Jugend der natürlichen Kinder, in der sie durch Erziehung und Ausbildung mit kulturellem Kapital für ihren weiteren Lebensweg ausgestattet wurden. Hier werden die diachronen Unterschiede besonders gut sichtbar: Während die Kinder im 17. und 18. Jahrhundert eine adlige Ausbildung genossen, war diese im 19. Jahrhundert auf den Erwerb des eigenen Lebensunterhaltes ausgelegt. Die Edukation der Töchter wird gesondert behandelt, da sich diese über den gesamten Untersuchungszeitraum strukturell wenig änderte und die traditionelle Ausrichtung auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau erhalten blieb. Anhand des ökonomischen Kapitals, mit dem der Herzog seine unehelichen Nachkommen unterstützte, der beruflichen Tätigkeiten der Söhne und der Konflikte der Kinder mit der Herzogsfamilie werden die einzelnen Lebenswege nachgezeichnet. Die finanzielle Versorgung hing dabei ab von der Zuneigung des Vaters, von Vorkehrungen, die er schon zu Lebzeiten getroffen hatte, dem Geschlecht des Kindes und der Anerkennung der Vaterschaft überhaupt, die sich wiederum in den finanziellen Zuwendungen manifestiert. Diese wurden vor allem über die Ausstattung der Mutter, Ehearrangements und Unterhaltszahlungen realisiert. Die Beschäftigungen der Söhne änderten sich analog zur Erziehung und
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Ausbildung: Von 1600 bis 1800 war eine zeitlich befristete Tätigkeit im Militärdienst und anschließende Verwaltung der Güter häufig, im 19. Jahrhundert eher die Anstellung im Hof- oder Staatsdienst. Eine „große Anhänglichkeit beider Parteien“ (197) und wenige Konfliktfälle bescheinigt Schulz den unehelichen Kindern sowie der Familie des Herzogs. Insgesamt sind lediglich zwei längere Auseinandersetzungen überliefert, von denen eine zwischen Herzog Carl Leopold und den Söhnen seines Bruders um Zahlungen sogar vor dem Reichshofrat ausgetragen wurde (197–203). Frappierenderweise war Herzog Carl Leopold auch in den anderen Konflikt verwickelt, der sich um die Alimentation seiner Töchter, der „Fräulein von Mecklenburg“, drehte. In beiden Fällen war eine politisch instabile Lage in Mecklenburg grundlegend für die geschwächte Position des Herzogs. Die gesellschaftliche Stellung der unehelichen Kinder als adlig oder bürgerlich analysiert Schulz anhand der Verwendung von Personen- und Familiennamen und des Adelsprädikats „von“, das in den drei Jahrhunderten durchgehend Verwendung fand und für die Kinder wichtiges soziales Kapital darstellte. Auch das Wappen war in einer Gesellschaft, in der weniger schriftliche Nachweise als vielmehr soziale Akzeptanz eine Person in ihrem Stand legitimierten, ein äußeres Zeichen der Zugehörigkeit zum Haus der Obodriten. Eine Rangerhöhung in den Adelsstand erfolgte nur bei Friedrich Mecklenburg von Kleeburg, einem unehelichen Sohn Herzog Friedrich Franzʼ I.; bei allen anderen Kindern und deren Nachkommen genügte im Zweifel das Wort des Herzogs (z. B. bei Fragen der Stiftsfähigkeit). Sichtbar wurde die gesellschaftliche Akzeptanz außerdem in den Heiratsbeziehungen. Die meisten Ehen wurden mit Angehörigen des alten Adels oder Personen aus dem höfischen Umfeld geschlossen. Erst im 19. Jahrhundert wählten die natürlichen Kinder ihre Partner zunehmend selbständig, die dann eher aus der bürgerlichen Schicht stammten. In einem pointierten Resümee fasst Schulz die Ergebnisse ihrer Studie zusammen, die dank kurzer Erläuterungen (beispielsweise zum Gebrauch von Namen oder der Heraldik) sehr gut lesbar ist. An wenigen Stellen hätte eine Überarbeitung gut getan. So ist die Rede von „verinnerlichte[m], inkorporierte[m] kulturelle[m] Kapital“ (128) oder von „Schreiben an die Söhne“, die dann aber mit „,Liebster bester Vater‘“ beginnen (93). Auch im ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis finden sich mehrere Unaufmerksamkeiten wie unterschiedliche Angaben des „Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte“ (310), das auf Seite 295 noch „Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte“ heißt, differierende Angaben von Lexika (der Enzyklopädie der Neuzeit, 306 f. und 309) oder uneinheitliche bibliographische Daten (320). Anschaulich ist der Bildteil in der Mitte des Buches. Die Monographie ist durch das Personenregister und Biogramme der unehelichen Kinder der Herzöge (272–280) gut benutzbar und liefert interessante Einblicke in die Lebenswelt adliger Unehelicher in einem deutschen Territorium der Frühen Neuzeit, die sich deutlich von mittelalterlichen illegitimen Adligen sowie von unehelichen Kindern aus niedrigen sozialen Schichten unterschied. Sandra Schardt
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MARTIN MULSOW (Hg.): Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2014, 670 S., 26 Abb., (ISBN 978-3-412-20922-3), 54,90 EUR. In Martin Mulsows neuem Buch geht es nicht nur um Kriminelle, Freidenker und Alchemisten, sondern auch um religiöse Prätendenten, Heterodoxe, Fälscher, Spione, Magier, Radikale, Geheimbündler, kurz gesagt: um alle, deren Geschichten zu einer interdisziplinären Erforschung des Untergrunds beitragen könnten. Dabei ist es ein erklärtes Ziel des Herausgebers, Themen zusammenzuführen, die bisher unter unterschiedlichen Disziplinen aufgeteilt waren (9). Ein anderes Ziel ist es, das Modell von Vergesellschaftung unter Anwesenden, das Rudolf Schlögl prominent in die Frühneuzeitforschung eingebracht hat, nicht nur im öffentlichen Raum von Stadt und Hof, sondern auch im Untergrund zu erproben. Untergrund wird dabei als jener soziale Raum verstanden, „der sich durch die Intransparenz entweder der Identität oder aber der Absicht der Akteure auszeichnet“ (10). Gefragt wird, inwieweit Untergrundkommunikation Ähnlichkeiten im Verhalten der oben angeführten Gruppen hervorbringt und wie das im Untergrund besondere Zusammentreffen physischer Anwesenheit mit der Abwesenheit wahrer Identität und Intention zu neuen Sichtweisen beitragen kann. Diskutiert und aufeinander abgestimmt wurden die Beiträge im Kontext des Gothaer Graduiertenkollegs „Untergrundforschung“ (2008–2014) sowie in zwei Tagungen, die im Mai und Dezember 2009 ebenfalls in Gotha stattfanden. Unterteilt ist der Band in acht Abschnitte zu folgenden Themenbereichen: 1. Religiöse Prätendenten und Dissidenten; 2. Handel, Korruption, Geheimnis; 3. Spionage, Bestechung und Geheimdiplomatie; 4. Magie und Alchemie; 5. Sexualität und Heterodoxie; 6. Geheimbünde; 7. Politisch-intellektuelle Radikalität; 8. Akademische Clandestinität. Dabei war es den Autoren laut Herausgeber freigestellt, sich mehr oder weniger stark an den oben angeführten theoretischen Diskussionen zu beteiligen. Entsprechend finden sich nicht in allen Beiträgen Antworten auf die in der Einleitung angeführten Fragen. Einige Beiträger aber arbeiten sich offenkundig an den methodischen und theoretischen Problemen ab, die eine interdisziplinäre Untergrundforschung im Spannungsfeld zwischen Anwesenheits- und Abwesenheitsgesellschaft aufwirft, und sie sind es, die den Band besonders spannend machen. Einige Beispiele, die bei weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, seien im Folgenden exemplarisch erwähnt. Im ersten Abschnitt greift Daniel Eißner Benedict Andersons Konzept der imagined communities auf, um den Pietismus als „Vorstellung einer sozial, zeitlich und räumlich entgrenzten Gemeinschaft der Frommen“ (83), die sich unter allen Religionen und Sekten finden ließen und doch die Fiktion der Einheit aufrechterhielten, zu analysieren. Er bezieht sich dabei auf frühere Forschungen von Gisela Mettele, kommt aber selbst zu dem Schluss, dass sich pietistische Separatisten, die sich mit Empfehlungsschreiben in Europa bewegten und über die gemeinsame Lektüre von Beständen des schwarzen Buchmarkts verbunden waren, möglicherweise noch besser eigneten, um Schnittpunkte zwischen der Religionsgeschichte und der historischen Kriminalitätsforschung aufzuzeigen. Philip R. Hoffmann-Rehnitz nimmt im zweiten Abschnitt die Petition einer Gruppe von
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Lübecker „heimlichen Schneidern“ zum Anlass, um nach bisher kaum zur Kenntnis genommenen Möglichkeiten und Dimensionen von Vergemeinschaftung unter irregulären Handwerkern in der frühneuzeitlichen Stadt zu fragen. HoffmannRehnitzʼ Rahmen bilden dabei aktuelle Forschungen zu informellen Dimensionen des Ökonomischen (129) und Parallelen zum informellen Handel von Schmugglern. Der irreguläre Handwerker wird als „maßgebliche Gegenfigur zum ehrbaren Zunfthandwerker und der von den Zünften repräsentierten Ordnung“ (132) untersucht, dem von den Zünften ein asozialer Charakter vorgeworfen wird, der aber selbst durchaus in sozialen Formationen auftreten und agieren kann. Im vierten Abschnitt beschreibt Daniel Jütte in Anlehnung an sein 2011 erschienenes Buch die „facettenreiche Kultur der Interaktion zwischen Juden und Christen auf dem Gebiet der Magie“ (289), die nicht nur innerhalb des Judentums unerwartet prominent war, sondern Juden überraschenderweise auch auf Augenhöhe mit Christen zusammenführte (285). Jütte bezieht sich einerseits auf Ausführungen Barbara Stollberg-Rilingers, denen zufolge „das Geheimnis Kommunikation nicht verhindert, sondern vielmehr organisiert, strukturiert, ja überhaupt ermöglicht, indem es Grenzen von Kommunikations- und Handlungsräumen stiftet“. Andererseits führt er seine Fallstudien an, um dem Geheimnis auch Grenzüberschreitungen und das Generieren dynamischer Zwischenräume zuzuschreiben. Andreas Pietsch widmet sich im sechsten Abschnitt den Familisten, einer religiösen Gruppierung, die im 16. Jahrhundert um den Tucher Hendrik Niclaes entstand und sich im Zeitalter der religiösen Vereindeutigung durch ihr „uneindeutiges Changieren zwischen imaginierter Gemeinschaft und realer Sekte“ (398) auszeichnete. Interessant sind dabei vor allem Pietschs Überlegungen zur Kirche, die er neben Überlegungen zum Druckhaus und der Terra pacis als zwei weiteren Räumen imaginierter Gemeinschaft stellt, weil hier präzise aus der bewussten Bezugnahme der Familisten auf die Trennung zwischen Orthopraxie und Orthodoxie und damit auf die Mehrdeutigkeit der symbolischen Kommunikation die Gleichzeitigkeit von physischer Anwesenheit und innerer Abwesenheit abgeleitet wird, die genau im Fall der Untergrundkommunikation untersucht werden sollte. Guido Naschert behandelt im siebten Abschnitt am Beispiel des Radikalaufklärers Johann Benjamin Erhard klandestine Aspekte des Reisens und ihre Bedeutung für die Konstitution und Aufrechterhaltung fragiler Netzwerke vor und nach der Französischen Revolution. Dabei könnte es um Reisen von Geheimbündlern, Freimaurern, Illuminaten, Raubdruckern, Buchhändlern, Verlegern, erotischen Autoren, nachrichtendienstlichen Kurieren, Spionen oder Informanten gehen (504 f.). Erhard selbst wird als moderner Typus des öffentlichen Intellektuellen vorgestellt, der sukzessive aus Freundschaftsbünden, Handelsbeziehungen und Kontakten zu Mitgliedern des aufgelösten Illuminatenordens Netzwerke aufbaut, deren Überschneidung genau die Frage nach Transparenz und Durchlässigkeit der Zirkel, die für den vorliegenden Band entscheidend ist, aufkommen lässt (549– 551). Der Band schließt mit einem Nachwort, in dem Andrew McKenzie-McHarg durch unterschiedliche Untergrundverschwörungen und -metaphern führt, die im frühen 17. Jahrhundert mit dem gunpowder plot beginnen und im 20. Jahrhundert
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mit „Untergrund und Unterbewusstsein in einer allgemeinen Entstehungsgeschichte der Moderne“ (668) enden, die aber vor allem nochmals die Gleichzeitigkeit des vor Ort Vorhandenen und dennoch Unsichtbaren vor Augen führen, welche alle Spielarten des Untergrunds (positiv als Ort der Zuflucht oder negativ als Ort der Vorbereitung von Zerstörung) charakterisiert und für diejenigen, die über der Erde leben, ein Bedrohungspotential in sich birgt, das auch von vermeintlichen Verschwörungen ausgeht, die im Gegensatz zu offenen Feindschaften immer eng mit dem Raum des Untergrunds verbunden sind (646). Weitere Beiträge widmen sich dem jüdischen Pseudo-Messias David Reubeni (Anselm Schubert), dem Heidelberger Antitrinitarier Adam Neuser (Martin Mulsow), Antrinitariern im frühneuzeitlichen Schmiegel und Meseritz (Łukasz Bieniasz), französischen Millenaristen im pietistischen Deutschland (Lionel Laborie), Gothaer Münzprägungen (Wolfgang Steguweit), dem reformierten Hofprediger Daniel Ernst Jablonski und dem ungarischen Spion Johann Michael Klement (Alexander Schunka), der Geheimdiplomatie Prinz Eugens (Hermann E. Stockinger), der Verschwörung des Marquis de Langallerie (Olaf Simons), der geheimen Expedition des Grafen Heinrich von Brühl nach Sachsen (Anne-Simone Rous), dem bekannten Theologen und unbekannten Alchemisten Johann Konrad Dippel (Dietrich Klein), den Büchern und Netzwerken österreichischer Untergrundprotestanten (Martin Scheutz), Kommunikationsräumen des Geheimnisses in Paris (Ulrike Krampl), der Verbindung von Libertinage des Geistes und Libertinage als Lebensform im Nachlass Jean-Jacques Bouchards (Jean-Pierre Cavaillé), Illuminaten in Avignon (Andreas Önnerfors), Erziehung und klandestiner Beobachtung von Illuminaten im Reich (Hermann Schüttler), dem Freidenker Matthias Knutzen (Herbert Jaumann), dem radikalen Aufklärer und Philosophen Johann Conrad Franz von Hatzfeld (Johannes Bronisch), impolite learning im Umfeld des Utrechter Professors Petrus Burman (Ulrich Groetsch), der Wittenberger Universitätsbibliothek als einem zumindest teilweise arkanen Raum des 18. Jahrhunderts (Michael Multhammer) und anonymen Rezensionen gegen den Göttinger Gelehrten Christian Gottlob Heyne (René Sternke). Insgesamt erweist sich der voluminöse Band als wahre Fundgrube für Fallstudien zu Akteuren und Netzwerken im frühneuzeitlichen Untergrund. Vor allem aber sind es die interdisziplinären Forschungsansätze und Fragen, die Mulsow und seine Autoren vorschlagen, die nachhallen, denn sie sind bei weitem nicht beantwortet, können im Rahmen eines Bandes auch nicht beantwortet werden und werden hoffentlich in der Zukunft als Inspiration und Ausgangspunkt für weitere Studien dienen. Sina Rauschenbach
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HEINRICH AUGUST KRIPPENDORF: Anekdoten vom württembergischen Hof. Memoiren des Privatsekretärs der herzoglichen Mätresse Christina Wilhelmina von Grävenitz (1714–1738), bearbeitet von Joachim Brüser (= Veröffentlichungen der Kommission für Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A: Quellen 59), Stuttgart: W. Kohlhammer 2015, 268 S., (ISBN 978-3-17-028870-6), 28,00 EUR. Lange schlummerten zwei Exemplare eines Manuskripts weitgehend unbeachtet in den Magazinen der Bayerischen Staatsbibliothek in München und der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart. Nun ist das 1740 von einem intimen Kenner des württembergischen Hofes verfasste Werk nicht nur dank der digitalen Sammlungen der Württembergischen Landesbibliothek im weltweiten Netz einsehbar, sondern liegt auf der Grundlage des Stuttgarter Exemplars auch als kommentierte textkritische Edition in Buchform vor. Hinter dem Pseudonym Procopius Vessadiensis versteckt, plaudert Heinrich August Krippendorf, langjähriger Privatsekretär der Mätresse Christina Wilhelmina von Grävenitz und zugleich bis 1737 herzoglicher Regierungsrat, aus dem Nähkästchen und kratzt am schönen Schein der höfischen Gesellschaft des Herzogtums Württemberg. Zum Vorschein kommt in den „Anecdota von dem alemannischen Hofe“ ein ebenso ambitionierter wie prachtliebender und verschwenderischer Fürst namens Artamenes, der – auch ohne den beigefügten Namensschlüssel unschwer als Herzog Eberhard Ludwig erkennbar – sich nicht vor einem Konfrontationskurs mit der bislang tonangebenden bürgerlichen Elite scheute. Damit nicht genug, mündeten seine amourösen Eskapaden in eine skandalträchtige Bigamie. Obwohl bereits mit der Prinzessin Argande (d. h. Johanna Elisabetha von Baden-Durlach) verheiratet, ließ er sich auch noch zur Linken das Hoffräulein Fredegonde, alias Christina Wilhelmina von Grävenitz, antrauen. Ferner zeichnen die „Anecdota“ das Bild einer von Klatschsucht, Eifersüchteleien und Intrigen angetriebenen Hofgesellschaft, die sich um eine ebenso machtbewusste wie mit allen Wassern des höfischen Klugheitsideals gewaschene Favoritin scharte. Nicht allein, dass diese wider alles Erwarten und dank einer diplomatischen Volte den Skandal der Bigamie juristisch und gesellschaftlich überlebte: Als „Frau Landhofmeisterin Exzellenz“ bestimmte sie mithilfe eines aus Verwandten, Freunden und Klienten geknüpften Beziehungsgeflechts für viele Jahre die Geschicke des Herzogtums mit. Selbst nach ihrem Sturz im Jahr 1731 entging Fredegonde alias Christina Wilhelmina von Grävenitz geschickt der ihr zugedachten dauerhaften Inhaftierung und brachte sich sowie ein nicht unbeträchtliches Scherflein außer Landes in Sicherheit. Nicht zuletzt handeln die „Anecdota“ vom Autor selbst, dem aus Dessau stammenden Heinrich August Krippendorf. Unter dem auf seine Heimatstadt anspielenden Pseudonym „Procopius Vessadiensis“ stellt er sich subtil als redlichen, sich unentbehrlich machenden Diener mehrerer Herrschaften dar und rechtfertigt den seine Haut und Karriere rettenden Seitenwechsel von der gestürzten Favoritin auf die Seite der Sieger als Akt der Loyalität. Sogar den für das Herzogtum einschneidenden Herrscherwechsel des Jahres 1733 überstand er dank seiner besonderen Kompetenzen. In einem Appendix äußert sich Procopius Vessadiensis deshalb auch noch zur kurzen Regierungszeit des Orontes genannten Herzogs Karl
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Alexander (1733–1737) und zur Tragödie des Hoffaktors Joseph Süß Oppenheimer. Tatsächlich sind die „Anecdota“ weit mehr als eine bloße Aneinanderreihung von leichthin und zuweilen mit bissigem Unterton erzählten Histörchen und Indiskretionen. Worauf Titel und Pseudonym hindeuten: Heinrich August Krippendorf bediente sich einer auf die Antike zurückgehenden Form der Herrscherschelte und Hofkritik. Sein Vorbild war Prokop von Caesarea. Der Freund und Rechtsbeistand des Feldherrn Belisar hatte sich mit einer offiziösen Darstellung der Kriege des oströmischen Kaisers Justinian einen Namen gemacht. Um 550 n. Chr. kritisierte er jedoch den Kaiser und seinen Hof mit „Anecdota“, dem griechischen Wortsinn nach also mit unveröffentlichten und Geheimnisse lüftenden Nachrichten. Nicht von ungefähr wurden Prokops „Anecdota“ im Zeitalter Ludwigs XIV. und seiner absolutistischen Epigonen wiederentdeckt. Antoine de Varillasʼ erstmals 1685 erschienene „Les anecdotes de Florence, ou lʼhistoire secrète de la maison des Médicis“ sowie die Samuel Pufendorf zugeschriebenen und zuerst 1716 publizierten „Les anecdotes de Suède, ou Histoire secrette des changemens arrivés dans ce royaume, sous le regne de Charles XI.“ sind wohl nur die Spitze eines bislang noch wenig erforschten literarischen Eisberges. Die wissenschaftliche Ignoranz gegenüber den Nachahmungen des spätantiken Vorbildes mag an der Geringschätzung des historischen Erkenntnispotentials liegen. Über die im Grenzbereich zwischen Historiographie und Belletristik angesiedelte Gattung befand bereits Voltaire, es handele sich um eine „von Ressentiment motivierte Satire“. Dem nämlichen Vorwurf, sein Werk rieche nach einer Satyre, begegnete der Autor der „Anecdota von dem alemannischen Hofe“ mit dem Hinweis, daß unter seinen Lastern die Furcht den wenigsten Antheil nehme, daß er zwar gern so viel immer möglich Behutsamkeit liebte, doch so ein Sclav nicht wäre, die Warheit wieder beßer Wißen und Gewißen gänzlich unterdrücken zu laßen; auch wolle er es sich nicht nehmen lassen, thörichte Sachen nicht zu belachen (2). Allein diese Kostprobe muss an dieser Stelle genügen, um die besondere Machart und den spezifischen Erkenntnisgewinn der „Anecdota“ mit ihrem tiefen Einblick in höfische Mentalitäten und Verhaltensweisen anzudeuten. Joachim Brüser, der die Edition besorgt hat, ist ein Experte für die Regierungszeit Herzog Karl Alexanders von Württemberg und kennt sich hervorragend aus mit den Quellen dieser Zeit. Trotzdem gelingt es ihm nicht immer, der Besonderheit der „Anecdota“ gerecht zu werden. Das zeigt bereits seine Einleitung, in der er die Schrift des Procopius Vessadiensis als „einzigartige Quelle zur württembergischen Geschichte während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ würdigt (XV). Entsprechend stellt Brüser vornehmlich Bezüge zu den Biographien der handelnden Personen und zur traditionellen, politikgeschichtlich orientierten Landeshistoriographie her. Dagegen unterbleibt eine Einbettung in neuere Forschungsansätze zur höfischen Gesellschaft. Bedenklich wird ein unkritischer Bezug auf ältere landesgeschichtliche Literatur aber spätestens dort, wo – zumal ohne Not und ohne die Instrumentalisierung von Feindbildern zu ideologischen Zwecken zu benennen – aus der Artikelserie des Stuttgarter NS-Kuriers „Maitressen- und Judenregiment in Württemberg vor 200 Jahren“ zitiert wird (XIX).
