Jahrbuch für Regionalgeschichte 33 3515112618, 9783515112611

Dieser Band des "Jahrbuchs für Regionalgeschichte" deckt chronologisch, räumlich und methodisch ein breites Sp

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German Pages 190 [194] Year 2016

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Inhaltsverzeichnis
Editorial
I Abhandlungen
Ingrid Bátori: Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung in der Reichsstadt Nördlingen im 15. und 16. Jahrhundert
Matthias Winkler: Das Exil als Aktions- und Erfahrungsraum: Französische Revolutionsemigranten im östlichen Mitteleuropa nach 1789
Dietmar Stübler: Wilhelm Hähner als königlich-sächsischer Konsul in Livorno (1840–1866). Regionale Textilproduktion, wirtschaftliche Krisen und mediterrane Märkte
Sonja Hinsch: Von Arbeitslosen und Arbeitsscheuen. Die Herstellung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Formen von Nicht-Arbeit in Zwangsarbeitsanstalten, Besserungsanstalten und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Österreich 1918–1938)
II Rezensionen und Annotationen
Epochenübergreifend
Rolf Kießling, Wolfgang Scheffknecht (Hg.): Umweltgeschichte in der Region Besprochen von Reinhold Reith
Winfried Speitkamp (Hg.): Handbuch der Hessischen Geschichte, Bd. 3 Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz
Christoph Franke (Hg.): Adelsarchive in der historischen Forschung Besprochen von Hiram Kümper
Wolfgang Prange: Bischof und Domkapitel zu Lübeck Besprochen von Tatjana Niemsch
Tobias Wulf: Die Pfarrgemeinden der Stadt Köln Besprochen von Claudia Esch
Thomas Gunzelmann (Hg.): Bamberg. Stadtdenkmal und Denkmallandschaft Besprochen von Claudia Esch
Rolf Kießling (Hg.): St.Anna in Augsburg Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz
Gabriela Signori (Hg.): Prekäre Ökonomien Besprochen von Anke Sczesny
Sabine Holtz, Albert Schirrmeister, Stefan Schlelein (Hg.): Humanisten edieren Besprochen von Niklas Holzberg
Mittelalter
Ingrid Würth: Geißler in Thüringen Besprochen von Hiram Kümper
Melanie Bauer: Die Universität Padua und ihre fränkischen Besucher im 15. Jahrhundert Besprochen von Mark Häberlein
Marco Veronesi: Oberdeutsche Kaufleute in Genua 1350–1490 Besprochen von Heinrich Lang
Oliver Auge, Burkhard Büsing (Hg.): Der Vertrag von Ripen 1460 und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa Besprochen von Volker Seresse
Birte Krüger, Klaus Krüger (Hg.): Ich, Hans von Waltheym Besprochen von Gerhard Fouquet
Gabriela Signori (Hg.): Das Schuldbuch des Basler Kaufmanns Ludwig Kilchmann (gest. 1518) Besprochen von Sabrina Stockhusen
Frühe Neuzeit
Peter Rauscher, Martin Scheutz (Hg.): Die Stimme der ewigen Verlierer Besprochen von Mark Häberlein
Angelika Westermann, Stefanie von Welser (Hg.): Beschaffungs- und Absatzmärkte oberdeutscher Firmen im Zeitalter der Welser und Fugger Besprochen von Heinrich Lang
Klaus Niehr (Hg.): Historische Stadtansichten aus Niedersachsen und Bremen 1450–1850 Besprochen von Hiram Kümper
Christian Kuhn: Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur Besprochen von Johannes Müller
Kurt Andermann (Hg.): Bürger, Kleriker, Juristen Besprochen von Anke Keller
Alexander Kästner, Gerd Schwerhoff (Hg.): Göttlicher Zorn und menschliches Maß Besprochen von Hiram Kümper
Andreas Flurschütz da Cruz: Zwischen Füchsen und Wölfen Besprochen von Richard J. Ninness
Matthias Bähr: Die Sprache der Zeugen Besprochen von Alexander Denzler
Mark Häberlein (Hg.): Bamberg im Zeitalter der Aufklärung und der Koalitionskriege Besprochen von Michael Puchta
Lina Hörl: Handwerk in Bamberg Besprochen von Anke Sczesny
Holger Gräf, Andreas Hedwig, Annegret Wenz-Haubfleisch (Hg.): Die "Hessians" im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776–1783) Besprochen von Sara Petzold
Lena Haunert: Einsatz in der Fremde? Besprochen von Mark Häberlein
19. und 20. Jahrhundert
Harm Klueting (Hg.): Das Herzogtum Westfalen Besprochen von Christof Spannhoff
Sandra Zeumer: Die Nachfolge in Familienunternehmen Besprochen von Mechthild Isenmann
Anke Sczesny, Rolf Kießling, Johannes Burkhardt (Hg.): Prekariat im 19. Jahrhundert Besprochen von Helmut Bräuer
Gerhard Willi: Volks- und landeskundliche Beschreibungen aus den Landkreisen Unterallgäu und Ostallgäu mit KaufbeurenGerhard Willi: Volks- und landeskundliche Beschreibungen "Entlang der Iller" Besprochen von Anke Sczesny
Lena Krull: Prozessionen in Preußen Besprochen von Klaus Unterburger
Johanna Ludwig: Eigner Wille und eigne Kraft Besprochen von Elisabeth Gernhardt
Ina Szymnau: Im Zeichen des Krieges Besprochen von Andreas Brandner
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Jahrbuch für Regionalgeschichte 33
 3515112618, 9783515112611

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JbRG Band 33

Jahrbuch für Regional­ geschichte Geschichte

Franz Steiner Verlag

Jahrbuch für Regionalgeschichte Band 33

JahRBuch füR Regionalgeschichte

franz steiner Verlag

jahrbuch für regionalgeschichte Begründet von Karl czok herausgegeben von Mark häberlein, Bamberg (verantwortlich), helmut Bräuer, leipzig / Josef ehmer, Wien / Rainer s. elkar, siegen / gerhard fouquet, Kiel / franklin Kopitzsch, hamburg / Reinhold Reith, salzburg / Martin Rheinheimer, esbjerg / Dorothee Rippmann, Zürich / susanne schötz, Dresden / sabine ullmann, eichstätt Redaktion: christian Kuhn, sandra schardt (Bamberg) www.steiner-verlag.de/jrg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen grenzen des urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © franz steiner Verlag, stuttgart 2016 -satzsystem), Druck: offsetdruck Bokor, Bad tölz satz: Matthias steinbrink ( gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in germany. issn 1860-8248 isBn 978-3-515-11261-1 (Print) isBn 978-3-515-11269-7 (e-Book)

Inhaltsverzeichnis Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I

Abhandlungen

Ingrid Bátori: Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung in der Reichsstadt Nördlingen im 15. und 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Matthias Winkler: Das Exil als Aktions- und Erfahrungsraum: Französische Revolutionsemigranten im östlichen Mitteleuropa nach 1789 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Dietmar Stübler: Wilhelm Hähner als königlich-sächsischer Konsul in Livorno (1840–1866). Regionale Textilproduktion, wirtschaftliche Krisen und mediterrane Märkte. . . . . . . . . 73 Sonja Hinsch: Von Arbeitslosen und Arbeitsscheuen. Die Herstellung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Formen von Nicht-Arbeit in Zwangsarbeitsanstalten, Besserungsanstalten und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Österreich 1918–1938). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

II

Rezensionen und Annotationen 1. Epochenübergreifend

Rolf Kießling, Wolfgang Scheffknecht (Hg.): Umweltgeschichte in der Region Besprochen von Reinhold Reith. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Winfried Speitkamp (Hg.): Handbuch der Hessischen Geschichte, Bd. 3 Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

6

Inhalt

Christoph Franke (Hg.): Adelsarchive in der historischen Forschung Besprochen von Hiram Kümper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Wolfgang Prange: Bischof und Domkapitel zu Lübeck Besprochen von Tatjana Niemsch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Tobias Wulf : Die Pfarrgemeinden der Stadt Köln Besprochen von Claudia Esch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Thomas Gunzelmann (Hg.): Bamberg. Stadtdenkmal und Denkmallandschaft Besprochen von Claudia Esch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Rolf Kießling (Hg.): St. Anna in Augsburg Besprochen von Andreas Flurschütz da Cruz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Gabriela Signori (Hg.): Prekäre Ökonomien Besprochen von Anke Sczesny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Sabine Holtz, Albert Schirrmeister, Stefan Schlelein (Hg.): Humanisten edieren Besprochen von Niklas Holzberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

2. Mittelalter Ingrid Würth: Geißler in Thüringen Besprochen von Hiram Kümper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Melanie Bauer: Die Universität Padua und ihre fränkischen Besucher im 15. Jahrhundert Besprochen von Mark Häberlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Inhalt

7

Marco Veronesi: Oberdeutsche Kaufleute in Genua 1350–1490 Besprochen von Heinrich Lang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Oliver Auge, Burkhard Büsing (Hg.): Der Vertrag von Ripen 1460 und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa Besprochen von Volker Seresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Birte Krüger, Klaus Krüger (Hg.): Ich, Hans von Waltheym Besprochen von Gerhard Fouquet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Gabriela Signori (Hg.): Das Schuldbuch des Basler Kaufmanns Ludwig Kilchmann (gest. 1518) Besprochen von Sabrina Stockhusen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

3. Frühe Neuzeit Peter Rauscher, Martin Scheutz (Hg.): Die Stimme der ewigen Verlierer Besprochen von Mark Häberlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Angelika Westermann, Stefanie von Welser (Hg.): Beschaffungs- und Absatzmärkte oberdeutscher Firmen im Zeitalter der Welser und Fugger Besprochen von Heinrich Lang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Klaus Niehr (Hg.): Historische Stadtansichten aus Niedersachsen und Bremen 1450–1850 Besprochen von Hiram Kümper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Christian Kuhn: Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur Besprochen von Johannes Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Kurt Andermann (Hg.): Bürger, Kleriker, Juristen Besprochen von Anke Keller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

8

Inhalt

Alexander Kästner, Gerd Schwerhoff (Hg.): Göttlicher Zorn und menschliches Maß Besprochen von Hiram Kümper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Andreas Flurschütz da Cruz: Zwischen Füchsen und Wölfen Besprochen von Richard J. Ninness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Matthias Bähr: Die Sprache der Zeugen Besprochen von Alexander Denzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Mark Häberlein (Hg.): Bamberg im Zeitalter der Aufklärung und der Koalitionskriege Besprochen von Michael Puchta. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Lina Hörl: Handwerk in Bamberg Besprochen von Anke Sczesny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Holger Gräf, Andreas Hedwig, Annegret Wenz-Haubfleisch (Hg.): Die „Hessians“ im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776–1783) Besprochen von Sara Petzold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Lena Haunert: Einsatz in der Fremde? Besprochen von Mark Häberlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

4. 19. und 20. Jahrhundert Harm Klueting (Hg.): Das Herzogtum Westfalen Besprochen von Christof Spannhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Sandra Zeumer: Die Nachfolge in Familienunternehmen Besprochen von Mechthild Isenmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Inhalt

9

Anke Sczesny, Rolf Kießling, Johannes Burkhardt (Hg.): Prekariat im 19. Jahrhundert Besprochen von Helmut Bräuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Gerhard Willi: Volks- und landeskundliche Beschreibungen aus den Landkreisen Unterallgäu und Ostallgäu mit Kaufbeuren Gerhard Willi: Volks- und landeskundliche Beschreibungen „Entlang der Iller“ Besprochen von Anke Sczesny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Lena Krull: Prozessionen in Preußen Besprochen von Klaus Unterburger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Johanna Ludwig: Eigner Wille und eigne Kraft Besprochen von Elisabeth Gernhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Ina Szymnau: Im Zeichen des Krieges Besprochen von Andreas Brandner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

EDITORIAL Die Aufsätze im vorliegenden Band des „Jahrbuchs für Regionalgeschichte“ stammen sowohl von erfahrenen als auch von jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und decken chronologisch, räumlich und methodisch ein breites Spektrum ab. Ingrid Bátoris Studie über Nördlingen im 15. und 16. Jahrhundert rekurriert zwar auf Daten, die bereits vor Jahrzehnten im Rahmen eines Tübinger Sonderforschungsbereichs erhoben wurden; sie setzt diese jedoch mit aktuellen Forschungen zu Migration, Bürgerrecht und den Auswirkungen von Epidemien in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten in Beziehung und legt grundlegende Befunde zur demographischen und sozialen Entwicklung der schwäbischen Reichsstadt vor. Matthias Winkler nähert sich dem Phänomen der Emigration im Zeitalter der Französischen Revolution aus einer akteurszentrierten Perspektive und zeigt an zwei Beispielen – den gelehrten und publizistischen Aktivitäten des Abbé Gérard Gley in Franken und Polen sowie einer Manufakturgründung im Osten Galiziens – unterschiedliche Handlungs- und Erfahrungsräume der Emigranten auf. Dietmar Stübler untersucht die Berichte des sächsischen Konsuls in Livorno in den Jahren 1840 bis 1868, Wilhelm Hähner, und geht dabei insbesondere auf dessen wirtschafts- und sozialpolitische Reformvorschläge im Revolutionsjahr 1848 ein, um die Vorstellungswelt des sächsischen Liberalismus zu erhellen. Sonja Hinsch schließlich geht der Frage nach, wie in österreichischen Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten sowie in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Zwischenkriegszeit die Kategorien „Arbeit“ bzw. „Nicht-Arbeit“ diskursiv konstruiert wurden und auf welche Faktoren die Behörden bei der Zuschreibung bestimmter persönlicher Eigenschaften Bezug nahmen. Im Rezensionsteil wird in bewährter Weise eine große Bandbreite an Neuerscheinungen besprochen. Wie im Aufsatzteil zeigt sich auch hier die Lebendigkeit und Methodenvielfalt des regionalhistorischen Forschungsfeldes.

Bamberg, im September 2015

Mark Häberlein

ABHANDLUNGEN

Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung in der Reichsstadt Nördlingen im 15. und 16. Jahrhundert von Ingrid Bátori Vorbemerkung Dieser Beitrag hat eine lange Entstehungsgeschichte. Er geht zurück auf Forschungen im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 8 „Spätmittelalter und Reformation“ an der Universität Tübingen, die vor rund dreißig Jahren vorgenommen, aber nicht abgeschlossen wurden. In dem Teilprojekt „Stadt in Spätmittelalter und Reformation in Süddeutschland“ sollte die Sozialstruktur von Städten verschiedener Größe und rechtlicher Stellung untersucht und eine Prosopographie der jeweiligen Führungsschicht erstellt werden. Nachdem ich gemeinsam mit Erdmann Weyrauch die Stadt Kitzingen1 bearbeitet hatte, widmete ich mich der Reichsstadt Nördlingen, nicht zuletzt wegen der für diese Stadt überaus günstigen Quellenlage zur Durchführung einer sozial- und bevölkerungsgeschichtlichen Langzeitstudie. Da wir bereits für Kitzingen die damals noch kaum praktizierte, aber hoch attraktive Möglichkeit, serielle Quellen mit dem Computer auszuwerten, erfolgreich erprobt hatten, entschloss ich mich, die Gelegenheit zu nutzen, nicht nur die Jahre unmittelbar vor und nach der Reformation, sondern auch die schon ab dem Jahr 1404 fast lückenlos vorhandenen Steuerbücher in mehr oder weniger regelmäßigen Zwölf-Jahres-Schnitten bis einschließlich dem Jahr 15672 vollständig zu digitalisieren. Insgesamt wurden 18 Steuerjahre ausgewertet3 und Vermögensrang- und alphabetische Namenslisten erstellt sowie Sortierungen nach weiteren Merkmalen, z. B. Beruf und Geschlecht, vorgenommen (siehe Tabelle auf der nächsten Seite). Als Ende 1984 die Finanzierung des Sonderforschungsbereichs durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft eingestellt wurde, waren die kostenintensiven Archivrecherchen und die Arbeiten im Rechenzentrum der Universität Tübingen unter Mitarbeit überaus engagierter studentischer Hilfskräfte4 abgeschlossen. Die Vorarbeiten zur Prosopographie der städtischen Elite lagen als digitale Rohdatei vor. Die endgültige Auswertung des Datenmaterials hoffte ich anschließend auch ohne Förderung noch abschließen zu können. 1

2 3

4

I NGRID BÁTORI , E RDMANN W EYRAUCH: Die bürgerliche Elite der Stadt Kitzingen. Studien zur Sozialund Wirtschaftsgeschichte einer landesherrlichen Stadt im 16. Jahrhundert (= Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung 11) Stuttgart 1982. Mit einer 245 Personen umfassenden Prosopographie der Führungsschicht. Damit war der Anschluss an die Arbeit von C HRISTOPHER R. F RIEDRICHS: Urban Society in an Age of War: Nördlingen, 1580–1720, Princeton 1979 gegeben, die mit Beginn der Kirchenbücher 1580 einsetzt. Abweichungen vom 12-Jahres-Rhythmus sind bedingt durch Lücken in der Serie der Steuerbücher. Es fehlen z. B. die Jahre 1482–1488. Die Jahre 1439 und 1441 wurden von Studenten eines Kurses über Quantifizierende Methoden in der Sozialgeschichte bearbeitet, der im September 1979 an der Universität Tübingen von Professor Franz Irsigler (Universität Trier) und mir durchgeführt wurde. Besonders nennen und herzlich danken möchte ich stellvertretend für viele andere: Rolf Häfele, Rainer Metz, Lyndal Roper, Petra Scharr, Christine Walter, Ellen Winkler-Oberman und Achim Benzing, Geschäftsführer des SFB, der unter anderem bei klirrender Kälte im Stadtarchiv Mikrofilme der Nördlinger Pfandbücher aufgenommen hat. Die Filme stehen jetzt dort zu Forschungszwecken zur Verfügung.

Jahrbuch für Regionalgeschichte 33 (2015), S. 15–46

16

Ingrid Bátori

Tabelle 1: Steuerleistung Nördlingen in Stichjahren 1404–1567. Jahr

Zahl der Steuerkonten

Steuerzahler

davon Frauen

%

Nullzahler

%

Steuersumme in fl

1404 1411 1423 1435 1439 1441 1447 1459 1471 1480 1495 1507 1519 1525 1531 1543 1555 1567

1 294 1 320 1 346 1 356 1 222 1 317 1 244 1 306 1 333 1 400 1 392 1 363 1 622 1 647 1 683 2 049 2 192 2 257

1 213 1 238 1 278 1 204 1 081 1 173 1 181 1 173 1 238 1 313 1 298 1 277 1 364 1 407 1 521 1 718 1 887 1 968

242 234 280 311 255 278 243 271 270 272 271 216 291 246 216 366 392 404

18,7 17,7 20,8 22,9 20,9 21,1 19,5 20,8 20,3 19,4 19,5 15,8 17,9 14,9 12,8 17,9 17,9 17,9

81 82 68 152 141 144 63 133 95 87 93 86 258 240 162 331 305 289

6,3 6,2 5,1 11,2 11,5 10,9 5,1 10,2 7,1 6,2 6,7 6,3 15,9 14,6 9,6 16,2 13,9 12,8

1 870 3 174 2 562 1 533 1 381 1 573 1 837 2 963 1 479 1 680 1 578 1 704 1 808 1 873 2 206 2 553 3 299 3 614

Neue berufliche Herausforderungen ließen mir bald keine Zeit mehr zu wissenschaftlicher Arbeit. Ich habe die Materialien allerdings aufbewahrt und, soweit sie in digitaler Form vorlagen, durch mehrere Generationen der Computersoftware fortgeführt. Inzwischen haben mehrere Doktoranden diese Unterlagen für ihre eigene Arbeiten genutzt, unter anderen Klaus Fischer für seine medizinhistorische Arbeit über Hartmann Schedel als Stadtarzt in Nördlingen5 und Gerrit Jasper Schenk für den Abschnitt über Nördlingen in seiner Studie „Zeremoniell und Politik“6 . Eine größere Menge noch nicht ausgewerteter Materialien zu Nördlingen habe ich an Agnes Blasczyk, Doktorandin von Rolf Kießling an der Universität Augsburg, zur Nutzung übergeben. Die Ausdrucke der Steuerlisten stehen der Forschung außerdem im Stadtarchiv Nördlingen zur Verfügung und eine in Arbeit befindliche digitale Fassung der Prosopographie hoffe ich noch abschließen zu können. Für die bereits ausgearbeiteten Kapitel zur Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerungspolitik des Rats sah ich zunächst keine Möglichkeit einer Publikation7 . 5 6 7

K LAUS F ISCHER: Hartmann Schedel in Nördlingen. Das pharmazeutisch-soziale Profil eines spätmittelalterlichen Stadtarztes (= Würzburger medizinhistorische Forschungen 58), Würzburg 1996. G ERRIT JASPER S CHENK: Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich (= Regesta Imperii – Beihefte: Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 21), Köln 2003. Folgende Forschungsergebnisse zu Nördlingen sind publiziert: I NGRID BÁTORI: Herren, Meister, Habenichtse. Die Bürgerschaft der Reichsstadt Nördlingen um 1500. In: Rieser Kulturtage 1986 VI/1, Nördlingen 1987, 252–269; D IES .: Daily Life and Culture of an Urban Elite: The Imperial City of Nördlingen in the 15th and 16th century. In: History of European Ideas 11 (1989), 252–269; D IES .: Frauen in Handel und Handwerk in der Reichsstadt Nördlingen im 15. und 16. Jahrhundert. In: BARBARA VOGEL , U LRIKE W ECKEL (Hg.): Frauen in der Ständegesellschaft (= Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte 4), Hamburg 1991, 27–47 und D IES .: Ratsräson und Familiensinn. Zur Führungsschicht der

Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung

17

Mark Häberlein hat mich überzeugt, dass sie immer noch aktuell sind und bot mir an, sie hier vorzulegen. Dafür danke ich ihm sehr herzlich. I.

Entwicklung der Einwohnerzahl 1400 bis 1580

Überblickt man die Publikationen der jüngeren Zeit, so kann man feststellen, dass das Interesse an Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerungspolitik der Städte keineswegs geringer geworden ist. Für das Spätmittelalter werden dabei vorwiegend Bürgerbücher8 ausgewertet, mit dem Fokus auf Migration. Seltener liegen serielle Quellen wie Steuerlisten zugrunde. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, wie zeit- und damit auch finanziell, aufwendig der Umgang mit Massendaten ist. Außerdem stehen vollständige Reihen für das Spätmittelalter nicht allzu häufig zur Verfügung. Andererseits bieten sie sehr viel genauere Grundlagen zur Erforschung der Bevölkerungs- und Sozialgeschichte9 . Auf die Problematik der Bürgerbücher als Quelle zur Bevölkerungsgeschichte weist nicht zuletzt Rainer C. Schwinges10 hin, der in dem Projekt „Neubürger im späten Mittelalter“ eine systematische Analyse der Neubürgeraufnahmen im gesamten spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich anstrebt. Auch Claudia Kalesse, die das Augsburger Bürgerbuch der Jahre 1288–1497 einer eingehenden Untersuchung unterzieht, benennt die Schwierigkeiten bei der Auswertung dieser Quellengattung11 . Wie irreführend die Beschränkung auf Eintragungen im Bürgerbuch werden kann, zeigt die Untersuchung von Barbara Studer, die anhand von lediglich vier Einträgen von Frauen im Nördlinger Bürgerbuch in den Stichjahren zwischen 1420 und 1474 auf einen Anteil von nur einem Prozent Frauen im Bürgerrecht dieser Stadt schließt12 . Nach Ausweis der Nördlinger Steuerbücher standen jedoch in diesem Zeitraum zwischen 19,4 % und 20,8 % der Haushalte Frauen

8

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Reichsstadt Nördlingen im 15. und 16. Jahrhundert. In: C HRISTOPHER O CKER , M ICHAEL P RINTY, P ETER S TARENKO , P ETER WALLACE (Hg.): Politics and Reformations: Communities, Polities, Nations, and Empires. Essays in Honor of Thomas A. Brady Jr. (= Studies in Medieval and Reformation Traditions 128), Leiden/Boston 2007, 85–119. Zur Bedeutung der Bürgerbücher vor allem: R AINER C. S CHWINGES: Bürgermigration im Alten Reich des 14. bis 16. Jahrhunderts. In: H ANS -J ÖRG G ILOMEN , A NNE -L ISE H EAD -KÖNIG , A NNE R ADEFF (Hg.): Migration in die Städte. Ausschluss – Assimilierung – Integration – Multikulturalität, Zürich 2000, 17–37 und D ERS .: Neubürger und Bürgerbücher im Reich des späten Mittelalters: Eine Einführung über die Quellen. In: D ERS . (Hg.): Neubürger im Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250–1550) (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 30), Berlin 2002, 17–50. Die weiterhin aktuelle Bedeutung strukturhistorischer Ansätze in der stadtgeschichtlichen Forschung betonen zuletzt auch M ARK H ÄBERLEIN und ROBERT Z INK (Hg.) in der Einleitung zu: Soziale Strukturen und wirtschaftliche Konjunkturen im frühneuzeitlichen Bamberg (= Bamberger Historische Studien 10/ Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 17), Bamberg 2013, 7–8 mit besonderem Hinweis auf M ATTHIAS M EINHARDT, A NDREAS R ANFT (Hg.): Die Sozialstruktur und Sozialtopographie vorindustrieller Städte. (= Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 1), Berlin 2005, 9-12. S CHWINGES: Bürgermigration (wie Anm. 8), 21 ff. und D ERS .: Neubürger (wie Anm. 8), 46 ff. und 371 f. C LAUDIA K ALESSE: Bürger in Augsburg. Studien über Bürgerrecht, Neubürger und Bürgen anhand des Augsburger Bürgerbuchs I (1288–1497) (= Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 37) Augsburg 2001, vor allem 249 f. BARBARA S TUDER: Frauen im Bürgerrecht. Überlegungen zur rechtlichen und sozialen Stellung der Frau in spätmittelalterlichen Städten. In: S CHWINGES (Hg.): Neubürger (wie Anm. 8), 170, Tabelle 1 und 189, Abbildung 4.

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Steuerzahler

Haushalte

2 000

Nichtzahler

1 000

0 1404 1411 1423 1435 1439 1441 1447 1459 1471 1480 1495 1507 1519 1525 1531 1543 1555 1567

Abbildung 1: Anzahl der Steuerpflichtigen und der Steuerzahler (1404–1567)

vor, mit entsprechenden bürgerlichen Rechten und Pflichten (Abbildung 2 auf Seite 19)13 . Bis zu 20 % weiblicher Haushaltsvorstände finden sich auch in anderen Städten14 . Im Steuerbuch von 1404, dem ältesten, das für Nördlingen überliefert ist15 , sind 1 294 Vermögen als steuerpflichtig aufgeführt (Tabelle 1 auf Seite 16 und Abbildung 1). 34 Namen wurden wieder gestrichen, 81 Steuerpflichtige haben nicht gezahlt; vielleicht waren sie bereits gestorben oder weggezogen, waren verreist oder einfach nicht auffindbar. Es bleiben 1 213 Steuerpflichtige, die in diesem Jahr die Vermögenssteuer bezahlt haben. Unter ihnen sind auch 16 Häuser auswärtiger Klöster (Ellwangen, Kaisheim, Heilsbronn), Geistliche und Ausbürger sowie zwei vor der Stadt liegende Mühlen. 1404 gab es also rund 1 200 Bürgerfamilien in der Stadt. Rechnet man pro bürgerliche Familie vier bis fünf Personen, dazu das Gesinde, das nicht zur Familie zählte, aber mit der Familie lebte – im Jahre 1459 waren das immerhin 765 Personen –, berücksichtigt außerdem, dass ein Teil der oben erwähnten Nicht-Zahlenden vielleicht weiterhin in der Stadt blieb und ihnen die Steuerschuld nur gestundet wurde, und schließt auch die Stadtbewohner ein, die in den

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G ERD W UNDER: Die Bürger von Hall. Sozialgeschichte einer Reichsstadt 1216–1802 (= Forschungen aus Württembergisch Franken 16), Sigmaringen 1980, 285 f. zählt für Schwäbisch Hall 85 „zugezogene“ Frauen zwischen 1539 und 1767. Ob die Angaben auf ein Bürgerbuch zurückgehen, ist nicht genannt. P ETER G EFFCKEN: Soziale Schichtung in Augsburg 1396 bis 1521. Beitrag zu einer Strukturanalyse Augsburgs im Spätmittelalter. Maschinenschrift München 1995 (Diss. phil. München 1983), 98 (Tab. 5) nennt 18,2 % bis 20,9 % Frauen als bürgerliche Steuerzahler für die Zeit bis 1455. Genau 20 % waren es 1610; C LAUS -P ETER C LASEN: Arm und Reich in Augsburg vor dem Dreißigjährigen Krieg. In: G UNTHER G OTTLIEB u. a. (Hg.): Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, 312. In Bamberg waren es 19 % im Jahr 1588; J OHANNES S TAUDENMAIER: Das Anlag- und Steuer-Puch der neuen bewilligten zwölffjarigen Steuer von 1588 als Quelle zu Sozialstruktur der Stadt Bamberg. In: H ÄBERLEIN , Z INK: Soziale Strukturen (wie Anm. 9), 53–92, hier 70, in Kitzingen zwischen 1515 und 1590 im Mittel 13,7 %; E RDMANN W EYRAUCH: Zur sozialen und wirtschaftlichen Situation Kitzingens im 16. Jahrhundert. In: BÁTORI , W EYRAUCH: Kitzingen (wie Anm. 1), 40; in Höxter wurden um 1500 zwischen 8 % und 13 % Prozent der Haushalte von einer Witwe geleitet; H EINRICH RÜTHING: Höxter um 1500. Analyse einer Stadtgesellschaft (= Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 22), Paderborn 1986, 360. J OHANNES M ÜLLER: Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten der Stadt Nördlingen, nebst einer Chronik, Nördlingen 1824, 51 kennt noch ein ältestes Steuerbuch von 1389 „nach den Straßen abgetheilt mit 1 085 Häuser und Städel“, das jetzt verschollen ist. Siehe auch ebenda, 29. Alle hier zitierten Steuerbücher befinden sich im Stadtarchiv Nördlingen.

Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung

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2 000 Männer als Haushaltsvorstände

Haushalte

1 500

Frauen als Haushaltsvorstände

1 000 500 0 1404 1411 1423 1435 1439 1441 1447 1459 1471 1480 1495 1507 1519 1525 1531 1543 1555 1567

Abbildung 2: Steuerpflichtige nach männlichen und weiblichen Haushaltsvorständen (1404–1567)

Quellen schwer zu fassen sind, weil sie keine oder noch keine Bürger waren16 oder als wandernde Handwerksgesellen17 ohne eigenen Haushalt längere Zeit in der Stadt lebten, so ergibt sich für den Anfang des 15. Jahrhunderts in Nördlingen eine Einwohnerschaft von rund 6 000 Personen. Am Ende des 15. Jahrhunderts, im Steuerbuch von 1495, sind es 1 298 Steuerzahler, also 85 oder 7 % Bürgerhaushalte mehr. Zweifellos gehört Nördlingen mit dieser Einwohnerzahl, Hektor Ammann folgend18 , zu den größeren Mittelstädten und nicht zu den Kleinstädten, wie dies der Fall wäre, wenn man die Kategorisierung nach Heinrich Reincke19 vorziehen würde.

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Manche Neubürger lebten bereits einige Zeit in der Stadt, bevor sie den Bürgereid schworen. Fremde durften nur kurz in der Stadt bleiben und wurden dann meldepflichtig. Ca. 1466 erkannte der Rat [. . . ] das man den Wirten [. . . ] sagen sol als In auch gesagt ist, das sy kain Gast lenger denn vber drj tag halten. Wer länger als drei Tage blieb, musste dem Bürgermeister namentlich genannt werden. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Ratsbüchlein 1466–1474, Schmalfolio, fol. 1 v. F RIEDRICHS: Urban Society (wie Anm. 2), 36 f., Anm. 5 schätzt ihre Zahl Ende des 16. Jahrhunderts auf etwa hundert. Für das Jahr 1586 nennt Friedrichs (nach den Spitalrechnungen des Jahres) außerdem 133 arme Pfründner im Spital. Wenn Spitalinsassen Bürger blieben, waren sie weiter steuerpflichtig. Die Witwe des Schuhmachers Hans Fuchs z. B. zahlt 1567 noch 5 Gulden Steuer von dem, was sie außerhalb der Spitalpfründe besitzt, und 1543 ist der Leinweber Jeorg Seglauer zwar im Spital, seine Ehefrau zahlt aber mindestens die beiden folgenden Jahre noch ein Pfund Steuer. Im Steuerbuch 1567–69 sind 41 Personen als Spitalinsassen gekennzeichnet, 1555–57 sind es 15, darunter ein Ehepaar, 1543-45 nur elf. H EKTOR A MMANN: Wie groß war die mittelalterliche Stadt? In: Studium Generale 9 (1956), 503–506, 504. Neudruck in: C ARL H AASE (Hg.): Die Stadt des Mittelalters I, 3. Aufl. Darmstadt 1978, 415–422, 417. H EINRICH R EINCKE: Bevölkerungsprobleme der Hansestädte. In: Hansische Geschichtsblätter 70 (1951), 1–33. Neudruck in: C ARL H AASE (Hg.): Die Stadt des Mittelalters III, 2. Aufl. Darmstadt 1976, 256–302, 259.

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Ingrid Bátori

I.1.

Die Einwohner des Jahres 1459

1459 wurde in Nördlingen eine Volkszählung20 durchgeführt. Neben dem Haushaltsvorstand, der namentlich genannt ist, wurde die Anzahl der Familienmitglieder (secum, selbander, selbdritt usw.) festgehalten, so dass man die Durchschnittsgröße der bürgerlichen Familie in diesem Jahr errechnen kann. Das arithmetische Mittel liegt bei 4,2 Personen. Der mittlere Wert (Median) ergibt drei Personen, die häufigste Anzahl (Modus) waren zwei Personen pro Haushalt. Insgesamt umfassten 707 Haushalte, das entspricht mehr als der Hälfte, nämlich 57 %, nicht mehr als eine bis drei Personen. Unklar ist allerdings, ab welchem Alter Kinder mitgerechnet wurden, wahrscheinlich erst, wenn sie „zu ihren Tagen“ gekommen waren. Zusätzlich notiert wurde die Kopfzahl des Gesindes, bzw. der nicht zur Familie gehörenden Mitbewohner. 389 von ihnen wurden einfach als ehalten registriert, fast ebenso viele, nämlich 376 Personen, davon 168 weibliche und 208 männliche, genauer spezifiziert als knechte (191), mägde (150), schreiber (2), spinnerinen (8), knaben (10), medlach (4), kemer (1), kemerinen (3), lehrknechte (4), kellerinen (2) oder einfach frau (1). Zu der Zahl von rund 5 500 Personen, die in diesem Jahr in den steuerpflichtigen Bürgerfamilien lebten, müssen also noch einmal 765 Personen (14 %) dazu gerechnet werden. Die Gesamtbevölkerung liegt demnach bei rund 6 300 Personen. 380 bürgerliche Haushalte und (30,5 %) hatten Gesinde. 122 oder ein knappes Drittel davon, beschäftigten nur einen Knecht oder eine Magd, die anderen zwei oder mehr. Zwei Haushalte stehen an der Spitze mit sieben ehalten: Martin Forner, ein Ratsherr und reicher Tuchhändler, dessen Haus gegenüber dem Rathaus als „Hohes Haus“ noch heute zum Stadtbild gehört, und der Zindelbader. Die Zahl des Gesindes allein lässt also nicht auf die Vermögensverhältnisse des Haushaltsvorstands schließen, wohl aber auf die Notwendigkeiten des Gewerbes. Interessant ist auch, dass 17,9 % aller Haushalte von Alleinstehenden geführt wurden, die zum Teil allerdings Gesinde hatten. Von diesen Alleinstehenden waren 7,5 % männlich und 10,4 % weiblich. Da 1459 21 % der Steuerpflichtigen Frauen waren, hatten also fast genau die Hälfte der selbst steuernden Frauen eine von ihnen abhängige Familie. Von den Alleinstehenden hatten sieben eine Magd, die reiche Witwe Clara Mangolt sogar zwei. Damit kann wohl ein „Überschuss“ an unversorgten Frauen, die Karl Bücher21 seinerzeit glaubte in den Städten feststellen zu können, endgültig ausgeschlossen werden.

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Manuskript im Nördlinger Stadtarchiv. Erwähnt bei E BERHARD I SENMANN: Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, 2. Aufl. Wien/Köln/Weimar 2014, 58. Er hat die Angaben von F RIEDRICH D ORNER: Die Steuern Nördlingens zu Ausgang des Mittelalters, Diss. masch. München 1905, 96–100 übernommen. Eine namentliche Nennung aller Personen, wie Isenmann annimmt, fand allerdings nicht statt. K ARL B ÜCHER: Die Frauenfrage im Mittelalter, 2. verbesserte Aufl. Tübingen 1910.

Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung

I.2.

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Bedingungen der Bevölkerungsentwicklung 1404 bis 1580

Im untersuchten Zeitraum zwischen 1404 bis 1580 zeigt die Einwohnerzahl Nördlingens, soweit sie aus den Steuerbüchern ersichtlich ist, eine recht uneinheitliche Entwicklung (Abbildung 1 auf Seite 18). Im 15. Jahrhundert kam es zu erheblichen Schwankungen: Bis Mitte der 1430er Jahre nahm die Zahl der Steuerzahler kontinuierlich zu. Diesen Zuwachs der Bevölkerung zu Beginn des Jahrhunderts hatte wohl auch Pfarrer Jörg Rappolt vor Augen, der 1421 schrieb, es sei des Volygs zu Nerdling um des Drittheil mer den vor Zeyten vnd je laenger je mer22 . Auch der Neubau der St. Georgskirche wurde damit begründet, dass der alte Bau für das zusammenströmende Volk zu klein sei23 . Der Vorgängerbau dürfte allerdings zu einer Zeit entstanden sein, als die Einwohnerschaft von Nördlingen bestenfalls den inneren Mauerring ausfüllte24 . Vor allem zu Zeiten der Nördlinger Pfingstmesse wurde deshalb die alte Kirche sicher als zu klein empfunden. Spätestens 1435 erfolgte ein starker Bevölkerungsverlust, denn in diesem Jahr stieg die Zahl der Bürger, die zwar in den Steuerbüchern aufgeführt sind, aber nicht zahlten, von bisher fünf bis sechs auf über elf Prozent. Folgerichtig wurden im Steuerbuch von 1439 zehn Prozent weniger Steuerpflichtige verzeichnet, von ihnen haben aber elf Prozent wiederum nicht gezahlt. In diese Zeitspanne fällt auch das Hungerjahr 143725 . 1441 steigt die Zahl der Steuerpflichtigen wieder an. Waren es 1439 nur noch 1 222 gewesen, sind es jetzt 1 317, aber die Anzahl derer, die nicht zahlen, liegt unverändert hoch bei elf Prozent. Erst im Stichjahr 1447 geht ihre Zahl auf fünf Prozent zurück. Auch die Zeit des Städtekriegs seit 144826 bleibt nicht ohne Auswirkung. 1459 leben mit 1 306 steuerpflichtigen Bürgern zwar vier Prozent mehr in der Stadt als 1447, aber die Zahl der Nichtzahler ist erneut auf über zehn Prozent angewachsen. Erst um 1480 übersteigt die Einwohnerzahl wieder die bereits um 1430 erreichten Werte. Danach kommt es noch einmal zu einem Rückgang, vielleicht verursacht durch Teuerung und Hungersnot, die Müller zum Jahre 1482 erwähnt, und die Seuche, die 1494 grassierte27 . Diese Seuche scheint vor allem Kinder betroffen zu haben, denn der Rat ordnete an, für sie bei St. Emmeram, also außerhalb der Stadt, ein Massengrab anzulegen: Die Kinder zu St. Haimprand in ain grub legen. Auch die kain recht nach St. Haimprand haben, bis auf widerruf. Der Rat versuchte auch der Ansteckungsgefahr entgegenzuwirken: Die Krancken an diesem Gebrechen sollen das Volck zu Kirchen. Straß und Bad meyden. Und welche genesen ain monat darnach28 . Im 22 23 24

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Zitiert bei M ÜLLER: Merkwürdigkeiten (wie Anm. 15), 53. WALTHER E. VOCK , G USTAV W ULZ (Bearb.): Die Urkunden der Stadt Nördlingen 1400–1435, Augsburg 1965, Nr. 1801, 1432 September 1, Giengen. Ungarische Forscher rechnen bei einer Einwohnerzahl von 300–360 Personen mit einer ca. 65 qm großen Kirche: E RY K INGA -K RALOVÁNSKY, JÁNOS A LÁN N EMESKÉRI zitiert bei E RIK F ÜGEDI: Kolduló barátok, polgárok, nemesek (Bettelmönche, Bürger, Adelige), Budapest 1981, 392 und 522. „Das schlimmste aller Hungerjahre des 15. Jahrhunderts“ nennt es W ILHELM A BEL: Hungersnöte und Absatzkrisen im Spätmittelalter. In: OTTO B RUNNER , H ERMANN K ELLENBENZ , E RICH M ASCHKE , W OLFGANG Z ORN (Hg.): Festschrift Hermann Aubin zum 80. Geburtstag, Bd. I, Wiesbaden 1965, 3–18, hier 6 f. D ORNER: Steuern (wie Anm. 20), 100. M ÜLLER: Merkwürdigkeiten (wie Anm. 15), 57 f. Als Ursachen nennt er Hagel, Regengüsse, Hitze und Ungeziefer. Noch 1501 nehmen die Rechner 50 Gulden von etlichen Pflegen ein, die sie als Almosen für Arme während der Teuerung vorgestreckt hatten. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1501, fol. 37 v. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Ratsprotokoll 1482–1499, fol. 69, 19. September 1494.

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Gerichtsprozess, den die Stadt 1494 gegen Kraft Vetter führte, drang sie auf Eile, weil sie den Tod von Zeugen fürchtete29 . 1495 gibt es jedenfalls nur 1 392 steuerpflichtige und 1 298 zahlende Bürgerhaushalte, das sind jeweils sieben Prozent mehr als im ersten Stichjahr 1404. Bis 1507 geht die Zahl der Steuerpflichtigen wie der Steuerzahler noch weiter zurück. Die Angaben zu den Einwohnerzahlen von Nördlingen bei Wulz und im Bayerischen Städtebuch (1406: 5 200, 1459: 5 500, 1491: 6 150)30 suggerieren deshalb eine Aufwärtsentwicklung, die es in Wirklichkeit gar nicht gegeben hat. Auch im 16. Jahrhundert blieb Nördlingen von Teuerung, Hungersnot und Pest nicht verschont. Im Herbst 1517 ordnete der Rat wegen der gegenwärtigen großen Teuerung eine Armenspeisung an. Das Spital sollte täglich Hafermus und arbais (Erbsen) kochen und an arme Bürger und Bürgerinnen ausgeben31 . Die Teuerung der Jahre 1527 bis 1534 veranlasste den Rat zu zusätzlichen Getreidekäufen und verbilligter Abgabe an bedürftige Bürger32 . Diese Hungersnot zog sterbende läuff nach sich. Im November 1533 musste der Rat eine Schreibkraft als Vertretung des Stadtschreibers einstellen für die vielen Verlassenschaften, die es zu inventarisieren gab33 . Zwei Jahre später wird die Besoldung der Personen geregelt, die während der Pestilenz die Kranken versorgen. Sie erhalten für eine Woche 4 Pfund, für Wartgeld 15 Kreuzer die Woche. Wem sie dienen, der soll zwen ein tag geben 2 batzen. Wer arm ist, für den zahlen die Rechner34 . Sie haben auff die bestellten, so Inn dem sterbent zu den kranckhen gangen, der gewarttet vnd zum grab bestettigt haben insgesamt 42 Gulden 5 Pfund und 18 Denare aufwenden müssen35 . 1540 beriet der Rat über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für arme Knappen und arbeitslose Bürger; gedacht war an Steinbrucharbeiten, die Anlage von Äckern und das Graben von Brunnen sowie das Verlegen einer Wasserleitung in die Stadt36 . Offensichtlich war eine Beschäftigungskrise eingetreten. 1546 wurde erneut verbilligtes Getreide an Bedürftige verteilt37 . 1546/47 sind sterbends vnnd kriegsleufft halb, also durch den Schmalkaldischen Krieg bedingt38 , Nördlinger Bürger umgekommen oder weggezogen, 29

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PATRICK S TURM: Leben mit dem Tod in den Reichsstädten Esslingen, Nördlingen und Schwäbisch Hall. Epidemien und deren Auswirkungen vom frühen 15. bis zum frühen 16. Jahrhundert (= Esslinger Studien 23), Ostfildern 2014, 243. G USTAV W ULZ: Historische Einleitung. In: K ARL G ROBER , A DAM H ORN (Hg.): Die Kunstdenkmäler von Schwaben und Neuburg II, Stadt Nördlingen (= Die Kunstdenkmäler von Bayern), München 1940, 1–45, dazu hier: 29; ebenso in: E RICH K EYSER , H EINZ S TOOB (Hg.): Bayerisches Städtebuch Teil 2 (= Deutsches Städtebuch V/2), Stuttgart 1974, 494. Die Angaben dort sind von D ORNER: Steuern (wie Anm. 20), 100 übernommen, aber so gezielt ausgewählt, dass die niedrigen Werte im zweiten und dritten Drittel des Jahrhunderts wegfallen. An 400 Menschen wurde Essen (Mus) ausgegeben. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Ratsprotokoll (Manuale recessivum) 1515–1521 fol. 82, 14. Oktober 1517 und fol. 92, 2. Dezember 1517. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii 1533–1540, fol. 15, 27. April 1534 und fol. 17, 20. Mai 1534. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii 1533–1540, fol. 6, 17. November 1533. Angenommen wurde ein Mann namens Schopperlin. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii 1533–1540, fol. 38 v, 20. September 1535. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1535, fol. 51. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii 1533–1540, fol. 21, 31. Dezember 1540. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii (1540–1548), fol. 146 v, 26. April 1546. Zur Politik des Nördlinger Rats in der Schmalkaldischen Sache siehe H ANS -C HRISTOPH RUBLACK: Eine bürgerliche Reformation: Nördlingen (= Quellen und Forschungen zu Reformationsgeschichte 51), Gütersloh 1982, 146 ff.

Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung

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denn zwischen dem Georgstag (26. April) der Jahre 1546 und 1547 ging die Zahl der Bürgerhaushalte von 1 218 auf 1 068, also um 150 zurück39 . An der gleichen Stelle im Ratsprotokoll wird vermerkt, dass nach Anzeige der Doctores und Priester [. . . ] diß Jars biß uff dato alhie biß inn 3 000 Menschen gestorben [sind], darunder 1 000 fremder kriegsleut vnnd 2 000 hieiger Menschen abgangen. Diese Schätzung hat Wulz unkommentiert übernommen, auch Sturm hält sie für realistisch40 . Sie dürfte indessen wesentlich zu hoch gegriffen sein. Zu berücksichtigen ist auch, dass Familien, die es sich leisten konnten, vor drohender Seuchengefahr aus ihrer Heimatstadt flohen. Nördlingen wurde, wie Sturm41 festgestellt hat, besonders häufig als Zufluchtsort gewählt. Vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert suchten in mindestens zehn Sterbensläuften Flüchtlinge Schutz in Nördlingen, darunter auch die Familie Tucher aus Nürnberg und andere Angehörige des dortigen Patriziats. Bei ihrer Abreise zum Jahreswechsel 1563 bedankten sich die Nürnberger Flüchtlinge mit einem prachtvollen Trinkstubenschild42 . Auf die längerfristige Bevölkerungsentwicklung haben diese Krisen und Katastrophen des 16. Jahrhunderts allerdings kaum Auswirkung gehabt. Die Einwohnerzahl stieg zwischen 1507 und 1567 kontinuierlich, besonders stark zwischen den Stichjahren 1531 und 1543, trotz der schweren Hungersnot und Epidemie zu Beginn der 1530er Jahre. Erst die Pest, die 1576 wöchentlich 40 bis 50 Tote forderte43 , brachte den Bevölkerungszuwachs zum Stillstand. 1579 gab es 38 zahlende Haushalte weniger als zwölf Jahre zuvor44 . Bis Ende des ersten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts stieg die Einwohnerzahl noch einmal an, wenn auch mit verminderten Zuwachsraten und zwischenzeitlichen Rückschlägen45 . Dann setzt eine rückläufige Entwicklung ein, bis die Stadt durch die Auswirkungen der Belagerung und der Niederlage der schwedischen Truppen in der Schlacht von 1634 gegenüber dem Stand von 1609 die Hälfte der Einwohnerschaft verliert. 1640 gibt es nur noch 839 Steuerzahler in Nördlingen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts hat die Stadt die Einwohnerzahl des frühen 17. Jahrhunderts wieder erreicht46 . Für die Zeit zwischen 1400 und 1580 ist somit festzuhalten: Es gab einen minimalen Bevölkerungszuwachs im 15. Jahrhundert, dagegen kräftigen Zuwachs im 16. Jahrhundert

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S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii (1540–1548), fol. 165 v. W ULZ: Kunstdenkmäler (wie Anm. 30), 6; S TURM: Leben mit dem Tod (wie Anm. 29), 53 f. S TURM: Leben mit dem Tod (wie Anm. 29), 363–367. Ebenda: Abbildung 7, vor 289. M ÜLLER: Merkwürdigkeiten (wie Anm. 15), 68. Ab dem Jahr 1579 ist die Anzahl der Steuerzahler der Arbeit von F RIEDRICHS: Urban Society (wie Anm. 2), Appendix III, Citizens of Nördlingen 1579–1724, 321 entnommen. Die Gesamtzahl der Haushalte bei Friedrichs versteht sich ohne die Vermögen der Pflegschaften und ohne Paktbürger. Dies ist hier im Vergleich der Stichjahre 1567 und 1579 berücksichtigt (1567: 323 Pflegschaften, 1579: 143 Paktbürger); ebenda, 36. Ebenda, 321. Die einheimischen Taufen sind in Nördlingen schon seit Beginn der 1580er Jahre rückläufig, mit einer jährlichen Abnahme um 7,9 Promille in den Jahren 1581 bis 1585 und 1616 bis 1620. Auch die Zahl der Eheschließungen nimmt im gleichen Zeitrum ab, wenn auch in geringerem Maß, nämlich um 2,8 Promille. C HRISTOPHER R. F RIEDRICHS: Bevölkerungsstatistik und Bevölkerungsentwicklung in der Reichsstadt Nördlingen 1579–1720. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für Nördlingen und Umgebung 26 (1980), 119–142, hier: 126 f. F RIEDRICHS: Urban Society (wie Anm. 2), 321 und K EYSER , S TOOB: Bayerisches Städtebuch Teil 2 (wie Anm. 30), 495.

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bis Mitte der 70er Jahre, mit besonders starkem Wachstum in den dreißiger Jahren, trotz Verlusten durch Hunger und Seuchen. I.3.

Nördlingen im Vergleich mit anderen Städten

Wie stellen sich diese Zahlen für Nördlingen nun im Vergleich mit anderen Städten dar? Abel47 hat anhand von Bevölkerungszahlen von 29 Städten für die Zeit zwischen 1370 und 1470 eine Bevölkerungsabnahme von insgesamt 15 bis 20 Prozent festgestellt. Nördlingen scheint also im 15. Jahrhundert eine vergleichsweise positive Bevölkerungsentwicklung genommen zu haben. Bei näherem Hinsehen relativieren sich aber manche Angaben. So macht Abel für Augsburg einen Bevölkerungsrückgang von 5 176 Steuerzahlern im Jahre 1364 auf 4 485 im Jahre 1475 geltend48 . Das ergibt eine durchschnittliche jährliche Abnahme um 1,3 Promille. Legt man jedoch die Vergleichsjahre 1405 und 1504 zugrunde (3 358 bzw. 4 772 Steuerzahler)49 , so erhält man keine Abnahme, sondern eine Zuwachsrate von 3,6 Promille; zwischen 1405 und 1480 (5 002 Steuerzahler) sind es sogar 5,3 Promille. Trendberechnungen mit nur zwei Eckdaten sind also höchst problematisch. Verzerrte Ergebnisse ergeben manchmal auch Vergleichszahlen, die zeitlich zu nahe beieinander liegen und die Langzeitentwicklung außer Betracht lassen. Bei Abel findet sich für Rostock ein Zuwachs von 11 000 auf 14 000 Seelen zwischen 1378 und 141050 . Das entspricht einer jährlichen Zuwachsrate von 7,6 Promille. Legt man jedoch die Anzahl der Steuerzahler zugrunde, die Fritze51 für die Rostocker Schoßregister von 1404, 1410, 1421 und 1430 nennt (2 232, 2 570, 2 655 und 2 313), so ergeben sich jährliche Zuwachsraten von nur 1,4 Promille (1404–1430) und 3 Promille (1378–1430), zwischen 1404 und 1421 sind es freilich 10,3 Promille. Nicht recht zusammen passen auch Angaben verschiedener Provenienz für die Schweiz. Abel52 bringt Daten für Zürich für die Jahre 1357 (12 375 Bewohner53 ) und 1467 (4 713 Bewohner) sowie für Basel für die Jahre 1429 (7 800 bis 10 400 Einwohner) und 1471/75 (6 750 bis 9 000 Einwohner). Die entsprechenden – negativen – Zuwachsraten wären somit minus 8,7 Promille (Zürich) und minus 47

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W ILHELM A BEL: Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 1), Stuttgart 1. Aufl. 1943, 25–30, 3. Aufl. 1976, 45-49. Die 3. Auflage enthält auf Seite 48 nur noch eine Zusammenfassung ohne Einzelnachweise für die 16 von ihm herangezogenen Städte zwischen 2 000 und 10 000 Einwohnern. W ILHELM A BEL: Wüstungen (wie Anm. 47), 1. Aufl. 26, 3. Aufl. 48, nach G USTAV S TRAKOSCH G RASSMANN: Die Volkszahl der deutschen Städte in Vergangenheit und Gegenwart, (1907), 3. G EFFCKEN: Soziale Schichtung in Augsburg (wie Anm. 14), 118 (Abbildung 3/2: Entwicklung der Gesamtsteuerkonten). Geffcken hat die Steuerzahler (Sach- und Personenkonten) für 22 einzelne Jahre zwischen 1396 und 1516 berechnet. Der niedrigste Wert ergibt sich 1408 (3 246 Personenkonten), der höchste 1516 (5 565 Personenkonten). 1492: 5 101 Personenkonten. A BEL: Wüstungen (wie Anm. 47), 3. Aufl. 48, nach H ERMANN PAASCHE: Die städtische Bevölkerung früherer Jahrhunderte. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Neue Folge 5 (1882), 303–380. KONRAD F RITZE: Die Bevölkerungsstruktur Rostocks, Stralsunds und Wismars am Anfang des 15. Jahrhunderts. In: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch 4 (1964), 70. A BEL: Wüstungen (wie Anm. 47), nur 1. Aufl. 26 f. nach K ARL T HEODOR V. I NAMA S TERNEGG: Deutsche Wirtschaftsgeschichte III,1, Leipzig 1899–1901, erster Teilband 1899, 425. B RUNO KOCH: Neubürger in Zürich. Migration und Integration im Spätmittelalter (= Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 11), Weimar 2002, 108, Diagramm 4, zeigt, unter Berufung auf W ERNER S CHNYDER: Die Bevölkerung der Stadt und Landschaft Zürich vom 14.–17. Jahrhundert (= Sammlung ‚Schweizer Studien zur Geschichtswissenschaft‘), Zürich 1925 für dieses Jahr nur rund 5 800 Einwohner an.

Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung

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3,3 Promille (Basel). Bickel54 spricht jedoch für die Schweiz von einer dauernden Überbevölkerung und rechnet mit einer jährlichen Zunahme von 2,7 bis 2,9 Promille zwischen 1400 und 1500 sowie 1,6 bis 2,2 Promille für das 16. Jahrhundert. Für Zürich erklärt sich der starke Bevölkerungsrückgang durch den sogenannten „Alten Zürichkrieg“ im Jahre 144055 . Auch für Basel liegt deshalb die Vermutung nahe, dass unglücklicherweise Jahre extremer Bevölkerungszahlen herangezogen wurden, die untauglich zur Berechnung von Langzeitentwicklungen sind. Die Vergleiche zeigen, dass die Schätzung Abels, die Bevölkerung der Städte habe zwischen 1370 und 1470 um 15 bis 20 Prozent abgenommen, auf recht schwachen Füßen steht. Nichtsdestotrotz ist seine Aussage in die Handbuchliteratur eingegangen56 . Auch Sprandel57 spricht noch pauschal von „zwei großen Wellen mittelalterlicher Bevölkerungsentwicklung [. . . ] der Expansion des Hochmittelalters und der Schrumpfung des Spätmittelalters“, und zwar unter Berufung auf Herlihy58 , der jedoch hauptsächlich auf die starken Bevölkerungsverluste durch die Pestepidemie von 1347/48 in einigen Regionen der Normandie und Oberitaliens hinweist, die erst ab 1460/70 wieder in Wachstum umschlagen. Inzwischen ist man mit Rückschlüssen aus spärlichen Daten auf Langzeitentwicklungen vorsichtiger geworden. Einige Autoren sprechen von Stagnation der Bevölkerung im 15. Jahrhundert59 und kommen damit der Realität wohl näher. Auch die Zahlen, die Koch60 aus den Steuerbüchern der Stadt Zürich für die Bevölkerungsentwicklung zwischen 1350 und 1550 gewinnt, zeigen eine verhaltene Aufwärtsentwicklung, unterbrochen von einem katastrophalen Einbruch durch den Alten Zürichkrieg im Jahre 1440, also einem eher lokalen Ereignis. Pfister61 geht für die Zeitspanne zwischen 1500 und 1618 in 54 55 56

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W ILHELM B ICKEL: Bevölkerungsgeschichte und Bevölkerungspolitik der Schweiz seit dem Ausgang des Mittelalters, Zürich 1947, 49. KOCH: Neubürger (wie Anm. 53), 108. W ILHELM A BEL: Landwirtschaft 1350–1500. In: H ERMANN AUBIN , W OLFGANG Z ORN (Hg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1, Stuttgart 1971, 300–334, hier 305. Auf Abel basierend: H ERMANN K ELLENBENZ: Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1, München 1977, 148. Auch die Darstellung der Bevölkerungsentwicklung bei E RNST H INRICHS: Einführung in die Geschichte der Frühen Neuzeit, München 1980, 16, Abbildung 1, zeigt einen starken Rückgang der Bevölkerung in Deutschland bis ca. 1470 an. ROLF S PRANDEL: Grundlinien einer mittelalterlichen Bevölkerungsentwicklung. In: B ERND H ERRMANN , ROLF S PRANDEL (Hg.): Determinanten der Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, Weinheim 1987, 25–35, hier 25. DAVID J. H ERLIHY: Outline of Population Developments in the Middle Ages. In: H ERMMANN , S PRAN DEL : Determinanten (wie Anm. 57), 1–23, hier 13. J.C. RUSSELL: Die Bevölkerung Europas 500–1500: In: C ARLO M. C IPOLLA , K NUT B ORCHARDT (Hg.): Bevölkerungsgeschichte Europas. Mittelalter bis Neuzeit, München 1971, 13–44, hier 26 schreibt: „Zwischen 1400 und 1460 veränderte sich vermutlich nicht viel.“ F RIEDRICH -W ILHELM H ENNING: Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1. Das vorindustrielle Deutschland 800 bis 1800, Paderborn 1974, 126: „Von 1386 bis 1470 stagnierte die Bevölkerungszahl“. Von Stagnation oder Konstanz der Bevölkerungszahl sprechen auch: I LJA M IECK: Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit, 3. Aufl. Stuttgart 1981, 13; E BERHARD W EIS: Gesellschaftsstrukturen und Gesellschaftsentwicklung in der frühen Neuzeit. In: K ARL B OSL , E BERHARD W EIS (Hg.): Die Gesellschaft in Deutschland. Band 1 Von der fränkischen Zeit bis 1848, München 1976, 131–287, hier 143; E RNST P ITZ: Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands im Mittelalter, Wiesbaden 1979, 139. KOCH: Neubürger (wie Anm. 53), 108. C HRISTIAN P FISTER: Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1500–1800 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 28), München 2007, 10.

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Ingrid Bátori

Deutschland von einer kontinuierlichen Bevölkerungszunahme aus, mit Wachstumsraten zwischen neun und 17,1 Promille jährlich, gefolgt von einem harten Rückgang durch den Dreißigjährigen Krieg. Mit Recht spricht er von einem „Puzzle mit fehlenden Teilen“62 . Isenmann verzichtet ganz auf Aussagen zur Bevölkerungsentwicklung und beschränkt sich darauf, aus den Daten einzelner Jahre grundsätzliche Größenangaben für bestimmte Städte zu ermitteln63 . Mit der Auswertung der Nördlinger Steuerbücher über 180 Jahre, wie sie hier möglich war, kann verbunden mit der Einwohnerzählung von 1459 zwar eine hohe Genauigkeit erreicht werden; daraus allgemeine Schlüsse zu ziehen ist allerdings gewagt. Es sei aber wenigstens versucht, im regionalen Umfeld von Nördlingen Vergleiche heranzuziehen. Daten für Dinkelsbühl zeigen, dass dort ebenso wie in Nördlingen auf das Hungerjahr 1437 ein Bevölkerungsrückgang folgte, der anschließend wieder ausgeglichen wurde64 . Die Bischofsstadt Würzburg und die Reichsstädte Schwäbisch Hall und Ulm konnten zwischen Anfang des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts ihre Bevölkerungszahl eben halten oder einen minimalen Zuwachs verzeichnen65 . Für Schwäbisch Hall ist ebenso wie für Nördlingen ein Bevölkerungsrückgang um die Mitte des 15. Jahrhunderts nachweisbar: Gegenüber 1396 weist dort die Bevölkerung mit 1 460 Personen einen durchschnittlichen Rückgang pro Jahr von 1,6 Promille auf, der aber bis 1545 wieder ausgeglichen war66 . Auch Augsburg wurde offensichtlich vom Katastrophenjahr 1437 betroffen, der Bevölkerungsverlust war aber schneller als in den anderen Städten wieder aufgeholt. Für das gesamte 15. Jahrhundert ist dort ein jährlicher durchschnittlicher Zuwachs von 3,6 Promille zu verzeichnen (1404 bis 1504 von 3 358 auf 4 772)67 , während Nördlingen gleichzeitig eine Zuwachsrate von nur 0,2 Promille hatte. In Nürnberg gab es 1431, 1449/50 und erst wieder 1622 Zählungen der Einwohnerschaft68 . 1431 lebten in Nürnberg 15 449 Personen, ohne Kinder und Geistliche. Die entsprechende Personenzahl aus der Volkszählung von 1449/50 (bürgerliche Personen und Nichtbürger, ohne Kinder, Geistliche, Juden und wegen des Krieges in die Stadt geflohene bäuerliche Bevölkerung) beträgt 13 396. Das 62 63 64

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Ebenda, 73 f. I SENMANN: Deutsche Stadt (wie Anm. 20), 58 ff. H EINZ B ERGER: Nördlingen. Die Entwicklung einer Stadt von den Anfängen bis zum Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts (Diss. rer. nat.), Erlangen-Nürnberg 1969, 36 zeigt in einer Graphik die Bevölkerungsentwicklung von Nördlingen 1400 bis 1650 im Vergleich mit verschiedenen Städten. Dinkelsbühl nach PAUL G LUTH: Dinkelsbühl. Die Entwicklung einer Reichsstadt, Dinkelsbühl 1958, 47, mit Angaben zu den Jahren 1430, 1456 und 1468. Würzburg hatte 1433 1 348 Wehrfähige mit Befehlsleuten, 1512 ungeverlich [. . . ] 1 200 [. . . ] person und mannschaft, und 165 [. . . ] die gan [. . . ] ganntz frei. F RANZ S EBERICH: Die Einwohnerzahl Würzburgs in alter und neuer Zeit. In: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 83 (1960), 49–59 und 63–69, hier: 56 f.; annähernd gleiche Bevölkerungszahl in Ulm 1427 und 1499: A BEL: Wüstungen (wie Anm. 47), 3. Aufl. 47, nach C. A. KORNBECK: Ulmische Miszellen. In: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte VIII (1885), 73 f.; für Schwäbisch Hall: W UNDER: Die Bürger von Hall (wie Anm. 13), 187. Im Jahre 1396: 1 120 Haushaltungen, 1460: 1 010, 1545: 1 124 Haushaltungen; Ebenda. Im Jahre 1434 hatte Augsburg 4 049 Bürgerhaushalte (Personenkonten), 1441: 3 907 (Rückgang gegenüber 1434: 5,1 Promille), 1448: 4 313; G EFFCKEN: Soziale Schichtung in Augsburg (wie Anm. 14), 118. RUDOLF E NDRES: Zur Einwohnerzahl und Bevölkerungsstruktur Nürnbergs im 15./16. Jahrhundert. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 57 (1970), 242–271, hier: 246. Neudruck der Nürnberger Volkszählung von 1449/50 bei G ISELA M ÖNCKE: Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Mittel- und Oberdeutscher Städte im Spätmittelalter (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 37), Darmstadt 1982, 317–319.

Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung

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ergibt zwischen 1431 und 1450 die relativ hohe Rückgangsrate von minus 7,5 Promille jährlich, vorausgesetzt, dass die Zahlen wirklich vergleichbar sind. Bis 1622 hat die Nürnberger Bevölkerung dann, ausgehend vom Vergleichsjahr 1431, durchschnittlich um 4,1 Promille jährlich zugenommen, in Augsburg um 5,2 Promille69 , in Nördlingen aber nur um 1,5 Promille (1435 bis 1621)70 . Damit wird deutlich, dass Nördlingen mit den Wachstumsraten der beiden benachbarten Großstädte über einen Zeitraum von rund zweihundert Jahren gesehen nicht mithalten konnte. Nur im 16. Jahrhundert kam es auch hier zu einer bedeutenden Zunahme der Bevölkerung: Zwischen 1507 und 1567 wuchs die Bürgerschaft in Nördlingen im Durchschnitt jährlich um 5,4 Promille71 , besonders stark in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Das entspricht nicht den Aussagen von Pfister72 , der insbesondere für die ersten beiden Drittel des 16. Jahrhunderts allgemein ein „stürmisches“ Wachstum sehen möchte. II.

Die Einbürgerungspolitik des Rats

Nach den Krisenjahren 1437 und 1447/48, in denen die Zahl der Bürger stark abgesunken war, dauerte es, wie gezeigt, nur kurze Zeit, bis die Verluste wieder ausgeglichen waren. Die sterbende läuff der 30er und 40er Jahre des 16. Jahrhunderts hatten sogar so gut wie überhaupt keine langfristige Auswirkung auf die Einwohnerzahl gehabt. In Nördlingen sind also, wie in anderen Städten auch, starke Bevölkerungsverluste schnell durch Zuwanderung und nicht durch Geburtenzuwachs ausgeglichen worden73 . „Die Stadt frisst die Menschen, das Land bewahrt sie“ kommentiert Reincke74 und fährt fort: „Jede Stadt wäre zu langsamem Tode verurteilt, wenn sie nicht dauernden Kräftezustrom von außen erhielte“. Für Nördlingen weist Vasarhelyi allerdings nach, dass zwischen 41 % und 45 % der Einwanderer aus anderen Städten kamen und nicht vom Land, und meint außerdem, „dass ein großer Teil der Neubürger sich nicht aus erst nach der Seuche neu Zuziehenden, sondern aus schon länger anwesenden nichtbürgerlichen Bewohnern der Stadt rekrutiert haben dürfte“75 . Er schließt das aus dem engen Zusammenhang zwischen Neubürgerzahl

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B ERND ROECK: „Arme“ in Augsburg zu Beginn des 30jährigen Krieges. Untersuchungen zu Wohn- und Vermögensverhältnissen der städtischen „Unterschicht“ und zur Sozialtopographie der Reichsstadt anhand einer Getreideverteilungsliste aus dem Jahr 1622: In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 46 (1983), 515–558, hier vor allem 515 Anmerkung 2. Um für 1435 Daten zu erhalten, die mit den Angaben von Friedrichs vergleichbar sind, wurden die durchgestrichenen Einträge (6), Pflegschaften (12) und Nichtbürger (48) nicht eingerechnet. Angaben für 1621 bei F RIEDRICHS: Urban Society (wie Anm. 2), 321. Das allgemeine Bevölkerungswachstum im 16. Jahrhundert ist unbestritten, so dass sich Einzelnachweise erübrigen. E RICH K EYSER: Die Bevölkerung der deutschen Städte (1935). Nachdruck in: H EINZ S TOOB (Hg.): Altständisches Bürgertum II, Erwerbsleben und Sozialgefüge, Darmstadt 1978, 249–268. Allerdings überschätzt er ganz offensichtlich die Auswirkungen der Pest auf die Bevölkerungsentwicklung im 16. Jahrhundert, ebenda 259. P FISTER: Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 61), 11 und 76. H ANNO VASARHELYI: Einwanderung nach Nördlingen, Esslingen und Schwäbisch Hall zwischen 1450 und 1550. In: E RICH M ASCHKE , J ÜRGEN S YDOW (Hg.): Stadt und Umland (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B 82), Stuttgart 1974, 129–165, hier: 139, in Anmerkung 19 auch die Literatur für andere Städte. R EINCKE: Bevölkerungsprobleme (wie Anm. 19), 266 f. VASARHELYI: Einwanderung (wie Anm. 73), 147 und 140.