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Von Brüser neu eingefügte, durchnummerierte Kapitelüberschriften mögen zur raschen Orientierung dienen, verfälschen aber den Charakter der „Anecdota“ ebenso wie die den Verfremdungseffekt des Originals aufhebende Titeländerung. Kleinere Fehler und Unterlassungen unterlaufen in jeder Edition und sind nicht der gesonderten Erwähnung wert. Zwei umfangreichere Einschübe allerdings nur knapp als „Passagen in französischer Sprache“ (XXXI) zu benennen und auf erläuternde Informationen zu Autor und Hintergründen zu verzichten, gehört nicht in diese Kategorie. Bei diesen Einschüben (denen in der Edition eine nicht immer überzeugende deutsche Übersetzung zur Seite gestellt wird) handelt es sich um Briefe und eine „Apologie et Manifeste“ betitelte Verteidigungsschrift des Oberhofmarschalls Georg Friedrich Forstner von Dambenoy. Sie dokumentieren den Höhepunkt in einer besonderen Form des Ehrenhandels: 1716 versuchte Forstner vergeblich, den Konkurrenzkampf mit der Mätresse um die herzogliche Gunst mit Worten als Waffe für sich zu entscheiden. Von den genannten Kritikpunkten abgesehen, ist es aber dankenswert, dass durch die vorliegende Edition (und in Kombination mit dem Digitalisat der Stuttgarter Handschrift) nun eine unterschätzte Quelle einem größeren Kreis von Interessierten leicht zugänglich ist. Bleibt zu hoffen, dass deren Quellenwert nun auch entsprechend erkannt und genutzt wird. Sybille Oßwald-Bargende
Stuttgart
RONNIE PO-CHIA HSIA: Gräfin Maria Theresia Fugger von Wellenburg (1690– 1762). Adelige Frömmigkeit und die ferne Welt der Jesuitenmission in China. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Letwin (= Studien zur Fuggergeschichte 35), Augsburg: Wißner 2015, 158 S., 7 Abb., (ISBN 978-3-95786-045-3), 16,80 EUR. Ende 1736 kam es in Augsburg zu einer folgenreichen Begegnung zwischen der früh verwitweten Reichsgräfin Maria Theresia Fugger von Wellenburg und zwei jungen Mitgliedern der böhmischen Jesuitenprovinz, Florian Bahr und Johann Siebert. Bahr und Siebert befanden sich auf dem Weg von Prag nach Genua, um sich dort nach Fernost einzuschiffen. Während der Kontakt zu Siebert, der nach Cochinchina (Vietnam) ging, bald einschlief, erstreckte sich der Briefwechsel zwischen Florian Bahr, der als Hofmusiker und Missionar in der chinesischen Hauptstadt Peking wirkte, und der süddeutschen Gräfin über ein Vierteljahrhundert. Mehr noch: 1737 legte Maria Theresia Fugger von Wellenburg 16 000 Reichstaler – etwa zwei Drittel ihres Vermögens – bei den Prager Jesuiten an und unterstützte die Chinamission aus den Zinserträgen. Darüber hinaus korrespondierte sie mit französischen Jesuiten und weckte auch das Interesse der Kaiserwitwe Amalia, deren Oberhofmeisterin sie 1748 wurde, am Schicksal des Christentums in China – insbesondere der vor den Toren Pekings ausgesetzten Kinder, deren Taufe ihr und den Jesuiten sehr am Herzen lag. Die Gräfin avancierte so zu einer zentralen Figur in einem katholischen Korrespondenznetzwerk, das Augsburg, München und Paris mit Ostasien verknüpfte und über das Geld und Informationen ebenso zirkulierten wie Geschenke und exotische Objekte.
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Der durch seine Studien zur katholischen Konfessionalisierung und seine Biographie des Chinamissionars Matteo Ricci bekannte amerikanische Historiker Ronnie Po-chia Hsia hat bereits vor knapp einem Jahrzehnt eine englischsprachige Edition des im Fuggerarchiv Dillingen aufbewahrten Briefwechsels zwischen der Gräfin und den Missionaren vorgelegt (Noble Patronage and Jesuit Missions. Maria Theresia Fugger von Wellenburg [1690–1762] and Jesuit Missionaries in China and Vietnam, Rom 2006). Der vorliegende schmale Band möchte diese Korrespondenz „einem größeren Publikum erschließen” (Vorwort). Die rund hundertseitige Darstellung konzentriert sich einerseits auf die Biographie Maria Theresia Fuggers von Wellenburg und die Manifestationen katholischer Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, andererseits auf das Schicksal der Mission in Ostasien, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts sowohl in China als auch in Vietnam in ernsthafte Schwierigkeiten geriet: China erlebte zwischen 1746 und 1748 eine Welle der Christenverfolgung, über die Florian Bahr nach Europa berichtete, während das christliche „Zwischenspiel“ in Cochinchina mit der Vertreibung der Missionare 1755 endete. Darüber hinaus rekonstruiert Hsia die Kommunikationswege zwischen Europa und Ostasien – Korrespondenz und Geschenksendungen wurden zunächst auf portugiesischen, ab 1749 dann auf französischen und während des Siebenjährigen Krieges schließlich auf niederländischen Schiffen befördert – und beleuchtet einige Aspekte des kulturellen Austauschs. Die interessante Studie zu den Kommunikations- und Unterstützungsnetzwerken der katholischen Chinamission bietet auch ein instruktives Fallbeispiel dafür, wie sich Regionalgeschichte und Globalgeschichte für die Epoche der Frühen Neuzeit miteinander verknüpfen lassen. Wer tiefer in die Thematik einsteigen möchte, wird allerdings die englischsprachige Ausgabe zur Hand nehmen (auf die in den Anmerkungen sehr häufig verwiesen wird), und zu bestimmten Themen wird nicht unbedingt die Literatur zitiert, die für deutsche Leser(innen) am besten greifbar ist. Auf Seite 92 beispielsweise wird für die Zerstörung Lissabons 1755 ausschließlich auf ein Werk in portugiesischer Sprache verwiesen, obwohl es dazu auch neuere deutschsprachige Literatur gibt. Der Anhang (104–128) bietet acht Beispiele aus der Korrespondenz – sieben deutschsprachige Briefe in zeilengenauer Transkription und einen französischsprachigen im Faksimile. Leider weisen die Transkriptionen eine Reihe offensichtlicher Lesefehler auf: guee Christen (115 Z. 81), Angelährte statt Ungelährte (116 Z. 102), aus war [statt was] für Krankheit (117 Z. 149), ins stekhen [i.e. stokhen] gerathe (119 Z. 79 f.), schau [i.e. schon] wircklich erfahren (123 Z. 41), vergasse [statt vergesse] meiner selbsten nit (123 Z. 67 f.), behahlen statt befahlen (123 Z. 76), verfülsachen [statt verfülfachen] zinsen (124 Z. 90), beschattenhait für beschaffenhait (124 Z. 91), ehrenbietigst statt ehrerbietigst (124 Z. 93 f.). Auch der von Eta Letwin übersetzte Text ist nicht optimal redigiert: Das englische Moravia entspricht dem deutschen Mähren (nicht „Moravien“, 36), und Formulierungen wie „aufs Vielfache kopiert“ (53), „transformative Erfahrung“ (59) oder „in Beschau zu nehmen“ (72) sind nicht gerade elegant. Mark Häberlein
Bamberg
Frühe Neuzeit
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DIETER MERZBACHER, WOLFGANG MIERSEMANN (Hg.): Wirkungen des Pietismus im Fürstentum Wolfenbüttel. Studien und Quellen (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 53), Wiesbaden: Harrassowitz 2014, 648 S., 102 Abb., (ISBN 978-3-447-10292-6), 128,00 EUR. Es ist offensichtlich: Pietismus zieht noch immer, zumindest im Lande Niedersachsen und vor allem bei den Sachwaltern der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Natürlich wäre es unfair, dies mit Blick auf die schäbige Haltung der Wolfenbütteler Herzöge oder der Welfenfürsten zum Pietismus als eine Art Wiedergutmachung zu deuten. Unbestritten aber bleibt: Der Band wiegt 1 800 Gramm, umfasst beinahe 650 Seiten, ist ansprechend gebunden, reichhaltig illustriert, auf schwerem Papier gedruckt und erfüllt damit die schönsten Erwartungen eines jeden Rezensenten, der den hohen Preis von 128 Euro nicht bezahlen muss. Die Sammlung umfasst 15 wissenschaftliche Beiträge, die nicht nur die Bedeutung des Wolfenbüttler Hofes für den Pietismus, sondern auch dessen Ausstrahlung in Europa und Asien behandeln, und einen immerhin etwa hundert Seiten umfassenden Quellenteil, in dem vor allem die Korrespondenz Herzog Ulrichs zum Wolfenbütteler Pietisten-Edikt von 1692 abgedruckt wird. Die einleitenden Beiträge von Inge Mager (Johann Arndts Hinterbliebenen-Seelsorge am Beispiel von drei Braunschweiger Persönlichkeiten, 27–46) und Hans-Jürgen Schrader („,Misbräucheʻ, ,ärgerliches Christenthumbʻ und ,Teutscher Kriegʻ. Christian Hoburgs kirchenkritischer Pazifismus unter Herzog Augusts prekärer Protektion“, 47–87) skizzieren das Umfeld, während die dramatis personae in gelegentlich etwas arg lexikalischer Weise in Hansgünter Ludewigs Aufsatz Akteure und Aktionsformen des pietistischen Aufbruchs im Fürstentum Wolfenbüttel (89–129) vorgestellt werden. Daran schließt sich die Analyse der Entstehung und Wirkungsweise des Edikts von 1692 gegen den Pietismus in den Beiträgen von Birgit Hoffmann (131–154) und Dieter Merzbacher (155–224) an. Dabei betont Hoffmann den „prophylaktischen Charakter“ (151) des Edikts, woraus sich auch ergab, dass es zu seiner Durchsetzung kaum drakonischer Maßnahmen bedurfte (152); in seiner Stoßrichtung zielte das Edikt auf die Pfarrer ab, die durch Unterschrift auf seine Einhaltung verpflichtet wurden. Im Unterschied zum Hannoverschen Edikt gegen den Pietismus blieb das Wolfenbütteler bis 1831 in Kraft (136). Merzbacher konzentriert sich auf die Haltung Herzog Rudolf Augusts zu BraunschweigLüneburg, dessen „nachhaltigste Charaktereigenschaft unstreitig Frömmigkeit war“ (164), im Unterschied zu seinem Bruder Herzog Anton Ulrich, einem Musterbeispiel eines weltlich-absolutistischen Herrschers, dem auch die dazugehörigen repräsentativen Vergnügungen zum Ärger der Wolfenbütteler Kleriker wichtig waren (116–125). Trotzdem unterschrieb Rudolf August wie sein weltlich gesinnter Bruder das Edikt – auch weil er, wie Merzbacher herausarbeitet, an „Katheder-Theologie“ (164) wenig interessiert war. Die folgenden Aufsätze von Wolfgang Miersemann, Dianne M. McMullen und Cornelia Niekus Moore sind Formen und Materialien pietistischer Devotion (Hymnen, pietistisches Liedgut, Gebetsbücher etc.) gewidmet. Mit den Kontakten zwischen den Wolfenbütteler Frommen und August Hermann Francke befasst sich Paul Raabe, der in einem Anhang auch sechs Briefe – fünf von Christian Au-
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Rezensionen und Annotationen
gust Selig und einen der Witwe von Meseburg – an Francke abdruckt (606–617). Darin berichten der Verfasser und die Verfasserin über Beschwernisse, die ihnen als Pietisten in Wolfenbüttel widerfahren seien. Die folgenden Aufsätze erörtern pietistische, oft als separatistisch erfahrene und wahrgenommene Aktivitäten in den welfischen Ländern, vor allem im Harz und in Gandersheim. Abgerundet wird der Band durch Ulrike Gleixners Schilderung der „pietistisch-lutherischen Kooperation in der Indienmission“ (507–526). Insgesamt ist den Herausgebern – auch dank der klugen Anordnung der Beiträge und des Quellenanhangs – eine Veröffentlichung gelungen, die einen umfassenden Eindruck von der Bedeutung, dem Wirken, aber auch der Problematik des Pietismus im Wolfenbütteler Bereich und in den welfischen Landen vermittelt. Die Beiträge stellen eine notwendige und unverzichtbare Ergänzung zu Rudolf Ruprechts Studie, „Der Pietismus des 18. Jahrhunderts in den Hannöverschen Stammländern“, aus dem Jahre 1919 dar. Hermann Wellenreuther
Göttingen
ANDRÁS VÁRI, JUDIT PÁL, STEFAN BRAKENSIEK: Herrschaft an der Grenze. Mikrogeschichte der Macht im östlichen Ungarn im 18. Jahrhundert (= Adelswelten 2), Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2014, 397 S., 36 Abb., (ISBN 978-3-41222145-4), 49,90 EUR. Diese interessante Untersuchung versteht sich als eine Mikrostudie zur Herrschaftspraxis im ungarischen Komitat Sathmar des 18. Jahrhunderts. Sie will aufzeigen, wie die Entscheidungen lokaler Institutionen durch die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen der lokalen Magnatenfamilie und dem Kleinadel beeinflusst wurden. Das Komitat Sathmar am Übergang zu Siebenbürgen bot sich sowohl aufgrund seiner geographischen Lage als auch wegen seiner ausgezeichneten Quellenbasis als passender Ausgangspunkt für die Erforschung dieser Herrschaftsbedingungen an der europäischen Peripherie an. Das beherrschende Hochadelsgeschlecht des Komitats waren die Károlyis. Ihr Aufstieg begann mit Mihály Károlyi, der 1606 zum Katholizismus übertrat und drei Jahre später in den Freiherrenstand erhoben wurde. Sein Enkel Sándor spielte bereits eine bedeutende politische Rolle, nicht zuletzt durch geschicktes Taktieren im Kuruzzenkrieg des frühen 18. Jahrhunderts, und erreichte die Erhebung in den Grafenstand. Während diese frühen Generationen ihren lokalen Grundbesitz ausweiteten und ihre politische Tätigkeit zumeist auf Ungarn beschränkten, banden ihre Nachfolger sich immer enger an den Wiener Hof. Im 19. Jahrhundert lockte zudem das aufstrebende Budapest, aber auch ein europäisches Zentrum wie Paris. Während die Károlyis über die Region hinauswuchsen, blieb der eigentliche Komitatsadel fest mit ihr verbunden. Sowohl ihr berufliches Umfeld als auch ihre Familienbeziehungen lagen in Sathmar und den Nachbarkomitaten. Auch konfessionell unterschied sich der meist reformierte eingesessene Landadel von den katholischen Károlyis und den in deren Diensten zugezogenen Glaubensgenossen. Die calvinistisch geprägte Stadt Sathmar befand sich ebenfalls nicht selten im
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Gegensatz zu den finanziellen und konfessionellen Interessen der Magnatenfamilie. Eine zentrale Stellung in der Untersuchung nimmt der ursprünglich in den Sozialwissenschaften entwickelte Begriff des Klientelismus ein, der auf eine ungleiche, aber reziproke Beziehung zwischen Handlungsträgern abzielt. In Anlehnung an die Frühneuzeitforschung wird der Begriff als soziale Rollenvorstellung verwendet. Die Autoren belegen, wie vielfältig die Vertrauensleute des Patrons eingesetzt wurden. Manchmal ging es um Einflussnahme auf die öffentliche Verwaltung; in anderen Fällen sollten technologische Neuerungen eingeführt werden. Aber auch das landwirtschaftliche Kerngeschäft war von abwesenden Grundherren schwer zu kontrollieren. Die dafür eingesetzten Vertreter versuchten, die entstandenen Probleme im Sinne des Patrons zu lösen, wobei aber natürlich auch das wohlverstandene Eigeninteresse zum Tragen kam. Neben diesen Eigeninteressen stellten sich weitere Herausforderungen. Je länger Repräsentanten an einem Ort tätig waren, desto größer wurde ihre Einbindung in lokale Beziehungsgeflechte. Regelmäßige Rotationen wiederum hatten den Nachteil, dass die ortsunkundigen Kontrollorgane von der Lokalbevölkerung leicht hinters Licht geführt werden konnten. Da die Károlyis nach der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr ihren Lebensmittelpunkt in Sathmar hatten, mussten sie die lokalen Angelegenheiten durch Korrespondenzen mit ihren Vertrauensleuten steuern. Während dies im Untersuchungszeitraum ein weiteres Element der Mittelbarkeit einfügte, lieferte es umfassendes Quellenmaterial für die Studie. Während die klientelären Verhältnisse zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch ihre persönliche Unmittelbarkeit bewahrt hatten, wurden sie nicht zuletzt wegen der räumlichen Entfernung zunehmend versachlicht. Der für die Aufklärungszeit typische Fokus auf Leistung und Verdienst verstärkte diese Entwicklung. Dennoch gelang es verschiedenen gräflichen Vertrauensleuten, sich auch in der neuen Welt bürokratisierter Verwaltungen als unverzichtbare Mittelsleute zwischen Magnat und Lokalsphäre zu behaupten. „Herrschaft an der Grenze“ ist ein eindrucksvolles Beispiel grenzüberschreitender Forschungszusammenarbeit. Es wuchs aus einem ursprünglich in Deutschland, Tschechien und Ungarn angesiedelten Forschungsprojekt über frühneuzeitliche Institutionen in ihrem sozialen Kontext heraus und wurde von drei Autoren verfasst, die an den Universitäten Miskolc, Klausenburg und Essen verankert sind oder waren. Obwohl András Vári vor Vollendung der Arbeit verstarb, bezeichnen die Autoren den Band als Gemeinschaftswerk. Dies alleine macht ihn zu einem beachtenswerten Beitrag, der ostmitteleuropäische Geschichte zudem sprachlich einem breiteren internationalen Publikum zugänglich macht. Interessant für die Beständigkeit historischer Verbindungslinien ist auch, dass als Bezugspunkt für Vergleiche sehr oft die kaiserlichen Erblande dienen, obwohl keiner der Verfasser österreichischer Historiker ist. Anhand ausgewählter biographischer Miniaturen wird die Bedeutung von Patronats- und Klientelverhältnissen in vielfältiger Form beleuchtet. Dabei zeigt sich wiederholt eine generationenüberschreitende Dauerhaftigkeit dieser Verbindungen, da sowohl die Klienten an der erfolgreichen Etablierung ihrer Nachkommen-
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schaft als auch die Patrone an der rechtzeitigen Heranbildung verlässlicher Verwaltungskräfte interessiert waren. Wenngleich die Verwendung anderskonfessioneller Klienten nicht ausgeschlossen war, sticht doch die häufige Beiziehung katholischer Vertreter auch aus anderen Landesteilen ins Auge. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam es langsam zu einer Bürokratisierung der Verwaltung, die aber die überlieferten personalisierten und rangbestimmten Beziehungsmuster nicht völlig ablöste, sondern neue Mischformen schuf. Der gut geschriebene Band enthält 30 teilweise farbige Abbildungen, wobei allerdings gerade die einleitenden Landkarten der Monarchie und des Sathmarer Komitats verhältnismäßig grau und undeutlich geraten sind. Ob die durchgehende Anwendung der ungarischen Namensformen in einem heute überwiegend in Rumänien gelegenen und historisch auch deutsch beeinflussten Gebiet in einem deutschsprachigen Text die naheliegendste Lösung ist, mag jeder für sich entscheiden; für andere Regionen wird dies nicht selten anders gehandhabt. Wenngleich der theoretische Fokus auf den Klientelismus auch andere Gesichtspunkte in die Analyse einbringt, ist die Studie über weite Strecken verwaltungsgeschichtlich angelegt. Diese kleineren Einschränkungen mindern aber keineswegs die große Forschungsleistung über Klientelverhältnisse im frühneuzeitlichen Ungarn. Mit Hilfe internationaler theoretischer Modelle werden wichtige Aspekte der historischen ungarischen Gesellschaft neu beleuchtet. Streckenweise wird die Rolle der Komitate zudem in die breitere Diskussion über die Lebenswirklichkeit des Absolutismus und über die Rolle der Stände in der Habsburgermonarchie eingefügt. Damit liefert die Studie einen wertvollen Beitrag zum besseren Verständnis von Politik und Verwaltung an der mitteleuropäischen Peripherie. Peter Thaler
Odense
RAINER BENDEL, NORBERT SPANNENBERGER (Hg.): Katholische Aufklärung und Josephinismus. Rezeptionsformen in Ostmittel- und Südosteuropa (= Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 48), Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 2015, 397 S., (ISBN 978-3-412-22270-3), 49,90 EUR. Josephinismus und katholische Aufklärung – in der Wahrnehmung der Historiker in Deutschland und in Österreich, aber auch in englisch- und französischsprachigen Kontexten, liegen beide zumeist nicht nur nahe beieinander, sondern der Josephinismus kann geradezu als österreichische Variante der katholischen Aufklärung oder zumindest als durch die katholische Aufklärung ermöglicht bzw. mit ihr verbunden erscheinen. Dass das nicht die einzige mögliche Sicht ist oder war, zeigt Franz Leander Fillafer in seinem Beitrag „Sechs Josephiner“ zu dem hier vorzustellenden Aufsatzband: „Blickt man auf die ungarischen und tschechischen Geschichtskulturen, dann stellt sich der Zusammenhang zwischen Josephinismus und Aufklärung anders dar. Er bezeichnet den blinden Fleck in den Erbeerzählungen der ungarischen und tschechischen Liberalen. Der josephinische Impuls der Aufklärung war für die dem nationalen Paradigma verpflichtete Geschichtsschrei-
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bung ein Ärgernis. Um die jeweiligen Spätaufklärer als löbliche Vorreiter der nationalen Wiedergeburt des frühen 19. Jahrhunderts vereinnahmen zu können, musste man auf Millimeterpapier Psychogramme der Abkehr dieser Figuren von Josephs Reformagenda zeichnen […]. Bei jenen Aufklärern, die Joseph ohnedies wenig Sympathie entgegenbrachten […] ging das Kalkül einfacher auf, da eine antijosephinische Einstellung und die Befürwortung eines frühliberalen Projekts als deckungsgleich eingestuft und zu einer Option zusammengezogen wurde“ (384). Fillafer behandelt Franz Széchényi (1754–1820), György Fejér (1766– 1851), den Bischof von Zagreb Maksimilian Vrhovac (1752–1827), Gregor von Berzeviczy (1763–1822), Carl Freiherr von Kübeck (1780–1855) und Leo Graf Thun (1811–1888). Zum Thema der ursprünglich juristischen Disziplin der österreichischen „Reichsgeschichte“ (385) wäre zu ergänzen: CHRISTOPH GNANT: Die „österreichische Reichsgeschichte“ und ihre Sicht auf das Heilige Römische Reich. In: HARM KLUETING, WOLFGANG SCHMALE (Hg.): Das Reich und seine Territorien im 17. und 18. Jahrhundert, Münster 2004, 11–22. Arbeiten zum Josephinismus in den nichtdeutschsprachigen Teilen der österreichischen Monarchie des 18. und seinen Nachwirkungen in den entsprechenden Teilen des Kaisertums Österreich bzw. Österreich-Ungarns im 19. Jahrhundert sind, zumal für deutschsprachige Leser, ein Desiderat. Daher ist der Band, der die Beiträge einer 2011 veranstalteten Tagung enthält, lebhaft zu begrüßen; er bietet aber auch wichtige Aufsätze zu Josephinismus und katholischer Aufklärung in den deutschsprachigen österreichischen Erbländern sowie im außerösterreichischen Reich. Letzteres gilt für die Abhandlung von Horst Miekisch über „Die Rezeption des Josephinismus in den fränkischen Fürstbistümern Bamberg und Würzburg“, der die bekannte Tatsache, dass es „außerhalb der Habsburger Erblande […] wohl kaum Territorien im Reich [gab], in denen so viel vom Josephinismus übernommen wurde wie in den fränkischen Fürstbistümern“ (157), durch eine Skizze vor allem der Schul- und Bildungspolitik, aber auch der Gesundheitspolitik, unter den Fürstbischöfen Adam Friedrich von Seinsheim und Franz Ludwig von Erthal untermauert. Die Angabe, wonach die von Erthal errichtete Bamberger Universitätsbibliothek „heute Bibliothek der theologischen Fakultät“ (162) sei, gilt insofern nicht mehr, als die Bamberger Theologische Fakultät 2009/10 zu einem Institut der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Bamberg herabgestuft wurde. Den Erbländern der Monarchie gilt der Beitrag von Philip Steiner über den in Graz und Wien lehrenden Kanonisten Franz Xaver von Neupauer (1753–1835), in dessen Mittelpunkt Neupauers Schrift „Frage: Ob der Kaiser das Recht habe, in seinen Erbländern aus eigener Macht eine neue Diözesaneintheilung vorzunehmen“ von 1784 steht. Steiner stellt Neupauer zu Recht mit Paul Joseph von Riegger und Josep Valentin Eybel als bekannteren Vertretern des josephinischen Staatskirchenrechts in eine Linie. Entgangen ist ihm allerdings HARM KLUETING: Die Diözesanregulierung unter Kaiser Joseph II. in der österreichischen Monarchie. In: EDELTRAUD KLUETING u. a. (Hg.): Bistümer und Bistumsgrenzen vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Rom 2006, 170–194. Eine Gestalt gleichsam der Gesamtmonarchie behandelt Norbert Spannenberger mit Johann Ladis-
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laus Pyrker (1772–1847), der zwar in Ungarn geboren wurde, aber einer Tiroler Adelsfamilie entstammte, als Zisterzienser in das Stift Lilienfeld in Niederösterreich eintrat und dort Abt wurde, 1818 die Bischofswürde der Zips in der heutigen Slowakei empfing, 1821 Patriarch-Erzbischof von Venedig (das mit dem Königreich Lombardo-Venezien seit dem Wiener Kongress zu Österreich gehörte) und Primas von Dalmatien wurde und in Wien starb. Den seit der Eroberung durch Friedrich II. preußischen Teil Schlesiens nehmen Werner Simon in „Benedikt Strauch (1724–1803) – Reform der Schule und Reform der Katechese in Schlesien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ und Horst-Alfons Meißner in „Die Schulvisitation des königlich-preussischen Decanus und Prager erzbischöflichen Vikars Carl Winter im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz“ in den Blick. In das heutige Tschechien führen der Beitrag von Ondřej Bastl, Robert Pesch und Philip Steiner, „Der Josephinismus in Böhmen. Skizzen einer Intention und Rezeption“, nach Ungarn die Aufsätze von Dániel Bárth, „Katholische Aufklärung und Volksfrömmigkeit im Ungarn des 18. Jahrhunderts“, András Hegedüs, „Priesterbildung in Ungarn unter der Regierungszeit von Joseph II. mit besonderer Berücksichtigung des Generalseminars in Pressburg“, György Janka, „Auswirkungen der Aufklärung auf die griechisch-katholische Kirche im Königreich Ungarn“, und Zoltán Gözsy über „Die Phasen der katholischen Aufklärung in Südtransdanubien“. Transdanubien ist der westlich der Donau gelegene Teil des historischen Ungarn, zu dem die von Gözsy behandelten Bistümer Pécs und Veszprém gehörten. Mit Ungarn verbunden war Siebenbürgen, auf das – mit dem Schwerpunkt auf Kronstadt – Edith Szegedi mit ihren „Überlegungen zur Rolle der josephinischen Reformen in der Geburt der modernen Stadt in Siebenbürgen“ eingeht. Ins Zentrum des Themas katholische Aufklärung führen Peter Šoltés und Norbert Jung. Šoltés stellt die „Eingriffe des Josephinismus in religiöse Festivitäten der katholischen Kirche“ vor, behandelt die Feiertagsreduktionen und das staatliche Vorgehen gegen Wallfahrten und Prozessionen und kommt zu dem Ergebnis: „Von allen josephinischen Kirchenreformen wiesen die Eingriffe in den Gottesdienst und in die mannigfaltigen Formen der Volksfrömmigkeit das größte Konfliktpotenzial auf. Im Grunde genommen ging es um eine lange Reihe von Verboten, Restriktionen und Beschränkungen, welche das Ziel verfolgten, die kontemplativen und emotionalen Aspekte der religiösen Praxis zurückzudrängen und Belehrung zum wichtigsten Teil des Gottesdienstes zu erheben“ (183). Hier vermisst man einen Hinweis auf den Jansenismus – das Wort selbst fällt nie; nur einmal wird Lodovico Antonio Muratori genannt (172) – und eine Auseinandersetzung mit dem „österreichischen Spätjansenismus“ (PETER HERSCHE: Der Spätjansenismus in Österreich, Wien 1977). Den vielleicht wichtigsten Beitrag des Bandes liefert Norbert Jung mit seinem Aufsatz über „Franz Stephan Rautenstrauch und seine Rolle im Fall Isenbiehl“. Es geht um den sogenannten Isenbiehlschen Streit und um den katholischen Exegeten Johann Lorenz Isenbiehl und sein 1777 erschienenes Werk „Neuer Versuch über die Weissagung vom Emmanuel“ mit der Kritik an der Beziehung von Jesaja 7,14 zur Geburtsgeschichte Jesu bei Matthäus 1,22 f., das 1779 durch Papst Pius VI. verboten wurde. Es geht fer-
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ner um Franz Stephan Rautenstrauch, Direktor der Wiener Theologischen Fakultät seit 1774 und bedeutender Vertreter vor allem der josephinischen Reform des Theologiestudiums, der 1775 anhand des Manuskripts über Isenbiehls Schrift geurteilt hatte, darin nichts der Glaubenslehre Widersprechendes gefunden zu haben. Zu Isenbiehl, der sich dem päpstlichen Verbot unterwarf, merkt Jung an, offiziell sei die Verurteilung des Papstes „bis heute in Geltung, auch wenn die katholische Bibelwissenschaft dessen ungeachtet inzwischen die Ergebnisse der historischkritischen Exegese weitgehend rezipiert hat“ (235). Jung grenzt sich ab von Beda Franz Menzels Buch „Abt Franz Stephan Rautenstrauch“ von 1969 und knüpft an Dominik Burkards Aufsatz „Schwierigkeiten bei der Beschäftigung mit der päpstlichen Zensur im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel der ‚Causa Isenbiehl‘“ von 2008 (in: HUBERT WOLF [Hg.]: Verbotene Bücher, Paderborn 2008) an. Ergänzend zu erwähnen sind die Arbeiten von Lydia Bendel-Maidl, „Reflexionen über das Gebet in theologischen Lehrbüchern der Aufklärung“, und Rainer Bendel, „Aufklärung und Ökumene“, sowie nicht zuletzt die Einführung von Norbert Jung, „Die Katholische Aufklärung – eine Hinführung“. Jung macht deutlich, dass „Strömungen des Josephinismus oder des Jansenismus und natürlich auch andere Ausprägungen der Aufklärung innerhalb des Katholizismus nicht von vorneherein als glaubensfeindlich bewertet werden“ (50) dürfen – hier hätte er auch auf das Aufklärungs- und Vernunftverständnis bei Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. verweisen können – und stellt fest: „Den katholischen Reformern der Aufklärungszeit ging es um die Kommunikabilität des Glaubens im Sinne einer Reaktion auf die Zeichen der Zeit“ (43). Harm Klueting
Köln/Fribourg
FRIEDEMANN PESTEL: Kosmopoliten wider Willen. Die „monarchiens“ als Revolutionsemigranten (= Pariser Historische Studien 104), Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, 589 S., (ISBN 978-3-11-041517-9), 54,95 EUR. Mit der Rezeption des Kulturtransferkonzepts in der deutschsprachigen Historiografie avancierten die französischen Revolutionsemigranten ab Ende der 1980er Jahre zu einem beliebten Forschungsthema, dem eine beachtliche Anzahl von Abschlussarbeiten, Sammelbänden und Dissertationen gewidmet wurde. Als wichtige Mittlergruppe in französisch-deutschen Transfers in der Revolutionsära identifiziert, wurden ihre Anwesenheit, Tätigkeiten und Lebensbedingungen im Alten Reich zumeist regionalgeschichtlich untersucht. Die historiografische Erschließung ihrer Exilräume erbrachte in dieser Produktivphase der Forschung eine reiche Ernte: Zu vielen Einzelterritorien erschienen „Geschichte[n] der Französischen Revolutionsemigration“, die sich der empirischen Einlösung des Transferkonzepts im Sinne Michel Espagnes verschrieben hatten. Schien mit der Konjunktur kulturtransfergesättigter Arbeiten um die Jahrtausendwende die Thematik einen letzten Aktualitätszyklus durchlaufen zu haben, zeigt Friedemann Pestel mit der vorliegenden, methodisch gleichermaßen innovativen wie anspruchsvollen Studie in beeindruckender Weise, dass das Forschungs-
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feld alles andere als abgeerntet ist. Vielmehr gelingt es ihm in dieser auf seiner Freiburger Dissertation beruhenden Arbeit, eine neue Erkenntnisebene zu erschließen, die den stets beschworenen Attributen einer „transnational“ und „europäisch“ ausgerichteten Perspektive in der Geschichtswissenschaft tatsächlich gerecht wird. Um das vieldimensionale Phänomen der Emigration in seiner Komplexität und Heterogenität fassen zu können, argumentiert Pestel für ein methodisches Instrumentarium, das die jahrzehntelangen „Theoriegefechte“ (39) der Komparatistik transzendiert. Obwohl als grundsätzlich „inklusiv“ (41) charakterisiert, fußt es in der Hauptsache auf einer Operationalisierung des von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann vorgeschlagenen Konzepts einer histoire croisée. Spätestens hier dürfte auch die Aufmerksamkeit eines nicht primär emigrantenaffinen Lesers geweckt sein, der – wie Pestel wohl zu Recht unterstellt – bis dato mit einer „Mischung aus Interesse und Skepsis“ (40) auf die Machbarkeit einer histoire croisée geblickt hat, nach der Lektüre das Buch gleichwohl in der Überzeugung aus der Hand legen dürfte, dass sich die darin gebündelten Analyse- und Interpretationswerkzeuge für eine akteurszentrierte Studie aus dem traditionell stark politisierten Themenkomplex der französischen Revolutionsemigration bewährt haben. Am Beispiel einer überschaubaren Gruppe konstitutioneller Monarchisten, den monarchiens um die Protagonisten Mallet du Pan, Malouet, Lally-Tollendal, Montlosier und Mounier, analysiert Pestel Exilerfahrungen und politische Kooperationen als Verflechtungsgeschichte in europäischer Perspektive. Der zeitliche und räumliche Rahmen der Untersuchung richtet sich dabei methodisch konsequent am Aktionsradius der Akteure aus: Nachdem sich die monarchiens in der Assemblée constituante mit ihrem Vorschlag einer konstitutionellen Monarchie nach englischem Vorbild nicht hatten durchsetzen können, setzten sie im Exil ihre politischen Aktivitäten nahtlos fort, bevor sie ab 1799 sukzessive nach Frankreich zurückkehrten und dort ihre Karrieren weiterverfolgten. Während die monarchiens in der Revolutionshistoriografie zumeist auf ihr in der Nationalversammlung gescheitertes politisches „Projekt“ reduziert wurden, identifiziert Pestel in diesem Rückschlag „den Ausgangspunkt für einen Schub höchst unterschiedlicher Aktivitäten im Exil, die auf die Rettung beziehungsweise Wiederherstellung der französischen Monarchie in modifizierter Form zielten“ (32). Erst aus dem Zusammenwirken von Revolutionserfahrung und Emigration entwickelten sich ihre eigentlichen und langfristigen Karrieren, so Pestels erste Hypothese. Da die monarchiens mit ihren prägenden Erfahrungen der Emigrationsjahre nach Frankreich zurückkehrten, postuliert der Autor zum Zweiten, dass „die Emigration mit der Rückkehr nicht endete, sondern auf der Handlungs- wie der Deutungsebene eine prägende Referenz blieb“ (32). Aus beiden Aspekten ergibt sich die diachrone Grundstruktur der nachfolgenden Untersuchung. Auf Basis des umfangreichen Korrespondenznetzwerks der monarchiens geht Pestel ihren Denk- und Handlungsräumen im Exil sowie ihren Beziehungen mit anderen Emigrantengruppen und Angehörigen der Aufnahmegesellschaften nach. Da sie mit ihren Aktivitäten zunächst innerhalb, dann aber vor allem außerhalb
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Frankreichs an einer kommunikativen Schnittstelle der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Revolution standen, fungieren die monarchiens gleichsam als Prisma, durch das politische Strategien und Transferprozesse in den Exilkontexten sichtbar gemacht werden können. Dieses ambitionierte Programm zeigt, dass es sich bei der Untersuchung weder um eine „klassische“ Kulturtransferstudie noch um eine Migrations- oder Ideengeschichte im engeren Sinne, sondern um eine all diese Elemente integrierende Verflechtungsgeschichte handelt. Die Arbeit folgt einer chronologischen Gliederung in drei Teilen, die anders als die meisten Studien zur Revolutionsemigration die Langzeitperspektive in den Untersuchungsrahmen einbezieht, neben dem Erfahrungsraum der Protagonisten im (vor-)revolutionären Frankreich insbesondere ihre Reintegration in die postrevolutionären Regime nach 1799. Der erste Teil „Aufbrüche“ (55–127) behandelt Biografien und Werdegänge der monarchiens im späten Ancien Régime, ihre politischen Initiativen bis zur Niederlage in der Nationalversammlung im Herbst 1789 sowie ihre zunehmende Marginalisierung, die schließlich in den Entschluss zur Emigration mündete. Dieser Abschnitt gerät trotz der zu bewältigenden Stofffülle angenehm prägnant und kann die Ideenwelten und Handlungsreichweite der monarchiens in der beginnenden Revolution in viele Richtungen ausloten. Der umfangreiche zweite Teil „Europaerfahrungen“ (131–397) widmet sich als Herzstück der Arbeit der Emigrationszeit in den 1790er Jahren. Im Mittelpunkt stehen neben der von den monarchiens betriebenen Revolutions- und Emigrationsanalytik insbesondere ihre europaweiten Interaktionen mit politisch konkurrierenden Lagern der Emigranten (constitutionels, royalistes, dem Exilhof um Ludwig XVIII.) und mit zahlreichen auswärtigen Höfen und Regierungen. Gegliedert nach den Exilräumen, in denen sich die monarchiens hauptsächlich aufhielten, besticht die Darstellung durch ihre konsequenten Perspektivwechsel, mittels derer die Verflechtungen im Hinblick auf politische Projekte und Programme induktiv erschlossen werden. Aus Sicht einer sich als europäisch verstehenden Regionalgeschichte sind die Unterkapitel dieses Mittelteils, die den wechselseitigen Rezeptionen und Austauschbeziehungen in den einzelnen Exilkontexten gewidmet sind, von besonderem Interesse: Neben Großbritannien (211–253) als bedeutendstem Aufenthaltsraum werden Genf und die Schweiz (299–339) sowie das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach (341–363) eingehender beleuchtet. Die Einbeziehung Saint-Domingues (255–298) erweitert den Horizont schließlich um die koloniale Dimension emigrantischer Exilerfahrung, war es doch im Zuge der Haitianischen Revolution 1791 ebenfalls zu einer Auswanderungsbewegung gekommen, die sich personell, ideell und politisch mit der französischen Revolutionsemigration, insbesondere in Person des monarchien Malouet, überlappte: ein komplexes croisement, das der Autor nach allen Regeln der Kunst ausbuchstabiert. Als konzeptueller Mehrwert für die Emigrantenforschung ist festzuhalten, dass Pestel in diesem Abschnitt dem bewährten räumlichen Zugriff auf Einzelterritorien eine überzeugende Alternative gegenüberstellt, die die grenzüberschreitenden Verflechtungen und Wechselwirkungen der Akteure sowie ihrer Positionen und Deutungen zum Ausdruck bringt – und damit die Gefahr einer räumlich isolierenden Perspektive methodisch gekonnt umschifft.