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und Heiraten: Heirat mit einer Bürgerin erleichterte die Einbürgerung76 . Begab sich der Ehemann aber nicht ins Bürgerrecht, verlor seine Frau ihre bürgerlichen Rechte und musste für ihr Hab und Gut Nachsteuer zahlen. 1475 wurde festgesetzt, dass der durch Heirat ins Bürgerrecht gekommene Neubürger binnen zwei Monaten sein Bürgerrecht und das Zunftrecht annehmen musste, sonst wurde das Vermögen seiner Frau zur Nachsteuer herangezogen77 . Vasarhelyi schätzt, dass zwei Drittel bis drei Viertel aller zwischen 1450 und 1550 nach Nördlingen eingewanderten männlichen Neubürger eine Bürgerin geheiratet haben, wobei der Anteil dieser Neubürger im Laufe des Untersuchungszeitraums ständig zunahm und im letzten Jahrzehnt im Durchschnitt knapp über 80 % betrug78 . Die von Bücher79 errechnete, von Maschke80 aufgegriffene und seitdem in der Literatur häufig wiederholte Angabe, dass 80 % der Neubürger, die in Frankfurt das Bürgerrecht kostenlos erwarben, dies durch Heirat mit einer Bürgerin erreichten, ist insoweit irreführend, als in Frankfurt nur zwischen 47 % (zwischen 1358 und 1400) und 59 % (zwischen 1451 und 1500) kostenlos ins Bürgerrecht kamen81 ; der Rest zahlte ein teilweise ermäßigtes Aufnahmegeld. Heirat war allerdings die häufigste Ursache für den Erlass der Gebühr. In einzelnen Jahren erreichten jedoch auch in Frankfurt die Einbürgerungen durch Heirat 80 % und mehr der Fälle, so z. B. im Jahr 1373 86 %, nach einer Umstellung der Aufnahmebedingungen82 . Möglich ist natürlich auch, dass nach Seuchenzügen Verwitwete sich in ihrem auswärtigen Bekanntenkreis nach Heiratskandidaten umsahen. In jedem Fall ließ der Bevölkerungsverlust durch Seuchen eine „erhöhte Zahl bürgerlicher Nahrungsstellen frei werden, die dann zu einem guten Teil auch von Zugewanderten besetzt“ wurden83 . Es ist auch anzunehmen, dass durch Einheirat ins Bürgerrecht frei gewordene nichtbürgerliche Nahrungsstellen wiederum Neuankömmlinge anzogen, die nun ihrerseits eine Art Wartestellung auf die Bürgerschaft einnahmen, und sich so nicht nur die Bürger-, sondern auch die Einwohnerzahl auf der alten Höhe einpendelte – vorausgesetzt, es gab weiterhin gleich viel Arbeit in der Stadt und gleich viele Interessenten, die einwandern wollten. Die Einwohnerzahl richtete sich also nach den Gesetzen des Arbeitsmarkts, und sicher nicht zufällig deckt sich das engere Einwanderungsgebiet für Nördlingen „mit dem von Ammann beschriebenen engeren Marktbereich, dem Bereich regelmäßigen Marktbesuchs und engster gegenseitiger wirtschaftlicher Verflechtung“84 . Konkret handelt es sich für Nördlingen um einen Einzugsbereich, der mit den Städten Dinkelsbühl, Gunzenhausen, Weißenburg, Donauwörth, Lauingen, Gundelfingen, Giengen, Aalen und Ellwangen um76 77 78 79 80

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Seit 1422. Stadtrecht C Art. 194, 21. August 1422. In: K ARL OTTO M ÜLLER (Hg.): Nördlinger Stadtrechte des Mittelalters (= Bayerische Rechtsquellen 2), München 1933, 71. Ebenda, Stadtrecht C Art. 210, 3. Oktober 1475, 79. VASARHELYI: Einwanderung (wie Anm. 73), 131 f. (Anmerkung 6). K ARL B ÜCHER: Die Bevölkerung von Frankfurt am Main im XIV. und XV. Jahrhundert. Socialstatistische Studien, Tübingen 1886, 364. E RICH M ASCHKE: Gesellschaftliche Unterschichten in den südwestdeutschen Städten (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Reihe B 41), Stuttgart 1967, 41. B ÜCHER: Bevölkerung von Frankfurt (wie Anm. 79), 364. M ASCHKE: Unterschichten (wie Anm. 80), 41. VASARHELYI: Einwanderung (wie Anm. 73), 145. Ebenda, 152, siehe dazu auch die Definition von vier Bereichen des Migrationsraums (Kernmigrationsraum, naher Migrationsraum, ferner Migrationsraum und entfernter Migrationsraum) bei KOCH: Neubürger (wie Anm. 53), 139.

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rissen werden kann85 . Dazu kommt noch die Zuwanderung über die Hauptverkehrswege aus weiterer Entfernung, für Nördlingen besonders aus Südwest-Nordost-Richtung, über Ulm von Oberschwaben her und über Nürnberg aus Ober- und Unterfranken86 . Das von Vasarhelyi aus den Nördlinger Bürgerbüchern erschlossene Einwanderungsgebiet deckt sich auch mit den – sehr sporadischen – Angaben zu Herkunftsorten in den Steuerbüchern. Außer den nahe gelegenen Orten und den benachbarten Reichsstädten sind dort in den Stichjahren genannt: Ingolstadt (1404, 1435, 1447), Nordhausen (1404), Frankfurt (1441), Landau (1447, 1555), Schwenningen (1447, ein Bürger mit Geding), Bayreuth (1480), München (1525, 1543), Joachimsthal (1555) und Stuttgart (1567). Natürlich war der Rat daran interessiert, das Kräftespiel des Arbeitsmarkts zu beeinflussen und die Zuwanderung in seinem Sinne zu steuern87 . Von einer „strengen Auslese“, wie Erich Keyser sie sich vorstellte88 , kann jedoch nicht die Rede sein. Die Ratsbeschlüsse der früheren Zeit zeigen sogar deutlich die Tendenz, Einwanderer als Bürger an die Stadt zu binden. Die älteste überlieferte Bestimmung zur Einbürgerung, aufgezeichnet ca. 1348–1350, besagt, wer sich sechs Wochen oder länger in der Stadt niedergelassen hatte, sollte mit allen Pflichten Bürger werden: wir han auch gesetzet, wer hueshe(b)lichen drie vierzehen tag oder me hie sitzet, der sol und muoß stiuwern und dienen alz ein ander burger89 . Der von Linder90 herangezogene Artikel des Stadtrechts A: Dar nah ist reht, daz der / amman sol kainen burger vahen umb kain vrevel, der hus und hove habe oder funf schillinge zu stiure gebe, ez si danne der burger wille, hat nichts mit der Zulassung zum Bürgerrecht zu tun, sondern sagt lediglich für Bürger ab einem gewissen Vermögen Haftverschonung zu. Wenig später erscheint die Forderung, bei der Einbürgerung eine Bürgschaft von 10 Pfund Heller anzulegen, die der Stadt verfallen, wenn der Neubürger vor Ablauf von fünf Jahren die Stadt ane ehaft not wieder verlässt91 . Der Rat ließ also eine Art Kaution hinterlegen, wohl zum Schutze eventueller Forderungen der Stadt und der alteingesessenen Bürger. Ende des 14. Jahrhunderts wird erstmals eine Aufnahmegebühr gefordert: Fünf Pfund Heller sollen der Stadt und fünf Schilling dem Ammann gegeben werden92 . Außerdem verlangt der Rat jetzt eine Kapitalanlage von 30 Pfund Heller bei der Einbürgerung. Einige Jahre darauf wird aber auch der Wegzug erschwert. Die Nachsteuer wird auf den vierten Pfennig, also auf 25 Prozent des gesamten Vermögens festgelegt, mit dem Gebot, liegende Güter in der Stadt in einer vom Rat gebotenen Frist zu verkaufen93 . Diese Regelung galt bis der Rat am 20. Dezember 1434 nur noch den zehnten Pfennig als Nachsteuer verlangte. 85 86 87 88 89

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VASARHELYI: Einwanderung (wie Anm. 73), 152. Ebenda, 153 und 156. Bedingungen zur Aufnahme ins Bürgerrecht in zahlreichen Städten bei I SENMANN: Deutsche Stadt (wie Anm. 20), 136. E RICH K EYSER: Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, 2. Aufl. Leipzig 1941, 304 und D ERS .: Bevölkerung der deutschen Städte (wie Anm. 71), 256. M ÜLLER: Stadtrechte (wie Anm. 76), 20, Stadtrecht B Art. 17. In Augsburg wurde etwas später, in einer 1397 erlassenen Ratserkenntnis, eine Missachtung der Pflicht ins Bürgerrecht zu gehen mit zehn Jahren Stadtverbot bedroht. K ALESSE: Bürger (wie Anm. 11), 107. J. L INDER: Zünfte und Stadtregiment. Ein Beitrag Nördlinger Verfassungsgeschichte 1349–1552, Diss. masch. Erlangen 1979, 20, Artikel 13 (nicht 12) des Stadtrechts A. M ÜLLER: Stadtrechte (wie Anm. 76), 28, Stadtrecht B Art. 53. Ebenda, 53, Stadtrecht C, Art. 142, aufgezeichnet ca. 1380–1382 Ebenda, 56, Stadtrecht C, Art. 151, 1. September 1395.

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Er kehrte aber bereits vier Jahre später auf die alte Forderung des vierten Pfennigs als Nachsteuer zurück94 . Die nächste Änderung des Nachsteuersatzes erfolge erst wieder 148295 , mit der erneuten Ermäßigung auf den zehnten Pfennig96 . Ähnlich wie den Wegzug versuchte der Rat auch den Zuzug in die Stadt mit Änderungen der Gebühr zur Aufnahme von Neubürgern zu steuern. 1416 wurde die Aufnahmegebühr auf fünf Gulden festgelegt, dazu zwei Gulden für die Zunft. Außerdem wurde jetzt ein Mindestvermögen von 30 Gulden vorausgesetzt, gleichzeitig aber die Möglichkeit eröffnet, mit geding, nach im Einzelfall zu regelnden Bedingungen, als Bürger in die Stadt aufgenommen zu werden97 . 1422 erfolgte zum ersten Mal eine Vergünstigung für Neubürger, die eine Bürgerstochter oder -witwe heirateten. Für sie blieb es bei den alten Gebühren von fünf Gulden für das Bürgerrecht und zwei Gulden für die Zunft, während alle anderen jetzt sieben Gulden und drei Gulden für die Zunft zahlen müssen98 . Im Gegensatz dazu scheint eine Maßnahme des Jahres 1439 zu stehen. Damals haben die Räte stättlich erkennt, daz nymat mer weder frawn noch manne husen noch hofen noch herwerg lechen sol, vnd sol man daz zwen tag nach einander beschreyn offenlichen durch die stat, daz sie in acht tagen hinweg ziehen söllen, die da nit burger sint99 . Aber diese Vertreibungsaktion war eine begründete Ausnahme; sie war wahrscheinlich notwendig geworden, weil nach dem Hungerjahr 1437 viele Menschen in die Städte drängten, um dort an Nahrung zu kommen. Bereits ein Jahr später ging der Rat nicht mehr so rigoros vor. Am 6., 8. und 9. Juni 1440 hat man einen Vmbganck geton, vnd hat den vfgeboten die nit burger waren/ Also hat man desmals hie Inn gelassen vnd hand gesworn der stat getrew zu sein bis vf eins Rat wider absagen100 . Die neu Eingewanderten wurden also als Beisitzer aufgenommen. Ähnlich verfuhr der Rat 1451, als es offensichtlich zu Klagen über Bürger mit Geding gekommen war, die den Vollbürgern Konkurrenz machten, ohne die gleichen Lasten zu tragen. Der Rat forderte alle Pfahlbürger, die ein Gewerbe betrieben, auf, in das ordentliche Bürgerrecht zu gehen, nur Weinschenken, Metzger, Bäcker und Schuster ausgenommen101 . Geschützt vor Konkurrenz wurden also in erster Linie die für den Export arbeitenden Textil- und Ledergewerbe102 . Entsprechend kam es dann 1452 zu einem Einbürgerungsschub103 , der sich auch sehr positiv auf die Steuereinnahmen der Stadt auswirkte. Die Gesamtsumme der Vermögenssteuer hatte im Jahre 1447 1 837 Gulden betragen, 1459 war sie auf 2 963 Gulden gestiegen104 , bis 1471 aber wieder auf 1 479 Gulden gefallen (Abbildung 3 auf der nächsten Seite). 1468 ging der

94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104

Ebenda, 68, Stadtrecht C Art. 186, 12. Januar 1439. Ebenda, 76 f., Stadtrecht C Art. 206, 29. Oktober 1482. Siehe dazu auch unten Kapitel 4: Abwanderung. Stadtrecht C Art. 189 und 190, 23. März 1416, ebenda 69. Stadtrecht C Art. 194, 21. August 1422, ebenda: 71. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Ratsprotokoll Folioformat liegend, Acta consulatus 1436–1453, fol. 26, 20. April 1439. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Ratsbüchlein (Schmalfolio) 1449–1454, 146. M ÜLLER: Stadtrechte (wie Anm. 76), 77 f., Stadtrecht C, Art. 208. Vgl. die Liste der häufigsten Einwandererberufe bei VASARHELYI: Einwanderung (wie Anm. 73), 135. Ebenda, 137 f. Im Jahr 1446 erhob der Rat die doppelte Vermögenssteuer, nicht jedoch 1459.

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Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung

4 000 3 000 2 000 1 000 Steuerzahler Steuereinnahmen in fl

0

Gulden

Haushalte

2 000

1 000 0

1404 1411 1423 1435 1439 1441 1447 1459 1471 1480 1495 1507 1519 1525 1531 1543 1555 1567

Abbildung 3: Anzahl der Steuerzahler und der jährlichen Gesamtsteuersumme (1404–1567)

Rat sogar beim kaiserlichen Hof gegen (Pfahl-)bürger vor, die ihre Habe von Bürgerrecht und Nachsteuer freihalten wollten105 . Von 1486 an wurde zur Aufnahme ins Bürgerrecht auch der Nachweis ehelicher Geburt verlangt106 , später gegebenenfalls zusätzlich der Nachweis der Entlassung aus der Leibeigenschaft107 . Das Mindestvermögen, das ein Neubürger aufweisen musste, blieb aber das wichtigste Mittel für den Rat, Einwanderungspolitik zu betreiben. Schon 1479 war die Erhöhung des Mindestvermögens für Einwanderer erneut im Gespräch108 . In den 30er und 40er Jahren des 16. Jahrhunderts, als eine besonders starke Einwanderungswelle auf die Stadt zukam109 , wurde die Diskussion über eine Modifizierung der Einbürgerung erneut aufgegriffen. Am 15. Mai 1538 wurde im Rat über eine Änderung des Bürgerrechts beraten. 50 Gulden Vermögen, die zu diesem Zeitpunkt von einem Neubürger nachgewiesen werden mussten, seien zu wenig; auch sei die Möglichkeit, durch Heirat einer Bürgerstochter das Bürgerrecht zu erlangen, zu leicht gemacht: allso das ainer umb 7 Gulden Schmalz, Salz, Holz, Spital und die Allmusen erkauft, vnnd dem gepornen burger sein prot vorm mund abschnitt110 . Eine Änderung der Aufnahmebedingungen ins Bürgerrecht erfolgte aber nicht. Zwei Jahre später wurde abermals erwogen, dass es nitt gut sei[n], jederman, der zu ainer burgerin heyrat, Inns burgerrecht kommen zu lassen. Vnnd das kunnftiglich davon geredt werden soll. Dasselbe abzustellen111 . Trotzdem war die Mehrheit des Rats immer noch nicht bereit, die Aufnahme ins Bürgerrecht zu erschweren. Noch im selben Jahr wurde erneut über die starke Zuwanderung verhandelt. Jetzt kam das Argument ins Spiel, So ainer alhie burgerrecht kauffte. Obdann dadurch auch alle seine kinnd so er davor erzeugt, burger sein sollten. Aber auch jetzt fand eine Beschränkung der Einwanderung keine Mehrheit: Ermaß ein rhat, das es noch darzu 105 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Ratsbüchlein (Schmalfolio) 1466–1474, fol. 14 v, 19. Dezember 1468. Es wäre interessant nachzuprüfen, ob der Fall Jacob Fuchshart vom Jahr zuvor damit in Zusammenhang zu sehen ist. 106 M ÜLLER: Stadtrechte (wie Anm. 76), 62, Stadtrecht C, Art. 167, 26. September 1486. 107 So bei der Einbürgerung der Ottilia Beschin am 13. März 1556. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rathsprotocoll 1554–1556, fol. 74. 108 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rats Sachen 1479–1481, fol. 5, 25. Okt. 1479. 109 Dazu VASARHELYI: Einwanderung (wie Anm. 73), 136 Abb. 1. 110 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii 1533–1540, fol. 126 v, 15. Mai 1538. 111 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii 1540–1548, fol. 2, 21. Mai 1540.

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kommen möchte, das man burger herein kauffen oder wie an anndern orten vergebenlich herein Ziehen lassen vnnd frei setzen möchte. Inmassen [. . . ] ain sterben balld geschehen kunth und bei vilen stetten geschehen ist. Darumb ließ es ain rhat pleiben, wie es bißher gehalten, das ainer der burgerrecht kaufft. Seine kinder auch burger gemacht hat112 . 1541, also ein Jahr später, findet sich der Text einer burger annemens ordnung in den Akten. Darin wird abermals davor gewarnt, das es gemainer Statt ain verderblich abfall verursachte, das man ainen Jeden der sich Zu eins burgers tochter verheirat, Zu aim burger allsballd angeen ließ. Vnangesehen, das es Zue Zeiten on der Alltern wissen vnnd willen geschah. Vnd er von person gesuntthait, hantierung, narung vnd vermogen Zu aim burger nith thauglich war. Auch dieser Vorstoß fand im Rat keine Mehrheit: So hat doch ain Erbottener Rat dabey auch ermessen, das es gemainer burgerschafft [am Rande ergänzt: die alhie mehrentails vnvermöglich] ain ganntz beschwerliche ordnung sein wurd. Wo man denselben das burgerrecht abschlagen sollt. Das auch der mehrer thail der burger Ire töchter dero mehr dann der sön sein; ire lebenlang vnverheyrat pleiben mussten. Das auch mittler weil die burgerschafft alhie abnemmen vnnd vns begegnen möchte. Das vor Jaren den von Regenspurg Rotenpurg Dinkelspuhel vnd anndern, die nach burgern ausschreiben vnnd daruff freihaiten anbieten mussten etc. begegnet ist113 . Immerhin ordnete man an, dass künftig nicht jeder unbesehen durch Heirat ins Bürgerrecht gelangen solle, sondern persönlich mit seiner Familie vor dem Rat zu erscheinen habe, dem es dann freistehe, das Bürgerrecht zu erteilen oder nicht. Weitere Vorstöße vom 15. Juli 1544 und 11. Juni 1546, das zur Einbürgerung vorgeschriebene Mindestvermögen zu erhöhen und die Einheirat einzuschränken, wurden wieder abgewiesen114 . Erst der konkrete Fall des Schmieds von Möttingen, der am 13. Mai 1547 mit neun Kindern ins Bürgerrecht wollte115 , führte dazu, dass ein New Stattut Burger annemens halb in das Ordnungsbuch eingetragen wurde116 . Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung der schon 1541 ins Ratsprotokoll aufgenommenen Ordnung117 , nach der in der Praxis wohl auch schon verfahren wurde. Der Schmied selbst wurde nur mit seiner Frau ins Bürgerrecht aufgenommen, wiewol er ains ziemlichen guten vermugens und sonnst ein gut lob hett. Für die künftig im Bürgerrecht erzeugten Kinder wurde das Bürgerrecht zugesagt. Die anderen sollten es später erkaufen, sofern sie dem Rat annemlich seien. Außerdem wurde festgesetzt, künftig auch bei Einheirat ein Mindestvermögen von 50 Gulden zu fordern, und es wurde auch schon überlegt – aber noch nicht festgesetzt – dass Fremde mit Weib und Kind nur mit mindestens 100 Gulden Vermögen ins Bürgerrecht aufgenommen werden sollten118 . Das Thema war damit noch lange nicht erledigt. In einem Reformplan, den der Stadtschreiber Wolfgang Vogelmann 1550 anfertigte119 , wurden noch einmal alle Bedenken 112 113 114 115 116

Ebenda, fol. 19, 9. Dezember 1540. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii 1540–1548, fol. 35 v–36, 29. September 1541. Ebenda, fol. 36, 15. Juli 1544, und ebenda: fol. 150 v, 11. Juni 1546. Ebenda, fol. 166 v, 13. Mai 1547. Hier auch der Hinweis, das Vorgehen im Falle des Schmieds solle für ein Statutum eingeschrieben werden. Wortlaut des Statuts von 1547 bei VASARHELYI: Einwanderung (wie Anm. 73), 142 f. 117 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii 1540–1548, fol. 35 v–36, 29. September 1541. 118 Ebenda, fol. 166 v–167, 13. Mai 1547. 119 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Geheimes Raths=Protocoll 1552–1560. Summario Annotatio Restaurationis et reparationis Rei p: Nerolingen nec non Politicae Reformationis ibidem [darüber geschrieben: eiusdem] 1550, Wogelmann.

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gegen eine liberale Einbürgerungspolitik angesprochen. Unter der Überschrift Nitt einen jeden inns Burgerrecht kommen lassen, fordert er, das man hinfüro nit Alle hergeloffene Gesellen Inn zeiten auch knappen vnd Bauernknecht [annehmen solle;] die sich Zu Burgeren oder Burgerskindern allein umbs Burgerrechtens willen verheiraten [. . . ]. Die ettwa die kleider amm hallß nit Zverstatten haben. Die hantwercke vbersetzen die Zinsheuser staigern. Burgerskinder verfuren. Inen das Ir verzeren. vnnd nachmaln die Spital vnnd allmosen belestigen. Daneben ettwa schullden machen vnnd annder böse stuck thun. Zu lettzten auch Inn krieg lauffen vnd ain rhat weib und kinder überschlagen. Die Abwehr von Armutsmigration stand also in Nördlingen wie auch europaweit in anderen Städten120 im Vordergrund. Inwiefern „moralische“ Gründe eine Rolle spielten, wie Coy121 für Ulm festzustellen meint, ist wohl zu hinterfragen. Wenn arbeitsscheue wie auch arbeitsunfähige Personen abgewiesen wurden, war doch wohl eher an den Schutz des städtischen Almosens gedacht als an die Forderung tugendhaften Verhaltens. Nur Amsterdam als Hafenstadt mit hohem Bedarf an ungelernten Arbeitskräften schottete sich nicht gegen arme Einwanderer ab122 . Ob die verschärften Anforderungen für Neubürger in Nördlingen auch eingefordert wurden, ist nur indirekt zu erschließen. Es vergingen jedenfalls fast 40 Jahre, bis 1585 der schon 1547 gemachte Vorschlag, das zur Einbürgerung verlangte Vermögen von 50 auf 100 Gulden zu verdoppeln, als verbindlich im Ordnungsbuch eingetragen wurde123 . Der nun einsetzende Rückgang der Bevölkerung dürfte damit in Verbindung stehen124 . Besonders stark wirkte sich die 1607 beschlossene abermalige Verdopplung des nachzuweisenden Vermögens aus125 . Friedrichs126 weist darauf hin, dass die Herkunftsorte der Neubürger nun sehr viel weiter gestreut sind als zuvor. Der Rat betrieb aber auch jetzt sicher keine aktive Einbürgerungspolitik. Er wählte nicht aus, er wehrte ab, und seine Abwehrpolitik hatte nur zwei Ziele: keine von außen kommenden Belastungen für das Spital und die städtischen Almosen und keine gewerbliche Konkurrenz für die eingesessenen Bürger127 . Der Rat ließ in einigen Fällen nicht einmal den Zuzug älterer 120 Neue Beispiele für oberitalienische Städte bei E LEONORA C ANEPARI: Who Is Not Welcome? Reception and Rejection of Migrants in Early Modern Italian Cities. In: B ERT DE M UNCK , A NNE W INTER (Hg.): Gated Communities? Regulating Migration in Early Modern Cities, Surrey/Burlington 2012, 101–115. In Genua waren Kaufleute zwar willkommen, hatten aber selbst wenig Interesse am Erwerb des Bürgerrechts. Sie unterlagen einer speziellen Steuer (avaria capitis), die nach einem Aufenthalt von zwei Monaten erhoben wurde. Ebenda, 103 f. 121 JASON P. C OY: Magistrates, Beggars, and Labourers: Migration and Regulation in Sixteenth-Century Ulm. In: D E M UNCK , W INTER: Gated Communities (wie Anm. 120), 157–174. 122 L EO L UCASSEN: Cities, States and Migration Control in Western Europe: Comparing Then and Now. In: D E M UNCK , W INTER: Gated Communities (wie Anm. 120), 217–240, hier: 225 f. 123 F RIEDRICHS: Urban Society (wie Anm. 2), 55, paraphrasiert den Text der Verordnung (S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Ordnungsbuch 1567–87, fol. 229 v–231 v, 15. November 1585). Danach scheint die Begründung der Maßnahme in der Formulierung mit der Verordnung von 1547 weitgehend überein zu stimmen. 124 F RIEDRICHS: Bevölkerungsstatistik (wie Anm. 45), 126 f., D ERS.: Urban Society (wie Anm. 2), 55–57, vor allem 56, Grafik 2.4. 125 Ratsprotokoll vom 16. April 1607, zitiert bei F RIEDRICHS: Urban Society (wie Anm. 2), 57. 126 F RIEDRICHS: Urban Society (wie Anm. 2), 61 f. 127 In diesem Zusammenhang ist auch die Einführung der Wanderpflicht für Gesellen zu sehen, die auf diese Weise länger von Meisterstellen ferngehalten wurden. Siehe dazu K NUT S CHULZ: Handwerksgesellen und Lohnarbeiter. Untersuchungen zur oberrheinischen Stadtgeschichte des 14. bis 17. Jahrhunderts, Sigmaringen 1985, 267–274.

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Verwandter zu aus Sorge, sie könnten dem Spital oder dem städtischen Almosen zur Last fallen. Ein Tuchscherer wollte seine Mutter ins Haus nehmen, was ihm nur für die Zeit der Pfingstmesse erlaubt wurde128 . Das Ansuchen des Michel Kopp, seine Schwiegermutter in die Stadt hereinnehmen zu dürfen, Ime für ain Maid zu dienen wurde ausdrücklich der allmusen halber abgeschlagen129 . Diese restriktive Einbürgerungspolitik des Rats trat aber bis Mitte des 16. Jahrhunderts noch wenig in Erscheinung, konnte sich auch in den Diskussionen der 40er Jahre nicht durchsetzen und fand erst 1585 mehrheitliche Zustimmung im Rat. Vorher überwog die Sorge, die Stadt könne aussterben, bei weitem die Angst vor Überbesetzung. Der Rat wagte nicht, den Zustrom der Einwanderer zu stark abzuwehren. Für die Zeit bis 1580 dürfte auch für Nördlingen gelten, was Bardet für Rouen konstatiert hat: „Aufs Ganze gesehen ist die Stadt eine Sterbestätte, die den menschlichen ‚Überschuß‘ des platten Landes resorbiert, wenn auch in geringerem Umfang, als man häufig angenommen hat. Sie ist zugleich ein Durchgangsort, ein Sieb, das die Individuen umverteilt, nachdem sie dessen verändernde Auswirkungen erfahren haben. Es wäre wichtig, diesen scheidenden Städtern nachzugehen und in Erfahrung zu bringen, was sie dorthin mitbringen, wo sie sich schließlich und endlich niederlassen“130 . III.

Die Einwanderer

Die „menschenverbrauchende“ Rolle der Städte war lange Zeit unbestritten. Inzwischen versucht man allerdings diese Erscheinung differenzierter zu sehen. Sharlin131 setzt dem herkömmlichen Modell des „urban natural decrease“ das Modell der „urban migration“ entgegen. Er unterscheidet zwischen alteingesessener (permanent residents) und ständig neu einwandernder Bevölkerung (temporary migrants). Die Einwanderer blieben als Dienstboten, Gesellen und Lehrlinge meist ledig und unterlagen Heiratsbeschränkungen. Viele kamen niemals zur Gründung einer eigenen Familie, starben ohne Nachkommen oder wanderten weiter. Neue ledige Migranten traten an ihre Stelle. Die Geburtenrate war unter diesem Bevölkerungsteil extrem niedrig, die Sterblichkeit höher als unter der eingesessenen Bürgerschaft. Migranten verfügten auch über geringere Abwehrkräfte gegen die in der Stadt grassierenden Seuchen. Ihre Wohnungen waren oft schlecht und unhygienisch, während die eingesessenen, vor allem die wohl situierten Familien, in gesünderen Wohnverhältnissen lebten und im Laufe der Generationen gegen viele der in der Stadt immer wiederkehrenden Infektionskrankheiten immun geworden waren. Vor allem anhand von Daten für Bürger und Nichtbürger in Frankfurt am Main zwischen 1651 und 1840 weist Sharlin nach, dass die hohe Sterblichkeit unter den Nichtbürgern 128 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii 1533–1540, fol. 18, 3. Juni 1534. 129 Ebenda, fol. 108 v, 22. Oktober 1537. 130 J EAN -P IERRE BARDET: Skizze einer städtischen Bevölkerungsbilanz: Der Fall Rouen. In: N EITHARD B ULST, J OCHEN H OOCK , F RANZ I RSIGLER (Hg.): Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft. StandLand-Beziehungen in Deutschland und Frankreich 14. bis 19. Jahrhundert, Trier 1983, 61–73, hier 73. 131 A LLAN S HARLIN: Natural Decrease in Early Modern Cities: A Reconsideration. In: Past and Present 79 (May 1978), 126–138, 127 f., besonders 130 Tab. 1 und 134 Tab. 3. Sharlins Thesen beruhen auf Untersuchungen der Städte Frankfurt/Main (H. Bleicher) und Basel (A. Burckhardt) sowie den Daten der ersten österreichischen Volkszählung von 1754 unter besonderer Berücksichtigung von Prag und Wien. Siehe auch M ICHAEL W. F LINN: The European Demographic System 1500–1820, Baltimore 1981, 22 f.

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den Geburtenüberschuss der Bürger weit übersteigt. Aus der Volkszählung von 1734 ergibt sich außerdem, dass in Prag und Wien in der Altersgruppe zwischen 20 und 39 Jahren der Anteil unverheirateter Männer wie Frauen über 50 Prozent lag. Daraus entwickelt Sharlin sein Modell der „urban migration“: Die eingesessene Stadtbevölkerung sei sehr wohl in der Lage gewesen einen, wenn auch geringen, Bevölkerungszuwachs hervorzubringen. Die Migranten selbst waren es, die mit extrem hohen Sterberaten immer neue Einwanderungswellen auslösten. Somit ist laut Sharlin die These, ohne ständige Einwanderung seien die Städte vom Aussterben bedroht gewesen, nicht haltbar132 . Waren es also hauptsächlich die Armen, die in die Städte einwanderten? Christiane Klapisch133 hat nach den Angaben des Florentiner Catasto von 1427 festgestellt, dass vom platten Land vor allem die ganz Armen in die Städte abwanderten, während die Abwanderung aus den Landstädten sich auf das gesamte soziale Spektrum verteilte, ja eher die Wohlhabenden eine Veränderung suchten. Die Großstadt Florenz zog dabei die Extreme an: die ganz Armen gingen dorthin und nicht in die anderen toskanischen Städte, ebenso einige gut situierte Familien. Aus den kleineren Landstädten emigrierten manche nicht aus Aufstiegswillen, sondern um Verfolgung zu entgehen, zum Beispiel wegen Schulden. Aus den Bergen schließlich kamen echte „Gastarbeiter“, die wieder zurückkehren wollten. Klapisch hat auch einige besonders mobile Berufe beobachtet. Dazu gehören die Bauberufe, Maurer und Steinmetze ebenso wie die deutschen Leineweber (tisserands allemands) und vor allem die Notare134 . Auch Bardet macht auf die besonders mobilen Notabeln aufmerksam135 ; in Rouen waren es Kaufleute und Amtsträger. Zugewanderte, so stellt Bardet fest, wandern dabei leichter wieder ab als die am Ort Geborenen. Vasarhelyi hat in den hundert Jahren zwischen 1450 und 1550 für Nördlingen 2 357 Neubürger gezählt136 , ohne die schwer zu fassenden Familienangehörigen. Dies entspricht im Schnitt 23 bis 24 Einbürgerungen im Jahr. Das Minimum liegt bei acht bis zehn Neubürgern jährlich, während in Spitzenjahren zwischen 40 und 50 Personen aufgenommen wurden137 . Die Aufgliederung nach Berufsangaben138 lässt zunächst vermuten, dass unter den Einwandernden die verschiedenen Berufe quantitativ etwa ebenso stark vertreten waren wie unter den Ansässigen: Es dominieren die Textilberufe Loder und Geschlachtgewander (Feintuchweber). Entsprechend interpretiert auch Vasarhelyi die Nördlinger Zahlen im Vergleich mit den beiden anderen von ihm untersuchten Städten Esslingen und Schwäbisch Hall. Während die dominierenden Wirtschaftszweige der beiden anderen Städte, Weinbau in Esslingen und Salzgewinnung in Schwäbisch Hall, in der Einwanderung aber stark unterrepräsentiert sind, sieht er die Textilproduktion, vor allem die Wollweberei, unter den Einwanderern in Nördlingen deutlich hervorgehoben139 . Zu diesem Schluss musste er auch angesichts der prozentualen Verteilung der Berufe 132 Siehe dazu die Einwände ROGER F INLAYs gegen Sharlin in: Past and Present 92 (Aug. 1981), 169–174 und dessen Erwiderung ebenda, 175–180. 133 DAVID H ERLIHY, C HRISTIANE K LAPISCH -Z UBER : Les Toscans et leurs Familles. Une étude du catasto Florentin 1427, Paris 1978, 316–322. 134 Ebenda, 307 f. 135 BARDET: Bevölkerungsbilanz (wie Anm. 130), 66. Er beruft sich auf Material für die Zeit 1750–1789. 136 VASARHELYI: Einwanderung (wie Anm. 73), 133, Tabelle 1. 137 Ebenda, 136 Abbildung 1. 138 Ebenda, 135 Tabelle 2. 139 Ebenda, 160.

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unter den Neubürgern kommen. Der Vergleich mit der Verteilung der Berufe unter den Ansässigen zeigt aber, dass in Nördlingen wahrscheinlich die gleichen Mechanismen wirksam waren wie in den beiden anderen Städten. Die Anteile der Loder und Geschlachtgewander unter den Ortsansässigen liegen (mit Ausnahme der Geschlachtgewander in der Steuerperiode 1567–69140 ) immer über deren Anteil unter den Einwanderern. Das ist wohl so zu deuten, dass die Handwerke der Loder und Geschlachtgewander sich in erster Linie aus der Stadt selbst rekrutierten, also für die jungen Städter attraktiver waren als andere Berufe, attraktiver auch als der Beruf des Vaters. Ebenso wäre es möglich, dass Nördlinger Meister Bürgerssöhne gegenüber Einwanderern bevorzugten. Dies blieb auch nach 1580 so141 . Ähnlich geringe Zuwanderungsquoten von außerhalb weisen ebenfalls die im Laufe des 16. Jahrhunderts in Nördlingen an Bedeutung gewinnenden Leder- und Pelzhandwerke auf, die Gerber, Seckler und Kürschner, ebenso die Metzger (als Lieferanten von Tierhäuten) und die Fuhrleute. 1512 wurde die Annahme des Handwerksrechts für auswärtige Metzger verteuert, um Bürgerssöhnen bessere Startchancen zu ermöglichen142 . Eine hohe Einwanderungsquote hatten hingegen die Zimmerleute. Sie waren wohl als Bauhandwerker mehr als andere von Ort zu Ort unterwegs143 . Auch die Leineweber sind unter den Einwanderern im Vergleich mit ihren eingesessenen Handwerksgenossen in den Steuerjahren 1543–45 und 1567–69 überproportional vertreten. Dies könnte mit dem Strukturwandel dieses Gewerbes zusammenhängen144 , während die hohe Zahl von Zuwanderern unter den Hufschmieden gegenüber den Berufsnennungen in der Stadt ohne eine weitergehende Untersuchung nicht zu erklären ist. Die wenig angesehenen Berufe der Bader und Tagelöhner waren im Vergleich mit ihrem Anteil an der ansässigen Bevölkerung ebenfalls unter den Einwanderern sehr stark vertreten. Der Vergleich zwischen dem Anteil bestimmter Berufe unter den eingesessenen Bürgern und den Neubürgern zeigt also, dass die Einwanderung nach Nördlingen ihren Schwerpunkt in den unteren sozialen Schichten hatte. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die neu Eingebürgerten eines Jahres mit den geborenen Bürgern vergleicht, die im selben Jahr ihrer Steuerpflicht zum ersten Mal nachkamen. Besonders geeignet für diesen Vergleich ist die Steuerperiode 1519–21, weil hier, abweichend von anderen Jahren, eine Anzahl der 1520 und 1521 erstmals steuernden Bürger im Jahre 1519 zusätzlich den Vermerk ze jung trägt, man also davon ausgehen kann, dass es sich bei ihnen um in der Stadt geborene Bürger handelt, die dann 1520 oder 1521 zum ersten mal steuerpflichtig wurden. Neu eingebürgert wurden 1520 und 1521 17 Personen; als Jungbürger erstmals gezahlt haben 56 Personen, darunter eine Frau. Eine Aufgliederung nach Berufen ist wenig sinn140 Der Anteil der Geschlachtgewander geht nach ca. 1538 auch unter den Neubürgern stark zurück. VASAR HELYI : Einwanderung (wie Anm. 73), 161, Abbildung 7. 141 F RIEDRICHS: Urban Society (wie Anm. 2), 54 und D ERS .: Immigration and Urban Society: SeventeenthCentury Nördlingen. In: È TIENNE F RANCOIS (Hg.): Immigration et société urbaine en Europe Occidentale, XVIe–XXe Siècle, Paris 1985, 65–77, hier: 68 f. bes. Tabelle 2. 142 1512 wurde die Annahme des Handwerksrechts für auswärtige Metzger verteuert, um den Bürgersöhnen bessere Startchancen zu ermöglichen. ROLF K IESSLING: Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert (= Städteforschung A/29), Köln/ Wien 1989, 200. In den Jahren 1580–1585 sind die Leder- und Pelzhandwerke unter den Einwanderern allerdings erheblich überrepräsentiert. F RIEDRICHS: Immigration (wie Anm. 141), 69 Tabelle 2. 143 Dazu H ERLIHY-K LAPISCH : Les Toscans (wie Anm. 133), 307. 144 Vgl. dazu K IESSLING: Die Stadt und ihr Land (wie Anm. 142), 224.

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voll, dazu ist die Datenmenge zu klein. Trotzdem sind einige interessante Beobachtungen möglich, vor allem, wenn man das Schicksal der neuen Steuerzahler von 1519–21 weiter verfolgt. Die Betrachtung der Erstzahler 1520/21 zeigt, dass die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen schon in den Startbedingungen liegen. Von 17 Einwanderern zahlen 13 (77 %) beim ersten Steuertermin 1520 oder 1521 nur den Mindestbetrag von einem Pfund, haben also kein Vermögen. Bei den in der Stadt geborenen sind es 24, also nur 43 %. 1525, also nach vier bis fünf Jahren, sind von den 17 Einwanderern bereits sieben (41 %) nicht mehr in der Stadt oder am Leben. Bei den Ansässigen sind es elf; die Ausfallquote ist mit 20 % nur halb so hoch wie bei den Einwanderern. In den folgenden Jahren gleichen sich die Zahlen an. 1531 sind von beiden Gruppen noch jeweils 59 % als Steuerzahler nachweisbar. 1567, nach fast 50 Jahren, steuern von den 1520/21 eingewanderten Bürgern noch zwei (12 %), von den geborenen Bürgern noch drei (5 %). Drei Bürger lebten zuletzt im Spital, einer bereits seit mindestens 1543, die anderen beiden erst 1567, darunter einer der ehemals Eingewanderten. In der Entwicklung ihrer Vermögen unterscheiden sich die beiden Gruppen erheblich. Während es von den 17 Einwanderern nur dreien (18 %) möglich war, im Laufe ihres Lebens ihr Vermögen erheblich zu vermehren, waren es unter den geborenen Bürgern fast die Hälfte (46 %). Die Eingewanderten konnten ihr Vermögen bestenfalls verdoppeln oder verdreifachen, während es unter den Eingesessenen zehn (18 %) auf mindestens das Zehnfache erhöhen konnten, zwei von ihnen erreichen sogar mehr als das Hundertfache. Der rein formale Vergleich von Start- und Höchstvermögen einzelner Steuerzahler führt in einigen Fällen allerdings zu falschen Schlüssen. Stirbt ein reicher Steuerzahler und sein Vermögen geht an einen Haupterben, so erfährt dieser zwar eine enorme Vermögenssteigerung, das Vermögen als solches bleibt aber gleich, sofern es nicht aufgeteilt oder durch Legate vermindert wird. Ein gutes Beispiel dafür bietet Gangolf Vesner, ein Sohn des Bürgermeisters und Gesandten am Augsburger Reichstag von 1530, Nikolaus Vesner145 . Er beginnt 1520 mit einer Steuer von einem Gulden und vier Groschen, zahlt 1525 einen halben Gulden, 1531, ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, aber fünfeinhalb Gulden. Diesen Betrag, der offensichtlich sein väterliches Erbe einschließt, zahlt er auch noch 1543–45, er hat von sich aus also das ererbte Vermögen nicht vermehrt. Gleichzeitig steht seine Mutter 1531 mit 41 Gulden und 1543 mit 45 Gulden an der Spitze der Nördlinger Steuerzahler. 1555 hat Gangolf Vesner auch seine Mutter beerbt und ist nun mit 49 Gulden Steuerleistung reichster Nördlinger Bürger. Er zahlt jetzt 87mal so viel wie 1525. So zählt er formal zu den besonders extremen Aufsteigern; de facto ist ein gleichbleibendes Vermögen aber nur von einer Hand in eine andere übergegangen. Es handelt sich zudem um ein Vermögen, das schon zu Beginn des Jahrhunderts entstanden war. Vater Nikolaus Vesner zahlte 1495 zweieinhalb Gulden, 1507 siebeneinhalb Gulden und 1519 28 Gulden. Wenn also die Gruppe der in der Stadt geborenen Erstzahler von 1520/21 sehr viel mehr ökonomische Aufsteiger aufweist als die Gruppe der Einwanderer, ist dies nicht zuletzt auf im Einzelnen nicht immer nachprüfbare Übernahmen von ererbten Vermögen zurückzuführen, auf die Einwanderer in der Regel nicht hoffen konnten.

145 Zur Tätigkeit Nikolaus Vesners politischen Aktivitäten siehe RUBLACK: Eine bürgerliche Revolution (wie Anm. 38), passim.

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So nimmt es nicht wunder, wenn 41 Prozent der Einwanderer gegenüber 30 Prozent der Eingesessenen ihr Vermögen nur in gleicher Höhe zu halten vermochten – in der Regel war es das Mindestvermögen. Bezeichnenderweise haben von den drei Einwanderern, die zu den Aufsteigern zählten, es handelt sich um zwei Loder und einen Geschlachtgewander, zwei mit mehr als dem Mindestvermögen angefangen. Wer ohne Vermögen, mit dem Mindeststeuersatz ins Bürgerrecht kam, konnte als Steuerpflichtiger nicht weiter absteigen. Ein Pfund war die „Habenichts“-Steuer. In der Gruppe der Eingesessenen gibt es nur zwei Absteiger, einen Loder und einen Kürschner. Da der Kürschner relativ früh starb – 1531 ist bereits seine Witwe verzeichnet –, könnte längere Krankheit die Ursache seines ökonomischen Niedergangs gewesen sein. Die Aufsteiger unter den Eingesessenen verteilen sich auf fast alle, nämlich 21 der genannten 29 Berufe. Es fällt lediglich auf, dass in dieser Gruppe drei von zehn Lodern, beide Metzger und alle drei Goldschmiede zu den Aufsteigern zählen. Im Übrigen ist die Anzahl der untersuchten Personen tendenziell zu klein, um repräsentative Schlüsse zu ziehen; die Überlegungen hierzu mögen also hauptsächlich als Anregung zu weiteren Untersuchungen dienen. Alles in allem zeigen diese Zahlen jedoch, dass es für Einwanderer nicht leicht war, in der Stadt Fuß zu fassen. Waren aber die ersten schweren Jahre überstanden, konnten sie ihren bis dahin erworbenen Vermögensstatus halten. Dafür spricht ihre bis mindestens 1545 hohe Anzahl im Vergleich mit den Eingesessenen. Grundsätzlich waren ihre Aufstiegschancen allerdings gering. Vergleicht man die für Nördlingen gewonnenen Ergebnisse mit der These Sharlins, so ist zunächst zu berücksichtigen, dass es sich hier um Neubürger handelt, Sharlin hingegen die nichtbürgerliche Bevölkerung im Auge hatte. Der starke Schwund unter den neu Eingebürgerten in den ersten Jahren lässt aber darauf schließen, dass Sharlins Modell der „urban migration“ auch für Neubürger gültig ist. Die zuletzt Eingewanderten und Eingebürgerten hatten einen überprozentualen Anteil an Sterblichkeit und Abwanderung. Deutliche Unterschiede zwischen Neubürgern und nichtbürgerlichen Zuwanderern zeigen sich allerdings im Familienstand. Sharlin weist darauf hin, dass die nur vorübergehend in der Stadt lebenden Nichtbürger zwischen 20 und 39 Jahren vorwiegend unverheiratet waren146 . Unter den Nördlinger Neubürgern von 1520/21 waren allerdings ebenso viele Verheiratete wie unter den eingesessenen Erstzahlern, zweifellos eine Folge der Begünstigung der Einheirat zum Erwerb des Bürgerrechts. Für die Stadt Höxter konnte Rüthing feststellen, dass Zugezogene häufig Ehepartner wählten, die ebenfalls noch nicht lange in der Stadt ansässig waren147 . Als der Rat Mitte des 16. Jahrhunderts ernsthafte Maßnahmen einleitete, den Zustrom mittelloser Neubürger einzudämmen, hatte dies bald greifbare Folgen. Unter den 16 neu Eingebürgerten des Jahres 1567 ist die Zahl der Vermögenslosen auf die Hälfte (8) gefallen. Aber auch von den 21 in diesem Jahr erstmals steuernden in der Stadt geborenen Bürgern konnten elf nur die Mindeststeuer zahlen. Die Steuerbücher der Stichjahre 1531–33, 1543– 45 und 1555–57 tragen leider keine Vermerke, aus denen die Erstzahler zu erkennen wären. 1567 ist das genaue Datum verzeichnet, an dem jemand als eingelassen, einkommen oder neu verzeichnet wurde. Für das Jahr 1568 sind Einwanderer und Bürgerssöhne leider nicht eindeutig zu unterscheiden. In diesem Jahr gab es insgesamt 39 neue Steuerzahler, 146 S HARLIN: Natural Decrease (wie Anm. 131), 134. 147 RÜTHING: Höxter um 1500 (wie Anm. 14), 359.

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davon 19 (49 %) ohne Vermögen. Ein Jahr später wurden insgesamt 34 Erstzahler, davon 26 Bürgerssöhne neu und 14 (54 %) ohne Vermögen registriert. Acht wurden eingelassen, davon vier (57 %) ohne Vermögen. Angesichts der geringen Personenanzahl der untersuchten Gruppe kann man nur sehr vorsichtig Schlüsse daraus ziehen. Möglicherweise lagen die zugewanderten Bürger als Gesamtheit leicht über dem Vermögensdurchschnitt der erstzahlenden Söhne. Vorsichtig formuliert hat der Rat offensichtlich darauf geachtet, dass die Zuwanderung in die Stadt keinesfalls den Durchschnitt der bürgerlichen Vermögen nach unten zog. Diese Tendenz verstärkte sich noch nach 1580, ging allerdings Mitte des 17. Jahrhunderts wieder zurück, als der Rat nach der Katastrophe von 1634 großes Interesse an verstärkter Einwanderung von Neubürgern hatte. Das Durchschnittsvermögen der Einwanderer fiel daraufhin zeitweise unter das aller (männlichen) Bürger148 . Natürlich gab es auch in Nördlingen eine nichtbürgerliche Bevölkerung. Sie ist vor 1580, dem Einsetzen der Kirchenbücher, in den Quellen allerdings so gut wie überhaupt nicht greifbar. 1459 lebten nach den Angaben der Einwohnerzählung neben 4 091 zur Bürgerschaft zählenden Personen, 80 Geistlichen mit ihrem Anhang sowie acht Judenfamilien insgesamt 944 Nichtbürger in Nördlingen (Dienstboten, Pfahlbürger und Beisassen), das sind immerhin rund 23 Prozent der Einwohnerschaft. Dieser Prozentsatz liegt offensichtlich in dem für die Zeit zu erwartenden Rahmen149 . Für die Zeit nach 1580 konnte Friedrichs aber anhand einer Teilanalyse der Kirchenbücher150 feststellen, dass offensichtlich eine erhebliche Zahl älterer alleinstehender Personen in Nördlingen lebte, die manchmal bereits vor Jahren oder Jahrzehnten eingewandert und zum Teil durchaus vermögend waren, aber in keiner verwandtschaftlichen Verbindung zu eingesessenen Familien standen. Eine eingehende Untersuchung dieser Gruppe von Nichtbürgern steht noch aus. IV.

Die Abwanderung

Im Gegensatz zur Zuwanderung ist die Abwanderung aus den Städten bisher kaum untersucht worden. Sie ist natürlich sehr viel schlechter dokumentiert als der Zustrom der Neubürger, obwohl die Aufgabe des Bürgerrechts ebenso früh geregelt wurde wie die Aufnahme ins Bürgerrecht. In Nördlingen enthält bereits das Stadtrecht B (ca. 1348–1350) die Vorschrift, jeder, der die Stadt verlassen wolle, habe dem Rat seine Absicht kund zu tun und sei erst frei wegzuziehen, sobald er eventuelle Schulden bei der Stadt beglichen habe151 . Einige Jahrzehnte später entschloss sich der Rat zur Erhebung einer Nachsteuer, zunächst nur gegenüber den Reichs- und landesherrlichen Städten, die ihrerseits eine Nachsteuer erhoben152 . Ab 1395 erhob er diese allgemein in Höhe des vierten Pfennigs153 und erreichte damit eine hohe Barriere gegen den Abfluss von Vermögen aus der Stadt. Nachsteuerpflichtig waren nicht nur die Vermögen wegziehender Bürger, sondern auch 148 F RIEDRICHS: Immigration (wie Anm. 141), 70 f. mit eingehender Darstellung in Tabellen und Graphiken. 149 D ORNER: Steuern (wie Anm. 20), 96. Eine Zusammenstellung der für das Spätmittelalter bekannten Zahlen von Dienstboten, insbesondere Gesellen, in den oberdeutschen Städten bei S CHULZ: Handwerksgesellen (wie Anm. 127), 37–46. 150 F RIEDRICHS: Immigration (wie Anm. 141), 73 f. 151 M ÜLLER: Stadtrechte (wie Anm. 76), 26. Stadtrecht B Art. 46. 152 Ebenda, 54, Stadtrecht C Art. 145, 23. August 1387. 153 Ebenda, 56, Stadtrecht A Art. 151, 1. September 1395.

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aus der Stadt gehendes Heiratsgut, die Ausstattung für in auswärtigen Klöstern lebende Töchter und Söhne und die Stiftungen an das Spital oder anderswahin154 . Wer ins Spital ging, musste für sein Vermögen ebenfalls Nachsteuer zahlen, sofern es nicht weiter der Jahressteuer unterlag. So zahlte auch Jörg Rieger Nachsteuer von 300 Gulden Vermögen, als er 1489 Spitalmeister wurde155 . In einigen Fällen blieb ein Teil des Vermögens in der Jahressteuer. 1567 betrug diese für Michael Rosenbach den Alten drei Gulden und vier Pfund. Ein Jahr später jedoch entschied der Rat, weil er vnd sein weib Inn der Spitalpfroend, gibt er von dem, so er noch vsserhalb der pfroend, vff 200 Gulden angeschlagen 1 Gulden156 . Auch wenn eine Bürgerin einen in Nördlingen lebenden Nichtbürger heiratete und dieser nicht binnen zwei Monaten ins Bürgerecht ging, wurde für ihr Vermögen die Nachsteuer fällig157 . Zur Zahlung dieser Abgabe verpflichtete sich jeder Bürger schon bei der Leistung des Steuereids158 . 1434 wurde die Nachsteuer auf zehn Prozent ermäßigt, aber bereits 1439 wieder auf 25 Prozent hochgesetzt159 . Frühestens 1486 erhob der Rat einheitlich zehn Prozent als Nachsteuer160 . Bis dahin wurde die 25prozentige und die zehnprozentige Nachsteuer offensichtlich nebeneinander erhoben, abhängig vom Zeitpunkt, an dem das betreffende Vermögen ins Bürgerrecht gekommen war. So gab 1465 Franz Strauß seinem Sohn Heinrich 200 Gulden von der hab, die im Bürgerrecht nach dem zehend pfennig liegt und zahlte deshalb nur 20 Gulden Nachsteuer. 1477 versteuerte er aber für seine Tochter in Hall 500 Gulden zu 25 Prozent; außerdem bekam sie noch 300 Gulden, die nachsteuerfrei waren161 . Mit Ulrich Beringer (II), der 1473 zunächst nur für fünf Jahre ins Bürgerrecht ging, wurde vereinbart, dass er mit siner Hab umb den zehenden Pfening ins Bürgerrecht käme, was er aber sust Hab und Gut hett, die im vierden Pfening im Burgerrecht köm, mit der sol er auch um den vierden Pfening im Burgerrecht sein162 . Die niedrigere Nachsteuer sollte für ihn also nur für das in die Stadt eingebrachte, nicht für das während der Zeit, in der er im Bürgerrecht war, erworbene Vermögen gelten. Auch andere Bürger waren erfolgreich darin, der hohen Nachsteuer zu entgehen oder sie zumindest abzumildern. Heinrich Tötter, 1411 mit 120 Gulden Jahressteuer für 7 200 Gulden Vermögen neben Heinrich Frickinger, der ebensoviel zahlte, reichster Bürger in Nördlingen, gab noch im gleichen Jahr sein Bürgerrecht auf, verglich sich aber nach Streit mit dem Rat über die Steuer insoweit, als er den größeren Teil seines Vermögens in der Stadt und damit in der Steuer ließ. 3 000 Gulden überschrieb er an seine Frau, 500 Gulden gab er seinem Almosen der 14 armen Menschen und ebensoviel der Stadt für den Straßenbau (für Wege und Stege)163 . Als Lucas Rem von Augsburg 1416 für fünf 154 Ebenda, 65, Stadtrecht C Art. 177, ca. 1405–1411. 155 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1489, fol. 15 v; Beispiele für fällige Nachsteuer bei Aufnahme ins Spital passim, z. B. fol. 16, als die Frau Balthasar Prügels ins Spital kommt. 156 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Steuerbuch 1567–69, fol. 309. 157 M ÜLLER: Stadtrechte (wie Anm. 76), 79, Stadtrecht C Art. 210, 1475 Oktober. 158 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Steuereid von 1412. 159 M ÜLLER: Stadtrechte (wie Anm. 76), 68, Stadtrecht C Art. 186, 20. Dezember 1434, mit Zusatz (Hochsetzung auf 25 %) von 1439 Januar 12. 160 Nach M ÜLLER: Stadtrechte (wie Anm. 76), 75–77, Stadtrecht C Art. 206, bereits am 29. Oktober 1482 festgelegt, in den Rechenbüchern erst später nachweisbar. 161 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1465, fol. 14 und Rechenbuch 1477 fol. 13. 162 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Bürgerbuch I, Nr. 454, 1473 April 23. 163 VOCK , W ULZ: Urkunden 1400–1435 (wie Anm. 23), 3 Nr. 1150/2, 1411 Januar 15.

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Jahre Bürger von Nördlingen wurde, vereinbarte er vorsorglich, dass weder das Heiratsgut von 1 300 Gulden, das er seiner Frau Kathrin, einer Tochter des eben erwähnten Heinrich Frickinger, zubrachte, noch das sonst von ihm in die Stadt gebrachte Vermögen der Nachsteuer unterliegen sollte, ausgenommen nur das Gut, das ihm von seiner Frau zugebracht oder vererbt würde164 . Entsprechend zahlte er 1416 für nach auswärts verkauftes Gut seiner Frau 460 Gulden und 1422 noch einmal 311 Gulden Nachsteuer165 . Selbst zur Zeit des späteren geringeren Nachsteuersatzes war der Rat gelegentlich bereit, die Nachsteuer zu ermäßigen oder ganz zu erlassen. So musste Georg Mairs Sohn Johann, Pfarrer in Faimingen bei Lauingen, 1562 von 480 Gulden nur 24 Gulden, also 5 Prozent Nachsteuer zahlen. Ein Jahr zuvor war ihm bereits die Jahressteuer von sieben(!) Jahren und Nachsteuer erlassen worden166 . Auch Magister Johannes Röttinger, Medicus zu Nordhausen in Thüringen und Sohn des gleichnamigen Ratsherrn, erhielt, als er 1565 sein Bürgerrecht aufgab, eine Ermäßigung der Nachsteuer für 600 Gulden Vermögen von 60 auf 30 Gulden167 . Sein Bruder David, der 1555 nach Bopfingen geheiratet und 100 Gulden Heiratsgut ordnungsgemäß mit zehn Gulden versteuert hatte168 , kehrte vier Jahre später nach Nördlingen und ins Bürgerrecht zurück. Die Aufnahmegebühr von 15 Gulden wurden ihm und seiner Frau in Bedenkung seines Vatters [. . . ] viljährigen Mühe und Dienst erlassen169 . Auch Barbara, Tochter des Georg Mayinger und verheiratet mit Johann Schilltberger, dem lateinischen Schulmeister in Dinkelsbühl, wurde die Nachsteuer für 200 Gulden um die Hälfte auf zehn Gulden gesenkt, ebenfalls aufgrund des Ansehens ihres Vaters170 . Als das Vermögen Gangolf Vesners nach seinem Tode 1566 aufgeteilt wurde, erhielt Gangolf Wörlin auf Fürsprache des Herzogs von Pfalz-Neuburg eine Ermäßigung der Nachsteuer auf sein Erbe von 2 000 Gulden von 200 auf 133 Gulden171 . Auch Fälle von Hinterziehung der Nachsteuer sind aktenkundig. Zu Gunsten des Münzmeisters Gregor Ainkürn, der seinen Bruder erstochen hatte und flüchtig war, gingen 1537 eine Reihe von Fürschriften beim Rat ein. Der Rat schlug sie aber mit der Begründung ab, wenn es Inen [den Fürsprechern] so laid wer gewest, alls aim rhat so hett gregorn sein gut one vernachsteuert nit hinaus gepracht. Der Rat wisse wohl, wer geholfen habe, und werde für Bestrafung sorgen172 . Die hohe Nachsteuer von 25 Prozent, die bis 1482 erhoben wurde, hatte im Übrigen wenig abschreckende Wirkung. Gerade in der Zeit ihrer Gültigkeit sind große Vermögen aus Nördlingen abgeflossen. Margreth Frickinger, eine Tochter des oben erwähnten Ratsherrn Heinrich Frickinger, heiratete 1437 in zweiter Ehe Wolf von Hoppingen und verließ die Stadt. Sie zahlte 300 Gulden Nachsteuer für 1 200 Gulden Vermögen173 . 1419

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Ebenda, Nr. 1309, 1416 Juni 25. Siehe auch oben das zu ihrer Schwester Margreth Ausgeführte. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1416, fol. 13 v und Rechenbuch 1422. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1562, fol. 238 zum 30. Juni, und Rechenbuch 1561, fol. 41. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1565, fol. 42 v. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1555, fol. 41. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1559, fol. 46 v und Bürgerbuch II, 1559 April 17. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1565, fol. 63. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1566, fol. 39. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Calculi Senatorii, fol. 86 v, 1537 Februar 21. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1437, fol. 23. Sie war in erster Ehe mit dem Ratsherrn Hans Haintzel verheiratet. 1435 hatte sie 17 Gulden Jahressteuer für das damals fünftgrößte Vermögen der Stadt gezahlt.

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zahlte Hans Ysenmanger, Bürger zu Nürnberg, 225 Gulden Nachsteuer174 vom Vermögen seines gleichnamigen Vaters, der 1411 mit 25 Gulden im Steuerrang die elfte Stelle eingenommen hatte, bei einem Vermögen von 1 500 Gulden. Hans (Johann) Lauginger (I) war 1404 nach Augsburg abgewandert, sein Bruder Narziß zahlte für ihn 1425 und 1426 insgesamt 660 Gulden Nachsteuer175 , wohl für das Erbe des 1424/25 verstorbenen gleichnamigen Vaters176 . Hans Lauginger (Vater) war in den Stichjahren 1404 und 1423 mit 44 bzw. 80 Gulden Jahressteuer jeweils reichster Bürger gewesen; 1411 lag er mit 90 Gulden Jahressteuer, die einem Vermögen von 5 400 Gulden entsprachen, an zweiter Stelle im Steuerrang. Narziß selbst blieb in Nördlingen und zahlte 1435, immer noch an zweiter Stelle im Steuerrang, 55 Gulden Steuer. 1439 war er reichster Bürger der Stadt mit 80 Gulden Jahrssteuer und blieb es auch 1441, jetzt mit 110 Gulden Jahressteuer. 1446 zahlte er sogar 140 Gulden, entsprechend einem Vermögen von 14 000 Gulden. Seine Witwe wurde gemeinsam mit ihren Söhnen veranlagt. 1449 zahlte sie 330 Gulden Jahressteuer von 33 000 Gulden Vermögen, dann heiratete sie Simon von Stetten d. Ä. und verließ die Stadt. 1452 entrichtete sie allerdings nur 480 Gulden Nachsteuer, zusätzlich aber 133 Gulden von einem Leibgeding, das ir die kind geben sullen177 . Els Lauginger, Tochter des Narziß, heiratete Dietrich von Amerbach und zahlte 1457 2 000 Gulden Nachsteuer178 , für ein Vermögen von 8 000 Gulden. Damit war die Abwanderung des Vermögens der Familie Lauginger aber noch nicht abgeschlossen. 1459 war Hans Lauginger (II), Sohn des Narziß, mit 150 Gulden Jahressteuer (15 000 Gulden Vermögen) reichster Bürger der Stadt, aber auch er war nicht gewillt zu bleiben. Seit einiger Zeit gab es Spannungen zwischen ihm und der Stadt. Am 9. November 1457 erschien er mit drei Zeugen (Simon von Stetten, Eberhard von Amerbach und Hans von Ahelfingen) vor dem Rat, um in den Besitz seines Vermögens, das bisher unter Pflegschaft gestanden hatte, eingesetzt zu werden. Hans von Ahelfingen sprach für ihn, das Im ein Rat das sein entslach, da ihm einer der Pfleger seine Pflege aufgesagt und die anderen das vff ein Rat gesetzt hatten. Der Rat verwies auf die Pfleger, worauf Hans von Ahelfingen antwortete, es wäre Ir willen und maynung, Hans Lauginger In das sein ze sitzen vnd wölt sehen wer Im das wölt weren vnd hofte auch das Im niemands das sollte weren. Der Rat antwortete ihm darauf versöhnlich: eym Rat wäre [Lauginger] lieb vnd nit wider und wölt auch gern sehen das Hans Lauginger wider einsäße und täte als eym burger zustände so wölt sich ein Rat auch widerumb gegen Im gern freundlich und underweslich halten als gen andern iren burgers ungeverlich179 . Der Rat konnte Hans Lauginger aber nicht in der Stadt halten. Noch 1459 gab er sein Bürgerrecht auf; seine Nachsteuer leistete er in Form von Gütern, Zinsen und Getreide im Wert von insgesamt rund 4 327 Gulden, das der Rat von ihm übernahm und verrechnete180 . Das entspricht einem Vermögen von 17 100 Gulden. 174 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1419, fol. 14. 175 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1425, fol. 24 und 1426, fol. 26. 176 Artikel Lauginger II. In: G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL U . A . (Hg.): Augsburger Stadtlexikon, 2. Aufl., Augsburg 1998, 601. 177 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1452, fol. 13, 1452 ca. Februar 18. 178 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1457, fol. 11 v. 179 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Ratsbüchlein 1456–1466, fol. 9 v. 180 3 750 Gulden an gütern, Zinsen und getraid; S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1459, fol. 12, und noch einmal Getreide (Kerner, Dinkel, Haber, Gerste und Roggen) im Wert von 525 Gulden 3 1/2 Groschen am 17. Januar 1460. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Ratsbüchlein 1456–1466, fol. 71.

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Wenige Jahre später wanderten mit den drei Brüdern Heinrich, Melchior und Zacharias Müller sowie ihrer Mutter Agnes, geborene Gernand, und deren Ehemann Jacob Fuchshart noch einmal Spitzenvermögen ab181 . Zacharias war bis 1459 an der Handelsgesellschaft seines Bruders Heinrich beteiligt, wurde auf dessen Wunsch aber ausbezahlt und verließ die Stadt. 1472 ist er im Dienst des Christof von Mörsperg, Burggraf auf Graz und Landschreiber in Steyr, nachweisbar182 . Sein Vermögen war im Vergleich mit seinen Brüdern bescheiden. 1459 zahlte er zehn Gulden Jahressteuer, besaß also 1 000 Gulden. Im Steuerrang stand er an 36. Stelle. Wenn er beim Verlassen der Stadt 1463 aber nur 200 Gulden Nachsteuer zahlte, also für nur 800 Gulden Vermögen183 , so muss das nicht auf Vermögensverluste deuten, wie Wulz annimmt. Es ist eher anzunehmen, dass er Mittel zur Versorgung von Frau und Kindern in der Stadt und damit in der Steuer ließ. Seine Ehe war von Spenn und Irrung belastet, seine Frau vor ihm angeblich weder ihrer Ehren, Leibs noch Guts, Tag und Nacht sicher184 . Zacharias dürfte deshalb aus privaten Gründen, auf Druck der Familie, die Stadt verlassen haben. Bei seinen Brüdern Heinrich und Melchior hingegen, die 1464 praktisch gleichzeitig nach Augsburg auswanderten, waren es zweifellos geschäftliche Gründe. Heinrich hatte außerdem kurz zuvor, 1462, seine Frau Magdalena Fuchshart verloren185 . Das mag seine Entscheidung zu einem Neuanfang an einem anderen Ort erleichtert haben. Er war wohl der älteste und auch der bedeutendste der drei Brüder. 1459 stand er im Steuerrang nach dem ebenfalls ausgewanderten Hans Lauginger an zweiter Stelle. Sein Vermögen belief sich, errechnet nach der Jahressteuer, damals auf 13 000 Gulden, kurz vor seiner Auswanderung 1463 und 1464 auf 19 500 Gulden. Seine Nachsteuer zahlte er in Raten, fünfmal zwischen Februar 1465 und November 1466 je 1 175 Gulden und einmal 550 Gulden186 . Insgesamt belief sich seine Nachsteuer also auf 6 425 Gulden, das entspricht einem Vermögen von 25 500 Gulden. Dabei handelt es sich um das höchste der damals abwandernden Vermögen. Sein Bruder Melchior stand 1459 mit 5 500 Gulden Vermögen, also weniger als der Hälfte des Vermögens seines Bruders, immerhin auf dem fünften Steuerrang. Auch er zahlte in Raten, erstmals im April 1465 575 Gulden, dann viermal 550 Gulden bis Dezember 1466187 , insgesamt also 2 775 Gulden. Das entspricht einem Vermögen von 11 100 Gulden. Er hatte es also innerhalb von fünf Jahren verdoppelt. Melchior kehrte spätestens 1470 nach Nördlingen zurück188 . Er ging aber nicht wieder ins volle Bürgerrecht. Als Pfahlbürger mit Geding zahlte er die Jahressteuer nicht nach der Höhe 181 Zur Familie Fuchshart-Müller ausführlich: G USTAV W ULZ: Die Stifter des Hochaltars bei St. Georg in Nördlingen. In: Der Daniel 8 (1972), 2–9; E LMAR D. S CHMID: Nördlingen – Die Georgskirche und St. Salvator, Stuttgart/Aalen 1977, 105, A NDREA K UGLER , M ONIKA N EBEL: Friedrich Herlin – Eine spätgotische Bilderwelt, Nördlingen 2000, 35–38. 182 W ULZ: Hochaltar (wie Anm. 181), 8 f. 183 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1463, fol. 15, 1463 September 2. 184 W ULZ: Hochaltar (wie Anm. 181), 9. 185 Sie starb am 3. Oktober 1462; S CHMID: Georgskirche (wie Anm. 181), 104. Abbildung ihres Epitaphs, gemalt von Friedrich Herlin, heute im Stadtmuseum Nördlingen, nach 112. Beschreibung ebenda 128. 186 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1464, fol. 13, 1465, fol. 14, 1466, fol. 13 v. 187 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1464, fol. 13 (1465 April 29), Rechenbuch 1465, fol. 14 (Juni 27 und November), Rechenbuch 1466, fol. 13 v. (Juni und Dezember). 188 Am 3. Dezember 1470 kauft er vom Rat ein Leibgeding für 1 000 Gulden zu 50 Gulden Zins (also 5 %), das er am 16. November 1482 wieder ablöst, wobei er die Summe nebst 77 Gulden ausstehender Zinsen zurückbekommt; S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1470, fol. 18 und 1482, fol. 61 v. Im Steuerbuch 1471 ist er mit seiner Pakt verzeichnet.

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Abbildung 4: Jacob Fuchshart und seine Familie als Stifter des Hochaltars für St. Georg (Friedrich Herlin 1462): Im Kirchenstuhl der weißhaarige Jakob d. Ä., hinter ihm sein Stiefsohn Heinrich Müller (vorne) und Sohn Jakob d. J. Ganz hinten von links: Zacharias und Melchior Müller sowie der Sohn Anthoni Fuchshart. Die gegenüber liegende Tafel (hier nicht abgebildet) zeigt die beiden Ehefrauen Jakobs Katharina (†) und Agnes verw. Gernand, sowie die Töchter Barbara und Agnes aus Fuchsharts erster Ehe. Stadtmuseum Nördlingen. Zuordnung der Personen nach S CHMID: Georgskirche (wie Anm. 181).

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seines Vermögens, sondern nach einem mit dem Rat ausgehandeltem Pakt. In seinem Falle waren es 21 1/2 Gulden. Damit kam er immer noch auf Steuerrang 5. Als er am 18. Februar 1486 starb, zahlten seine Erben laut der Pakt nur 45 Gulden Nachsteuer189 . Die Reihe der Abwanderungen großer Vermögen aus Nördlingen schließt 1467, als der Rat auch von Jacob Fuchshart, dem Stiefvater, und der Habe seiner Frau, der Mutter der Brüder Müller, Nachsteuer in Höhe von 300 Gulden einnahm190 , also von 1 200 Gulden Vermögen. Diese im Vergleich mit den Stiefsöhnen nachgerade bescheidene Summe sagt indessen nichts über Fuchsharts gesamtes Vermögen aus. Er war 1425 in die Stadt gekommen und hatte 1429 mit der Stadt als Paktbürger für zehn Jahre eine Jahressteuer von fünf Gulden vereinbart. Darüber hinaus musste er nur, wie andere Bürger auch, die liegenden Güter in der Stadt versteuern, die er bereits besaß, noch kaufen oder erben würde. Nach Ablauf dieser Frist verlängerte er seinen Pakt mit der Stadt Nördlingen auf Lebenszeit, wobei er sich beurkunden ließ, nicht mit Bürgerpflichten wie Amt und Rat belastet zu werden191 . Grundsätzlich scheint die Abwanderung aus der Stadt schlecht dokumentiert zu sein. Die Rechner selbst hatten Schwierigkeiten festzustellen, ob ein Bürger nur vorübergehend abwesend oder endgültig fortgezogen war. Es liegt auf der Hand, dass der Stadt dabei so manche fällige Nachsteuer entgangen ist. Trotzdem sei versucht, aus den Vermerken in den Steuerbüchern eine „Rangliste“ der Zielorte erstellen192 . Danach gingen Bürger mit Vermögen vorrangig nach Nürnberg193 , Augsburg194 , Dinkelsbühl195 und Ulm196 . Mindestens fünf Nördlinger Frauen heirateten in den Landadel197 , vier traten ins Kloster Zimmern ein198 , zwei in Kirchheim (1432, 1507), eine in Monheim (1451). Je zwei Bürger gingen in die Reichsstädte Heilbronn (1443, 1561), Donauwörth (1409, 1557), Rothenburg (1508, 1573), Schwäbisch Gmünd (1419, 1525) und Schwäbisch Hall (1477, 1569) sowie nach Wemding (1556, 1566). Je einmal traten (männliche) Bürger in Klöster ein, in ein ungenanntes Kloster (1418), in Erfurt (1489), bei den Karmelitern (1494), den Kartäusern (1509) und in das Stift Ellwangen (1544). Nur einmal genannte Zielorte sind im 15. Jahrhundert im Nahbereich Monheim (1451), Grönlingen (1473), und Harburg (1491), aber auch das weit entfernte Köln (1488). Im 16. Jahrhundert, als offensichtlich genauer verzeichnet wurde, waren als Zielorte im näheren Bereich Memmingen (1517), Utzmemmingen (1536), Lauingen (1551), Bopfingen (1555), die Baar (1555), Enzweiher, Mödingen und Wassertrüdingen (1566) benannt und als Fernziele Innsbruck (1502), Hildesheim (1550), Landshut (1556), Frankfurt am Main 189 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1486, fol. 12. Melchior war 86 Jahre alt. S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Denkbuch Spital, fol. 43. 190 S TADTARCHIV N ÖRDLINGEN: Rechenbuch 1467, fol. 12 v. 191 VOCK , W ULZ: Urkunden 1400–1435 (wie Anm. 23), Nr. 1739, 12. Mai 1429 und D IES .: Urkunden 1436-1449, Nr. 2072, 21. Mai 1439. Zu Jacob Fuchshart siehe zuletzt: BÁTORI: Ratsräson (wie Anm. 7), 95–97. 192 Die Angaben basieren auf Notizen in den Steuerbüchern. Ausgewertet wurden dafür alle Steuerbücher, nicht nur die der Stichjahre. 193 1419, 1451 zweimal, 1469, 1490, 1500, 1541, 1567 viermal. 194 1437, 1443, 1488, 1490, 1520 zweimal, 1555. 195 1426, 1441, 1490 zweimal, 1563, 1464. 196 1443, 1502, 1509 zweimal, 1555. 197 1416, 1437, 1490 zweimal, 1508 198 1409, 1412, 1444, 1448.

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(1558), Tübingen (1560), Nordhausen/Thüringen (1565), Stuttgart (1569) sowie einfach Österreich (1551). V.

Zusammenfassung

Es ist schwierig, für die Zeit vor Einsetzen der Kirchenbücher verlässliche Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung zu gewinnen. Für Nördlingen konnten jedoch aus den Steuerbüchern in Verbindung mit der Einwohnerzählung von 1459 belastbare Werte ermittelt werden. Demnach lassen sich Annahmen der älteren Forschung zu einem gravierenden Bevölkerungsverlust im Spätmittelalter nicht verifizieren. Vielmehr kann man, auch anhand von Aussagen in den Ratsprotokollen, feststellen, dass Bevölkerungsverluste durch Seuchen und Kriege im 15. wie im 16. Jahrhundert schnell wieder ausgeglichen wurden. Anfang des 16. Jahrhunderts hatte die Stadt ungefähr soviel Einwohner wie hundert Jahre zuvor. Erst ab dem Stichjahr 1531 nimmt die Zahl der Steuer zahlenden Bürger deutlich und kontinuierlich zu. Das steht im Gegensatz zu Beobachtungen für andere Städte und Regionen, die für einen Bevölkerungsrückgang im letzen Drittel des 16. Jahrhunderts sprechen. Die Einbürgerungspolitik des Rats war auf die Bewahrung und Entwicklung der Wirtschaftskraft der Stadt ausgerichtet. Eine Belastung des Sozialsystems der Stadt, vor allem des Spitals, sollte möglichst vermieden werden. Gleichzeitig befürchtete eine Mehrheit im Rat einen Mangel an geeigneten Arbeitskräften, so dass eine Erhöhung des zur Einbürgerung verlangten Mindestvermögens nur zögerlich in Angriff genommen wurde. Ein Vergleich von Jungbürgern, die einwanderten, mit Bürgerssöhnen – für den Daten allerdings nur für das 16. Jahrhundert zur Verfügung stehen – beweist, dass es Einwanderer schwerer hatten, eine gesicherte Existenz aufzubauen. Es spricht deshalb einiges für die These Sharlins, dass ein Kern der Stadtbevölkerung sich über Generationen halten konnte, wohingegen Einwanderer Seuchengefahren und wirtschaftlichen Risiken stärker ausgesetzt waren und deshalb oft bald wieder aus der Stadt verschwanden. Ähnlich wie die Einwanderung versuchte der Rat auch die Abwanderung zu regulieren. In Nördlingen ging es dabei besonders darum, den Abfluss großer Vermögen durch Wegzug reicher Bürger zu erschweren. Ihm sollte die Erhebung einer hohen Nachsteuer bei Aufgabe des Bürgerrechts entgegenwirken. Viel geholfen hat dies allerdings nicht. Nachweislich ging der Stadt eine hohe Zahl bedeutender Vermögen verloren, teils durch Verlegung des eigenen Wohnsitzes, teils durch die Mitgift nach außen heiratender oder in ein Kloster eintretender Töchter. Noch nicht ausreichend untersucht ist der deutliche Anstieg der Bürgerschaft in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es wäre reizvoll, dies im Vergleich mit anderen Städten zu tun. Ebenso ist Migration wohl nur städteübergreifend mit einer eingehenden Untersuchung der familiären und wirtschaftlichen Netzwerke zwischen den Städten zu verstehen.

Das Exil als Aktions- und Erfahrungsraum: Französische Revolutionsemigranten im östlichen Mitteleuropa nach 1789 von Matthias Winkler I.

Leben im Provisorium

Mit der Auswanderung aus dem revolutionären Frankreich begann für rund 150 000 Personen, die sich im Laufe der 1790er Jahre über ganz Kontinentaleuropa, Großbritannien und nach Übersee verstreuten, ein Weg ins Ungewisse1 . Unabhängig von Anlass, Zeitpunkt und Bedingungen der Auswanderung, von individuellen Motiven, der materiellen Situation des Einzelnen, seinen Erfahrungen und Zukunftserwartungen zog dieser Schritt ins Exil über kurz oder lang meist existenzielle Herausforderungen nach sich, denen sich jeder Emigrant auf seine Weise zu stellen gezwungen war. So heterogen wie die Sozialstruktur der Emigration, die Angehörige aller Stände der französischen Gesellschaft umfasste, stellte sich auch das Spektrum dieser Herausforderungen im Exil dar2 . Für die sich unmittelbar an die Auswanderung anschließenden Fragen nach Subsistenz und Unterkunft fanden Adlige und Geistliche, Soldaten und Bauern, Männer und Frauen, Vermögende und Mittellose unterschiedliche Lösungen. Gemein war diesen ihr zumeist provisorischer Charakter, bestand doch aus Sicht der Auswandernden Ziel- und Endpunkt der Emigration keineswegs in einer Integration in die Gesellschaft des jeweiligen Aufnahmelandes, sondern in der möglichst zeitnahen Rückkehr nach Frankreich. Da jedoch mit Beginn des Ersten Koalitionskrieges im Frühjahr 1792, infolge dessen die Emigrantengesetzgebung in Frankreich sukzessive verschärft wurde, mit einer absehbaren Rückkehr kaum mehr zu rechnen war, erforderten die individuell höchst unterschiedlichen Lebenslagen im Exil innovative Strategien, mithilfe derer die Emigranten fernab von Frankreich ein Auskommen zu finden hofften3 . Den Provisoriumscharakter des Exillebens verstärkte in Mitteleuropa insbesondere der Kriegsverlauf bis zum Frieden von Lunéville 1801, der die Emigranten zu erhöhter räumlicher Mobilität zwang, da sie andernfalls Gefahr liefen, in die Hände der Revolutionsarmee zu fallen. Trotz der Schwierigkeiten, denen sich die Emigranten ausgesetzt sahen – man denke an kulturell und sprachlich bedingte Interaktionsprobleme, an teils restriktive Aufenthaltsregularien oder an ihre zunehmende Mittelknappheit, die in der zeitgenössischen 1

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D ONALD G REER: The Incidence of the Emigration during the French Revolution (= Harvard Historical Monographs 24), Cambridge 1951; M ASSIMO B OFFA: Die Emigranten. In: F RANÇOIS F URET, M ONA O ZOUF (Hg.): Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 1, Frankfurt 1996, 546–564; DANIEL S CHÖNPFLUG: Französische Revolutionsflüchtlinge in Europa nach 1789 (Beispiel Deutschland). In: K LAUS J. BADE , P IETER C. E MMER , L EO L UCASSEN , J OCHEN O LTMER (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn 2010, 587–591; S YLVIE A PRILE , S TÉPHANE D UFOIX: Les mots de l’immigration, Paris 2009, 128–130. G REER: Incidence (wie Anm. 1). Zur Emigrantengesetzgebung vgl. B OFFA: Emigranten (wie Anm. 1); F RANÇOIS F URET: Zivilverfassung des Klerus. In: F URET, O ZOUF: Kritisches Wörterbuch (wie Anm. 1), Bd. 2, 944–956.

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Öffentlichkeit zu einem Signum der Revolutionsemigration avancierte4 –, eröffnete sich ihnen in der Emigration ein unbekannter Aktions- und Erfahrungsraum, ein Laboratorium, innerhalb dessen wechselnder sozialräumlicher Konstellationen sie ihr Exilleben meistern mussten5 . Anhand zweier Fallbeispiele soll im vorliegenden Aufsatz dieses Laboratorium aus regionalhistorischer Perspektive beleuchtet werden. Fokussierten Forschungsbeiträge zur Revolutionsemigration in Kontinentaleuropa bisher häufig auf Anrainer Frankreichs, soll nunmehr der Blick in östliche Teile Mitteleuropas erweitert werden6 . Zwar wurden in der Vergangenheit für einzelne Regionen im Osten des Heiligen Römischen Reiches Studien zu den französischen Emigranten erarbeitet, doch liegen bisher nur wenige Erkenntnisse über Territorien wie Mecklenburg, Sachsen, Böhmen und die übrigen Provinzen der Habsburgermonarchie innerhalb des Reichsverbands vor7 . Trotz zahlreicher Hinweise 4

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Zur zeitgenössischen Öffentlichkeit siehe einführend E RICH S CHNEIDER: Revolutionserlebnis und Frankreichbild zur Zeit des ersten Koalitionskriegs (1792–1795). In: Francia 8 (1980), 277–394, hier: 299–305, sowie H ARRO Z IMMERMANN: Die Emigranten der französischen Revolution in der deutschen Erzählliteratur und Publizistik um 1800. In: Francia 12 (1984), 305–354. Eine besonders emigrantenkritische Haltung bei G EORG F RIEDRICH R EBMANN: Die französischen Emigranten in Deutschland und die deportierten Priester bei ihrer Wiederaufnahme in Frankreich. In: H EDWIG VOEGT, W ERNER G REILING , W OLFGANG R ITSCHEL (Hg.): Georg Friedrich Rebmann. Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 3, Berlin 1990, 94–107. Übersehen werden angesichts der superlativischen Negativrhetorik prorevolutionärer Kreise die eher maßvollen Stimmen, die das Schicksal der Emigranten als bedauernswert und mitleidswürdig beschrieben und zu praktischer Solidarität aufriefen, etwa F RANZ F ELIX H OFSTÄTTER: Die französischen Emigrirten. In: F RANZ F ELIX H OFSTÄTTER , L ORENZ H ASCHKA (Hg.): Magazin der Kunst und Litteratur 3 (1793), 255–259. F RIEDEMANN P ESTEL: Kosmopoliten wider Willen. Die „monarchiens“ als Revolutionsemigranten (= Pariser Historische Studien 104), Berlin 2015, 19–25. Konzise Überblicke zur Forschungsgeschichte bei T HOMAS H ÖPEL: Emigranten der Französischen Revolution in Preußen 1789–1806. Eine Studie in vergleichender Perspektive (= Deutsch-Französische Kulturbibliothek 17), Leipzig 2000, 14–42; F RIEDEMANN P ESTEL: Weimar als Exil. Erfahrungsräume französischer Revolutionsemigranten 1792–1803 (= Deutsch-Französische Kulturbibliothek 28), Leipzig 2009, 19–26; M ATTHIAS W INKLER: Die Emigranten der Französischen Revolution in Hochstift und Diözese Bamberg (= Bamberger Historische Studien 5/Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 13), Bamberg 2010, 19–22. Für Preußen östlich der Oder, Südpreußen, Schlesien sowie Ansbach-Bayreuth vgl. H ÖPEL: Emigranten in Preußen (wie Anm. 6), 167–205. Für die Stände des fränkischen und bayerischen Reichskreises vgl. W ILHELM W ÜHR: Die Emigranten der Französischen Revolution im bayerischen und fränkischen Kreis mit einem Verzeichnis aller im Gebiet des rechtsrheinischen Bayerns festgestellten Emigranten (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 27), Aalen 1974 [Reprint der Ausgabe München 1938]; für das Erzstift Salzburg gesondert W ILHELM W ÜHR: Emigranten der französischen Revolution im Erzstift Salzburg. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 79 (1939), 33–64; für Österreich vgl. M ARIA PAWLIK: Emigranten der Französischen Revolution in Österreich (1789–1814). In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 77 (1969), 78–127; W ILLIAM D. G ODSEY: ‚La société était au fond légitimiste‘: Émigrés, Aristocracy, and the Court at Vienna, 1789–1848. In: European History Quarterly 35/1 (2005), 63–95; Z DENKA S TOKLÁSKOVÁ : Cizincem na Moravˇe. Zakonodarstvi a praxe pro cizince na Moravˇe 1750–1867 [Fremd in Mähren. Ausländergesetzgebung und -behandlung in Mähren] (= Knižnice Matice Moravské 22), Brünn 2007 [mit deutscher Zusammenfassung]; für Triest die Fallstudie von A MANDINE FAUCHON: Réseaux familiaux et construction identitaire d’une noblesse d’épée: l’exemple de l’émigré Albert-François de Moré. In: P HILIPPE B OURDIN (Hg.): Les noblesses françaises dans l’Europe de la Révolution (= Actes du colloque international de Vizille, 10–12 septembre 2008), Rennes 2010, 397–412; F RIEDRICH S CHEMBOR: Franzosen in Wien: Einwanderer und Besatzer. Französische Revolution und napoleonische Besatzung in den österreichischen Polizeiakten, Bochum 2012. Hinzu kommt eine Fülle lokalhistorischer Klein- und Kleinststudien, die selten über faktografische Kurzbiogramme hinausgehen, vgl. etwa B ENEDIKT P ITSCHMANN: Bischof Mérinville von Dijon

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auf lokale Kristallisationspunkte der Emigration in weiter östlich gelegenen Regionen ist die Forschungslage für das Königreich Ungarn, Polen bis 1795 bzw. Galizien und die anderen Teilungsgebiete sogar noch lückenhafter8 . Die wenigen Beiträge sowie die reiche Memoirenliteratur legen gleichwohl nahe, dass vor dem Hintergrund der Koalitionskriege nördlich und südlich der Alpen sowie der Unvorhersehbarkeit einer Rückkehroption Mitte der 1790er Jahre dieses „Europe in between“, das in unserem Verständnis die Kernländer der Habsburgermonarchie mit einschließt und das am Ende des 18. Jahrhunderts tief greifenden Umgestaltungen ausgesetzt war, zu einem vergleichsweise sicheren Hafen für Revolutionsemigranten avancierte, allen administrativen Restriktionen und alltagspraktischen Schwierigkeiten zum Trotz9 . Wie viele Emigranten sich zwischen einer gedachten Linie Hamburg–München–Venedig auf der einen und der Westgrenze Russlands auf der anderen Seite bewegten, ist auf Grundlage bisheriger Forschungen nicht seriös zu bestimmen10 . Anders als für den Westen des

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in Kremsmünster. In: Jahrbuch des Musealvereins Wels 16 (1969/70), 113–120. H ÖPEL berücksichtigt in seiner Studien zu Preußen zwar das Kurfürstentum Sachsen, doch ergibt sich daraus kein plastisches Bild, DERS .: Emigranten in Preußen (wie Anm. 6), 206–209, 300–308. Eine Ausnahme bildet das kurländische Mitau (lv. Jelgava), wo Ludwig XVIII. nach 1798 auf Einladung Zar Pauls I. seinen Exilhof einrichtete. 1799 heiratete dort die Tochter Ludwigs XVI., Marie-Thérèse, genannt Madame Royale, ihren Cousin, den Herzog von Angoulême, Louis-Antoine de Bourbon, vgl. E RWIN O BERLÄNDER: Königliches Intermezzo in Kurland: Ludwig XVIII. in Mitau und Blankenfeld. In: N ORBERT A NGERMANN , M ICHAEL G ARLEFF , W ILHELM L ENZ (Hg.): Ostseeprovinzen, Baltische Staaten und das Nationale (Festschrift für Gert von Pistohlkors zum 70. Geburtstag), Münster 2005, 165–184; ferner A NNE S OMMERLAT: L’élément national dans les descriptions de Mitau autour de 1800. In: Revue Germanique Internationale 11 (2010), URL: http://rgi.revues.org/301 (21. November 2014), bes. Kapitel III: Les émigrés français à Mitau: rencontres et perceptions réciproques. AUGUSTE C OMTE D E L A F ERRONAYS: En Émigration. Souvernirs (1777–1814), Paris 1900; H IPPOLYTE D ’E SPINCHAL : Souvenirs Militaires 1792–1814, Paris 1901; C ASIMIR S TRYIENSKI (Hg.): Die Memoiren der Gräfin Potocka 1794–1820, 2 Bde., Leipzig 1899/1900; N ICOLAS A LAIDON: Journal d’un prêtre lorrain pendant la Révolution (1791–1799), Paris 1912; ROSALIE R ZEWUSKA: Mémoires de la Comtesse Rosalie Rzewuska (1788–1865), 2 Bde., Rom 1939; M ARC -M ARIE DE B OMBELLES: Journal, bisher 8 Bde., Genf 1977–2013; É LISABETH V IGÉE L E B RUN: Souvenirs 1755–1842, Paris 2008; jüngere Studien mit Bezug zu Ostmitteleuropa sind etwa E MMANUEL DE WARESQUIEL: Le Duc de Richelieu, 1766–1822. Un sentimental en politique, Paris 1990; F RÉDÉRIC D ’AGAY: A European Destiny: the Armée de Condé, 1792–1801. In: K IRSTY C ARPENTER , P HILIP M ANSEL (Hg.): The French Emigrés in Europe and the Struggle Against Revolution, 1789–1814, London 1999, 28–42; H ÖPEL: Emigranten in Preußen (wie Anm. 6), 167–188. R EMY C HAMOUSSET: Les émigrés français en Russie 1789–1815, Grenoble 2011, URL: http://dumas.ccsd.cnrs.fr/dumas-00625408 (1. Dezember 2014). Den in den Studien vergangener Jahrzehnte festgestellten Schwierigkeiten, die quantitative Dimension der Emigration zu erfassen, wurde oft mit einer Wiederholung bereits in älteren Beiträgen genannten Zahlenmaterials begegnet, v. a. aus G REER: Incidence (wie Anm. 1). Da Zahlen gerade für das Grenzgebiet zu Frankreich aufgrund der starken Fluktuation kaum mehr als Momentaufnahmen, Schätzungen oder unkritische Übernahmen von Angaben aus zeitgenössischen Quellen darstellen und die demographische Forschung zu den Emigranten wegen des weit verstreuten Materials und einer Reihe methodischer Einschränkungen nur kleine Fortschritte gemacht hat, lassen sich nur mit großer Vorsicht Aussagen über die quantitative Verteilung der Emigranten in Kontinentaleuropa machen. Dies gilt sowohl für das hier betrachtete östliche Mitteleuropa im Allgemeinen als auch für die Habsburgermonarchie im Besonderen. Belastbare Zahlen haben vor allem jüngere Regionalstudien erbracht, vgl. M ARTIN B URKHARDT: Konstanz im 18. Jahrhundert. Materielle Lebensbedingungen einer landstädtischen Bevölkerung am Ende der vorindustriellen Gesellschaft (= Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 36), Sigmaringen 1997, hier: 72–74; H ÖPEL: Emigranten in Preußen (wie Anm. 6), passim; K ATHARINE A ASLESTAD: Place and Politics: Local Identity, Civic Culture, and German Nationalism in North Germany During the Revolutionary Era, Leiden 2005, 131; B ERNWARD K RÖGER: Der französische Exilklerus im Fürstbistum Münster (1794–1802) (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 203), Mainz 2005,

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Reiches mit seinen zeitweiligen Agglomerationszentren von Emigranten entlang des Rheins stellt sich ihr Verteilungsmuster im östlichen Mitteleuropa als stark dezentralisiert dar11 . Mit Blick auf die sozialen Strukturen und die enorme Ausdehnung muss der ländliche Charakter dieses Rückzugsraumes mit teils wenig verdichteter Herrschaft bzw. im Wandel begriffener Staatlichkeit berücksichtigt werden. Trotz dokumentierter Ansammlungen Dutzender Emigranten in urbanen Zentren wie Warschau, Krakau, Prag, Brünn, Graz und Triest erschwert dies eine an normativen Quellen orientierte Untersuchung12 . Neben der schriftlichen Überlieferung staatlicher und kirchlicher Provenienz können insbesondere öffentliche Diskursformate, etwa Zeitungen, sowie die Memoirenliteratur Hinweise auf Präsenzräume der Emigranten im östlichen Europa liefern, wenngleich mithilfe dieser Quellen häufig nur die Soziabilitätsmuster adliger Emigranten nachvollzogen werden können: So lassen sich beispielsweise die Schlösser Ła´ncut in Westgalizien, Johannesberg (cz. Jánský Vrch) in Österreichisch-Schlesien und Windisch-Feistritz (slv. Slovenska Bistrica) in der Untersteiermark als Aufenthaltsorte prominenter Emigranten identifizieren13 . Abgesehen von solchen exklusiven Sammelpunkten sorgt die hohe Mobilität der Emigranten für Erfassungsschwierigkeiten14 . Obgleich aus diesen Gründen die quantitative Dimension der Revolutionsemigration im hier betrachteten Raumgefüge vorerst unbestimmbar bleibt, ist aufgrund der punktuellen

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133–172; A STRID K ÜNTZEL: Fremde in Köln. Integration und Ausgrenzung zwischen 1750 und 1814, Paderborn 2008, 89–96; M AIKE M ANSKE: Möglichkeiten und Grenzen des Kulturtransfers. Emigranten der Französischen Revolution in Hamburg, Bremen und Lübeck, Saarbrücken 2008; P ESTEL, Weimar als Exil (wie Anm. 6), 73–100; W INKLER: Emigranten (wie Anm. 6), 86–100; F RIEDEMANN P ESTEL: Revolution im Deutungsstreit. Deutsch-französische Perspektiven auf die Emigranten am Beispiel der kurmainzischen Gebiete Thüringens 1794/1795. In: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 64 (2010), 215–244. Die Emigrantenkolonie in Koblenz 1789–1792 gehört zu den bekanntesten Sammlungsorten, vgl. C HRIS TIAN H ENKE: Coblentz: Symbol für die Gegenrevolution. Die französische Emigration nach Koblenz und Kurtrier 1789–1792 und die politische Diskussion des revolutionären Frankreichs 1791–1794 (= Beihefte der Francia 47), Stuttgart 2000. Zu Warschau: H ÖPEL: Emigranten in Preußen (wie Anm. 6), 188. Zu Krakau: Österreichisches Staatsarchiv Wien (ÖStA)/Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), Staatskanzlei (StK), Notenwechsel mit der Polizeihofstelle (1790–1800), Karton 21, Konvolut 1795–1800, fol. 184–234: Verzeichnis der mit höchster Bewilligung sich in Krakau aufhaltenden französischen Emigranten und Italiener; nach alphabetischer Ordnung, 12. Juli 1799. Zu Prag: ebenda, fol. 134–159: Verzeichnis Sämtlicher hier Landes und Ortes eingewanderten eingebohrenen Franzosen, Schweitzer und Niederländer (mit dem 1ten Jänner 1794 bis letzten Aug 1798), 16. September 1798. Zu Brünn: ebenda, fol. 118–121: Verzeichnis der in Brünn befindlichen französischen Emigranten, 30. Mai 1798. Zu Graz: ÖStA/Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Polizeihofstelle (PHSt) 1806/577, Liste der Emigranten in Graz. Zu Triest: ÖStA/HHStA, StK, Provinzen Küstenland 2, Korrespondenz der Staatskanzlei mit Triestiner Behörden 1797–1821, fol. 240–245: Verzeichnis der französischen Emigranten in Triest, 16. April 1798. Zu Ła´ncut vgl. L A F ERRONAYS: En Émigration (wie Anm. 9), 86 f.; S TRYIENSKI: Memoiren der Gräfin Potocka (wie Anm. 9), Bd. 1, 49 f.; zu Windisch-Feistritz vgl. L A F ERRONAYS: En Émigration (wie Anm. 9), 105. In Johannesberg, einer Residenz der Breslauer Fürstbischöfe, hielt sich 1799 unter anderen der Erzbischof von Cambrai, Ferdinand von Rohan (1738–1813), auf. Es ist darauf hinzuweisen, dass die von G REER in seiner Gesamtstatistik der Emigration ermittelten Zahlen, wonach Angehörige des Dritten Standes die Mehrheit der Revolutionsflüchtlinge gebildet hätten, insofern missverständlich sind, als nach der Befundlage jüngerer Regionalstudien sich die Emigration je östlicher desto sozial elitärer darstellt, d. h. mit zunehmender geographischer Distanz von Frankreich hauptsächlich Adlige und Geistliche umfasste. Dennoch gilt es zu beachten, dass im hier betrachteten Raum neben vielen einfachen Geistlichen auch eine erkleckliche Zahl Angehöriger des Dritten Standes (diese mehrheitlich als Domestiken der Adligen, aber nicht ausschließlich!) als Emigranten im Verwaltungsschriftgut belegt sind, freilich oft nur summarisch und anonym.

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Quellendokumentation davon auszugehen, dass Emigranten etwa ab 1792 in vielen regionalen Kontexten Ostmitteleuropas präsent waren. Sie können somit als ein lebensweltlich relevantes Phänomen konzeptionalisiert werden, mit dem die einheimische Bevölkerung in Berührung kam. Aus dieser Konstellation heraus entwickelten sich im Laufe der 1790er Jahre mitunter komplexe Beziehungsgeflechte und Interaktionsspektren, deren Ausmaß und Qualität bis dato jedoch kaum zu ermessen ist. Im Unterschied zu Regionen mit vergleichsweise dichterer Präsenz nimmt dieser Aufsatz zum Raum Ostmitteleuropa die Revolutionsemigranten mit einem akteurszentrierten Untersuchungsdesign in den Fokus und lotet ihre Handlungs- und Interaktionsspielräume in den wechselnden Exilkontexten aus. Die lokalen Mikroumwelten wiesen spezifische sozialräumliche Merkmale auf, die von Ort zu Ort mitunter beträchtlich variieren konnten, für die Emigranten und ihr Alltagshandeln aber einen basalen Aktions- und Orientierungsrahmen darstellten. Innerhalb dieses Rahmens eröffneten sich Gelegenheiten, über die reine Subsistenzsicherung hinaus bestimmte Fähigkeiten und Kulturtechniken, die sie beherrschten oder im Exil erlernten, zu entfalten, um sich auf diese Weise ein Kooperationsnetzwerk zu errichten, einer Berufstätigkeit nachzugehen, die sozialen und kulturellen Profile ihrer neuen Lebenswelten kennen zu lernen und ihre Deutungen der Revolution und der Zeitumstände zu popularisieren. Wie anhand der zwei Fallbeispiele nachvollzogen werden soll, konnte das Exil so zu einem Ort des Austausches, der Wissensproduktion und der Innovation werden. Dennoch erschöpft sich dieser regionalhistorisch konfigurierte Ansatz nicht in der Rekonstruktion individueller Emigrationswege in Form kurzer Biogramme. Vielmehr wird eine transregionale Kontexte und Netzwerke berücksichtigende Mikroperspektive angestrebt, die die Revolutionsemigration in ihrer sozialen und räumlichen Varianz als grenzüberschreitendes Phänomen im europäischen Gesamtzusammenhang begreift, innerhalb dessen die Region Ostmitteleuropa allerdings bisher nur unzureichend verortet worden ist. II.

Regionale Aktionsräume und Wissenstransfer: Der Abbé Gérard Gley als Grenzgänger zwischen Frankreich, Deutschland und Polen

Die wechselnden Rahmenbedingungen des unintendiert langen Exils erforderten Anpassungsbereitschaft und Improvisation. Jene Emigranten, die nicht über ausreichende materielle Ressourcen verfügten, standen unter starkem wirtschaftlichen Druck, da zu den Aufnahmeklauseln der Exilstaaten oftmals der Nachweis der Subsistenzfähigkeit gehörte15 . Mitunter prekärer Lebensbedingungen zum Trotz konnten sich im Exil allerdings 15

Zu den Aufnahmebedingungen im Heiligen Römischen Reich einführend J OACHIM BAHLCKE: Zwischen offener Zurückweisung und praktischer Solidarität. Vom Umgang mit französischen Revolutionsemigranten in Deutschland während des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In: J OACHIM BAHLCKE , R AINER L ENG , P ETER S CHOLZ (Hg.): Migration als soziale Herausforderung. Historische Formen solidarischen Handelns von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011, 255–272; zu Preußen vgl. H ÖPEL: Emigranten in Preußen (wie Anm. 6), 55–84; zur Habsburgermonarchie vgl. PAWLIK: Emigranten in Österreich (wie Anm. 7), 98–122; zu Russland vgl. L UDMILLA P IMENOVA: Die Emigranten der Französischen Revolution und ihr kultureller Einfluß auf die russische Gesellschaft. In: T HOMAS H ÖPEL , K ATHARINA M IDDELL (Hg.): Refugiés und Emigrés. Migration zwischen Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert (= Comparativ 7, Heft 5/6), Leipzig 1997, 144–157; S ERGUEY KOROTKOV: La transformation sociale de la

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Möglichkeiten eröffnen, unterschiedliche Bewältigungsstrategien für die einschneidende Krisenerfahrung der Auswanderung und die Lebenssituation im Ausland zu erproben, die in der Konsequenz nicht nur zur Verbesserung der individuellen ökonomischen Situation beitragen, sondern auch neue Interaktions- und Erfahrungsräume erschließen konnten. Der Fall des Elsässer Priesters Gérard Gley aus Gérardmer, der im April 1791 wegen seiner Ablehnung der Zivilverfassung des Klerus aus Frankreich emigrierte, ist in der Vergangenheit mehrfach zum Gegenstand biographisch orientierter Untersuchungen gemacht worden, zeichnete sich dessen 22-jähriges Exil bis 1813 doch durch ein äußerst vielseitiges Tätigkeitsprofil aus, das sich nicht zuletzt aufgrund der vergleichsweise umfangreichen Überlieferung für eine vertiefte Betrachtung empfahl. In jüngerer Vergangenheit sind etwa die journalistischen Aktivitäten und sprachdidaktischen Publikationen Gleys während seines mehr als zwölfjährigen Aufenthalts im Fürstbistum Bamberg beleuchtet worden16 . Mit seinen rastlosen Beschäftigungen als Französischlehrer, Sprachforscher, Journalist, Verleger, Händler, Übersetzer, Ethnograph und Historiker figuriert Gley, „eine Persönlichkeit von beträchtlichem intellektuellen Format“17 , in diesen Studien nicht nur als beinahe idealtypischer Exponent katholisch-aufgeklärter Gelehrsamkeit, sondern vor allem als Mittler im französisch-deutschen Kulturtransfer in der Revolutionsepoche18 . Obwohl viele Einzelheiten seines Exillebens noch im Dunkeln liegen, lässt der gegenwärtige Kenntnisstand eine mehr als nur schematische Beschreibung seiner Emigrationszeit zu. Für einen nicht-adligen Emigranten, der weder Tagebuch noch Memoiren hinterließ, ist dies keineswegs selbstverständlich. So sind nicht nur die drei Hauptstationen seines Exils, Köln (1791–1793), Bamberg (1794–1806) und Łowicz (1807–1813),

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colonie française à Saint-Pétersbourg à l’époque de la Révolution française. In: DANIEL S CHÖNPFLUG , J ÜRGEN VOSS (Hg.): Révolutionnaires et Émigrés. Transfer und Migration zwischen Frankreich und Deutschland 1789–1806 (= Beihefte der Francia 56), Ostfildern 2002, 235–242. Freilich ist in Rechnung zu stellen, dass keineswegs alle Emigranten den ab 1792 vorgeschriebenen bürokratischen Verfahrensweg einhielten und die geforderten Dokumente beibrachten, sondern sich oft ohne Kenntnis der jeweiligen Landesherrschaft in deren Hoheitsräumen aufhielten. Zur Exilbiographie Gleys vgl. H ANS J OACHIM B ERBIG: Das kaiserliche Hochstift Bamberg und das Heilige Römische Reich vom Westfälischen Frieden bis zur Säkularisation (Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit 5/6), Wiesbaden 1976, Bd. 2, 409–411; KONRAD S CHRÖDER (Hg.): Biographisches und bibliographisches Lexikon der Fremdsprachenlehrer des deutschsprachigen Raumes, Spätmittelalter bis 1800, Bd. 5: Nachträge und Ergänzungen, Buchstaben A bis K, Augsburg 1996, 386– 388; G EORG S EIDERER: Formen der Aufklärung in fränkischen Städten. Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich, München 1997, 64, 479–483; K ARL K LAUS WALTHER: Buch und Leser in Bamberg 1750– 1850. Zur Geschichte der Verlage, Buchhandlungen, Druckereien, Lesegesellschaften und Leihbibliotheken, Wiesbaden 1999, 28 f., 103 f., 191; B ERNHARD S PÖRLEIN: Die ältere Universität Bamberg (1648–1803), Studien zur Institutionen- und Sozialgeschichte (= Spektrum Kulturwissenschaften 7), Bd. 2, Berlin 2004, 882 f., 1318–1320; P HILIPPE A LEXANDRE: De Gérardmer aux Invalides, en passant par l’Allemagne et la Pologne. Ou comment l’Empire a marqué le destin de Gérard Gley (1761–1830), prêtre émigré vosgien. In: J EAN -PAUL ROTHIOT, J EAN -P IERRE H USSON (Hg.): L’Empire dans les Vosges et à Plombières (Actes des journées d’études vosgiennes. Plombières-les-Bains, 25 et 26 septembre 2004), Plombières-les-Bains 2005, 297–320; W INKLER: Emigranten in Bamberg (wie Anm. 6), 120–132; M ARK H ÄBERLEIN: eine schöne, klingende, und heute zu Tag unentbehrliche Sprache: Fremdsprachen und Kulturtransfer in Bamberg im Zeitalter der Aufklärung. In: D ERS . (Hg.): Bamberg im Zeitalter der Aufklärung und der Koalitionskriege (Bamberger Historische Studien 12/Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 19), Bamberg 2014, 71–131, hier: 104–107, 120–126. H ÄBERLEIN: Fremdsprachen in Bamberg (wie Anm. 16), 131. Ebenda.

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bekannt19 . Auch seine Aktivitäten an diesen Orten sind zum Teil erforscht worden. Exemplarisch zu nennen sind die Untersuchungen zu der von Gley begründeten Bamberger Zeitung und deren feuilletonistischer Beilage, dem Charon, der Georg Seiderer in seiner vergleichenden Studie aufgeklärter Öffentlichkeit in Franken eine herausgehobene Rolle in der regionalen Publizistik zuschreibt20 . Trotz der in diesen Studien zum Ausdruck kommenden Würdigung von Gleys Ingeniösität auf publizistischem Gebiet ist dessen Exilbiographie bisher nur unzureichend in den Kontext des „Laboratoriums Emigration“ gestellt und sein Profil als Grenzgänger zwischen Frankreich, Deutschland und Polen vor dem Hintergrund der Umbrüche in der Revolutions- und Napoleonischen Epoche nur partiell in seiner produktiven Konsequenz erkannt worden21 . Die soziokulturell denkbar unterschiedlichen Lebenswelten in Deutschland und Polen erforderten praktische Inkulturationsbereitschaft mit adäquaten Verhaltensweisen und begünstigten somit die Entwicklung einer gewissermaßen „ethnographischen“ Perspektive und Deutungskompetenz, mit der Gley die an den Exilorten vorfindlichen sozialen Strukturen und kulturellen Profile decodieren und intellektuell erschließen konnte. In dieser Perspektive vereinigte sich der philomathische Impuls der Aufklärung mit – im besten Sinne – kreativem Dilettantismus zu einer die bestehenden und im Exil erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse integrierenden Wissensproduktion. Wissenssoziologisch lässt sich Gleys Methode als vornehmlich kompilatorisch-dokumentarisch sowie vor dem Hintergrund seines Migrationsverlaufes als lebensweltlich-phänomenologisch orientiert charakterisieren22 . Der geographische und berufliche Grenzgänger Gley fand in seiner Emigrationszeit jene Rahmenbedingungen vor, die ihn zur Erschließung neuer Tätigkeitsfelder und Aktionsräume geradezu antrieben und deren intellektuellen Ertrag er in der Folgezeit, vor allem nach seiner Rückkehr nach Frankreich, schriftstellerisch in Form von Reiseberichten und Beiträgen zur Philosophie, (Sprach-)Geschichte und Landeskunde avant la lettre in Wert zu setzen vermochte. Die für diese Wissensproduktion maßgeblichen Ermöglichungsbedingungen an den Exilorten Gleys lassen sich aus regionalhistorischem Blickwinkel untersuchen. Obwohl er 19

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Die Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg (BNU) besitzt eine Quellensammlung, in der zahlreiche Dokumente zu Gleys Leben für ein nie vollendetes Projekt einer Biographie über den Elsässer Priester zusammengetragen wurden: P HILIPPE A LEXANDRE (Hg.): Abbé Gérard Gley (1761–1830). Notes, documents et correspondance, rassemblés par l’Abbé Charles Chapelier, Nancy 2005 [künftig nur: A LEXANDRE /C HAPELIER: Quellensammlung]. Über die Anfangsphase des Exils ist nur wenig bekannt, u. a. erhielt Gley am 30. Juli 1791 in Köln das Celebret, vgl. A LEXANDRE /C HAPELIER: Quellensammlung (wie Anm. 19), 23. S EIDERER: Formen der Aufklärung (wie Anm. 16), 479–483, 542. Das Werkverzeichnis G ÉRARD G LEYS umfasst: Grammaire françoise de Wailly. Abrégée, traduit et appliquée aux meilleurs Auteurs François et Allemands, à l’Usage des Colléges [sic!] et des Universités/ Französische Sprachlehre von Wailly, kurzgefaßt, und übersetzet, mit Anwendung auf die besten französischen und deutschen Schriftsteller, Bamberg 1797; Nouveau dictionnaire de poche allemand françois et françois allemand, Bamberg 1806; Notices sur le monument littéraire le plus ancien que l’on connoisse dans la langue des Francs, Bamberg 1806; Histoire de Pologne, Warschau(?) 1813; Langue et littérature des anciens Francs, Paris 1814; Voyage en Allemagne et en Pologne, 2 Bde., Paris 1816 [ndl. Übersetzung: Reis door Duitschland en Polen, in de jaren 1806 tot 1813, Dordrecht 1816]; Essai sur les éléments de la philosophie, Paris 1817; Philosophiae Turonensis institutiones, ad usum collegiorum et seminariorum, Paris 1822–23; Doctrine de l’Église de France sur l’autorité des souverains pontifes et sur celle du pouvoir temporel, conforme à l’enseignement de l’Église catholique, Paris 1827. H UBERT K NOBLAUCH: Phänomenologisch fundierte Wissenssoziologie. In: R AINER S CHÜTZEICHEL (Hg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, 118–126.

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wie viele Geistliche, die Frankreich in gleicher Intention verlassen hatten, zunächst die aus seinem Stand und seiner Ausbildung herrührenden Kernkompetenzen, d. h. Unterrichten und liturgische Verrichtungen, für seine Lebenshaltung im Exil in Anschlag bringen und als Hauslehrer bei verschiedenen Reichsritterfamilien in Köln und Mainz sein Auskommen finden konnte, testete er nach seiner Ankunft in der fürstbischöflichen Residenzstadt Bamberg, die sich durch eine kleinteilige, aber vielseitige kulturelle Sphäre auszeichnete, neue Betätigungen aus, die zum Teil weit über die bloße Subsistenzsicherung hinausgingen, wohl aber in unmittelbarem Bezug zu den soziokulturellen Texturen seiner neuen lokalen Lebenswelt standen23 . Anders als von einigen Zeitgenossen wortreich propagiert, stellten die geistlichen Fürstentümer im Alten Reich am Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs politisch und kulturell rückständige Anachronismen dar, deren Säkularisierung aufgrund ihres Unvermögens zur „Modernisierung“ als unausweichlich erscheinen musste24 . Wie zuletzt Heinrich Lang ausgeführt hat, lassen sich im Fürstbistum Bamberg reformerische Strömungen im Geiste der katholischen Aufklärung identifizieren, deren einheimische Vertreter Impulse zur Einrichtung von Schulen und Krankeninstituten gaben und auch im Bereich der Rechtssetzung, theologischen Forschung, Armenfürsorge und politischen Publizistik Akzente setzten25 . In diesem intellektuellen Kosmos fand ein vielfältig interessierter Geistlicher wie Gley zügig Anschluss an gelehrte Kreise. Insbesondere mit Adalbert Friedrich Marcus, Leibarzt Fürstbischof Franz Ludwig von Erthals (1779–1795) und Gründungsdirektor des Bamberger Allgemeinen Krankenhauses, entspann sich über Gleys ganze Aufenthaltszeit ein kontinuierlicher Austausch26 . Auch zum Gründer des Bamberger Theaters, Julius von Soden, der durch nationalökonomische Schriften bekannt wurde, pflegte Gley ein enges Verhältnis und konnte ihn gar als Mitarbeiter des Charon gewinnen27 . Über dieses Beziehungsgeflecht hinaus lud die lokale Infrastruktur von (Leih-)Bibliotheken zum Quellenstudium ein28 . Diese Praxis betrieb Gley zeit seines Exils mit bemerkenswerter Ausdauer. Die daraus resultierenden Notizen bildeten die Grundlage für seine späteren Abhandlungen. Im Rahmen seiner anscheinend ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken gewidmeten Forschungen in der Bamberger Dombibliothek entdeckte Gley 1794 die Heliand-Handschrift und bemühte sich jahrelang, von einigen veröffentlichten Textproben abgesehen, vergeblich um deren Edition29 . Mehr Erfolg hatte er mit der Herausgabe der Bamberger Zeitung und dem Charon, die er ab 1795 23

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Ein Literaturüberblick zum Bamberg des 18. Jahrhunderts bei K ERSTIN K ECH: Hochstift und Stadt Bamberg zwischen 1648 und dem Ende des Alten Reiches. Ein Forschungsüberblick. In: M ARK H ÄBERLEIN , K ERSTIN K ECH , J OHANNES S TAUDENMAIER (Hg.): Bamberg in der Frühen Neuzeit. Neue Beiträge zur Geschichte von Stadt und Hochstift (= Bamberger Historische Studien 1), Bamberg 2008, 33–48. So z. B. F RIEDRICH N ICOLAI: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, 12 Bde., Berlin, Stettin 1783–1796. H EINRICH L ANG: Das Fürstbistum Bamberg zwischen Katholischer Aufklärung und aufgeklärten Reformen. In: H ÄBERLEIN (Hg.): Bamberg im Zeitalter der Aufklärung (wie Anm. 16), 11–70. AUGUST H IRSCH: Adalbert Friedrich Marcus. In: Allgemeine Deutsche Biographie 20 (1884), 306 f.; L ANG: Bamberg zwischen Aufklärung und Reformen (wie Anm. 25), 40 f. WALTHER: Buch und Leser (wie Anm. 16), 29. Zu nennen sind z. B. die Dombibliothek sowie die Leihbibliothek Lachmüller; vgl. WALTHER: Buch und Leser (wie Anm. 16), 159. G LEY: Notices sur le monument littéraire (wie Anm. 21); W ÜHR: Emigranten in Franken und Bayern (wie Anm. 7), 203; W INKLER: Emigranten in Bamberg (wie Anm. 6), 122.

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als periodische Publikationsorgane von hoher Qualität etablieren konnte. Die galligen Auseinandersetzungen mit dem Herausgeber der Bayreuther Deutsche[n] Reichs- und Staatszeitung, Simson Alexander David alias Karl Julius Lange, im Jahr 1798 belegen, dass die Bamberger Zeitung über das lokale Umfeld hinaus rezipiert wurde30 . Auch das Emigrationsschicksal ihres Herausgebers war bekannt und wurde als in revolutionsaffinen Kreisen etabliertes Negativstereotyp propagandistisch ausgeschlachtet. Die schnell wachsenden Abonnentenzahlen der Bamberger Zeitung dokumentieren hingegen die Innovationsfähigkeit des Emigranten Gley, der kurz nach seiner Ankunft in Bamberg bestehende Angebotslücken auf publizistischem Gebiet identifizieren und die offenbar vorhandenen Nachfragepotenziale abschöpfen konnte31 . Gleiches gilt für ein zweites Feld seiner Publikationsprojekte, die Herausgabe einer Neuedition der französischen Lehrgrammatik von Wailly und eines deutsch-französischen Wörterbuches32 . Auch hierbei ließ sich Gley offenkundig von eigenen Erfahrungen nach seiner Berufung zum Sprachlehrer an die Bamberger Universität, also im konkreten Umgang mit Französisch lernenden Schülern, leiten und inspirieren33 . Er beließ es nicht bei dem Eintreiben eines Unterrichtshonorars – Sprachunterricht war für viele französische Emigranten oft die einzige Einnahmequelle –, sondern glaubte mit volksaufklärerischem Impetus an die Möglichkeit einer systematischen Verbesserung der Sprachvermittlung34 . Einen in der Vermittlung von literarischen Erzeugnissen aus Frankreich ausgewiesenen Verleger fand Gley in der Bamberger Firma Göbhardt, die seit mehreren Jahrzehnten deutsche Editionen französischer Originale veröffentlichte und nun auch die Ausarbeitungen des französischen Revolutionsemigranten Gley herausgab35 . Gleichwohl blieben Gleys regionale Handlungsräume nicht auf publizistische Akzentsetzung und pädagogische Leidenschaft beschränkt. Die Revolution holte Gley in Form der französischen Armee auch in seinem Exil ein, als diese 1796 und 1800/01 das Fürstbistum Bamberg besetzte36 . Anders als viele Revolutionsemigranten überall auf dem Kriegsschauplatz Europa flüchtete er nicht vor der heranrückenden Front, sondern bewies in dieser schwierigen Lage diplomatisches Fingerspitzengefühl und führte im Namen von Stadt und Fürstbischof mit den französischen Besatzern Verhandlungen37 . Zum Dank für diesen nicht risikolosen Einsatz wurde ihm 1800 das Bamberger Bürgerrecht verliehen38 . Obwohl einige Vorhaben, denen sich Gley in seiner Bamberger Zeit verschrieb, misslangen – eine mit Julius von Soden anfangs erfolgreich betriebene Weinhandlung musste 30 31 32 33 34 35 36

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P ETER J UNGBLUT: Ein verteufeltes Leben. Simson Alexander David – Karriere eines Feindbilds, Berlin 2012, 162 f. E LISABETH PAPP: Die Anfänge der Presse in Bamberg (bis zur Säkularisation), Würzburg 1940; W INKLER: Emigranten in Bamberg (wie Anm. 6), 123–126. G LEY: Grammaire françoise (wie Anm. 21); Nouveau dictionnaire (wie Anm. 21); H ÄBERLEIN: Fremdsprachen in Bamberg (wie Anm. 16), 120–126. H ÄBERLEIN: Fremdsprachen in Bamberg (wie Anm. 16), 121, 124 f. Gley bemühte sich in diesem Sinne auch um Fördergelder für die Fremdsprachenausbildung begabter Schüler, vgl. W INKLER: Emigranten in Bamberg (wie Anm. 6), 130. WALTHER: Buch und Leser (wie Anm. 16), 147–149. Bei Göbhardt erschienen die Sprachlehre, das Wörterbuch und Auszüge aus dem Heliand. M ATTHIAS W INKLER: Noth, Thränen und Excesse aller Art. Bamberg in der Epoche der Koalitionskriege, 1792–1815. In: H ÄBERLEIN (Hg.): Bamberg im Zeitalter der Aufklärung (wie Anm. 16), 271–347, hier: 283–307. B ERBIG: Hochstift Bamberg, Bd. 2 (wie Anm. 16), 409–411. H ÄBERLEIN: Fremdsprachen in Bamberg (wie Anm. 16), 107.

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1804 schließen – oder auf Widerstände stießen – etwa Gleys Druckerei, derer sich seine Konkurrenten zu entledigen trachteten –, lassen sich seine Initiativen auf verschiedenen, häufig öffentlichen Feldern als Manifestation eines durch permanente Konfrontation mit seiner soziokulturellen Umwelt im Exil stimulierten Ideenreichtums und einer schier unstillbaren Neugier begreifen. In beidem gründete Gleys schöpferisches Tun. In dieser beachtlichen Wandlungs- und Innovationsfähigkeit des Emigranten Gley zeigt sich beispielhaft, dass die in der älteren Forschung vertretene Deutung, nach welcher es den französischen Emigranten im Exil entweder um konterrevolutionären Aktionismus oder um passives Ausharren bis zur Rückkehr nach Frankreich gegangen sei, zu kurz greift39 . Stattdessen ist die Emigration als aktive Bewältigung einer Krisensituation zu verstehen, die individuell und von Ort zu Ort höchst unterschiedliche, aber durchaus innovative Tätigkeiten und Problemlösungen nötig und möglich machte. Im Falle Gleys wird seine Ankunft in Bamberg gar zu einer Peripetie, in Folge derer er sich auf seinem Emigrationsweg, der bis dato in für Angehörige seines Standes „gewöhnlichen“ Bahnen verlaufen war, aufgrund der Auffächerung seiner Aktionsfelder und der Akkumulation von Kenntnissen neue Handlungsoptionen eröffnete; und dies obwohl aufgrund der volatilen Exilbedingungen und der politischen „Großwetterlage“ keine Planungssicherheit für ihn und seine Projekte bestand. Bis hierhin lässt sich die Agency Gleys geradezu „klassisch“ im Sinne des Konzeptes vom Kulturtransfer ausdeuten, in welchem der Emigrant als Mittler fungierte40 . Doch erschöpft sich Gleys Bedeutung nicht in dieser Rolle. Mit seinen im Anschluss an die Rückkehr veröffentlichten Werken fand er ein Mittel, seine aus der Anschauung vor Ort resultierenden Beobachtungen und Erfahrungen aus der Exilzeit zu popularisieren und auf diesem Weg die gelehrte Öffentlichkeit in Frankreich über die von ihm als erwähnenswert erachteten Kulturphänomene jener Regionen, die er im Verlauf der Emigration kennengelernt hatte, aus erster Hand in Kenntnis zu setzen. Damit rücken nun die Rückkopplungen seiner Mittlerschaft, der Wissenstransfer aus dem Exil nach Frankreich, in den Fokus. Eine herausragende Bedeutung maß Gley der zeitgenössischen Philosophie bei41 . In seinem Essai sur les éléments de la Philosophie (1817) berichtet er, schon bald nach seiner Ankunft in Deutschland mit den Lehren Kants konfrontiert worden zu sein. Bemerkenswert ist die von Gley vorgenommene Verräumlichung des Einflusses dieser nouvelle école: Wollte er in den Österreichischen Niederlanden, in Holland und am Niederrhein, wo man [l]’Art Critique Kants für ein venin dangereux hielt, Anfang der 1790er Jahre noch ein Festhalten an der kartesianischen Tradition beobachtet haben, sei bereits in Bonn und Mainz die Ausstrahlungskraft der kantischen Philosophie auffällig gewesen42 . Berlin und Königsberg bildeten in seiner Interpretation die zwei Epizentren dieses kantischen 39 40 41

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H ÖPEL: Emigranten in Preußen (wie Anm. 6), 14–22. M ICHAEL N ORTH (Hg.): Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln u. a. 2009. Je me trouvai jeté dans une position bien éloignée de mon état de mes goûts et de mes habitudes. Les devoirs que j’avais à remplir demandaient beaucoup de soin; ils exigeaient que j’étudiasse la langue et l’histoire des peuples parmi lesquels je vivais. Quand je le pouvais, je revenais à la Philosophie, vgl. G LEY: Essai (wie Anm. 21), 158. Ebenda, 16–22. Kartesianismus pourrait [. . . ] contenir l’esprit humain dans ses déréglements, sei la vie de l’homme trop courte, pour pouvoir atteindre les nouvelles méthodes [i. e. Kant] dans leurs tours et détours, vgl. ebenda, 18, 20.

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Empire43 . Zwar vertiefte sich Gley in seiner Bamberger Zeit in die Kritik der reinen Vernunft, doch erschienen ihm andere Spielarten des deutschen Idealismus offenbar eingängiger44 . Wohl auf Vermittlung von Marcus traf Gley im Herbst 1800 mit August Wilhelm Schlegel und Schelling zusammen. Letzterer hielt bei einem mehrmonatigen Aufenthalt in Bamberg eine Reihe von Privatissima zu seiner Naturphilosophie ab, an denen neben anderen Gelehrten wahrscheinlich auch Gley teilnahm45 . Aus den Darlegungen Schellings, insbesondere zum Begriff des „Absoluten“ bzw. des „absoluten Ichs“, zitiert Gley in seinem Essai eklektisch46 . Noch vor Victor Cousins Pariser Schelling-Studien konnte er dem französischen Publikum so zumindest einige Einblicke in diese in Frankreich noch kaum rezipierte philosophische Strömung vermitteln47 . Auch ließ Gley es sich nicht nehmen, einen anderen Stern am Philosophenhimmel persönlich in Augenschein zu nehmen. Anlässlich der Antrittsvorlesung Fichtes reiste er 1805 ins nahe Erlangen und unterzog dessen Darbietung einer durchaus wohlwollenden Kritik, kam ihm Fichte doch weniger als Schüler Kants denn vielmehr in der Tradition Bossuets und Fénelons stehend vor48 . Angetan hatte es ihm vor allem Fichtes Bestimmung des Menschen (1800), da diese nach Gleys Deutung in dem Glauben an ein vie à venir kulminierte49 . Dies zeigt zum einen, dass Gleys Bewertungsparameter der zeitgenössischen Philosophie in erster Linie an einem Festhalten an der überlieferten Religion orientiert blieben. Glaubte er in manchen Lehren impiété und systèmes anti-religieux auszumachen, brandmarkte er dies mit unverhohlener Abneigung. Zum anderen tritt trotz seines weit ausgreifenden Interesses die Erfahrung kultureller bzw. diskursiver Differenz deutlich hervor, denn für Gley blieb die französische Philosophie des 17. Jahrhunderts geradezu unumstößlicher Ausgangspunkt und Maßstab für die Evaluierung all dessen, was in der deutschen res publica literaria um 1800 kontrovers diskutiert wurde. Sein Entdeckergeist trieb Gley dazu, auch längere Reisen zu unternehmen. Im Mai und Juni 1802 hielt er sich in Sachsen auf50 . Dort betrieb er landeskundliche Studien, widmete sich den kulturellen Höhepunkten Dresdens, der Geschichte des Kurfürstentums und erkundete bei zahlreichen Landpartien die Naturräume des Elbtales bis hinauf zur Feste Königstein51 . Aus der retrospektiven Darstellung geht hervor, dass ihm durch die 43 44 45

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Ebenda, 163 f. Ebenda, 22. Gley irrt bei seiner Datierung des Treffens, das er in das Jahr 1801 „verlegt“. Der Besuch Schlegels und Schellings in Bamberg ist inzwischen gut rekonstruiert, vgl. W ULF S EGEBRECHT (Hg.): Romantische Liebe und romantischer Tod: Über den Bamberger Aufenthalt von Caroline Schlegel, Auguste Böhmer, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Wilhelm Schelling im Jahre 1800 (= Fußnoten zur Literatur 48), Bamberg 2000. Immerhin unterhielt Gley zu Schelling so gute Kontakte, dass er diesen 1813 auf dem Rückweg von Polen nach Frankreich in München besuchte, vgl. G LEY: Essai (wie Anm. 21), 138. Ebenda, 106–138. Zur Schelling-Rezeption in Frankreich überblicksartig X AVIER T ILLIETTE: Schelling. Biographie, Paris 1999, 399 f. Tilliette erwähnt Gley nicht. Zu Victor Cousin vgl. M ICHEL E SPAGNE: Le nouveau langage. Introduction de la Philosophie Allemande en France de 1815 à 1830. In: J EAN M OES , J EAN -M ARIE VALENTIN (Hg.): De Lessing à Heine. Un siècle de relations littéraires et intellectuelles entre la France et l’Allemagne (= Actes du Colloque tenu à Pont-à-Mousson), Paris 1985, 263–276. G LEY: Essai (wie Anm. 21), 154. Ebenda, 156. Im Jahr 1801 wurde Gley die Konzession für die Herausgabe der Bamberger Zeitung entzogen, vgl. W INKLER: Emigranten in Bamberg (wie Anm. 6), 129. G LEY: Voyage (wie Anm. 21), Bd. 1, 77–108.

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Präsenz vor Ort die engen Beziehungen Sachsens zu Polen vor Augen getreten seien52 . Zwar konnte Gley zum Zeitpunkt seiner Reise nicht ahnen, dass ihn sein weiterer Weg nach Polen führen sollte, doch dürfte spätestens mit der Visite in Dresden das östliche Mitteleuropa auf seiner mental map präsent geworden sein. Gleys nouvelle carrière begann mit der Ankunft des französischen Marschalls Davout in Bamberg unmittelbar vor Beginn des Krieges gegen Preußen 180653 . Nach Gleys Angaben verpflichtete ihn dieser aufgrund seiner deutschen Sprachkenntnisse als Dolmetscher für den anstehenden Feldzug54 . Obwohl ihm der Abschied aus Bamberg schwerfiel, nutzte Gley die Gelegenheit, um Orte und Gebräuche jener Regionen kennen zu lernen, durch die er als teilnehmender Beobachter im Tross der Armee zog. Beschreibungen Leipzigs, Wittenbergs, Berlins und Potsdams garnierte er mit historischen Aperçus und Betrachtungen über die öffentliche Meinung in Preußen angesichts dessen demütigender Niederlage55 . In Berlin erlebte Gley auch den Einzug Napoleons56 . Mit der Verleihung der ehemaligen preußischen Krondomäne Łowicz an Davout nach dem Frieden von Tilsit 1807 und der Einsetzung Gleys als deren Verwalter begann für den Elsässer Priester die letzte Phase seines Exils, in der er auch unter veränderten Bedingungen emsig seinen intellektuellen Interessen nachging57 . Über die mit der Verwaltung einhergehenden Aufgaben war Gley zwar nicht nur glücklich – [d]ans cette position, si éloignée de mes goût et de mes habitudes, chargé d’une administration dont les détails se compliquaient de jour en jour davantage par la difficulté des circonstances, j’ai dû commettre de fautes, et j’en ai commises –, doch gehörte hierzu immerhin auch die Inspektionstätigkeit für das Schulwesen: Cette attribution convenait à mes habitudes; je vouai un vif attachement, et je donnai des soins particuliers aux écoles primaires: le gouvernement polonais m’en a témoigner publiquement sa satisfaction58 . Daneben blieb genügend Zeit, sich der Geschichte und Sprache Polens zu widmen59 . Das Verhältnis Gleys zu Davout war merklich verbessert, hatte dieser in seinem secrétaire-interprète doch einen unermüdlichen Forschergeist erkannt, den er sich nutzbar zu machen gedachte. So beauftragte ihn der Marschall mit Untersuchungen zu Kopernikus, für die Gley eine Reihe von Städten in Ostpreußen bereiste60 . Zudem ermöglichte ihm Davout, innerhalb weniger Jahre viele Regionen Polens, das Gley in seinen Darstellungen mit emphatischen Sympathiebekundungen bedenkt, kennen zu lernen61 . Begegnungen und Gespräche mit Einheimischen gibt Gley darin in Form langer, faktengesättigter Monologe in wörtlicher Rede wieder. Neben historischen Kompilationen, etwa zur Ethnogenese der 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

Ebenda, 97–100. Ebenda, Introduction. A LEXANDRE: Gérard Gley (wie Anm. 16), 301. Gley selbst weist darauf hin, erst unter Druck den Wünschen des Marschalls nachgegeben zu haben. G LEY: Voyage (wie Anm. 21), Bd. 1, 12–62; zur Leipziger Universität und der Bedeutung der Lehren Leibniz’ und Wolffs vgl. G LEY: Essai (wie Anm. 21), 158–163. G LEY: Voyage (wie Anm. 21), Bd. 1, 49. A LEXANDRE /C HAPELIER: Quellensammlung (wie Anm. 19), 26 f. G LEY: Voyage (wie Anm. 21), Bd. 2, 119 f. Ebenda, 120 f. Les moments que ne réclamaient point mes devoirs, étaient donnés à la langue et à l’histoire du pays. G LEY: Essai (wie Anm. 21), 164. Pendant un séjour de sept années, j’ai visité, à différentes époques et dans toutes les directions, la plupart des provinces de la Pologne [. . . ], G LEY: Voyage (wie Anm. 21), Bd. 1, 121 f.

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Slawen und zu den frühen polnischen Dynastien, zeigt Gley auch für landesspezifische Besonderheiten und nützliche Institutionen Interesse. So erläutert er beispielsweise anlässlich seines Besuches in Posen die Funktionsweise der preußischen Feuerversicherung62 . Regen Kontakt unterhielt Gley mit gelehrten Zirkeln im nur knapp hundert Kilometer von Łowicz entfernten Warschau. Die ihm nach seiner Rückkehr nach Frankreich angetragenen Mitgliedschaften in der Société Philomathique de Varsovie und der Société Royale des Amis des Sciences de Varsovie zeugen von seiner Vernetzung vor Ort und der Anerkennung, die ihm seitens der einheimischen Koryphäen und Mäzene entgegen gebracht wurde63 . Kurz vor Beendigung des 5. Koalitionskrieges reiste Gley über Krakau nach Wien. Während er in der alten polnischen Residenzstadt ausführlich in der Bibliothek und der Universität forschte und mit prominenten Persönlichkeiten wie General Dabrowski ˛ und Józef Antoni Poniatowski (1763–1813), dem Neffen des letzten polnischen Königs und kurzzeitigen Ministerpräsidenten des Herzogtums Warschau, zusammentraf, ergab sich im Zuge seines mehrwöchigen Aufenthalts in Wien ein Austausch mit dem Oberpräfekten der Hofbibliothek, Graf Ossoli´nski, in dessen privater Bibliothek (un des choses curieuses que l’on doit voir visitant Vienne64 ) Gley sich der damals größten Sammlung altslawischer Literatur widmen und seine sprachwissenschaftlichen Studien, die ihn bereits in Bamberg beschäftigt hatten, fortsetzen konnte. So nimmt es nicht wunder, dass Gleys erste Veröffentlichung nach seiner Rückkehr ein sprach- und literaturwissenschaftliches Werk war, das auch im deutschen Sprachraum anerkennende Aufnahme fand65 . Die Umsetzung einer großen Histoire de Pologne, die Gley 1813 in einem Prospekt ankündigte und an der er bis zu seinem Tod 1830 arbeitete, gelang hingegen nicht66 . Intensiv hatte Gley in Polen die Schriften Bischof Adam Naruszewicz’ (1733–1796) studiert, an dessen „Geschichte des polnischen Volkes“ (Historia narodu polskiego, 1780– 1786) entlang er seine auf mehrere Bände angelegte Darstellung zu entfalten plante67 . Zu diesem Zweck hatte er noch kurz vor seinem Weggang aus Polen Einblick in den Nachlass Naruszewicz’ in Warschau genommen. Das ausführlichste Zeugnis von seinem Exilverlauf legte Gley schließlich in den beiden Bänden der Voyage en Allemagne et en Pologne (1816) ab, die in aggregierender Weise seine gewonnenen Erkenntnisse bündelten und zusammen mit den philologischen und philosophischen Veröffentlichungen seinen Ruf als Gelehrter im Frankreich der Restauration begründeten. Aufgrund seiner Spezialkenntnisse fand Gley bald nach seiner Rückkehr Zugang zu den Expertenkreisen der Zeit. Dies wird nirgends deutlicher als bei seiner jahrelangen Mitarbeit an einem kulturellen Großprojekt, der Biographie universelle ancienne et mo62 63 64 65 66

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G LEY: Voyage (wie Anm. 21), Bd. 2, 108 f. A LEXANDRE: Gérard Gley (wie Anm. 16), 318. G LEY: Essai (wie Anm. 21), 170. G LEY: Langue et littérature des Francs (wie Anm. 21). Rezensiert in Allgemeine Literatur-Zeitung 25, Februar 1815, Sp. 193–196. G LEY: Histoire de Pologne (wie Anm. 21). Das Manuskript blieb Fragment und befindet sich in der Pariser Bibliotèque nationale, Catalogue général des manuscrits français par Henri Omont. Nouvelles acquisitions françaises. I, n° 1–3060, Paris, 1899, N° 1735–1738: „Histoire de la Pologne [. . . ] d’après l’ouvrage de Naruszewicz, par l’abbé G. Gley“ (1812). XIXe siècle, papier, 293 feuillets, 346 pages, 411 et 263 feuillets, 215 sur 172 mm. Demi-reliure. G LEY: Histoire de Pologne (wie Anm. 21), 7.

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derne68 . Als Spezialist für Deutschland und l’Europe du Nord, d. h. Polen und Russland, verfasste er Beiträge zu bedeutenden Persönlichkeiten, in erster Linie Gelehrten, Künstlern, Geistlichen sowie dynastisch prominenten Personen der deutschen, polnischen und russischen Geschichte. Ab dem 19. Band firmierte er unter den regulären Autoren. Zehren konnte Gley von seiner viele Bände umfassenden Privatbibliothek, die er aus Polen mitgebracht hatte, sowie seinen Forschungen in den Bibliotheken Bambergs, Dresdens, Krakaus, Wiens und anderer Städte Mitteleuropas. Das vor Ort erworbene Detailwissen ließ er großzügig in seine Ausführungen einfließen. Reichten seine Kenntnisse nicht aus oder bedurfte es zusätzlicher Quellen, konnte er auf das in der Exilzeit etablierte Kontaktnetz zurückgreifen. Für den Artikel über Józef Antoni Poniatowski wandte er sich an ses amis in Warschau, die ihn mit weiterführenden Informationen zu dessen Biographie versorgten69 . Sein ausführliches Biogramm über Adam Naruszewicz erreichte die Herausgeber allerdings zu spät, sodass nur ein kurzer Artikel über diesen premier savant de la Pologne, so Gley, aus anderer Feder Eingang in die Biographie fand70 . Stets um sprachliche und phonetische Akkuratesse bemüht, schlug Gley dem Herausgeber vor, in der alphabetischen Ordnung der Biographie-Bände zwischen den Buchstaben „V“ und „W“ zu differenzieren, da [t]ous les peuples du Nord mettent une distinction essentielle entre les deux lettres, et ils leur donnent un son tout différent. Le V simple se prononce comme notre F, et le W double comme notre V simple. Ainsi, dans le Nord, si on lisait Vladimir ou Vladislas, on pronconcerai Fladimir ou Fladislas71 . Die Beiträge zur Biographie exemplifizieren, wie Gley seine Emigrationszeit produktiv zu nutzen im Stande war. Aus dem Erfahrungsraum seines Exils, den dortigen Lebenswelten, seinen intensiven Studien und Begegnungen vermochte er Expertenwissen zu generieren, aufgrund dessen er in den elitären Gelehrtenkreisen Frankreichs Ansehen und Anerkennung erlangte72 . Sein Fall zeigt, dass das Exil für Gley zum kulturelle, sprachliche, geographische und berufliche Grenzen überschreitenden Experimentierfeld für seine Interessen und Fähigkeiten wurde, zu einem Ort der Wissensproduktion. Unmittelbar nach seiner Rückkehr erreichte er über das Scharnier der Öffentlichkeit, dass diese Kenntnisse in seinem Heimatland Verbreitung finden konnten und Gley somit zu einem einflussreichen Mittler im Wissenstransfer zwischen dem östlichen Mitteleuropa und Frankreich machten.

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L OUIS G ABRIEL M ICHAUD (Hg.): Biographie universelle, ancienne et moderne ou histoire, par ordre alphabétique, de la vie publique et privée de tous les hommes qui se sont fait remarquer par leurs écrits, leurs actions, leurs talents, leurs vertus ou leurs crimes, 64 Bde., Paris 1810–1838. A LEXANDRE /C HAPELIER: Quellensammlung (wie Anm. 19), 73. Ebenda, 72. Ebenda, 82. Auch kirchliche Ehrungen folgten: Ernennung zum Ehrendomherr in Gap 1826, geplante Ernennung zum Ehrendomherr in Namur 1828, vgl. A LEXANDRE /C HAPELIER: Quellensammlung (wie Anm. 19), 100, 106 f.