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Die Exilerfahrungen der monarchiens werden im dritten Abschnitt „Ausblicke“ (401–488) mit Bezug auf ihre Reintegration und Wirkungsmöglichkeiten in Zeiten des Konsulats, des Empire und der Restaurationsära bis 1830 diskutiert. Dies betrifft zunächst die Rückkehr und die Inklusionswege, die auf einer Inwertsetzung ihrer Erfahrungen, Kontakte und Kenntnisse aus der Emigrationszeit gründeten, aber keineswegs gradlinig verliefen. Ferner werden politische Standpunkte und Aktivitäten der monarchiens bis zur Julirevolution untersucht, die ebenfalls maßgeblich vom Deutungswissen aus der Exilzeit geprägt waren. Mit dieser diachronen „Verlängerung“ der Studie gelingt es Pestel, aus der Perspektive der monarchiens die zentralen politischen Auseinandersetzungen im Frankreich der Restauration zu kontextualisieren und diese als Versuche einer Historisierung der Revolution zu interpretieren. Ein Resümee (489–511) zum europäischen Erfahrungsraum des Exils rundet die umfangreiche Darstellung ab. Unter formalen Gesichtspunkten sind die handwerkliche und sprachliche Präzision sowie die konzeptuelle Souveränität hervorzuheben, mit der Pestel die ungeheure Stoffmenge bewältigt. Nachdem der Autor bereits zuvor mit einer Reihe einschlägiger Publikationen zur Revolutionsemigration hervorgetreten ist, die stets von analytischer Tiefe und methodischer Innovation gekennzeichnet waren, setzt er mit der vorliegenden Studie ein deutliches Ausrufezeichen, das über die Revolutions- und Exilforschung hinaus wahrgenommen werden dürfte. Obwohl die inhaltliche Verdichtung und die Häufung begrifflicher Abstrakta die Lektüre zuweilen etwas mühsam geraten lassen, ist Pestel mit der vorliegenden Arbeit zweifellos ein großer Wurf gelungen. Matthias Winkler
Berlin
JOACHIM BRÜSER, KONRAD KRIMM (Hg.): Die Ortenauer Reichsritterschaft am Ende des Alten Reiches (= Oberrheinische Studien 33), Ostfildern: Thorbecke 2015, 388 S., 40 Abb., (ISBN 978-3-7995-7834-9), 34,00 EUR. Eine befriedigende Gesamtdarstellung der Geschichte der Reichsritterschaft hat die Wissenschaft, wie Martin Stingl vor über zwei Jahrzehnten konstatierte, bislang nicht zuwege gebracht (Reichsfreiheit und Fürstendienst. Die Dienstbeziehungen der Bibra 1500 bis 1806, Neustadt an der Aisch 1994). Daran hat sich auch in der Zwischenzeit nichts geändert. Umso erfreulicher ist es, dass immer wieder ‚Tiefenbohrungen‘ zu einzelnen Aspekten bzw. Einheiten dieser Korporation, zu Familien, Kantonen oder Ritterkreisen, entstehen und damit Etappenziele erreicht werden, die eine vergleichende und übergreifende Betrachtung ermöglichen. Die jüngsten Arbeiten zu diesem komplexen Gegenstand zeichnen sich durch völlig unterschiedliche Ausrichtungen, Ansätze, Konzepte und zugrundeliegende Quellenbestände bzw. -gattungen aus. Ein zeitlicher Schwerpunkt der Forschungen liegt seit jeher im 16. und frühen 17. Jahrhundert als Epoche von Reformation und katholischer Reform, in der der Reichsritterschaft als Trägerin und Multiplikatorin neuer Impulse entscheidende Bedeutung zukam. Bisher eher vernachläs-
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sigt wurden hingegen ihre Handlungsspielräume in der Endphase des Alten Reiches. Einen Akzent setzt neben der Arbeit Michael Puchtas (Mediatisierung „mit Haut und Haar, Leib und Leben“ – Die Unterwerfung der Reichsritter durch Ansbach-Bayreuth [1792–1798], Göttingen 2012) der hier zu besprechende Sammelband, der auf eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft für geschichtliche Landeskunde am Oberrhein und des Historischen Vereins für Mittelbaden vom Juni 2013 auf Schloss Altdorf in Ettenheim zurückgeht. Die Ortenauer Reichsritterschaft mit ihrer engen personellen und institutionellen Verflechtung mit der Ritterschaft des Unterelsass, gleichzeitig ein ‚Zwischenland‘ zwischen den Markgrafen von Baden, den Herzögen von Württemberg, den Habsburgern in Vorderösterreich, den Bischöfen von Straßburg und den Kurfürsten von der Pfalz, galt bisher als die am wenigsten erforschte. Dem schafft der Sammelband nun Abhilfe. Grundlagenforschung bezüglich ihres Güter- und Mitgliederstandes betreibt zunächst Kurt Andermann als ausgewiesener Kenner der Reichsritterschaft. Weder Besitz noch Anzahl der immatrikulierten Familien waren über die Jahrhunderte konstant. Diese Fluktuation stellt in der Zusammenschau mit anderen reichsritterschaftlichen Gebieten jedoch nichts Ungewöhnliches dar, wohl aber die Ergebnisse Andermanns zur Rezeption von Aufsteigern, bei denen man in der Ortenau sehr viel weniger restriktiv verfahren sei als andere Ritterkantone, die in der Regel auf strikte Exklusivität achteten. Vier teils umfangreiche Mitglieder- und Ortsverzeichnisse ergänzen den Beitrag. Joachim Brüser stellt die komplizierten Abläufe bei der Aufnahme neuer Mitglieder am späten Beispiel der Freiherren von Türckheim (1790) in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Zwischen 1551 und 1804 wurden insgesamt 33 Familien aufgenommen; im April 1790 bestand die Ortenauer Reichsritterschaft aus 32 Familien. Befremdlich ist bei Brüser der laxe Umgang mit der reichsritterschaftlichen Spezialterminologie, die besonders mit dem in dieser Hinsicht überaus präzisen Vorgängerbeitrag kontrastiert. So kreiert Brüser einen „Kanton Ortenau“ (passim), den es nie gab. Innerhalb des schwäbischen Ritterkreises mit seinen sechs Kantonen kam der Ortenau ein Sonderstatus zu: Sie bildete keinen selbständigen Kanton, sondern war ein dem Kanton Neckar-Schwarzwald assoziierter Ritterbezirk. Henning Volle stellt in Wort und Bild das Ordenskreuz der Schwäbischen Reichsritterschaft als der Dachorganisation, der auch die Ortenauer Ritter angehörten, dar, das 1793 durch kaiserliches Diplom gestiftet wurde. Allerdings konnten sich seine Träger dieser Auszeichnung nur wenig mehr als ein Jahrzehnt erfreuen. Wolfang M. Gall nähert sich mit der Reichsstadt Offenburg dem letzten Verwaltungssitz der Ortenauer Reichsritterschaft. Im dortigen Ritterhaus residierte sie nur drei Jahre lang, von 1804 bis 1806. Zuvor fungierten das wenig standesgemäße Dorf Kehl oder Straßburg als Kanzleiorte, stammten doch 15 der 29 Familien des Ritterbezirks aus dem Elsass und verfügten sowohl über links- als auch über rechtsrheinischen Besitz. Die für das Elsass typische Grenzkonstellation erlaubte es den Adeligen bis zum Ausbruch der Französischen Revolution, zwischen Habsburg und Bourbon zu lavieren. Im Zuge der Revolution wurden die Ritterorden jedoch aufgelöst, und die elsässischen Ritter sahen sich vor die Wahl gestellt, französische Staatsbürger zu werden oder deutsche Reichsritter zu blei-
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ben. Die meisten zogen sich auf ihre rechtsrheinischen Güter zurück. Umso dringlicher wurde eine rechtsrheinische Lösung der Ritterhaus-Frage. Die katholische Reichsstadt Offenburg öffnete den Rittern indes nur zögerlich ihre Tore, avancierte sie durch den Zuzug vieler prominenter französischer Emigranten doch bereits selbst zur „royalistische[n] Hochburg“ (83) und so letztlich zum Ziel der Revolutionsarmee, die die Stadt 1797 besetzte und ihren finanziellen Niedergang heraufbeschwor. Den Kauf eines Anwesens in der Stadt genehmigte daher erst der neue kurbadische, protestantische Stadt- und Landesherr (seit 1802). 1805 wurde mit der Rheinbundakte allerdings auch die Ortenauer Ritterschaft aufgelöst und ging an Baden über. Martin Furtwängler setzt sich mit den Optionen der Ortenauer Reichsritter nach ihrer Mediatisierung und dem Verhältnis des ehemaligen Reichsadels zu Baden als neuem Souverän auseinander. Der Badener Hof wurde durch Staatsverwaltung und Militär zum „Karriereort“ (90) für die Ortenauer, während gleichzeitig ihre grundherrlichen Vorrechte sukzessive eingeschränkt und die Adeligen letztlich auf die lokale Ebene verwiesen wurden. Mit der Revolution 1848 fielen schließlich die letzten Herrschaftsvorrechte des Adels. Die Mediatisierung führte hier dennoch nicht zu einer Abgrenzung und Distanzierung gegenüber dem neuen Souverän, wie dies vor allem beim hohen Adel meist der Fall war. Der „Realitätssinn“ (104) der ehemaligen Reichsritter hinsichtlich der eigenen politischen Situation führte vielmehr zu einer bewussten Hinwendung zum Staat und zur Integration in diesen. Daniel Menning analysiert in vier Schritten eine anonyme, im Umfeld des Landtags von 1831 entstandene Denkschrift zu den ideologischen Grundpositionen des Konservatismus sowie zum Verhalten des Adels auf dem Landtag, die er dem Freiherrn Ludwig Rüdt von Collenberg (1799–1885) zuschreibt. Konrad Krimm schließlich rundet den Sammelband durch eine Einführung in die Archive der Ortenauer Reichsritterschaft ab, in der er den „Wanderungen und Fluchten eines juristischen Schatzes“ (146) nachgeht, die die Rechtstitel vor dem neuen badischen Landesherrn in Sicherheit bringen sollten. Er befasst sich dabei auch intensiv mit der Beamtendynastie Sahler/Schöll, deren Mitglieder fast ein volles Jahrhundert die Interessen der Ortenauer Ritterschaft als Syndici, Konsulenten und Sekretäre vertraten und das Archiv verwalteten. Das Schmuckstück des Bandes stellt allerdings das sich anschließende Inventar des ritterschaftlichen Archivs in der Ortenau dar. Konrad Krimm legt hier die Ergebnisse eines virtuellen Rekonstruktionsversuches vor, gegliedert in Universalia, Publica, Cameraliae, Familiae, Bonae und Iudicialia. Der Katalog, dessen Umfang mehr als die Hälfte der gesamten Publikation einnimmt (167–355), versteht sich als Annäherung und Wegweiser zur Nutzung eines heutzutage weit verstreuten Bestandes. Leider liegt dieses einmalige Instrument bisher nicht in digitaler Form mit entsprechenden Recherchefunktionen, etwa in Form einer CD-ROM-Beigabe, vor. Wenngleich der Band sowohl innerhalb mancher Beiträge als auch in deren Zusammenschau etliche Redundanzen aufweist und die Aufsätze an manchen Stellen über eine breit angelegte Darstellung nicht hinausreichen, stellt er doch eine enorme Bereicherung des Kenntnisstandes zur Ortenauer Reichsritterschaft
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und der von Turbulenzen gezeichneten letzten Phase ihres Bestehens dar. Besonders die Familie der Freiherren von Türckheim steht dabei immer wieder im Mittelpunkt. Die zweite Hälfte des Bandes stellt indes ein leider an diesem Ort recht verstecktes Hilfsmittel bereit, dem zahlreiche Beachtung, Benutzung und Auswertung, auch und vor allem durch überregionale Studien, zu wünschen ist. Andreas Flurschütz da Cruz
Bamberg
4. 19. und 20. Jahrhundert BÄRBEL SUNDERBRINK: Revolutionäre Neuordnung auf Zeit. Gelebte Verfassungskultur im Königreich Westphalen: Das Beispiel Minden-Ravensberg 1807– 1813 (= Forschungen zur Regionalgeschichte 75), Paderborn: Schöningh 2015, 411 S., (ISBN 978-3-506-78150-5), 44,90 EUR. Unter dem Stichwort der „gelebten Verfassungskultur“ fragt Sunderbrink danach, wie die Einwohner und Staatsbürger die vom Königreich Westphalen verheißene politisch-soziale Neuordnung wahrnahmen, trugen und mitgestalteten oder ablehnten und untergruben. Nachdem die Forschung zu den napoleonischen Filialstaaten in Deutschland während der vergangenen Jahrzehnte die negativen Stereotype der preußisch-nationalen Geschichtsschreibung überwunden hat, vertieft die Verfasserin die Frage nach den Reform- und Modernisierungsimpulsen des Königreichs Westphalen durch Konzentration auf die ehemals preußische Provinz Minden-Ravensberg, die von 1807 bis 1811/13 die Distrikte Minden und Bielefeld im Weserdepartement des neuen Königreichs bildete. Nach der Einleitung (9–25) stellt das zweite Kapitel den Übergang der Herrschaft auf Jérôme, den Bruder Napoleons, und die Begründung seines Königreichs dar (26–66). Anschließend wird der Aufbau der neuen Verwaltungsstruktur auf regionaler und lokaler Ebene analysiert und das Verwaltungspersonal auf Herkunft, soziales Profil und Verhaltensweisen untersucht (67–117). Das bei weitem umfangreichste vierte Kapitel (118–318) wendet sich verschiedenen „Aspekten gelebter Verfassungskultur“ zu: der „öffentlichen Herrschaftsvermittlung“ durch Staatsinsignien und festliche Inszenierungen (118–152), der politischen Partizipation auf zentraler, regionaler und lokaler Ebene (153–172) sowie der Durchführung von Reformen auf den Gebieten der Agrarverfassung (172–186), der Gewerbeordnung (186–204), der Rechtsstellung der Juden (204–235), der Armenfürsorge (236–251) und des Gesundheitswesens (251–260). Danach werden besondere Konfliktfelder erörtert: die Pressezensur (260–269), die Aushebungen zum Militär (270–298) und die Einführung neuer Steuern. Das fünfte Kapitel behandelt das Ende der „fragilen Akzeptanz“ des Königreichs Westphalen. Ursache für den Umschwung war zunächst die Annexion der nördlichen Teile durch das Kaiserreich Frankreich 1811, die eine einschneidende Grenze quer durch Minden-Ravensberg
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etablierte, und dann vor allem der Krieg von 1812/13 (319–346). Am Schluss werden die Ergebnisse der Studie kurz zusammengefasst (347–354). Effizient nutzt die Verfasserin die umfangreiche allgemeine, regionale und lokale Forschungsliteratur sowie gedruckte Quellen. Die interessantesten Ergebnisse aber erarbeitet sie naturgemäß aus den Archivalien, die sie vor allem auf örtlicher und regionaler, aber auch auf gesamtstaatlicher Ebene aufgesucht hat. Nur einige der wichtigen Befunde können hier erwähnt werden. In mehrfacher Hinsicht knüpfte das neue Königreich an die preußische Zeit an: Die Gliederung des Weserdepartements berücksichtigte die bisherigen Strukturen, zumal sie im Einzelnen von den ortskundigen Beamten mitbestimmt wurde (72 f.). Das Verwaltungspersonal war überwiegend deutsch; großenteils wurden Beamte aus dem preußischen Dienst übernommen. Das war für diese weniger problematisch als für die Bediensteten anderer Fürsten, weil der König von Preußen seine westlichen Länder formell abgetreten, seine Untertanen und Beamten von ihrem Treueid entbunden hatte (77 ff.). Als Präfekten und Unterpräfekten kamen Männer aus dem reformorientierten Teil der preußischen Bürokratie zum Zuge; als Kantonsmaires – deren Sprengel meist mehrere Kirchspiele mit jeweils etlichen Bauerschaften umfasste – versorgte man auch weniger qualifizierte Männer aus der Steuerverwaltung (106 ff.). Auf der untersten Ebene, in den einzelnen Landgemeinden, Maires zu etablieren, erwies sich als unmöglich; zu gering war die Bereitschaft zu solchen Ehrenämtern (105, 110 f.). Deutlich zeigt sich, dass die ehemals preußischen Beamten dazu neigten, Verwaltung und Rechtsprechung weiterhin in einer Hand zu belassen; die Regierung setzte trotzdem die Teilung der Gewalten durch (105). Die genaue Auswertung der lokalen Quellen zeigt, wie die öffentliche Vereidigung aller Haushaltsvorstände auf den neuen König und die Verfassung unter der Regie von Beamten und Geistlichen vor Ort 1808 in einer durch Soldatenaushebungen angespannten Situation erfolgreich durchgeführt wurde (133 ff.). Obwohl die Mitglieder der Reichsstände ebenso wie diejenigen der Departementsund Distriktsräte von ernannten Wahlmännern bestimmt wurden, die Staatsbürger also keine eigenständige Möglichkeit zur politischen Mitsprache hatten, nahmen viele die Mitwirkungsrechte selbstbewusst und aktiv wahr, statt sich den ‚von oben‘ gegebenen Direktiven zu fügen (158 ff., 162 ff., 169 ff.). Was die Durchführung des Reformprogramms angeht, beruhen die Aussagen zu den Agrarreformen großenteils auf der Sekundärliteratur. Origineller und detaillierter sind die Befunde dazu, wie die Einführung der Gewerbefreiheit und die Aufhebung der Zünfte und Gilden vor Ort durchgesetzt wurden (186 ff.). Zur Emanzipation der Juden geht die Untersuchung bis auf die Ebene der einzelnen Familien und Personen; dabei werden auch die Hindernisse sichtbar, die ihrer Freizügigkeit weiter entgegenstanden und bisweilen von den bereits ortsansässigen Glaubensgenossen aufrechterhalten wurden (214 ff.). In manchen Städten reichte es für die Niederlassung nicht aus, westphälischer Staatsbürger zu sein, sondern es musste zusätzlich das städtische Bürgerrecht erworben werden (223 f.). Bei der Armenfürsorge legte das Königreich einheitliche Grundsätze für den gesamten Staat fest, proklamierte die staatliche – statt der kirchlichen – Zuständig-
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keit und gab das traditionelle Heimatprinzip auf, das die Bedürftigen an ihren Geburtsort verwiesen hatte. Interessant ist, wie unterschiedlich die Umsetzung von Ort zu Ort ausfiel und welch weitgehende Kompromisse mit den kirchlichen Institutionen und Amtsträgern besonders in den Landgemeinden gemacht wurden (242 ff., 247 ff.). Beim Gesundheitswesen werden die – im Vergleich zur preußischen Zeit – großen Erfolge bei der Pockenschutzimpfung hervorgehoben (257 ff.). Ebenso genau wie Akzeptanz und Mitwirkung werden Zurückhaltung, Verweigerung und Protest untersucht, besonders der örtliche Widerstand gegen Rekrutenaushebung, die Belastung durch Kontributionen, Einquartierung und Spanndienste für das Militär (270 ff.). Bei den lokalen Steuerrevolten zeigt sich, dass Frauen – wie auch in anderen Ländern bei Unruhen, die die Subsistenz verteidigen sollten – nicht selten an vorderer Front aktiv teilnahmen (311, 315). Interesse verdient, dass die Protagonisten sich bisweilen auf die Grundsätze der westphälischen Verfassung beriefen, gegen die Ungerechtigkeit des bestehenden Steuersystems (312, 315, 318; vgl. auch 289 f.). Akzeptanz und Widerstand konnten sich also in mancher Hinsicht wechselseitig durchdringen. So bringt das Buch vielfältigen Ertrag. Gewiss mag hier und da ein Wunsch offen bleiben. Über Organisation und Personal der Gendarmerie hätte man gern mehr erfahren. Die – aus der Forschungsliteratur übernommene – These, dass der neue Staat „auf jeden einzelnen Untertanen direkt“ zugreifen konnte (46 u. ö.), wäre besser explizit anhand der Einzelergebnisse konkretisiert oder relativiert worden. Wenn die Belastung durch die französischen Kriegskontributionen in Francs oder Talern erwähnt wird (35 ff.), hätte ein näherungsweiser Vergleich mit der preußischen Steuerlast die Aussagekraft erhöht. Der Transkription französischer Zitate aus archivalischen Quellen wäre eine zweite Durchsicht förderlich gewesen; vereinzelt gilt das auch für die deutsche Übersetzung dazu (314 mit Anm.). Leider sind die Karten im Band nur schwarzweiß und oft so klein, dass sie wenig hilfreich wirken (bes. 18 f., 74 f.). Trotz solch kleiner Einwände leistet die Studie einen beachtlichen Beitrag zur Frage nach der Durchführung und Akzeptanz der „Modernisierungsimpulse“ (348) des napoleonischen Modellstaates in Deutschland. Jürgen Schlumbohm
Göttingen
OLGA WECKENBROCK: Adel auf dem Prüfstand. Strategien adeliger Selbstbehauptung bei Ernst (1738–1813) und Ludwig (1774–1844) Freiherren von Vincke (= Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte 20), Münster: Aschendorff 2014, 314 S., (ISBN 978-3402-15061-0), 44,00 EUR. Wenige Themenfelder haben in der seit Jahren blühenden Adelsforschung mehr Aufmerksamkeit gefunden als der Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne. Mithin konnte die Konstellation an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kaum spanungsvoller sein: Die inneradelige Heterogenität erlebte aufgrund einer extensiven Nobilitierungspraxis ihren Zenit; zumal besitzlose Adelige verarmten