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III.

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Exil, Netzwerk und Integration: Ein Emigrantenunternehmen in Ostgalizien

In den Bemerkungen auf einer Reise von der türkischen Grenze über die Bukowina durch Ost- und Westgalizien, Schlesien und Mähren nach Wien berichtet Joseph Rohrer (1769–1828), Verwaltungsbeamter in Lemberg, von den Eindrücken, die er auf einer knapp fünfmonatigen Reise zwischen November 1802 und April 1803 auf dem Weg von Suczawa (rum. Suceava) bis in die Residenzstadt des Kaisers gesammelt hatte73 . Rohrer war in Folge der Dritten Polnischen Teilung in die Hauptstadt Ostgaliziens übergesiedelt, frönte neben der beruflichen Tätigkeit seiner Reiselust und betätigte sich schriftstellerisch auf dem Gebiet der Landeskunde74 . Auf seiner Reiseroute durchquerte Rohrer auch Ostgalizien. Er erging sich in Betrachtungen über Industrie und Gewerbe in dieser ansonsten landwirtschaftlich geprägten Region, bedauerte die geringe Anzahl von Manufakturen, identifizierte aber auch Entwicklungspotenziale, beispielsweise einen verstärkten Export lokal erzeugter Waren in das Osmanische und das Russische Reich. Für besonders erwähnenswert hielt er eine neue Tuchfabrik in Zalosce (ukr. Zal zc ), einer kleinen Siedlung rund 90 Kilometer östlich von Lemberg, die nach seinen Worten von einem gewissen Direktor Schmidt geleitet wurde und Tuchweber aus Schlesien beschäftigte. Sollte es gelingen, weitere qualifizierte Arbeiter anzuwerben, so Rohrer, könne diese Fabrik in der Grenzregion durchaus unfehlbare Aufnahme finden75 . Aus den Berichten Rohrers lassen sich charakteristische Eigenschaften der Provinz Galizien um 1800 herauslesen, die für jede Beschäftigung mit der historischen Entwicklung dieser Region nach der österreichischen Inbesitznahme unverzichtbar sind. Doch verbirgt sich hinter den landeskundlichen Detailinformationen auch eine unverhoffte Perspektive auf die französische Revolutionsemigration in dieser peripheren Region Ostmitteleuropas. Die von Rohrer erwähnte Fabrik ging nämlich nicht auf die Initiative des nicht weiter bekannten Direktors Schmidt, sondern auf den Unternehmergeist zweier französischer Revolutionsemigranten zurück, die 1799 den Versuch gewagt hatten, sich in diesem östlichsten Winkel der Habsburgermonarchie gewerblich zu betätigen und eine Manufaktur zu gründen. Ausgehend von dieser Unternehmung können anhand ihrer Exilbiographien die Aktivitäten und Netzwerke von Revolutionsemigranten in einer Region ausgelotet werden, die in der Emigranten-Forschung bisher unberücksichtigt geblieben ist. Zudem bietet ihr Fall Einblicke in die Verwaltungspraxis in der Habsburgermonarchie, die sich in den 1790er Jahren mit einer wachsenden Zahl von Emigranten konfrontiert sah76 . Pierre Mongin und Joseph Doschot77 hatten zum Zeitpunkt ihres unternehmerischen Engagements bereits eine siebenjährige „Emigrationskarriere“ hinter sich, die sie aus ihrer Heimat in der Franche-Comté über die Schweiz, Prag, Krakau und Lemberg schließlich nach Zalosce geführt hatte. Zum ersten Mal in der Habsburgermonarchie nachweisbar ist 73 74

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J OSEPH ROHRER: Bemerkungen auf einer Reise von der türkischen Grenze über die Bukowina durch Ostund Westgalizien, Schlesien und Mähren nach Wien, Wien 1804. K ARL H UGELMANN: Joseph Rohrer. In: Allgemeine Deutsche Biographie 29 (1889), 64–68. Rohrer veröffentlichte viele Aufsätze in Liechtensterns Archiv für Geographie und Statistik, etwa einen sich über mehrere Ausgaben erstreckenden Versuch über die Bewohner der österreichischen Monarchie (1803). ROHRER: Bemerkungen (wie Anm. 73), 203 f. Den Ausgangspunkt bildet das überlieferte Verwaltungsschriftgut im ÖStA. Insbesondere das AVA, das u. a. die Überlieferung der PHSt verwahrt, erlitt durch den Justizpalastbrand im Juli 1927 erhebliche Verluste. In der französischen Urform Magnin Tochot.

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Doschot im Jahr 1797 in einer Krakauer Fremdenliste78 . Aktenkundig ist dort ein Joseph Magnin Deschot, von Beruf Feldmesser, gebürtig zu Besançon, 1792 aus Frankreich ausgewandert und nach einigen Jahren im schweizerischen Neuchâtel inzwischen auf dem Landgut des Grafen Feliks Łubie´nski zu Zago´sc´ in Westgalizien als Hofmeister und Lehrer der gräflichen Kinder beschäftigt. Da er sich in Krakau nicht auszuweisen vermochte, wurde von der örtlichen Polizeidirektion eine Untersuchung angestrengt, die ergab, dass Łubie´nski drei weiteren französischen Emigranten auf seinem entlegenen Gut Unterschlupf gewährt hatte. Der westgalizische Gouverneur Johann Wenzel von Margelik sah sich daher genötigt, die Polizeihofstelle in Wien, die in Emigrantengegenständen seit 1793 eine Steuerungsrolle für die Gesamtmonarchie ausübte, über den Fall in Kenntnis zu setzen79 . Doschot war laut Margeliks Bericht mit einem Pferdegespann vom Gut Łubie´nskis nach Krakau gekommen, um hier verschiedene Sachen einzukaufen, und eine phisikalische Maschine verfertigen zu lassen80 . Nachdem aufgefallen war, dass Doschot gegen nahezu alle in der Monarchie geltenden Direktivregeln über den Umgang mit Emigranten verstoßen hatte – er besaß keine formelle Aufenthaltsgenehmigung, ferner war Emigranten der Aufenthalt auf dem Land und die Unterrichtstätigkeit untersagt –, ließ man ihn zwar nach Zago´sc´ zurückkehren, doch wurde das Kreisamt Kielce, in dessen Distrikt das gräfliche Landgut lag, beauftragt, sicherzustellen, dass Doschot binnen vierzehn Tagen das Land verließe. Der Umstand, dass die seit Anfang 1793 verfochtenen Umgangsregeln für Emigranten nach wie vor unzureichend auf der Ebene der Kreise befolgt wurden, trug dazu bei, dass die Polizeihofstelle Ausnahmen jedweder Art eine Absage erteilte und kurzerhand die Ausweisung der vier Emigranten dekretierte81 . Die Emigrationsgeschichte Doschots hätte an diesem Punkt zumindest für die Habsburgermonarchie beendet sein können, wäre er – wie andere französische Revolutionsemigranten auch – über die nächstliegende Grenze ins Ausland instradirt worden. Dass dies nicht geschah, zeigt eine Anfrage der Wiener Hofkammer bei Polizeiminister Johann Anton von Pergen (1725–1814) anderthalb Jahre nach dem Aufgreifen Doschots in Krakau, in welcher nun auch der zweite Gründer der von Rohrer erwähnten Tuchfabrik, Pierre Mongin, ins Spiel kommt. Mongin, ebenfalls aus der Franche-Comté, hatte sich bei einem Aufenthalt in Wien an Finanzminister Graf Saurau mit der Bitte gewandt, in der Nähe von Lemberg eine Tuchfabrik eröffnen zu dürfen82 . Mongin war wie Doschot im Jahr 1792 aus Frankreich ausgewandert und über die Schweiz und Schwaben zunächst nach Warschau und später nach Wien gelangt. Als Berufsbezeichnung gab Mongin Tuchfabrikant an; unter seinen 78

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ÖStA/HHStA, StK, Notenwechsel mit der Polizeihofstelle (1790–1800), Karton 21, Konvolut 1795– 1800, fol. 184–234: Verzeichnis der mit höchster Bewilligung sich in Krakau aufhaltenden französischen Emigranten und Italiener, 12. Juli 1799. Zur Polizeihofstelle generell A NNA H. B ENNA: Organisierung und Personalstand der Polizeihofstelle (1793–1848). In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 6 (1953), 197–239; zu ihrer Fremdenpolitik S CHEMBOR: Franzosen in Wien (wie Anm. 7), 16–31, 88–95, 111–113; H ANNELORE B URGER: Passwesen und Staatsbürgerschaft. In: WALTRAUD H EINDL -L ANGER , E DITH S AURER (Hg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, Wien 2000, 3–172. ÖStA/AVA, PHSt 1797/246, Schreiben Gouverneur Margeliks an Polizeiminister Pergen, 9. Mai 1797. ÖStA/AVA, PHSt 1797/246, Schreiben Polizeiminister Pergens an Gouverneur Margelik, 16. Mai 1797. ÖStA/HHStA, StK, Notenwechsel mit der Polizeihofstelle 21: Verzeichnis der Emigranten in Krakau.

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Mitreisenden befanden sich unter anderem ein Leinenweber und ein Tuchmacher. Da sich im Sommer 1798 nach Briefwechseln mit der Wiener Polizei und dem ostgalizischen Landespräsidium keine Genehmigung für das Unternehmen abzeichnete, reiste Mongin nach Lemberg, um dort die Entscheidung der zuständigen Stellen abzuwarten. Ob sich Mongin und Doschot bereits aus ihrer Heimat kannten oder erst im Laufe ihres Emigrationsweges Bekanntschaft machten, ist unbekannt. Sicher ist aber, dass Mongin seinen Landsmann in die Fabrikpläne einweihte und beide fortan gemeinsame Sache machten, wie ein Schreiben des inzwischen auch in Lemberg befindlichen Doschot an die Hofkammer vom September 1798 bezeugt. Diese informierte die Polizeihofstelle über dessen Vorschlag, eine Tuchfabrik im Schloss von Tarnowitz (pl. Tarnowiec) in Ostgalizien einrichten und dafür 30 bis 40 ausländische Gehilfen einstellen zu wollen83 . Für die Hofkammer war dieses unternehmerische Engagement offenkundig so willkommen, dass man das Gubernium in Lemberg anzuweisen bereit war, Doschot das leer stehende Schloss unentgeltlich als Produktionsstandort zu überlassen. Der Polizeiminister wurde lediglich befragt, ob er die Anstellung so vieler Fremder unter Aufsichtsaspekten als problematisch ansehen würde. Trotz des Anspruchs, eine lückenlose Kontrolle aller Fremden in der Monarchie zu gewährleisten, zeigt die Behandlung des Falles durch den Polizeiminister, dass sich angesichts zahlloser französischer Emigranten in den Erbstaaten Fehler in die polizeiliche Praxis eingeschlichen hatten84 . Aufgrund einer Verschreibung des Namens (Mougin Toschot) wurde der Petent nicht mit jenem Doschot der Krakauer Ereignisse von 1797 identifiziert, dessen Außerlandesschaffung angeordnet worden war85 . Man beließ es lediglich bei der Auflage, Namen und Herkunft der ausländischen Arbeiter festzustellen, was angesichts des noch keine vier Jahre zurückliegenden Ko´sciuszko-Aufstands kaum überrascht: Diese Vorsicht ist um so unumgänglicher als in gegenwärtiger kritischen Lage bey Aufnahme ausgewanderter Franzosen und Schweitzer vorzüglich in Galizien die größte Behutsamkeit gebraucht werden muss, so Pergen86 . Dass die Fabrik in Tarnowiec jemals den Betrieb aufnahm, ist im Hinblick auf die weitere Entwicklung unwahrscheinlich, denn eine neue Tür öffnete sich für die Unternehmung. In Lemberg hatten Doschot und Mongin Bekanntschaft mit dem polnischen Adligen Ignacy Miaczy´ ˛ nski (1760–1809) gemacht, der in Ostgalizien ausgedehnte Güter besaß und die beiden Emigranten schließlich überzeugte, ihre Fabrik im weiter östlich gelegenen Zalosce aufzubauen, wo ihm ein herrschaftliches Anwesen gehörte. Er knüpfte damit an die schon unter Joseph II. geübte und von der österreichischen Verwaltung wohlwollend unterstützte Praxis an, im Sinne kameralistischer Bevölkerungspolitik Kolonisten auf den

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ÖStA/AVA, PHSt 1798/989, Schreiben der Hofkammer an Polizeiminister Pergen, 3. September 1798. Sr. k. k. Majestät Franz des Zweyten politische Gesetze und Verordnungen für die Oesterreichischen, Böhmischen und Galizischen Erbländer, Bd. 2, Wien 1817, 1–3 (Nr. 2). Polizeiminister Pergen passte die Direktivregeln im Laufe der 1790er Jahre den Erfordernissen an und hielt Kaiser Franz II. über diese Änderungen auf dem Laufenden, zuletzt: ÖStA/AVA, PHSt 1799/291, Zusammenstellung der Leitsätze für die Unterbringung von Emigranten in den Erbländern, 2. April 1799. ÖStA/AVA, PHSt 1798/989, Schreiben Polizeiminister Pergens an die Hofkammer, 12. September 1798. Ebenda.

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großflächigen Herrengütern in Galizien anzusiedeln (Privatkolonisation) – in diesem Fall pikanterweise französische Revolutionsemigranten87 . Miaczy´ ˛ nski und die beiden Emigranten wandten sich nun gemeinsam an die Wiener Stellen. Die Handelsleute und Fabrikanten Mongin und Doschot, unterstüzt vom Hr Grafen Mioczynsky [recte: Miaczy´ ˛ nski], sind [. . . ] des Vorhabens im herrschaftl. Gebäude zu Zalosce Tuch-, Leinwand- und Lederfabriken zu errichten, haben zu dem Ende Kapitalisten, und Arbeiter im Auslande, zur Theilnahme eingeladen, [. . . ] wie es das den Briefen beiliegende Nahmenverzeichnis beweisen soll; und bitten um, daß die Staatsverwaltung, nach vorläufiger Prüfung dieser fremden Fabriktheilnehmer – selben die Anherkunft und den Aufenthalt in Ostgalizien [. . . ] gestatten möchte. Die reichhaltige Liste von den sich hiezu gemeldeten fremden Arbeiter enthält mehrere Priester; Und fast durchweg Franzosen [. . . ]88 . Zwei französischsprachige Begleitschreiben Miaczy´ ˛ nskis und Doschots flankierten ihre Eingabe. Miaczy´ ˛ nski hob hervor, dass die Fabrik einen wichtigen Beitrag zur prosperité de la Monarchie autrichienne leisten und seinem Land in Zalosce – ce pauvre pays éloigné de la capitale –, un avenir plus heureux et encouragé verheißen würde89 . Er verfügte bereits über gute Erfahrungen mit französischen Emigranten, hatte er doch ein Jahr zuvor für einen emigrierten Geistlichen aus Nancy, der über profunde landwirtschaftliche Kenntnisse verfügte und die gräflichen Güter in Zalosce verwalten sollte, eine Aufenthaltsbewilligung erbeten90 . Doschot seinerseits verwies auf das lautere Interesse des Grafen, die ländliche Wirtschaft zu fördern, was als Beweis für dessen untadeligen Patriotismus gelten dürfe. Letzteres sollte dem Polizeiminister wohl als Hinweis dienen, dass man es bei Miaczy´ ˛ nski mit einem Vertreter jenes Teils des polnisch-galizischen Adels zu tun hatte, der jeder Art Rebellion gegen die Landesherrschaft unverdächtig war91 . Das Namensverzeichnis, das die Petenten einschickten, umfasste 102 Personen und erweckte zunächst Misstrauen, da einige Priester unter den Genannten waren. Der ostgalizische Gouverneur Gaisruck vermutete gar, dass den beiden französischen Unternehmern womöglich nur daran gelegen sei, möglichst vielen ihrer Landsleute einen Unterschlupf zu verschaffen. Dieses Unbehagen hatte den Gouverneur schon zuvor veranlasst, Wien zu warnen, dass französische Emigranten insbesondere in Ostgalizien, wo sie auf die polnische Bevölkerung träfen, staatsgefährdend seien, da sich aus beiden Gruppen ein explosives Amalgam ergäbe:

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Zur theresianischen und josephinischen Kolonisation in Galizien einführend I SABEL RÖSKAU -RYDEN: Galizien. In: D IES . (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas: Galizien, Bukowina, Moldau, Berlin 2002, 15–212, hier: 22–40. ÖStA/AVA, PHSt 1799/566, Schreiben Polizeiminister Pergens an Gouverneur Gaisruck, 9. Mai 1799. Die Schriftstücke des Akts PHSt 1799/566 sind durch Löschwasser sehr stark beschädigt und teilweise unlesbar. Ebenda, Begleitschreiben des Grafen Ignacy Miaczy´ ˛ nski, undatiert. ÖStA/AVA, PHSt 1798/1014, Schreiben des Bischofs von Nancy an Polizeiminister Pergen, 15. November 1798. ÖStA/AVA, PHSt 1799/566, Begleitschreiben Joseph Doschots, undatiert.

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Schon der leidenschaftliche Hang der pohlnischen Nazion für alles was französisch ist, die mit ihrem Schicksale in einem gleichen Verhältnis stehende Theilnahme an dem Unglücke dieser Unglücklichen, die Sprachkenntnisse und der beyden dieser Nazionen angebohrene Leichtsinn verkettet die Gemüther auf das engeste. Diese Emigranten, sie mögen aristokratisch oder demokratisch denken, wenige ausgenommen, suchen anfangs Mitleyden zu erwerben, sodann durch ihre Geschwäzigkeit und Prahlerei die Gemüther ihrer Wohlthäter zu gewinnen, diese mit der Zeit ganz zu beherschen, alles was nicht französisch ist zu verächten, [und] gegen die Deutschen und deutschen Sitten los zu ziehen, [. . . ]92 . Das sich hierin ausdrückende Verdachtsmoment sowohl gegen die Franzosen als auch die polnische Bevölkerung sowie deren Verbindungen untereinander vermittelt nicht nur einen Eindruck von den Fremdbildern des emigrantenkritischen Gaisruck, sondern dokumentiert vor allem die von ihm als prekär erachtete Situation der galizischen Landesherrschaft am Ende eines turbulenten Jahrzehnts. Entgegen seiner sonst harten Haltung gestattete Pergen so vielen Arbeitern die Ansiedelung in Zalosce, wie für den Produktionsablauf benötigt wurden93 . Im Vergleich zur üblichen Kontrollpraxis für emigrierte Franzosen, die seitens der Polizeihofstelle auch rhetorisch streng daherkam, ist bemerkenswert, dass Pergen, der unter der Regentschaft Maria Theresias als erster Gouverneur Galiziens bestellt worden war und wohl noch aus dieser Zeit Leid und Weh dieser Provinz kannte, das Gesuch ohne größere Auflagen genehmigte. Immerhin handelte es sich bei den nach Zalosce eingeladenen Arbeitern um eine erkleckliche Zahl Fremder. Es steht zu vermuten, dass zwei Faktoren die positive Entscheidung begünstigten: die Fürsprache einer einflussreichen dritten Partei, wahrscheinlich der Hofkammer, und die Region der beabsichtigten Niederlassung, Ostgalizien, wo unter peuplierungspolitischen Prämissen durchaus Ausnahmeregelungen eines derartigen Umfangs denkbar waren. Eine eindeutige Korrelation von Peripherie und gradueller Nachsichtigkeit in der Fremdenkontrolle lässt sich aus diesem Einzelfall freilich nicht ableiten. Die – sehr schlecht erhaltene – Personenliste selbst gibt einen Einblick in die komplexen Netzwerkstrukturen der Revolutionsemigranten in Kontinentaleuropa94 . Die 102 aufgelisteten Personen waren fast allesamt Mitglieder der in vier Niederlassungen, in Wiesent bei Regensburg, Barberg bei Dillingen, München und Buccari (hr. Bakar) bei Fiume lebenden geistlichen „Gesellschaft von der heiligen Einsamkeit“ (Société de la Sainte Retraite) aus dem Bistum Besançon, die 1792 aus Les Fontenelles in der Franche-Comté zunächst in die Schweiz und von dort im Laufe der 1790er Jahre nach Süddeutschland, Italien und in das österreichische Litorale emigriert war95 . 92 93 94 95

ÖStA/AVA, PHSt 1798/696, Schreiben Gouverneur Gaisrucks an Polizeiminister Pergen, 14. März 1798. ÖStA/AVA, PHSt 1799/566, Schreiben Polizeiminister Pergens an Gouverneur Gaisruck, 20. Mai 1799. ÖStA/AVA, PHSt 1799/566, Liste des quelques uns de ceu qui demandent à concourir à l’établissement de diverse manufactures à Zalosce, undatiert, stark beschädigt. W ILHELM S CHERER: Die französische Emigrantenkongregation zur heiligen Einsamkeit. In: Die Oberpfalz 13 (1919), 149–151 und 184–186; W ILHELM W ÜHR: Emigrantenkolonien französischer Einsiedler in Schwaben und Bayern. In: Veröffentlichungen des Historischen Vereins von Oberpfalz und Regensburg 86 (1936), 390–416; N ORBERT BACKMUND: Die kleineren Orden in Bayern und ihre Klöster bis zur

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Die „Gesellschaft“, der sich während ihres Emigrationsparcours auch Schweizer und Deutsche angeschlossen hatten, wurde von dem französischen Priester Antoine-Sylvestre Receveur (1750–1804) geleitet und bestand neben einigen Priestern und Brüdern mehrheitlich aus weiblichen Laien, die sich einer ausnehmend strengen Regel unterworfen hatten96 . An ihren provisorischen Aufenthaltsorten gingen sie einer anachoretischen Lebensweise aus geistlichen Übungen und Handarbeit, darunter Weben und Spinnen, nach. Die Filiale in Wiesent, wo mit dem 1798 erbauten Kloster Heilsberg eine Art provisorische Zentrale der „Gesellschaft“ gegründet wurde, fristete unter dem argwöhnischen Blick des Regensburger Ordinariats allerdings eine prekäre Existenz97 . Nachdem der Münchener Thronwechsel 1799 zu Maximilian IV. Joseph einer antimonastischen Kirchenpolitik Auftrieb gegeben hatte, war die Wiesenter Niederlassung akut von Schließung bedroht98 . Receveur, der die „Gesellschaft“ ursprünglich nach Kanada oder ins Heilige Land hatte führen wollen, musste die Aussichtslosigkeit dieser Pläne bald einsehen und bemühte sich fortan um die Erlaubnis für die Verlegung des Klosters nach Italien, Preußen, Russland oder in die Habsburgermonarchie99 . Zwei Erkundungsreisen Receveurs nach Fiume (1797) und Breslau (1799) hatten keine eindeutige Perspektive eröffnet, wohin sich die Angehörigen der „Gesellschaft“ nach der drohenden Schließung des Heilsbergs wenden sollten100 . In dieser schwierigen Phase konnte daher die Aussicht, auf einem kargen Herrengut in Ostgalizien eine Bleibe und Anstellung zu finden, durchaus als Ausweg erscheinen. Doch woher hatten Mongin und Doschot Kenntnis von den Emigrantenkolonien der „Gesellschaft“, den Mitgliedern, deren Qualifikationen sowie der drohenden Ausweisung aus Bayern, als sie das Verzeichnis der Arbeitskräfte nach Wien schickten? Fehlende Quellendokumentation lässt Raum für Spekulationen, doch ist die Herkunft der „Gesellschaft“ und der beiden Unternehmer aus der Franche-Comté mehr als nur bedeutungslose Koinzidenz. Unter den weiblichen Mitgliedern der Wiesenter Niederlassung befand sich auch eine 34-jährige Verwandte Doschots, Jeanne Françoise, sodass von einem brieflichen Kontakt und damit der Weitergabe von Informationen über die gegenwärtige Situation der „Gesellschaft“ an die beiden Unternehmer ausgegangen werden kann101 . Womög-

Säkularisation, Windberg 1974, 95 f.; M YRIAM G UIBERT: A Contre-Courant Antoine Sylvestre Receveur (1750–1804), Paris 1986. 96 Die Regel der „Gesellschaft“ wurde in einem 1798 in Regensburg erschienenem Kompendium dem deutschsprachigen Publikum eröffnet, vgl. A NTOINE -S YLVESTRE R ECEVEUR: Ganz einfache Erklärung einer neuerrichteten Andacht, welche im Jahre 1787 zu Fontenell in dem Bisanzer Bißthume ihren Anfang genommen hat sammt vielen Zeugnissen und einer kurz verfaßten Schrift zum Beßten der Gesellschaft von der heiligen Einsamkeit, Regensburg 1798. 97 Seitens des Regensburger Ordinariats wurden die Regeln der „Gesellschaft“ für inkohärent und tendenziell „jansenistisch“ gehalten, vgl. BACKMUND: Orden (wie Anm. 95), 95 f.; Wühr: Emigrantenkolonien (wie Anm. 95), 400 f. 98 W ÜHR: Emigranten in Bayern und Franken (wie Anm. 7), 66 f. 99 Receveur reiste u. a. nach London, um dort die Chancen für eine Passage nach Kanada auszuloten vgl. G UIBERT: Receveur (wie Anm. 95), 106. 100 Die Italienreise ist belegt im Tiroler Landesarchiv (TLA) Innsbruck, Präsidiale Polizei 1797, Fasz. 3483, Anfrage des k. k. Gesandten in München, 12. Dezember 1797. Die Schlesienreise ist belegt im ÖStA/AVA, PHSt 1799/638, Anfrage des mährischen Gouverneurs Ugarte an Polizeiminister Pergen, 18. September 1799, sowie im Moravský zemský archiv (Mährisches Landesarchiv, MZA) Brünn, B95, 55, Karton 245, Anfrage Receveurs um einen Reisepass nach Wien, 13. September 1799. 101 ÖStA/AVA, PHSt 1799/566, Liste der Arbeiter.

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lich kannte man sich schon aus der Heimatregion und verbrachte in der Anfangszeit der Emigration nach 1792 gemeinsam einige Jahre im Schweizer Exil102 . Während Miaczy´ ˛ nskis Hauptintention in der Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte bestanden haben dürfte – viele polnische Adlige bemühten sich in dieser Zeit um Ansiedlungen französischer Emigranten auf ihren Gütern103 –, geht die Motivlage der beiden Emigranten wohl noch darüber hinaus. Zwar waren für das Gelingen ihres Unternehmens qualifizierte Arbeitskräfte essenziell, doch ließ sich insbesondere Doschot wohl auch von Solidaritätsgefühlen für emigrierte Landsleute leiten, deren provisorische Lebensumstände im Exil sich zusehends zu destabilisieren begannen, zumal zumindest zu einer Person eine familiäre Beziehung bestand104 . Ob die Erkundungsreise Receveurs nach Breslau im Spätsommer 1799 in einem Zusammenhang mit einer möglichen Verlagerung der Kolonie nach Ostgalizien stand, ist fraglich105 . Die ablehnende Reaktion der Wiener Behörden auf sein Gesuch, auf dem Rückweg von Troppau (cz. Opava) über Wien nach Wiesent reisen zu dürfen, zeigt aber, dass sich an der Haltung des Polizeiministeriums, das schon 1797 die Einreise von Angehörigen der „Gesellschaft“ in die Habsburgermonarchie verboten hatte, wenig geändert hatte. Auch aus den Gutachten über Receveur und seine „Gesellschaft“, die anlässlich seines Reisebegehrens von österreichischen Landesstellen erstellt wurden, spricht prononciertes Misstrauen106 . Ob dies jedoch ausschlaggebend für das Aufgeben des Zalosce-Planes war, muss an dieser Stelle offen bleiben. Dass die Umsiedlung der „Gesellschaft“ nach Ostgalizien in die Praxis umgesetzt wurde, darf als ausgeschlossen gelten, da belegt ist, dass nach dem endgültigen Ausweisungsbeschluss der bayerischen Regierung viele Mitglieder entweder nach Frankreich zurückkehrten oder mit Receveur über Venedig in den restaurierten Kirchenstaat Pius’ VII. weiterzogen107 . Nicht auszuschließen ist aber, dass einige der Genannten trotz aller Beschwernisse schließlich nach Zalosce gelangten, zumal dort mit Miaczy´ ˛ nskis Unterstützung 1801 ein Kloster der Barmherzigen Schwestern gegründet wurde108 . Von diesen Unwägbarkeiten abgesehen blieb die Tuchfabrik keineswegs bloßes Planspiel, was nicht nur ausweislich Rohrers Berichts als sicher gelten kann109 . So hellt eine Zeitungsannonce von 1802 die Geschehnisse der Jahre zwischen 1799 und 1802 zumindest 102 P HILIPPE H ENRY: Aspects de l’histoire de l’émigration française dans la principauté de Neuchâtel pendant la Révolution (1789–1798). In: A NDRÉ BANDELIER , J EAN M ARC BARRELET (Hg.): La révolution dans la montagne jurassienne (Franche-Comté et pays de Neuchâtel), La Chaux-de-Fonds 1989, 45–64; zu Neuchâtel als Aufenthaltsort von Emigranten auch H ÖPEL: Emigranten in Preußen (wie Anm. 6), 199–205. 103 H ÖPEL: Emigranten in Preußen (wie Anm. 6), 361–365. 104 Da Doschot und Mongin aus der Franche-Comté stammten, ist nicht auszuschließen, dass auch weitere Kontakte zu Angehörigen der „Gesellschaft“ bestanden. 105 ÖStA/AVA, PHSt 1799/638, Schreiben des mährischen Landeschefs Ugarte an Pergen, 18. September 1799 sowie dessen Antwort. Ursprünglich hatte Receveur angegeben, nach Warschau reisen zu wollen. Warum er sich entschied, dieses Reiseziel aufzugeben und stattdessen nach Breslau zu gehen, ist nicht zu eruieren. W ÜHR erwähnt die Reise nicht, vgl. DERS.: Emigrantenkolonien (wie Anm. 95), 401. 106 MZA Brünn, B 95, 55, Karton 245, Gutachten des mährischen Landesguberniums, 13. September 1799. 107 W ÜHR: Emigranten in Bayern und Franken (wie Anm. 7), 64–72; W ÜHR: Emigrantenkolonien (wie Anm. 95), 401–403; G UIBERT: Receveur (wie Anm. 95), 115–121. 108 W ŁADYSŁAW C HOTKOWSKI: Historya polityczna dawnych klasztorów panie´nskich w Galicyi 1773–1848 na podstawie akt cesarskiej kancelaryi nadwornej [Politische Geschichte der früheren Nonnenklöster in Galizien auf Grundlage der Akten der kaiserlichen Hofkanzlei], Krakau 1905, 337–345. 109 Auch andere statistische Werke zu Galizien aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts bezeugen die Existenz der Tuchfabrik Miaczy´ ˛ nskis: Hesperus, Nationalblatt für gebildete Leser, Nr. 41, Juni 1813, 323.

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partiell auf. In der Staats- und Gelehrte[n] Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten veröffentlichte der von Rohrer genannte Direktor Schmidt folgenden Text: Ich Endesunterschriebener habe die Ehre, ein hochgeehrtes Publicum zu benachrichtigen, daß, da die bisherigen Inhaber der seit 1799 errichteten, von Sr. K. K. Majestät privilegirten Tuchfabrique in Zalosce, Herr Mongue [recte: Mongin], mit Tode abgegangen, Herr Doschot aber mit andern HandlungsSpeculationen sich beschäfftiget, der Erbherr und Eigenthümer der Herrschaft Zalosce, Herr Graf von Mionczynski [recte: Miaczy´ ˛ nski], kraft einer dem 13ten August a. c. auf dessen Schlosse Pinaki [recte: Pieniaki, ca. 10 km nordwestlich von Zalosce] geschlossenen Complanation und vollkommener Befriedigung der bisherigen Herren Inhaber, besagte Fabrik gänzlich übernommen und mir die Direction derselben anvertraut hat; so ersuche ich ein geehrtes Publicum, mit Bestellungen von nun an sich an mich zu wenden. Ich werde mich bestreben, jedermann mit allen Sorten Tüchern von der besten Gattung um die billigsten Preise zu befriedigen. Zalosce, den 14ten August 1802. Daniel Gottfried Schmidt, der K. K. privilegierten Tuchfabrique in der Gräfl. Mionczynskischen Herrschaft Zalosce in Ostgalizien, Zlocower Kreises, bevollmächtigter Director110 . Mongin und Doschot hatten ihre Fabrik, die von Beginn an mit einem kaiserlichen Privileg versehen war, tatsächlich 1799 in Betrieb genommen. Dies deutet darauf hin, dass die Hofkammer das Genehmigungsverfahren für die Manufaktur aktiv unterstützt und somit als die vermutete dritte Partei agiert hatte. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Aufgrund der engen personalen Verbindung von Polizeihofstelle und Hofkammer in der Person des Grafen Saurau, der neben seiner Präsidentschaft der Hofkammer auch als stellvertretender Polizeiminister fungierte, scheint sowohl die umstandslose Privilegierung der Zaloscer Fabrik als auch die wohlwollende Behandlung des Gesuches von Doschot, Mongin und Miaczy´ ˛ nski seitens der Polizeihofstelle erklärbar. Diese personale Komponente kann folglich als ein begünstigender Faktor für die erfolgreiche Umsetzung der Unternehmung gelten. Die beiden Emigranten führten die Fabrik eigenverantwortlich, waren also Inhaber und nicht etwa nur von Miaczy´ ˛ nski eingesetzte Verwalter. Die Herstellung von Tuchwaren selbst – in welchem Umfang bleibt unklar – scheint zumindest so erfolgreich gewesen zu sein, dass die Fabrik bis 1802, immerhin knapp drei Jahre lang, in Betrieb war. Erst das Ableben Mongins und das Engagement Doschots auf anderen Gebieten machte eine Änderung in der Geschäftsführung möglich. Miaczy´ ˛ nski erwarb die Fabrik von den verbliebenen Inhabern und setzte Schmidt als Verwalter ein111 . Dieser vermochte sie mit Hilfe neuer englischer Webstühle innerhalb eines Jahrzehnts zur größten Tuchfabrik In der hier aufgeführten Statistik rangiert die Zaloscer Fabrik als größte Tuchfabrik im Zloczower Kreis mit dem größten Warenoutput, 26 Webstühlen und 556 Beschäftigen. 110 Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, Nr. 53, 2. April 1803, o. S. 111 Es ist unbekannt, ob Mongin einen rechtmäßigen Erben hatte.

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in Ostgalizien zu machen112 . Für das Kaisertum Österreich hatte sie bald eine so große Bedeutung, dass man nach der Niederlage im 5. Koalitionskrieg 1809 im Rahmen der Friedensverhandlungen von Schönbrunn nachdrücklich und letztlich erfolgreich darauf bestand, die Gegend um Zalosce von den umfangreichen Gebietsabtretungen an Russland auszunehmen113 . Den letzten Schritt dieser Unternehmergeschichte an der Peripherie der Monarchie beschritt Doschot nach dem Tod seines Sozius Mongin allein. Der Hinweis Schmidts auf die Beschäftigung Doschots mit andern Handlungs-Speculationen liefert den Anknüpfungspunkt. Die Berufsangabe Feldmesser aus der Krakauer Fremdenliste, der Bericht Gouverneur Margeliks, Doschot habe in der Stadt eine phisikalische Maschine anfertigen lassen wollen, und der Aufbau der Tuchfabrik in Zalosce legen nahe, dass Doschot ein technisch versierter Tüftler, Ingenieur und Erfinder gewesen sein muss. Diese Fertigkeiten beförderten seine weitere Karriere. Nachdem Doschot sich aus dem Tuchfabrikationsgeschäft zurückgezogen hatte, heiratete er wohl 1803 die Tochter des aus Aix-en-Provence stammenden und nach Österreich emigrierten ehemaligen Deputierten Balthazar d’André (1759–1825), Joséphine, und lebte mir ihr zunächst in Wien. Dort hatte sich Joséphines Vater, der angesichts der anhaltenden Erfolge Napoleons seine politischen Ambitionen an den Nagel gehängt hatte, der Verbesserung der Landwirtschaft verschrieben, ein Gut südlich von Wien gekauft, dieses zu einem agrarischen Modellbetrieb ausbauen lassen und schließlich die elitäre k. k. Landwirtschaftsgesellschaft mitgegründet114 . Sollte Doschot nach der Napoleonischen Amnestie 1802 Aussicht auf Streichung von der Emigrantenliste als Voraussetzung für eine risikolose Rückkehr nach Frankreich gehabt haben, war diese mit der Verbindung zur streng royalistischen Familie d’André in weite Ferne gerückt. Anstelle einer Rückkehr ergab sich die Möglichkeit einer dauerhaften Etablierung im Exilland, die Doschot anders als viele Emigranten nutzte. Möglicherweise mit Mitteln aus dem Verkauf der Fabrik erwarb Doschot Güter in der Nähe Stanislaus (ukr. Stanislav v) in Galizien und ließ sich dort nieder115 . 1811 wurde er von Kaiser Franz I. in den Ritterstand des Königreiches Galizien und Lodomerien aufgenommen und firmierte seitdem unter dem Titel Ritter v. Doschot116 . Diese Art der Nobilitierung ohne Kooptation durch die Standesversammlung mit entsprechendem Aufnahmeverfahren war in den polnischen Teilungsgebieten, die an Österreich gefallen waren, eine häufig praktizierte Form der Erhebung in den Adelsstand für Personen, „deren Elitenstatus bzw.

112 Hesperus, Nationalblatt für gebildete Leser, Nr. 41, Juni 1813, 323; Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat, 3. Jg., 29. Mai 1810, 72. 113 PAULUS A DELSGRUBER , L AURIE C OHEN , B ÖRRIES K UZMANY: Getrennt und doch verbunden. Grenzstädte zwischen Österreich und Russland 1772–1918, Wien/Köln/Weimar 2011, 91. 114 J OSEF H ÄUSLER: Die Entwicklung der K. K. Landwirtschaftsgesellschaft in Wien während ihres hundertjährigen Bestandes aus Anlaß der hundertjährigen Jubelfeier der K. K. Landwirtschafts-Gesellschaft in Wien, Wien 1907. Franz I. erhob d’André 1807 in den niederösterreichischen Adelsstand, vgl. P ETER F RANK -D ÖFERING (Hg.): Adelslexikon des österreichischen Kaisertums, Wien/Freiburg/Basel 1989, 24, Nr. 66, 67. 115 Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat, 3. Jg., Nr. 8, 29. Mai 1810, 73. 116 OTTO T ITIAN H EFNER: Neues Wappenbuch des blühenden Adels im Königreiche Galizien, München 1863, 9, Tafel 9 (Doschots Wappen).

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Matthias Winkler

symbolisches Kapital in erster Linie auf Leistung basierte“117 und die als Angehörige einer aus Wiener Sicht loyalen Regionalelite etabliert werden sollten. In den Jahren nach seiner Nobilitierung widmete sich Doschot dem Ingenieurwesen und beschäftigte sich intensiv mit technischen Verbesserungen von Heizungen, Öfen und mechanischen Instrumenten. Zuvor hatte er auf seinem Gut bei Stanislau eine holländische und schlesische Bleiche eingerichtet118 . Der Durchbruch gelang ihm 1818: Die Wiener Zeitung berichtete von der Gewährung eines kaiserlichen Privilegs auf eine Reihe von Erfindungen: Se. k. k. Majestät haben dem Ritter v. Doschot, in Gallizien, auf seine Erfindungen eines neuen Heitz- und Koch-Apparats und einer neuen Bretsäge-Maschine, ein ausschließliches Privilegium auf sechs nach einander folgende Jahre gnädigst zu verleihen geruhet, [. . . ]119 . Bei Nichtbeachtung dieses Privilegs drohten empfindliche Strafen. Obwohl Doschot nach der Zweiten Restauration mindestens einmal nach Paris reiste, wo sein Schwiegervater inzwischen als Intendant der Maison du Roi fungierte, er seine Beziehungen zum Heimatland also nicht gänzlich abbrach, hatte sich im Zuge des langjährigen Exils sein Lebensmittelpunkt unstrittig in die Habsburgermonarchie verschoben. Dort starb Doschot 1834120 . Die Nachkommen des Revolutionsemigranten aus der Franche-Comté, der in seinem Exil zu Titel und Wohlstand gekommen war, sind bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts in Galizien nachweisbar121 . IV.

Fazit

Haben die Studien zu den Revolutionsemigranten im Heiligen Römischen Reich bereits ein Panorama der Aktivitäten, Interaktionen und kulturellen Transfers herausgearbeitet, kann anhand der beiden akteurszentrierten Detailstudien exemplarisch gezeigt werden, dass auch mit der Einbeziehung Ostmitteleuropas Einblicke in die Tätigkeitsfelder, Netzwerke und Lebenswelten von Emigranten gewonnen werden können, die zum Teil weit über einen bloß lokalen Aktionsrahmen hinausreichten. Das Spezifikum der dezentralisierten Verteilung der Emigranten steht in evidentem Kontrast zu jenen Regionen des westlichen Mitteleuropas, die bisher im Fokus der Forschung 117 M ILOŠ Rˇ EZNIK: Der galizische Adel. In: U LRIKE H ARMAT, A DAM WANDRUSZKA , H ELMUT RUMPLER (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX, Soziale Strukturen, 1. Teilband: Von der feudalagrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Teilband 1/2, Von der Stände- zur Klassengesellschaft, Wien 2010, 1015–1042, hier: 1020. Mit der Aufnahme in die galizische Landtafel erreichte Doschot sieben Jahre später (1818) auch die ständische Legitimation seines Titels, vgl. F RANK -D ÖFERING: Adelslexikon (wie Anm. 114), 69, Nr. 1324, 1325. 118 Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat, 3. Jg., Nr. 8, 29. Mai 1810, 73. 119 Wiener Zeitung, 191. Jg., 22. August 1818, 761. Die Innovativität der Heizung bestand einer Werbeannonce zufolge darin, dass mit der Hälfte des sonst nöthigen Brennmaterials allen Zimmern eines Gebäudes von 3 Stockwerken die erforderliche Wärme gegeben werden kann, ohne hierzu mehr als einen Heitzer nothwendig zu haben. Wegen der reinen Wärme, wegen Beseitigung des Rauchs und aller Feuersgefahr, wegen der großen Ersparnis an Brennmaterial, wegen so vielen wesentlichen Vortheilen, welche dieser Apparat gewährt, eignet er sich ganz vorzüglich für große Gebäude, z.B. Casernen, Fabriken, Spitäler, Theater u. s. w. Er kostet 200 bis 1000 fl. W. W., je nachdem er größer oder kleiner verlangt wird, Allgemeines Intelligenzblatt zur Oesterreichisch-Kaiserlichen privil. Wiener-Zeitung, 197. Jg., 29. August 1820, 1820. 120 Gazeta Lwowska, Nr. 127, 25. Oktober 1834, 2192. 121 A LEKSANDRA Z IÓŁKOWSKA -B OEHM: The Polish Experience through World War II. A better day has not come, Plymouth 2013, 23, 87, Anm. 4.

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gestanden haben. Die verstreute Quellendokumentation verkompliziert den Zugang zusätzlich, muss doch, wie im Fall der beiden Unternehmer in Galizien, auf höchst disparate Quellentypen gesetzt werden, um ihre Handlungsräume und lebensweltlichen Strukturen rekonstruieren zu können. Das analytische Potenzial der Untersuchung ergibt sich aus der Konzeptionalisierung des Exils als Provisorium: Mit abnehmender Rückkehrerwartung im Lauf der 1790er Jahre wurde das Exil von einem behelfsmäßigen Zufluchtsraum zu einem offenen Experimentierfeld, auf dem die Emigranten unter wechselhaften Bedingungen um die Erschließung und Behauptung von Handlungsspielräumen rangen. Im Rahmen dieses verzeitlichten Verstehens kann neben einer Binnendifferenzierung der Exilzeit auch nach möglichen Langzeitfolgen gefragt werden, die trotz des Rückkehrtrends ab 1800 auch in einer Integration in die Aufnahmegesellschaft bestehen konnten. Das jahrelange Exil zeitigte zudem Erfahrungen, die nicht nur für die betroffenen Personen prägend sein konnten, sondern die die Emigranten, wie das Beispiel Gleys zeigt, auch zu nutzen verstanden. Gérard Gleys Aktions- und Erfahrungsraum in Deutschland und Polen spannt seine Mittlerschaft im Kulturtransfer weiter als bisher angenommen. Zwar trug er durchaus in einem bipolaren Verständnis des Kulturtransfers, etwa als Sprachlehrer und Herausgeber fremdsprachendidaktischer Literatur, zu einer Transmission kulturellen Kapitals bei – schon dies verdient als Effekt der Revolutionsemigration, die über lange Phasen als weitgehend unproduktives politisches Exil von Revolutionsverlierern bzw. -opfern gedeutet wurde, besondere Beachtung. Doch sind vor allem die Wissensproduktion in der Emigration sowie der Wissenstransfer nach Frankreich von Interesse, erschließt sich doch aus dieser Perspektive das Exil als ertragreicher Erfahrungsraum. Mit dem Fall der beiden Emigranten, die den Grundstein für ein erfolgreiches Unternehmen in einer peripheren Region Ostmitteleuropas legten, kann auf einem anderen Gebiet emigrantisches Engagement abgesteckt werden. Nicht nur die unternehmerische Initiative selbst ist hierbei von Belang, sondern der Prozess, der zu deren Realisierung führte. Dieser bestand in erster Linie in der Bildung von Interessenkoalitionen und der Nutzung jener Spielräume, die es trotz emigrantenkritischer Rhetorik und restriktiven Reglements staatlicher Stellen auch in der Habsburgermonarchie gab. Ferner zeugt das überregionale Netzwerk im Exil von koordinierten Versuchen zur Selbsthilfe und aktivem Solidaritätshandeln unter Emigranten. Mit dem Verzicht auf die Analysekategorien von Erfolg und Scheitern können anhand dieses Beispiels die ambitiösen Bemühungen um Emigrantenselbsthilfe, die in vielen Regionen Europas belegt sind, ermessen werden. Mit den Aktivitäten der Emigranten in Zalosce ist schließlich auch dokumentiert, dass in der Krisensituation, die mit der Auswanderung begann, Innovationskräfte freigesetzt werden konnten, die sich zuletzt sogar in neuartigen technischen Artefakten manifestierten. Das komplexe transnationale Geflecht der französischen Revolutionsemigration nach 1789 erstreckte sich weit in den Osten Europas hinein, der in dieser Beziehung in weiten Teilen noch eine terra incognita ist. Verloren sich die wenigen einschlägigen Studien zu dieser Region bisher allzu häufig im Lokalen, können beide in diesem Aufsatz rekonstruierten Fälle aus regionalhistorischer Perspektive den europäisch-verflochtenen Charakter der französischen Revolutionsemigration hervorheben.

Wilhelm Hähner als königlich-sächsischer Konsul in Livorno (1840–1866) Regionale Textilproduktion, wirtschaftliche Krisen und mediterrane Märkte von Dietmar Stübler Einleitung Das Hauptstaatsarchiv in Dresden verwahrt die Hinterlassenschaft des königlich-sächsischen Konsulats in Livorno (1840–1868)1 . Sie enthält – wie es auch in den Nachlässen anderer Konsulate üblich ist – die überwiegend jährlich im Ministerium der Äußeren Angelegenheiten in Dresden eingereichten Handelsberichte. Sie informierten im Wesentlichen über den aktuellen Vertrieb und die perspektivischen Absatzchancen sächsischer Textilerzeugnisse, in unserem Fall im Großherzogtum Toskana und – über den Freihafen in Livorno – in den Staaten des Mittelmeerraumes. Die Besonderheit des Aktenbestandes aus dem Konsulat in Livorno besteht darin, dass Konsul Wilhelm Hähner mit einer ausführlichen Denkschrift an das Außenministerium in Dresden in die wirtschaftspolitische Diskussion der verschiedenen Fraktionen des sächsischen Wirtschaftsbürgertums eingegriffen hat (24. Mai 1848)2 . Seine Einlassungen wies das Ministerium des Innern in einer ausführlichen Entgegnung durch den Kammerrat Jacob Heinrich Thieriot zurück (10. Juli 1848)3 . Der Vergleich der Positionen in beiden Dokumenten lenkt viel Licht auf die einander widersprechenden Auffassungen der sächsischen Liberalen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen standen – auf den ersten Blick – zollpolitische Meinungsverschiedenheiten zwischen den „Vertretern des Leipziger Handelsstandes und den Verteidigern der korporativen Wirtschaftsverfassung aus den Reihen der sächsischen Staatsbürokratie auf der einen und Fabrikverlegern und industriellen Unternehmern auf der anderen Seite gegenüber“4 . Anders gesagt: Die Verfechter des Freihandels mit dem Schwerpunkt in Leipzig und die Fürsprecher zugunsten von Schutzzöllen mit dem Hauptgewicht in Chemnitz. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts spitzte sich die Debatte zu und gewann an politischer Schärfe. Liberale „Vereinbarer“ standen Republikanern 1

2 3 4

Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden (künftig zitiert: HStAD), 10717 Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten (künftig zitiert: MdA), Nr. 3672, nicht foliiert. Die Akte beinhaltet die Eröffnung des Konsulats, Hinweise auf die Person des Konsuls Wilhelm Hähner und die Schließung des Konsulats. Die Handelsberichte des Konsuls finden sich unter 10736 Ministerium des Innern (künftig zitiert: MdI), Nr. 6307; mit Ausnahme des Handelsberichts vom 29. März 1867 und eines Auszugs aus dem Bericht vom 15. November 1867, die abgelegt sind unter: 10717 MdA, Nr. 3672. Orthographie und Interpunktion der Zitate aus den Archivalien sind dem aktuellen Standard angeglichen. Der Wortbestand blieb unverändert. Die von Hähner verfasste Denkschrift an das Außenministerium ebenda, 10736 MdI, Nr. 6307, 115–128. Ebenda, 129–134. Der ausführlichen Stellungnahme Thieriots ist ein kurzer Begleitbrief des Innenministers Martin Gotthard Oberländer an das Außenministerium beigefügt. Ebenda, 135. M ICHAEL S AMMLER: Freihandel oder Protektionismus? Die wirtschaftspolitische Debatte um die zollpolitischen Voraussetzungen erfolgreicher industrieller Entwicklung. In: M ICHAEL S CHÄFER, V ERONIQUE T ÖPEL (Hg.): Sachsen und die Welt. Eine Exportregion im Vergleich, Leipzig 2014, 103–129, hier 104.

Jahrbuch für Regionalgeschichte 33 (2015), S. 73–92

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aus dem Wirtschaftsbürgertum gegenüber. Wer tiefer auf den Grund der Differenzen zwischen den Fraktionen des sächsischen Wirtschaftsbürgertums blickte, entdeckte den Gegensatz zwischen freier Entfaltung der marktwirtschaftlichen Gesetze und staatlicher Regulierung. Der Zwist innerhalb des Wirtschaftsbürgertums hemmte auch den Ausbau des Konsulatswesens, das für das exportintensive Textilgewerbe besondere Bedeutung besaß5 . Jörg Ludwig hat an zwei Beispielen vielversprechender Städte, Wiens und Warschaus, nachgewiesen, dass sich in den vierziger Jahren die Industriekammer in Chemnitz und der Handelsstand in Leipzig wechselseitig hinderten, Konsulate in den beiden Städten einzurichten6 . Zu den, verglichen mit den fünfziger Jahren, wenigen Konsulaten, die Sachsen in den vierziger Jahren eingerichtet hat, gehört das Konsulat in Livorno. I.

Die Einrichtung des Konsulats in Livorno

An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ragte das Kurfürstentum bzw. das Königreich Sachsen als eines der wirtschaftlich fortgeschrittensten und ausfuhrstärksten Länder aus der langen Reihe der deutschen Staaten hervor7 . Zwischen Sachsen und den italienischen Staaten weitete sich der Handel speziell zwischen 1790 und 1805 erheblich aus. Günther Meinert schätzte den Anteil der Ausfuhren Sachsens auf die Apenninenhalbinsel für 1770 auf 10 %, für 1805 auf 20 % des Gesamtvolumens des Exports sächsischer Textilien8 . Angesichts dieser Fakten überrascht es, dass Sachsen um 1800 weder in Italien noch irgendwo sonst ein Konsulat unterhielt, um den Handel zu fördern und um die Untertanen der sächsischen Krone und deren Eigentum zu schützen. Das Ungewöhnliche dieses Faktums verdeutlicht der Vergleich mit Preußen, das 1809 schon 57 Handelskonsuln bzw. Kommerzagenten ausgesandt hatte. Nach den Untersuchungen von Jörg Ludwig eröffnete Dresden zwischen 1807 und 1819 lediglich vier Konsulate, darunter 1817 die Generalhandelsagentur in Neapel:9 in den zwanziger Jahren kamen 13 Konsulate hinzu; in den dreißiger und vierziger Jahren jeweils neun, darunter 1840 das Konsulat in Livorno, 1845 dasjenige in Genua und 1847 eines in Venedig. Der massive Ausbau des konsularischen Netzes in den fünfziger Jahren reihte 31 Konsulate an, darunter eines in Messina im Jahre 1855. 1867 verfügte das Königreich Sachsen damit über 73 Konsulate. Auf der Apenninenhalbinsel zählten dazu diejenigen in Genua, Venedig, Livorno, Neapel und Messina10 . Livorno, der einzige Mittelmeerhafen des Großherzogtums Toskana, genoss von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts neben Marseille, Konstan5 6 7 8 9

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Vgl.: M ICHAEL S CHÄFER: Textile Exportgewerbe und frühe Industrialisierung in Sachsen 1790–1850. In: S CHÄFER , T ÖPEL: Sachsen, Exportregion (wie Anm. 4), 131–154. J ÖRG L UDWIG: Staat und Exportunternehmen in Sachsen 1730–1850. In: U LRICH H ESS U . A . (Hg.): Wirtschaft und Staat in Sachsens Industrialisierung 1750–1930, Leipzig 2003, 25–50, hier 45–47. Grundlegend: H UBERT K IESEWETTER: Die Industrialisierung Sachsens: Ein regional-vergleichendes Erklärungsmodell, Stuttgart 2007. G ÜNTHER M EINERT: Handelsbeziehungen zwischen Sachsen und Italien: 1740–1814: Eine Quellensammlung, Weimar 1974, 80. Zu Neapel vgl.: D IETMAR S TÜBLER: Die neapolitanische Revolution (1820/21): Diplomatische Korrespondenzen aus Neapel und Wien. In: D ERS.: Revolution in Italien: Sächsische Diplomaten und Journalisten über Italien zwischen 1789 und 1871, Leipzig 2010, 61–86. J ÖRG L UDWIG: Zur Geschichte des sächsischen Konsulatswesens (1807–1933). In: J ÖRG U LBERT, L UKIAN P RIJAK (Hg.): Die Welt der Konsulate im 19. Jh., Hamburg 2010, 366–373.

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tinopel, Triest und Genua überragende Wertschätzung bei den europäischen Handelsmächten, allen weit voran bei England11 . Denn zwischen 1629 und 1675 entwickelte sich ein attraktiv ausgestatteter Freihafen. Gegen ein niedriges Lagergeld konnten die anlegenden Schiffe ihre Waren entladen, deponieren und reexportieren, ohne lästigen Kontrollen und Zahlungsverpflichtungen unterworfen zu werden. Die Zollsätze lagen mit 15 % bis 10 % des Warenwertes extrem niedrig; Getreide, das einträglichste Handelsgut des Hafens, stellte die Regierung in Florenz sogar von jedwedem Zoll frei12 . Zu einer Zeit, als jeder Transport langsam und risikobehaftet ablief und die Kenntnisse über die aktuellen Marktbedingungen in den möglichen Zielländern auf Seiten der Exporteure gering waren, erwies sich die Depositarfunktion Livornos von hohem Wert, um die Ware zu sichern und um die vorteilhaftesten Verkaufsbedingungen in potentiellen Absatzgebieten zu eruieren. In der Instruktion des Außenministeriums für den künftigen Konsul in Livorno vom 1. Februar 1840 erwartete Dresden in den jährlich einzureichenden Handelsberichten ausdrücklich Informationen darüber, was nach und über Livorno13 an Waren aus Sachsen ankam. Die Initiative zur Errichtung eines Konsulats in Livorno ging von dem Oederaner Handelsherrn und Fabrikbesitzer Adolph Gottlieb Fiedler aus. In einem Brief an das sächsische Außenministerium vom 27. Juli 1839 schlug er zugleich Wilhelm Hähner als möglichen Konsul vor. Der gebürtige Sachse, der zehn Jahre bei Fiedler gearbeitet hatte, führte mittlerweile in Livorno ein Kommissions- und Manufakturwarengeschäft mit 12 bis 14 ständig angestellten Kontoristen14 . Am 15. Januar 1840 erhielt Wilhelm Hähner das Patent des sächsischen Königs Friedrich August II. und am 29. April 1840 das Exequatur der großherzoglichen Regierung in Florenz als Konsul König Friedrich Augusts II. in Livorno15 . II.

Die Handelsberichte Wilhelm Hähners

Die Jahre, in denen Wilhelm Hähner die Funktion des sächsischen Konsuls in Livorno versah (1840–1868), fielen in die Zeit des unwiderruflichen Niedergangs der Wirtschaftskraft des Hafens. Die einstige Quelle seines Reichtums, der Getreidehandel, versiegte in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Handelsbericht vom Mai 1860 schrieb Hähner: Im Getreidehandel herrscht so ziemlich gänzliche Stille [. . . ] und überhaupt hat unser Platz in diesem Artikel seine Rolle als Depot für Frankreich, England und Spanien längst ausgespielt und deckt nunmehr nur noch den Verbrauch des Inlands16 . Der Verfall der Attraktivität des Freihafens Livorno schlug selbstverständlich auf den Handel zwischen Sachsen und Livorno im engeren und mit dem Großherzogtum Toskana bzw. den Levantestaaten im weiteren Sinn durch. Der Tuchhandel, schrieb Hähner im Bericht vom 22. Mai 1840 nach Dresden, ist ohnstreitig der wichtigste Zweig des Verkehrs zwischen 11 12

13 14 15 16

G IGLIOLA PAGANO DE D IVITIIS: English Merchants in Seventeenth Century Italy, Cambridge 1997. F RANZ P ESENDORFER: Zwischen Trikolore und Doppeladler: Leopold II., Großherzog von Toskana 1824–1859, Wien 1987, 169. Stichwort „Livorno“, in: Enciclopedia Italiana, Bd. 21, Rom 1934, 334–339, hier 337–339. Autor: ATTILIO M ORO. HStAD, 10717 MdA, Nr. 3672, nicht foliiert. Vgl.: Ebenda, Empfehlungsschreiben A. G. Fiedlers vom 27. Juli 1839 an das sächsische Außenministerium, betr. Berufung W. Hähners zum Konsul in Livorno. Vgl.: Ebenda. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 189.

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Sachsen und Italien und verdient daher von Seiten des sächsischen Fabrikstandes mit größter Aufmerksamkeit verfolgt zu werden. [. . . ] Dabei sei der Tuchhandel des hiesigen Platzes [. . . ] von außerordentlicher Wichtigkeit und bei weitem der bedeutendste von allen Häfen Italiens. Es gibt daher hier in allen Gattungen Tüchern sehr große Niederlagen, welche einen Teil des Bedarfs von Mittel- und Süditalien und Sizilien decken, auch wird viel davon nach Malta, Ägypten, Griechenland, der Barberei, Konstantinopel sc. versandt. Die einheimische Textilproduktion verfügte bei weitem noch nicht über ausreichende Kapazitäten, um den Bedarf des Großherzogtums, geschweige den der angrenzenden Staaten, speziell des Kirchenstaates, oder gar der Levantestaaten zu befriedigen. Dazu bedürfte es dringend massiver Importe. Umso mehr bedauerte Hähner im eben schon herangezogenen Bericht vom 22. Mai 1840, dass der Absatz der sächsischen Tücher in Italien in den letzten Jahren eher ab- als zugenommen hat. Dagegen stellte er fest, dass Frankreich, Belgien und die preußischen Rheinprovinzen in den feinen und hochfeinen und Böhmen in den geringeren Qualitäten Marktanteile gewinnen und ausbauen konnten. Für die Schwierigkeiten, sächsische Textilwaren in Livorno günstig abzusetzen, führte Hähner auch Ursachen auf, die in den Verantwortungsbereich der sächsischen Fabrikanten fielen: Sie liegen in dem unbefriedigenden Ausfall eines großen Teils dieser Tücher, indem solche beim Nässen sehr eingehen und von geringer Dauer sind; früher war der Verbrauch wegen ihrer Billigkeit und dem schmeichelhaften Äußeren sehr groß; jetzt aber liefert Belgien und Rhein-Preußen die mittelfeinen Gattungen auch billig, von soliderer Qualität und schönerer, dauerhafterer Appretur, so dass man sie häufig den sächsischen vorzieht. In den geringeren Gattungen liefert Böhmen kräftigere und billigere Ware und macht schnelle Fortschritte in der Appretur. Lobend hob Hähner die Fabrikate aus Döbeln, Leisnig, Großenhain und Oschatz hervor, die entsprechend gut „konvenieren“17 . Die Klagen über Stagnation (auf niedrigem Niveau) und Rückschläge im Tuchhandel zogen sich durch Hähners Berichte bis zum Abschluss seiner Mission in Livorno. Im Bericht vom Mai 1860 für das Jahr 1859 teilte Hähner zum wiederholten Mal mit: Baumwollne Tuche fanden weniger Absatz als gewöhnlich. Stoffe liefen ihnen den Rang ab: Die Chemnitzer, Glauchauer und Meeraner halbwollnen Stoffe zu Frauenkleidern sind gegenwärtig unstreitig die Hauptartikel der sächsischen Industrie für hiesige Gegend und wurden auch voriges Jahr [1859] in namhaften Quantitäten abgesetzt18 . In Livorno entstand aus ihnen Oberbekleidung, die im Mittelmeerraum guten Absatz fand. Gleichermaßen lebhafte Nachfrage fanden Chemnitzer Möbelstoffe aus Wolle, Baumwolle und Halbwolle, die in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre auf dem Markt erschienen19 . Ein aussichtsreiches, allerdings winziges Segment des Textilmarktes in Livorno konnte das sächsische Textilgewerbe besetzen und behaupten: den Vertrieb von Strümpfen. Im ersten Bericht Hähners vom 22. Mai 1840 schrieb der eben ernannte Konsul: Baumwollne Strümpfe liefert Sachsen fortwährend in großen Quantitäten, doch nicht so bedeutend wie früher, da ziemlich viel im Land selbst erzeugt wird. England kann in baumwollnen Sorten nichts ausrichten, dagegen deckt es in den feineren wollnen fast den ganzen Bedarf, während die geringen im Land selbst verfertigt werden. In verschiedenen Gattungen 17

18 19

Dieser Bericht Hähners findet sich ebenda, Bl. 12–33. Er ist vollständig publiziert in: Gewerbe-Blatt für Sachsen, Nr. 28 vom 9. Juli 1840, 222 f. bzw. Nr. 29 vom 16. Juli 1840, 230–232, hier 222. Die beiden Nummern der Zeitung sind archiviert unter: Ebenda, Bl. 38 bzw. 39. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 191. Ebenda, Bl. 194, Handelsbericht vom 17. Januar 1861.

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sächsischer baumwollner Strümpfe versendet der hiesige Platz bedeutende Partien nach der Levante, Griechenland sc20 . Das Beispiel der aus Sachsen exportierten Strümpfe bekräftigte, was schon bei Tuchen und Stoffen zum Vorschein kam: Sachsen produzierte die gewöhnlichen Qualitäten, also Massenware, während die feinen und hochfeinen Erzeugnisse aus England, Frankreich und anderen westeuropäischen Staaten kamen. Dass sich die baumwollne sächsische Massenware gegen die englische Konkurrenz am Markt durchsetzen konnte, hatte einen Grund, auf den jüngst Michael Schäfer aufmerksam gemacht hat: „Bis in die späten 1840er Jahre war die Maschinisierung der Wirkerei weder in Großbritannien noch in Sachsen oder anderswo in nennenswerter Weise in Gang gekommen. Die niedrigen Arbeitskosten des Erzgebirgsraumes genügten daher vollauf, um sich die Konkurrenz aus Nottinghamshire rasch vom amerikanischen Markt zu fegen“21 , das heißt von dem mit Abstand wichtigsten Absatzmarkt für die Erzeugnisse der sächsischen Strumpfwirker, nämlich den Vereinigten Staaten. Noch in der Mitte der vierziger Jahre verbreitete Hähner eine optimistische Stimmung: Es blieb sich der Umsatz von sächsischer Ware [hier: baumwollne Strümpfe] ziemlich gleich mit anderen Jahren, und Sachsen deckt ziemlich unseren ganzen Bedarf 22 . In den späten fünfziger Jahren trübte sich das Bild, das Hähner für Dresden entwarf, sichtlich ein. Den Wandel verursachte in erster Linie der Niedergang des Freihafens Livorno. Im Januar 1861 schrieb Hähner nach Dresden: In baumwollnen Strümpfen deckt Sachsen den Bedarf der barberesken Staaten größtenteils über Triest, daher unser Platz darin nur noch unbedeutend macht, und zudem beeinträchtigt die englische Konkurrenz den Artikel ungemein. Der Absatz davon nach dem Inland war der gewöhnliche23 . Doch selbst den Abkauf auf dem italienischen Festland beurteilte Hähner zwei Jahre später als sehr beschränkt24 . Denn mit der Formierung eines italienischen Nationalstaates im Jahre 1861 entstand ein robuster Binnenmarkt mit einem für den sächsischen Textilexport ungünstigeren Zollregime. Der italienische Binnenmarkt regte den bislang stark vernachlässigten Handel zwischen den Regionen auf der Halbinsel an und verlieh dem Aufbau eigener Produktionsstätten spürbare Impulse. Die sächsischen Textilfabrikanten stießen fortan neben der immer wieder beklagten ausländischen Konkurrenz in wachsendem Maße auf diejenige einheimischer Fabriken. Triest tauchte in Hähners Berichten von Beginn an wiederholt als schwergewichtiger Konkurrent zu Livorno auf. Österreich begünstigte den Freihafen (seit 1719) in Konkurrenz zu Venedig. Im 19. Jahrhundert stieg Triest zur wichtigsten Hafenstadt an der Adria auf25 . 20 21 22

23 24 25

Ebenda, Bl. 39 (= Gewerbe-Blatt für Sachsen vom 16. Juli 1840, 231). S CHÄFER: Textile Exporte (wie Anm. 4), 150. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 83, Handelsbericht vom Januar 1846. Unter dieser Signatur ist der Abdruck des Handelsberichts archiviert. Bei dem Druckerzeugnis handelt es sich wahrscheinlich um die in Leipzig erscheinende Deutsche Allgemeine Zeitung vom 12. März 1846, Beilage. Die Zeitung lag mir nicht vor. Ebenda, Bl. 195. Ebenda, Bl. 204, Handelsbericht vom 28. Februar 1863. Die oft stürmischen Erfolge der industriellen Revolution in mehreren europäischen Staaten und in den USA offenbarten das Industrialisierungsdefizit in der Habsburgermonarchie. Darunter litt auch der Hafen von Triest. Er wurde immer mehr zum Importhafen, während der Export an Bedeutung verlor. Vgl. hierzu: M ARKUS D ENZEL: Österreichs Direkthandel mit Übersee. Die kommerziellen Verbindungen von Triest über See (18. Jh. bis 1914). In: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 13 (2013), 105–145, hier 144 f.

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Auch die sächsischen Kaufleute wählten immer häufiger die Strecke von Leipzig über Prag und von hier entweder weiter über Wien nach Triest oder über Linz nach Bozen. An die tyrrhenische Küste führte die Reise von Leipzig auf der Harzstraße nach Hamburg und von dort nach Genua, dessen Hafen im einigen Italien zum wichtigsten des Königreichs aufstieg und somit das Seine leistete, Livorno in den Schatten zu stellen. Neben der Wolle und Baumwolle sondierte Hähner den Markt für Leinen26 . Im Januar 1846 schrieb er nach Dresden: Seit einigen Jahren deckt fast ausschließlich Irland und Schottland unseren ganzen Bedarf [d. h. denjenigen im Freihafen] und namentlich kommen von Irland großen Massen feiner Leinwand zu sehr billigen Preisen, wovon freilich ein guter Teil mit Baumwolle verfälscht ist, was späterhin diesen Absatz wieder Deutschland zuführen dürfte, wenn die dortigen [d. h. die sächsischen] Fabriken in billigen Preisen und eleganter Ausstattung Fortgang machen27 . Noch 1828 lag der Anteil des Leinengewerbes am Textilwarenexport aller deutschen Staaten bei 47 %. 1850 betrug er nur noch 29 %, um bis 1864 auf 9 % zu fallen28 . Sachsen, in führender Position in der Textilindustrie der Staaten des Deutschen Bundes, trug an den Einbußen besonders schwer. Der Rückgang des sächsischen Exports nach bzw. über Livorno erklärt sich zum erheblichen Teil aus dem Einbruch des Leinenwarenexports. Sachsen blieb diesbezüglich in Livorno eine winzige Nische auf dem Markt, nämlich Damaste und Zwilliche zu Tischzeugen sc. Erstere werden in den Luxusgattungen durchgängig von Sachsen bezogen, aber der Verbrauch ist bei der Schönheit der gewöhnlichen Zwilliche leider sehr gesunken. – Letztere kommen in den bessern Sorten aus der Schweiz und in den geringern von Mähren und Niederösterreich. Die sächsischen Zwilliche sind in Qualität zu schwer und mithin zu teuer für die italienischen Märkte. Wenn die sächsischen Fabrikanten sich nach dem hiesigen Geschmack richten und eine leichtere Ware liefern wollten, würden sie ohne Zweifel ihr Fabrikat wieder in Aufnahme bringen. – Baumwollne Zwilliche, welche besonders die Schweiz liefert, tun dem Verbrauch der leinen viel Abbruch29 . Die Bemerkungen zur Ausnahmesituation bei damaszierten leinenen Tischdecken und Servietten verdeutlichen zugleich die Schwierigkeiten Hähners im Umgang mit dem endgültigen und unabweisbaren Abstieg des Leinengewerbes: Baumwolle verdrängte das Leinen, weil jene qualitativ besser und deutlich billiger war als dieses. Das erkannte auch Hähner – und ließ dennoch die Hoffnung auf einen rettenden Aufschwung des Leinengewerbes nicht fahren. Dem Export aus dem Freihafen Livorno nach Sachsen widmete Hähner in seinen Handelsberichten stets nur wenige Zeilen. Schon in seiner ersten Post nach Dresden (9. Juli 1840) stellte er fest: Früher, als Livorno noch der erste Stapelplatz des mittel-ländischen Meeres und die Niederlage fast aller Produkte Asiens, Afrikas, Griechenlands und Siziliens war, konnte man die Ausfuhr nach Deutschland und folglich nach Sachsen sehr bedeutend nennen; allein seit einer Reihe von Jahren hat dieser Handel abgenommen30 . An der Spitze der Exportartikel aus Livorno in Richtung deutsche Staaten behauptete sich kontinuierlich das Öl, und zwar Toskaner Tafelöl in ziemlicher Quantität [. . . ] billiger 26 27 28 29 30

Seide und Seidenerzeugnisse spielten im Handel zwischen dem Königreich Sachsen und dem Großherzogtum Toskana keine nennenswerte Rolle. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 83. H ORST B LUMBERG: Die deutsche Textilindustrie in der industriellen Revolution. Berlin (-Ost) 1965; anknüpfend an: G ERHARD B ONDI: Deutschlands Außenhandel (1814–1870), Berlin (-Ost) 1958. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 39 (= Gewerbe-Blatt für Sachsen vom 16. Juli 1840, 231). Ebenda.

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und reiner schmeckend als das französische. Außerdem Fabriköl, nur periodisch, weil Triest oft billigere Preise darbieten kann31 . In unbedeutenden Größenordnungen tauchten in den Handelsberichten noch Weinstein, Marmor aus Carrara und vorübergehend Florentiner Strohhüte und Strohgeflechte auf. Die Klagen über die zum Teil dramatischen Einbrüche im Handel zwischen Sachsen und Livorno hielten bis zum Ende der Berichterstattung aus Livorno an. Die letzten Hoffnungsschimmer, die über dem notleidenden Hafen von Livorno wie Irrlichter phosphoreszierten, beschrieb Hähner im Handelsbericht vom Februar 1859: Der Bau unseres neuen Hafens ist bereits so weit vorgeschritten, dass derselbe von den größeren Schiffen schon benutzt wird, doch wird die gänzliche Vollendung noch einige Jahre erfordern. Dieses großartige Werk wird indes eine entsprechende Nützlichkeit nur dann erst gewähren, wenn durch Beendigung der direkten Eisenbahnverbindung mit Oberitalien und Deutschland und noch mehr durch Herstellung des Kanals von Suez der Verkehr unseres Platzes gehoben werden wird32 . Der Ausbau des Hafens mit dem Ziel, die größer werdenden Schiffe aufnehmen zu können, und seine Anbindung an das italienische Schienennetz durch den Bau der Eisenbahnlinie Livorno – Bologna kamen zunächst gut voran. Hof und Regierung in Florenz spürten die Notwendigkeit, die 1848 gerade in Livorno mit extremer Heftigkeit ausgefochtenen Gegensätze zu entschärfen. Hinzu trat das österreichische Interesse, Livorno zu „seinem Hafen“ und als Gegengewicht zum wachsenden Einfluss Frankreichs im Mittelmeer auszubauen. Gleichzeitig sollte das österreichische Festungsviereck Mantua – Legnago – Peschiera – Verona durch die Eisenbahnlinie Bologna – Livorno mit dem zukünftigen habsburgischen Flottenstützpunkt am Tyrrhenischen Meer verbunden und damit dem sardisch-piemontesischen „Hineinwachsen nach Italien“ eine Grenze gezogen werden33 . Die Interessenlage änderte sich grundlegend, als 1859/60 die FreiwilligenArmee des Südens unter dem Kommando Giuseppe Garibaldis und die – mit Frankreich verbündete – reguläre Armee des sardischen Königs Viktor Emanuel II. die österreichische Fremdherrschaft zerbrachen und den Boden für die Entstehung eines Nationalstaats, des Königreichs Italien (17. März 1861), aufpflügten. Im Mai 1860 klagte Hähner: Der Bau unseres neuen Hafens wird nur langsam betrieben, obschon seine Vollendung sehr zu wünschen wäre, und ebenso langsam schreiten die Arbeiten an der italienischen Zentralbahn nach Bologna vorwärts, deren Beendigung eine Lebensfrage für unseren Platz ist34 . Die schon fertige Strecke von Genua nach Bologna und die von der Regierung des Königreichs Italien bereits genehmigte Trasse nach Rom, die über Florenz führte und Livorno rechts liegen ließ, verminderten die Attraktivität des Handelsplatzes Livorno zusätzlich. Per 1. Januar 1868 verlor Livorno offiziell die Privilegien eines Freihafens und stieg damit aus der Champions League der Mittelmeerhäfen in die lange Reihe der Häfen mit regionaler oder auch nur provinzieller Bedeutung an der Küste des Tyrrhenischen Meeres ab. In seinem Handelsbericht vom März 1867 klagte Hähner: Wenn die vorangegangenen Jahre eine sehr fühlbare Abnahme der Handelsbedeutung des hiesigen Platzes erwiesen, so war dies noch in höherem Grade im verflossenem Jahr der Fall35 . Giorgio Mori legte 31 32 33 34 35

Ebenda, Bl. 39 (= Gewerbe-Blatt für Sachsen vom 16. Juli 1840, 232). HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 184. Vgl.: G IORGIO M ORI: Linee e momenti dello sviluppo della città, del porto e dei traffici di Livono. In: La Regione: Rivista dell’unione regionale delle provincie toscane 3 (1956), 3–44, hier 22. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 190. Ebenda, Bl. 214.

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das tiefer liegende Ursachengeflecht frei: „Die Stadt und der Hafen von Livorno hatten in den vergangenen Jahrhunderten, seit Anfang des 17. Jahrhunderts, ihren Erfolg auf die Funktion als Stapelplatz für den Depositen- und Transithandel gegründet, der für eine Epoche charakteristisch war, in der die Meere unsicher und die Kenntnisse über die aktuellen Preise auf den verschiedenen europäischen Märkten, über die die international handelnden Akteure verfügten, es nützlich erscheinen ließ, die Waren mehr oder weniger lange an bestimmten Punkten zu deponieren, um sie danach auf einen ausgesuchten Markt weiterzuleiten. Nun, unmittelbar nach dem Einsetzen der Dampfschifffahrt [1835 ff.], des Eisenbahnverkehrs und der schnelleren Nachrichtenübermittlung verlor eine derartige Funktion jedweden Wert“36 . Diese Umbrüche im weltweiten Handel trafen Livorno hart. Wertmäßig berechnet wurden im Jahre 1835 23 % der ankommenden Waren nach einer unterschiedlich langen Lagerfrist reexportiert37 . Dieses Geschäft, etwa ein Viertel des gesamten Unternehmens, brach innerhalb weniger Jahrzehnte beinahe vollständig zusammen. Livorno spürte die Neuordnung besonders schnell und heftig, denn auf zwanzig Prozent der 1835 im Hafen vor Anker liegenden Schiffe wehte der Union Jack. Das änderte sich nun sehr rasch, weil die „Werkstatt der Welt“ eine ungeheure Energie entfaltete, um die Revolution des Transportwesens zu beschleunigen. Dampfschiffe verdrängten die Windjammer und waren wesentlich robuster, erheblich größer und vor allem dreimal schneller als die alten Segelschiffe38 . Die Erfindung der Morsetelegraphie (1837) revolutionierte die Nachrichtenübermittlung und verstärkte die benannten Konsequenzen. Konsul Hähner nahm diese Entwicklungen sehr wohl wahr und informierte Dresden 1843 über seine Beobachtungen: Der Verkehr mit der Levante scheint indessen von Jahr zu Jahr mehr abzunehmen infolge der direkten Verschiffungen von England dahin39 . Hinzu kam, dass das Vordringen der europäischen Kolonialmächte in der Levante und in Nordafrika (Besetzung Algeriens durch Frankreich 1830/32) sowie der Kräfteverfall des „kranken Mannes am Bosporus“ (Krimkrieg 1853/56) die Kaufleute der schwächeren europäischen Staaten erheblich verunsicherten. Aus alledem zog Hähner auch persönliche Schlussfolgerungen. Am 15. November 1867 teilte er dem sächsischen Außenminister mit, er verlege seinen permanenten Wohnsitz aus Livorno in die episodische Hauptstadt des Königreichs Italien, nach Florenz40 . Ob es dazu noch gekommen ist, wissen wir nicht. Denn am 5. Juni 1868 wies der sächsische Außenminister Richard Freiherr von Friesen Hähner an, seine Funktionen als Konsul einzustellen, sobald der Generalkonsul des Norddeutschen Bundes die seinigen angetreten hat41 . Damit endete die Existenz des sächsischen Konsulats in Livorno.

36 37 38 39 40 41

G IORGIO M ORI: L’economia del Granducato di Toscana dalla Restaurazione all’unità d’Italia. In: Miscellanea storica della Valdelsa, Castelfiorentino 1961, 9–32, hier 27. Vgl.: M ORI : Livorno (wie Anm. 33), 21. Vgl.: L UIGI DAL PANE: Industria e commercio nel Granducato di Toscana nell’età del Risorgimento, 2 Bde., Bd. 2. L’Ottocento, Bologna 1973, 33–40. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 61. Vgl.: Ebenda, Bl. 220. HStAD, 10717 MdA, Nr. 3672, nicht foliiert.

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III.

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Wirtschaftspolitische Kontroversen während der Revolution 1848

III.1.

Wilhelm Hähners „Vorschläge“ an das sächsische Ministerium der Äußeren Angelegenheiten

Zu aktuellen politischen Ereignissen im Großherzogtum Toskana nahm Wilhelm Hähner in seinen Handelsberichten nicht Stellung42 . Es liegen auch keine separaten Berichte vor, in denen er herausragende politische Vorgänge auf der Apenninenhalbinsel kommentiert hätte, wie es beispielsweise der sächsische Generalhandelsagent Carl Just aus Neapel getan hat43 . Aus der Regelmäßigkeit der Handelsberichte ragt die einleitend erwähnte, 14 doppelseitig beschriebene Blätter füllende Adresse vom 24. Mai 1848 an das Außenministerium in Dresden heraus. In ihr widmete sich Hähner erstaunlicherweise nicht etwa italienischen Angelegenheiten. Er schrieb sich vielmehr von der als dringend empfundenen Verpflichtung frei, bei der traurigen Lage, in der sich gegenwärtig der sächsische Fabrikstand und die Fabrikarbeiter befinden [. . . ,] meine Ansichten vorzutragen, wie vielleicht die herrschende Not [in Sachsen] am schnellsten und zweckmäßigsten zu erleichtern sein dürfte44 . Selbstbewusst verwies er den Empfänger seiner Post darauf, dass er das sächsische Fabrikwesen von der Pike auf kenne, später viele Reisen nach England, Frankreich, Belgien und in alle Gegenden Deutschlands unternommen habe und nicht zuletzt als Konsul in Livorno, diesem freien Rummelplatz der Fabrikate aller Länder, die Möglichkeit besitze, die verschiedenen Fabrikate miteinander zu vergleichen. Ich glaube, mir also schmeicheln zu dürfen, dass die erworbenen Ansichten nicht ganz ohne Interesse für das Hohe Ministerium sein werden45 . Erhellend für das Verständnis der Denkschrift Hähners vom 24. Mai 1848 erscheint die Tatsache, dass sie der Autor in Leipzig geschrieben hat. Offenbar befand sich Hähner vorübergehend in Sachsen und besuchte dabei die Leipziger Ostermesse, die vom 7. bis 27. Mai stattfand. Sie wirkte auf die Besucher deprimierend. Denn zwangsläufig spiegelte sie die gesamtgesellschaftlichen Erschütterungen ab. Mehrere Missernten in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre fielen 1847 mit der zyklischen Wirtschaftskrise zusammen, die sich infolge der Revolution zeitlich in die Länge zog46 . Der Mangel an Nahrungsgütern trieb die Preise auf bisher ungekannte Höhen: Für einen Dresdener Scheffel Roggen musste der Käufer 1844 2 Taler 28 Neugroschen 5 Pfennige zahlen; 1847 6 Taler 7 Neugroschen 6 Pfennige47 . Der Einkauf der Nahrungsmittel band einen immer größeren Teil der zur Verfügung stehenden Kaufkraft. Der Binnenmarkt der die gewerbliche Produktion dominierenden Textilbranche brach ein. Hinzu traten, hervorgerufen durch Revolution und Krieg, eine allgemeine Verunsicherung der Kaufleute und mancherorts die Auflösung traditioneller Handelsverbindungen. Man denke an die Erhebung der Lombardei und 42 43 44 45 46

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Die einzige Ausnahme bildet der Bericht vom 29. März 1867, in dem Hähner die Dauerhaftigkeit des Königreichs Italien in Zweifel zieht. Vgl.: Ebenda. Vgl.: S TÜBLER: Revolution (wie Anm. 9), 61–86. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 115. Ebenda. A NNETTE Z WAHR: Zur Politik der Bourgeoisie Sachsens vom Februar bis September 1848, Diss. masch. Leipzig 1980, 58–61. Daran anknüpfend und verstärkend: K ARL C ZOK (Hg.): Geschichte Sachsens, Weimar 1989, 357. H ANS -U LRICH W EHLER: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2. Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49, München 1987, 646.

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Venetiens gegen die österreichische Fremdherrschaft (18.–22. März 1848: Die „Fünf Tage von Mailand“) und an den Krieg zwischen Sardinien-Piemont und Österreich (24. März– 25. Juli 1848). Unter diesen inneren und äußeren Belastungen ging die gewerbliche und industrielle Produktion seit Mai 1848 und bis in den Herbst des Jahres hinein zurück. Vielfach kam sie vollständig zum Stillstand. Die Zahl der Arbeitslosen stieg erheblich an. Im Frühjahr 1848 wurden in Sachsen 60 000 Arbeitslose aus öffentlichen und privaten Mitteln unterstützt48 . Der Wirkung der angesprochenen deprimierenden Eindrücke konnte sich Hähner nicht entziehen. Der punktuell wahrnehmbaren politischen Radikalisierung oder gar der Revolution das Wort zu reden, lag ihm fern. Die seit Anfang der vierziger Jahre in Sachsen eingeübte Praxis, die Unzufriedenheit in Denkschriften, Bittschriften oder Adressen dem König, dem Landtag, dem Stadtparlament oder der Regierung vorzutragen, mündete im März 1848 in einen regelrechten Adressensturm. Annette Zwahr hat in ihrer Dissertation aus dem Jahre 1980 Inhalt und Funktion dieses Vorgangs auf belastbarer archivalischer Grundlage analysiert49 . Hähners „Vorschläge“ könnte man auch als eine Adresse, im Wortsinn: als die Vorgabe einer bestimmten Richtung50 , bezeichnen. Seine Ausgangsthese lautete: Das sächsische Fabrikwesen verlangt von der Hohen Regierung schleunigste Abhilfe seiner in der Tat immer furchtbarer drohenden Not51 . Es fällt die Dringlichkeit des Vortrags ebenso auf wie der Hinweis auf das anschwellende Elend, dessen schreckliche Gestalt Gewaltanwendung ankündigte52 . Die Regierung müsse der Hauptursache der Not, dem herrschenden Mangel an Privatkredit, durch öffentlichen Kredit unter dem Schutz der Hohen Regierung zu Hilfe [. . . ] kommen, zugleich aber auch schleunigst Abzugsquellen aufsuchen, um den öffentlichen Kredit nicht über die Grenzen der Klugheit ausdehnen zu müssen53 . Interessanterweise sprach Hähner nicht von Geldknappheit, sondern vom fehlenden Vertrauen der Banken in potentielle Kreditnehmer, d. h. von einer Kreditknappheit. Die Furcht, Kredite auszureichen – und übrigens auch, solche aufzunehmen – wollte Hähner überwinden, indem er den Staat in die Haftung einband und auf diesem Weg beide Parteien die Schwelle des Misstrauens überwanden. Eine zweite Überlegung Hähners betraf die Antwort auf die Frage, wie man vorzugsweise kleinen und mittleren Fabrikanten bessere Chancen am Markt bieten könnte. Hierzu empfahl er die sofortige Errichtung einer oder mehrerer Landesniederlagen, wo Geld bedürfende Fabrikanten ihre Fabrikate niederlegen könnten und dagegen ein bis zwei Drittel (je nach den Artikeln) des vollen Wertes nach Schätzung in eigens dazu geschaffenen Scheinen ausgezahlt erhalten. Diese Scheine müßten [. . . ] durch die deponierten Waren und 48

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Ausführlicher zur wirtschaftlichen Situation Sachsens vgl.: ROLF W EBER: Die Revolution in Sachsen 1848/49: Entwicklung und Analyse ihrer Triebkräfte. Berlin (-Ost) 1970, 1–7; C ZOK: Geschichte Sachsens (wie Anm. 46), 341–348. Vgl.: Z WAHR: Zur Politik (wie Anm. 46), 35–57. Vgl.: Duden, Bd. 7. Das Herkunftswörterbuch: Etymologie der deutschen Sprache, 4. Aufl. Mannheim 2007, 22. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, 115. Als Menetekel wirkten die isoliert gebliebenen Unruhen in den Schönburgischen Herrschaften (Glauchau u.a.), die ihren Höhepunkt im Sturm auf das Waldenburger Schloss erreichten. Militär stellte die Ordnung wieder her. Zur revolutionären Bewegung auf dem sächsischen Land vgl.: ROLAND Z EISE: Die antifeudale Bewegung der Volksmassen auf dem Lande in der Revolution 1848/49 in Sachsen, Diss. masch. Potsdam 1965, 131–138. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, 115 f.

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vielleicht auch noch durch den Staat garantiert sein54 . In diesen, den Zeitraum zwischen den periodischen Messen füllenden permanenten Verkaufsausstellungen, die Hähner als Nachbildungen der großartigen Manufakturwarenlager Londons begriff, lastete freilich das Handelsrisiko allein auf den Schultern der Eigentümer der ausgestellten Waren. Denn die Bestimmungen der Landesniederlagen zwangen ihn, das Ausstellungsstück nach sechs Monaten zurückzuziehen bzw. zwangsweise zu versteigern. Ihm blieb dann nichts anderes übrig, als den Verlust abzuschreiben55 . Dennoch gab sich Hähner überzeugt, dass sein Konzept die Gefährdung der bestehenden Ordnung abmindern würde: Durch schnelle Gründung einer solchen Anstalt wird es dem hilfsbedürftigen Teil des sächsischen Fabrikstandes möglich werden, einen großen Teil der Arbeiter fortzubeschäftigen und somit das drohende Elend erträglicher zu machen56 . Als ein weiteres Mittel, die Misere der pauperisierten Massen zu lindern, wenn nicht sogar zu heilen, empfahl Hähner dem Außenministerium die schnellstmögliche Erhöhung der Zölle auf alle Artikel, die noch vom Ausland zur Konsumtion eingeführt werden, damit dem inländischen Anbieter, bis zur Beseitigung gegenwärtiger Krisis, wenigstens die Versorgung des inländischen Verbrauchers ausschließlich gesichert wird57 . Sachsen und die deutschen Staaten überhaupt sollten nur auf rohe Produkte, die seinem Consumo und Fabrikbedarf entsprechen, gegen Begünstigung des Absatzes der Produkte seines Gewerbefleißes und zugleich wegen Ausdehnung seines Seehandels, Zollermäßigungen eintreten lassen und ein strenges Reziprozitätssystem befolgen58 . Um die drastische Schutzzollpolitik zu rechtfertigen, bezog sich Hähner auf das große Übergewicht Englands, besonders in der baumwollnen Industrie. Die ungehinderte Expansion der kolossalen Macht Englands mache die eigenen Arbeiter brotlos und bereite der mühsam geschaffenen Industrie einen schnellen Untergang59 . Im Ringen um den Vorrang zwischen den Befürwortern des Freihandels und denen der Schutzzölle engagierte sich Hähner als entschiedener Wortführer derer, die sich für Schutzzölle aussprachen. Den Kern bildeten die Spinnereibesitzer, die sich gegen die Einfuhr des billigen und qualitativ hochwertigen Baumwollgarns stemmten. An der Spitze der Freihändler standen die maßgeblichen Repräsentanten der großen Handelshäuser und Banken. Sie richteten ihre Anstrengungen neben der Textilindustrie auf den Maschinenbau, den Eisenbahnbau und den Bergbau. Die Grossisten importierten billiges baumwollenes Garn aus England und verdienten am Verkauf dieses Produktes an die Spinnereibesitzer. Als sich 1842/43 in der Textilindustrie krisenhafte Anzeichen zeigten, richteten die Schutzzöllner Adressen an den König und an den Landtag. Die Freihändler weigerten sich, ihnen beizutreten. Ihr Einfluss reichte bereits bis in die Regierung hinein, während sich die Schutzzöllner vergeblich mühten, Kernpunkte ihrer Agenda in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu überführen60 . Die von ihnen instrumentalisierte Adressbewegung sollte Abhilfe schaffen.

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Ebenda, Bl. 116. Vgl.: Ebenda, Bl. 117. Ebenda, Bl. 118. Ebenda. Ebenda, Bl. 128. Ebenda, Bl. 127. Vgl.: Z WAHR: Zur Politik (wie Anm. 46), 10–14.

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Schließlich analysierte Hähner die aktuelle Situation des sächsischen Außenhandels und unterbreitete Vorschläge, um die Position der Textilindustrie auf den Märkten zu festigen und wo möglich auszubauen. Die sächsische Textilindustrie brächte Erzeugnisse hervor, die in hohem Maße den Ansprüchen des Weltmarktes entsprächen. Das Leisniger Fabrikat eignet sich ganz vorzüglich für die Exportation, besonders nach Italien. [. . . ] Die Meeraner und Glauchauer karierten halbwollnen und wollnen Stoffe können unbedingt im Ausland durch ihre Billigkeit jedes andere Fabrikat verdrängen. Dasselbe gilt auch für Schals von denselben Stoffen. [. . . ] Von Chemnitzer gemusterten, baumwollnen und halbwollnen Waren gilt im allgemeinen dasselbe [. . . ]. Für sächsische Strumpfwaren sind die Aussichten in Italien günstig61 . Dem Lob folgt eine schwerwiegende Einschränkung: Die gegenwärtige Organisation des Absatzes [. . . ] [sei] unnatürlich und für das Gedeihen der Fabriken höchst verderblich62 . Die Fabrikanten seien über die Situation auf den internationalen Märkten schlecht informiert, weshalb sie mit ihren Produkten oft zu spät und gelegentlich mit veralteten Mustern ankämen. Um die Situation zum Vorteil der sächsischen Textilfabrikanten zu wenden, empfahl Hähner in seiner Denkschrift vom 24. Mai 1848 folgende Maßnahmen: Der sächsische Fabrikant [. . . ] sollte, wie der englische, seine gesamten Kapitalkräfte und seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Fabrikation richten und nicht noch Kaufmann sein wollen oder müssen63 . Die aufstrebenden Fabriken überschwemmten die Märkte mit ihrer massenhaften Produktion. Den Verkauf zu organisieren, erforderte professionelle Marktforschung an traditionellen Plätzen und die Erschließung neuer Absatzgebiete. Um sie pünktlich, schnell und zuverlässig zu erreichen, bräuchte man erfahrene Logistiker. Aus den genannten Gründen plädierte Hähner – wie immer am englischen Beispiel orientiert – dafür, Technisches und Kaufmännisches zu trennen, also die Personalunion von Großhändler und Fabrikant aufzulösen64 . Der zweite Vorschlag, den Hähner unterbreitete, um die Mängel in der Organisation des sächsischen Außenhandels zu beheben, bildete das Pendant zu den Landesniederlagen auf dem Gebiet des Binnenhandels. Ein Nationalinstitut sollte gegründet werden, um den Außenhandel zu beleben und zweckmäßiger zu gestalten. Dieses Institut dürfte nicht [. . . ] direkt von der Regierung abhängig sein, [. . . ] sondern es müßte nur unter deren Begünstigung und Schutz stehen. [. . . ] Die Aufgabe dieses Instituts wäre, durch Reisende und Errichtung von Niederlagen im Ausland den Absatz sächsischer Manufakturwaren im allgemeinen zu befördern und auszudehnen und gewissermaßen die Fabrikation zu leiten und derselben eine angemessene Richtung zu geben. Diese Methode setze den Fabrikanten in den Stand, den künftigen Bedarf der verschiedenen Länder im Voraus zu beurteilen, um zur gehörigen Zeit mit gesuchten Waren an die Märkte zu kommen65 . Einen Schwerpunkt der Arbeit des Nationalinstituts und seiner Niederlassungen sah Hähner darin, durch diese Einrichtungen schneller als bisher an die neuesten, modebestimmenden Muster aus Paris, Lyon und England zu gelangen. Nach der Bearbeitung durch geschickte Weber und raffinierte Zeichner sollten die „frisierten“ ausländischen Muster auf kürzestem 61 62 63 64 65

HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 119 f. Ebenda, Bl. 122. Ebenda, Bl. 123. Vgl.: T HOMAS N IPPERDEY: Deutsche Geschichte 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat, München 1994, 207. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 122.

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Weg in den kleinen Unternehmen verfügbar sein66 . Für diese „Werkspionage“ bot das Außenministerium schon am 18. Oktober 1846 die Mitwirkung der aus dem Handelsstand gewählten Konsuln an67 . Erwartungsgemäß lenkte der sächsische Konsul in Livorno schließlich die Aufmerksamkeit Dresdens auf die künftige Wichtigkeit Italiens68 . Die von ihm gelieferten Argumente erwiesen sich allerdings nahezu ausnahmslos als Luftnummern. Der in Aussicht gestellte großartige Absatz in echt blauer wollfarbiger Ware in den geringeren Mittelgattungen, wie sie in Leisnig, Döbeln, Großenhain, Bischofswerda, Oederan usw. erzeugt werden69 , blieb in Wirklichkeit aus. Die am Beginn der Revolution aufgestellte Nationalgarde sollte damit eingekleidet werden. Aber die vordringende Konterrevolution löste diese paramilitärischen Formationen auf. Auch die Idee einer italienischen Zollunion nach deutschem Vorbild und mit ganz wahrscheinlich gemäßigten Zöllen, über die am Vorabend der Revolution, gerade in Florenz, viel diskutiert wurde, nahm keine greifbare Gestalt an. Damit verwehte die Perspektive eines Marktes von mehr als 24 Millionen Konsumenten70 . Schon in der Planungsphase des erst 1869 eröffneten Suezkanals schossen die von Hähner voller Zuversicht nach Dresden transportierten Wunschträume üppig ins Kraut, dank der großartigen und schnellen Entwicklung der italienischen Seemacht könnte diese von der Rückkehr des Handels auf seinen alten Weg über Ägypten in die Levante, ja bis nach Indien und China in besonderer Weise profitieren71 . Dazu hätte es jedoch einer modernen Flotte unter Dampf bedurft, über die zuvörderst die Engländer verfügten. Die Italiener bauten, staatlich subventioniert, weiterhin vorzugsweise Segelschiffe, die den potentiellen Gewinn der Suezdurchfahrt nicht abzuschöpfen vermochten72 . Ein treffendes Beispiel hochfliegender Hoffnungen lieferte Hähners Urteil hinsichtlich der Lombardei. Sie gehörte zusammen mit Venetien zum Besitz der Habsburger. Am Beginn der Revolution vertrieben die Aufständischen die österreichischen Truppen aus der Lombardei. Die intakte österreichische Armee setzte sich im Festungsviereck an der lombardisch-venezianischen Grenze fest und eroberte im Juli 1848 die Lombardei zurück. Diese Möglichkeit hatte Hähner in seiner Denkschrift vom 24. Mai 1848 völlig ignoriert und die sächsischen Textilfabrikanten ganz einseitig orientiert: Die Lombardei wird hoffentlich bald ein wichtiger Abnehmer sächsischer Fabrikate werden und es wäre zu wünschen, dass sich die sächsischen Fabrikanten immer von dem Bedarf unterrichten, um zur geeigneten Zeit sich dafür rüsten zu können und nicht die letzten am Markt zu sein73 . Tatsächlich musste die Habsburgermonarchie erst im Juli 1859 die Lombardei aufgeben.

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Vgl.: Ebenda, Bl. 122. Brief des MdA an das MdI vom 18. Oktober 1848, in: Ebenda, Bl. 89. Jörg Ludwig macht auf einen Brief des Außenministeriums vom 25. März 1849 an den Konsul in Zürich aufmerksam, in dem die Zuweisung neuer Aufgaben an die Konsuln erwogen wird, z. B. „die Unterhaltung von Mustersammlungen sächsischer Gewerbeprodukte“. In: L UDWIG: Konsulatswesen (wie Anm. 10), 372. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 124. Ebenda, Bl. 119. Ebenda, Bl. 124. Ebenda, Bl. 125. Zur italienischen Handelsflotte 1862 ff. vgl.: W OLFRAM F ISCHER (Hg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 5 Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jh. bis zum Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1985, 764, Tabelle 30. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 120.

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Die krassen Fehlurteile Hähners entsprachen der unter den Liberalen vorherrschenden Euphorie angesichts der „Märzerrungenschaften“, die sie für unumstößlich hielten. Die Denkschrift Hähners entstand zu einem Zeitpunkt, als daran noch keine ernsten Zweifel aufkamen. Ein weiterer Grund für Hähners falsche Prognosen liegt in der einseitigen Ausrichtung seines Interesses auf die Textilbranche. Für den Handel Sachsens mit und über Livorno füllten Wolle, Baumwolle und (abnehmend) Leinen sowie die entsprechenden Erzeugnisse den Rahmen nahezu restlos aus. Schrittmacher der industriellen Revolution wurden indessen Bergbau und Hüttenwesen, Maschinen- und Eisenbahnbau. Sie lagen außerhalb von Hähners Gesichtsfeld. In der Folge beurteilte er die Perspektiven der italienischen Wirtschaft und ihre Chancen auf dem Weltmarkt falsch. Den favorisierten Kreis von Bezugspersonen, für die sich Hähner in seiner Denkschrift vom 24. Mai 1848 engagierte, bildeten die kleinen Fabrikanten und Meister74 . Denn „für die meisten Liberalen [lag] der Kern der ‚sozialen Frage‘ in dem sinkenden Wohlstand der kleinen selbständigen Produzenten, Kaufleute und Bauern“75 . Genau diese Schicht (schein-)selbständiger Existenzen schmolz unter dem Eindruck der industriellen Revolution zahlenmäßig und hinsichtlich ihrer Relevanz in der Gesellschaft immer mehr ab. Dem stellte sich Hähner mit seinen „Vorschlägen“ entgegen. Am deutlichsten trat das in Erscheinung, wenn er sich zum Leinengewerbe äußerte. Während sich die Wolle und Baumwolle verarbeitenden Textilbranchen unter dem Druck der englischen Rivalen erfolgreich behaupteten, unterlag das (überwiegend verlegte) Heimgewerbe in der sächsischen Oberlausitz (Zittau: Ebersbach, Großschönau, Seifhennersdorf) der einheimischen und ausländischen Verdrängungskonkurrenz irreversibel. Hähner sah keinen Grund, die Flinte in den Flachs zu werden. Im Gegenteil! Ich halte die Leinenfabrikation für die vorteilhafteste und naturgemäßeste Industrie Sachsens; denn das Land eigne sich größtenteils vortrefflich zur Flachskultur, und vieler noch unbenutzter oder schlecht benutzter Boden kann noch vorteilhaft dazu verwendet werden; die Kultur und Zubereitung des Flachses erfordert viele Hände und die Fabrikation der Leinwand beschäftigt deren noch weit mehr. Bei den so günstigen natürlichen Elementen glaube ich, dass bei einer Begünstigung des Flachsanbaues und der Maschinenspinnerei von Seiten der Staatsregierung, diese Industrie sehr bald wieder das alte Übergewicht erlangen wird, obschon die irländische Leinenfabrikation gegenwärtig einen großen Vorsprung hat [. . . ]. Die Unterstützungen zur Beförderung von Flachsspinnereien könnte[n] vielleicht in Erbauung der neuesten und zweckmäßigsten Spinnmaschinen im Inland, Anlernung von Vorstehern auf Staatskosten und in Vorschüssen bestehen. [. . . ] Die Leinenmanufaktur in Sachsen ist eine gesunde volkstümliche Industrie, welche nicht dem traurigen periodischen Elend der Baumwollmanufaktur preisgegeben sein wird, da sie hauptsächlich auf den Dörfern ausgeübt wird und mit Landbau verbunden werden kann76 . Hähner appellierte an die ruhmvollen, aber eben vergänglichen Traditionen des ostsächsischen Leinengewerbes, um dieses wieder emporzuheben. Die natürlichen Bedingungen begünstigten dieses Unternehmen und die Tatsache, dass Anbau und Bearbeitung des Flachses arbeitsintensiv sind, rechtfertigte es in besonderer Weise, denn Arbeitsplätze würden Not und Elend des Pauperismus lindern 74 75 76

Ebenda, Bl. 116. JAMES J. S HEEHAN: Liberalismus und Gesellschaft in Deutschland (1815–1848), In: L OTHAR G ALL (Hg.): Liberalismus, 3. Aufl. Königstein 1985 [1980], 218. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 126 f.

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und die fortschreitende Proletarisierung blockieren. Arbeitslosigkeit hingegen lockere den Boden für die Aufnahme radikaler politischer Ideen. Als zweiten Beleg zugunsten des Leinengewerbes reklamierte Hähner einen der dominanten sozialen Gegensätze der Zeit, denjenigen zwischen Land und Stadt. Das Land galt der Mehrheit der Liberalen als stabilisierender Faktor gegenüber den mobilisierenden Tendenzen der Stadt77 . Die Industrialisierung mit all ihren „Entgleisungen“ verband sich mit der Stadt. Hähner hob die Andersartigkeit des Leinengewerbes im Vergleich mit der übrigen gewerblichen, manufakturellen und industriellen Produktion hervor. Der hauptsächliche Standort des Leinengewerbes befand sich im Dorf. Und: Seine Ausübung konnte mit dem Landbau verbunden werden. Die vorgetragenen Gründe rechtfertigten es in Hähners Augen, den Staat anzurufen, mit Vorschüssen aus der Staatskasse stillgelegte Unternehmen wieder in Gang zu setzen, den Flachsanbau zu fördern und den Bau modernster Maschinen (nach englischem Vorbild) anzuregen. Ganz typisch für die liberale Agenda erscheinen Bildung und Wissenschaft auf einem privilegierten Rang, hier in Gestalt der Anlernung von Vorstehern auf Staatskosten, andernorts als Auslandsreisen, bevorzugt nach England, um die vorbildhaft eingerichtete „Werkstatt der Welt“ zu besichtigen, ferner durch Veranstaltung von Industrieausstellungen mit der Auslobung ideell und materiell begehrenswerter Preise usw.78 . Zusammenfassend lässt sich sagen: In der Denkschrift Wilhelm Hähners vom 24. Mai 1848 traten betriebsund volkswirtschaftliche Abwägungen, wie Gewinn und Expansion, hinter politischen Überlegungen zurück. Wie kann der Prozess der Proletarisierung gestoppt und in eine Deproletarisierung verkehrt werden, um ein ausreichend stabiles mittelständisches Bollwerk gegen die greifbare Gefahr sozialer Zerwürfnisse aufzurichten? Stabilität und Statik rangierten vor Wachstum und Dynamik79 . Die Mehrheit der Liberalen lehnte die politische u n d die industrielle Revolution aus Furcht vor möglichen „Entartungen“ ab80 . III.2.

Die Ablehnung der „Vorschläge“ Wilhelm Hähners durch das sächsische Ministerium des Innern (10. Juli 1848)

Wie einleitend schon erwähnt, bat das sächsische Außenministerium das Innenministerium um eine Meinungsäußerung zur Denkschrift Wilhelm Hähners vom 24. Mai 1848. Die Aufgabe übernahm Kammerrat Jacob Heinrich Thieriot, Mitglied des exklusiven Statistischen Vereins für Sachsen. Ursprünglich Inhaber einer Seidenwarenhandlung in Leipzig, hatte er diese 1830 aufgegeben und war in den sächsischen Staatsdienst eingetreten. In dieser Funktion hatte er sich wiederholt als Lobredner des Deutschen Zollvereins hervorgetan81 . Mit einem Begleitschreiben des Innenministers Martin Gotthard Oberländer verließ am 10. Juli 1848 eine sechs doppelseitig beschriebene Blätter umfassende Stellungnahme zu den Ausführungen des Konsuls das Innenministerium82 . Der von Hähner vorgeschlagenen Gewährung einer Reihe von Vorrechten an die notleidenden kleinen und mittleren 77 78 79 80 81 82

Vgl.: N IPPERDEY: Deutschland 1800–1866 (wie Anm. 64), 263 und 178. Vgl.: Ebenda, 183 f. Vgl.: Ebenda, 297 f. Vgl.: W EHLER: Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 47), 423. Die verstreuten Informationen zu Thieriot finden sich gebündelt bei: S AMMLER: Freihandel (wie Anm. 4), 121 f. Die Stellungnahme des Innenministeriums in: HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 129–134; das Begleitschreiben des Innenministers an das Außenministerium in: Ebenda, Bl. 135.

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Unternehmen der Textilbranche trat das Innenministerium schroff entgegen: Die kleinen Fabrikanten sind der Ruin der sächsischen Industrie und je mehr die Zahl derselben vermindert werden kann umso besser ist es83 . Nachfolgend zählte Thieriot einige der vorzüglichsten Firmen auf, deren Nennung im In- und Ausland einen guten Klang hervorrufe und die diesen Ruf ohne den Wettbewerb verzerrende und vom Staat finanzierte Verstärker erreicht hätten: Ziegler und Hausmann, Glauchau; Eduard Lohse, Chemnitz; Böhler und Sohn, Plauen; Knauth und Esche, Leipzig; Bornemann und Sonnenkalb, Leipzig; Carl und Gustav Harkort, Leipzig; Winkler und Sohn, Rochlitz84 . Nachdem Thieriot Hähners Vorschlag vom Mai 1848, kleine und mittlere Unternehmen akzentuiert zu fördern, strikt abgelehnt hatte, wandte er sich dessen Idee zu, dem Leinengewerbe wieder zu der dominierenden Position zu verhelfen, die es in den zwanziger Jahren eingenommen hatte. Es ist notorisch, dass alle diese [durch die Beihilfe des Staates ins Leben gerufenen] Spinnereien (etwa mit Ausnahme der Urader) in der Qualität ihrer Leistungen die englische nicht erreichen und sämtlich teurer produzieren als die englischen Spinnereien, von denen die Garne zu billigeren Preisen bezogen werden können, [. . . ] Wenn diese [Leinen-]Industrie zurückgegangen ist, so liegt dies teils in der mehr überhand nehmenden Verdrängung des Leinenfabrikats durch das wohlfeilere baumwollne, teils in der Verstopfung mancher Absatzquellen, insbesondere nach Spanien und Mittelamerika, teils endlich – und das ist das Schlimmste – in der Deteriorierung der Fabrikate durch skandalöse Beimischung von Baumwolle und durch unvorsichtige Anwendung der chemischen Bleiche. – Der erste Punkt (die Konkurrenz der Baumwolle) läßt sich nicht beseitigen. Der zweite wird durch die Herstellung der Verbindung mit Mexiko wenigstens teilweise gebessert. Die Abhilfe des dritten muß von der eigenen Redlichkeit und Klugheit der Fabrikanten erwartet werden85 . Mit dieser eindeutigen Bewertung positionierte sich das Innenministerium in Dresden unmissverständlich an der Seite der kleinen liberalen Schar jener potentiellen Großbürger, die sich für die uneingeschränkte Wirkungskraft der Gesetze der Industriegesellschaft stark machte. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich mit logischer Konsequenz, dass Hähners Vorschläge, in Sachsen und im Ausland Einrichtungen zu etablieren, die den Absatz sächsischer Waren fördern und beschleunigen sollten, im Innenministerium mit Pauken und Trompeten durchfielen. Eingängige Argumente, wie beispielsweise der Hinweis auf die denkbar hohen Verluste ausgestellter Erzeugnisse im Falle der Zwangsversteigerung, standen neben vorgeschobenen Begründungen für die Abfuhr, wie die Behauptung, für derart windige Unternehmen seien keine ernstzunehmenden Leiter zu gewinnen86 . Den springenden Punkt benannte Thieriot erst im zweiten Teil des Verrisses: Die geldwerten Scheine, ausgereicht, um die beschriebenen Institute in Betrieb zu setzen, würden immer nur dann verwendbar sein, wenn sie 1) vom Staat garantiert und 2) zinsentragend wären, wodurch sie dann in die Reihe der Staatspapiere treten würden, vorausgesetzt nämlich, daß die Garantie des Staates überhaupt erfolgt, was sehr zu bezweifeln ist87 . Hier drängt sich wieder die Frage auf, die die gesamte Stellungnahme des Innenministeriums zu den Vor83 84 85 86 87

HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 134. Eine vergleichbare Einschätzung aus Bremen ist zitiert in: W EHLER : Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 47), 655. Vgl.: HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 134. Ebenda. Vgl.: Ebenda, Bl. 129 f. Ebenda., Bl. 130.

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schlägen Hähners durchzieht: Sollte der Staat es dabei bewenden lassen, die rechtlichen und soziopolitischen Rahmenbedingungen zu schaffen und zu legitimieren (Rechtssicherheit, Eigentumsgarantie, Infrastruktur u. a.) oder sollte er assistieren, subventionieren und regulieren? Die Entscheidung fiel, als sich seit dem Ende der dreißiger und zu Beginn der vierziger Jahre die eigenen Wachstumskräfte der Industriegesellschaft durchschlagend entfalteten und die institutionelle Garantie „für die Fortdauer eines eigendynamischen, selbstgeregelten industriekapitalistischen Wirtschaftswachstums sowohl selber schuf als auch soziopolitisch gewährleistet bekam“88 . Gesamtgesellschaftliche Tragweite besaßen die Festlegungen der Regierung in der Zollpolitik. Während am Beginn der Revolution, d. h. bis etwa Mitte April 1848, in den wirtschaftspolitischen Debatten des sächsischen Wirtschaftsbürgertums der Kreditmangel und die Wege, auf denen er überwunden werden könnte, die Diskussion beherrschten, traten in der neuen Etappe, d. h. seit Ende April 1848, die Auseinandersetzungen zwischen Schutzzöllnern und Freihändlern in den Mittelpunkt89 . Wilhelm Hähner engagierte sich mit seiner Denkschrift vom 24. Mai 1848 zugunsten der Schutzzöllner. Das Innenministerium reagierte in seiner Stellungnahme am 10. Juli 1848 energisch: Dieser Vorschlag [Hähners] ist ganz einfach: Prohibition! Denn etwas anderes ist doch eine Erhöhung der Zölle nicht, wenn sie den Zweck, die ausschließliche Versorgung des inländischen Verbrauchs durch inländische Fabrikate, erreichen soll. – So aufrichtig ich wünsche, daß dieses Ziel auf rein n a t u r g e m ä ß e [Hervorhebung von mir. D. Stb.] Weise erreicht werden könne, ebenso entschieden muß ich mich gegen jede prohibitive Maßnahme erklären, in der ich einen höchst bedenklichen Rückschritt erblicke90 . Um die unerbittliche Absage, die er jedem administrativen Eingriff in den Wirkungsmechanismus der marktwirtschaftlichen Gesetze erteilte, zu begründen, führte Thieriot mehrere Argumente an: Erstens böten die Zölle des Zollvereins der inländischen Industrie einen erheblichen Schutz. Das gelte für alle baumwollnen und wollnen Erzeugnisse. In Tuchen wird gar nichts eingeführt. Und: Was von der Konkurrenz in Leinen gefabelt wird, widerlegt sich am besten durch die Einfuhrlisten, auf denen dieser Artikel in kaum nennenswerter Quantität erscheint91 . Zweitens bedürfe eine gesunde Industrie keiner Schutzzölle. Beispiele belegten, wie Unternehmen mit großem Eifer und großer Intelligenz [. . . ] das Feld [insbesonders gegen die englische Konkurrenz] behaupten92 . Zusätzliche Schutzzölle seien nichts als eine indirekte Steuer a l l e r für eine Klasse. [. . . ] Nächst der Ungerechtigkeit gegen die Konsumenten [hat sie] auch den noch viel größeren Nachteil, daß sie die künstliche Industrie anreizt und die erste Quelle des Pauperismus und des Proletariats ist93 . Viertens gewann der Verfasser der Stellungnahme des Innenministeriums der englischen Konkurrenz eine positive Seite ab, die gelegentlich selbst in der aktuellen Literatur verdeckt bleibt, wenn die ruinösen Auswirkungen des massenhaften Imports qualitativ hochwertiger und verhältnismäßig billiger, maschinell gefertigter Erzeugnisse der englischen Textilindustrie einseitig hervorgehoben werden: Protektionszölle, argumentiert 88 89 90 91 92 93

Vgl.: W EHLER: Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 47), 69 und 65. Vgl.: Z WAHR: Zur Politik (wie Anm. 46), 67. HStAD, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 131. Ebenda. Ebenda. Ebenda., Bl. 132.

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Thieriot, haben den Nachteil, daß, indem sie die Konkurrenz ausschließen, auch die Nacheiferung lähmen und den Fortschritt hemmen94 . Sechstens und letztens führte der Verfasser der Stellungnahme des Innenministeriums die internationalen Auswirkungen überzogener Schutzzollpolitik ins Feld: Man rechnet also darauf, daß in anderen Ländern die Zulassung unserer Fabrikate gestattet werde, während wir uns selbst absperren wollen? – Würde das empfohlene System ein allgemeines, so hörte aller Handel auf und mit ihm [würde] die ergiebigste Quelle des eigentlichsten Nationalwohlstandes versiegen95 . Abweisend reagierte das sächsische Innenministerium auch auf Hähners Drängen, angesichts des – nach seiner Überzeugung zu erwartenden–großen Handelsaufschwungs des befreiten Italiens forciert daran zu arbeiten, zwischen Deutschland und Italien, Staaten also, die vorerst noch gar nicht existierten, einen engeren Handelsbund zu bilden, um rechtzeitig auf dem vielversprechenden italienischen Markt Flagge zu zeigen96 . Das Innenministerium riet abzuwarten. Wenn Krieg und Revolution vorüber seien und das Vertrauen zurückkehre, werde sich die Wiederaufnahme der gegenwärtig unterbrochenen Handelsverbindungen auf ganz naturgemäße Weise gestalten, ohne daß man irgendwie zu künstlichen Mitteln zu schreiten braucht97 . Die Lombardei – hier gab Thieriot Konsul Hähner recht – sei tatsächlich ein Sonderfall, falls [!] diese sich definitiv von Österreich trennen sollte und es ist nicht zu bezweifeln, daß die sächsischen Fabrikanten, die in den Verkehr mit Italien eingeweiht sind, den rechten Zeitpunkt, wenn er überhaupt eintritt, wahrnehmen werden, um sich dort zu orientieren und Verbindungen anzuknüpfen. Für jetzt ist noch niemandem anzuraten, sich mit Italien einzulassen, da der Boden überall wankt und sich das Ende noch gar nicht absehen läßt98 . Der Stellungnahme des Innenministeriums an das Außenministerium ist ein vom Innenminister Martin Gotthard Oberländer (März 1848 – Februar 1849) unterschriebenes Begleitschreiben beigefügt, in dem er die Auffassung Thieriots unterstrich, aber eine weitere Überlegung vortrug: Sollten vertragliche Regelungen mit der Lombardei möglich werden, läge das in unserem Interesse. Ob das aber von hier aus geschehen kann, ist zu bezweifeln. Bisher wäre dafür der Zollverein zuständig gewesen. Jetzt aber würde eine solche Vereinbarung nur von dem gesamten Deutschland ausgehen und deshalb wohl erst dann stattfinden können, wenn auch hier die Verhältnisse ihrem Wesen und ihrer Form nach definitiv geordnet sind99 . In der sorgfältigen Beobachtung der politischkommerziellen Bewegungen in Italien sah das Innenministerium den einzigen Punkt in der ausladenden Denkschrift des Konsuls in Livorno, der die Aufmerksamkeit der Regierung erfordert100 . Die anderen von Hähner angesprochenen Themenkreise fielen nicht in den Verantwortungsbereich staatlicher Politik.

94 95 96

Ebenda. Ebenda, Bl. 133. Das Zitat entstammt der Denkschrift Wilhelm Hähners vom 24. Mai 1848, In: Ebenda, 10736 MdI, Nr. 6307, Bl. 124. 97 Das Zitat entstammt der Stellungnahme des Innenministeriums vom 10. Juli 1848, In: Ebenda, Bl. 133. 98 Ebenda. 99 Ebenda, Bl. 135. 100 Ebenda, Bl. 134.

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IV.

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Fazit

In seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ gliederte Hans-Ulrich Wehler den deutschen Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhand chronologischer und inhaltlicher Kriterien101 . Die Grundordnung bilden drei Typen: der bürokratische Liberalismus, der konstitutionelle Liberalismus und der politische Radikalismus. Im Kontext der hier analysierten Texte interessiert der „eigentliche, der konstitutionelle bürgerliche Liberalismus“. Er wuchs sich in den beiden Jahrzehnten vor der Revolution zu einer „breit verzweigten, zunehmend an politischer Schubkraft gewinnenden Bewegung aus“102 . Seine weithin akzeptierte „Zielutopie“ bildete eine „klassenlose Mittelstandsgesellschaft auf patriarchalischer Grundlage“103 . Dieser Traum platzte beim Zusammenprall mit der übermächtigen Realität, die die politische und die industrielle Revolution hervorbrachte. Mit Blick auf den Vorabend der Revolution von 1848/49 lenkte Wehler innerhalb des konstitutionellen Liberalismus die Aufmerksamkeit auf eine Minderheit von Liberalen, die den „tendenziell großbürgerlichen Liberalismus“104 verkörperte. Er bejahte die entstehende moderne kapitalistische Wirtschafts- und Sozialstruktur und nahm mehrheitlich die Schattenseiten der bezeichneten Entwicklung (Pauperismus, Proletarisierung) als unvermeidlichen Preis des Fortschritts in Kauf. Nur eine kleine Fraktion innerhalb dieser Minorität zeigte sich willens, nicht allein dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der „Werkstatt der Welt“ nachzueifern, sondern auch die abschreckenden Seiten des bewunderten englischen Beispiels zu studieren. Im Ergebnis plädierten sie für einen, wie auch immer gearteten, Sozialinterventionismus105 . Die von Wehler ausgearbeitete Typologie besteht die Probe auf das hier studierte Exempel. Die Positionen, die Konsul Hähner vertrat, entsprechen weitestgehend den Auffassungen der Mehrheit der konstitutionellen Liberalen. Für die Stellungnahme, die Kammerrat Thieriot im Auftrag des Innenministeriums zu Hähners Vorschlägen ausarbeitete, gilt Gleiches in Bezug auf die Vorstellungen, die die tendenziell großbürgerlichen Liberalen vertraten. Eine Besonderheit der in diesem Aufsatz analysierten wirtschaftspolitischen Texte besteht in der Entschiedenheit, mit der der eigene Standpunkt vertreten wird, und in der rigorosen Abgrenzung gegenüber abweichenden oder gar entgegen gesetzten Vorschlägen und Urteilen selbst aus dem eigenen politischen Lager. Darin widerspiegelt sich die Tatsache, dass die ökonomische Entwicklung des Königreichs Sachsen im Vergleich mit den anderen Staaten des Deutschen Bundes weit fortgeschritten war. Sachsen bildete in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Zentrum der deutschen Textilindustrie. Zugleich belegte Leipzig mit seinen Messen einen sehr hohen Rang im deutschen Binnenhandel und hatte als Umschlagplatz im europäischen Ost-West-Handel eine herausragende Bedeutung. Das Bürgertum, gleich ob in der Industrie, im Handel oder im Bankwesen verwurzelt, vermochte seine spezifischen Anliegen dementsprechend kraftvoll zu artikulieren. Die revolutionär erregte Atmosphäre leistete ein Übriges, um den hitzigen Meinungsstreit

101 102 103 104 105

Vgl.: W EHLER: Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 47), 116–118. Ebenda, 418. Ebenda, 422. Ebenda, 424. Vgl.: Ebenda, 425 f.

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über die Grenze hinauszutragen, die im Interesse der Sache erreicht werden musste106 . In den analysierten Wortmeldungen fanden das Allgemeine ebenso wie das Besondere der gesellschaftlichen Verhältnisse in Sachsen während der ersten Jahreshälfte 1848 den ihnen entsprechenden Niederschlag.

106 Vgl. die durch Z WAHR: Zur Politik (wie Anm. 46), 1–26, analysierten Beispiele. In der Beurteilung des Geschehens daran anknüpfend: C ZOK: Geschichte Sachsens (wie Anm. 46), 346.

Von Arbeitslosen und Arbeitsscheuen Die Herstellung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Formen von Nicht-Arbeit in Zwangsarbeitsanstalten, Besserungsanstalten und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Österreich 1918–1938)1 von Sonja Hinsch Wer geschäfts- und arbeitslos umherzieht und nicht nachzuweisen vermag, daß er die Mittel zu seinem Unterhalte besitzt oder redlich zu erwerben suche, ist als Landstreicher zu bestrafen2 . So lautet der erste Paragraph des österreichischen Vagabundengesetzes von 1885. Hierin zeigte sich eine Unterscheidung zwischen legitimem Nicht-Arbeiten (im Gesetzestext der redliche Versuch diese zu erwerben) und nicht legitimem Nicht-Arbeiten. Aber was galt in diesem Zusammenhang als redlich und wie wurde diese legitime Form von NichtArbeit von illegitimem Nicht-Arbeiten abgegrenzt? Wie wurden diese von Arbeit unterschieden? Um diesen Fragen nachzugehen, vergleicht der Aufsatz Akten über Personen, die nicht arbeiteten (oder als nicht arbeitend galten) und in Arbeitsmaßnahmen einer Arbeit zugeführt wurden/werden sollten. In meinen Vergleich beziehe ich Maßnahmen mit ein, die auf gesetzlicher Ebene Unterschiede in der Bewertung von Nicht-Arbeit und Arbeit zeigten. Ich vergleiche folgende Anstalten: (1.) Zwangsarbeitsanstalten, in denen Personen, die unter anderem nach einer Verurteilung nach dem Vagabundengesetz durch Arbeit gebessert werden sollten; (2.) Besserungsanstalten, in denen Jugendliche, die ebenfalls nach dem Vagabundengesetz (als eine der möglichen Voraussetzungen) verurteilt wurden und durch Arbeit auszubilden waren; und (3.) Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, in denen TeilnehmerInnen, durch das Arbeitslosenamt vermittelt, durch Arbeit unterstützt werden sollten. Während Arbeitswilligkeit eine mögliche gesetzliche Voraussetzung für die Teilnahme an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen war, war Arbeitsscheu eine der Voraussetzungen für die Internierung in einer Zwangsarbeitsanstalt. Betrachtungszeitraum ist das Österreich der Zwischenkriegszeit (1918–1938), in dem sich wichtige Veränderungen

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Meine Dissertation mit dem Arbeitstitel „Recht auf und Pflicht zur Arbeit in Österreich. Zwangsarbeitsund Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ wird im Kontext des von Dr.in Sigrid Wadauer geleiteten Projekts „The Production of Work. Welfare, Labour-market and the Disputed Boundaries of Labour (1880–1938)“ behandelt und von Prof. Josef Ehmer und Dr.in Sigrid Wadauer betreut. Das Projekt erhielt Förderungen vom European Research Council im Zusammenhang des 7. Rahmenprogrammes der Europäischen Gemeinschaft (FP7/2007–2013), ERC grant agreement No. 200918, und vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), Projekt Y367–G14; ich danke Sigrid Wadauer, Josef Ehmer, Thomas Buchner, Alexander Mejstrik, Jessica Richter, Georg Schinko, Irina Vana, Andreas Ehringfeld und Joachim Hinsch für Diskussionen, Anregungen, Bereitstellung von Materialien und Korrekturen. Nicht zuletzt danke ich den HerausgeberInnen und der Redaktion des Jahrbuchs für Regionalgeschichte für ihr Lektorat sowie ihre Anregungen. 89. Gesetz vom 24. Mai 1885, womit strafrechtliche Bestimmungen in Betreff der Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten getroffen werden. In: Reichsgesetzblatt für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder (RGBl.) 1885, XXVIII. Stück, §1.

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in der Frage der Konstruktion und Bewertung von Arbeit und Nicht-Arbeit unter anderem im Zuge des (seit den 1880er Jahren) entstehenden Sozialstaates vollzogen. Die hier besprochenen Einrichtungen können jedoch nicht nur in ihren Unterschieden verstanden werden. Ihnen ist gemein, dass sie ein Fehlen von Arbeit konstatierten und dies als Problem fassten, welches mit einer Zuführung zur Arbeit zu lösen sei. In den Debatten und im Vergleich der Unterbringungen in den untersuchten Arbeitsmaßnahmen zeigen sich auch andere Überschneidungen. Beim Arbeitslosenamt gemeldete Arbeitslose konnten etwa als Müßiggänger beschrieben werden. Internierte in Zwangsarbeitsanstalten wurden wiederum nicht nur als arbeitsscheu, sondern auch als arbeitend beschrieben und ihre Berufsausbildung wurde thematisiert. In dem vorliegenden Artikel kann es also nicht nur darum gehen, einen Kontrast zwischen Internierten bzw. TeilnehmerInnen an den verschiedenen Arbeitsmaßnahmen festzustellen. Vielmehr sollen Aushandlungen darüber, was als arbeitsscheu, was als arbeitswillig, was als legitime und was als illegitime NichtArbeit respektive was als legitime und illegitime Arbeit verstanden wurde, nachvollzogen werden. Anhand von Beispielen wird gezeigt, dass unregelmäßiger Erwerb und fehlende Ausbildung als Arbeitsscheu beschrieben werden konnten. In diesem Zusammenhang wurden teilweise auch unangepasstes Verhalten und Mangel an Pflichterfüllung genannt. Beschreibungen nicht legitimer Nicht-Arbeiten gehen also oft einher mit weiteren Beschreibungen abweichenden Verhaltens. Die Bedeutung von als Nicht-Arbeit beschriebenen Praktiken entsteht dabei im Konsens und Konflikt mit anderen Praktiken von Nicht-Arbeit3 . Ich werde darstellen, dass sowohl in Ausführungen von Experten4 als auch in personenbezogenen Akten der Beruf – auch bei vorübergehender Nicht-Arbeit, also bei Nicht-Ausübung des Berufs – als ein Kontrast zu Arbeitsscheu beschrieben wurde. Einen Beruf zu haben bedeutete Stetigkeit und gesellschaftliche Integration, da er im Falle von Arbeitslosigkeit eine Versicherung, wieder eine Arbeit zu erlangen, geben sollte. Es zeigt sich also ein Spektrum an unterschiedlichen Formen von Nicht-Arbeit, die die Erfüllung oder NichtErfüllung der Werte der Ausdauer und gesellschaftlichen Integration inkludieren. NichtArbeit wird nicht per se kriminalisiert, sondern nur spezifische Formen, und diese werden in Kontrast zu legitimen Formen von Nicht-Arbeit gesetzt. Über die Frage des Vergleichs zwischen Beschreibungen unterzubringender Personen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Zwangsarbeitsmaßnahmen in Österreich wurde erst wenig geforscht. Wohl werden die verschiedenen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Zwangsarbeitsanstalten bzw. Arbeitshäuser gemeinsam beschrieben5 , aber nicht mit Fokus auf einen Vergleich der Unterbringung in den verschiedenen Einrichtungen. Für meinen Forschungszeitraum, das Österreich der Zwischenkriegszeit, stellen Arbeitslosigkeit sowie Maßnahmen gegen diese – auch aufgrund der hohen Arbeitslosenrate – ein viel diskutiertes Thema dar. Deren Ausmaß und die politischen Debatten, wie der Arbeitslosigkeit

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S IGRID WADAUER: Vazierende Gesellen und wandernde Arbeitslose (Österreich, ca. 1880–1938). In: A NNEMARIE S TEIDL , T HOMAS B UCHNER , W ERNER L AUSECKER , A LEXANDER P INWINKLER , S IG RID WADAUER , H ERMANN Z EITLHOFER (Hg.): Übergänge und Schnittmengen. Arbeit, Migration, Bevölkerung und Wissenschaftsgeschichte in Diskussion, Wien/Köln/Weimar 2008, 101–131, hier: 107. Kommen in meinen Quellen nur Männer vor, wird die männliche Schreibweise beibehalten. G ERHARD M ELINZ: Von der Armenfürsorge zur Sozialhilfe, Wien 2003, unpubl. Habil.

Arbeitslose und Arbeitsscheue

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beizukommen sei, hat unter anderem Stiefel6 eingehend untersucht. Dagegen argumentierten HistorikerInnen in der letzten Zeit, dass Arbeitslosigkeit, so selbstverständlich uns das Phänomen heute erscheint, erst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als sozialwissenschaftliche Kategorie „erfunden“ bzw. „erzeugt“7 wurde. Wadauer macht deutlich, dass das Phänomen der Arbeitslosigkeit, als legitime Form der Nicht-Arbeit, in Abgrenzung zu anderen Formen von Nicht-Arbeit und Arbeit definiert und durchgesetzt wurde8 . Über Zwangsarbeitsanstalten besteht für den untersuchten Zeitraum in Österreich noch keine umfassende Forschung, folglich auch keine zu einem demokratischen System in Österreich9 . Für das beginnende 20. Jahrhundert verfasste Stekl eine Studie10 , die die Entwicklung von Zwangsarbeitsanstalten seit dem Ende des 17. Jahrhundert analysiert, aber mit dem Jahr 1920 endet. Für die Zeit des Austrofaschismus (1933–1938) behandelt allerdings Ganglmair das Haftlager in Schlögen11 (Oberösterreich), in dem als Bettler Aufgegriffene zur Arbeit angehalten wurden. Intensiver wird etwa in England, Deutschland oder der Schweiz über Zwangsarbeitsmaßnahmen und ähnliche Anstalten zu dieser Zeit geforscht12 . Das Hauptaugenmerk in der Forschungsliteratur liegt auf Anstaltsgeschichten, 6

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D IETER S TIEFEL: Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938, Berlin 1979; D ERS .: Österreichische Arbeitsmarktpolitik in der Zwischenkriegszeit. In: G ÜNTHER C HALOUPEK , P ETER ROSNER , D IETER S TIEFEL (Hg), Reformismus und Gewerkschaftspolitik. Grundlagen für die Wirtschaftspolitik der Gewerkschaften, Wien 2006, 75–96; W ERNER S UPPANZ: Arbeitslosigkeit als Thema der Sozialpolitik im „Ständestaat“, unpub. Dipl. Graz 1993; W ILHELM W EIN BERGER : Die staatlichen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung in der Ersten Republik, unpub. Diss. Wien 1992; V ERENA PAWLOWSKY: Werksoldaten, Graue Mandln, 50-Groschen-Dragoner. Der Freiwillige Arbeitsdienst in Österreich. In: Zeitgeschichte 17 (1990), 226–235. C RISTIAN T OPALOV: The invention of unemployment. Language, classification and social reform 1880– 1910. In: B RUNO PALIER (Hg.): Comparing social welfare systems in Europe, Bd. 1, Oxford conference, France-United Kingdom, o. O. 1994, 493–507; B ÉNÉDICTE Z IMMERMANN: Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zur Entstehung einer sozialen Kategorie, Frankfurt a. M. u. a. 2006, 27; S IGRID WADAUER: Establishing Distinctions. Unemployment versus Vagrancy in Austria from the Late Nineteenth Century to 1938. In: IRSH 56 (2011) 31–70, doi:10.1017/S0020859010000702. Siehe unter anderem S IGRID WADAUER: The Usual Suspects. Begging and Vagrancy in the Context of Social Policy, Police and Legal Practice (Austria, 1920s and 1930s). In: B EATE A LTHAMMER , J ENS G RÜNDLER (Hg.): At the Margins of the Welfare State. Changing Patterns of including and excluding the ‚deviant‘ poor in Europe 1870–1933 (in Vorbereitung); D IES .: Tramping in Search of Work. Practices of Wayfarers and of Authorities (Austria 1880–1938). In: D IES ., T HOMAS B UCHNER , A LEXANDER M EJ STRIK (Hg.): The History of Labor Mediation. Institutions and Individual Ways of Finding Employment in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries (= International Studies in Social History 26), New York/ Oxford 2015, 286–334; WADAUER: Distinctions (wie Anm. 7). Forschungen zu Zwangsarbeitsmaßnahmen siehe zum Beispiel G ERHARD A MMERER , A LFRED S TEFAN W EISS (Hg.): Strafe, Disziplin und Besserung. Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser von 1750–1850, Frankfurt a. M. 2006. H ANNES S TEKL: Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser 1671–1920. Institutionen zwischen Fürsorge und Strafvollzug, Wien 1978. S IEGFRIED G ANGLMAIR: Die hohe Schule von Schlögen. Zur Geschichte und Rezeption eines Bettlerlagers im Ständestaat. In: Medien & Zeit 2 (1990), 19–29, hier: 22 f. Siehe unter anderem V IRGINIA C ROSSMAN: The New Ross Workhouse Riot of 1887. Nationalism, class and the Irish poor laws. In: Past & Present 179 (2003), 135–179; I NGA B RANDES: „Odious, degrading and foreign“ institutions? Analysing Irish workhouses in the nineteenth and twentieth centuries. In: A NDREAS G ESTRICH , S TEVEN K ING , L UTZ R APHAEL (Hg.): Being poor in modern Europe. Historical perspectives 1800–1940, Oxford u. a. 2006, 199–227; I NA S CHERDER: Galway workhouses in the nineteenth and twentieth centuries. In: ebenda, W OLFGANG AYASS: Das Arbeitshaus Breitenau. Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Zuhälter und Fürsorgeempfänger in der Korrektions- und Landarmenanstalt Breitenau

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in denen unter anderem die unterzubringenden Personen beschrieben werden. Mein Fokus liegt hingegen auf den Auseinandersetzungen über Arbeit und Nicht-Arbeit und der Herstellung von Arbeitslosen und/oder Arbeitsscheuen, also den Beschreibungen und Behandlungen einer Person in diesen Anstalten13 . Im vorliegenden Aufsatz wird zunächst die historische Entwicklung der Differenzierung zwischen legitimen und nicht legitimen Nicht-Arbeiten dargestellt. Anschließend werden Unterschiede zwischen einzelnen Formen von Nicht-Arbeit anhand der regionalen Verteilung und des Grades der Standardisierung/Zentralisierung dargestellt. Darüber hinaus werden Beschreibungen von Arbeit und Nicht-Arbeit im Kontext von Zwangsarbeitsanstalten, Besserungsanstalten und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen anhand von Experten-Debatten und personenbezogenen Akten von TeilnehmerInnen/Internierten in den zu vergleichenden Maßnahmen analysiert. Ich gehe dabei von Beschreibungen über sog. Eignungen für die Internierung in eine Zwangsarbeitsanstalt aus und zeige Ähnlichkeiten und Kontraste der Beschreibungen Unterzubringender in Besserungsanstalten und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf. I.

Geschichtliche Entwicklung der Differenzierung zwischen Formen der Nicht-Arbeit

Fehlende Arbeit zu konstatieren, zu problematisieren und durch (gezwungene oder freiwillige) Zuführung zur Arbeit zu lösen, war um 1900 nicht neu. 1673 wurde das erste Zuchtund Arbeitshaus Österreichs in Wien errichtet. In diesem sollten Arme, BettlerInnen und LandstreicherInnen versorgt und durch Arbeit erzogen werden14 . (Die erste derartige Anstalt wurde 1555 in Bridewell in London gegründet15 .) Wie HistorikerInnen gezeigt haben, steht dahinter das Konzept eines hohen gesellschaftlichen Stellenwerts von Arbeit. Schon in Utopien des 16. Jahrhunderts wurde Arbeit als Pflicht gegenüber der Allgemeinheit gefordert, und Merkantilisten beschrieben eine Arbeitspflicht gegenüber dem Staat und der Nation16 . Auch in den Revolutionen von 1848 in Frankreich, Deutschland und Österreich spielte Arbeit als Lösung sozialer Probleme eine wichtige Rolle. So wurde von den RevolutionärInnen unter anderem ein Recht auf Arbeit gefordert, das aber nicht durchgesetzt werden konnte. Stattdessen wurden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und

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(1874–1949), Kassel 1992; S ABINE L IPPUNER: Bessern und Verwahren. Die Praxis der administrativen Versorgung von „Liederlichen“ und „Arbeitsscheuen“ in der thurgauischen Zwangsarbeitsanstalt Kachrain (19. und frühes 20. Jhd.), Frauenfeld 2005. In diesem Artikel sollen vorläufige Ergebnisse auf der Basis einer explorativen Lektüre dargelegt werden. In meiner Dissertation wird ein systematischer Vergleich unterschiedlicher Formen der Nicht-Arbeit mittels geometrischen Verfahrens (Korrespondenzanalyse) durchgeführt, um Unterschiede und Hierarchien zwischen diesen analysieren zu können. Zur Methode siehe etwa A LEXANDER M EJSTRIK: Felder und Korrespondenzanalysen. Erfahrungen mit einer „Wahlverwandtschaft“. In: S TEFAN B ERNHARD , C HRIS TIAN S CHMIDT-W ELLENBURG (Hg.): Feldanalyse als Forschungsprogramm 1. Der Programmatische Kern, Wiesbaden 2012, 151–187; B RIGITTE L E ROUX , H ENRY ROUANET: Geometric Data Analysis. From Correspondence Analysis to Structured Data Analysis, Dordrecht/Boston/London 2004. G ERHARD A MMERER: Zucht- und Arbeitshäuser, Freiheitsstrafen und Gefängnisdiskurse in Österreich 1750–1850. In: A MMERER , W EISS: Strafe, Disziplin und Besserung (wie Anm. 9), 7–61, hier: 8. S TEKL: Zucht- und Arbeitshäuser (wie Anm. 10), 53. J OSEF E HMER: Die Geschichte der Arbeit als Spannungsfeld von Begriff, Norm und Praxis. In: Verband der Österreichischen Historiker und Geschichtsvereine (Hg.): 32. Bericht über den Österreichischen Historikertag in Salzburg, Salzburg 2003, 25–44, hier: 28.