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in großer Zahl. Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft implizierte in politischer wie in soziokultureller Hinsicht die Delegitimierung des adeligen Führungsanspruchs, geburtsständische Privilegien wurden durch Werte wie Arbeit, Fleiß und Leistung konterkariert. Zugleich war Europa indes „am Ende des Ancien Régime mehr denn je durch eine aristokratische Gesellschaftsordnung geprägt“ (Ronald G. Asch). Adelige Selbstbehauptungsstrategien in dieser „entsicherte[n] Ständegesellschaft“ (Ewald Frie) sind wiederholt Gegenstand der Betrachtung gewesen. Sie erweisen sich jedoch als derart mannigfaltig, dass der Bedarf an Tiefenbohrungen, gerade in mikrohistorischer Perspektive, noch nicht gedeckt scheint. Hier setzt Olga Weckenbrock mit ihrer in Osnabrück entstandenen Dissertation an. Die Arbeit fokussiert für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert adelige Verhaltensweisen im Spiegel einer vergleichend angelegten Doppelbiografie. Ernst Freiherr von Vincke (1738–1813) und sein Sohn Ludwig (1774–1844), der langjährige Oberpräsident der preußischen Provinz Westfalen, dienen als Sonden, um aus praxeologischer Perspektive das „Spannungsfeld zwischen den individuellen und standesgebundenen Lebensvorstellungen des Adels“ auszuloten (12) und damit einschlägige Anpassungs- und Distinktionsmuster herausarbeiten zu können. Als Vergleichskategorien fungieren Kindheitserfahrungen, Ausbildungsstationen, politisches Handeln sowie das Familienleben. Den theoretisch-methodischen Anker bildet – wie in vielen adelshistorischen Arbeiten – der von Pierre Bourdieu geprägte Habitus-Begriff, der als eine Art Wahrnehmungsmatrix figuriert und so als zentrales Gelenk zwischen strukturellen Gegebenheiten und individueller Lebenspraxis verstanden werden kann. Da er mit dem Aspekt der Selbstreflexivität jedoch allenfalls bedingt kompatibel ist, schließt Olga Weckenbrock außerdem an die Überlegungen des Kultursoziologen Alois Hahn zur partizipativen Identität an. Quellengrundlage der Arbeit bilden Selbstzeugnisse, d. h. in erster Linie Briefe und Tagebücher; im Falle des bereits gut erforschten Ludwig von Vincke hat die Autorin eine exemplarische Auswahl aus dem vorhandenen Material getroffen. Der biografische Vergleich zeigt scheinbar klare Erkenntnisse: Während Ernst von Vincke eine standestypische Sozialisation durchlaufen hat, besuchte sein Sohn ein dem aufklärerischen Geist verpflichtetes Erziehungsinstitut. Der Vater kumulierte im Zeichen eines weltgewandten Dilettantismus zwecks Mehrung seiner Standesehre öffentliche Ämter. Ludwig von Vincke absolvierte eine erfolgreiche Beamtenkarriere, wobei er zusehends im Dienst auch seine Erfüllung fand. Der Jüngere legte in Familienangelegenheiten ebenfalls Wert auf ständische Aspekte, er passte aber im Gegensatz zum Vater Kleidung und Auftreten dem bürgerlichen Zeitgeist an. Ludwig von Vincke scheint aus vollem Bewusstsein die ständische Tradition und aufklärerische Ideale zu einer neuen Form der Selbstrepräsentation verwoben zu haben. Dass sich auch Ernst von Vincke partiell von traditionellen Vorstellungen emanzipierte, lassen angeblich unter anderem sein Erziehungsverhalten und sein Eintreten für die politische Partizipation von Bürgerlichen manifest werden. Die Vinckes erscheinen sodann als „ein beeindruckendes Beispiel“ dafür, wie der Adel auf die heraufziehende Moderne mit
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„Offenheit“ reagierte und damit „über die territorialen Grenzen hinaus seinen Anspruch“ statuierte (286). Eindruck macht die größtenteils flüssig geschriebene Studie, weil sie aufwendig recherchiert und prägnant gegliedert ist, ausgehend von einer konzisen Theoriebildung weitgehend stringent argumentiert und immer wieder weiterführende Hintergrundinformationen – sei es in Sachen Mode oder pietistischer Liebesbegriff – liefert. An einigen Stellen hätte freilich tiefer gegangen werden können: Gerne hätte man mehr über die kulturelle Praxis adeligen Politisierens erfahren, das entsprechende Reden und Schweigen der Ego-Dokumente sowie einschlägige Ritualhandlungen hätten genauer ausgeleuchtet werden können. Gleiches gilt für die Bedeutung von Religion und Frömmigkeit (ein wesentliches Argument des ansonsten immer wieder herangezogenen Heinz Reif), die Haltung zu Geld und Vermögen, die Emotionalität der Eltern-Kind-Beziehung sowie die wichtige, aber im Buch fast völlig ignorierte Frage des symbolischen Kapitals, also der Fremdwahrnehmung des Adels. Problematisch ist die Arbeit vor allem, weil sie zwar größtenteils empirisch, aber nur bedingt narrativ triftig ist. Dass Mikrostudien einen substantiellen Beitrag zur Adelsgeschichte leisten können, haben unter anderem Eckart Conze, Ewald Frie und Marko Kreutzmann vorgeführt. Voraussetzung dafür ist freilich, dass die Auswahl der untersuchten Personen(gruppe) sorgfältig begründet und ihre Beispielhaftigkeit immer wieder kritisch reflektiert wird. Eingedenk dessen kann der Vergleich zwischen Ludwig von Vincke und seinem Vater nur bedingt erhellen, da ein Stammherr und ein Nachgeborener gegenübergestellt werden. In der Folge vermögen einige Argumente nicht zu überzeugen: Seinen Erstgeborenen schickte Ernst gerade nicht auf das Pädagogicum in Halle, das im Übrigen schon seit Ende des 17. Jahrhunderts existierte und sich von Beginn an als eine Anstalt zu Erziehung Herren-Standes, Adelicher und anderer fürnehmer Leute Söhne verstand (136). Die Ehe von Ludwigs erstgeborenem Bruder wurde gleichsam selbstverständlich arrangiert. An etlichen Stellen presst Olga Weckenbrock ihre Ausführungen in vorgefertigte Schablonen. Möglichkeiten zur Differenzierung werden nicht genutzt, zu schnell bestimmte Beobachtungen pauschalisiert: Die innerfamiliären Konflikte bei den Vinckes beispielsweise werden „aus den unterschiedlichen Generationsprägungen“ erklärt – „beim Vater unter den Vorzeichen der Ständegesellschaft und bei den Kindern unter Einfluss der aufklärerischen Lebensmodelle“ (127). Die angeführten Quellenbelege zeugen jedoch von Spannungslagen, wie sie in jeder Epoche hätten auftreten können. Wieso zeigt sich am Ende des 18. Jahrhunderts, dass „auf kindgerechte Erziehungs- und Unterrichtsmethoden geachtet wird“ (135)? Denn immerhin sind „die konkreten Inhalte der häuslichen Erziehung Ludwigs oder seiner Geschwister“ nicht überliefert (132). Weshalb werden überdies Ernsts „Vorstellungen von der Bedeutung adeliger Herkunft […] unter dem Epocheneinfluss brüchig“, wenn er z. B. 1796 in einer Denkschrift „für die Mäßigung des offensiv gezeigten Standesunterschieds im politischen Alltag“ eintritt (228)? Zu wenig wird über die Unterschiede zwischen Veränderungswillen,
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Anpassungsstrategien und Opportunismus sowie die Frage der Nachhaltigkeit nachgedacht. Sinnfälligerweise bildet das Kapitel „Zusammenfassung und Ausblick“ den schwächsten Teil des Buches. Hier häufen sich wenig gehaltvolle Verallgemeinerungen („nicht allein die äußeren Rahmenbedingungen der adeligen Geburt standen nunmehr für sie [die Vinckes] im Vordergrund, auch die sozialen Kompetenzen der Individuen gewannen an Bedeutung“, 284) und vor allem unterlässt es die Autorin, die Erkenntnisse ihrer Arbeit in die Literatur einzuordnen. Erhellend wäre ein Abgleich mit der Bürgertums-, unabdingbar eine Auseinandersetzung mit der Adelsforschung gewesen. So entsteht insgesamt der Eindruck einer beeindruckenden Fleißarbeit, die am Einzelfall schön herausarbeitet, wie Adelige im Übergang zur Moderne zu Trägern der bürgerlichen Leistungsgesellschaft avancieren und gleichzeitig distinktive (Selbst-)Inszenierungsmuster perpetuieren konnten. Schwer tut sich das Buch hingegen mit der Konturierung der Metaebene. Markus Raasch
Mainz
PHILIPP TEICHFISCHER, EVA BRINKSCHULTE (Hg.): Johann Lukas Schönlein (1793–1864): Unveröffentlichte Briefe. Zum 150. Todestag. Stuttgart: Steiner 2014, 243 S., 15 Abb., (ISBN 978-3-515-10856-0), 46,00 EUR. Zum 150. Todestag haben die beiden Magdeburger Medizinhistoriker Philipp Teichfischer und Eva Brinkschulte 151 Briefe des aus Bamberg stammenden bedeutenden deutschen Arztes Schönlein kritisch ediert. Sie legen mit dieser Ausgabe den Grundstein für eine weitere Beschäftigung mit diesem Mediziner, indem sie auf dessen weites Korrespondenznetz aufmerksam machen. Johann Lukas Schönlein (1793–1864) gehörte zur Naturhistorischen ‚Schule‘ des 19. Jahrhunderts, in dem naturwissenschaftliche Methoden große Bedeutung erlangten. Auch Schönlein verschrieb sich ganz dem naturwissenschaftlichen Paradigma und führte diese Methoden in die Klinik ein. Er war Leibarzt König Friedrich Wilhelms IV. (1795–1861) und wirkte prägend als akademischer Lehrer wie als Hochschulpolitiker. Vor der eigentlichen Edition geben Teichfischer und Brinkschulte eine gehaltvolle Einführung (11–24), in welcher auch wesentliche formale wie inhaltliche Aspekte der Edition dargelegt werden. Es finden sich dort auch einige Aussagen zu Schönleins Werdegang: So wurde Schönlein 1816 in Würzburg mit seiner Dissertation „Von der Hirnmetamorphose“ unter der Anleitung Ignaz Döllingers (1770–1841) promoviert. Im folgenden Jahr habilitierte Schönlein in Würzburg für pathologische Anatomie und war seit 1818 dort als Privatdozent sowie schon ein Jahr später als außerordentlicher Professor für spezielle Pathologie und Therapie tätig. Zugleich übernahm er die kommissarische Leitung des Juliusspitals, eines modernen Krankenhauses in Deutschland. Schönlein war bekannt für seinen klinischen Unterricht, da er neue Methoden wie Auskultation, Perkussion und spezielle Untersuchungen (chemische, mikroskopische, Blut, Stuhl) einführte. Im Jahr 1824 wurde er ordentlicher Professor und Leiter des Juliusspitals. Die Würz-
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burger Zeit (1813–1832/33) stellt seine auch in den Briefen dokumentierte erste Schaffensphase dar. Weiterhin wird nachgezeichnet, wie Schönlein im Zuge der sogenannten Demagogenverfolgung nach seiner Amtsenthebung 1833 an die Universität Zürich auf die ordentliche Professur für spezielle Pathologie und Therapie wechselte. Die Zürcher Jahre 1833 bis 1839/40 stellen seine zweite Schaffensphase dar, die sich auch in den Briefen wiederfinden lässt. Als politische Reaktionäre die Oberhand zu gewinnen schienen, wechselte er 1840 auf die ordentliche Professur für Pathologie und Therapie nach Berlin und wurde dort auch Direktor der Inneren Medizin an der Charité. Schon ein Jahr später wurde er zum zweiten Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. ernannt; wenige Jahre später rückte er schließlich zum ersten Leibarzt des Königs auf. In Berlin wirkte er von 1840 bis 1859, womit seine dritte in den Briefen dokumentierte Schaffensphase umschrieben ist. 1859 schied er aus dem Dienst aus, kehrte nach Bamberg zurück und starb dort 1864. Teichfischer und Brinkschulte führen aus, dass ein zufälliger Fund im Archiv Ausgangspunkt dieser Edition gewesen ist. Letztlich ist der Nachlass Erich Ebsteins (1880–1931), in welchem aus diversen Archiven und Bibliotheken die Schönlein-Korrespondenz zusammengetragen wurde, der wesentliche Fundort für die hier edierten Briefe. Die Herausgeber gehen der Herkunft der Briefe nach und vergessen auch nicht, die Gattung „Brief“ näher zu diskutieren. Als ein wesentliches Definitionskriterium galt dabei die Gerichtetheit an einen Empfänger. Dabei gehen sie auch darauf ein, welche Briefe bereits von wem und an welcher Stelle veröffentlicht wurden. Sie thematisieren die Echtheit der Briefe und gliedern auf, wie viele der 151 edierten Briefe im Original (mit 127 Briefen die überwiegende Mehrheit) und wie viele in einer Abschrift vorhanden waren. Dabei diskutieren sie auch parallele Überlieferungen als Garanten bei der Frage nach der Echtheit. Es werden, auch durch Tabellen unterstützt, Aussagen über die zeitliche Verteilung der Briefe getroffen, und es wird nach biographischen Bezügen gesucht. Teichfischer und Brinkschulte erläutern schließlich, an wen Schönlein diese Briefe gesandt hat. Die meisten sind an Karl Otto von Raumer (1805–1859) in dessen Funktion als preußischer Minister für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten adressiert. Auch über den inhaltlichen Rahmen der Briefe treffen Teichfischer und Brinkschulte Aussagen. So machen sie vier thematische Bereiche aus: ca. 40 Briefe mit ärztlicher Korrespondenz, ca. 45 – und damit der größte Anteil – mit institutioneller Korrespondenz, ca. 30 mit privater Korrespondenz und etwa ebenso viele, in welchen deutlich wird, dass Schönlein Bücher, Münzen und Naturalien gesammelt und verteilt hat. Für alle vier thematischen Bereiche finden sich Beispiele unter den in der Buchmitte abgedruckten Faksimiles von Schönlein-Briefen aus den Jahren 1832 bis 1846. Schließlich erklären die Herausgeber die Editionsprinzipien. Es handelt sich hierbei nicht um eine streng philologisch ausgerichtete textkritische Ausgabe, sondern vielmehr um eine am Zielpublikum orientierte, mit Kommentaren zu den Briefinhalten versehene Edition von Briefen, die als historische Quellen weiter ausgewertet werden können. Abschließend verweisen Teich-
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fischer und Brinkschulte auf ihren neuen Fund von 150 Gegenbriefen, die an Schönlein gerichtet sind und zum Teil von hochgestellten Persönlichkeiten stammen, u. a. von Mitgliedern der königlichen Familie Preußens. Diese zweite Briefedition ist 2016 beim gleichen Verlag unter derselben Herausgeberschaft unter dem Titel „Johann Lukas Schönlein (1793–1864): ‚Mon chèr Monsieur Schönlein‘. Briefe an den Arzt, Lehrer und Vater“ erschienen. Nach einem umfangreichen Verzeichnis der Adressaten und der Briefe, einmal alphabetisch sortiert nach Empfänger und einmal chronologisch verzeichnet (25–57), werden 151 Briefe ediert. Dabei werden in einem Apparat zentrale Verständnishinweise gegeben, wodurch sich die Briefe gut erschließen lassen (59– 202). Daran schließt sich ein Verzeichnis bereits veröffentlichter Briefe an (203– 207). Hilfreiche Register und ein Literaturverzeichnis beschließen den Band. Teichfischer und Brinkschulte ist es gelungen, den für die Medizingeschichte des 19. Jahrhunderts zentralen Kliniker Johann Lukas Schönlein durch die kritische Edition eines Teils seines Briefwechsels zu würdigen und ihn in seinem weitreichenden Korrespondenzsystem einzuordnen. Mit diesem Band ist damit auch ein wichtiger Grundstein für die weitere Schönlein-Forschung gelegt. Florian Steger
Ulm
JOHANN KIRCHINGER: Zwischen barocker Vielfalt und ultramontaner Uniformierung. Eine exemplarische Edition von Pfarreibeschreibungen des 19. Jahrhunderts aus dem Bistum Regensburg (Dekanat Geiselhöring 1859/61) (= Regensburger Beiträge zur Regionalgeschichte 18), Regensburg: Edition Vulpes 2015, 414 S., 1 Karte, (ISBN 978-3-939112-92-1), 26,00 EUR. „Unheil über Leiblfing“, so war der Artikel Rudolf Neumaiers in der Süddeutschen Zeitung vom 13. Januar 2016 überschrieben, der die hier zu besprechende Edition niederbayerischer Pfarrbeschreibungen des 19. Jahrhunderts einer breiteren Öffentlichkeit vorstellte. Wer es mit einem scheinbar trockenen geschichtswissenschaftlichen Werk bis zu einem eigenen Dreispalter in einer führenden Zeitung gebracht hat, der scheint etwas Interessantes aufgespürt zu haben, und das macht neugierig, das Buch Kirchingers selbst in die Hand zu nehmen. Der Verfasser, dessen erklärte Absicht es ist, diese seriellen Quellen, die es im Prinzip von jeder Pfarrei gibt, exemplarisch zu edieren, um deren historischen Wert aufzuzeigen und damit mikrohistorische, fächerübergreifende Analysen anzuregen, legt auf gut 300 Seiten die Beschreibungen von 19 Pfarreien des Regensburger Dekanats Geiselhöring in alphabetischer Reihenfolge vor, die in den Jahren 1859/61 von den örtlichen Geistlichen auf Weisung des bischöflichen Ordinariats zusammengestellt wurden, um als Datengerüst für eine Bistumsbeschreibung zu dienen, die daraufhin im Jahr 1863 erschienen ist. Wieso gerade das Dekanat Geiselhöring ausgewählt wurde, wird im Buch selbst nicht begründet, erschließt sich aber aus der Biographie des Autors, der als Historiker wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg ist, zudem aber in
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Holztraubach als Landwirt arbeitet und als stellvertretender Bürgermeister von Mallersdorf-Pfaffenberg fungiert – die letztgenannten Ortschaften gehören zum Untersuchungsgebiet. Im Gegensatz zu den Visitationsakten wurden solche Pfarrbeschreibungen bisher, wenn überhaupt, nur lokalhistorisch ausgewertet, kaum aber in ihrem Wert als hervorragende Quellengrundlage für übergreifende Analysen entdeckt. Um diesen Wert aufzuzeigen, stellt der Verfasser seiner Edition auf fünfzig Seiten exemplarisch eine konzise Analyse voran, die methodisch und materiell kaum etwas zu wünschen übrig lässt. Bistumsbeschreibungen bildeten seit dem Spätmittelalter ein verbreitetes Instrument der geistlichen Verwaltung. Die historische Entwicklung von den ersten handschriftlichen Zusammenstellungen bis hin zu den vom Ordnungsgedanken geprägten Druckausgaben des 19. Jahrhunderts wird am Regensburger Beispiel umfassend dargestellt. Zum ersten Mal gedruckt wurde eine Regensburger Bistumsbeschreibung 1813; die Ausgabe von 1916 enthielt erstmals Informationen zur Geschichte der Pfarrsprengel, und noch 1997 erschien die bisher letzte Ausgabe solcher Bistumsmatrikel. Die raschen gesellschaftlichen Veränderungen Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten den Hintergrund dieses Versuchs der geistlichen Verwaltung, rasch umfassende und genaue Informationen aus erster Hand über die pastorale Situation zu erhalten. Diesem Zweck diente der umfangreiche Fragebogen, der in der vorliegenden Edition 14 Druckseiten umfasst und 107 Fragen in 20 Kapiteln enthält. Interessanterweise finden sich darin im Gegensatz zu den Fragebogen aus den Visitationsakten der frühen Neuzeit keine Informationen mehr zu den Personalien der Geistlichkeit. Das erklärt sich damit, dass inzwischen in der geistlichen Verwaltung Personalakten eingeführt worden waren, so dass diesbezügliche Daten bereits in der Bischofsstadt vorlagen. Das niederbayerische Dekanat Geiselhöring, das als von der Landwirtschaft sowie von Streusiedlungen geprägt geschildert wird, umfasste Ende der 1850er Jahre 19 Pfarreien und fünf Kuratien, 21 Pfarrkirchen bei insgesamt 92 Kirchengebäuden sowie 62 Priester bei 23 862 Katholiken, also durchschnittlich 385 Gläubige pro Geistlichen, was angesichts des damaligen bistumsweiten Durchschnitts von 539 auf eine vergleichsweise gute pastorale Versorgung schließen lässt. Die zusammenfassende Analyse des Autors entnimmt den Quellen Hinweise auf „Risse in der konfessionellen Geschlossenheit“, die durch die ortsfremden Beamten der Staatsverwaltung, die Eisenbahn, die damals geradezu „boomende“ Agrarkonjunktur sowie das aufstrebende Gewerbe verursacht waren – nicht mehr alle Einwohner waren automatisch praktizierende Katholiken. Zarte „Vorboten des Klosterfrühlings“ kündigten sich damals auch schon an; schließlich ist das Dekanat seit 1869 Sitz der sog. „Mallersdorfer Schwestern“. Auch das „Einkommen der Pfarrer“ (17 von 19 Pfarrherren betrieben die zum Pfarrhof gehörige Ökonomie selbst) sowie die „Kirchenbauten am Vorabend der historistischen Kirchenbauwelle“ werden geschildert. Von besonderem Interesse für die geistliche Behörde war natürlich der „moralische Zustand der Bevölkerung“, wo im Vergleich zu heute von geradezu paradiesischen Verhältnissen die Rede ist: Geschiedene Ehepaare gab es im ganzen Dekanat nur vier (!), die Teilnahme an den Sakramenten war im Grunde flächendeckend. Entscheidend für die Einschätzung des
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Rezensionen und Annotationen
moralischen Niveaus einer Gemeinde war für die Geistlichkeit – wie könnte es anders sein – die Frequenz des vor- bzw. außerehelichen Geschlechtsverkehrs, wobei von einer Spannweite des Anteils außerehelicher Geburten zwischen 12 und 46% berichtet wird. Die Pfarrer sahen diesen Umstand jedoch relativ gelassen, wussten sie doch, dass die meisten „Verhältnisse“ nicht durch Unmoral, sondern durch wirtschaftliche Zwänge und Heiratsbeschränkungen verursacht waren. Die Tanzveranstaltungen v. a. bei den vielen Kirchweihfesten („Wo der liebe Gott eine Kirche hat, hat der Teufel eine Kapelle!“, 27), galten den Pfarrern als „Grab aller Sittlichkeit und Religiosität“ – bekanntlich führten solche Klagen 1866 zur Einführung der „Allerweltskirchweih“ am dritten Sonntag im Oktober. Es liegt in der Natur der besprochenen Quellen, dass die politischen Verhältnisse (hier sieht der Autor „Vorboten des Kulturkampfes“ heraufziehen) sowie die „wirtschaftliche Expansion und soziale Differenzierung“ eher am Rande benannt werden. Aber schon damals gehörten „Klagen über den allgemeinen verderblichen Zeitgeist“ (36) zum festen Repertoire des Klerus. Hinsichtlich der Religiosität erkennt der Verfasser eine „beginnende Feminisierung der Religion“ sowie „Ultramontanisierung der Frömmigkeit“, die sich durch eine zunehmende Uniformierung, Moralisierung und Verkirchlichung des Pfarrlebens bzw. Vereinswesens bemerkbar machte. Die erste Gemeindemission – ein typisches Pastoralinstrument jener Epoche – der Redemptoristen in der Diözese Regensburg war bereits am 1. März 1844 in Geiselhöring durchgeführt worden. Die Geistlichkeit ließ sich durch den allzu häufig lediglich strohfeuerartigen Erfolg solcher „Events“ jedoch nicht täuschen. Interessante, in diesem Umfang kaum zu erwartende Informationen enthalten die Texte zum Zustand der Kirchenmusik im ländlichen Altbayern jener Jahre – im Gegensatz zu heutigen Vorstellungen „aktiver Teilnahme“ der Gläubigen war damals nicht einmal der Volksgesang im Gottesdienst üblich. Hinsichtlich des Quellenwerts seiner Edition ist sich der Verfasser darüber im Klaren, dass die Geistlichen, die in der Regel selbst aus kleinbürgerlichen bzw. ländlichen Verhältnissen stammten, gegenüber den Gläubigen eine „elitäre Perspektive“ einnahmen und nicht immer aus eigenem Erleben, sondern manchmal auch vom Hörensagen urteilten. Aus der unterschiedlichen Intensität der Bearbeitung folgt oft auch ein unterschiedlicher Umfang und damit Informationsgehalt der Pfarrbeschreibung. Natürlich ergibt sich aus der Frageabsicht der Initiatoren sowie aus dem beruflichen Interesse der Geistlichkeit ein Übergewicht an liturgischen Informationen, während z. B. das Volksbrauchtum kaum Erwähnung findet, was selbstverständlich nicht heißt, dass es nicht existiert hätte. Werden diese „Schlagseiten“ der Pfarrbeschreibungen jedoch bei der Analyse quellenkritisch beachtet, so steht ihrer umfassenden synchronen, diachronen, inter- und intradiözesanen Auswertung nichts im Wege. Besonders interessant erscheint auch der Zeitpunkt der Erhebung, da die Physikatsberichte der Ärzteschaft nahezu zeitgleich entstanden sind, jedoch völlig andere Gesichtspunkte berücksichtigen. Ein knapp vierzigseitiger Anhang umfasst ein Glossar theologischer Fachbegriffe, eine Karte des Dekanats, Übersichten über gedruckte Pfarrbeschreibungen staatlicher bzw. kirchlicher Provenienz, über die gedruckt vorliegenden Beschreibungen bayerischer Bistümer sowie über die handschriftlichen Regensburger Bis-