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Systeme zur Absicherung von Arbeitslosen geschaffen, welche teilweise als Aspekt einer Verwirklichung eines Rechts auf Arbeit gesehen wurden17 . Fehlen von Arbeit wurde also problematisiert, deren Besitz stellte hingegen eine Lösung dar. Lafargue beschrieb den Stellenwert, den die ArbeiterInnenklasse der Arbeit zumaß, sogar als Arbeitssucht, die er kritisierte18 . Arbeit wurde vor allem in Mitteleuropa eine Grundlage der Errichtung des Sozialstaates, der sich seit Ende des 19. Jahrhunderts herauszubilden begann19 . Im Zuge dessen wurden Maßnahmen ins Leben gerufen (unter anderem die Arbeitslosenversicherung und die Unterstützung durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen), um bestimmten Personen ohne Arbeit zu helfen. Gleichzeitig wurden Zwangsarbeitsanstalten Ende des 19. Jahrhunderts ausgebaut, in denen Personen eingesperrt wurden, deren Nicht-Arbeit nach dem anfangs zitierten Vagabundengesetz kriminalisiert worden war20 . II.

Größe und Lage der Anstalten

In den in der Zwischenkriegszeit bestehenden fünf Zwangsarbeitsanstalten beziehungsweise ab 1932 drei Arbeitshäusern (es gab leichte gesetzliche Änderungen und die Anstalten wurden nunmehr Arbeitshäuser genannt) lag die Zahl der durchschnittlich Internierten pro Anstalt zwischen unter 30 und 200 InsassInnen21 . Zwangsarbeitsanstalten respektive Arbeitshäuser befanden sich in Niederösterreich nahe der Stadt Wien, in Oberösterreich, der Steiermark und in Tirol. Für die Wahl des Ortes einer Anstalt waren die Nähe zu zentralen Gerichten und Verwaltungsbehörden sowie Absatzmöglichkeiten für landwirtschaftliche und gewerbliche Produkte entscheidend. Die Anstalten sollten auch in Distanz zu Städten gegründet werden, um angeblich sicherheitsgefährdende Personen von diesen 17

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H UGO H ERZ: Arbeitsscheu und Recht auf Arbeit. Kritische Beiträge zur österreichischen Straf- und Sozialgesetzgebung, Leipzig/Wien 1902, 14; M ARGARETE G RANDNER: Das Recht auf Arbeit. In: D IES ., W OLFGANG S CHMALE , M ICHAEL W EINZIERL (Hg.): Grund- und Menschenrechte. Historische Perspektiven – Aktuelle Problematiken, München 2001, 257–291, hier: 268 f., 275. PAUL L AFARGUE: Das Recht auf Faulheit, Hottingen/Zürich 1887, 7. E HMER: Geschichte (wie Anm. 16), 37. S TEKL: Zucht- und Arbeitshäuser (wie Anm. 10), 104; für Deutschland wird ebenfalls ein Ausbau von Arbeitshäusern beschrieben: B EATE A LTHAMMER: Der Vagabund. Zur diskursiven Konstruktion eines Gefahrenpotentials im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: K ARL H ÄRTER , G ERHARD S ÄLTER , E VA W IEBEL (Hg.): Repräsentationen von öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. , 2010, 415–453. In Österreich gab es von 1918 bis 1932 zwei Zwangsarbeitsanstalten für Männer und drei für Frauen. Ab 1932, als mit dem Arbeitshausgesetz Zwangsarbeitsanstalten aufgelassen und nunmehr Internierte in sog. Arbeitshäusern zur Arbeit gezwungen wurden, gab es zwei Arbeitshäuser für Männer und eines für Frauen. Die Zahl der Internierten zu erfassen, birgt (wie bei jenen der Besserungsanstalten) Schwierigkeiten, da Aufzeichnungen in den Archivbeständen nur mehr vereinzelt vorhanden sind und so keine Aufstellung aller Anstalten für das gleiche Jahr zu finden ist. Die Zahl an Internierten variierte zwischen den einzelnen Anstalten, vor allem zwischen jenen für Männer und für Frauen, sie war allerdings – soweit Aufzeichnungen vorhanden sind – nicht sehr hoch. In der Zwangsarbeitsanstalt in Lankowitz (Steiermark) im Juni 1930 lag die Zahl der Insassinnen beispielsweise bei 28 (Steiermärkisches Landesarchiv [StLA]: L Reg Gr 150-La 113-1930 Karton 412, Landeszwangsarbeits- und Besserungsanstalt Lankowitz am 17. Juni 1930, Zl: 316/30). In dem einzigen Arbeitshaus für Frauen in Wiener Neudorf, in dem alle Zwangsarbeitsanstalten aufgingen, waren im März 1937 21 Frauen interniert. E RNST S EELIG: Das Arbeitshaus im Land Österreich. Zugleich ein Beitrag zur Neugestaltung des Strafrechts im Großdeutschen Reich (Sicherungsverwahrung und Arbeitshaus), Graz 1938, 85. Auch für Männer ist die Quellenlage sehr lückenhaft. Die Zahl der internierten Männer war aber deutlich höher als jene der Frauen. So schwankten die Zahlen in den beiden Arbeitshäusern zusammen zwischen 258 und 303 Internierten im Jahr 1936. S EELIG: Arbeitshaus, 82–85.

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fern zu halten. Auch das möglichst billige Angebot an Grund oder die Möglichkeit der Nutzung bereits vorhandener Gebäude war für die Wahl des Ortes ausschlaggebend22 . Die Herkunft der Zwänglinge konnte vom Ort ihrer Internierung unabhängig sein. So waren zum Beispiel in einer vergleichsweise kleinen Zwangsarbeitsanstalt für Frauen in Lankowitz (Steiermark) in der ersten Jännerwoche 1923 achtzehn Frauen aus dem eigenen Bundesland, zehn aus Kärnten, eine aus dem Burgenland, eine aus Tirol und fünf Frauen aus Niederösterreich interniert23 . Abkommen zwischen den einzelnen Bundesländern regelten, in welchem Bundesland eine Person interniert wurde, und die Heimatgemeinde oder die Landesregierung der jeweiligen Heimatgemeinde musste für die Verpflegskosten aufkommen, falls diese der/die Internierte selbst nicht leisten konnte. Zwänglinge wurden aber auch von einer Zwangsarbeitsanstalt in eine entsprechende Anstalt eines anderen Bundeslandes überstellt, wenn das jeweilige Anstaltspersonal über Disziplinierungsprobleme klagte. Die Zahl der Jugendlichen in Besserungsanstalten war jener in Zwangsarbeitsanstalten ähnlich, wobei es insgesamt sieben Besserungsanstalten in der Zwischenkriegszeit gab. Die Anzahl an Internierten variierte stark, etwa zwischen der Besserungsanstalt in Schwaz in Tirol für weibliche Korrigendinnen mit 26 Jugendlichen24 und den Besserungsanstalten Eggenburg und Korneuburg in Niederösterreich (jeweils für männliche Korrigenden) mit ungefähr 260 Jugendlichen25 . Die regionale Verteilung ist mithin jener von Zwangsarbeitsanstalten ähnlich. Das liegt daran, dass den Zwangsarbeitsanstalten Besserungsanstalten angeschlossen waren, wobei auf eine getrennte Unterbringung geachtet wurde. Nur die Wiener Besserungsanstalt in Eggenburg befand sich nicht unter einem gemeinsamen Dach mit einer Zwangsarbeitsanstalt. Die Anzahl der in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen untergebrachten, als arbeitslos bei einem Arbeitslosenamt gemeldeten Personen war größer, verglichen mit den gesamten Arbeitslosenzahlen aber dennoch gering. Bei der Produktiven Arbeitslosenfürsorge, einer hier untersuchten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, waren im ersten Jahr ihres Bestehens (1923) 16 Prozent der vorgemerkten Arbeitslosen beschäftigt26 . In einem Beobachtungszeitraum von 1922 bis zum ersten Halbjahr 1924 (genauere Informationen wurden in den regelmäßig erscheinenden Berichten nicht veröffentlicht) stellte Wien rund 42 Prozent der in der Produktiven Arbeitslosenfürsorge beschäftigten Arbeitslosen. Den zweithöchsten Anteil an den insgesamt in der PAF Beschäftigten stellte mit nur 19 Prozent Niederösterreich. Schlusslicht war mit einem Prozent Tirol27 . Die regionale Verteilung ist durch die 22 23 24 25

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S TEKL: Zucht- und Arbeitshäuser (wie Anm. 10), 128–148. StLA: LAA Rezens K 319 Gr III 3 1923, Wöchentlicher Meldezettel. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA); Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA), Inneres, 20/4, 1928–30 Kt 4771, Quelle bereitgestellt von Sigrid Wadauer. E DUARD L IST: Korneuburg, seine Erziehungs- und Zwangsarbeitsanstalt. In: Blätter für Gefängniskunde LX (1929) 2, 4; G EORG M AYER: Die Erziehung verwahrloster Kinder in der Erziehungsanstalt der Stadt Wien in Eggenburg, Wien 1927, 61, unpubl. Diss.; wiederum kann aufgrund fehlender Quellenlage weder über alle Besserungsanstalten noch über Zahl der jugendlichen Internierten im zeitlichen Verlauf Auskunft gegeben werden. Im Jahr 1923 waren 143 332 Arbeitslose bei den Arbeitsämtern vorgemerkt. Institut für Konjunkturforschung (Hg.): Monatsberichte des Instituts für Konjunkturforschung 10 (1936) 2, 39. 22 953 Arbeitslose wurden durch die Produktive Arbeitslosenfürsorge beschäftigt; Amtliche Nachrichten des Bundesministeriums für soziale Verwaltung 7 (1925), 41. Amtliche Nachrichten des Bundesministeriums für soziale Verwaltung 7 (1925), 41.

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Anzahl der gemeldeten Arbeitslosen je nach Bundesland zu erklären. So waren etwa im Jahr 1923 66 Prozent der Arbeitslosen in Wien, 18 Prozent in Niederösterreich und nur zwei Prozent in Tirol vorgemerkt28 . Weitere Ursachen für den Schwerpunkt auf Wien sind allerdings, dass in Folge der Inflation von 1922/23 die Gemeindefinanzen in Österreich gefährdet waren. Durch die Produktive Arbeitslosenfürsorge wurden aber für Bauprojekte nur Beihilfen geleistet, wodurch die Gemeinden diese Projekte nicht finanzieren konnten. Einzige Ausnahme stellte Wien aufgrund ihrer Steuerpolitik dar. So tätigte Wien große Investitionen unter anderem für Wohnhausbauten und finanzierte diese durch Steuern und Gelder der Produktiven Arbeitslosenfürsorge29 . So zeigt sich, dass Wien – ein sozialdemokratisches Vorzeigeprojekt der damaligen Zeit – sowohl in Bezug auf Besserungsanstalten als auch bezüglich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine Sonderrolle innehatte. Das Jahr 1926 stellte aber im Falle der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einen Bruch dar, da die Subventionen für die Gemeinde Wien aufgrund des niedrigen Lohnanteils bei Hochbauten nicht mehr bewilligt wurden30 . Im ersten Jahr des Bestehens des Freiwilligen Arbeitsdienstes, der zweiten hier untersuchten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, waren von Mai 1933 bis April 1934 durchschnittlich 12 895 Personen pro Monat untergebracht31 . Zum Vergleich wurden im gleichen Zeitraum durchschnittlich 363 597 Arbeitslose im Monat vom Arbeitsamt unterstützt (eine Aufstellung bezogen auf das Jahr ist nicht verfügbar)32 . Angesichts der seit Beginn der Weltwirtschaftskrise weiter steigenden Arbeitslosenzahlen mit einer Arbeitslosenquote von über 27 Prozent auf dem Höhepunkt im Jahr 193333 stellte auch dies eine geringe Zahl dar. Der FAD war im Unterschied zur PAF nicht schwerpunktmäßig auf Wien konzentriert. Nur 17 Prozent der Plätze waren für Wien vorgesehen, während für Oberösterreich 20 Prozent, bestimmt waren (die Zahl der tatsächlich belegten Plätze ist nur sehr lückenhaft dokumentiert34 ). In einem systematischen Vergleich der Akten zeigt sich, dass auch der Grad der Vereinheitlichung der Verwaltung für den Grad an Unterschieden zwischen den Regionen entscheidend war. Mit der Formalisierung sozialer Rechte im Falle von Unfall, Arbeitslosigkeit usw. intervenierte der Staat bei definierten Problemlagen von anspruchsberechtigten Personen. So wurde etwa Arbeitslosigkeit als soziale Kategorie unverschuldete[r]

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Institut für Konjunkturforschung (Hg.): Monatsberichte des Instituts für Konjunkturforschung 10 (1936) 2, 39. F RITZ R AGER: Die Bedeutung der Produktiven Arbeitslosenfürsorge. In: Arbeit und Wirtschaft 3 (1925) 4, 131–138, hier 134 f. S TIEFEL: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 6), 81. Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.): Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 15 (1934), 178. Es gab Lager für männliche Jugendliche, in denen ähnliche Arbeiten wie im PAF verrichtet wurden. Arbeiten in „Mädchenlagern“ waren unter anderem karitativer Natur sowie Näh- und Wäschereiarbeiten. PAWLOWSKY: Werksoldaten (wie Anm. 6), 227. Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.): Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 15 (1934), 182; Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 16 (1935), 139; eigene Berechnungen, unterstützte Arbeitslose von Mai 1933 bis April 1934. F ELIX B UTSCHEK: Der österreichische Arbeitsmarkt – von der Industrialisierung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992, 83. Der österreichische Arbeitsdienst. Das Blatt des Arbeitsdienstes mit der Lagerrundschau 1 (1935) 1, 29.

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Beschäftigungslosigkeit arbeitsfähiger und arbeitswilliger Personen35 erzeugt/erfunden36 und durchgesetzt. Um Unterstützung zu beziehen, musste ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bestanden haben (LandarbeiterInnen waren etwa ausgeschlossen) und ab 1922 das sechzehnte bzw. ab 1931 das siebzehnte Lebensjahr37 erreicht sein. Diese Kriterien waren mithin sachbezogen, vereinheitlicht, klar definiert und messbar. Spezifische Arbeitslosenämter wurden ins Leben gerufen, die nach diesen Kriterien entschieden. Andere als die im Gesetz festgelegten Probleme/Beschreibungen der Person waren für die ArbeitsvermittlerInnen der Arbeitslosenämter, wie sich in den Akten zeigt, nicht nur programmatisch, sondern praktisch irrelevant. Das bedeutete auch, dass unabhängig davon, in welchem Arbeitslosenamt und bei welchem/welcher ArbeitsvermittlerIn ein Arbeitsloser oder eine Arbeitslose vorsprach, die gleichen Entscheidungskriterien galten. Diese Form der Verwaltung war Produkt von Formalisierungsmaßnahmen. Der Jurist und Sozialstatistiker Ernst Mischler, Begründer des Arbeitsnachweises der Stadt Graz und Mitbegründer des Reichsverbands der allgemeinen Arbeitsnachweise in Österreich sowie Experte in zahlreichen Gremien zu Fragen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, kritisierte 1899 eine lokal sehr unterschiedlich gestaltete Armenpflege. Eine einheitliche Regelung erfolge zwar auf staatsgesetzlicher Grundlage, der eigentliche Ausbau würde sich aber nicht an den staatlichen Gesetzen orientieren, sondern ging theilweise in Anlehnung an die altüberkommene Entwicklung vor, theils ist dieser Zustand mächtiger geblieben, als alle gesetzliche Normierung38 und inkludiere eine willkürliche Bestätigung der Notlage mittels Armutszeugnissen durch die Ortspfarrer39 . Nach dem Ersten Weltkrieg konnten sich diese Formalisierungsbestrebungen durchsetzen, und die Arbeitslosenversicherung wurde in einem sehr standardisierten Verfahren organisiert. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde, wie Vana beschreibt, durch die Industriellen Bezirkskommissionen erstmals ein Netzwerk öffentlicher Nachweise geschaffen und die Arbeitslosenverwaltung durch das Arbeitslosenversicherungsgesetz bundesweit normiert. Zugleich wurden jene Nachweise, die den Industriellen Bezirkskommissionen eingegliedert waren, gegenüber anderen Vermittlungsstellen auch durch finanzielle Transferleistungen des Ministeriums privilegiert40 . Trotz dieser Normierungsbestrebungen im Bereich der Arbeitslosenverwaltung, die diese von der Armenverwaltung klar unterscheidbar machte, bestanden auch in diesem Bereich Interpretationsspielräume, die von Seiten der Arbeitslosen oft als Willkür ausgelegt und erlebt wurden. Beispielhaft ist, dass Arbeitslose, deren Lebensunterhalt durch die Arbeitslosigkeit nicht gefährdet war, von der Unterstützung ausgeschlossen

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Z IMMERMANN: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 7), 27. WADAUER: Distinctions (wie Anm. 7); T OPALOV: Invention (wie Anm. 7), 493–507; Z IMMERMANN: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 7). Bundesgesetz vom 19. Juli 1922, betreffend die Abänderung des Gesetzes vom 24. März 1920 (V. Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz). In: Bundesgesetzblatt 104. Stück, Nr. 534, §1(3); Bundesgesetz vom 15. Juli 1931, betreffend Abänderung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes und außerordentliche Maßnahmen der Arbeitslosenfürsorge (XXVII. Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz). In: Bundesgesetzblatt 54. Stück, Nr. 205, §10b. E RNST M ISCHLER: Österreichs Wohlfahrts-Einrichtungen 1848–1898. Armenpflege und Wohltätigkeit in Oesterreich. Bd. 1, Wien 1899, 25. Ebenda, 30. I RINA VANA: Gebrauchsweisen öffentlicher Arbeitsvermittlung: Österreich 1889–1938, Wien 2013, unpubl. Diss., 98–100.

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werden konnten41 . Was im Jahr 1920 noch als Kann-Kriterium festgelegt war, wurde im Durchführungserlass des Sozialministeriums 1931 zu einem obligatorischen Kriterium42 . In Arbeitslosenakten waren diese Fragen, ab wann etwa familiäres Vermögen groß genug war, um den Antragsteller auszuschließen, sehr umstritten. Im Unterschied dazu waren in den Entscheidungen über Internierungen in Zwangsarbeitsanstalten keine einheitlichen Regeln durchgesetzt. Der Gesetzestext hielt sich in den Bestimmungen, wer zu internieren sei, sehr vage. Arbeitsscheu war im Falle von Bettelei oder Landstreicherei im Gesetz von 1885 noch gar keine gesetzliche Voraussetzung der Internierung, und auch mit der Gesetzesreform von 1932 blieb weiterhin nicht definiert, was Arbeitsscheu sei. Auch waren die Zuständigkeiten, wer über eine Internierung zu entscheiden hätte, nicht in gleichem Maße festgelegt wie im Falle der Arbeitslosenunterstützung. Zuständigkeiten waren zwischen dem Richter und der Landesregierung aufgeteilt, wobei es von Fall zu Fall unterschiedlich gehandhabt wurde, ob die vom Richter ausgesprochene Zulässigkeit der Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt eine für die Landesregierung quasi bindende Entscheidung darstellte oder ob die Landesregierung unabhängig davon entschied. Aber auch die Gemeinde, der Pfarrer, der Arzt, der/die ehemalige ArbeitgeberIn, der/die NachbarIn und der/die SchullehrerIn waren in den Entscheidungsprozess involviert. Das heißt also, dass kein spezifisches Amt, sondern eine große Zahl an Institutionen vor allem der Gemeinde und des Landes zuständig war. Diese Verantwortlichkeiten standen in der Tradition des alten Armenversorgungssystems, in dem die Gemeinde für die Armen verantwortlich war. Diese Unterscheidung zwischen landesspezifischer und staatlicher Regulierung trägt zu einer Differenzierung und Hierarchisierung zwischen verschiedenen Formen von Armut und Nicht-Arbeit bei. III.

Arbeitsscheu, kein Beruf, krank: Erzeugungen von Eignungen zur Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt

Auch bei einer Betrachtung inhaltlicher Aspekte von Personenakten sowie Debatten von Experten über Zwangsarbeitsanstalten fällt auf, dass kein Konsens darüber bestand, welche Faktoren eine Eignung zur Internierung in diese ausmachten. So wurde etwa diskutiert, was als Arbeit angesehen werden sollte und was nicht. Es genügte beispielsweise nicht, erwerbstätig zu sein, um nicht als arbeitsscheu eingestuft werden zu können. Auch wurde über Verhaltensweisen, Not und Krankheiten als Kriterien der Eignung und Nicht-Eignung verhandelt. Diese konnten, mussten aber nicht in Verbindung mit als fehlend angesehener Arbeit gesehen werden. Bei allen Unterschieden kann aber doch ein gemeinsames Verständnis von Eignung für die Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt erkannt werden, welches in den Lebensweisen der Internierten einen Verstoß gegen grundlegende Werte wie Pflichterfüllung und Stetigkeit sah. Formen, den Lebensunterhalt zu verdienen, waren hierbei Kriterien, von denen auf (einen Verstoß gegen) allgemeinere Werte geschlossen wurde. Mit Blick auf Debatten von Experten lassen sich in mehreren Bereichen konfligierende Verständnisse von Eignungen zur Internierung ausmachen. 41 42

Gesetz vom 24. März 1920 über die Arbeitslosenversicherung. In: Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich 49. Stück, Nr. 153, §31 (2). S UPPANZ: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 6), 69.

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III.1.

Arbeitsscheu, Betteln und Verbrechen – das gleiche oder etwas anderes?

Debatten über Gesetze sowie gesetzliche Veränderungen in der Zeit zwischen 1885 (der Verabschiedung des Vagabundengesetzes43 ) und 1932 (der Verabschiedung des Arbeitshausgesetzes44 ) zeigen Divergenzen und Veränderungen des Verständnisses auf. Nach dem Vagabundengesetz von 1885 konnte durch das Gericht im Zuge von Verurteilungen wegen Landstreicherei, Bettelns oder Prostitution die Zulässigkeit der Abgabe in einer Zwangsarbeitsanstalt ausgesprochen werden. Die Kommission für Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten als Teil der Landesregierung entschied anschließend über die tatsächliche Internierung. Laut Gesetz vom 24. Mai 1885 betreffend Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten konnte die Anhaltung bis zu drei Jahre andauern, bis die Kommission eine Besserung45 bei der internierten Person feststellte. Dass im Vagabundengesetz von 1885 Betteln und Landstreicherei generell verboten wurden, ungeachtet des Motivs, stieß auf Kritik. Im Unterschied zum ehrlichen Wanderer würde der Landstreicher umherziehen, weil er trotz Arbeitsfähigkeit nicht arbeiten will46 , so etwa der Jurist und Universitätsprofessor Robert von Hippel. Arbeitswillige oder Arbeitsunfähige, die gelegentlich aus Not bettelten, sollten von diesen unterschieden werden47 . In diesem Kontext wurden Forderungen aufgestellt, Arbeitsscheu als Bedingung der Verurteilung aufzunehmen48 . Mit dem Gesetz über die bedingte Verurteilung von 1920 wurde das Kriterium von Arbeitsscheu aufgenommen, allerdings für Personen mit anderen Verurteilungen. Neben den nach dem Vagabundengesetz Verurteilten konnten nun auch Personen vom Richter als zulässig für die Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt bestimmt werden, die mehr als zwei Freiheitsstrafen und eine vom Richter festgestellte angebliche eingewurzelte Abneigung gegen einen rechtschaffenen und arbeitsamen Lebenswandel49 hätten. Die gemeinsame Unterbringung von BettlerInnen und weitaus gefährlicheren Verbrecher[n]50 wurde unter anderem von Hippel beanstandet, da sie eine Erziehung der Internierten verhindere51 . Andererseits stellte für ihn Unverbesserlichkeit kein Kriterium dar, die betreffende Person nicht zu internieren: Abschreckung und Unschädlichmachung spielen hier neben der Besserung genau dieselbe Rolle wie bei der Freiheitsstrafe52 , schrieb er in der Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform im Jahr 1910. Mit dem Arbeitshausgesetz von 1932 wurden nach dem Vagabundengesetz verurteilte Männer und rückfällige männliche Verbrecher in unterschiedliche, nunmehr Arbeitshäuser genannte Anstalten interniert. Verurteilte Frauen hingegen wurden weiterhin in einer gemeinsamen Anstalt, nicht nach Delikten getrennt, untergebracht. Durch das Arbeitshaus43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

89. Gesetz vom 24. Mai 1885 (wie Anm. 2). 167. Bundesgesetz vom 10. Juni 1932 über die Unterbringung von Rechtsbrechern in Arbeitshäusern. In: Bundesgesetzblatt 1932, 46. Stück. 90. Gesetz vom 24. Mai 1885, betreffend Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten. In: Reichsgesetzblatt für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder 1885, XXVIII. Stück, §9. ROBERT VON H IPPEL: Bettel, Landstreicherei, Arbeitsscheu und Arbeitshaus im Vorentwurf. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 7 (1910–1911), 449–470, hier: 450. Ebenda, 450, 452. H ERZ: Arbeitsscheu (wie Anm. 17), 41; H IPPEL: Bettel (wie Anm. 46), 451. 373. Gesetz vom 23. Juli 1920 über die bedingte Verurteilung. In: Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich 1920, 111. Stück, §21. H IPPEL: Bettel (wie Anm. 46), 462. Ebenda; S EELIG: Arbeitshaus (wie Anm. 21), 114. H IPPEL: Bettel (wie Anm. 46), 460.

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gesetz wurden Zwangsarbeitsanstalten aufgelassen und die Internierten in Arbeitshäuser überführt. Durch das Arbeitshausgesetz wurde nun auch bei nach dem Vagabundengesetz Verurteilten eine Internierung beschlossen, wenn sie erforderlich ist, um den Verurteilten an einen rechtschaffenen und arbeitsamen Lebenswandel zu gewöhnen53 . Weiterhin änderte sich, dass das Gericht, nicht mehr eine Kommission der Landesregierung, die Internierung aussprach. III.2.

Arbeitsscheu als Nicht-Beruf

Trotz des Bestrebens der Präzisierung durch die Einschränkung auf Arbeitsscheue blieb Arbeitsscheu eine unklare Kategorie54 . So könne sich, wie Experten feststellten, Arbeitsscheu auch hinter dem Scheine irgendeines Gewerbes55 verbergen oder Geschäftigkeit, ergebnislose Vielgeschäftigkeit [. . . ] eine Maske der Arbeitsscheu56 sein. Ferner wurden psychische Distanz zur Arbeit, asoziales Verhalten und Verwahrlosung57 als Zeichen von Arbeitsscheu gewertet. Der Jurist Buerschapper sah ethische[n] oder moralische[n] Defekte[n] bei Arbeitsscheuen gegeben. Um arbeitsscheu zu werden, sei aber auch eine Wechselwirkung mit ungünstigen Umwelteinflüssen mitverantwortlich58 . Das Vorhandensein einer Erwerbstätigkeit stellte also noch kein ausreichendes Kriterium gegen Arbeitsscheu dar. War diese beispielsweise nicht von Dauer, wurde eine Unstetigkeit beobachtet, konnte dies als Beweis für Arbeitsscheu gelten59 . Dies kann als Kontrast zum zeitgenössischen Berufsverständnis verstanden werden, das sich unter anderem durch Stetigkeit definierte. Es lassen sich auch weitere Merkmale von Beruf erkennen, deren Abwesenheit in der Beschreibung von Arbeitsscheuen thematisiert wurde, und zwar Eignungen und Neigungen für Tätigkeiten sowie Ausbildung60 . So wären nicht adäquate Tätigkeiten der Arbeitsscheu förderlich,61 und eine fehlende oder nicht abgeschlossene Ausbildung sowie Gelegenheitsarbeit und Tagelohn wurden als Indikatoren für Arbeitsscheu verstanden62 . Auch ein Fehlen eines ernsthaft ausgeübten Berufes beziehungsweise fehlende Bewerbung um einen solchen wurde als Ausdruck von Arbeitsscheu gewertet63 . So konnte auch eine Abgabe in ein Arbeitshaus bedingt ausgesprochen werden, und per Gesetz über die bedingte Verurteilung von 1920 konnten Weisungen in Bezug auf die Ausübung oder Erlernung eines Berufes gegeben werden, um vor einem Rückfall zu 53 54 55 56 57 58 59 60

61 62 63

167. Bundesgesetz vom 10. Juni 1932 (wie Anm. 44). Vgl. S IGRID WADAUER: Betteln – Arbeit – Arbeitsscheu (Wien 1918–1938). In: B EATE A LTHAMMER (Hg.): Bettler in der europäischen Stadt der Moderne, Frankfurt a. M. 2007, 257–299, hier 288. H UGO H OEGEL: Die Straffälligkeit wegen Arbeitsscheu in Österreich, Wien 1899, 126. W. J. RUTTMANN: Arbeitsscheu. In: F RITZ G IESE (Hg): Handwörterbuch der Arbeitswissenschaften, Halle a. d. S. 1930, 372. Ebenda. H ANS B UERSCHAPPER: Die Arbeitsscheu und ihre forensische Bedeutung. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 22 (1931), 391–401, hier: 393, 399. RUTTMANN: Arbeitsscheu (wie Anm. 56), 372. R AIMUND F ÜHRLINGER: Beruf Berufswahl Berufsberatung Berufsfürsorge. Eine orientierte Schrift für Eltern, Erzieher, Lehrer und für die Jugend selbst, o. O. o. J.; F RITZ K ARL M ANN: Zur Soziologie des Berufs. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 83 (1933) 3, 481–500. B UERSCHAPPER: Arbeitsscheu (wie Anm. 58), 394. K ARL W ILMANNS: Das Landstreichertum, seine Abhilfe und Bekämpfung. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 1 (1904–1905), 605–620, hier 609 f. S EELIG: Arbeitshaus (wie Anm. 21), 29.

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bewahren64 . Die Analyse von Akten von in Zwangsarbeitsanstalten internierten Personen zeigt hierbei, dass alleine die Angabe eines Berufes ohne weitere Ausführungen noch nicht als Argument gegen Arbeitsscheu diente. Vielmehr waren die konkrete Beschreibung der Ausübung dieses sowie eine frühere und zukünftige Beschäftigung in diesem, eine Ausbildung und die Fähigkeit zu spezialisierten und qualifizierten Tätigkeiten in Argumenten gegen Arbeitsscheu von Relevanz. Weisungen, die per Gesetz über die bedingte Verurteilung verfügt werden konnten, beinhalteten auch den Umgang mit Alkohol und Kontakt mit Bekannten65 . Dass Weisungen sowohl in Bezug auf Beruf, Alkoholkonsum als auch auf Bekannte gegeben wurden, zeigt, dass Abweichung von einem arbeitsamen Leben sehr breit gefasst wurde. Internierte in Zwangsarbeitsanstalten wurden von Juristen und Medizinern durch ihre Sexualität, ihren Geisteszustand und Alkoholkonsum kategorisiert, als defizitär oder von der Norm abweichend dargestellt. Geistige und moralische Gebrechen wurden als Ursache von Arbeitsscheu66 , Trunksucht als Ursache (aber auch als Begleiterscheinung)67 oder physische Erkrankungen als Ursache von Arbeitsunlust und Müßiggang68 genannt. So zeigt sich, dass Abweichungen von einem arbeitsamen Leben nicht unbedingt und nicht immer in Kategorien von Arbeit gefasst wurden. III.3.

Arbeitsscheu oder krank?

Konstruktionen von Internierten durch psychische und physische Kriterien der Abweichung konnten wiederum, wie ich am Beispiel eines Aktes darstellen werde, als Argumente dienen, Personen etwa als unzurechnungsfähig aus der Anstalt zu entlassen oder, wie dies Eugeniker (zunächst) andachten, Internierte zwangszusterilisieren, da sie von einer Vererbung psychischer Erkrankungen ausgingen69 . Dies führte bei Anhängern der Eugenik zur generellen Hinterfragung der Besserungsmöglichkeit von Internierten. So schrieb Georg Mayer in seiner Dissertation nach einem Praktikum als Erzieher in der Besserungsanstalt Eggenburg 1927: Die Bewegung der Eugenik, die es anstrebt, körperlich, geistig oder moralisch minderwertigen Menschen die Fortpflanzung vollkommen unmöglich zu machen, scheint doch die einzige Möglichkeit zu sein, das Aufzüchten von Menschen zu verhindern, die von vornherein nicht als nützliche Glieder sondern als Schädlinge oder doch Lasten der menschlichen Gesellschaft zu betrachten sind [. . . ]. So segensreich die Bestrebungen der Eugenik auch sind, so ist es doch leider unwahrscheinlich, dass dieser heute noch sehr jungen, unausgereiften Idee in einer irgendwie absehbaren Zeit wird zum 64 65 66 67 68 69

373. Gesetz vom 23. Juli 1920 über die bedingte Verurteilung (wie Anm. 49). Ebenda. H ERZ: Arbeitsscheu (wie Anm. 17), 47. H OEGEL: Straffälligkeit (wie Anm. 55), 178. E RNST B ISCHOFF , E RWIN L AZAR: Psychiatrische Untersuchungen in der n.-ö. Zwangsarbeitsanstalt Korneuburg. In: Blätter für Zwangserziehung und Fürsorge 10 (1914), 98–114, hier 100 f. Zu Eugenik vgl: D ORIS B YER: Rassenhygiene und Wohlfahrtspflege. Zur Entstehung eines sozialdemokratischen Machtdispositivs in Österreich bis 1934, Frankfurt a.,M./New York 1988; C HRISTIAN M ÜLLER: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871–1933, Göttingen 2004, 206–222.

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Siege verholfen werden können, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, sich trotz aller Förderung der Bestrebungen der Eugenik vor allem der Erziehung zuzuwenden, die heute – neben der Besserung der sozialen Verhältnisse – doch noch die meisten Möglichkeiten zur Besserung der Menschheit besitzt70 . Es zeigt sich also, dass Begründungen der Internierung in Zwangsarbeitsanstalten vor allem von Medizinern und Juristen kontrovers diskutiert wurden. Eine Reihe von Faktoren, wie Formen des Lebensunterhaltes, Ausbildung, Sexualität, Alkoholkonsum, Verbrechen und Krankheit wurden herangezogen, um Abweichungen zu charakterisieren. Ein unterschiedliches Verständnis der Internierten implizierte auch divergierende Ideen über Aufgaben der Anhaltung. Erziehung und Erziehung zur Arbeit, Pflege und Einsperrung wurden von Medizinern und Juristen als Gründe für eine Unterbringung beschrieben. III.4.

Zur Arbeit verpflichten, aber (welche) Arbeit geben?

Umstritten war nicht nur, wer arbeitsscheu sei und was dies überhaupt bedeutete, sondern auch, welche Arbeit wem in Zwangsarbeitsanstalten gegeben werden sollte. Die Zuteilung von Tätigkeiten in den Anstalten hing von mehreren Faktoren wie der Verfügbarkeit von Arbeit, aber auch von Konstruktionen der einer Arbeit Zuzuführenden ab. Die Forderung nach einem arbeitsamen Leben, die Verpflichtung Arbeitsscheuer zur Arbeit kontrastierte mit einem Mangel an Arbeit, vor allem seit der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise. Die Arbeitslosenquote lag in der Zwischenkriegszeit laut Schätzungen von Burtschek zwischen einem Minimum von 1 % im Jahr 1921 und einem Maximalwert von 27,2 % im Jahr 1933. Die offizielle Arbeitslosenquote fiel bis 1937 auf 21,7 %71 . Unter den Bedingungen des Mangels an Arbeit forderte die Industrielle Bezirkskommission, dass Internierte in Zwangsarbeitsanstalten nicht arbeiten sollten. In einem Brief an das Bundesministerium für soziale Verwaltung beschrieb diese eine Erbitterung der Arbeitslosen gegen das System an sich, das ihnen Arbeit nimmt und Verbrechern [Internierten in Zwangsarbeitsanstalten, Anm. SH] nicht nur den Unterhalt, sondern noch ein Plus gibt72 . Hier werden Unterschiede zwischen jenen gemacht, die schuldlos keine Arbeit hätten, und jenen, die zwar ohne Arbeit wären, aber in dieser Nicht-Arbeit kriminalisiert wurden. So wurden in einer 1935 in Wien errichteten Bettlerbeschäftigungsanstalt Untergebrachte nur mit Arbeiten beschäftigt, die sich nicht lohnten, um andere Arbeiten arbeitswilligen, aber arbeitslosen Personen vorzubehalten73 . In einer Stellungnahme des Bundeskanzleramtes zu den zuvor dargestellten Vorwürfen der Industriellen Bezirkskommission wurde Arbeit als wichtiges Heil- und Besserungsmittel beschrieben, wobei die hierdurch hervorgerufene Benachteiligung der Arbeitslosen in keinem Verhältnisse zu dem erwähnten Vorteile steht74 . Arbeit der Internierten wird von den Verwaltungen der Zwangsarbeitsanstalten aber auch in der Funktion, Erträge zu erwirtschaften, dargestellt. 70 71 72 73 74

M AYER: Erziehung (wie Anm. 25), 22 f. F ELIX B UTSCHEK: Der österreichische Arbeitsmarkt – von der Industrialisierung bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992, 83. Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA): Landesregistratur, XI, Karton 603 89 LA V1 LAVII4 1926, St.Zl. 1120, IBK an Bundesministerium für soziale Verwaltung, 16. Februar 1926. WADAUER: Betteln (wie Anm. 54), 296 f. NÖLA: Landesregistratur, XI, Karton 603 89 LA V1 LAVII4 1926, St.Zl. 1120, Bundeskanzleramt an die Landesregierung für Niederösterreich am 13. Juni 1926.

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So wird etwa das Aufbringen der Arbeitskräfte für Erntearbeiten thematisiert75 oder das Erreichen von Stückzahlen, die per Vertrag mit einem Wirtschaftsunternehmen vereinbart worden waren76 . Nicht nur die Aufgabe und Legitimität von Arbeit in den Zwangsarbeitsanstalten war umstritten, sondern auch, welche Internierten für welche Arbeit geeignet wären. Wie bereits dargestellt, wurden nicht-adäquate Tätigkeiten als der Arbeitsscheu förderlich dargestellt. Kriterien der Differenzierung zwischen Eignungen der Internierten für Tätigkeiten waren unter anderem Fähigkeiten, frühere Berufe77 und Intelligenzgrad78 . Max Treu (der sich allerdings auf Gefängnisarbeit bezog) sah in der Möglichkeit der Fortführung des früheren Berufes eine zehnmal besser[e], erzieherischer[e], fruchtbringender[e] Beschäftigung als die heutige diesen Leuten auferlegte Zwangsarbeit, die sie ohne Interesse und Verständnis abhaspeln79 . Und der Rechtsanwalt List, der weiter unten als Verteidiger eines in einer Zwangsarbeitsanstalt Internierten vorkommen wird, unterschied zwischen dem anspruchslosen Stromer, dem das Sackelkleben geradezu die Reize der Arbeitslosigkeit biete, und Zwänglingen eines höheren Intelligenzgrades, für die es keine geeignete Tätigkeit gebe. Wiederum zeigt sich, dass Unterscheidungen zwischen Beruf und Nicht-Beruf getroffen wurden. Der erzieherische Wert von Arbeit außerhalb des eigenen Berufes wurde in Frage gestellt. Beruf und Ausbildung stellen also nicht immer ein Kriterium der Nicht-Eignung dar, aber ein zentrales Unterscheidungskriterium – und zwar nicht nur zwischen Internierten. Denn auch die Industrielle Bezirkskommission differenzierte in ihrem erwähnten Schreiben zwischen normale[n], wohl ausgebildete[n] Arbeitskräfte[n]80 und in einer Zwangsarbeitsanstalt Untergebrachten. Der Frage, wie Arbeit und Nicht-Arbeit in personenbezogenen Akten dargestellt und dadurch erzeugt wurde, welche Bedeutung etwa der Beruf hatte, wird im Folgenden nachgegangen. In personenbezogenen Akten wurde Arbeit nicht in ihrem Nutzen für die Anstalt beschrieben. Frühere Tätigkeiten sowie Tätigkeiten in der Anstalt wurden als Indikatoren für ein (nicht) zufriedenstellendes Verhalten verwendet. Zudem war Arbeit nicht der einzige Indikator, um auf allgemeinere Werte schließen zu können. Auch die Bewertung von Sexualität und Alkoholkonsum waren relevant, um über eine Notwendigkeit der Anhaltung in einer Zwangsarbeitsanstalt zu urteilen.

75 76 77 78 79 80

StLA: LAA Rezens III 3 7482 Reg 920, steiermärkische Landesregierung an Oberstaatsanwaltschaft in Graz am 3. November 1920. NÖLA: Landesregistratur, XI, Karton 600 86 LR 1924 XI 1-550, St. Zl. 120. O BORNIKER: Der Arbeitszwang im System der Freiheitsstrafen des Vorentwurfs zu einem deutschen Strafgesetzbuche. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie 7 (1911), 135–139, hier: 136. L IST: Korneuburg (wie Anm. 25), 6. M AX T REU: Pensum und Zwangsarbeit in den Strafanstalten. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie 1 (1905), 759–768, hier: 760 f. NÖLA: Landesregistratur, XI, Karton 603 89 LA V1 LAVII4 1926 XI, St. Zl. 1120, IBK an Bundesministerium für soziale Verwaltung am 16. Februar 1926.

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III.5.

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Herr Julius F81 – Beruf als Kriterium der Entlassung

Am Beispiel des Herrn F zeigt sich, dass der Umstand, einen Beruf zu haben, auch wenn dieser nicht ausgeübt wurde, als Argument der Nicht-Eignung zur Internierung in einer Zwangsarbeitsanstalt verwendet werden konnte. Julius F wurde 1920 mit 34 Jahren in die niederösterreichische Zwangsarbeitsanstalt Korneuburg nach Verurteilungen wegen Betruges, Diebstahls und Landstreicherei interniert. Sein Rechtsanwalt beschrieb Herrn Fs Ausbildung, Tätigkeit und Begabung in seinem Beruf als Schauspieler. Er führte aus, dass Herr F aufgrund seines Berufes, auch wenn dieser nicht ausgeübt wurde, bei Ausführungen nicht adäquater einfacher Tätigkeiten in der Anstalt psychischen Schaden erleiden würde und dadurch in diesem Fall auch nicht von Erziehung zur Arbeit gesprochen werden konnte. Arbeitssuche beschrieb sein Verteidiger ausschließlich im Rahmen seines Berufs als Schauspieler, wodurch ihm keine Arbeitsscheu vorgeworfen werden könnte, da Schauspieler es speziell schwer hätten, Arbeit – ein Engagement82 – zu finden. Dadurch wäre Herr F nicht zur Abgabe geeignet. Beschreibungen des Herrn F können aber nicht auf Ausbildung oder Arbeitssuche begrenzt verstanden werden. Vom Rechtsanwalt sowie in einem vom Anwalt angeführten ärztlichen Gutachten wurden Alkoholkonsum, im Gutachten auch excessives, ausschweifendes und entwürdigendes Geschlechtsleben83 des Herrn F beschrieben. Dies sollte seine Arbeitsunfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit darstellen. Als Kriterium der Eignung wurde von der Landesregierung ein gemeingefährliches Verhalten84 benannt. Daneben wurde die Entscheidung mit der gerichtlich und gerichtsärztlich ausgesprochenen Zulässigkeit begründet. Als Entlassungsgrund diente die Bewertung seines Verhaltens in der Anstalt, das klaglos und fleissig85 [sic!] gewesen sei. Es zeigt sich also, dass nicht klar war, welche Argumente passend waren; vielmehr wurde ein breiteres Spektrum an Argumenten als sinnvoll erachtet. Ferner zeigt sich, dass es neben Beruf und Arbeitsfähigkeit um ein angepasstes Verhalten (eine klaglose Aufführung), sein Sexualleben und seinen Alkoholkonsum ging. Und es zeigt sich auch, dass Sexualleben, Alkoholkonsum und Beruf auf generelle Verhaltensweisen schließen lassen sollten, also Erwerbstätigkeit hierbei als Indikator eines angepassten oder eben nicht angepassten Verhaltens gelten sollte. In diesen Beschreibungen bezogen sich alle involvierten Akteure auf Mediziner und Juristen (wenn sie nicht selbst Mediziner oder Juristen waren).

81 82 83 84 85

Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), A1 M. Abt. 255 A 1928 Zl 1–1226, Karton 11, St. Zl. a-762/28 1928. Ebenda, Verteidiger an Justizministerium am 13. August 1928. Ebenda, Abschrift Gerichtsärztliches Gutachten vom 27. Juni 1922 in Dresden. Ebenda, Wiener Magistratsabteilung 55, am 29. September 1928. Ebenda, Wiener Magistrat am 17. Dezember 1928.

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III.6.

Frau Mathilde S86 – Erfüllung von Pflichten in der Ehe als Kriterium der Entlassung

Auch im Fall von Mathilde S zeigt sich, dass nicht Erwerbstätigkeit an sich, sondern ein damit verbundenes Benehmen ausschlaggebend war. Ihre Tätigkeiten wurden hierbei vor allem in Bezug auf die Pflichterfüllung ihrem Ehemann gegenüber gewertet. Mathilde S wurde 1924 wegen Bettelns und Landstreicherei zu einem Monat Arrest verurteilt und die Zulässigkeit zur Abgabe in die Zwangsarbeitsanstalt ausgesprochen. Vor ihrer Internierung heiratete Frau S und begann als Hilfsarbeiterin zu arbeiten. Für den Fall, dass sich Genannte bisher brav aufgeführt haben sollte87 , schrieb die steiermärkische Landesregierung, sollte sie nicht interniert werden. Das Vorhandensein von Erwerbstätigkeiten alleine zählte also noch nicht, sondern eine Einschätzung ihres Verhaltens war relevant. Sie würde, so die Ergebnisse der eingeleiteten Erhebung, ihren Pflichten als Ehefrau nicht nachkommen, sondern mit nach dem Vagabundengesetz vorbestraften Personen herumschwärmen. Daraufhin wurde die Internierung vollzogen. Auch der Ehemann bezog sich in seiner Entlassungsbitte auf für ihre Ehe relevante Tätigkeiten. Er gab ein angewiesen-Sein auf ihre Mitarbeit und Mithilfe88 im Haushalt und bei seiner Arbeit im Steinbruch zu Protokoll. Letztlich zählten also sowohl für die Einweisung als auch für die Entlassung Tätigkeiten in der Ehe und nicht jene als Hilfsarbeiterin. Aufgrund der Bitte ihres Ehemannes intervenierten auch der Pfarrer und der Bürgermeister der Heimatgemeinde, um ihre Entlassung zu bewirken. Bei Mathilde S sahen die Landesregierung, aber auch Ärzte, der Bürgermeister und der Pfarrer eine durch das Eheleben bedingte Besserung, die neben klaglosem Benehmen in der Anstalt zur Entlassung führten. In beiden Beispielen werden Beschreibungen von (ausgeübten und nicht ausgeübten) Erwerbstätigkeiten gegeben und diese in Verbindung mit dem Verhalten der betreffenden Personen gesetzt. So kann trotz Erwerbstätigkeit eine Eignung der Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt beschlossen werden, ein nicht ausgeübter Beruf kann wiederum einen Grund für eine Nicht-Abgabe darstellen. Auch Tätigkeiten in Haushalt und Ehe galten als Grund für eine Nicht-Abgabe und wurden in dieser Hinsicht ähnlich wie Erwerbsarbeit behandelt. Erwerbstätigkeit ist also ein Bereich, anhand dessen über Arbeitsamkeit oder Arbeitsscheu geurteilt wurde; Erwerbstätigkeit galt aber noch nicht per se als arbeitsam. Kriterien wie das Gebraucht-Werden in diesen Tätigkeiten, Stetigkeit und Pflichterfüllung, aber auch Eignung für eine Tätigkeit waren relevant und kamen im Beruf, aber auch in der Rolle als Hausfrau zum Ausdruck. Weiter waren sowohl in Debatten als auch in Akten Beschreibungen von Krankheiten als Kriterien in den Verhandlungen über Eignungen zur Internierung/Entlassung feststellbar. Nicht nur bei Herrn F wurden psychische und physische Probleme geschildert, auch bei Frau S wurde zunächst über eine Eignung der Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt aufgrund einer Erkrankung an Epilepsie diskutiert, wobei alles andere als klar war, ob ihre Erkrankung ein Kriterium für oder gegen eine Internierung war. Ein ärztliches Gutachten sprach von Heilungschancen der Epilepsie durch die Anhaltung in der Anstalt: eine

86 87 88

NÖLA: Landesregistratur, XI, 603 89 LA V1 LAVII4 1926 XI, St. Zl. 384. Ebenda, steiermärkische Landesregierung an die niederösterreichische Landesregierung, 6. März 1925. Ebenda, Bezirkshauptmannschaft Mürzzuschlag am 1. März 1925.

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konsequente Lebensführung kann das Leiden bessern89 , so das Gutachten. Ein anderes empfahl, Frau S nicht zu internieren. Die Landesregierung, die sich auf das positive Gutachten bezog, beschloss ihre Internierung. III.7.

Bedeutung von Experten bei der Unterbringung in Zwangsarbeitsanstalten

In der Feststellung der Eignung zur Anhaltung in einer Zwangsarbeitsanstalt kam Ärzten und Juristen eine große Bedeutung zu. Dies lässt sich an zahlreichen Beispielen zeigen. Der richterliche Entscheid der Zulässigkeit und die ärztlich diagnostizierte Tauglichkeit bildeten die Voraussetzung für die Landesregierung, um über eine tatsächliche Abgabe zu entscheiden. Nach Germann kann dies als Sensibilisierung und Rückversicherung bei von Strafjustiz und Medizin (er schreibt von Psychiatrie) geteiltem Deutungshorizont verstanden werden90 . Am Beispiel von Frau S zeigt sich aber, dass die Landesregierung auch mehrere Gutachten zu Rate ziehen konnte, um sich letztlich auf eines zu beziehen. Dies stellte einen Aspekt der Rückversicherung dar, der diese Gutachten nutzte, um eigene Interessen durchzusetzen. Eine Instrumentalisierung ärztlicher Gutachten kann auch gesehen werden, wenn Internierte aufgrund disziplinärer Probleme entlassen werden sollten (unter anderem bei Körperverletzungen und Bedrohungen gegen AufseherInnen), aber es nicht möglich erschien, eine Besserung zu attestieren. Hier konnte von Seiten der Landesregierung und der Zwangsarbeitsanstalt eine Psychiatrisierung versucht werden91 , die von Psychiatern allerdings nicht immer vollzogen wurde. Im Falle von Frau Paula E92 wurde in mehreren Anläufen mit Rücksicht auf die Aufrechterhaltung der Disziplin in der Anstalt, sowie der persönlichen Sicherheit der Aufsichtsschwestern93 eine Psychiatrisierung der Internierten durch die Zwangsarbeitsanstalt Wiener Neudorf angeregt. Diese scheiterte aber zunächst daran, dass Frau E seitens der Psychiatrie als gesund erklärt wurde. Zuletzt konnte sich die Landesregierung auf den Anstaltsarzt der Zwangsarbeitsanstalt berufen, der eine Geistesstörung94 diagnostizierte, woraufhin die Landesregierung ihre Entlassung entschied. Paula E wiederum machte sich die Nähe von Psychiatrie und Verwaltung der Zwangsarbeitsanstalten zu Nutze, um durch unangepasstes Verhalten in der Zwangsarbeitsanstalt in die Psychiatrie überführt zu werden – so wurde sie zumindest in der Krankengeschichte eines Psychiaters wiedergegeben. Betroffene machten sich also ärztliche Atteste zu Nutze, wie auch im Falle des Herrn Julius F gezeigt wurde, um ihre Anliegen durchzusetzen. Wie im Beispiel der Mathilde S wurde von Betroffenen aber auch auf andere als relevant erachtete Auskunftspersonen Bezug genommen, wie auf ArbeitgeberInnen, Bürgermeister oder Pfarrer. In vielen Fällen zeigt sich, dass es trotz einer zentralen Stellung der Ärzte im 89 90

91 92 93 94

NÖLA: Landesregistratur, XI, Karton 603 89 LA V1 LAVII4 1926 XI, St. Zl. 384, Chefarzt am 27. November 1925. U RS G ERMANN: Der Ruf nach der Psychiatrie. Überlegungen zur Wirkungsweise psychiatrischer Deutungsmacht im Kontext justizieller Entscheidungsprozesse. In: D ÉSIRÉE S CHAUZ , S ABINE F REITAG (Hg.): Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 2007, 273–293, hier: 284. Für Deutschland vgl.: M ÜLLER: Verbrechensbekämpfung (wie Anm. 69), 33. NÖLA: Landesregistratur, XI, Karton 608 94 LAV1 LAVII4 1928 XI 351–900, St. Zl. 470. Ebenda, Zwangsarbeitsanstalt Wiener Neudorf an das Amt der niederösterreichischen Landesregierung am 24. Dezember 1926, Z 3674/StB. Ebenda, Abschrift Anstaltsärztliches Parere, Lankowitz am 25. Juni 1928.

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System der Zwangsarbeitsanstalten kein abgetrenntes Expertenwissen gab. So plädierte im Fall der Mathilde S ein Arzt aufgrund der kürzlich erfolgten Heirat und des festen Hausstandes95 auf Nicht-Abgabe. Umgekehrt meinte der Bürgermeister, dass sie aufgrund einer Erkrankung an Epilepsie vor ihrer Verehelichung eine mangelnde Charakterfestigkeit gehabt hätte und dadurch offen für schlechte Einflüsse gewesen wäre. Wiederum wurden also von Nicht-Medizinern medizinische Expertisen erstellt. So erzeugten beide ein Wissen über Arbeitsscheue, das unter anderem aus Erkrankungen, Bekanntschaften und familiären Verhältnissen bestand. Ein fehlender pädagogischer, psychiatrischer oder juristischer ExpertInnenstatus wurde wiederum von Kriminologen beanstandet. Sie kritisierten eine mangelnde Ausbildung der PraktikerInnen und geringe Verlässlichkeit etwa der polizeilichen Gutachten als Hindernisse, Besserung feststellen zu können96 . Seelig forderte etwa Schulungskurse für beschäftigte Administrativbeamte, Aufsichtsorgane, Ärzte, Lehrer und Seelsorger97 . Dies liegt wohl auch darin begründet, dass DirektorInnen und Angestellte aus den unterschiedlichsten Bereichen kamen. So waren der Direktor der steiermärkischen Zwangsarbeitsanstalt Messendorf sowie deren Aufseher früher unter anderem Soldaten, Tischler oder Maurer98 . IV.

Einen Beruf haben und Not als legitime Formen von Nicht-Arbeit. Herstellung von Eignungen zur Unterbringung in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Besserungsanstalten

Von Experten, Wissenschaftlern und in personenbezogenen Akten von in Zwangsarbeitsanstalten Internierten wurde der Umstand, einen Beruf zu haben, als Kontrast zu Arbeitsscheu dargestellt und konnte ein Argument für die Entlassung aus der Zwangsarbeitsanstalt darstellen. Bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wiederum stellte der Beruf einen integralen Bestandteil der Beschreibungen der Teilnehmenden an diesen Maßnahmen dar. Im Falle von Besserungsanstalten – jenen Einrichtungen, in die Jugendliche nach Verurteilungen wegen Bettelns, Landstreicherei etc. interniert wurden – stellte das Erlernen eines Berufes ein Distinktionsmerkmal sowohl zu VerbrecherInnen als auch zu GelegenheitsarbeiterInnen dar. Durch den Vergleich von Beschreibungen von Arbeit und NichtArbeit im Kontext dieser unterschiedlichen Einrichtungen können Variationen, Abgrenzungen und Kontraste zwischen verschiedenen Formen von Nicht-Arbeit ausgemacht werden. Aber nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten zwischen Beschreibungen Unterzubringender in den unterschiedlichen Maßnahmen fallen auf. Denn Jugendliche in Besserungsanstalten wurden auch durch Verurteilungen, im Falle von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch psychische Defizite charakterisiert. Umgekehrt wurden Personen in Zwangsarbeitsanstalten teilweise als in Not und unterstützungsbedürftig dargestellt. Es kann also nicht von Typen der Arbeitslosen und der in einer Zwangsarbeitsanstalt Internierten ausgegangen werden. Dies fällt auch bei näherer Betrachtung der auf den 95 96 97 98

NÖLA: Landesregistratur, XI, Karton 603 89 LA V1 LAVII4 1926 XI, St. Zl. 384, Chefarzt Dr. Blau an Bezirkshauptmannschaft Mürzzuschlag am 10. September 1925. R ICHARD F. W ETZELL: Inventing the Criminal. A History of German Criminology, 1880–1845, Chapel Hill/London 2000, 136–139. S EELIG: Arbeitshaus (wie Anm. 21), 162. StLA: L Reg Gr 150 1932, Karton 517, Personaldaten der Angestellten des Landes-Zwangsarbeits- und Besserungsanstalt Messendorf.

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ersten Blick gegensätzlich erscheinenden freiwilligen und erzwungenen Zuführung zur Arbeit auf. So wurden etwa Überlegungen angestellt, den Freiwilligen Arbeitsdienst in einen verpflichtenden umzuwandeln99 . Personen, die sich weigerten, in die Produktive Arbeitslosenfürsorge einzutreten, konnte die Arbeitslosenunterstützung verweigert werden. Neben einem Haftlager in Schlögen (Oberösterreich), in dem als Bettler Aufgegriffene zur Arbeit gezwungen wurden, wurde ein Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes für aus dem Haftlager Entlassene geplant100 . IV.1.

Menschen mit vollendeter Berufsausbildung [haben] den Anreizen zum Schlechten weit mehr Widerstände entgegenzusetzen101 : Beschreibung Jugendlicher in Besserungsanstalten

Gesetzliche Voraussetzungen für die Unterbringung in Besserungsanstalten wurden wie für Zwangsarbeitsanstalten durch das Vagabundengesetz von 1885 geregelt. Zudem konnten Jugendliche auf Antrag der gesetzlichen VertreterInnen und unter Zustimmung der Pflegschaftsbehörde eingewiesen werden. Obwohl Jugendliche in Besserungsanstalten aufgrund der gleichen Verurteilungen interniert werden konnten (etwa wegen Bettelns und Landstreicherei), wurden diese Anstalten in Debatten deutlich von Zwangsarbeitsanstalten unterschieden. Jugendliche, die als nicht arbeitend galten, wurden als zu erziehend und in einem Beruf auszubildend beschrieben. Sie müssten vor zukünftiger Nicht-Arbeit geschützt werden. Jugendliche wurden aber auch als Gruppe, die aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit nicht zu arbeiten lernte und daher als antisoziale Elemente102 heranwüchse, problematisiert. Im Gesetz vom 24. Mai 1885 bezüglich Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten wurde im Unterschied zur Aufgabe der Besserung in Zwangsarbeitsanstalten die moralische und religiöse Erziehung der Corrigenden, sowie für die Unterweisung in einer ihren Fähigkeiten entsprechenden und ihrem künftigen Fortkommen dienlichen Beschäftigung für in Besserungsanstalten Untergebrachte festgelegt103 . So hob auch die niederösterreichische Landesregierung von den Angehörigen der Zwänglinge keine Verpflegungskostenersätze ein, da die Anhaltung nicht Erziehungszwecken im engeren Sinne des Wortes dient – im Unterschied zu Internierten in Besserungsanstalten, bei denen die Angehörigen zur Zahlung verpflichtet wurden104 . Im Mittelpunkt der Erziehung der Jugendlichen stünde die Berufsausbildung105 . In Besserungsanstalten wurden Lehrstellen eingerichtet, in denen die Korrigenden und Korrigendinnen ausgebildet wurden. Denn Personen mit Berufsausbildung, so ein Erzieher der Besserungsanstalt in Eggenburg, würden im Unterschied zu Personen ohne regelmäßigen Erwerb [. . . ] den Anreizen zum Schlechten weit mehr Widerstände entgegenzusetzen haben. Berufsausbildung sollte das Rüstzeug sein, um frei von Strafe sein Leben zu verbringen106 . 99 100 101 102 103 104 105 106

S UPPANZ: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 6), 162; PAWLOWSKY: Werksoldaten (wie Anm. 6), 227. G ANGLMAIR: Schule (wie Anm. 11), 22 f. M AYER: Erziehung (wie Anm. 25), 45. V IKTOR S TEIN: „Freiwilliger Arbeitsdienst“. In: Arbeit und Wirtschaft 10, 13 (1932), 417–422, hier 418. 90. Gesetz vom 24. Mai 1885 (wie Anm. 45), §13. NÖLA: Landesregistratur, XI, Karton 600 86 LR 1924 XI 1-550 St. Zl 187. M AYER: Erziehung (wie Anm. 25), 102. Ebenda, 44 f.

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Verbunden mit der Konkretisierung der Behandlung als Erziehung fand eine Professionalisierung der beaufsichtigenden Personen statt. Der Rechtsanwalt Eduard List, der die Zustände in Zwangsarbeitsanstalten kritisierte, lobte 1929 die Besserungsanstalten unter anderem, da ihnen Fachmänner zur Verfügung stünden, die auf die Zöglinge in geeigneter Weise erzieherisch einzuwirken suchen107 . Oft wurden aber Schwierigkeiten dargestellt, Ziele einer Ausbildung in den Anstalten zu verwirklichen. So hatten Besserungsanstalten das Problem eines Mangels an Meistern, wodurch sich Schwierigkeiten für die Lehrausbildung der Jugendlichen ergaben. Ein Fachgenossenschaftsvorsteher bestritt die Befugnis der Anstalt, Lehrlinge auszubilden, da – so die Schilderung der Verwaltung – der Genossenschaftsvorsteher die Jugendlichen für Verbrecher, die Einrichtung für ein Gefängnis hielte108 . Im Unterschied zu Problemen der Umsetzung scheinen aber oft auch keine Bemühungen unternommen worden zu sein, eine Berufsausbildung zu implementieren. Die steirische Landesregierung etwa forderte die Besserungsanstalt Messendorf auf, Jugendliche mehr in Werkstätten und nicht zur Herstellung von Bierflaschenhülsen zu verwenden, da diese keinen erzieherischen Wert darstellten, während keine Einwände gegen die Heranziehung von Zwänglingen für diese Arbeit erhoben wurden109 . So scheint eine Unterscheidung zwischen Internierten in Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten nicht durchgängig getroffen worden zu sein. Auch in personenbezogenen Akten über Jugendliche in Besserungsanstalten fällt auf, dass Unterschiede zwischen Internierten in Zwangsarbeitsanstalten und Besserungsanstalten verschwammen. Vielfach wurden Verurteilungen, Entweichungen aus der Anstalt und Ausforschungen beschrieben. Oft wurde nicht über eine Ausbildung, sondern nur über eine Aufführung in der Anstalt berichtet110 . IV.2.

Beschreibungen langfristig Arbeitsloser: TeilnehmerInnen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen

Bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen handelte es sich um Formen der Zuführung zur Arbeit, die (meist) an eine Versicherungsleistung geknüpft waren, wo Arbeitslosigkeit also als unterstützungsbedürftig verstanden wurde. Gleichzeitig war die Unterbringung in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch ein Test, um Arbeitswilligkeit gerade bei langfristig Arbeitslosen nachweisen zu können111 . Auch hier zeigt sich demnach, dass nicht von unterschiedlichen Typen von Nicht-Arbeit, sondern von Variationen ausgegangen werden muss. Die Produktive Arbeitslosenfürsorge und der Freiwillige Arbeitsdienst richteten sich an im Arbeitslosenamt als arbeitslos registrierte Personen, die spezifisch problematisiert wurden. Zielgruppe der Produktiven Arbeitslosenfürsorge, die 1922 zwei Jahre nach der Arbeitslosenversicherung gegründet wurde, waren Personen, die seit längerem Unterstützung bezogen, und begrenzt auch jene, die das zeitliche Höchstmaß der Unterstützung 107 L IST: Korneuburg (wie Anm. 25), 3. 108 NÖLA: Landesregistratur, XI, Karton 610 96 L.A. V1 L.A.VII4 1929 XI 1-380, St. Zl. 251. 109 StLA: LAA Rezens K 319 Gr III 3 1923, steiermärkische Landesregierung an die Direktion der LandesZwangsarbeitsanstalt Messendorf am 30. November 1923, St. Zl. III 3 23650/23 Reg. 110 Unter anderem: WStLA: A 1-4 MAbt 255 A 1923 Zl 1 bis 282, Viktor S. [Nachname abgekürzt]. 111 J OSEF F EUERSTEIN: Die Produktive Arbeitslosenfürsorge aufgrund der Erfahrungen in Deutschland, Wien 1935, unpubl. Diss., 23.

Arbeitslose und Arbeitsscheue

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überschritten hatten112 . Der Freiwillige Arbeitsdienst wurde 1932 gegründet113 . Jugendliche waren die Zielgruppe dieses Programms114 . Dadurch konnten sowohl Jugendliche, die das gesetzliche Mindestalter von 17 Jahren nicht erfüllten, als auch jene, die noch eine zu geringe Anwartschaftszeit zum Bezug der Arbeitslosenunterstützung aufwiesen, unterstützt werden115 . In den Debatten der Befürworter des FAD waren für diesen Fokus auf Jugendliche vor allem pädagogische Argumente ausschlaggebend. Im Vergleich zu Beschreibungen Internierter in Zwangsarbeitsanstalten herrschte größerer Konsens über Eignung und Nicht-Eignung von Personen zur Teilnahme an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie über Aufgaben der Maßnahmen selbst. Nach einer explorativen Lektüre personenbezogener Akten116 ist ersichtlich, dass vorwiegend Erwerbstätigkeiten beschrieben wurden, deren nunmehriges Fehlen ökonomische Not hervorrufen würde. Im Kontext der Erwerbstätigkeiten werden oft Ausbildungen erwähnt, und Erwerbstätigkeiten werden als Beruf verstanden. Der Beruf war, neben den bereits beschriebenen Inhalten, für die Arbeitsmarktverwaltung eine Verwaltungskategorie, um Fähigkeiten der als arbeitslos registrierten Person zu erfassen und entsprechend vermitteln zu können. Dies beinhaltete die Idee, dass die Person einen Beruf erlernt hatte, in diesem tätig war und auch wieder tätig sein würde. Das Konzept schloss mit ein, dass einen Beruf zu haben kein Widerspruch zur Arbeitslosigkeit war. Obwohl der Beruf an die Erwerbstätigkeit gebunden war, bedeutete es nicht, zurzeit mit diesem den Lebensunterhalt zu verdienen117 . Ideen von Berufstätigkeit waren aber bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht konsistent. So schrieb etwa Fritz Rager, dass qualifizierte Facharbeiter für Arbeiten der Produktiven Arbeitslosenfürsorge (unter anderem Straßen- und Hochbauten sowie Erdund Kanalisierungsarbeiten118 ) nicht in Betracht kämen, da sie diese nur widerwillig verrichteten119 . Ebenso kam es in Akten vor, dass sich Beschreibungen nicht auf ökonomische Motive beschränkten, sondern Selbstbeschreibungen der Betroffenen auch psychische Konsequenzen der Arbeitslosigkeit beinhalteten. So schrieb Isidor S an die Landeshauptmannschaft für Tirol: Ich bin in den besten Mannesjahren gesund und kräftig, arbeitsfreudig und zu jeder Arbeit bereit und soll beim Mangel einer anderen Arbeitsmöglichkeit schon dazu verurteilt sein meiner Heimatgemeinde [Name der Gemeinde gelöscht, SH] die sich ohnehin in ungünstiger finanzieller Lage befindet zur Last fallen [sic!], ein 112 V. Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz 1920 (wie Anm. 37). 113 304. Bundesgesetz vom 18. August 1932, betreffend den freiwilligen Arbeitsdienst. In: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich (BGBl) 1932, 80. Stück. 114 126. Verordnung der Bundesregierung vom 10. April 1933 über die Abänderung des Bundesgesetzes vom 18. August 1932, B.G.Bl. Nr. 304, betreffend den freiwilligen Arbeitsdienst. In: Bundesgesetzblatt (BGBl) 1933, Stück 41. 115 S UPPANZ: Arbeitslosigkeit (wie Anm. 6), 160 f. 116 Hierbei beziehe ich mich auf den Bestand des Landesarchivs Burgenland (BLA), Abt. B: Landesforschungsarchiv Österr FAD (der Bestand enthält auch PAF Akten) sowie den des Trioler Landesarchivs (TLA): Amt der Tiroler Landesregierung 1934, Abtl. 1b, Reg 182-XXXV-182. 117 I RINA VANA: Zur Durchsetzung von Berufskonzepten durch die öffentliche Arbeitsmarktverwaltung (Österreich 1918–1938). In: A LEXANDER M EJSTRIK , S IGRID WADAUER , T HOMAS B UCHNER (Hg): Die Erzeugung des Berufs/Production of ‚Beruf‘ (= Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 24 (2013) 1), 34–58. 118 Siehe unter anderem Amtliche Nachrichten des Bundesministeriums für soziale Verwaltung VII (1925), 41. 119 R AGER: Bedeutung (wie Anm. 29), 134 f.

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Zustand der mir alle Freude am Leben benimmt und besonders hart auf meinen Seelenzustand sich auswirkt120 . Und Josef R schrieb an die Industrielle Bezirkskommission, dass er in den Freiwilligen Arbeitsdienst eintreten wolle, um nicht untätig herumlungern121 zu müssen. Eine lange Zeit der Arbeitslosigkeit beziehungsweise im Fall der Jugendlichen gänzlich fehlende Erfahrung mit Arbeit wurde also nicht nur als wirtschaftliches Problem, sondern als solches mit physischen und psychischen Auswirkungen geschildert. Sie seien der Not, dem Müßiggange und damit der körperlichen und moralischen Verelendung preisgegeben, so Diakow, der spätere Leiter des Freiwilligen Arbeitsdienstes122 . Auch hier spielen also wie bei Internierten in Zwangsarbeitsanstalten nicht nur wirtschaftliche Beschreibungen eine Rolle, sondern Verhaltensweisen wie Müßiggang dienen der Beschreibung von Personen, die als nicht arbeitend angesehen wurden. Während aber – und hier besteht der Unterschied – bei Arbeitsscheuen Verhaltensabweichungen Begründungen für Nicht-Arbeiten seien, wäre bei als arbeitslos definierten Personen fehlende Arbeit Ursache psychischer und physischer Abweichungen von der Norm. V.

Beruf, ökonomische Absicherung, „Brav“-Sein, Stetigkeit – eine Zusammenfassung der vorläufigen Ergebnisse

Zusammenfassend zeigt sich in den dargestellten Beispielen, dass Untergebrachte in Zwangsarbeitsanstalten, Besserungsanstalten, dem Freiwilligen Arbeitsdienst und der Produktiven Arbeitslosenfürsorge teilweise sehr ähnlich beschrieben wurden und die Grenzen zwischen dem, was als Arbeit, und dem, was nicht als Arbeit galt, oft nicht klar waren. So wurden Herr F und Frau S, die beide in Zwangsarbeitsanstalten interniert wurden, nicht nur als LandstreicherInnen beschrieben, sondern es wurde auch ihre Berufsausbildung, Erwerbstätigkeit und (im Falle von Frau S) Tätigkeit in Haushalt und Familie dargestellt. Personen, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen untergebracht werden sollten, wurden wiederum als herumlungernd beschrieben. Auch sollten sie gerade in den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ihre Arbeitswilligkeit unter Beweis stellen. Dennoch können in den Aushandlungen über Eignungen für eine Unterbringung in eine Zwangsarbeits-, eine Besserungsanstalt respektive eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Unterschiede zwischen legitimen und nicht legitimen Formen von Nicht-Arbeit ausgemacht werden. Nicht-Arbeiten, die als geeignet für eine Unterbringung in eine Zwangsarbeitsanstalt verstanden wurden, waren neben als übermäßig verstandenem Alkoholkonsum oder als ausschweifend verstandenem Sexualleben Teil und Ausdruck prinzipiell unangepasster Verhaltensweisen, wie Unstetigkeit und mangelnde Pflichterfüllung etwa im Erwerbs- und Familienleben. Diese Beschreibungen können, so die Annahme, als Kontrast zum Beruf, der unter anderem durch Stetigkeit und Schutz vor dem Begehen von Verbrechen charakterisiert war, verstanden werden.

120 TLA: Amt der Tiroler Landesregierung 1934, Abtl. 1b, Reg 182-XXXV-182, St. Zl. 1882, Isidor S [Name abgekürzt] an Landeshauptmannschaft für Tirol am 23. August 1934. 121 BLA, Abt. B: Landesforschungsarchiv Österr FAD, Österr FAD XII VII-XIII, XIII F.A.D. Div. Ansuchen, Josef R. [Name abgekürzt]. 122 JAROMIR D IAKOW: Das Arbeitsdienstjahr (Heimatjahr), Wien 1931, 7.

REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN

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1.

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Epochenübergreifend

ROLF K IESSLING , W OLFGANG S CHEFFKNECHT (H G .): Umweltgeschichte in der Region (= Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 9), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2012, 382 S., (ISBN 978-3-86764-321-4), 44,00 EUR. Der zu besprechende Band enthält Beiträge zur 12. Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte. Rolf Kießling umreißt in seiner Einleitung die Umweltgeschichte als „boomende“ und mittlerweile etablierte Disziplin, die durch zwei unterschiedliche Forschungsansätze, einen dezidiert interdisziplinären Zugang und eine spezifisch historische Sichtweise gekennzeichnet sei. Erstaunlich selten sei dabei von einem „landesgeschichtlichen Zugriff“ die Rede. Die Fallbeispiele würden zwar an konkreten Untersuchungsfeldern entwickelt, doch in der Landesgeschichte werde dies kaum reflektiert; andererseits böte der jeweilige Erfahrungsraum durchaus einen Ansatzpunkt. Ziel der Tagung war daher – epochenübergreifend vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert – eine dezidierte Ausrichtung auf die Region. Der erste Teil des Bandes präsentiert Beiträge zu Klimageschichte und Wetterbeobachtung: Zunächst stellt Heidi Escher-Vetter die glaziologische Forschung vor, bei der Gletscherstände als Indikator für klimatische Veränderungen, aber durch die Rekonstruktion der Gletschervorstöße des 16. bis 19. Jahrhunderts auch als Zeugen eines Regionalund Lokalklimas dienen. Peter Winkler unterzieht die auf der Wetterstation Hohenpeißenberg durch frühe kontinuierliche Wetterbeobachtung seit 1781 gewonnenen Werte einer kritischen Überprüfung. Hans-Jörg Künast stellt einen Schreibkalender mit Notizen zur kontinuierlichen Wetterbeobachtung eines Augsburger Bürgers (1579–1588) vor. Daraus lässt sich zum einen die Klimaentwicklung vor Ort (u. a. das abrupte Einsetzen der Kleinen Eiszeit) rekonstruieren, zum anderen unterstreicht dieses Fallbeispiel die grundlegende Bedeutung der Schreibkalender als bisher kaum genutzte Quelle. Der zweite Teil des Bandes ist der Landwirtschaft bzw. den Folgen der Kleinen Eiszeit gewidmet; die Beiträge beziehen sich jedoch durchweg auf die Auswirkungen klimatischer Extreme im Spätmittelalter. Christian Jörg behandelt die Witterungsextreme und die europäischen Hungerjahre seit 1438, damit die schwerste Hungersnot des 15. Jahrhunderts mit weiter räumlicher Ausdehnung. Die Frage nach den klimatischen Rahmenbedingungen führt zu einer Serie strenger Winter bzw. Kältespitzen (durch geringere Sonnenfleckenaktivität). Der regionalgeschichtlich orientierte Zugriff könne hier eine „wertvolle Hilfe bei der Überprüfung naturwissenschaftlich rekonstruierter Klimaentwicklungen und Klimatheorien“ bieten (137). Stefan Sonderegger macht das Aushandeln von Schadensteilungen zwischen Grundherren und Bauern besonders nach meteorologischem Stress – frost, hagel, mißgewächs – zum Thema. Er greift dabei auf die Zinsbücher des Heiliggeistspitals St. Gallen zurück, die für die 1440er Jahre Zinsreduktionen ausweisen und die „ungeschriebene Gewohnheit“ der Schadensteilung belegen. Sonderegger bewertet das Aushandeln daher als „kooperative Beziehung“, die gleichwohl bäuerliche Verschuldung nicht ausschloss. Teil III fokussiert mit „Wandlungen von Wirtschaftsformen“ Wald und Moor: Gerhard Immler verfolgt für die Wälder bei Kempten die Durchsetzung des Eigentums seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts, stellt allerdings kaum Bezüge zu bekannten Beispielen und

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der neueren Forschung her. Klaus Brandstätter thematisiert mit der Holzversorgung der Tiroler Montanindustrie den Holzbedarf des Bergwesens (einschließlich der Verhüttung) und die in den Bergordnungen niedergelegten Ansprüche. Schonende Maßnahmen der Waldordnungen seien ökonomisch motiviert gewesen und die Waldordnungen seien keine Vorläufer moderner Naturschutzgesetze. Paul Hoser verfolgt die Donaumooskultivierung von ihren Anfängen im 18. Jahrhundert, begründet durch den Optimismus der Reformer, bis ins „ökologische Zeitalter“, d. h. bis zum „Entwicklungskonzept 2000–2030“. Er sieht das Donaumoos als vergleichbares Fallbeispiel für die unkontrollierbaren Auswirkungen von Großeingriffen in den Wasserhaushalt der Natur. Teil IV behandelt den Umgang mit Seuchen („Heiliges Feuer“ und „Pest“): Peer Friess schlägt mit dem „Heiligen Feuer“, dem sog. Mutterkornbrand (Ergotismus), den Bogen zur Seuchen- und Medizingeschichte. Er plädiert für eine Sicht der Medizin als gesellschaftliches Phänomen mit Blick auf den Umgang mit Krankheiten in verschiedenen Epochen ausgehend vom Kenntnisstand sowie den Rezeptions- und Deutungsmustern. Friess geht von der zeitlichen Verteilung mit Höhepunkt im 12. Jahrhundert aus. Das Vorkommen war an die Verbreitung des Roggens gebunden, mediterrane Gebiete blieben daher verschont. Die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung sank im Spätmittelalter, dennoch gibt es – so Friess – viele Belege für Ergotismus-Epidemien in der Frühen Neuzeit. Friess analysiert die Hintergründe der räumlichen und zeitlichen Varianz dieser Form der Lebensmittelvergiftung auf der Basis regionaler Fallstudien (Frankreich, Schweiz und Oberschwaben) und plädiert für weitere Regionalstudien (besonders zu klassischen Roggenanbaugebieten) für Krisenjahre von 1312 bis 1770. Christine Werkstetter zeichnet am Beispiel der christlich-jüdischen Gemeinde Fellheim 1777 den Diskurs um die zunächst als pest apostrophierte Krankheit unter jüdischen Familien nach. Über welches Wissen verfügten die Akteure der verschiedenen Ebenen? Landesherrliche Beamte erwiesen sich als Kolporteure antijüdischer Stereotypen (Juden als Seuchenträger), während auf lokaler Ebene keine antijüdischen Ressentiments spürbar waren. Medizinische Gutachten sahen das Fieber einerseits als „Unreinlichkeit unter den Juden“, andererseits aber auch schon als Konsequenz von Armut und sozialen Verhältnissen, die Werkstetter als Annäherung an die „neohippokratische Wende“ deutet. In Teil V wird unter „Wahrnehmungen“ das Thema Tiere bzw. Tierschutz aufgegriffen, das in der historischen Kulturanthopologie an Bedeutung gewonnen hat. Barbara Rajkay fragt in ihrem Beitrag „Hunde in der Kirche, Schweine auf den Gassen“ nach den Tieren im öffentlichen Raum und nimmt die Städte Kempten, Memmingen, Augsburg und Nördlingen in den Blick. Sie verfolgt unter anderem die Präsenz der Hunde, die bis ins 19. Jahrhundert ihren Platz in der Kirche „im wahrsten Sinne überkonfessionell und zeitlos“ gegen die Zurückdrängung und die Aufsicht über den öffentlichen Raum behaupteten. Gerhard Hetzer fokussiert die Mensch-Tier-Beziehung anhand der Entwicklung des Schlachtens und des Schlachthauses im 19. Jahrhundert im Kontext des Tierschutzgedankens und der gesetzlichen Regelungen in Bayern, wo sich Tierschutzvereine ab 1839/42 bildeten. Verschiedene Motive führten zu einer stärkeren obrigkeitlichen Kontrolle des Schlachtens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, als auch kulturkritische und lebensreformerische Haltungen mehr Anhänger fanden. Der vorliegende Sammelband bietet ein breites Feld an umwelthistorischen Themen – von der Klimageschichte bis zu den human-animal-studies. Sie stützen sich auf „klassi-

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sche“, aber auch auf neuere Ansätze von der Diskursanalyse bis zur Ikonographie. Sie alle nehmen die Region als Ansatzpunkt und unterstreichen den Gewinn durch diese Ausrichtung. Einige Beiträge fokussieren neue oder bisher kaum genutzte Quellen (wie die Schreibkalender), andere zeigen, wie durch bereits bekannte Quellen wie Zinsbücher für die Umweltgeschichte neue Perspektiven erschlossen werden. Die Beiträge bewegen sich nahezu durchweg auf der Höhe der Forschung, sie verdeutlichen jedoch auch, dass der Blick auf das einzelne Fallbeispiel nicht ausreicht. Einige Beiträge zeigen explizit die Chancen des regionalen Vergleichs oder auch der Einbettung der Fallbeispiele. Der Band dokumentiert daher die Region(en) als probaten Ansatzpunkt für umweltgeschichtliche Fragestellungen und bereichert mit seinem weiten Themenspektrum und den methodischen Perspektiven die neuere Forschung. Reinhold Reith

Salzburg

W INFRIED S PEITKAMP (H G .): Handbuch der Hessischen Geschichte, Bd. 3. Ritter, Grafen und Fürsten – weltliche Herrschaften im hessischen Raum ca. 900–1806 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 63,3), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2014, XVIII, 520 S., 15 Abb., (ISBN 978-3-942225-17-5), 36,00 EUR. An die Stelle des ursprünglichen Planes der Historischen Kommission für Hessen, ein ‚Handbuch der hessischen Geschichte‘ in Form großer, übergreifender und alle Themenbereiche einer Epoche abdeckender Bände zu schaffen, trat 2010 das Konzept einer Reihe, deren einzelne Bände unter einem stärker eingegrenzten Thema einschlägige Beiträge versammeln. Die bisher vorliegenden Texte zu Teilaspekten der Neueren und Neuesten Geschichte wurden, um wenige neue Beiträge ergänzt, thematisch zusammengefasst und im Jahr 2010 als Band 1 und 2 publiziert. 2014 konnte nun mit Band 3, der die auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen liegenden weltlichen Herrschaften vom 10. Jahrhundert bis zum Ende des Alten Reiches untersucht, die Handbuchreihe fortgesetzt werden. Der Titel des Buches ist durchaus wörtlich zu nehmen: Er kündigt „Ritter, Grafen und Fürsten“ an, keine Landgrafen. Den hessischen Territorien im engen Sinn sowie den geistlichen Herrschaften sollen sich zu einem späteren Zeitpunkt eigene Bände widmen. Der vorliegende Band betrachtet die Geschichte Hessens somit aus einer auf den ersten Blick ungewöhnlichen, da dezentralen Perspektive als „Geschichte der Möglichkeiten und Eigenwege jenseits der großen und mittleren Territorien und der Landgrafen“ (XIII). Die kleinräumigen Herrschaften der Grafen, der Reichsstädte und nicht zuletzt der Reichsritter prägten das Bild des hessischen Raumes in Mittelalter und Früher Neuzeit ganz entscheidend mit. Trotz des erdrückenden Übergewichts der hessischen Territorialstaaten, die ihre Landesherrschaft im ober- und niederhessischen Raum beständig auszuweiten vermochten, entstand auf engstem Raum eine politische, soziale, kulturelle und konfessionelle Vielfalt, die bis heute weiterwirkt. In 15 Beiträgen zeichnen elf Autoren die Geschichte der reichsritterlichen Herrschaften, der Grafschaften und der Fürstentümer auf dem Gebiet des heutigen Hessen nach. Sie konzentrieren sich auf die politische Gestalt und Entwicklung der Herrschaften, beziehen aber auch Aspekte der Verwaltung und – in unterschiedlicher Intensität – von Gesellschaft und Wirtschaft, Kirche und Kultur mit ein. Im

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Einzelnen werden so vielfältige Aspekte betrachtet wie die Karriere-, Bündnis-, Familien-, Wappen-, Begräbnis-, Kloster-, Stiftungs-, Erb- und Erbeinungs- sowie Vormundschaftspolitik der in den Territorien tonangebenden Häuser, ihre Territorial-, Gütererwerbs-, Bau-, Befestigungs-, Städte-, Wirtschafts- sowie Religions- und Verwaltungs-, Bildungs- bzw. Schulpolitik, aber auch die Reichs-, ja sogar internationale Politik, in der mehrere Mitglieder der untersuchten Adelsfamilien markante Rollen spielten und in die die Geschehnisse immer wieder eingebettet werden. Gegliedert ist der Band allerdings nicht nach Familien, die diese Politik betrieben, sondern nach Territorien: Diese Systematik sorgt etwa auch für sehr kurze Beiträge wie den von Klaus Eiler zur Grafschaft Diez, deren Inhaber, die Grafen von Diez, 1386 ausstarben. Der Streit um ihr Erbe zwischen Nassau, Katzenelnbogen, Eppstein sowie Kurtrier und Hessen endete erst im Frankfurter Vertrag von 1557; die ehemalige Grafschaft war inzwischen gänzlich zersplittert und ihrer politischen Selbständigkeit beraubt. Das Aussterben der die Grafen von Diez mitbeerbenden Katzenelnbogener Grafen 1479 führte einen nicht minder schweren und langwierigen Konflikt der beteiligten Interessenten herbei, der schließlich zugunsten der hessischen Landgrafen ausging. Das wirtschaftliche und strategische Potential dieser Grafschaft war es, das schließlich auch die Grundlage dafür bildete, dass Hessen im 16. Jahrhundert eine derart herausragende politische und konfessionelle Rolle im Reich spielen konnte. Die mittelalterlichen Anfänge der einzelnen Territorien werden in jedem der Beiträge nahezu mustergültig aufgearbeitet: Der Aufstieg der von Klaus Eiler bearbeiteten nassauischen Dynastie und die Festigung ihres Territorialbesitzes etwa vollzogen sich bereits in der Stauferzeit. Die nassauischen Grafen bewegten sich von Anbeginn in der Umgebung des staufischen Herrscherhauses und der Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier sowie der Pfalzgrafen bei Rhein. Mit diesen Mächten sind – abgesehen von der Landgrafschaft Hessen, die sich schon ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu einem gefährlichen Nachbarn Nassaus entwickelte – bereits die großen Territorien genannt, mit denen sich jede der betrachteten Herrschaften auseinanderzusetzen hatte, an denen sie sich orientierten und ihr Handeln ausrichteten. Der Zerfall der staufischen Reichsorganisation und das Machtvakuum an der Reichsspitze ließen im Raum des heutigen Hessen eine äußerst labile Zone entstehen, die einer Vielzahl von Konkurrenten aus dem Kreis der kleineren Grafen und Herren, letztlich aber vor allem den großen Territorien die Chance zu eigener Herrschaftsbildung bzw. -arrondierung bot. Das aufstrebende Haus Nassau etwa, dem mit der Wahl Graf Adolfs im Jahr 1292 sogar ein deutscher König entsprang, war am Ende der Stauferzeit in die Abhängigkeit der drei großen rheinischen Erzstifte geraten. Die hessischen Herren und Grafen sahen sich gezwungen, in wechselnden Koalitionen und durch oft „meisterhaft betriebene Hinhalte- und Verzögerungstaktik“ zwischen den genannten mächtigen expandierenden Territorien zu lavieren, was Ausmaße einer „nicht ungefährliche[n] Schaukelpolitik“ (74) annehmen konnte. Der Emanzipation von den kirchlichen Lehnsherren im Hochmittelalter folgte auf diese Weise buchstäblich die Anlehnung an bzw. Unterordnung unter fürstliche Landesherren. In manchen Fällen, wie etwa dem Waldecks (425–466), blieb die zentrale verfassungsrechtliche Frage nach Reichsunmittelbarkeit oder hessischer Lehnsabhängigkeit allerdings bis zum Ende des Alten Reiches unentschieden. Mit der Auflösung der Kurpfalz und der reichritterschaftlichen Territorien am Ende des Alten Reiches wurde

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schließlich das Großherzogtum Hessen-Darmstadt zum großen Gewinner im Wettkampf um die Vorherrschaft in der Region. Nach 1530 gingen die Koalitionen der Grafen und Herren untereinander sowie zusammen mit den geistlichen und weltlichen Landesherren meist mit konfessionellen Interessen einher. So wurde unter Nassaus beherrschendem Einfluss auch in den Grafschaften Sayn, Wied, Wittgenstein, Solms-Braunfels, Isenburg-Büdingen und Hanau das calvinistische Bekenntnis eingeführt. Das Schwanken des Adels zwischen katholischer, lutherischer und kalvinistischer Konfession konnte aber auch ganze Familien spalten, z. B. das Haus Isenburg, wo die konfessionellen Auseinandersetzungen im eigenen Haus fast das gesamte 16. Jahrhundert durchzogen und viele Entwicklungen bremsten. Unter anderem die konfessionellen Differenzen begünstigten eine Wiederbelebung des Wetterauer Grafenvereins, eines Verbundes hochadeliger, aber mindermächtiger Reichsstände, der in der frühen Neuzeit die Geschichte des hessischen Raumes maßgeblich mitprägte und seinen Schwerpunkt zwar in der namensgebenden Wetterau hatte, aber auch linksrheinische, obersächsische und bayerische Mitglieder zählte (327–348). Entstanden als Nachfolger des Sternerbundes von 1422 und dem Schwäbischen Bund nachempfunden, diente er nicht als integrativer Motor, sondern als Defensivbündnis seiner Mitglieder, die befürchteten, nach den Grafschaften Nidda und Ziegenhain (1450), Katzenelnbogen (1479) sowie der Hälfte der Herrschaft Eppstein (1492) noch weitere Besitzungen an die hessischen Landgrafen zu verlieren. Zum wichtigen Katalysator für die Zusammenarbeit der Wetterauer und Westerwälder Grafen wurde die gemeinsame Kuriatstimme. Ziel war es allerdings nicht, sich in die Reichspolitik einzumischen, sondern vor allem die eigene Reichsunmittelbarkeit gegenüber den fürstlichen Nachbarn zu demonstrieren und zu sichern. Die Territorialisierung des gesamten Raumes durch das Fürstentum Hessen konnte auf diese Weise zwar verhindert werden; dennoch sind die Jahrhunderte seit 1500 als Zeit eines beständigen Territorienschwundes der Kleinen zu werten. Auch die Anlehnung an das den mindermächtigen Adel gegenüber den Territorialfürsten protegierende Reichsoberhaupt gewann seit dem 16. Jahrhundert an Bedeutung. Wohl nicht zuletzt deshalb wurden zahlreiche der im Band betrachteten Grafenhäuser gegen Ende des Alten Reiches in ihren verschiedenen Linien (Nassau, Isenburg, Solms, Sayn-Wittgenstein1 u. a.) in den Fürstenstand erhoben. Neben den Grafschaften bzw. Fürstentümern spielte auch die Reichsritterschaft mit der Reichsburg Friedberg als ihrem „Kristallisationszentrum“ (352) eine bedeutende Rolle. Georg Schmidt sieht in ihr ein vom Reichsoberhaupt initiiertes, privilegiertes und geschütztes korporatives Gegengewicht zu den neuen Landesstaaten, das bis zum Ende des Alten Reiches fortbestand. Bemerkenswerterweise hatten mindestens 17 der ungefähr 150 Geschlechter des fränkischen Ritterkreises Besitz in den Grenzen des heutigen Bundeslandes Hessen (373). Überhaupt waren viele Gebiete, die heute zum Bundesland Hessen gehören, historisch nicht Teil hessischer Herrschaften und umgekehrt. Dennoch werden sie in den einzelnen Beiträgen durch ein ganzes Bündel gemeinsamer Merkmale der Epoche und des Raumes charakterisiert: mittels dynastischer, feudaler und politischer Beziehungen, 1

Die Familien und ihre Namen verschmolzen durch die 1338 vollzogene Eheschließung Adelheids von Wittgenstein mit Graf Salentin von Sayn. Der Vater der Braut, Siegfried II. von Wittgenstein, war scheinbar also wohl doch nicht so „kinderlos“, wie Johannes Burkardt noch im gleichen Satz seines Beitrages behauptet (477).

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Rezensionen und Annotationen

der Entwicklung von Verwaltungsstrukturen und dem Fehlen eines vormodernen Parlamentarismus, durch Besonderheiten im Bereich von Kultur, Bildung und Religion, die sie von den größeren landgrafschaftlichen Territorien unterschieden, durch ihre territoriale Streulage und die infolgedessen begrenzten Endwicklungsimpulse im wirtschaftlichen Bereich sowie durch den ständigen Kampf der im Band betrachteten Territorien ums politische Überleben. Der Herausgeber destilliert dieses Ringen zusammenfassend als „das Hauptmotiv und de[n] Hauptgegenstand jeder Regierungstätigkeit“ (XVI) heraus. Die Beiträge enden mit dem Zeitpunkt der Mediatisierung der untersuchten kleineren weltlichen Gebiete und geben meist einen Ausblick bis hin zum Wiener Kongress oder stellenweise bis ins weitere 19. und 20. Jahrhundert hinein. An manchen Stellen schlägt sich die fachliche bzw. epochenspezifische Ausrichtung der Autoren etwas zu sehr nieder, was vor allem zu Lasten der Darstellung frühneuzeitlicher Entwicklungen geht, die sich zuweilen auf wenige Zeilen beschränken (109). Überhaupt stünde dem Handbuch ein größeres Maß an konzeptioneller Einheitlichkeit an, allein schon im Aufbau der einzelnen Beiträge: Sehr umfangreiche und differenziert gegliederte Aufsätze wechseln sich mit kurzen und nur ansatzweise strukturierten Abhandlungen ab, chronologisch aufgebaute Texte stehen neben thematisch gegliederten. Bei aller inhaltlichen und formalen Vielfalt der Beiträge kommen aber auch gemeinsame Grundzüge zum Ausdruck. Jedem Beitrag ist eine eigene Gliederungsübersicht sowie ein oft detailliertes Verzeichnis der behandelten Quellen und Darstellungen vorgeschaltet, dem sich meist eine hilfreiche Beurteilung zum Forschungsstand der betrachteten Herrschaft anschließt, die vorhandene und weiterhin bestehende Forschungslücken oder Desiderata aufzeigt. Erschlossen wird der Band durch ein Orts- und Personenregister sowie durch ein Abkürzungs- und Siglenverzeichnis. Jedem der 15 Beiträge ist eine eigene Karte vorangestellt. Es handelt sich dabei allerdings immer nur um Momentaufnahmen bestimmter Jahre, die keine diachrone Betrachtung der Geschichte der einzelnen Gebiete ermöglichen. Abbildungen von Wappen der behandelten Familien würden die Beiträge zudem sinnvoll ergänzen; es finden sich leider nur einzelne Erwähnungen, bestenfalls Beschreibungen von Wappen (476). An mancher Stelle sind erläuterte Familienzusammenhänge mangels jeglicher genealogischer Übersichten nur erschwert nachvollziehbar. Die „längere Vorgeschichte“ (XVII), die die Beiträge des Handbuches haben – sie reichen teils bis auf die Grundlegung des Handbuchs durch Walter Heinemeyer zurück –, merkt man dem Band erfreulicherweise nicht an. Die Texte wurden in Bezug auf relevante neue Forschungsliteratur aktualisiert, die meisten auch inhaltlich ergänzt und bearbeitet, manche gar neu verfasst. Dem Herausgeber und der Autorenschaft ist es somit gelungen, ein lange währendes Projekt zu einem überaus positiven Abschluss zu bringen. Andreas Flurschütz da Cruz

Bamberg

C HRISTOPH F RANKE (H G .): Adelsarchive in der historischen Forschung (= Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg 26), Marburg: Selbstverlag der Historischen Kommission Darmstadt und der Historischen Kommission Hessen 2014, 131 S., (ISBN 978-3-88964-211-0), 28,00 EUR. Die hessische Adelsforschung ist rührig gewesen in den letzten Jahren. Damit liegt sie sicher auf einer allgemeinen Trendlinie hierzulande, hat diese aber gerade mit Blick auf die

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Archivpflege adeliger Haus- und Familienüberlieferung auch maßgeblich mit beeinflusst. Schon 2009 war – ebenfalls als Ergebnis einer Tagung am Hessischen Staatsarchiv in Marburg – der wichtige Sammelband „Adelsarchive – zentrale Quellenbestände oder Curiosa?“ (Bd. 22 derselben Schriftenreihe, hg. von Andreas Hedwig und Karl Murk) erschienen, der zu Recht ein allgemein positives Echo gefunden hat. 2010 folgte dann der gewichtige Band „Adel in Hessen“, der von den Herausgebern Eckart Conze, Alexander Jendorff und Heide Wunder mit einer ausführlichen Bestandsaufnahme und zukunftsgerichteten Problematisierung der Forschungslage eingeleitet wurde. Gemessen an diesen beiden Wege auf- und vorzeichnenden Bänden haben die hier vorgelegten Referate einer Tagung, die von der Fachgruppe 4 („Haus-, Herrschafts- und Familienarchive“) des Vereins Deutscher Archivarinnen und Archivare gemeinsam mit dem Marburger Staatsarchiv, dem ebendort beheimateten Herder-Institut und dem Deutschen Adelsarchiv ausgerichtet wurde, eher exemplarisch-dokumentarischen Charakter. Grundsätzliche Fragen werden kaum mehr berührt; einzig Eberhard Fritz plädiert in seinem Beitrag über „Adelsarchiv und Sozialgeschichte“ (119–131) am Beispiel württembergischer Hofbediensteter aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert für eine Erweiterung der Adelsgeschichte durch eine Perspektive „von unten“. Ansonsten wird vor allem dokumentiert: Dorothee M. Goeze die von ihr verwaltete „Dokumentesammlung“ am HerderInstitut Marburg als zentraler Sammelbestand für die baltische Adelsgeschichte (11–21), Christine Klössel (23–34) die Gründungs- und Entstehungsgeschichte der von ihr geleiteten Hessischen Hausstiftung auf Schloss Fasanerie bei Fulda, Harald Winkel das von ihm gemeinsam mit Ulrich Stöhr bearbeitete DFG-Projekt „Erschließung des Adelsarchivs Schenck zu Schweinsberg“ (35–44) und Holger Th. Gräf (45–61) die bereits 2010 von ihm und anderen vorgelegten Editionen der Briefsammlung und des Tagebuchs Georg Ernsts von und zu Gilsa (1740–1798), hier angereichert durch einige Zimelien aus dem Familien- und Gutsarchiv. Auch Alexander Jendorff (63–102) hat über den 1575 in Mainz hingerichteten Barthold von Wintzingerode schon (zweimal) gearbeitet (in der Mainzer Zeitschrift 106/107, [2011/12], 217–232 und monographisch unter dem Titel: Der Tod des Tyrannen. Geschichte und Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode, 2012), fügt dem Ganzen aber durch die Geschichte der Stilisierung Bartholds zu einem protestantischen Märtyrer gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine lesenswerte neue Dimension hinzu. Christoph Franke schließlich (103–117) versucht sich an einer statistischen Erfassung ausgewählter bayerischer Adelsfamilien im 19. und 20. Jahrhundert unter sozialhistorischen Fragestellungen, etwa des Schul- und Universitätsbesuchs, der Ehepartner oder der bekleideten Ämter. Als Basis dienen ihm dazu genealogische Handbücher (namentlich der „Gotha“), deren Informationen er über eine Datenbank quantifiziert. Insgesamt also bietet der Tagungsband nur hier und da wirklich Neues. Als Einblick in jüngere und z. T. noch laufende Arbeiten an vor allem hessischen Adelsarchiven bietet er dagegen durchaus exemplarische Schlaglichter. Hiram Kümper

Mannheim

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W OLFGANG P RANGE: Bischof und Domkapitel zu Lübeck. Hochstift, Fürstentum und Landesteil 1160–1937 (= Einzelveröffentlichung des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde), Lübeck: Schmidt-Römhild 2014, 728 S., 2 Abb., 5 Ktn., 6 Tab., (ISBN 978-3-7950-5215-7), 29,80 EUR. Mit der Herausgabe der gesammelten Aufsätze des Verfassers über die gut 800jährige Geschichte des Bistums Lübeck und seiner Akteure bietet der Verein für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde ein Kompendium über das im Vergleich zur Stadt weniger erforschte geistlich-territoriale Lübeck an. Die Auswahl von 24 teils ergänzten Aufsätzen, von denen einer bisher unveröffentlicht war, führt die langjährige Forschertätigkeit Wolfgang Pranges zur Bistumsgeschichte in einer Veröffentlichung zusammen. Einleitend werden der historische Rahmen sowie das umfassende Quellenkorpus der nachfolgenden Artikel vorgestellt. Eine Gesamtbibliographie der Publikationen Pranges zum Thema ist beigefügt, ebenso ein Orts- und Personenregister. Abdrucke von erläuterten Verzeichnissen – etwa der Domherren von 1530 bis 1804 – und Editionen ergänzen die vorgelegte Forschungsarbeit. Der Sammelband gewährt Einblicke in die Gründungsgeschichte des Bistums und seine weitere Entwicklung in administrativ-politischer Hinsicht bis zur Säkularisierung 1806 und der Eingliederung in die preußische Provinz Schleswig-Holstein gut 130 Jahre später. Die Aufgaben des mittelalterlichen Kapitels finden Beachtung, gleichermaßen Abläufe und Orte der Rechtspflege. Prange stellt seine Ergebnisse von Studien etwa über Armenfürsorge und Besitztümer des Bistums vor, vermittelt Abläufe und Erwartungen der Domherren bei der Bischofswahl und zeichnet die Lebensumstände von Frauen im Bistumsumfeld sowie diejenigen ausgesuchter Domherren nach. Nicht zuletzt arbeitet er die spätestens 1163 einsetzende Geschichte des Archivs des Domkapitels sowie seines Bestands (heute Landesarchiv Schleswig-Holstein, LAS) auf und widmet sich – samt Verzeichnis der Altäre, Vikarien und Kommenden – dem Stiftungswesen einer der vier Lübecker Pfarrkirchen. Die Anordnung im Sammelband, die mit den grundlegenden Arbeiten Pranges beginnt, fördert das Verständnis später eingereihter Einzelanalysen. So spürt Prange im ersten Beitrag dem dem Bistum 1156 zugesagten Land nach. Dabei macht er Graf Adolfs II. Versuche plausibel, künftiges Rodungswachstum bei der Berechnung der 300 zu überlassenden Hufen einzubeziehen, während Bischof Gerold auf Übergabe bereits besiedelten Lands bestand. Dem folgt ein knapper Überblick über die Geschichte des Bistums, ergänzt durch ein Verzeichnis der Bischöfe von 968–1160 (in Oldenburg) und bis 1586 (in Lübeck) sowie Hinweise zu allen Bischöfen, die als Auszüge aus Gatz’ „Bistümer des Heiligen Römischen Reichs“ den dritten Beitrag bilden. Mit der umfassenden Übersicht über die Einkünfte und ihre Verwaltung durch das Bistum um 1523 wies Prange schon 1992 – nun aber in Teilen ergänzt – nicht nur das beträchtliche Wachstum des Einkommens seit Gründung des Bistums nach, sondern auch eine zunehmende Begünstigung der rangältesten und residierenden Domherren. Die eng mit der Stadt Lübeck verknüpfte Stiftung Pauperes in Porticu, die in einem weiteren Beitrag beschrieben wird, unterhielt seit Mitte des 14. Jahrhunderts mit Unterstützung des städtischen Rats lebenslange Armenförderung in Lübeck und Umgebung. Die Pröve wurde bis 1780 täglich an Bedürftige in Lübeck oder Eutin verteilt und umfasste bis 1783 Brot und andere Lebensmittel, dann erst Geldmittel. Die letzte Vergabe einer

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solchen lebenslangen Förderung erfolgte 1804 und lief bis etwa 1854 aus. Nicht nur diese Erkenntnis ist Folge einer induktiven Analyse des letzten Eintrags im Rechnungsbuch und des dadurch vermuteten Todesjahrs der letzten Inhaberin einer Förderung. Die Untersuchung und Darstellung des Einzelnen überführt Prange auch in die Interpretation allgemeiner Abläufe, wenn er die Verwendungen des Formats beschreibt. Als Zeugnis der erlangten Ordination anzusprechen, diente das Format – wie an vier Einzelfällen aufgezeigt – als Urkunde, die einzig die Priesterweihe und die dadurch entstehenden Ansprüche bezeugte, sowie als Dokument, das daher Fälschungsversuchen unterlag, aber gleichsam das Domkapitel verpflichtete, seinen Inhaber der weltlichen Gerichtsbarkeit zu entziehen, selbst wenn das Kapitel von der Rechtmäßigkeit der weltlichen Anklage überzeugt war. Ähnlich lässt Prange Rückschlüsse auf die Lebensverhältnisse Vieler durch die Darstellung Einzelner zu. Frauen seien, ob in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Magd, Köchin oder Haushälterin tituliert, in der domherrlichen Wahrnehmung nie mehr als lediglich Objekte gewesen. Ähnlich dient der Vikar Johannes Gadeking, gestorben 1521, dem Forscher als Beleg für den umfassenden Kontakt mit alltäglicher Arbeit „mitten in der Welt“ (259), den das Eintreiben der Einkünfte mit sich brachte. Der 2004 erschienene und nun ergänzt vorliegende Aufsatz über die Reisen und Dichtungen Hermanns von Zesterfleth gibt Einblick in das humanistische Leben des um 1610/11 Verschollenen. Die Darstellung des jahrelangen Rechtsstreits um die Restitution Korffs hingegen behandelt und interpretiert das Bemühen eines nur verschollen geglaubten Domherrn bis zum Vergleich mit dem Domkapitel in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Am anhaltenden Bestreben des Domherren Maximilian von Kurtzrock, den im 18. Jahrhundert durchaus gewöhnlichen Verkauf seiner Pfründe bald nach seinem Residenzpflichtjahr zu bewerkstelligen, kann Prange eine fehlende Lebenstüchtigkeit ablesen bis hin zum nicht mehr überlieferten Lebensende des zum Zeitpunkt der Resignation um 1756 etwa Dreißigjährigen. An diesem Fall sei zudem zu erkennen, wie das Domkapitel bereits im Verlauf des 17. Jahrhunderts zur „Versorgungsanstalt“ (547) derjenigen Domherren wurde, die ihre Pflichten in Verwaltung, Rechtspflege, Polizei usw. nicht wahrnahmen. Ebenso exemplarisch legt Prange dar, wie der letzte katholische Bischof Johannes Tiedemann – vergleichbar mit weiteren Domherren und Vikaren – an der alten Ordnung auch nach 1530 festhielt. Einen weiteren Blickwinkel nimmt die Studie über das Domkapitel in den Jahren 1530 bis 1538 ein, wenn sie die unmittelbare Zeit der Umsetzung einer neuen Kirchenordnung nach der Reformation in Lübeck beleuchtet. Bisher unveröffentlicht war der Aufsatz zur Suspension als „befristete[m] oder dauernde[m] Ausschluß von Sitz und Stimmrecht im Kapitel“ (585) und der Aberkennung der Präbende (Privation). Auch die hier geschilderten elf Maßregelungen aus dem Zeitraum 1548 bis 1796 bieten Prange einen exemplarischen Einblick in die alltägliche Arbeit eines Domkapitels, das darauf bedacht sein müsse, sein Ansehen zu wahren, seine Handlungsfähigkeit zu behaupten sowie Treue und Gehorsam zunächst gegenüber dem Bischof, dann gegenüber Dekan und Kapitel zu verteidigen. Nur die letzten drei dieser Disziplinarfälle wurden als förmliche Rechtsprozesse durchgeführt. Unter den abschließenden Aufsätzen des Sammelbands finden sich die schon 1971 erschienene Abhandlung zur Verkoppelung der Dörfer im ausgehenden 18. Jahrhundert, die für das Domkapitel besonders eine Auseinandersetzung über das Koppelgeld bedeutete,

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eine Studie zur Abwicklung des 1309 auch durch Lübeck errichteten Kollegialstifts Eutin im 19. Jahrhundert und – gegenüber der Erstveröffentlichung stark ergänzt – ein Ausblick auf Hochstift, Fürstentum und Landesteil Lübeck bis 1937. Die vornehmlich verwaltungs- und rechtsgeschichtlichen Studien Wolfgang Pranges erlauben – sachlich, detailliert und anschaulich vorgetragen (einzig gewöhnungsbedürftig mag das gelegentlich verwendete Präsenz sein) – auch Einblicke in die Alltags- und Sozialgeschichte der Individuen und Kollektive der Lübecker Bistumsgeschichte. Dabei stützt Prange sich auf akribische und umfassende Quellenkenntnis, die die vorsichtigen Rückschlüsse vom Exempel aufs Allgemeine plausibel machen. Mit der Aufsatzsammlung wurden reichhaltige und gut auffindbare Informationen zu Bischof und Domkapitel zu Lübeck vorgelegt, die zu weiteren Studien anregen, in Umfang und inhaltlicher Fülle aber lange unerreicht bleiben werden. Tatjana Niemsch

Kiel

T OBIAS W ULF: Die Pfarrgemeinden der Stadt Köln. Entwicklung und Bedeutung vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit (= Studien zur Kölner Kirchengeschichte 42), Siegburg: Verlag Franz Schmitt 2012, 712 S., (ISBN 978-3-877-10458-3), 39,90 EUR. Tobias Wulfs Studie zu den Kirchspielen der Stadt Köln, bei der es sich um eine geringfügig überarbeitete Version seiner an der Universität Bonn eingereichten Dissertation handelt, kann als Ergänzung zu Arnd Reitemeiers vergleichender Untersuchung zu den spätmittelalterlichen Stadtpfarreien gesehen werden (A RND R EITEMEIER: Pfarrkirchen in der Stadt des späten Mittelalters. Politik, Wirtschaft und Verwaltung [= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 177], Stuttgart 2005). Letzterer hatte die Stadt Köln auf Grund ihrer komplexen Pfarrstruktur weitgehend ausgeklammert, was spätestens nach der Lektüre der vorliegenden Arbeit verständlich ist. Quellennah und detailliert legt Wulf die Entwicklung der immerhin 19 Kölner Pfarrbezirke bis zum Ende des 16. Jahrhunderts dar, die nicht nur durch ihre große Anzahl, sondern auch durch eine sehr heterogene Entwicklung gekennzeichnet waren. Es handelt sich bei dem Werk jedoch um durchaus mehr als eine Fortführung der Studie Reitemeiers für den Kölner Fall. Während Reitemeier die wirtschaftliche Verwaltung der Pfarreien ins Zentrum rückte, stellt Wulf die strukturellen und personellen Verbindungen von städtischer Politik und Kirchspiel in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Dies erscheint angesichts der vielschichtigen kommunalen Struktur Kölns mit seinen in der Forschung viel beachteten Sonderbezirken als eine vielversprechende Perspektive. Tobias Wulf gliedert die Untersuchung in drei Teile. Er skizziert zunächst die Entstehung der Pfarreien, deren räumliche Konsolidierung in der Mitte des 13. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen war. Ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts lässt sich eine Beteiligung der Pfarrgenossen an der Finanzverwaltung nachweisen, wobei die Entwicklung zum Teil jedoch erst im 15. Jahrhundert abgeschlossen war. Parallel dazu erlangten zahlreiche Pfarrgemeinden Mitwirkungsrechte auch bei der Pfarrerwahl, wobei die Rechtsgrundlage und die konkreten Aushandlungsprozesse nicht nur zeitlichen Veränderungen unterworfen waren, sondern auch je nach Pfarrei variierten. Wulfs differenzierte Darstellung verdeutlicht, dass angesichts der Heterogenität der Pfarrbezirke schematische Kategorisierungsversuche schnell an ihre Grenzen stoßen. Es lassen sich zwar gewisse

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Tendenzen ausmachen, doch entwickelten sich die pfarrkirchlichen Verwaltungsstrukturen weder geradlinig noch gleichmäßig. Das zweite Kapitel ist der „Institutionalisierung“ (108) der Pfarrverwaltungen im 14. und 15. Jahrhundert gewidmet, die trotz ihres lokal unterschiedlichen Verlaufs zu einem gesamtstädtisch annähernd einheitlichen pfarrkirchlichen Organisationsgrad ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts führte. In dieser Phase bildeten sich die Kirchmeistergremien als Verwaltungsorgane heraus. Aufschlussreich sind insbesondere Wulfs Ausführungen zum Verhältnis von städtischen Sondergemeinden und Pfarrbezirken. Er sieht in ihnen zwar räumlich und personell eng vernetzte, aber nicht notwendigerweise institutionell verknüpfte Einheiten. Obwohl die Sondergemeinden der Innenstadt auf der räumlichen und sozialen Einheit der Kirchspiele basierten, besaßen sie als bürgerliche Organisationen schon bald einen anderen Bezugspunkt: „Fast dialektisch wird mit der steigenden Ausdifferenzierung der Verwaltung ihre Unterscheidbarkeit immer deutlicher, wenngleich die wechselseitigen Verknüpfungen stetig anwachsen“ (133 f.). Parallel zur politischen Marginalisierung der Sondergemeinden im späten 15. und 16. Jahrhundert gewannen die Pfarrbezirke für die gesamtstädtische kommunale Verwaltung eine größere Relevanz, wie Wulf in seinem letzten Kapitel darlegt. Im Gegensatz zu den genossenschaftlich organisierten Gaffeln stellten die Kirchspiele dem Rat eine räumliche Organisationsstruktur zur Verfügung. Ungeachtet der Tatsache, dass eigentlich die Gaffeln die Grundlage der bürgerlichen Wehrorganisation bildeten, wurden etliche das Wehrwesen betreffende Aspekte wie das Wachgeld auf der Ebene der Kirchspiele organisiert. Die Pfarrbezirke bildeten „die Grundlage einer protokommunaladministrativen Substruktur der Stadt – und zwar in topographischer wie sozialorganisatorischer, allerdings nur sehr bedingt auch in institutioneller Hinsicht“ (304). Wulf verdeutlicht, dass die Kirchmeister in Köln zwar häufig vom Rat zur Unterstützung herangezogen wurden, aber nicht im engeren Sinn unter städtischer Kontrolle standen. Sie blieben eine autonome Einrichtung, auch wenn Wulf die vielfältigen personellen Verflechtungen zwischen der gesamtstädtischen Elite und den Führungspersönlichkeiten in den Kirchspielen aufzeigt. Die Aufsicht des Rates über die Kirchspielverwaltung erfolgte vorwiegend mittelbar, etwa über die Kontrolle des Schrein- und Bauwesens oder die Funktion des Rates als Appellationsinstanz. Eine offizielle Rechnungslegung der Kirchmeister vor dem Rat ist dagegen nicht belegt. Die Kirchmeister konnten jedoch gerade auf Grund ihres Status als lokal gewählte Amtsträger als Vermittlungsinstanz zwischen der städtischen Obrigkeit und lokalen Verbänden agieren und übten so eine stabilisierende Wirkung aus. Einen Einschnitt im Verhältnis von Stadt und Kirchspiel macht Wulf in den 1580er Jahren aus. Die intensivierte Verbindung von Pfarrstellen mit Stiftspräbenden, die die Seelsorge finanziell absicherten, führte in Kombination mit einer Wehrreform zu einer stärkeren Konzentration der Pfarrbezirke auf ihre kirchliche Funktion. Hierbei handelte es sich jedoch weniger um eine gezielte Umgestaltung der parochialen Verhältnisse durch den Rat, sondern um das Zusammenwirken verschiedener Tendenzen im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts. Ähnlich differenziert bewertet Wulf die Rolle der Kirchspiele für die konfessionelle Stabilität Kölns. Die vielschichtigen personellen und strukturellen Verbindungen zwischen Stadt und Pfarreien sowie Laien und Pfarrklerus erforderten ein konsensorientiertes Handeln. Dies erschwerte, als ein Baustein unter mehreren, das Aufkommen reformatorischer Strukturen in Köln.

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Die Arbeit besticht zum einen durch ihren Materialreichtum (der unter anderem in Form einer im Anhang publizierten Prosopographie lokaler Amtsträger zukünftigen Forschungen zugänglich gemacht wird), zum anderen durch ihre detaillierte und differenzierte Analyse städtischer (Sub-)Strukturen. Wulf fasst die vormoderne Stadt konsequent als Mehrebenenprojekt auf und legt sorgfältig die vielfältigen Verknüpfungen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Ebenen sowohl in personeller als auch in institutioneller Hinsicht frei. Hier bietet die Untersuchung Anknüpfungspunkte weit über den lokalgeschichtlichen Kontext hinaus. Der Fokus auf zahlreiche Einzelbeispiele und deren lokalen Kontext birgt jedoch auch Nachteile. Der Leser muss die durchaus interessanten Ergebnisse den umfangreichen Kapiteln oft mühsam abringen. Eine stärkere Strukturierung innerhalb der Kapitel bzw. eine kapitelweise Zusammenfassung der wichtigsten Thesen hätte den Zugang zu Wulfs reichhaltigen Forschungsergebnissen sicherlich deutlich erleichtert. Claudia Esch

Bamberg

T HOMAS G UNZELMANN (H G .): Bamberg. Stadtdenkmal und Denkmallandschaft (= Die Kunstdenkmäler von Bayern, Regierungsbezirk Oberfranken, Stadt Bamberg 1), Bamberg/Berlin/München: Heinrichs-Verlag/Deutscher Kunstverlag 2012, 1953 S., 24 Tafeln, (ISBN 978-3-89889-171-4 bzw. 978-3-422-07118-6), 98,00 EUR. Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um den Einführungsband zu einem auf insgesamt sieben Bände (mit jeweils bis zu vier Teilbänden) angelegten Großinventar der Stadt Bamberg, das vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege verantwortet wird. Seit 1990 wurden bereits die Bände zur Inneren Inselstadt, zur Bürgerlichen Bergstadt und zu den Immunitäten der Bergstadt publiziert. Der letzte Teilband zum Domberg ist ab Juni 2015 erhältlich, die Bände zur Theuerstadt sowie den Erweiterungen der Inselstadt sind noch in Vorbereitung bzw. Planung. Das damit schon weit fortgeschrittene Projekt erhält mit seinem numerisch ersten Band eine Klammer, die die Befunde der auf einen jeweiligen topographischen Ausschnitt ausgerichteten Einzelbände zusammenführen und übergreifende Entwicklungslinien verdeutlichen soll. Passend zu dem monumentalen Gesamtprojekt weist der Einleitungsband mit fast 2 000 Seiten, die auf zwei Teilbände verteilt sind, einen beeindruckenden Umfang auf. Wie von den übrigen Bänden gewohnt, besticht das Werk durch eine qualitativ hochwertige Verarbeitung und zahlreiche in den Text integrierte Abbildungen zu einem angesichts des Umfangs und der Ausstattung attraktiven Preis. Insgesamt 24 beigefügte Karten und Farbtafeln stellen zudem zahlreiche wichtige Quellen, wie etwa den Zweidlerplan von 1602 oder Johann Baptist Roppelts Plan der Stadt Bamberg von 1767, sowie umfangreiches, neu erstelltes Karten- und Abbildungsmaterial, etwa zu Stadtfunktionen und zur Sozialtopographie, im Großformat zur Verfügung. Der Band beeindruckt jedoch nicht allein durch seine Ausstattung, sondern ist auch inhaltlich gelungen. Eine ausführliche Auflistung von älterer und neuerer Literatur, Quellen, Plänen und Abbildungen zur Gesamtstadt Bamberg bildet zusammen mit einer kurzen Einleitung den ersten Teil des Werks. Der zweite Teil ist einer Analyse der Stadtentwicklung im Längsschnitt gewidmet und stellt eine grundlegende Einführung in die Stadtgeschichte dar. Ausgehend vom Naturraum und der Siedlungsgründung wird in 13 chronologisch

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geordneten Kapiteln die Geschichte Bambergs bis zum Ende des 20. Jahrhunderts beleuchtet. Auch wenn stadträumliche und bauliche Aspekte aus konzeptionellen Gründen breiten Raum einnehmen, werden auch politische, rechtliche, religiöse, wirtschaftliche, soziale und geistesgeschichtliche Zusammenhänge behandelt. Die Darstellung bietet eine hervorragende Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands, die über eine reine Synthese oft weit hinausgeht. So weisen beispielsweise Thomas Gunzelmann und Stefan Pfaffenberger in ihrem Kapitel über das spätmittelalterliche Bamberg zu Recht darauf hin, dass es für die in der Forschung bislang verbreitete These eines in wirtschaftlicher Konkurrenz zum städtischen Markt stehenden Immunitätsmarkts keine Belege gibt1 . Kritische Anmerkungen wie diese demonstrieren eine angesichts der Fülle des bearbeiteten Materials bemerkenswert intensive Auseinandersetzung mit einzelnen Quellen und Forschungsmeinungen. Dennoch spiegelt die historische Einführung naturgemäß in weiten Teilen den momentanen Forschungsstand wider, der an etlichen Stellen ergänzungs- oder überholungsbedürftig ist. Die Schließung von Forschungslücken, die von einer Einführung zu einem Denkmalinventar auch nicht erwartet werden kann, bleibt daher die Aufgabe einer hoffentlich in baldiger Zukunft zu erwartenden wissenschaftlichen Stadtgeschichte. Da der begrenzte Platz an dieser Stelle ein näheres Eingehen auf die einzelnen Epochendarstellungen unmöglich macht, soll ein kurzer Hinweis auf das abschließende Kapitel des zweiten Teils genügen, das der „Identitätsfindung als Stadtdenkmal“ gewidmet ist. Die Analyse des langwierigen und keineswegs geradlinigen Prozesses, in dem sich das Bewusstsein der städtischen Obrigkeiten und der Bamberger Bürger für den Denkmalstatus ihrer Stadt ausformte, ist nicht zuletzt mit Blick auf aktuelle Debatten hochinteressant. Im Gegensatz zur bis hierhin chronologisch organisierten Darstellung behandelt der dritte und letzte Teil, der einen eigenen Teilband einnimmt, übergreifende Themen in diachroner Form. Dazu zählen zum einen räumlich-topographische Aspekte wie die Entwicklung der Stadtbefestigung, der Straßen und Plätze, der Gärten und Grünflächen sowie der Verkehrsinfrastruktur. Auch die Analyse der prägenden Beziehung zwischen Stadt und Fluss sowie eine Gesamtschau der Kirchen und Klöster in ihrer Bedeutung für den Stadtraum sind hier einzuordnen. Zum anderen werden auch Themen aus dem Bereich der Bauforschung im engeren Sinne in den Blick genommen. So wird der städtische Hausbau in seiner lokalen Entwicklung umfassend beleuchtet – vom Gärtnerhaus über das Miethochhaus bis hin zu öffentlichen Gebäuden und Industriebauten sowie vom Keller bis zum Dach. Ein Überblick über fünf ursprünglich selbstständige, mittlerweile zu Bamberg zählende Gemeinden sowie eine Würdigung der historischen Kulturlandschaft beschließen den zweiten Teilband. Die Materialfülle und die querschnittartige Anlage der Themen führen gelegentlich zu Überschneidungen zwischen den Kapiteln und Redundanzen, was sich allerdings wohl nur schwer vermeiden ließe. Dafür legt der diachrone Zugang den Blick auf bislang in dieser Form selten beschriebene Strukturen frei. So bietet der Beitrag von Stefan Pfaffenberger 1

Vgl. zum „Mythos“ des Immunitätsmarkts C LAUDIA E SCH: Topographie und Wirtschaft. Das Verhältnis von Stadtgericht und Immunitäten im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bamberg im Spiegel der Markt- und Handelsrechte, in: M ARK H ÄBERLEIN /M ICHAELA S CHMÖLZ -H ÄBERLEIN (Hg.): Handel, Händler und Märkte in Bamberg. Akteure, Strukturen und Entwicklungen in einer vormodernen Residenzstadt (1300–1800) (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 21/Stadt und Region in der Vormoderne 3), Würzburg 2015, 21–50.

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erstmals eine ausführliche Würdigung der Stadtmauer von den Anfängen der mittelalterlichen Befestigungsanlagen bis zu den heute noch im Stadtbild sichtbaren Überresten. Das Kapitel zu Straßen und Plätzen – um nur ein weiteres Beispiel herauszugreifen – lenkt den Blick auf die Raumwirkung der städtischen Architektur auch jenseits der bekannten Blickachsen barocker Stadtplanung. Nicht immer transportieren die Überschriften der Kapitel die Komplexität des Inhalts. So finden sich beispielsweise unter dem Stichpunkt Handwerkerhäuser in dem stark architekturgeschichtlich ausgerichteten Beitrag zum städtischen Hausbau auch interessante Beobachtungen zur Verteilung der Gewerbe im Stadtraum und somit zur Gewerbestruktur Bambergs. Ein ausgiebiges Schmökern in den einzelnen Kapiteln lohnt sich daher. Umfang und Komplexität des Werkes erschweren zum Teil allerdings die praktische Handhabung. Dies betrifft insbesondere die Übersichtlichkeit und das schnelle Auffinden von Informationen. Zwar verfügen beide Teilbände über kombinierte Personen-, Orts- und Schlagwortregister, doch sind diese für eine inhaltliche Erschließung insbesondere des stadtgeschichtlichen Überblicks kaum geeignet. Die Verweise auf Orts- und Straßennamen überwiegen deutlich, während man nach Stichworten wie „Rat“ oder „Stadtrat“ vergeblich sucht. Abhilfe kann hier die vom Verlag angebotene CD-ROM schaffen, die nicht nur alle Texte im PDF-Format mit der Möglichkeit zur Volltextsuche enthält, sondern auch zusätzliches, in der Printversion nicht verfügbares Kartenmaterial bietet. Da für die CD-ROM allerdings nochmals der Preis der Druckausgabe zu entrichten ist, ist die elektronische Version wohl weniger als eine Ergänzung, sondern vielmehr als eine (durchaus bedenkenswerte) Alternative zur Druckausgabe zu verstehen. In welcher Darstellungsform auch immer man den Einführungsband zum Großinventar rezipiert, wird man in jedem Fall einen in Aktualität, Umfang und Materialfülle derzeit konkurrenzlosen Überblick zur Entwicklung der Stadt Bamberg von der ersten Besiedelung bis zur Gegenwart vorfinden, der jedem an der Bamberger Stadtgeschichte Interessierten ans Herz gelegt sei. Claudia Esch

Bamberg

ROLF K IESSLING (H G .): St. Anna in Augsburg. Eine Kirche und ihre Gemeinde, Augsburg: Wißner Verlag 2013, 879 S., Abb., (ISBN 978-3-89639-940-3), 39,90 EUR. Nicht nur aus architektonischer Sicht handelt es sich bei St. Anna in Augsburg um eine „ganz außergewöhnliche Kirche“, wie es der Waschzettel des hier zu besprechenden Sammelbandes ankündigt: Die Kirche St. Anna, deren wechselvolle Geschichte vom Mittelalter bis in die Moderne am heutigen Bau sichtbar nachvollzogen werden kann, ist nicht nur die evangelische Hauptkirche Augsburgs, sondern gleichzeitig auch ein überregional und sogar international herausragender Memorialort des Protestantismus. Der Augsburger Landeshistoriker Rolf Kießling hat es sich zur Aufgabe gemacht, nach Wilhelm Schillers Monographie von 1938 eine neue und umfassende Gesamtdarstellung zu St. Anna auf den Weg zu bringen, was ihm auch in hervorragender Weise geglückt ist: Neben ihm befassen sich 22, größtenteils ausgewiesene Kenner in 24 Beiträgen mit der Materie. Der stattliche Band gliedert sich in vier große Teile: Die sechs Beiträge des ersten Teiles setzen sich mit den mittelalterlichen Grundlagen St. Annas, dem Karmelitenkloster und den frühen Beziehungen zur Reichsstadt Augsburg und ihrer Bürgerschaft auseinander (11–177). Darauf bauen die Aufsätze auf, die die frühneuzeitliche Entwicklung St. Annas

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zur evangelischen Gemeindekirche im komplexen Kontext von Stadt- und Reichspolitik entfalten (179–326). Teil III nähert sich der Gestaltung der Kirche als Bekenntnis- und Lebensraum der Gemeinde anhand von Einzelaspekten wie der barocken Umformung des Kirchenraums und seiner bildlichen und plastischen Ausstattung, in denen sich die religiösen und repräsentativen Bedürfnisse der stiftenden Augsburger Bürgerschaft nachvollziehen lassen (327–570). Im vierten und letzten Abschnitt beleuchten sieben Beiträge die Pfarrei und das mit ihr verknüpfte Dekanat unter den Herausforderungen der Neuzeit, den Umbrüchen nach Ende des Alten Reiches und der Integration Augsburgs und seines Kirchenwesens in den bayerischen Staat (571–773). Ein umfangreicher, über hundert Seiten langer Anhang rundet das Monumentalwerk ab. Schon das um 1270 gegründete, der heutigen Kirche St. Anna vorausgehende Karmelitenkloster nahm eine markante Stellung innerhalb der Augsburger Klosterlandschaft ein, vor allem durch die von seinen Konventualen gepflegte Memorialkultur. Obwohl damals am Stadtrand gelegen, befand es sich doch in unmittelbarer Nähe zu den Anwesen der städtischen Oberschicht, die gerade dabei war, sich endgültig von ihrem bischöflichen Stadtherrn zu emanzipieren. Durch ihre „bürgerorientierte Seelsorge“ (15) standen die Mendikantenkonvente den Stadtbewohnern besonders nahe, gerade durch ihre innovative Pflege des Totengedenkens als existentiellem Grundbedürfnis des mittelalterlichen Menschen. Höhepunkte dieses Trends stellen die sog. Goldschmiedekapelle und schließlich die Fuggersche Grabkapelle in St. Anna von 1509/21 dar, auf die im Sammelband in Form mehrerer Aufsätze eingegangen wird (Baumeister, Sölch, Grebe, Karg). Die Bürgerschaft war es auch, die den ersten Kirchenbau von 1321 maßgeblich mitfinanzierte. Rolf Kießling begründet das Erfolgsrezept des Ordens mit der „‚Aktualität‘ der Karmeliten im Augsburg des Spätmittelalters“ (18). Durch den Klosterbrand von 1460 intensivierte sich das Verhältnis zwischen Bürgerschaft und Konvent noch: Als ‚Stiftergemeinde‘ (40) griff letztere den Mönchen beim Wiederaufbau großzügig unter die Arme. Die Verehrung der heiligen Anna setzte indes erst um 1500 ein. Bald stieg sie auch zur Namenspatronin der Kirche auf. Über den Prior des Karmelitenklosters Johannes Frosch fand das Luthertum frühzeitig Eingang in die Reichsstadt. „Hauptstützpunkt lutherischen Denkens“ (185) wurde schnell die Kirche St. Anna, die nach der Auflösung des Konvents 1534 mit ihrem Gymnasium und ihrer Bibliothek als Antwort auf einen wiedererstarkten Katholizismus unter der Protektion der Familie Fugger (Gründung des Jesuitengymnasiums und -kollegs St. Salvator 1579/80) eine neue ‚Sonderfunktion‘ als „städtisches Bildungszentrum“ (206) erhielt. Durch das Augsburger Interim wurde St. Anna erstmals Pfarrkirche; der Augsburger Religionsfriede von 1555 bestimmte die Bikonfessionalität der Stadt. Auf eine Phase der Konsolidierung der kirchlichen Strukturen in Augsburg (1580–1618) folgte mit dem Restitutionsedikt von 1629 und seinen Bestimmungen über die Rückgabe säkularisierter Kirchengüter, zu denen St. Anna gehörte, eine, durch den Siegeszug Gustav Adolfs nur vorübergehend unterbrochene, geradezu traumatische Periode für die Augsburger Protestanten: Der evangelische Gottesdienst wurde verboten, die St. Anna-Kirche an die Jesuiten übergeben. Die Gottesdienste für die Augsburger Protestanten mussten in der Folge 14 Jahre lang unter freiem Himmel im Hof des Annakollegs stattfinden. Der Westfälische Frieden schrieb schließlich die Parität Augsburgs nach der Regel des Normaljahres 1624 fest, St. Anna wurde der evangelischen Gemeinde zurückgegeben. Das aus diesem Anlass erstmals

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1650 veranstaltete Augsburger Friedensfest wird noch heute begangen, wenngleich die Erinnerung an die grundlegende Infragestellung der Existenz des dortigen Protestantismus ein „Merkmal der evangelischen Mentalitätsgeschichte“ Augsburgs blieb (Kießling, 269). Geistliche und Bewohner der Stadt setzten sich in der Konsequenz gern mit dem Volk Israel und seiner Wüstenzeit gleich; in Analogie dazu wurde Augsburg selbst zum neuen Jerusalem stilisiert (540). Trotz dieser konfessionellen Turbulenzen zeigten sich bereits ab 1780 Ansätze zu einem ökumenischen Neben- und Miteinander der Konfessionen, die im 19. Jahrhundert ausgebaut wurden und weitestgehend ins 20. Jahrhundert hineingetragen werden konnten. 1999 erlangte St. Anna schließlich internationale Bedeutung durch die hier unterzeichnete gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre und avancierte so zu einem „weltweit bedeutsamen ‚Kraftort‘ der Ökumene“ (Römmelt, 570). Mit ihrem stark theologisch geprägten, aber auch statistisch informativen Beitrag zur gegenwärtigen Situation der Kirche und Gemeinde St. Anna schließt die derzeit amtierende Stadtdekanin den Reigen der Beiträge, die verschiedene Epochen europäischer Geistesgeschichte an diesem Denkmal von nationaler Bedeutung exemplarisch entfalten. Der sich anschließende Anhang stellt mit Glossar, verschiedenen Personenlisten, einem Abkürzungs- und Siglenverzeichnis, einem Gesamtquellen- und Literaturverzeichnis, Personen- und Ortsregistern eine vorbildliche Ergänzung des Sammelbandes dar. Das Buch besticht auch durch seine opulente Farbbebilderung (über 200 Abbildungen) und seine Detailliertheit: Jeder nur denkbare Aspekt wird beleuchtet, meist in passender Form und angemessenem Umfang. An manchen Stellen aber neigen einzelne Autoren zu leicht übertriebener Detailverliebtheit, wenn etwa sogar Ablauf und Thematik einzelner besonderer Gottesdienste wiedergegeben werden. Wen interessiert etwa, dass die Gottesdienstbesucher an Himmelfahrt 1996 „an Papiertaschentüchern [. . . ] den ‚Wohlgeruch Gottes‘ anlässlich eines Missionsgottesdienstes erschnuppern“ (732) durften? Kein Wunder, dass bei einer so großen Liebe zum Kleinen ein derart umfangreiches Buch entstanden ist. Die Konzeption des Bandes ist weitgehend ausgewogen, allerdings lassen sich zeitliche (Frühe Neuzeit) und thematische Schwerpunkte feststellen. Vertieft werden indes nur solche Aspekte, die auch schon im Fokus der bisherigen Forschung standen, so etwa St. Annas Grabkapellen. Nichtsdestotrotz gelingt es den einzelnen Beiträgen, der Diskussion ihres jeweiligen Spezialgebietes neue Facetten, wie etwa Raumbeziehungen der Grabkapellen oder deren Bedeutung für das weltweite Pilgerwesen, hinzuzufügen. Mit der Bau- und Ausstattungsgeschichte St. Annas, die ganz wesentlich von „der engen Beziehung des Großbürgertums der Oberstadt zu ‚seiner‘ Kirche“ (Link, 448), bestimmt war, befassen sich die Beiträge von Hans Heinrich Häffner, Meinrad v. Engelberg/Gode Krämer, Barbara Rajkay, Andreas Link, Christoph Emmendörffer und Helmut Baier. In zahlreichen Aufsätzen nehmen zudem St. Annas Geistliche prominenten Raum ein (Andreas Gößner, Rolf Kießling, Rudolf Freudenberger, Karl-Heinz Fix, Georg Seiderer, Helmut Baier); Kirchen- und Pfarreigeschichte gerät so an manchen Stellen leicht zur Pfarrergeschichte, was angesichts von Gegenstand und Quellenlage aber vertretbar zu sein scheint. Der von 1722 bis 1765 an St. Anna wirkende Samuel Urlsperger beispielsweise ist in den einzelnen Beiträgen nahezu omnipräsent, was wiederum seinen Ruf als charismatische Persönlichkeit und Geistlicher von internationalem Rang reflektiert. Der monumentalen

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und dennoch hervorragend redigierten Arbeit mangelt es diesbezüglich einzig an einem Quäntchen Inter- bzw. Intratextualität: Trotz thematischer Überschneidungen gibt es nur selten Querverweise innerhalb des Bandes. Die Register können dieses Defizit aber gut ausgleichen. Der Band bezieht sich auf die bisherige Literatur zur Kirche St. Anna sowie ihren Pertinentien und bietet eine hervorragende Zusammenstellung, Ergänzung und Fortführung der bereits vorhandenen, nun aufwändig aktualisierten Forschung. Durch die stete Einbettung der Geschehnisse in die Gesamtzusammenhänge der Stadt- und Landesgeschichte stellt die Publikation gleichsam eine Art Stadtchronik – zumindest des evangelischen Augsburg – dar. Trotz ihrer beeindruckenden Fülle will sie aber ebenso den Grundstein für die weitere Bearbeitung und Publikation von Einzel- und Spezialaspekten zur Geschichte von St. Anna legen, die in diesem Band nur in Aufsatzform vorgestellt werden konnten und noch intensiverer Aufarbeitung harren. Kießlings Sammelband bildet somit einen gewichtigen Meilenstein in der interdisziplinären Forschung zu St. Anna, deren Ende indes noch längst nicht abzusehen ist. Andreas Flurschütz da Cruz

Bamberg

G ABRIELA S IGNORI (H G .): Prekäre Ökonomien. Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (= Spätmittelalterstudien 4), Konstanz/München: UVK Verlagsgesellschaft 2014, 270 S., (ISBN 978-3-86764-521-8), 39,00 EUR. Sich mit Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zu befassen, könnte sich, vom Titel her verstanden und angesichts weltweiter Schuldenkrisen, fast als Main-StreamThema entpuppen. Eine solche Einschätzung wäre jedoch falsch, denn, wie von der Herausgeberin Gabriela Signori in ihrer kurzen Einleitung zum Sammelband angekündigt, liegt der Schwerpunkt der zehn Beiträge mehrheitlich auf jenen, die Geld benötigten, und weniger auf denen, die es verliehen. Die Sicht der Debitoren einzunehmen, ihre Beweggründe zur Kreditaufnahme und ihr soziales Profil mit schärferen Konturen zu versehen, ist Ziel dieses auf eine Tagung im Februar 2012 in Konstanz zurückgehenden Sammelbandes. Logisch konsequent beliefert Peter Schuster den Leser im Grundlagenteil zu Theorie und Praxis von Verschuldungen mit einem Aufriss der sozialen und kulturellen Aspekte des Schuldenmachens im ausgehenden Mittelalter. Wenn sich auch seine Definition von Krediten – als Handlung hauptsächlich „unternehmerisch tätiger Kaufleute“, worunter sowohl Aussteller als auch Empfänger zu verstehen seien (17) – und der Verschuldung – als Handlung vornehmlich kleiner Leute (17) – wohl nicht für alle Felder wirtschaftlicher Aktivitäten durchhalten lässt, so erweist sich diese Differenzierung doch fruchtbar für seinen Zugriff auf Gläubiger und Schuldner. Unter Zurückdrängung einer rein ökonomischen Sichtweise nur auf das Kreditwesen und unter Einbeziehung der verschiedensten Motive von Schuldenaufnahmen stand seitens des Schuldners bei Nichtbedienen der Schuld immer dessen Reputation auf dem Spiel, zumal in einer vornehmlich von Face-toFace-Beziehungen geprägten Gesellschaft. Gerade die Gläubiger verfügten vom Gerichtsgang über die Schuldhaft bis zur Verrufung über Mittel und Wege, das Ansehen eines Schuldners noch weiter zu ruinieren, so dass diesem zur Wahrung seiner Ehre und zur