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tumsmatrikeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister beschließen den Band. Weder im Kommentar noch im edierten Text finden sich nennenswerte (Druck-)Fehler (lediglich auf Seite 44 wird der „Mesner“ zum „Messner“), der Anhang gibt jedoch Anlass zu einigen wenigen Monita: Die Karte des Untersuchungsgebietes auf Seite 384 lässt zwar dankenswerterweise die geographische Struktur des Dekanates Geiselhöring mit den Tälern der kleinen Laber, der Aitrach und der Isar erahnen, leider sind die Ortsnamen aber so klein und verschwommen abgedruckt, dass sie kaum mehr lesbar sind, was zumindest für ortsfremde Leser bedauerlich ist. Sehr zu begrüßen ist gerade aus Sicht des Kirchenhistorikers das Glossar, das dem Nichtfachmann das Verständnis etlicher von den Pfarrern des 19. Jahrhunderts gebrauchter Fachbegriffe sehr erleichtern dürfte. Trotzdem und gerade deshalb hätte man sich jedoch stellenweise eine größere Genauigkeit, Ausführlichkeit bzw. Eindeutigkeit der Erklärungen gewünscht: Ein Altare privilegiatum war genau genommen ein Altar, an dem der Priester einem Verstorbenen einen vollkommenen Ablass zuwenden konnte (vgl. 317, Nr. 4; nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil abgeschafft); ein Engelamt ist mit „Gottesdienste im Weihnachtsfestkreis samt Christmette“ unvollständig umschrieben (vgl. Rorateamt), da auch das früher am Donnerstag (Abendmahlstermin) übliche Amt vor dem ausgesetzten Allerheiligsten (= Brot der Engel) zu dessen Ehren so genannt wurde (und dem Rezensenten zumeist in dieser Bedeutung in einschlägigen Pfarrakten begegnet ist, aber das mögen regionale Unterschiede sein); die Laudes ist zwar „ein Teil des Stundengebets“, wäre aber gerade im Verhältnis zu den anderen beschriebenen Horen genauer und präziser zu benennen gewesen, zumal die Liturgiewissenschaft besser von der „Tagzeitenliturgie“ spricht. Das Corporale bzw. Korporale kommt sogar doppelt vor. Aber wie gesagt: Diese kleinen Einwendungen sollen nicht den positiven Umstand verdecken, dass überhaupt ein derartiges Stichwortverzeichnis aufgenommen worden ist, das im Großen und Ganzen gute Dienste leistet. Noch ein Hinweis: Der auf Seite 385 aufgelistete „Realschematismus des Erzbistums Bamberg“ aus dem Jahr 1960 liegt leider nur unvollständig vor: Der erste Band umfasst die Dekanate von A–H; der zweite Band ist trotz umfangreicher Vorarbeiten nie erschienen. Das Werk Kirchingers enthält genau das, was sein Untertitel besagt: Eine exemplarische Edition von Pfarreibeschreibungen. Sie bietet „Einblicke in die kirchengeschichtlich höchst bedeutsamen ultramontanen Uniformierungsprozesse auf der mikrohistorischen Ebene der einzelnen Pfarreien“ (53), die bisher lediglich der lokalen Einzelfallforschung vorbehalten waren. Es ist geeignet, sehr wünschenswerte ähnliche Arbeiten in anderen kirchlichen Verwaltungsbezirken sowie vergleichende überregionale Studien anzustoßen. Für diesen Impuls ist dem Autor zu danken, der mit seiner Arbeit nicht nur aussagekräftige Quellen der Geschichte seiner Heimatregion der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sondern auch der kirchenund regionalgeschichtlichen Forschung weit über Bayern hinaus weiterführende Anregungen gegeben hat. Hoffentlich finden sich auch in anderen Gegenden derart sachkundige Bearbeiter! Norbert Jung
Bamberg
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FRAUKE SCHLÜTZ: Ländlicher Kredit. Kreditgenossenschaften in der Rheinprovinz (1889-1914) (= Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung e. V. 25), Stuttgart: Steiner 2013, 471 S., 60 Abb., 3 Ktn., (ISBN 978-3-51510439-5), 60,00 EUR. Frauke Schlütz schreibt in ihrer Studie, die 2011 als Dissertation an der RuhrUniversität Bochum angenommen wurde, die Institutionengeschichte der Kreditgenossenschaften im Rheinland als Modernisierungshistorie (411) regionaler Finanzintermediäre. Neben privaten Bankhäusern und öffentlich-rechtlichen Sparkassen spielten sie eine besondere Rolle bei der Entwicklung von Finanzinstitutionen, gerade in den ländlichen Regionen des Rheinlandes. Dabei sind sie selten so gut erforscht wie die Banken oder Sparkassen, zu denen eine Reihe von Studien vorliegt. Den Grund dafür sieht die Autorin in der schwierigen Quellenlage, da die Genossenschaften für ihre Aktenverwahrung selber verantwortlich seien (33–35). Einen regelrechten Schatz hob sie mit den weitgehend vollständigen Quellenbeständen zu den Genossenschaften der oberbergischen Kreise Wipperfürth, Waldbröhl und Gummersbach im Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv (36). Die von ihr als wirtschaftlich wie gesellschaftlich relativ heterogen kontextualisierten Untersuchungsräume (Kapitel II) entsprechen indes nicht immer dem Konzept von „ländlichem Raum“ (44), denn Gummersbach war bereits im Prozess der Industrialisierung begriffen. Der Untersuchungszeitraum beginnt jedoch nachvollziehbar mit der Verkündung des Genossenschaftsgesetzes 1889 und endet mit der Zäsur von 1914 (59 f.). Die Verfasserin legt ihre Untersuchung als komparatistische Regionalstudie an und kann so die im Rheinland in zwei Verbänden organisierten rund 1 000 Genossenschaften als Korrektiv nutzen (Kapitel IV). Damit gibt Schlütz ihren drei lokalen Organisationen zwar eine überregionale (institutionelle) Struktur, verheddert sich hierbei aber leider im eigenen definitorischen Korsett (48 f.) und vergibt die Chance, die Institutionelle Revolution des 19. Jahrhunderts, auf die sie selbst rekurriert, auch anhand des vorliegenden Untersuchungsgegenstands nachzuvollziehen; der Widerstreit von Formal und Informell (25, 49) wird nur schwer aufgelöst. Die Darstellung von Wechselwirkungen zwischen der Makroebene und den Vereinen auf der Mikroebene gelingt jedoch hervorragend, wenn Schlütz die Verbände auf der Mesoebene darstellt: In den Kapiteln V, VI und VIII erläutert sie die Expansion der lokalen Genossenschaften als beispiellosen Siegeszug: Die Verbände in Bonn und Kempten (später Köln) organisierten planmäßig Neugründungen (419). Ganz richtig wird hier die Bedeutung von Bauernvereinen oder ländlichen Casinogesellschaften für die Gründung der Genossenschaften erwähnt sowie auf die herausgehobene Stellung ländlicher Honoratioren wie Pfarrer und Lehrer als Geschäftsführer oder Rendanten der neu entstehenden Finanzinstitution hingewiesen. Die Initialisierung von „oben“ (416) wirkt hingegen ein wenig aus der Luft gegriffen, denn schließlich spricht die Autorin selbst bezüglich der lokalen Vorstände und Rendanten von „Vertrauensmännern“ (422 f.), und die Entstehung von Vertrauen setzt Zeit voraus. Auch hier hätte man mit einer anderen Definition von Institution und einer anderen Auffassung von Transformationinstrument, welches sehr konservativ
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benutzt wurde, Entwicklungen beschreiben können, die die Forschung in ihrer Bedeutung bisher vollkommen übersehen hat. In der face-to-face-Gesellschaft des Dorfes ist die Rolle der örtlichen Eliten nicht zu unterschätzen, und die Bedeutung von personalem Vertrauen gegenüber dem gewählten Ansatz der Reduktion von Transaktionskosten wird zunächst nicht sichtbar. Im Gegenteil erscheinen die asymmetrische Informationslage und die Gestaltungsmöglichkeiten in den Darlehensverträgen aus der Sicht der angestrebten formalisierten Handlungsmuster einer professionellen Bank von vornherein als ein unüberbrückbarer Nachteil. Deutlich wird es erst, wenn die Autorin die Unterstützung der Verbände für die Genossenschaften beschreibt: Diese halfen nicht nur mit geprüften Vorlagen für die Statuten aus (234). Sie stellten Schulungen zur Verfügung, um die nebenberuflichen Rendanten und Vorstände zu professionalisieren (228), sowie Formulare, um Verwaltungsabläufe effektiver zu gestalten. Der (empfehlenden) Revision durch Spezialisten aus Bonn oder Kempten wird ebenso ein angemessener Platz eingeräumt wie dem neuartigen zentralen Risikoausgleich. Diese Modernisierungen erwiesen sich als deutlich zugkräftiger als die althergebrachten Mechanismen der Kreditvergabe, so dass die Mitgliederzahlen (Kapitel VII) stetig stiegen, ohne dass die alten Eliten jedoch ihre Machtposition verloren. Nicht nur der Rückgriff auf sie bei der Gründung, sondern schon das Eintrittsgeld, welches bei Mitgliederversammlungen erhoben wurde, macht dies klar. Als Vorstand fungierte häufig ein Gastwirt, waren die Gasthäuser doch nicht nur Dreh- und Angelpunkt des Informationsaustausches innerhalb der Dorfgemeinschaft, sondern auch ein idealer Versammlungsort. Genauso war der Zugang zum Redantenamt an Bildung (wegen der Formulare) und Geld (wegen der zu stellenden Sicherheit) gebunden (223–226). Dies zeigt, wie nahe die Genossenschaften an ihren Mitgliedern waren, hatten die Rendanten doch Ortskenntnisse und nach wie vor persönliche Handlungsspielräume bei der Kreditvergabe (225). Die Struktur der einfachen Mitglieder entsprach der gesellschaftlichen Struktur des jeweiligen Ortes (418), doch machte es der Kemptener Verband ähnlich wie Raiffeisen zu seinem Hauptaugenmerk, die Mitglieder zu fördern, während die Bonner Kollegen wirtschaftlichen Erfolg stärker in den Vordergrund stellten, was sich an ihren häufig über den üblichen Radius von acht Kilometern und die Grenzen eines Kirchspiels hinausreichenden Aktivitäten ablesen lässt („Netz von Kassen“, 152). Wichtig war auch, dass sich die Genossenschaften an die Bedürfnisse der Mitglieder anpassten: So vergaben sie in erster Linie Klein- und Notfallkredite, deren Laufzeiten an die Produktionszyklen der agrarischen Schuldner angepasst wurden; Pleiten waren so sehr selten (428). Leider konnten trotz der hervorragenden Quellenbasis keine Aussagen zur Vergabepraxis gemacht werden (432). Auffällig ist schließlich, dass die Autorin die Bedeutung des Faktors Konfession herausstellt, der – neben der bislang wenig erforschten Bedeutung der Kirchen als Kreditgeber – nicht nur in der RaiffeisenBewegung eine wichtige Rolle spielte, doch geht sie für ihre protestantisch dominierten, konfessionellen Mischgebiete kaum darauf ein. Dies erschwert auch die Belastbarkeit des rheinischen Regionalvergleichs, zumal das Rheinland stark katholisch geprägt war.
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Nach Schlütz stellten die Genossenschaften ein effektives Transformationsinstrument für vorgeblichen Kapitalmangel bereit (433), so dass sie sich im Zuge der Ausdifferenzierung des Kapitalmarktes eine bemerkenswerte Position erarbeiten konnten. Klar ist jedoch, dass es auch vor 1889 formalisiertes Handeln durch professionelle Intermediäre innerhalb der Dorfgemeinschaft gab, was die Definition des Institutionenbegriffs herausfordert. Für den Untersuchungszeitraum jedoch ist die Zusammenführung der Ergebnisse im Fazit vorbildlich gelungen und insgesamt eine höchst belastbare Regionalstudie entstanden. Die überaus breite Quellenbasis und die in der Einleitung formulierten Überlegungen zur methodischen Vorgehensweise machen Frauke Schlützʼ Monographie zu einem Grundlagenwerk, dessen offene Fragen wie jede gute Arbeit viele Ansatzpunkte für weitere Forschungen bieten. Daniel Reupke
Saarbrücken
KLARA VAN EYLL: Wilh. Werhahn KG Neuss am Rhein. Unternehmen und Unternehmer 1841 bis 2011, Neuss: Wilh. Werhahn KG 2013, 344 S., (978-3-00042180-8), o. P. Das hier zu besprechende Werk verdient aus zwei Gründen besondere Beachtung: Erstens ist die Verfasserin Klara von Eyll so etwas wie eine Pionierin der deutschen Unternehmensgeschichte. 1970 erhielt sie den ersten deutschen Lehrauftrag zur Unternehmer- und Unternehmensgeschichte an der Universität zu Köln. Von 1963 bis 1999 leitete sie zudem das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv bei der Industrie- und Handelskammer in Köln. Die Erforschung der rheinischen Wirtschaftsgeschichte ist mit ihrem Namen aufs engste verbunden. Zweitens besteht die Wilh. Werhahn KG inzwischen in fünfter und sechster Generation und gehört damit zu den traditionsreichen Familienunternehmen in Deutschland. Die Werhahns gelten als so katholisch, dass sie bisweilen scherzhaft als „heilige Familie“ bezeichnet werden. Bekannte Marken, die zeitweise zum Konzern gehörten oder noch gehören, waren Bolle (Milchprodukte), RWE (Energie), Strabag (Bauunternehmen) und Zwilling (Haushaltswaren, Messer). Die Werhahn-Gruppe ist ein typischer Mischkonzern und bestand 2013 aus vier Unternehmensbereichen: Baustoffe, Konsumgüter, Back-Produkte und Finanzdienstleistungen. Unternehmensgründer war Wilhelm Werhahn (1802–1871), der 1841 im Neusser Intelligenzblatt anzeigte, dass er ein Geschäft in Tannenstämmen, buchenen Brettern und Faßdaubenholz eröffne. Ursprünglich stammte die Familie aus einem Ortsteil von Grevenbroich, zwischen Düsseldorf und Aachen gelegen, wo sie im 17. Jahrhundert neben der Landwirtschaft eine Schankwirtschaft betrieben hatte. Ein erster sozialer Aufstieg erfolgte 1807, als der Vater, Johann Andreas Werhahn, aus enteignetem Kirchenbesitz den Dyckhof in Büderich mit 35 Hektar Land erwarb. Die Säkularisation hatte nach Klara van Eyll im Rheinland eine „gewaltige Bodenmobilität“ in Gang gesetzt. Wilhelm Werhahn, der in der Franzosenzeit eigentlich die Vornamen Pierre Guillaume erhalten hatte, verzichtete als ältester Sohn auf ein Studium, wandte sich dem Beruf
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des Landwirts zu und stand neuen Verfahren in der Agrarwirtschaft wie der mineralischen Düngung aufgeschlossen gegenüber. Neben der Landwirtschaft und dem Holzhandel betätigte er sich als Baumaterialienhändler mit einem Schwerpunkt auf Säulenbasalt. 1847 zog die Familie vom Dyckhof nach Neuss um. Im selben Jahr kaufte der Unternehmer ein Drittel des Steinbruchs Minderberg bei Linz, wo Basalt abgebaut wurde. Wenig später erfolgte der Einstieg in Darlehens- und Immobiliengeschäfte. 1856 ging Wilhelm das „Wagnis Montan“ ein, als er als Teil eines Neusser Unternehmerkonsortiums in den Erzabbau bei Büderich einstieg. 1884 musste der Betrieb wegen mangelnder Rentabilität eingestellt werden. Mit dem Tod Wilhelm Werhahns entstanden drei Familienstämme: Der älteste Sohn, Peter (1842–1922) – der „Primus inter pares“, „Wagemutigste“ und „Außenminister“ – baute das Holz-, Dünger- und Steingeschäft aus und gründete den Familienstamm A. Wilhelm Werhahn II. (1846–1900) wirkte als „Innenminister“ des Unternehmens, strahlte „Ruhe und Bedächtigkeit“ aus und rief Stamm B ins Leben. Er hatte 13 Kinder, von denen später vier Söhne in der Unternehmensleitung arbeiteten. Franz Werhahn (1850–1925) schließlich hatte eine unruhige Jugend und arbeitete zeitweise im fränkischen Kronach und in Slawonien als Betriebsleiter. Er wurde ebenfalls ein erfolgreicher Unternehmer, war 1879 Mitgründer der Dortmunder Brauerei-Aktiengesellschaft und begründete den Stamm C. Mit seinem Tod endete die zweite Generation. Ein weiterer Sohn dieser Generation, Paul Werhahn (1844–1929), trat in den Jesuitenorden ein. Das jüngste Kind, die Tochter Sophia (1853–933), hatte in ihrer Jugend eine Rückgratlähmung, kümmerte sich um „das Comptoir“ und blieb ledig. Mit der dritten Generation entwickelte sich das Familienunternehmen zwischen 1925 und 1950 zur immer komplexer werdenden Unternehmensgruppe Wilh. Werhahn, die die Rechtsform einer OHG (seit 1871) beibehielt. Firmensitz war nach wie vor Neuss. Obwohl das Familien- und Firmengebilde sehr komplex war, gab es keinen schriftlich fixierten Gesellschaftsvertrag, sondern nur Vereinbarungen zwischen einzelnen Familienmitgliedern. Eine Obergesellschaft, auch „Bankhaus“ genannt, fungierte seit 1904 als Holding. Beim Übergang von der dritten zur vierten Unternehmergeneration ab 1950 änderte sich die Zahl der Gesellschafter nicht mehr wesentlich. Am 11. Januar 1966 wurde der erste Gesellschaftsvertrag von 53 Gesellschaftern, 23 vom Stamm A, 25 vom Stamm B und fünf für den Stamm C, unterzeichnet. Der Vertrag basierte auf der Erkenntnis, dass die Erhaltung des Vermögens auf der Basis von „christlicher Gesinnung, Fleiß und Tüchtigkeit“ erfolge. Erbberechtigt waren nur leibliche, eheliche Nachkommen. 1977 wurde die OHG in eine Kommanditgesellschaft überführt. Ein wichtiges Organ war der Vorstand, der aus bis zu sechs persönlich haftenden Gesellschaftern bestand. Das Kontrollorgan, der Verwaltungsrat, umfasste bis zu zwölf Personen, die Gesellschafter oder deren Ehegatten sein mussten. Ein Vorteil der KG war unter anderem, dass Kreditaufnahmen erleichtert wurden. Zwischen 1975 und 2006 wurde der erste Gesellschaftsvertrag mehrfach modifiziert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Klara van Eyll eine großartige Unternehmensgeschichte im engeren Sinn gelungen ist. Allein den Überblick über die vielen Einzelunternehmen, die Familienmitglieder der jeweiligen Generatio-
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nen und die zahlreichen Veränderungen zu erlangen und zu behalten, ist zweifellos eine außerordentliche Leistung, die auch dadurch ermöglicht wurde, dass Hildegard Welfens gleichzeitig das Unternehmensarchiv aufbaute. Zudem besitzt die Autorin die Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ein Problem der Darstellung ist jedoch, dass sie aufgrund der Masse an Daten und Informationen bisweilen „Aufzählungscharakter“ bekommt. Je nach Standpunkt kann man es zudem als Tugend bezeichnen oder kritisch bewerten, dass die Verfasserin sich mit Interpretationen sehr zurückhält. Sozialgeschichtliche Aspekte und die politische Geschichte kommen zu kurz, ja verschwinden fast völlig hinter der Unternehmensgeschichte und müssen teilweise zwischen den Zeilen herausgelesen werden. So erfährt der Leser auf einer einzigen Seite (144), dass die Familie Werhahn im Kulturkampf eine „eindeutige Position gegen die preußische Regierung“ bezog. Paul Werhahn musste als Jesuit sogar das Deutsche Reich verlassen. Die Werhahns waren nicht ultramontan ausgerichtet, jedoch waren ihr „katholischkonservativer Standort und ihre hohe Religiosität sowie ihr praktizierter Katholizismus“ eindeutig. Viele Familienmitglieder gehörten der katholischen Zentrumspartei an. Einzelheiten werden leider bis auf wenige Ausnahmen nicht mitgeteilt. Diese zurückhaltende Darstellung setzt sich für die NS-Zeit fort. Wir erfahren zwar, dass Wilhelm Werhahn III. (1880–1964) seine Briefe noch 1938 „mit bestem Glück“ und nicht mit „Heil Hitler“ unterzeichnete (187), aber die Themen „Arisierung“ und „Zwangsarbeit“ auf wenigen Seiten (192–195) abzuhandeln, ist für eine ambitionierte Unternehmensgeschichte eigentlich zu wenig. Auch hätte es sich gelohnt, das Erfolgsmodell dieser bedeutenden Familie des Rheinischen Wirtschaftsbürgertums etwas genauer zu beleuchten. Gab es Vorbilder dafür, wie man die Zahl der Werhahn-Gesellschafter (361 am 31.12.2011) begrenzte? Hat die Familie sich hier am Adel orientiert? Wie genau sah der paternalistische Führungsstil aus, der bis etwa 1960 praktiziert wurde? Warum wurde gerade 1991 von einem Vorstandsmitglied festgestellt, dass der „Charme der Verschwiegenheit“ nicht mehr genüge, um das Unternehmen nach innen und außen zu vertreten? Es gibt somit eine Reihe von Fragen, mit denen sich die zukünftige Forschung beschäftigen kann. Andreas Dornheim
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OSKAR DOHLE, THOMAS MITTERECKER (Hg.): Salzburg im Ersten Weltkrieg. Fernab der Front – dennoch im Krieg (= Schriftenreihe des Salzburger Landesarchivs 22; Schriftenreihe des Archivs der Erzdiözese Salzburg 13; Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-WilfriedHaslauer-Bibliothek 48), Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2014, 492 S., (ISBN 978-3205-79578-0), 39,00 EUR. Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit vieler Salzburger Einrichtungen, darunter das Salzburger Landesarchiv und das Archiv der Erzdiözese Salzburg, in deren Schriftenreihen er erschienen ist. Die 22 Beiträge des reich illustrierten Bandes stammen von teils namhaften Mitarbeitern der Salzburger Museen und Archive sowie der Universität.
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Oskar Dohle, der sich bereits mehrfach mit Aspekten der Weltkriegsforschung befasst hat, untersucht die Berichterstattung der Salzburger Presse im Sommer 1914. Zu Beginn der Julikrise stellt er eine diversifizierte Presselandschaft fest: Das Spektrum der fünf Salzburger Blätter reichte von liberal/ deutschnational über katholisch/christsozial bis hin zu sozialdemokratisch, und Dohle stellt fest, dass die „weltanschaulich-politische Diversifizierung am ,Vorabendʻ des Ersten Weltkrieges eine noch viel stärkere war, als dies heute der Fall ist“ (9). Jedoch griff der Krieg durch Zensur tief in diese Presselandschaft ein. Die Berichterstattung wandelte sich bei Kriegsbeginn insbesondere in der sozialdemokratischen ‚Salzburger Wacht‘ hin zu einer patriotischen Unterstützung des Regierungskurses. Während des Krieges wurden ganze Artikel ‚konfisziert‘, d. h. die Druckfreigabe wurde verweigert. Am Ende seines mit anschaulichen Beispielen illustrierten Beitrags weist Dohle auf die Problematik der Zeitungsberichte als historische Quelle hin, da „stets kritisch zu hinterfragen sei“, inwieweit sich „die in den Presseberichten manifestierende Kriegsstimmung mit den wahren Gefühlen der Menschen im Sommer 1914 deckte“ (31). Dennoch lieferten Zeitungen zumindest ein Bild der veröffentlichten Meinung. Ernst Hanisch, der bereits mit Studien zur Sozialdemokratie in Salzburg sowie zur Gesellschaftsgeschichte hervorgetreten ist, widmet sich dem Alltag im Krieg. Er führt seine Leser mithilfe eines Zitats von Giovanni Levi an das Thema heran, dem zufolge Alltagsgeschichte als Geschichte im Kleinen und nicht als kleine Geschichte verstanden werden sollte. Folgerichtig wird in Hanischs hervorragend geschriebenem Beitrag anhand der Entwicklung der Eheschließungen, Todesfälle und Lebendgeburten detailliert aufgeschlüsselt, wie unbarmherzig der Krieg Einfluss auf das Leben der Salzburger Bevölkerung nahm. Anhand von Tagebucheinträgen zeigt der Autor, wie im täglichen Kampf um Nahrung Diebstähle, Einbrüche und Raub zunahmen; die Gesellschaft begann zu zerfallen, und die Probleme der Kriegszeit wirkten über das Jahr 1918 hinaus nach. Der gelungene Beitrag von Thomas Hellmuth widmet sich der Umstellung der Industrie auf die Bedürfnisse des Krieges und deren Folgen für die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs. Die folgende Untersuchung zu „Not und Luxus, Korruption, Antisemitismus und Radikalisierung“ kann dagegen nur bedingt überzeugen. Thomas Weidenholzer beleuchtet darin die bereits behandelten Themen Kriegsalltag und -wirtschaft und räumt selbst ein, dass „die Hungerdemonstration schon mehrfach dargestellt worden“ seien, es zwei Dissertationen zu diesem Thema und zum Antisemitismus gebe und er „wenig Neues beisteuern“ (61) könne. Wenig überzeugend ist auch Susanne Rolineks Beitrag „,Soldatinnen‘ der Heimatfront – Frauen im Ersten Weltkrieg“. Das Potenzial des Themas wird hier nicht ausgeschöpft, und Rolinek ging es offenbar mehr um eine essayistische Darstellung als um geschichtswissenschaftliche Forschung. Dass beispielsweise Martin van Crevelds Werk ‚Frauen und Krieg‘ offenbar nicht rezipiert wurde, ist unentschuldbar. Die gravierenden Mängel der Recherche zeigen sich exemplarisch anhand des Themas Sexualität und Prostitution an der Front: Hier stellt Rolinek fest, dass die Behörden es als selbstverständlich angesehen hätten, dass Soldaten
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die Dienste von Prostituierten in Anspruch nahmen. Dafür seien sie nicht bestraft worden, sondern „im Gegenteil, das Militär organisierte für Soldaten sogar eigene Bordelle. Viele Männer, die später heimkehrten, infizierten ihre Frauen mit […] Geschlechtskrankheiten“ (103). Auf diese Art versucht Rolinek den Eindruck zu erwecken, die Militärbehörden hätten der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten durch die Einrichtung von Bordellen Vorschub geleistet und billigend in Kauf genommen, dass sich diese Krankheiten in der Heimat verbreiteten. Die Behörden sahen die Inanspruchnahme von Prostituierten zu Beginn des Krieges jedoch keineswegs als selbstverständlich an. Ganz im Gegenteil ergriffen sie ein ganzes Maßnahmenbündel, um polizeilich gegen Prostitution und deren Folgen vorzugehen. Dazu gehörten das Verbot von ‚wilder‘ Prostitution, deren Verfolgung durch die Sittenpolizei, eine Anzeigepflicht für Geschlechtskrankheiten und regelmäßige Inspektionen der Truppe durch Militärärzte. Außerdem wurden Urlaubsanträge von venerisch infizierten Soldaten zurückgestellt. Erst als Zwangsuntersuchungen der betroffenen Frauen auf deren Widerstand stießen und sich die Geschlechtskrankheiten auf diesem Wege nicht eindämmen ließen, gingen die Behörden – entgegen damals geltender moralischer Normen – dazu über, Feld- und Etappenbordelle einzurichten, da sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass Prostitution in Zeiten des Krieges zwar nicht zu unterbinden sei, aber gesteuert werden könne. Die Frauen wurden dort regelmäßig untersucht und im Falle einer Erkrankung in spezielle Frauenspitäler gebracht. Dadurch gelang eine effiziente Eindämmung venerischer Krankheiten, an der die Behörden allein deshalb interessiert waren, weil der Ausfall der Soldaten zu einer Minderung der Wehrkraft geführt hatte. Hätte die Autorin wenigstens den Beitrag von Ute Daniel in der Enzyklopädie des Ersten Weltkrieges gelesen, hätte sie kein derartiges Zerrbild zeichnen können. Leopold Öhler widmet sich „Krankheiten und medizinischer Versorgung“. Er untersucht mithilfe quantitativer Methoden die Häufigkeit von Todesursachen vor dem Krieg und stellt fest, dass Infektionskrankheiten auf dem Rückzug, HerzKreislauf- sowie Krebserkrankungen hingegen auf dem Vormarsch waren. Zugleich sei die Kindersterblichkeit zurückgegangen. Vor diesem Hintergrund weist der Autor eindrucksvoll nach, dass auch auf diesem Feld der Krieg eine Zäsur darstellte, da sich Seuchen sowie Folgeerkrankungen von Mangelernährung ausbreiteten und schließlich auch die Kindersterblichkeit anstieg. Auf die Entwicklung der ärztlichen Versorgung in Salzburg geht Öhler ebenso ein wie auf Wundärzte, Hebammen- und Apothekerwesen. Mit den Schulen beschäftigt sich Bernhard Iglhauser. Im Rahmen von Sammel- und Spendenaktionen hätten sich Schulen zu Beginn des Krieges darum bemüht, ihrer patriotischen Pflicht an der ‚Heimat- bzw. Schulfront‘ nachzukommen. Um Sammelergebnisse zu verbessern und ein Nachlassen der Spendenbereitschaft zu verhindern, hätten Lehrkräfte und Behörden Anreize für die Schüler geschaffen. Die Schulleiter wurden für besonders ‚gelungene‘ Aktionen mit dem ‚Verdienstkreuz für Zivilverdienste‘ ausgezeichnet. Doch mit zunehmender Dauer des Krieges standen ganz andere Probleme im Vordergrund: Nun hatte man es mit mangelernährten Kindern zu tun, für die die Schulspeisung überlebensnotwendig wurde. In Obst- und Gemüsegärtchen auf Schulgrund sollten eigene Nahrungsmit-
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tel produziert werden. Doch auch Unterrichtsausfall wegen fehlender Lehrkräfte, Fehlzeiten von Schülern aufgrund des Mangels an Arbeitskräften in der Landwirtschaft und die zunehmende Verrohung der Jugend machten den Verantwortlichen in den letzten beiden Kriegsjahren große Sorgen. Drei Beiträge befassen sich mit Kriegsgefangenenlagern im Kronland Salzburg. Der Aufsatz von Julia Walleczeck-Fritz, der auf ihrer Dissertation zum selben Thema basiert, behandelt dieses für Salzburg wichtige Thema fundiert und informativ. Schließlich war das für 45 000 Mann konzipierte Lager Grödig mit seinen Nebeneinrichtungen eines der größeren der Donaumonarchie. Walleczeck zeichnet die Entwicklung des Lagers und die Situation der Gefangenen vor dem Hintergrund des Kriegsverlaufs und der Versorgungslage souverän und sachkundig nach. Bernhard Iglhauser ergänzt diesen Beitrag um ein ‚Zeittagebuch 1914– 1918‘ aus Pfarr- und Gendarmeriechroniken, das zusammen mit Fotografien aus dem Privatarchiv des Autors das Leben in den Außenlagern hervorragend veranschaulicht. Das gilt auch für Gerda Dohles Edition der Gendarmeriechronik Grödig. Alfred Werner Höck stellt das Thema Kriegsfinanzierung auf der Basis umfangreicher Recherchen akribisch dar. Während das neu erhobene Zahlenmaterial in einem separaten Tabellenteil präsentiert wird, verbindet der Textteil lebendige Darstellung mit hohem Informationsgehalt. Höck weist zunächst auf die fehlenden Erfahrungen Österreichs mit der Finanzierung eines langen Mehrfrontenkrieges hin: Man rechnete 1914 mit einem zeitlich begrenzten Konflikt. Jedoch wurden bereits im August entscheidende Schritte unternommen hin zur „Bestreitung der Auslagen für außerordentliche militärische Vorkehrungen aus Anlass der kriegerischen Verwicklungen“ (208). So wurden Kreditoperationen der Notenbank genehmigt. Diese musste ihre Bilanzen nicht mehr veröffentlichen, und die Währung musste nicht mehr goldgedeckt sein. Stattdessen konnte ein Teil des Geldumlaufs nun durch Wechsel, Effekten oder Devisen gedeckt werden. Bereits ab Herbst 1914 kam zu den Notenbankkrediten die Ausgabe staatlicher Kriegsanleihen hinzu. Der Rest ist bekannt: Der kriegs- bzw. blockadebedingte Verknappung von Gütern stand eine Finanzierung des Krieges über die Notenpresse gegenüber, die geradewegs in die Kriegsinflation führte. Es folgen Beiträge, die sich mit der Rolle der katholischen Kirche und der Verwaltung beschäftigen. Für Letztere bestätigt Alfred Werner Höck einen Eindruck, der sich in den letzten Jahren in der Forschung herauskristallisiert hat: Man war auf den Krieg in keinerlei Hinsicht vorbereitet. Auch Laurence Cole sieht im Hinblick auf die „mentale Kriegsvorbereitung“ (337) die Dinge wesentlich gelassener als weiland Fritz Fischer. So lehnten ihm zufolge gerade „in Deutschland – oft als ‚Hort des Militarismus‘ in Europa betrachtet – bedeutende Teile der öffentlichen Meinung den radikalen Nationalismus und die Perspektive eines bewaffneten Konfliktes ab“ (337 f.). Souverän beleuchtet er verschiedene Aspekte der patriotischen Mobilisierung im westlichen Österreich, um „die Ausgangsposition für propagandistische Aktivitäten zu eruieren“ (338 f.). Dafür nimmt er die ‚Kultur des Militärischen unter Franz Joseph I.‘ sowie die Veteranenvereine in den Blick und kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass man zwar für das Kronland
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Salzburg von einem gesellschaftlichen Konsens bezüglich der Militärkultur, deren öffentliche Träger und Vermittler die Veteranenvereine waren, sprechen kann, es sich aber weniger um „einen aggressiven, auf Expansion ausgerichteten ‚Militarismus‘, sondern um die gegenseitige Solidarisierung und Vergemeinschaftung auf patriotischer Basis“ (357) gehandelt habe. Der Sammelband schließt mit Beiträgen zu Kunst und Literatur im Ersten Weltkrieg sowie den im Krieg gefallenen Künstlern. Den Autorinnen und Autoren gelingt es insgesamt, ein umfassendes Bild von Salzburg im Ersten Weltkrieg zu zeichnen. Das unterschiedliche Niveau der Beiträge hinterlässt jedoch einen ambivalenten Gesamteindruck. Andreas Brandner
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ANTJE STRAHL: Das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin im Ersten Weltkrieg. Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft (= Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns 18), Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2015, 396 S., (ISBN 978-3-412-22496-7), 49,90 EUR. Trotz der Vielzahl von Veröffentlichungen, die im Zusammenhang mit der 100. Wiederkehr des Ersten Weltkrieges in den letzten Jahren erschienen sind, gehört die Wirtschafts- und Sozialgeschichte dieses ersten wirklich industrialisierten Krieges noch immer zu den Stiefkindern der Forschung. Wenn in den wenigen einschlägigen Publikationen (kriegs-)wirtschaftlichen Fragen nachgegangen wird, dann stehen zudem zumeist die kriegswichtigen Industrien, vor allem die Rüstungswirtschaft, im Fokus der Aufmerksamkeit. Nur selten sind Arbeiten zu finden, die sich mit Fragen der Agrarwirtschaft oder des ländlichen Raums im Ersten Weltkrieg beschäftigen. Den Forschungsstand markieren noch immer Arbeiten, die teils schon älteren Datums sind. Zu nennen wären hier zum Beispiel Jochen Oltmers Arbeit „Bäuerliche Ökonomie und Arbeitskräftepolitik im Ersten Weltkrieg“ (1995), Jürgen Runds Buch über „Ernährungswirtschaft und Zwangsarbeit im Raum Hannover 1914 bis 1923“ (1992) oder Benjamin Ziemanns Studie „Front und Heimat“ über die ländliche Kriegserfahrung im südlichen Bayern (1997). Neuere Bücher, die sich dem „ländlichen Deutschland“ in der „Kriegszeit“ zuwandten, wie John Shreves umfängliche Fallstudie über den Landkreis Zauch-Belzig und seine Kreisstadt (2014), präsentieren zwar eine Fülle an Details, verlieren darüber aber übergreifende Forschungsfragen oftmals aus dem Blick. Angesichts dieser Ausgangslage ist es zu begrüßen, dass sich Antje Strahl mit ihrer 2010 in Rostock eingereichten Dissertation über den Übergang von der Friedens- zur Kriegswirtschaft im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin einem Thema zuwendet, das in mehrfacher Hinsicht bislang nur wenig Aufmerksamkeit gefunden hat. Das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin wies nicht nur hinsichtlich seiner sozioökonomischen Struktur – die klare Dominanz des agrarwirtschaftlichen Sektors gegenüber Industrie, Handwerk und Handel sowie eine stark unterdurchschnittliche Bevölkerungsdichte – einige Besonderheiten auf. In seiner ständestaatlichen Verfasstheit, die den Landesherrn und die Rittergutsbesitzer
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stark begünstigte, nahm das Großherzogtum im deutschen Kaiserreich eine Sonderstellung ein. Es gehört zu den Verdiensten der Arbeit, dass Antje Strahl diese mitunter recht komplizierten strukturellen Zusammenhänge samt den sich daraus ergebenden Konflikten und Folgen für die Landesverwaltung sowie die kriegsbedingten Veränderungen eingangs ihrer Arbeit knapp, aber präzise darlegt. Überhaupt ist die Arbeit insgesamt klar strukturiert; die Kriterien für die Auswahl der eingehender untersuchten Einzelaspekte sind gut nachvollziehbar. In den ersten beiden Hauptkapiteln beschreibt die Autorin den Umstellungsprozess von der Friedens- zur Kriegswirtschaft in den beiden wichtigsten Wirtschaftssektoren des Großherzogtums, also im wirtschaftlich stärksten Primärsektor, der Agrarwirtschaft, und in dem während des Krieges an Bedeutung gewinnenden Sekundärsektor, also in Handwerk und Industrie. Dass in der betreffenden Kapitelüberschrift der Seehandel genannt, aber nicht behandelt wird, irritiert, zumal er richtigerweise im dritten Hauptkapitel gemeinsam mit dem Tourismus behandelt wird. Hier hätte ein aufmerksames Lektorat leicht Abhilfe schaffen können. Ein kurzes Fazit schließt die insgesamt gut lesbare Studie ab. Ein Personen- und ein Ortsregister erleichtern die Orientierung; der Anhang umfasst nicht nur das Quellenund Literaturverzeichnis, sondern auch eine Reihe von Tabellen. Ein zentraler Punkt einer jeden Arbeit, die sich mit Fragen der Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg befasst, ist die Arbeitskräftefrage. Strahl widmet diesem Thema sowohl in ihrem Abschnitt zur Landwirtschaft als auch in dem zu Handwerk, Industrie (und Seehandel) einen angemessen breiten Raum. Umso mehr befremdet es jedoch, dass sich die Autorin hier nicht auf der Höhe der Forschung bewegt. Die zu diesem Thema relevante Forschungsliteratur hat sie ausweislich des Literaturverzeichnisses nur partiell genutzt und ausgewertet. Das führt zu ärgerlichen Fehleinschätzungen, insbesondere in Bezug auf den Charakter der Beschäftigung von russisch-polnischen Arbeitskräften in der Landwirtschaft, die von ihr auch für die Zeit nach Kriegsbeginn (sie spricht durchgehend von „Kriegsausbruch“) weiterhin durchweg als „Saisonarbeiter“ bezeichnet werden. Dass es sich nach Einführung des Rückkehrverbots und strengerer Auflagen ab Spätsommer 1914 kategorial um Zwangsarbeiter handelte und dass die Arbeitskräftepolitik im Ersten Weltkrieg – auch gegenüber den gleichfalls von ihr ausführlich thematisierten Kriegsgefangenen – diesbezüglich als ein Zwangsarbeitsregime bezeichnet werden muss, wird von ihr weder erwähnt noch kritisch diskutiert. So verwundert es schließlich nicht mehr, wenn die ab Herbst 1916 (nicht 1917, wie fälschlich zu lesen ist) zwangsrekrutierten und zur Zwangsarbeit deportierten Belgier – die als Industriearbeiter für das Großherzogtum allerdings keine Rolle spielten – von der Autorin gleichfalls zu „belgischen Saisonarbeitern“ erklärt werden (137). Dieser Fauxpas verweist auf ein generelles Manko der Arbeit. Bei aller Systematik und trotz allen Detailreichtums bleibt sie zu oft im Deskriptiven stecken. Übergeordnete Fragen oder Forschungszusammenhänge bleiben meist außen vor oder werden nur ausnahms- und ansatzweise aufgegriffen. Eine Einordnung in die übergreifenden politischen und militärischen Kontexte unterbleibt zumeist ganz. Diese generellen Schwächen trüben den Gesamteindruck der Arbeit, die hinsicht-
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lich ihres Themas, aber auch vieler neuer Erkenntnisse, die sie vermittelt, trotzdem einen wichtigen Beitrag zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Ersten Weltkrieges, insbesondere im ländlichen Raum, leistet. Hervorzuheben sind etwa die hoch interessanten, teils überraschenden Ausführungen Strahls zu Seehandel und Bädertourismus, zwei zentralen Wirtschaftsbereichen des Großherzogtums, die bislang kaum untersucht worden sind. Die Autorin kann beispielsweise zeigen, dass der Seehandel Mecklenburg-Schwerins trotz der traditionellen Nähe der Seehäfen Rostock und Wismar zu den neutralen skandinavischen Ländern weniger von den Kriegsumständen profitierte als die preußischen Häfen in Lübeck oder Stettin. Auch der Bädertourismus blieb von den Auswirkungen des Krieges, nach einem kriegsbedingten Einbruch 1914/15, weniger betroffen als es zu erwarten gewesen wäre. Aufschlussreich und anregend ist auch die Feststellung der Autorin, dass die kriegswirtschaftlich bedingten Veränderungen, gewollt oder ungewollt, zu einer nachholenden Modernisierung des Landes, insbesondere seiner Verwaltung, führten. Damit war letztlich die Umwandlung des rückständigen, ständisch verfassten Großherzogtums Mecklenburg-Schwerins in einen demokratischen Freistaat nach der Revolution von 1918/19 zumindest strukturell bereits vorbereitet gewesen. Jens Thiel
Münster/Berlin
ELAINE ECKERT: Die Carbid-Vereinigung GmbH (1921–1958). Ein Beitrag zur Geschichte der Kartelle in Deutschland (= Historische Studien der Universität Würzburg 11), Regensburg: Edition Vulpes 2014, 268 S., (ISBN 978-3-93911285-3), 22,00 EUR. Einem auf den ersten Blick unscheinbaren, tatsächlich aber wichtigen Thema widmet sich die Untersuchung von Elaine Eckert, die im Rahmen eines an der Universität Würzburg durchgeführten Forschungsprojekts zur Geschichte der chemischen Industrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Dabei dürfte es sich, soweit man dies dem Buch entnehmen kann, um eine Zulassungsarbeit für das Lehramt an Gymnasien und nicht um eine Dissertation handeln. Karbid ist eine chemische Verbindung, die entsteht, wenn ein Kalkstein unter Zusetzen von Kohle bei etwa 2 200 Grad Celsius geschmolzen wird. Der Prozess wurde 1863 erstmals von Friedrich Wöhler genauer beschrieben, besaß zu diesem Zeitpunkt aber noch keine wirtschaftliche Bedeutung. Als Nutzungsmöglichkeit dachte man zunächst daran, durch eine Reaktion mit Wasser Acetylen herzustellen, das beim Entzünden sehr hell und weiß verbrennt. Acetylenlampen wurden als Alternative zu Petroleumlampen und elektrischer Beleuchtung angesehen. Erst nach und nach wurden weitere Nutzungsmöglichkeiten entwickelt: zum einen als Acetylen-Sauerstoff-Gemisch beim autogenen Schweißen und Schneiden, zum anderen in der Verbindung mit Stickstoff als Düngemittel (Cyanamid oder Kalkstickstoff). Dazu kam die Verwendung als Dissousgas (Acetylengas), das unter
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bestimmten Bedingungen hochexplosiv ist. Ein Zentrum der bayerischen Karbidindustrie war das Unternehmen Wacker (Firmensitz u. a. in Burghausen). Neben dieser chemischen gibt es die kartellrechtliche Seite, die im Zentrum des Interesses der Untersuchung steht. Kartelle wurden als „Unternehmerverbände mit monopolistischem Zeck“ (Robert Liefmann 1918) bezeichnet. Die beteiligten Unternehmen bleiben rechtlich und wirtschaftlich selbständig, schränken aber den Wettbewerb ein (oder heben ihn gänzlich auf) und fixieren ihre Absprachen in Verträgen. Die Zahl der Kartelle stieg in Deutschland nach der Reichsgründung stark an. So wurden 1875 acht Industriekartelle in Deutschland gezählt, 1911 waren es knapp 600, 1922 etwa 1 000 und 1925 bereits 2 500. Wie diese Zahlen zeigen, erlebten Kartelle in der Zeit des Ersten Weltkriegs und in der Weimarer Republik einen großen Aufschwung, das heißt in Zeiten knapper Ressourcen und starker staatlicher Wirtschaftslenkung sowie im Rahmen von Krisen und starkem Konkurrenzdruck. Auch der nationalsozialistische Staat hatte im Zuge der staatlichen Wirtschaftslenkung ein großes Interesse an Kartellen. Nach 1945 wurde Kartellbildung unter anderem durch die US-Amerikaner untersagt, die das Verbot 1947 im Militärgesetz Nr. 56 fixierten. Die übermäßige Konzentration der deutschen Wirtschaft galt als demokratiefeindlich und friedensgefährdend. In der Tat sind Kartelle nicht mit einer liberalen Wirtschaftsauffassung vereinbar. Die Verfasserin untersucht zunächst die staatliche Rohstoffbewirtschaftung in der Zeit des Ersten Weltkriegs, die von einer eklatanten Rohstoffknappheit geprägt war. Bereits am 28. September 1914 gründeten führende Vertreter der größten deutschen Anilinfarben- und Sprengstofffabrikanten die Kriegschemikalien AG, die Rohstoffe verteilen und verwerten sowie insbesondere die Heeresproduktion sichern sollte. Solche Kriegsgesellschaften wurden in allen wichtigen Wirtschaftsbereichen gegründet. Die Kriegschemikalien AG übernahm im Herbst 1916 die Bewirtschaftung von Karbid, das in dieser Zeit in großem Umfang importiert werden musste. Der Importbedarf betrug 1916 etwa 100 000 Tonnen, wovon etwa 60 % aus der Schweiz kamen, 30 % aus Norwegen und 10 % aus Schweden. Etwa 15 000 Tonnen produzierte Deutschland selbst. An dieser Stelle gelingt es der Verfasserin nicht, zu erklären, warum der Importbedarf so groß war. Als „Ausgangsrohstoffe“ nennt sie „Koks und Elektroden“ (!). An anderer Stelle heißt es dagegen, Deutschland habe die „Rohstoffe und Hilfsmaterialien“ besessen. Das wiederum würde bedeuten, dass es nicht genug Fabriken gab, um Karbid herzustellen. Der genaue Zusammenhang bleibt letztlich unklar. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde aus diesen Organisationen und Strukturen über einige Zwischenschritte im Juni 1921 die „Carbid-Vereinigung GmbH“ gegründet, nun allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Der deutsche Markt sollte abgeschottet und vor ausländischer Konkurrenz geschützt werden. Ähnliche Auseinandersetzungen kennen wir aus der Kugellager- und Textilindustrie. Welche Unternehmen der Karbidvereinigung in der Anfangszeit angehörten, ist wegen der schwierigen Quellenlage nicht bekannt. 1925 bestand das Kartell aus fünf Unternehmen: AG für Stückstoffdünger, Dr. Alexander Wacker Gesellschaft, LonzaWerke, Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk AG und Wiede’s Carbidwerk Freyung mbH. Ausgeschieden war 1924 die Koholyt AG. Bis 1939 kamen noch
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sieben weitere Unternehmen dazu. Der Gesellschaftssitz wurde 1925 von Nürnberg nach Berlin verlegt. Betrachtet man Absatz und Gewinn, dann war 1927 das beste Geschäftsjahr der Weimarer Republik, 1932 das schlechteste. Allerdings sind die Zahlen lückenhaft, so dass allenfalls eine Tendenz erkennbar ist. Auffallend ist, dass der Gewinn von 1933 bis 1943 kontinuierlich anwuchs, von etwa 13,5 Mio. RM 1933 auf rund 40,9 Mio. RM 1943. Dieser Gewinn verteilte sich auf die Unternehmen, die dem Kartell angehörten. Die Zeit des Nationalsozialismus wird von der Verfasserin zurückhaltend interpretiert. Ab 1937/38 wurde der Einfluss der nationalsozialistischen Herrschaftspolitik „in zunehmendem Maße“ spürbar. Die „Ausweitung des Krieges“ blieb „nicht ohne Auswirkungen, sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht“. Neben „kriegsbedingten Schwierigkeiten“ kam es zu einer „Steigerung des Absatzes“. Die 1944 von führenden Persönlichkeiten der Gesellschaft konstatierte „Selbstverwaltung der Industrie“ kann getrost in das Reich der Legenden verwiesen werden. Das Fazit fällt gemischt aus. Für eine Zulassungsarbeit handelt sich es um eine sehr gute, quellengesättigte Untersuchung. Die Verfasserin hat viele Quellen, unter anderem im Bundesarchiv, im Historischen Konzernarchiv der RWE AG und im Historischen Unternehmensarchiv der Wacker Chemie AG, ausgewertet. Das kann als vorbildlich bezeichnet werden. Allerdings hätte es der Arbeit gut getan, wenn sie zu einer Dissertation ausgebaut worden wäre. Auf dem vorliegenden Level kann zwangsläufig vieles nur oberflächlich behandelt werden. Auffallend am Literaturverzeichnis ist, dass allgemeine Standardwerke zur Weimarer Republik und zur NS-Zeit weitgehend fehlen. Dies macht sich vor allem an den Stellen bemerkbar, an denen die Befunde hätten interpretiert werden müssen. Andreas Dornheim
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HEIKE KEMPE (Hg.): Die „andere Provinz“. Kulturelle Auf- und Ausbrüche im Bodenseeraum seit den 1960er Jahren (= Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz 13), Konstanz: UVK 2014, 350 S., (ISBN 978-3-86764-363-4), 7,99 EUR. Der auf einer Tagung im Stadtarchiv Konstanz 2011 basierende Band greift eine Debatte aus dem „Kursbuch 39“ (April 1975, 81–127) zum Thema „Provinz“ auf, in dem vier damalige Mitarbeiter der Universität Konstanz – Dieter Bellmann, Wolfgang Hein, Werner Trapp und Gert Zang – über die politischen und praktischen Probleme ehemaliger Akteure der Studentenbewegung reflektierten. Diesen fiel nach dem Abschluss des Studiums „die bruchlose Reintegration und Anpassung an die Provinzgesellschaft“ schwer. Vor Ort gab es weder eine linke Gegenöffentlichkeit, noch die minimalen infrastrukturellen Voraussetzungen für eine „linke Existenz“, da z. B. das Wohnen in Wohngemeinschaften kaum möglich war (Kursbuch 39, 88 f.). Gert Zang, der u. a. das Museum Reichenau leitet und sich durch zahlreiche regionalgeschichtliche Untersuchungen einen Namen ge-
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macht hat, greift in seinem Leitbeitrag seine übergreifenden wissenschaftlichen Überlegungen zur Historisierung des Provinz-Begriffs auf, bezieht diese indes leider nur marginal auf den konkreten Gegenstand der „anderen“ Provinz. Dies gilt auch für Sven Reichardt, der an der Universität Konstanz den Lehrstuhl für Zeitgeschichte innehat und dessen bahnbrechende Publikationen zum linksalternativen Milieu einem breiten historisch interessierten Publikum bekannt geworden sind. Auch er unterlässt es in einem zweiten Leitbeitrag, seine Überlegungen zu Authentizität als Kategorie der Selbstbeschreibung der Linken der 1970er Jahre mit dem „Provinz“-Diskurs zu verknüpfen. Dabei gäbe es Überlappungen, wie das ebenfalls im „Kursbuch 39“ abgedruckte „Gespräch über Ungleichzeitigkeit“ mit dem Philosophen Ernst Bloch zeigt. Da auch das Vorwort der Herausgeberin Heike Kempe wenig mehr als einen knappen Aufriss der Einzelbeiträge bietet, kommt diese thematisch vielversprechende und in vielen Einzelbeiträgen durchaus weiterführende Publikation ohne übergreifende Einordnung des Regionalen in die größere zeithistorische Protestforschung aus. Ein erster Block von Beiträgen fokussiert auf die Aufbrüche Ende der 1960er Jahre rund um das sprichwörtliche „1968“. Karl Schweizer setzt mit einem weit ausgreifenden Beitrag zur „Apo-Rebellion“ im Raum Bodensee-OberschwabenWestallgäu einen schönen Kontrapunkt zur etablierten Lokalgeschichtsschreibung und offiziösen Erinnerungskultur, die gern einem folkloristischen Geschichtsverständnis folgt. Er skizziert die große Linie der „langen 1960er Jahre“ von Streiks und Protesten, auch der Arbeiterbewegung, seit den Fünfzigern bis zur Jugendzentrumsbewegung der Siebziger. Es folgt ein informativer, auch auf Zeitzeugengesprächen basierender Beitrag der vier Schülerinnen Elena Buchhammer, Melanie Esterl, Katja Genseleiter und Ines Gersky zur Universität Konstanz, wo der Protest in einer berühmt-berüchtigten Redeschlacht zwischen dem damaligen Bundeskanzler und Konstanzer Universitätsgründer Kurt Georg Kiesinger und den Studierenden im Konstanzer Konzil Anfang 1968 gipfelte. In Konstanz wie auch in St. Gallen, so Marcel Mayer, waren Steine des Anstoßes einerseits lokal spezifische Streitpunkte wie überdimensionierte Verkehrsprojekte der Kantonatsverwaltung, andererseits überregionale und globale Probleme, in Konstanz unter anderem die Notstandsgesetze, in St. Gallen neben Protesten gegen die Wehrpflicht auch solche gegen den Vietnamkrieg. Dass auch Liechtenstein sein „1968“ hatte, dürfte nun kaum mehr überraschen. Jürgen Schremser widerspricht der Vorstellung eines cultural lag als adäquater Beschreibung der Liechtensteiner Jugendkultur, die ausgesprochen freudig und schnell die internationale Jugend- und Protestkultur rezipiert habe, wenn auch die „größeren“ Demos sich erst 1971/72 ereigneten. Mit Vorarlberg befassen sich zwei Beiträge, die stärker auf Jugendkultur als auf politischen Protest im engeren Sinne bezogen sind, nämlich der Aufsatz von Werner Matt zu Dornbirn und von Thomas Klagian zu den Bregenzer „Randspielen“ als Gegenveranstaltung zu den offiziellen Festspielen. Deutlich stärker als in anderen Beiträgen wird hier eine zeitliche „Phasenverschiebung“ des regionalen Protests konstatiert. Ein zweiter Block von Aufsätzen nimmt eher die Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels in den Blick – das „Ende der traditionellen Autorität“ im
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Rezensionen und Annotationen
Bregenzerwald (Katrin Netter), die Auswirkungen der Aussteigerbewegung im Allgäu (Eva Wonnenberger), die das „platte Land“ mit ursprünglich urbanen alternativen Lebensstilen bekannt machte, Bewegungen rund um Jugendhäuser wie das Feuerwehrgerätehaus in Radolfzell, dem sich ein weiterer spannender Schülerbeitrag von Nicole Ehnert und Mirjam Kunz widmet, sowie ein den Provinzbegriff der Opposition stärker diskursiv skizzierender Beitrag der Herausgeberin Heike Kempe zum alternativen Milieu in Konstanz. Letztere gibt einige konzeptionelle Hilfestellungen zum identitätsstiftenden Moment eines zunehmend affirmativ verwendeten Provinzbegriffs im Kontext der lokalen Protest- und Gegenkulturen der 1960er und 70er Jahre. Sehr gut werden hier, wie in vielen Beiträgen des Bandes, die intraregionalen Vernetzungen und wechselseitigen Befruchtungen deutlich. Kempe unterstreicht überdies, dass eine auch über das direkte Protestmilieu hinausgehende, neue positive Wahrnehmung von regionaler Kultur und „Provinz“ wesentliche Impulse von den „neulinken“ Protestlern der „1968er“-Jahre erhielt. Schließlich werden durch Beiträge zu Norditalien (Trient und Bozen) von Hans Heiss, zur neuen Frauenbewegung in Graz von Karin M. Schmidlechner und zum Starnberger Schülerstreik 1970 von Paul Hoser über den Bodenseeraum hinausreichende vergleichende Perspektiven integriert. David Templin schließlich fasst die wichtigsten Ergebnisse seiner Forschung zu den Jugendzentrumsinitiativen zusammen, wozu er kürzlich ein fulminantes und für alle an der „prostierenden Provinz“ interessierten Forscher/-innen zur Pflichtlektüre gehörendes Pionierund Standardwerk vorgelegt hat (Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, Göttingen 2015). Abgerundet wird der Band durch einen eher theoretischen Beitrag von Gerhard Fürmetz zu archivkundlichen basics der Protestgeschichte. Auch wenn der vorliegende Band auf der konzeptionellen Ebene etwas kurz springt und Wünsche offen lässt – vor allem im Hinblick eine den Forschungsstand systematisch reflektierende Einordnung der Debatte über die räumliche Diffusion von Protestimpulsen –, so eröffnen sich in der Summe doch anregende Neuperspektivierungen des alten Themas der Wirkungen von „1968“. Die stereotype Fronstellung von „provinziell“ als „rückschrittlich“ und „urban“ als „fortschrittlich“ weichte sich in den 1970er Jahren auf, als sich die Hauptrichtung der Einflussströme zum Teil sogar umgedreht zu haben scheint: Die überwiegend kleinstädtische Jugendzentrumsbewegung dürfte der wichtigste genuine Beitrag der westdeutschen, österreichischen und Schweizer „Provinz“ zur Gegenkultur der 1970er Jahre gewesen sein. Sie taucht in fast jedem der Beiträge auf. Hier ging in der ersten Hälfte der 1970er Jahre ein Impuls von Kleinstädten aus, der mit einigen Jahren Verzögerung auch die Großstädte erreichte. Das konterkariert die Vorstellung, dass sich Protestkulturen linear von Metropolen in Provinzen verbreiten. Die Hypothese erscheint nicht zu gewagt, dass die zugrundeliegenden Austauschprozesse zirkulär verliefen. Die von Bloch in dem erwähnten Interview mit dem „Kursbuch“ angesprochenen Ungleichzeitigkeiten waren zeitweilig solche der Großstädte gegenüber den eher kleinstädtisch geprägten Zentren der Jugendhausbewegung. Insgesamt macht der Sammelband sehr gut sichtbar, welch enormes
19. und 20. Jahrhundert
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Potential regionale Ansätze für die zeithistorische Erforschung des Protests „um 1968“ bieten. Philipp Gassert
Mannheim
AUTORENVERZEICHNIS Martin Rheinheimer
Institut for Historie, Syddansk Universitet, Campusvej 55, DK-5230 Odense M, Dänemark
Hanns Haas
Voggenbergstraße 22, A-5101 Bergheim
Monika Thonhauser
Kravoglstraße 22, A-5020 Salzburg
Andrea Barbara Serles
Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien, Universitätsring 1, A-1010 Wien
Die Beiträge in dieser Ausgabe des „Jahrbuchs für Regionalgeschichte“ haben einen Schwerpunkt in der regionalen Handelsgeschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts; ihr geographisches Spektrum reicht von Nord- und Ostsee bis in die Alpen und den Donauraum. Martin Rheinheimer wertet die Sundzollrechnungen, eine einzigartige Quelle zum Handel im Nord- und Ostseeraum, im Hinblick auf die Schifffahrt des Herzogtums Schleswig aus. Hans Haas gibt einen Überblick über Herkunftsgebiete, Erscheinungsformen
und Auswirkungen von Wanderhandel und Wandergewerbe im Alpenraum. Ein konkretes Fallbeispiel des alpinen Wanderhandels, den Schlingen- und Spitzenhandel im ehemaligen Erzstift Salzburg, unterzieht Monika Thonhauser einer detaillierten Untersuchung. Andrea Serles schließlich nimmt auf der Grundlage der Kremser Waag- und Niederlagsbücher die Rolle Nürnberger Händler und der von ihnen vertriebenen Waren im frühneuzeitlichen Donauhandel in den Blick.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11702-9
ISSN 1860-8248