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Möglichkeit weiterer Kreditaufnahmen deutlich daran gelegen sein musste, seine Kredite abzugelten. Mit solchen Druckmitteln setzt sich auch Julie Claustre in ihrem Beitrag aus mikrogeschichtlicher Perspektive auseinander, da sie gleichfalls in Kreditbeziehungen nicht nur ökonomische Aspekte sieht, sondern ebenso die soziokulturellen Gesichtspunkte wie Ehre und Ansehen betont. Beide werden durch ihre Untersuchung der Institution des Châtelet im mittelalterlichen Paris klar umrissen, da die zwangsweise Verfügung in dieses Haftgebäude den Schuldner weniger bestrafen denn zum Einlenken bewegen sollte, um seine Schuld zu begleichen und insofern sein Gesicht wahren zu können. Ähnlich wie Peter Schuster analysiert Claustre damit die kulturellen Implikationen von Schuld und Kredit. Franz Irsigler leitet mit seinen Ausführungen zu ‚Vertrauen und Zahlungsmoral‘ zwischen Kaufleuten und adeligen Kunden den zweiten Gesamtabschnitt des Sammelbandes über ‚Kaufleute und Handwerker‘ ein. Am Beispiel der beiden Kölner Kaufleute Dietmar Bungart und Johann van Nuyss, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf Kredit mit flandrischen Pferden und oberdeutschem Barchent handelten, wird die häufig geringe Zahlungsmoral bei der Kreditrückzahlung durch den Adel, von der die Kaufleute aber extrem abhängig waren, ausgelotet. Wenn auch Irsigler die Kreditbeziehungen sowohl der Händler als auch der adligen Schuldner recht klassisch aufgreift, so wird doch deutlich, dass die Abhängigkeit der Gläubiger von der Schuldenbedienung durch die Debitoren nicht unterschätzt werden darf, denn trotz aller möglichen Druckmittel konnte van Nuyss als Kreditgeber beispielsweise seine Schulden nicht eintreiben, was ihn letztlich in den Schuldturm und damit in den Ruin trieb. Im anschließenden Aufsatz nimmt Rudolf Holbach die prekäre Welt der Handwerker auf und differenziert sehr spannend die unterschiedlichen Verlagsformen handwerklicher Arbeit, die er unter dem Titel ‚Kredit gegen Arbeit‘ subsumiert. Damit weist er zurecht auf die Vernachlässigung der Verlegten sowohl in der geschichts- als auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung hin, weil die Reduktion auf die Verleger die Notwendigkeit der Kreditaufnahme von Handwerkern zur Krisenbewältigung, die diese erst in die Abhängigkeit und in den Verlag führte, ausblendet. Unter diesem Perspektivwechsel kommt Holbach zu dem Schluss, dass der Verlag den Handwerkern in Stadt und Land durch Kredite zwar Arbeit gab, diese Organisationsform „indessen die prekäre Situation vieler Gewerbetreibender kaum [verbesserte] und [. . . ] diese teilweise sogar [verstärkte]“ (99). „Frauen, Söldner und Gelehrte“ werden im dritten Abschnitt von vier Autoren unter die Lupe genommen, wobei die Beiträge von Hans-Jörg Gilomen über „Schuldnerinnen und Gläubigerinnen“ im Basel des 15. Jahrhunderts und von Mark Häberlein zu „ökonomischen Handlungsspielräumen“ Augsburger Frauen des Patriziats und der Kaufmannschaft des 16. und 17. Jahrhunderts nicht unterschiedlicher sein könnten: Bezüglich der Untersuchungsklientel hebt Gilomen vor allem die Basler Prostituierten und deren prekäre Lage hervor, während Häberlein die Vielfältigkeit weiblicher Lebensformen von Kaufmannsfrauen, also einer der Oberschicht zugehörigen Gruppe, in Handel und Gewerbe transparent macht. Auch sie konnten in prekäre Situationen geraten, zumal wenn das weibliche Heiratsgut von den Ehemännern in ruinöse Kapitalinvestitionen einfloss, legalisiert durch das Rechtsinstitut der Geschlechtsvormundschaft. Geschicktes Anlageverhalten der Frauen jedoch emöglichte bei einem etwaigen Konkurs des Mannes die

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teilweise Herausnahme des z. B. in Depositen angelegten weiblichen Heiratsgutes aus der Konkursmasse und insofern zumindest teilweise die Existenzsicherung der Familie. Auch methodisch unterscheiden sich Häberlein und Gilomen grundsätzlich, weil ersterer sein Ergebnis anhand von Mikroanalysen einzelner Frauenschicksale entwickelt, während Gilomen den „wirtschaftsanthropologischen Zugang [. . . ] nur am Rande mitreflektiert“ (103), weil er, auch wenn er einige Fallbeispiele nennt, „Strukturen erst in der Aggregation der Einzelfälle“ erkennen will (103) und infolgedessen mehrheitlich mit Zahlen und Tabellen operiert. Mit „Krediten und Beutemaschinerie“ beschäftigt sich Michael Jucker, der weniger die klassischen „kollektiven Akkumulationen und Gewinne durch Kriegsdienst und Plünderungen“ ins Auge fasst, als vielmehr die „individuellen Bereicherungsmöglichkeiten und Investitionen durch Beutenahme und Verkauf“ (161), wie er sie anhand von Beutelisten der Eidgenossen im Burgunderkrieg von 1474–1477 analysieren kann. Als eine weit weniger materielle Ökonomie betrachtet Gabriele Jancke die Gelehrtenkultur in der frühen Neuzeit und deren soziale Beziehungen. Die dieser Kultur immanente Gastfreundschaft interpretiert sie nicht als eine geldwerte Ressource, sondern als ein soziales Vermögen „im Rahmen ökonomischer Güter“ (220). Zu Kredit und Schulden zählt schließlich unzweifelhaft das Themenfeld des ‚Wuchers‘, das Franz-Josef Arlinghaus für die Stadt Köln des 15. Jahrhunderts nicht auf einen Diskurs um ein Zuviel oder Zuwenig von Zinsen oder einen nur kirchlichen Disput reduziert. Vielmehr fächert er seine These, dass „die Diskussion zwischen Stadt und Bischof [. . . ] eine Dynamik [entwickelte], die zur Entfaltung des Konzepts ‚Kommune‘ als zuständige Autorität für alle Felder [. . . ] entscheidend beitrug“ (223) sehr stringent auf. In den Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Stadt um das Vorgehen gegen Wucher beanspruchte die Kölner Bürgerschaft die Ahndung für sich, was letztlich die kommunale Identität stärkte und sich dann in der Reformation forciert wiederfand. Der letzte Beitrag über „Schulden, Abhängigkeiten und politische Kultur“ von Simon Teuscher befasst sich mit den sozialen Praktiken von Kreditaufnahmen in der Schweizerischen Stadt Thun. Anhand von Missiven als Quellen, die Momentaufnahmen von Verschuldungen und mit diesen zusammenhängende Konfliktsituationen widerspiegeln, fokussiert Teuscher zum einen die Verschuldungsgründe insbesondere mit Bezug auf die Verwandtschaft, zum anderen die soziale Praxis der Schuldeneintreibung. Im Ergebnis bildeten nicht Verwandtschaften die hauptsächliche Kreditorengruppe, womit keine „Sippensolidarität und Reziprozität von Klientelbeziehungen“ (261) bestand, sondern spielten „kreuz und quer“ (249) durch alle Schichten verlaufende Kreditbeziehungen eine erhebliche Rolle im Schuldengefüge der Stadt Thun. Freilich muss ob dieses überraschenden Ergebnisses berücksichtigt werden, dass die Missiven Kredite lediglich punktuell beleuchten, wie der Autor warnend betont, denn damit könnten die „Geschichten eines lang anhaltenden Austauschs“ (260) verschleiert werden. Die Analyse von Schulden und Krediten im Rahmen prekärer Ökonomien ist längst überfällig, wie der Sammelband allfällig belegt. Wenn auch nicht von allen Beiträgern die anvisierte Schuldnerperspektive eingehalten wurde oder mangels Quellen eingehalten werden konnte, so liegt der Vorzug dieses Bandes darin, die Bandbreite prekärer Ökonomien – Frauen aus Ober- und Unterschichten, Söldner und Gelehrte, Kaufleute und Handwerker – sowohl mit aktuellen anthropologischen Theorien als auch mit zeitgenössischen spät-

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mittelalterlichen Diskussionen in Bezug zu setzen. Dieser Band demonstriert zugleich die Forschungslücken, die dringend zum Verständnis prekärer Ökonomien geschlossen werden müssen. Anke Sczesny

Augsburg

S ABINE H OLTZ , A LBERT S CHIRRMEISTER , S TEFAN S CHLELEIN (H G .): Humanisten edieren. Gelehrte Praxis im Südwesten in Renaissance und Gegenwart (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 196), Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2014, VII, 277 S., (ISBN 978-3-17023380-5), 28,00 EUR. Festschriften sind nicht totzukriegen. Zwar wurde schon durch die 68er-Bewegung der Studenten und der sich mit ihnen solidarisierenden Dozenten gegen dieses Genre mit plausiblen Gründen protestiert, und viele Verlage drucken eine solche Veröffentlichung nur, wenn die darin enthaltenen Aufsätze ein übergreifendes Thema haben und das Wort „Festschrift“ nicht im Titel erscheint (wie auch im vorliegenden Falle). Aber offenbar wird es allgemein geschätzt, dass, seit selbst deutschsprachige Zeitschriften die bei ihnen eingereichten Artikel durch mindestens zwei Spezialisten anonym begutachten lassen – die Zeiten, dass der Herausgeber sich vor allem selbst abdruckt, sind also (fast) vorbei – man wenigstens in einer Festschrift noch „durchschlüpfen“ kann. Denn der durch eine solche Geehrte – bei der Edition von Holtz et al. ist es der Septuagenarius Dieter Mertens – freut sich natürlich, wenn er seine Freunde und vertrautesten Kollegen in dem ihm dedizierten Band findet, und da ist man dann meist etwas großzügiger als sonst. Diese Regel galt, wie ich meine, auch für Holtz et al., und ihr Buch hat weitere durch die Gattung bedingte Schwächen aufzuweisen. Das beginnt gleich mit dem Titel. Es ist unter Renaissanceforschern allgemein bekannt, dass sich in der frühen Neuzeit im Südwesten des Reiches mehrere Zentren der Buchproduktion wie Basel, Straßburg, Tübingen und Heidelberg befanden und dort viel ediert wurde. Aber ist, wie man aufgrund des Buchtitels vermuten könnte, diese Region heute noch diesbezüglich herausragend? Gewiss nicht, doch erst aus dem Vorwort erfährt man, dass „Humanisten edieren“ nicht nur edierende Humanisten, sondern auch das Edieren von Humanisten behandelt – der Titel ist somit als Wortspiel zu verstehen –, und es sind immerhin drei von zehn Autoren der Festschrift, die Einblicke in ihre Herausgeberwerkstatt gewähren. Hinzu kommen zwei, die eigentlich nichts zum Thema beitragen. Zunächst zu diesen beiden Aufsätzen. Birgit Studt analysiert eine aus dem Kloster Murbach stammende Colmarer Handschrift, in der briefliche Nachrichten und Dokumente zur Geschichte des Reiches, des Deutschen Ordens und Ungarns gesammelt sind, und zeigt die hohe Bedeutung, die diese Textsorte in der frühen Neuzeit für die Erstellung historischer Werke besaß; das hat zwar mit der damaligen Editionspraxis wenig zu tun, ist aber für die Erforschung der humanistischen Historiographie von speziellem Interesse. Warum dagegen der Beitrag Eckhard Bernsteins aufgenommen wurde, ist schwer begreiflich. Bernstein macht mit uns einen populärwissenschaftlichen Spaziergang durch die Korrepondenz ausgerechnet des Mutianus Rufus, der nicht nur nicht edierte, sondern so gut wie überhaupt nicht veröffentlichte, und da der Aufsatz nicht viel mehr als eine Aneinanderreihung von Textparaphrasen und -zitaten bietet, ist er bestenfalls als Stoffsammlung für eine Mutian-

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Biographie oder einen Handbuchartikel über den Humanisten zu gebrauchen. Keinen wissenschaftlichen Wert im engeren Sinne haben auch die drei Aufsätze über das Edieren frühneuzeitlicher Texte. Denn sie erheben sich nur partiell über das Niveau von Exposés zu DFG-Anträgen für Forschungsprojekte. Wenn Bernd Posselt nach einer für Fachleute obsoleten Einführung in die Geschichte der Genese von Schedels Weltchronik detailliert darlegt, wie er sich eine benutzerfreundliche Digitalisierung des berühmten Drucks denkt, nimmt er nur die Gebrauchsanweisung vorweg, die man dann schon präsentiert bekommt, wenn man eines Tages in dem Buch im Netz blättern kann. Das freilich wird die Arbeit erheblich erleichtern, auch wenn es Autopsie im Lesesaal, bei der man unter anderem Benutzerspuren studieren kann, nicht überflüssig macht. Von Veronika Marschall, deren Aufsatz über Edition, Übersetzung und Kommentar der lateinischen Werke von Martin Opitz sich ganz explizit als Projektbeschreibung präsentiert, ist durchaus Interessantes zu erfahren, aber man vermisst eine wahrhaft zwingende Begründung dafür, dass die literarästhetisch wenig bedeutsamen Latina des durch seine deutschen Dichtungen und Schriften ohne jede Frage bedeutenden Schlesiers (der also wie Schedel nicht in einen Band über die Südwestregion gehört) es tatsächlich verdienen, so umfassend erschlossen zu werden. Wirklich lesenswert von den drei Aufsätzen über das Edieren finde ich nur denjenigen von Johannes Helmrich zu verschiedenen Aspekten des Edierens von Reichstagsakten, da hier ausführlich von den in diesem Korpus enthaltenen humanistischen Texten die Rede ist. Von den fünf Beiträgen zum humanistischen Edieren im Südwesten bietet derjenige von Sönke Lorenz ähnlich wie der von Bernstein nicht mehr als Handbuchwissen. Denn was Lorenz über den jungen Melanchthon als Editor im Rahmen seiner Tätigkeit in Druckereien schreibt, weiß man längst; als rein biographische Darstellung der frühen Jahre eines der prominentesten deutschen Humanisten ist dieser Beitrag in einer Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze fehl am Platz. Bei den anderen vier haben wir es denn doch mit Untersuchungen zu tun, die neue Erkenntnisse über die Editionstätigkeit von Humanisten der Südwest-Region vermitteln und entsprechend anregend sind: Felix Heinzer über den Weg von Ficinos Libellus de comparatione Solis ad deum von der Handschrift zum Tübinger Druck des Jahres 1547, Ronny Kaiser über die Vorreden der drei Tertullian-Ausgaben des Beatus Rhenanus (1521, 1528, 1539), Wilhelm Kühlmann mit vier Fallstudien von Editionen als „kulturpolitischer Tat“ (Paracelsus, Sibyllinische Orakel, Ovids Metamorphosen „für Laien und Handwerker“, Kirchenväter) und Claudia Wiener über die Integration der Europa des Enea Silvio Piccolomini in die Schedelsche Weltchronik. Stets wird hier das editorische Konzept zum Zeitgeschehen in Bezug gesetzt, also unter anderem gezeigt, wie die Herausgeber zum Teil politisch und ideologisch auf Widmungsadressaten und Leser einzuwirken, andererseits – das lehrt besonders der Vergleich der drei Rhenanus-Vorreden – das eigene humanistische Profil herauszuarbeiten versuchen. Besonders komplex sind Teil 1 bei Kühlmann über die Rezeptionssteuerung in postumen Paracelsus-Editionen und Wieners Analyse von Schedels freiem Umgang mit einem „Schlüsseltext für den Liber chronicarum“ (180); Letzere liefert den meines Erachtens lesenswertesten Beitrag. Wie steht es aber nun mit der Edition dieses Buches über edierende und edierte Humanisten? Da bleibt – wahrscheinlich aufgrund der (vermeintlich) notwendigen Beschränkungen, die das Genre „Festschrift“ Herausgebern auferlegt – Einiges zu wünschen übrig. Um nur das Wichtigste anzusprechen: Man vermisst die editorische Einheitlichkeit, die

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sich etwa darin geäußert hätte, dass alle von den Autoren zitierten Titel gemäß dem heute üblichen Verfahren in einer alphabetischen Gesamtbibliographie zusammengestellt worden wären, so dass ad hoc jeweils die Autor/Jahreszahl-Sigle genügt hätte und so das Fußnotendickicht vermieden worden wäre. Oder darin, dass lateinische Zitate durchgehend entweder nur im Original oder mit Übersetzung zitiert worden wären. Wiener etwa verdeutscht ihre Texte nicht, Bernstein dagegen alle, aber – und das hätten die Editoren doch verbessern müssen! – er macht gelegentlich Fehler (z. B. Seite 58: Ionas in pisce delituit habens supra verticem cucurbitam heißt nicht „Jona versteckte sich in dem Fisch wie ein Dummkopf“). Daran, dass wissenschaftliche Abhandlungen – auch und gerade germanistische – heute nicht selten Verstöße gegen Grammatik und Idiomatik des Deutschen enthalten, gewöhnt man sich allmählich. Aber mussten die Herausgeber z. B. Seite 46 „Ein Schreiben an Anna von Hessen, der Mutter des [. . . ]“ oder auf Seite 92 „Ob er [. . . ] kennengelernt hat, [. . . ] darf man vermuten“ wirklich unbeanstandet lassen? Und wäre es eine Zumutung gewesen, Kaiser darauf hinzuweisen, dass sie bei ihren Ausführungen über die Selbstreflexivität des Rhenanus ab Seite 114 immer wieder eintönig „er inszeniert sich“ o. ä. schreibt (sogar zweimal auf einer Seite) und Marschall darauf, dass sie wie Studenten in ihren Seminararbeiten andauernd „werden/wird“ verwendet, auf Seite 190 f. allein 24mal (wenn ich richtig gezählt habe)? Edieren ist also, wie man sieht, auch ein Problem derer, die moderne Fachpublikationen betreuen. Niklas Holzberg

München und Bamberg 2.

Mittelalter

I NGRID W ÜRTH: Geißler in Thüringen. Die Entstehung einer spätmittelalterlichen Häresie (= Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 10), Berlin: Akademie Verlag 2012, 545 S., (ISBN 978-3-05-005790-3), 109,95 EUR. Für gewöhnlich werden die Geißler in einem Atemzug mit den Pestepidemien der Jahre 1348/49 genannt und als eines unter mehreren Krisenzeichen der Zeit interpretiert. Das entspricht zu einem gewissen Grad durchaus der Wahrnehmung der Zeitgenossen, sind doch vor allem die städtischen Chroniken jener Jahre voll von Erwähnungen ihrer aufsehenerregenden Züge. Dass diese chronikalischen Berichte zu einem bemerkenswerten Großteil schon zeitgenössisch und nicht erst in der Rückschau entstanden sind, ist eines der vielen kleinen Teilergebnisse, die Würth in ihrer Jenaer Dissertation zusammengetragen und leserfreundlich aufgearbeitet hat. Denn auf den Seiten 32–39 findet sich eine handliche tabellarische Zusammenstellung dieser Belege. Wesentlich aus diesen Fremdberichten – denn etwas anderes gibt es nicht – stellt sie sodann systematisch Informationen über Aussehen, Anzahl und Verhalten der Geißler zusammen, zu ihren Liedern und Ritualen, ihrer Predigt und ihren Organisationsformen, zu ihrer Wirkung auf Klerus und Stadtbevölkerungen. Zu den chronikalischen Berichten treten als Quellen auch herrschaftliche Reaktionen, theologische Traktate sowie natürlich die Verbotsbulle Papst Clemens VI. vom Oktober 1349. Nach dieser allgemeinen Charakterisierung der Geißler wendet sich Würth im zweiten und dritten Großkapitel ihrer Studie der Geißlersekte speziell in Thüringen zu, die sich aus einer orthodoxen Bußbewegung heraus um den Prediger Konrad Schmid formierte. Für deren Entstehung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kann

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Mittelalter

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sie neben einer lateinisch kommentierten, im Kern aber deutschsprachigen Prophecia Schmids vor allem eine (‚rechtgläubige‘) Sammlung von 15 Articuli heresis flagellatorum, beide in einer Weimarer Sammelhandschrift mit deutlichem Interesse an Häresien überliefert, sowie ein kanonistisches Gutachten Utrum flagellatores aus einer heute Breslauer Handschrift nutzen. Würth kontextualisiert und analysiert diese Texte mit großer Akribie und baut immer wieder auch Brücken zum ersten Teil ihrer Arbeit. Im dritten und letzten Großkapitel steht dann das Vorgehen der Inquisition gegen die Thüringer Geißler im Mittelpunkt. Im Gegensatz zum vorhergehenden Kapitel, das neben neuen Analysen auch neues Quellenmaterial ans Licht brachte, sind die hier zu besprechenden Protokolle und Inquisitionshandreichungen der älteren Forschung im Wesentlichen schon bekannt gewesen. Nun aber werden sie erstmals eingehend und systematisch ausgewertet. Bis in die letzten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts finden sich noch vereinzelte Hinweise auf Geißler in Thüringen, danach scheint die Sekte versiegt zu sein. Im umfangreichen Anhang (439– 484) schließlich werden die wichtigsten in der Studie diskutierten Texte auf Grundlage der jeweiligen Handschriften gedruckt, wobei nur der einzige deutschsprachige Text – besagte Schmid’sche Prophecia –, und auch hier ausgerechnet nur die deutschen Passagen, in den Fußnoten in modernes Hochdeutsch übertragen werden. Das ist eigenartig, schmälert aber nicht im Geringsten den positiven Gesamteindruck: Mit dieser Arbeit hat Ingrid Würth eine sehr solide, materialnahe und überzeugend strukturierte Studie zur Erforschung einer wichtigen religiösen Bewegung des späteren Mittelalters vorgelegt. Hiram Kümper

Mannheim

M ELANIE BAUER: Die Universität Padua und ihre fränkischen Besucher im 15. Jahrhundert. Eine prosopographisch-personengeschichtliche Untersuchung (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 70), Nürnberg: Stadtarchiv Nürnberg 2012, 780 S., (ISBN 978-87707-848-8), 39,00 EUR. Die im Rahmen des Erlanger Graduiertenkollegs „Kulturtransfer im europäischen Mittelalter“ entstandene Dissertation untersucht die Karrierewege von 128 Studenten aus den Diözesen Bamberg, Würzburg und Eichstätt, die im 15. Jahrhundert die Universität Padua besuchten. Die Autorin verbindet dabei die bewährte prosopographische Methode mit Ansätzen aus der Kulturtransferforschung. Ihre wichtigste Quellengrundlage bilden die seit 2001 vollständig ediert vorliegenden Paduaner Promotionsakten; ergänzend werden die Matrikel anderer Universitäten, Korrespondenzen der fränkischen Scholaren und von ihnen aus Italien mitgebrachte Handschriften herangezogen. Bauer zeigt, dass die Universität Padua vor allem in den mittleren Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts zahlreiche fränkische Studenten anzog, während die Besucherzahlen im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts stark rückläufig waren. Diese Entwicklung führt sie auf die wachsende Konkurrenz anderer italienischer Hochschulen (v. a. Ferrara und Pavia) sowie auf die zunehmende Kontrolle der studentischen Korporationen durch die venezianische Obrigkeit zurück. Fast 50 Prozent der Studenten kamen aus der Reichsstadt Nürnberg, die bereits im Spätmittelalter über intensive Handelsbeziehungen nach Venedig verfügte, ein Drittel aus anderen fränkischen Städten und ein Fünftel aus dem Landadel (84). Neben Niederadeligen und Nürnberger Patriziern, welche allein rund 20 Prozent der Untersuchungsgruppe ausmachen, finden sich auch bürgerliche Aufsteiger wie der

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Rezensionen und Annotationen

aus einer Bamberger Goldschmiedefamilie stammende Medizinstudent Paul Rockenbach (92). Nicht wenige Scholaren bewegten sich in den Fußstapfen von Familienangehörigen und Verwandten, die bereits in Italien studiert hatten; das herausragende Beispiel ist hier sicherlich die Nürnberger ‚Gelehrtendynastie‘ der Pirckheimer. Insgesamt nahm der Anteil der bürgerlichen Universitätsbesucher im Laufe des 15. Jahrhunderts zu. Die Untersuchung der Ausbildungswege ergibt, dass der Besuch einer deutschen Artistenfakultät vor dem Medizin- oder Rechtsstudium in Padua üblich war. Nur vereinzelt gingen Scholaren wie der Nürnberger Anton Paumgartner gleich nach Italien. Ihr ‚Grundstudium‘ absolvierten fränkische Studenten bevorzugt in Erfurt, Leipzig und Wien, wobei angehende Juristen Erfurt, künftige Mediziner Wien präferierten. 30 Franken besuchten neben Padua auch andere italienische Hochschulen, insbesondere das vergleichsweise kostengünstige Ferrara und das prestigeträchtige Bologna. Fast die Hälfte aller fränkischen Scholaren schloss ihr Studium in Padua mit der Promotion ab; Nürnberger Patriziersöhne verzichteten allerdings häufig auf den akademischen Abschluss, da er ihnen eine Ratskarriere in ihrer Heimatstadt verbaut hätte. Was das Alltagsleben der fränkischen Scholaren in Padua anbelangt, stellt Bauer eine starke Gruppenbindung fest: Viele gingen in Begleitung deutscher Reisegefährten nach Italien und wählten bevorzugt Landsleute als Notariats- und Prüfungszeugen. Mit Nachrichten und Geld wurden sie über Nürnberger Kaufleute in Venedig versorgt. Die hohen Kosten des Studiums in Italien wurden teilweise durch geistliche Pfründen, wohlhabende Protektoren, Erbschaften, Stipendien und Lehrtätigkeiten finanziert. Dass ein Italienstudium in einem Zeitalter häufiger Pestepidemien auch mit hohen persönlichen Risiken verbunden war, zeigt das Schicksal des Bambergers Michael Lorber, der 1447 in Padua an der Seuche verstarb und seinen Besitz den örtlichen Franziskanern hinterließ (155 f.). Weiterhin zeichnet Bauer auch die Karrieren der fränkischen Scholaren nach dem Ende ihres Studiums nach. Die meisten kehrten nach Süddeutschland zurück, wo sich die Mediziner bevorzugt als Universitätsdozenten, Stadt- und Leibärzte verdingten. Unter den Juristen strebte mehr als die Hälfte geistliche Pfründen an, vor allem in Franken und den Nachbarregionen. Immerhin fünf ehemalige Padua-Studenten bekleideten ein Bischofsamt, 19 stiegen zu Stiftspröpsten auf, und sechs errangen Archidiakonate (203). Juristen, die im weltlichen Stand verblieben, avancierten zu Ratskonsulenten – das Amt des Nürnberger Ratssyndikus war zeitweilig geradezu eine Domäne von Padua-Absolventen – oder begaben sich in Fürstendienste, vor allem an den Höfen der Hohenzollern und Wittelsbacher. Einige fanden Aufnahme in königliche Dienste und wurden aufgrund ihrer Sprachkenntnisse und rhetorischen Fähigkeiten zu diplomatischen Gesandtschaften herangezogen. Insgesamt erscheinen die ehemaligen Paduaner Studenten als eine untereinander gut vernetzte elitäre Gruppe, die sich auch nach Ende des Studiums durch eine hohe geographische Mobilität auszeichnete (230 f.). Als Elemente eines italienisch-deutschen Kulturtransfers identifiziert Bauer den Transfer von Handschriften, die Adaption der humanistischen Kursivschrift sowie die literarischen Werke Albrecht von Eybs und Willibald Pirckheimers, aber auch die Schedelsche Weltchronik, in die italienische humanistische Werke einflossen. An die Darstellung schließt sich ein ausführlicher prosopographischer Katalog mit Biogrammen aller 128 fränkischen Besucher der Universität Padua an. Die Abbildungen und Grafiken finden sich in einem separaten Anhang (591–599). Leider sind die Verweise aus

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Mittelalter

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dem Text auf diesen Anhang meist fehlerhaft (vgl. etwa 115, 135, 142, 201). Davon sowie von einer tautologischen Formulierung auf Seite 134 („Die fehlenden Matrikelbücher [. . . ] sind nicht mehr vorhanden.“) abgesehen handelt es sich um eine informative Studie, die hoffentlich zu weiteren sozial- und bildungsgeschichtlichen Untersuchungen – gerade auch zur Epoche der Frühen Neuzeit – anregt. Mark Häberlein

Bamberg

M ARCO V ERONESI: Oberdeutsche Kaufleute in Genua 1350–1490. Institutionen, Strategien, Kollektive (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen 199), Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2014, XLII, 347 S., 8 Abb., 4 Tab., (ISBN 978-3-17-026337-6), 32,00 EUR. Die transalpinen Handels- und Finanzbeziehungen zwischen süddeutschen und oberitalienischen Kaufmannbankiers bildeten eine wichtige Achse der europäischen Wirtschaft in Mittelalter und Früher Neuzeit. Die oberdeutschen Handelsgesellschaften bemühten sich um Anschluss an den über die italienischen Seerepubliken organisierten Levantehandel, an Märkte für Luxusgüter sowie an Absatzmärkte für ihre Textilprodukte und Metallwaren. Dabei sind die Beziehungen über den Fondaco dei Tedeschi in Venedig in der Forschung besonders präsent. Deutlich seltener hingegen werden die Aktivitäten der Süddeutschen in anderen italienischen Handelszentren in den Blick genommen. Marco Veronesi legt mit seiner zunächst als Dissertation verfassten Arbeit eine Darstellung der Handelsbeziehungen der süddeutschen Kaufleute in Genua im Spätmittelalter vor. Seinen Ausgangspunkt bildet die „Außenperspektive“ der genuesischen Archive auf die in der ligurischen Hafenstadt tätigen deutschen Kaufleute. Die bisherigen Erkenntnisse der Forschung konzentrierten sich auf die Schilderung der Bemühungen um die Handelsprivilegien der vergleichsweise liberalen Stadtrepublik und auf die reichhaltige Überlieferung der „Großen Ravensburger Handelsgesellschaft“. Veronesi konzentriert sich demgegenüber auf die seriellen Quellen der obrigkeitlichen Einnahmeregister und die Bücher der Stadtregierung im Archivio Segreto sowie auf Notariatsakten, um die Aktivitäten der süddeutschen Kaufleute in Genua zu rekonstruieren. Wie Veronesi im ersten Kapitel darlegt, bröckelten die zwischen oberschwäbischen Städten und Genua etablierten wirtschaftlichen Beziehungen, die auf der Lieferung süddeutscher Leinwand und dem Import von Gütern des Levantehandels beruhten, um die Mitte des 14. Jahrhunderts zunächst ab. Der Autor zeichnet das bisher kaum beachtete Wiedererstarken des oberdeutschen Fernhandels in der ligurischen Hafenstadt vom Ende des 14. Jahrhunderts an nach und schildert die Handlungsfelder der an der neuerlichen Konjunktur des Genua-Handels beteiligten Kaufmannschaft bis um 1500. Veronesis Ansatz ist quellenbedingt personengeschichtlich und folgt bei der Rekonstruktion von sozialen Formationen und merkantilen Strategien dem institutionenökonomischen Theorieangebot. Daher bettet er die prosopographischen und firmenbiographischen Profile der in Genua auftretenden deutschen Handelshäuser in eine Beschreibung der „Institutionen“ ein. Zunächst skizziert er die natio alemannorum, die deutsche Kaufmannschaft, als multifunktionales Gebilde, welches vor allem in Rechtsfragen vermittelnd zwischen Repräsentanten der Stadtrepublik und die deutschen Kaufleute trat. Ein Notar übte hierbei die Funktion eines Schreibers der curia alemannorum aus. Der Autor führt vor, wie in

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der Mitte des 15. Jahrhunderts die magna societas – die „Große Ravensburger Handelsgesellschaft“ – sowie die St. Gallen-Berner Diesbach-Watt-Gesellschaft im Namen der oberdeutschen Handelsleute bei der Stadtregierung um die Verlängerung der verliehenen Privilegien verhandelten und bei der Wahl des Konsuls einen kleinen, aber einflussreichen Kreis bildeten. Seit der (nicht erhaltenen) Privilegierung von 1421 übernahm jeweils ein in den Handel mit den niedergelassenen alemanni integrierter Genuese als Konsul jurisdiktionelle Aufgaben und die Vertretung der Kaufmannschaft. Der umfangreichste Abschnitt des Buches (119–283) beschäftigt sich mit den in Genua tätigen „Unternehmen“. Hierbei spielen die Gesellschaft Muntprat-Mötteli-Humpis, die in den Quellen magna societas oder „Humpis-Gesellschaft“ genannt wird, und ihre Vertreter die Hauptrolle. Seit der Wiedereinrichtung eines „Geliegers“ in Genua 1435 war die Humpis-Gesellschaft mit einem eigenen Vertreter in der Hafenstadt präsent. Doch die Genueser Faktorei entstand nicht in Orientierung am Levantehandel, sondern aus Interesse am Seehandel ins westliche Mittelmeer. Die Verschiebung der geographischen Koordinaten zunächst zur Route über den ligurischen Hafen Savona, dann über Genua hing mit dem Ende des Monopols für die Seefahrt nach Katalonien zusammen. Die magna societas schob sich im zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts in eine Führungsposition im Handel mit spanischer Wolle. Durch die Humpis-Gesellschaft vollzog sich keine „Vergenossenschaftung“, so Veronesi, sondern ein Konzentrationsprozess im oberschwäbischen Fernhandel, wobei die Gebrüder Frei, Andreas Sattler und Ottmar Schläpfer als Repräsentanten der magna societas in Genua erschienen; durch Konnubium und das Instrument der accomendatio wurden sie in die Humpis-Gesellschaft eingebunden. Während zumindest phasenweise die Diesbach-Watt-Gesellschaft und einzelne Brabanter Kaufleute die Vormachtstellung der Humpis-Gesellschaft herausforderten, wurden auch eigenständige Kaufleute wie der gut fassbare Georg Sur in Genua aktiv. Er ging mit Johannes Breunlin aus Miltenberg eine Kommanditgesellschaft ein und kooperierte eng mit dem Dordrechter Gerardus van Striene, seinem Notar Lorenzo da Nove und seinem Schwiegervater, dem Genuesen Bartolomeo Italiano, welche er als Prokuratoren und Kommissionäre einsetzte. Die Verbindungen Breunlins, der Nürnberger Bürger geworden war, nutzte Sur, um den Nürnberger Metallhandel nach Genua auszudehnen. Die aus Nürnberg stammenden Cousins Hieronymus und Johannes Rotmund übernahmen nach 1477 die Humpis-Faktorei in der ligurischen Hafenstadt. Sie handelten nicht nur mit Lübeck und damit zwischen Ostsee und Mittelmeer, sondern organisierten nach dem Wegbrechen der letzten genuesischen Pontus-Kolonie auch den Pelzhandel aus Osteuropa über die Alpen. Die Rotmund konnten sich als Vertreter der Fugger und der AugsburgMemminger Welser-Vöhlin-Gesellschaft in den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts erfolgreich in die genuesischen Geschäfte einschalten. Zur Erklärung des kooperativen Verhaltens der deutschen Kaufleute untereinander erscheinen weniger verwandtschaftliche Bindungen ausschlaggebend als die gemeinsame landsmannschaftliche Herkunft. Marco Veronesi gelingt eine ebenso umfassende wie aufschlussreiche Darstellung der oberdeutschen Kaufleute im Genua-Handel während des späten Mittelalters. Insbesondere seine kritische Auseinandersetzung mit den einschlägigen Arbeiten von Aloys Schulte, Wolfgang von Stromer und Andreas Meyer ist argumentativ klar und weiterführend. Eine der großen Stärken der Studie neben der aufmerksamen Rekonstruktion der Handelsakti-

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vitäten aus den Notariatsarchiven Genuas besteht zudem darin, dass der Autor der Frage nach der Konkurrenz um die Vorrangstellung auf verschieden Märkten nicht ausweicht. Zugleich offenbart sich hierin aber auch eine konzeptionelle Schwäche: Unter Rekurs auf die Neue Institutionenökonomik beginnt Veronesi seine Darstellung mit den „rechtlich fixierten Institutionen“ (28) der nationes und der Ausübung von Vertretungsaufgaben innerhalb der formalisierten Rahmenbedingungen. Die Generierung „informeller“ Institutionen wie die „Kategorien von ‚Vertrauen‘ und ‚Reputation‘“ (28) fasst er im Abschnitt „Unternehmen“ unter die den handelnden Personen zugeschriebenen Sozialbeziehungen. Dieser systematischen Trennung („Institutionen“ – „Unternehmen“) unterliegt auch eine chronologische Abfolge. Zunächst sind die Rechtsakte der Privilegierung und die Einrichtung konsularischer Aufgaben in den Quellen sichtbar; ab dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts lassen sich die in Genua vertretenen Handelsgesellschaften dann besser profilieren. Überdies diskutiert Veronesi die „Institutionen“ nicht im Zusammenhang mit den Strategien und Vorgehensweisen der Kaufleute bei der Erschließung ihrer Märkte. Im Abschnitt „Unternehmen“ deckt er überzeugend Verhaltensmuster der „Vergesellschaftung“ und Kooperation auf. Damit wechselt er allerdings zu einem handlungstheoretischen Ansatz, der ihm Antworten auf die gestellten Fragen nach marktökonomischen Handlungsweisen liefern kann. Hier rekurriert er kaum noch auf „Institutionen“. Auch verwendet er die Begrifflichkeiten „Unternehmen“, „Firma“, „Kaufleute“ oder auch alberghi und contrata ohne nähere Erklärung. Die Abbildungen nach dem Resümee werden im Fließtext merkwürdigerweise nicht vorgestellt. Diese Einwände schmälern indes weder die große Leistung des Autors noch den äußerst positiven Gesamteindruck des Werks, das für das Studium wirtschaftshistorischer Entwicklungen im vorindustriellen Europa Grundlegendes leistet. Heinrich Lang

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O LIVER AUGE , B URKHARD B ÜSING (H G .): Der Vertrag von Ripen 1460 und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa. Ergebnisse einer internationalen Tagung der Abteilung für Regionalgeschichte der CAU zu Kiel vom 5. bis 7. März 2010 (= Kieler Historische Studien 43), Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2012, 548 S., (ISBN 978-3-7995-5943-0), 59,00 EUR. Es gibt drei gute Gründe, sich in den vorliegenden Tagungsband zu vertiefen. Erstens wird der Leser auf den aktuellen Stand der Debatte über den für die Geschichte SchleswigHolsteins und damit Norddeutschlands bedeutsamen Ripener Vertrag von 1460 gebracht. Zweitens ist die bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte dieses Vertrages, namentlich der Formel up ewig ungedeelt, darin ein wichtiges Thema. Und drittens erfährt der Leser, wie der Titel es verspricht, viel über die Anfänge politischer Partizipation ständischer oder proto-ständischer Corpora innerhalb wie außerhalb des Reiches: explizit oder implizit ist der Vergleich das Leitmotiv der entsprechenden Beiträge. Zum ersten Aspekt: Im März 1460 wählte die in Ripen (Nordschleswig) versammelte Führungsschicht des schleswig-holsteinischen Adels Christian I. von Dänemark zum Landesherrn des dänischen Herzogtums Schleswig und der dem Reich zugehörigen Grafschaft Holstein. Im Gegenzug gab Christian seinen Wählern schriftliche Zusagen, die

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zum großen Teil ihre Mitwirkung bei wesentlichen Landesangelegenheiten sicherten. Damit wurden angesichts einer offenen Nachfolgesituation Tatsachen geschaffen – auf durchaus unübliche Weise, denn die Wahl des Landesherrn war in Schleswig und Holstein ein Novum (und blieb, wie wir im Rückblick sehen, singulär). Einen Monat später traf Christian in Kiel auf die nun vollständig versammelte Ritterschaft, dazu Geistlichkeit und Städtevertreter; das Ergebnis der Verhandlungen war ein zweites Dokument, die sog. Tapfere Verbesserung einiger Privilegien. Diese Ereignisse des Jahres 1460 werden in drei Beiträgen kontrovers behandelt. Carsten Jahnke stellt in Vertiefung eines 2003 publizierten Aufsatzes den Ripener Vertrag in eine Reihe mit skandinavischen Handfesten. Die Pointe liegt darin, dass die Bestimmungen einer solchen Wahlkapitulation naturgemäß zeitlich begrenzt waren, anders als die eines im Prinzip unbegrenzt gültigen Privilegs (als das der Ripener Vertrag bisher meist angesehen wird). Ferner bezieht er up ewig ungedeelt nicht, wie herkömmlich, auf die beiden Territorien, sondern auf die Ritterschaft. Kersten Krüger und ausführlich Reimer Hansen widersprechen Jahnkes Interpretation in ihren Beiträgen. Rund um diesen kontrovers behandelten Ereigniskern gruppieren sich vier weitere Beiträge: Die bei den Ereignissen von 1460 zweifellos führende Schicht des Adels wird von Detlef Kraack und (für das 16./17. Jahrhundert) von Mikkel Leth Jespersen vorgestellt. Werner Paravicini bringt die Privilegienlade der schleswig-holsteinischen Ritterschaft in einem kunstvoll-fiktiven Dialog zur Sprache. Oliver Auge weist nachdrücklich darauf hin, dass nicht nur der Adel, sondern auch Städte und Geistlichkeit in der vorreformatorischen Zeit durchaus politisches Gewicht in Schleswig und Holstein hatten. Zur Rezeptionsgeschichte: Die im Ripener Dokument enthaltene Formulierung up ewig ungedeelt wurde bekanntermaßen im Zuge der nationalen Bewegung nach 1815 zum politischen Schlagwort. Dessen in großen Zügen inzwischen bekannte Karriere bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein wird einerseits in zahlreichen Beiträgen gestreift. Andererseits wird die Rezeptionsgeschichte in drei Aufsätzen gründlicher untersucht. Das Echo der Ereignisse von 1460 in frühneuzeitlichen Chroniken untersucht Burkhard Büsing und arbeitet unter anderem heraus, dass die seinerzeit begründete dänisch-schleswigholsteinische Personalunion im Mittelpunkt der Wahrnehmung stand. Kersten Krüger richtet in seinem bereits erwähnten Beitrag den Blick noch einmal vertiefend auf die Entstehungszeit des Slogans im Kontext der konstitutionellen Bewegung nach 1815. Lena Cordes untersucht das Schlagwort für den Zeitraum von 1945 bis 1960, wobei sie Pierre Noras Konzept des lieu de mémoire zu Hilfe nimmt. Sie stellt fest, dass Ripen 1460 in der Tat im Untersuchungszeitraum als identitätsstiftender Erinnerungsort diente; heute dagegen, inzwischen 60 Jahre nach der Bonn-Kopenhagener Erklärung und mehr als 40 Jahre nach dem dänischen Beitritt zur EWG, ist dies nicht mehr so. Die mit diesen Ereignissen angedeutete, europäische Erfolgsgeschichte hat up ewig ungedeelt zu einem harmlosirrlichternden Versatzstück allgemeiner Folklore werden lassen: Der Rezensent hört dieser Tage erstaunt im Radio, wie der Slogan in einem vom NDR lancierten Schleswig-HolsteinSong mit den Wikingern assoziiert wird. . . Zurück zu den Ereignissen des Frühjahrs 1460: Sie werden – und damit sind wir beim dritten Aspekt des Bandes mit den meisten Beiträgen – in einen großen Zusammenhang gestellt: den der Herausbildung institutionalisierter politischer Partizipation in Europa. Das 15. Jahrhundert wird in Beiträgen zu verschiedensten Territorien und Reichen erkennbar als eine Phase, in der dynastische Herrschaftskrisen die Großen bzw. die führenden

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Kräfte des jeweiligen Landes als (Mit)regenten hervortreten ließen. Manchmal mündete dieses Hervortreten in die dauerhafte Herausbildung fester ständischer Institutionen; in anderen Fällen blieb diese institutionelle Verstetigung (noch) aus. Es wird deutlich, wie ständische oder proto-ständische Partizipation gleichsam komplementär und subsidiär zur fürstlichen Macht fungierte, ohne dass die latenten Rivalitäten gerade zwischen dem Adel und den hochadligen Landesherren damit eingeebnet würden. Der geographische Bogen der Beiträge erstreckt sich einerseits und naheliegend zu den skandinavischen Reichen (Thomas Riis zu Dänemark, Jens E. Olesen zu Schweden), nach Lauenburg (Eckardt Opitz), Mecklenburg (Sebastian Joost) und Pommern (Ralf-Gunnar Werlich); ein Blick auf Hamburgs Stellung in den Ereignissen von 1460 rundet den nachbarschaftlichen Horizont ab (Martin Krieger). Andererseits kommt der europäische Nordwesten in den Blick (Olaf Mörke zu Schottland und den Niederlanden), vor allem aber der mittel- und oberdeutsche Raum (Christoph Volkmar zu den wettinischen Territorien, Sönke Lorenz zu Württemberg, Joachim Schneider zu Altbayern und Franken); die potentielle Rolle des Reichsoberhauptes für diese Zusammenhänge zumindest in den königsnahen Gebieten scheint in Axel Metz’ Studie zu Maximilians I. Interventionen in Württemberg, Bayern und Tirol auf. Bemerkenswert ist schließlich der Beitrag von Tim Neu zur Entstehungsgeschichte der hessischen Stände als frühneuzeitlicher Geschichtskonstruktion: Damit wird in gewisser Weise wieder die Brücke zum zweiten Aspekt geschlagen. Ein Beitrag zur Herausforderung der archivalischen Überlieferungsmöglichkeiten durch die digitale Kommunikation (Rainer Hering) ergänzt die genannten Aufsätze. Harm von Seggerns Zusammenfassung der Tagung und des Bandes ist weit mehr als eine Addition, sondern eine inspirierte Zusammenführung. Der Ertrag des Bandes liegt darin, dass das europäische Phänomen politischer Partizipation in seiner Genese, seiner regionalen Verankerung und seiner facettenreichen Diversität erkennbar wird. Er stellt eine gelungene Einladung dazu dar, diese Diversität und ihre Variablen noch systematischer als bisher zu untersuchen. Volker Seresse

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B IRTE K RÜGER , K LAUS K RÜGER (H G .): Ich, Hans von Waltheym. Bericht über eine Pilgerreise im Jahr 1474 von Halle in die Provence (= Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte 21), Halle: Mitteldeutscher Verlag 2014, 296 S., 3 Abb., (ISBN 978-395462-367-9), 24,00 EUR. Die Reisebeschreibung des Hallenser Pfänners Hans von Waltheym ist der Forschung spätestens seit der Erstedition von F. E. Welti aus dem Jahr 1925 bekannt; sie ist in mehrfacher Hinsicht eine Ikone der Reiseliteratur des späten Mittelalters. Waltheyms Unterwegssein, am 17. Februar 1474 in Halle begonnen und am 19. März 1475 dort endend, war eine Pilgerfahrt zu den Heiligen der Christenheit wie zu einem lebenden Heiligen, eine Hofesreise und endlich eine Flucht vor der Pest. Hans von Waltheym pilgerte nicht zu den berühmten Wallfahrtsstätten Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela, sondern zum Grab der Heiligen Maria Magdalena, eine der ‚Mode‘-Heiligen des ausgehenden 15. Jahrhunderts, im provençalischen Saint-Maximin-la-Sainte-Baume. Auf dem Weg freilich gab es noch manch andere Heilige, deren Reliquien aufgesucht, genau beschrieben und verehrt werden wollten. Den säkularen Heiligen fand Waltheym in Kerns im eidgenössischen Obwalden:

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Der Bericht über Niklaus von Flüe – er beobachte ihn so intensiv wie die Schädelreliquie der Heiligen Maria Magdalena – ist eines der besten zeitgenössischen Zeugnisse über jenen Mystiker, der heute noch als Schutzpatron der Schweiz verehrt wird. Die Hofesreise war nur eine Besichtigungstour. Sie führte Waltheym unter anderem nach Avignon, wo er im erstaunlich frei zugänglichen Papstpalast morgens um neun Uhr den päpstlichen Legaten Charles de Bourbon noch schlafend vorgefunden haben will, sowie nach Aix-en-Provence, wo er die wunderbaren Gärten Königs René d’Anjou, le bon Roi René, besichtigte, eine der schönsten Gartenbeschreibungen der Zeit. Das Ende der Fahrt wurde vom Juli 1474 an hinausgezögert auf der Flucht vor der Pest. Waltheym wich zusammen mit seiner Familie nach Erfurt und Northeim, wo man über Monate hinweg zur Miete wohnte. Der Überlieferungswert des Reiseberichts erschöpft sich nicht in seinen ungewöhnlichen Routen und Stationen; er ist zudem ein wichtiges Zeugnis für die Geschichte der Seuchen. Waltheyms Text ragt auch heraus in der ungebrochen individuellen Wahrnehmung des Vorgefundenen, festgehalten in einer Kladde und anschließend in eine Komposition gebracht, die nicht allein die übliche Chronologie des von Station zu Station den Heiligen und dem Heiligen nacheilenden Gläubigen vorstellt. Die Perzeption des Fremden und der Fremden ist nicht durch Rom- oder Jerusalem-Pilgerführer gefiltert, sondern eigene Anschauung, Wahrnehmung und Vorstellung. Bei den Stadtbeschreibungen freilich orientiert er sich am literarischen Vorbild der laudes urbium der Humanisten, die damals gerade geschrieben und gelesen wurden. Sein einfaches Muster heißt: allgemeine Charakterisierung der Stadt („schön“, „wohlgebaut“ etc.), politische und gelegentlich historische Einordnung, wichtige Sehenswürdigkeiten und, da auf Reisen, stets: die Gasthäuser. Nicht umsonst einschlägig bekannt sind darüber hinaus die besonderen Momente der Ausstellung des eigenen Ichs, der Emotionen, der Ängste angesichts der Risiken des Daseins – auf dem Col du Saint-Pilon wird es Waltheym beim Blick in den Abgrund, über dem er steht, grüne und gele vor mynen ougen, so dass er umkehren muss (128), und im ‚Löwen‘ zu Breisach verbringt er, als von der um sich greifenden Pestepidemie hört, eine Nacht, die im wol x [10] jar langk (234) gewesen sei. Birte und Klaus Krüger haben den Text nach der Vorlage in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel zuverlässig und behutsam modernisierend neu ediert. Die mittelhochdeutsche Sprache, die gelegentlich doch sehr sperrig ist, wurde gelungen, den verschiedenen Situationen des Sprechaktes angepasst ins Neuhochdeutsche übertragen (die Übersetzung von borkerche in „Hochkirche“ statt Empore ist allerdings irreführend, 110 f.). Original und Übersetzung sind nach dem Vorbild der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe auf gegenüberliegenden Seiten angeordnet; von daher ist die Ausgabe bequem benutzbar. Die Kommentierung beschränkt sich nach einer kompakten, übersichtlichen, die maßgebliche Literatur versammelnden Einleitung wohl mit Recht auf das Wichtigste, auf die Auflösung der Datierungen, auf die Identifikation der Orte sowie der besonderen Persönlichkeiten und der entscheidenden Umstände. Allein bei den von Waltheym gebrauchten Maßen und Gewichten (Lot und Mark, Elle, Klafter und Stübchen) hätte man sich mehr die Genauigkeit lokaler Zuordnung gewünscht. Dem Text wurden ein übersichtliches Itinerar, ein Glossar sowie gut zu benutzende Register der Orte, Personen sowie „der heilsgeschichtlichen und sagenhaften Personen“ beigegeben. In der nach einer Hochzeit um 2000 seit einigen Jahren abflauenden Konjunktur der Reiseforschung mag

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die Neuedition und Übersetzung dieses wichtigen deutschsprachigen Textes zu neuen Forschungen anreizen. Gerhard Fouquet

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G ABRIELA S IGNORI (H G .): Das Schuldbuch des Basler Kaufmanns Ludwig Kilchmann (gest. 1518) (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefe 231), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, 126 S., 6 sw-Abb., (ISBN 978-3-515-10691-7), 36,00 EUR. Das persönliche Schuldbuch Ludwig Kilchmanns, das Gabriela Signori erstmals in vollständiger Edition vorlegt, eröffnet Einblicke in die Schuldbeziehungen zwischen Kreditgeber und Schuldner als ein Ausschnitt der innerstädtischen Kreditmärkte des Spätmittelalters. Neben einem 24 Blätter zählenden alphabetischen Register umfasst das Buch 326 Blätter, von denen allerdings nur rund 80 beschrieben sind. Insgesamt waren sechs Hände im Zeitraum von 1452 bis 1521 an der Buchführung beteiligt. Die meisten Einträge stammen von Ludwig Kilchmann aus den Jahren 1484 bis 1518; zudem nahm sein Sohn Hans Kilchmann in den Jahren 1516 bis 1521 Einträge vor. Der Edition steht eine Einleitung (7–22) zur Biographie Kilchmanns und zum Manuskript voran. In den Angaben zur Person und zur Familiengeschichte deckt sie sich zu großen Teilen mit den von August Bernoulli 1902 im Rahmen seiner Teiledition in den ‚Basler Chroniken‘ zusammengefassten Überlegungen. Geboren wurde Ludwig Kilchmann demnach vermutlich im Jahr 1450 in Basel. Den durch seinen Vater Konrad eingeleiteten Aufstieg der Familie in den Basler Rat setzte Ludwig 1468 mit der vorteilhaften Einheirat in die Kaufmannsfamilie Zscheckabürlin sowie mit der nicht minder vorteilhaften ehelichen Verbindung seines einzigen Sohnes Hans mit der sehr gut situierten Ratsfamilie Sürlin fort, sodass Vater und Sohn schließlich Zugang zur Hohen Stube erlangten. Ludwig Kilchmann starb 1518; sein Sohn Hans verschied kinderlos drei Jahre später. Bernoulli konzentrierte sich auf die im Schuldbuch enthaltenen familiengeschichtlichen Aufzeichnungen (fol. 316 v–323 v) und bezeichnete diese als ‚Chronik‘ innerhalb des Schuldbuchs. Diese Teiledition und die Einordnung als autobiographisches Zeugnis bestimmten die nachfolgende Forschung, die sich ausschließlich mit der familiengeschichtlichen Dimension des Buches befasste. Übersehen wurde dabei die für kaufmännische Rechnungsbücher typische Gemengelage von geschäftlichen und familiengeschichtlichen Einträgen, wie Signori zu Recht hervorhebt (7 f.). In ihrer Gesamtheit eröffnet die Quelle so gleich mehrere miteinander verschränkte Lesarten als Geschäftsbuch und als Selbstzeugnis Ludwig Kilchmanns. Seine Auskünfte über sich selbst und seine Familie beschränken sich hierbei nicht auf die im engeren Sinn familiengeschichtlichen Aufzeichnungen, sondern Ludwig versuchte auch im Geschäftsteil seines Schuldbuchs über die Geschichte des Familienbesitzes diesen für seine Erben zu konservieren (20). In ihrer intensiven, zuvor noch nicht geleisteten kodikologischen und paläographischen Analyse der Handschrift ordnet Signori sechs Schreibern (Hände A bis F) die von ihnen jeweils verzeichneten Geschäfte zu und kann auf diese Weise die Hände B und C Ludwig Kilchmann und seinem Sohn Hans zuweisen. Die Identität der anderen vier Schreiber ist aufgrund ihres „multiplen Ichs“ (14), besonders der Schreiberhand A, nicht hinreichend

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zu klären. Die Einträge der Hand A betreffen Geschäfte aus den Jahren 1452 bis 1484, die sowohl von Hans als auch Margaretha Zscheckabürlin, den Schwiegereltern Ludwig Kilchmanns, vorgenommen wurden. Signori führt zudem den „ursprünglich dreiteiligen Aufbau“ des Schuldbuchs in Kreditgeschäfte und Rentenkäufe (fol. 1 r–54 r), Grundzinsen und Ewigrenten (fol. 75 r–85 v) sowie Bergwerksanteile (fol. 100 r–108 r) auf diese Hand A zurück (13). Ein vierter, erst nach Anlage des Buches begonnener und vor allem von Ludwig Kilchmann geführter Teil bündelt die Mehrzahl der familiengeschichtlichen Einträge (fol. 316 v–323 v) und wird von Signori als „zeithistorischer Anhang“ (13) oder – wie schon von Bernoulli – als „Chronik“ (8, 104) bezeichnet. Im Zuge dieser Auseinandersetzung mit den Geschäften im Kilchmannschen Schuldbuch geht Signori vorzugsweise auf Ludwig und Hans Kilchmanns Geldgeschäfte in Form von Rentenkäufen in der Stadt sowie der Vergabe von Groß- und Kleinkrediten ein. Wie die abschließende Aufstellung seiner Kreditnehmer in den Jahren 1484 bis 1518 zeigt, umfasste der Kundenkreis sowohl Handwerker, Kaufleute, Personen geistlichen und weltlichen Standes als auch die Zunft der Kürschner, verschiedene geistliche Institutionen und sogar einige Städte wie z. B. Basel (21 f.). Nach der Bibliographie (23–28) folgen die Handschriftenbeschreibung mit vier Abbildungen aus der Vorlage (29–34), die Editionsrichtlinien (35) und einige Erläuterungen zu den verwendeten Maß- und Gewichtseinheiten (36). In der Edition verfolgt Signori eine dicht an der Vorlage orientierte Wiedergabe des Quellentextes mit nur wenigen Formalisierungen (37–116). Dabei mindert das durchgehende Festhalten an römischen Zahlen ein wenig den benutzerfreundlichen Zugriff auf den Text und das Arbeiten mit den ausgewiesenen Beträgen. Um einen schnellen Überblick über Kilchmanns Kredite zu schaffen, weist Signori diese nicht nur mit den zeitgenössisch verzeichneten Zinsen, sondern auch mit den von ihr errechneten Darlehenssummen in arabischen Ziffern gesondert am rechten Seitenrand aus. Am linken Seitenrand wird allen Einträgen jeweils die entsprechende Schreiberhand mit den Großbuchstaben A bis F zugeordnet. Weiter wird der edierte Text von einem ausführlichen Anmerkungsapparat begleitet, der biographische Informationen zu erwähnten Personen, aufgelöste Daten und Worterläuterungen bietet. Um die Quelle möglichst originalgetreu wiederzugeben, wurden Streichungen und nachträglich am Seitenrand oder interlinear ergänzte Wörter unmittelbar im laufenden Text mithilfe von Sonderzeichen kenntlich gemacht. Diese Schritte machen den Text gut lesbar, ohne ihn mit zu vielen editorischen Eingriffen zu belasten. Abgeschlossen wird die Edition durch einen gut strukturierten Sachindex (117–120) sowie einen Orts- und Personenindex (121–126). Insgesamt handelt es sich um eine sehr gelungene Edition, die neben einem ausführlich kommentierten Quellentext Einblicke in die Kilchmannsche Familiengeschichte bietet. Aufgrund der inhaltlichen Ausrichtung des Schuldbuchs liefert die Edition zudem viele Anknüpfungspunkte an aktuelle Forschungsfragen beispielsweise nach dem Schuldnerkreis privater Kreditgeber und der Höhe der Schuldenwerte innerhalb der spätmittelalterlichen Städte. Aufgrund der mikrogeschichtlichen Perspektive eines Kreditgebers können möglicherweise auch die individuellen Kreditbeziehungen zu seinen Schuldnern oder sein Investitionsverhalten am städtischen Rentenmarkt oder im regionalen Bergbau als eine weitere Form der Kreditvergabe tiefgehender beleuchtet werden. Darüber hinaus sind

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weitere sozialgeschichtliche Fragestellungen, beispielsweise im Kontext der Selbstzeugnisforschung und der Schriftlichkeit städtischer Führungsgruppen, denkbar. Sabrina Stockhusen

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P ETER R AUSCHER , M ARTIN S CHEUTZ (H G .): Die Stimme der ewigen Verlierer? Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450–1815). Vorträge der Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (Wien, 18.–20. Mai 2011) (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 61), Wien: Böhlau Verlag/München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2013, 468 S., (ISBN 978-3-205-78907-9 bzw. 978-3-486-71962-8), 74,80 EUR. Die Erforschung spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Aufstände und Revolten erlebte im Umfeld des Bauernkriegsjubiläums 1975 eine Hochkonjunktur und brachte auch in den 1980er und 90er Jahren noch eine Reihe grundlegender Studien hervor. Seit der Jahrtausendwende ist es um dieses Forschungsfeld merklich ruhiger geworden. Dass das Forschungspotential indessen noch keineswegs ausgeschöpft ist, führt der vorzustellende Tagungsband über Unruhen in der Habsburgermonarchie eindrucksvoll vor Augen. Die zwanzig Beiträge spannen einen Bogen von Südwestdeutschland bis nach Kroatien und führen zahlreiche Lokal- und Regionalstudien zu einem Gesamtpanorama zusammen. Obwohl einzelne Ereignisse wie die oberösterreichischen Bauernaufstände von 1595/97 und 1626 in der historischen Revoltenforschung durchaus ihren Platz haben, ziehen die Herausgeber Peter Rauscher und Martin Scheutz eine kritische Bilanz „eines insgesamt für die Habsburgermonarchie oft veralteten, Großkonzepte der Frühneuzeitforschung kaum aufgreifenden und sich im Dickicht der Ereignisgeschichte verstrickenden Forschungsstandes“ (18). Für die österreichischen Länder sei es notwendig, einerseits regionale Unterschiede herauszuarbeiten, andererseits den „gesamtstaatlichen“ Rahmen im Auge zu behalten. Sieben Beiträge nähern sich dem Thema aus regionalgeschichtlicher Perspektive. Martin Schennach arbeitet für die westlichen Teile des habsburgischen Länderkomplexes die Unterschiede zwischen Vorderösterreich, wo Untertanenprotest an der Tagesordnung war, auf der einen sowie Tirol, wo sich relativ wenige Unruhen ereigneten, auf der anderen Seite heraus. Als Entwicklungstendenzen sieht er den verstärkten Einsatz von Militär zur Niederwerfung von Unruhen sowie die obrigkeitliche Anwendung der Policeygesetze und des Strafrechts zur Pazifizierung der Untertanen; Winfried Schulzes These einer „Verrechtlichung sozialer Konflikte“ steht er allerdings kritisch gegenüber. Für Oberund Niederösterreich, Kärnten und die Steiermark konstatiert Martin Scheutz ein ganzes Bündel von Aufstandsmotiven – grundherrliche Willkür, Steuer- und Abgabenerhöhungen, Jagd- und Arbeitskonflikte, Krieg und Konfession – und gibt einen Überblick über Trägerschichten, Verlaufsformen und Beilegung bzw. Niederwerfung der Konflikte. ˇ Im Falle Böhmens und Mährens konstatiert Jaroslav Cechura eine Zäsur in den Jahren 1679/80, als die Obrigkeit gegenüber aufständischen Untertanen eine wesentlich härtere ˇ Gangart einschlug. Cechura zufolge ging es den revoltierenden Bauern vorrangig um eine „Milderung ihres untertänigen Status“ (127); ihr Widerstand zeitigte jedoch allenfalls

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begrenzte Erfolge. In Schlesien und der Oberlausitz beobachtet Matthias Weber „eine zunehmende Verdichtung von Widerstandsaktionen“ um 1560 (143), wobei neben sozio-ökonomischen auch konfessionellen Ursachen eine große Bedeutung zukam. Géza Pálffy zählt 27 Aufstände in Ungarn zwischen 1514 und 1784/85, aus denen vor allem die adeligen Anführer großer Ständeunruhen als Gewinner hervorgegangen seien; die Interpretation dieser Unruhen als ‚nationale‘ Befreiungskämpfe in der späteren ungarischen Historiographie sei anachronistisch. Für das Königreich Dalmatien, Kroatien und Slawonien unterscheidet Nataša Štefanec zwischen den Gebieten unter Zivilverwaltung, wo sich Untertanenwiderstand vor allem gegen Lastenerhöhungen und herrschaftliche „Neuerungen“ richtete, und der Militärgrenze zum Osmanischen Reich, wo sich die „Grenzer“ sporadisch gegen „Missbräuche“ und die Einschränkung althergebrachter Rechte auflehnten (198). Thomas Stockingers Beitrag über das ländliche Niederösterreich in der Revolution von 1848, der zeitlich über den Untersuchungsrahmen des Bandes hinausgeht, konstatiert eine Intensivierung traditioneller sowie eine Adaption neuer Formen des Protests. Eine vier Beiträge umfassende Sektion ist – wohl nicht frei von Ironie – mit „Große, alles erklärende Theorien und ihr Bezug zu den Aufständen“ betitelt. Mit Peter Blickle und Wolfgang Behringer kommen hier zwei prominente Frühneuzeit-Historiker zu Wort, die ihre Kernaussagen zum Verhältnis von Kommunalismus und Unruhen (Blickle) bzw. zum Zusammenhang von Hexenverfolgung und ‚kleiner Eiszeit‘ (Behringer) freilich bereits an verschiedenen anderen Stellen publiziert haben. Erhellender sind Peter Rauschers Ausführungen zu Unruhen und Staatsbildung sowie Andreas Würglers Aufsatz zur Mediengeschichte der Revolten. Rauscher zufolge bildeten die Kriege gegen die Osmanen und der damit einhergehende Finanzbedarf die wesentliche Triebfeder des Staatsbildungsprozesses in der Habsburgermonarchie. Die Eintreibung von Steuern sowie die Aufstellung von Truppen überließen die Habsburger allerdings den Ständen bzw. den adeligen Grundherren, so dass sich Untertanenprotest und bäuerliche Forderungen nach Steuer- und Wehrgerechtigkeit vor allem gegen Letztere richteten. Im Einklang mit der neueren Forschung charakterisiert Rauscher Unruhen als „lokal bzw. regional begrenzte Ereignisse“ und betont deren „konservativen bzw. defensiven Charakter“ (270 f.). Andreas Würgler zeigt, dass Aufständische wie Obrigkeiten die Möglichkeiten eines sich entwickelnden Mediensystems zunehmend intensiver nutzten; nicht nur militärisch, sondern auch in der medialen Darstellung gingen die Untertanen aus den meisten Konflikten allerdings als Verlierer hervor. Eine abschließende Sektion versammelt sieben Aufsätze unter dem Titel „Soziale Strukturen der Aufständischen“. Für Mähren zeigt Jiˇrí Dufka die Rolle von Frauen und Dienstboten in Gemeindeunruhen auf, betont die Führungsrolle von Advokaten, Schreibern und Deputierten und stellt den Walachenaufstand während des Dreißigjährigen Krieges als eines der seltenen Beispiele einer größeren mährischen Unruhe dar. Andrea Pühringer geht der Frage nach, ob Aufruhr als „Ausnahmefall oder Strukturelement des Politikgeschehens in vormodernen österreichischen Städten“ anzusehen ist. Während städtische Konflikte des Spätmittelalters im Kontext von Ratswahlen und dynastischen Auseinandersetzungen zu verorten seien, richtete sich städtischer Widerstand um 1600 insbesondere gegen die Rekatholisierungspolitik der Habsburger. Um als bloße Ausnahmeerscheinungen gelten zu können, waren städtische Unruhen Pühringer zufolge „doch zu zahlreich“ (349). Arno

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Strohmeyer sieht in Verhandlungen zwischen Fürsten und Ständevertretern ein „zentrales Verfahren zur Generierung von Ordnung, auf dessen herrschaftslegitimierende Kraft kein Habsburger verzichten konnte“ (352), und resümiert zentrale politische Leitvorstellungen des österreichischen Adels, zu denen neben hausväterlicher Gewalt, fürstlicher Autorität und dynastischer Loyalität auch ein „Habitus der Widersetzigkeit“ gehörte (368). Mit dem Verhältnis von Revolten und Raum nimmt Alexander Schunka eine eigentlich naheliegende, in der Revoltenforschung gleichwohl noch wenig erschlossene Perspektive ein. An verschiedenen Beispielen zeigt er, dass „Aufstände, Revolten und Erhebungen immer auch ein Kampf um die Beherrschung des Raums“ waren (370) und die Aufständischen tradierte Ordnungsmuster bewusst umkehrten. André Holensteins konziser Überblick über Konflikte in der Eidgenossenschaft bildet einen Kontrapunkt zu den Studien über die Habsburgermonarchie. Holenstein zufolge lassen die zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen den Schweizer Orten, zwischen Obrigkeiten und Untertanen (vor allem in den Landgebieten der Städte) wie auch innerhalb der regierenden Korporationen auf eine ausgeprägte Konfliktanfälligkeit schließen; er verweist aber auch auf die Rolle von Schlichtungsverfahren und Verhandlungen in der Konfliktgeschichte der alten Schweiz. Holensteins abschließende Bemerkungen zur Erinnerungskultur leiten über zu den letzten beiden Aufsätzen des Bandes von Elisabeth Gruber und Martina Fuchs, welche visuelle, performative, parteipolitische und belletristische Formen der Erinnerung an den Öberösterreichischen Bauernkrieg von 1626 und dessen Anführer Stefan Fadinger thematisieren. Auch wenn in einem Sammelband dieses Zuschnitts das Fehlen eines eigenen Beitrags zu der aus europäischer Perspektive wohl wichtigsten Revolte in der Habsburgermonarchie – dem böhmischen Ständeaufstand von 1618 – ein wenig verwundert, fällt das Fazit sehr positiv aus: Die Beiträge summieren sich zu einem facettenreichen Bild auf der Höhe der Forschung und vermögen der Revoltenhistoriographie neue Impulse zu geben. Leser, die über keine Kenntnisse osteuropäischer Sprachen verfügen, werden zudem besonders von denjenigen Beiträgen profitieren, welche die Arbeiten tschechischer, ungarischer und kroatischer Historikerinnen und Historiker resümieren. Mark Häberlein

Bamberg

A NGELIKA W ESTERMANN , S TEFANIE VON W ELSER (H G .): Beschaffungs- und Absatzmärkte oberdeutscher Firmen im Zeitalter der Welser und Fugger, Husum: Matthiesen Verlag 2011, 312 S., (ISBN 978-3-786-85302-2), 29,00 EUR. Obwohl die Geschichte der oberdeutschen Kaufmannbankiers des 16. Jahrhunderts als ein gut erforschtes Themengebiet der Wirtschaftshistoriographie gilt, lassen sich leicht Fragestellungen finden, die weder eingehend gewürdigt noch systematisch erschlossen worden sind. Insbesondere der Zusammenhang von lokalen und regionalen Märkten mit europäischen Transfersystemen, die Entwicklung spezialisierter Märkte und Nischen in den regionalen und europäischen ökonomischen Gefügen sind Forschungsfelder, die Aufschlüsse zum Verständnis der Wirtschaftsgeschichte Europas im Zeichen der beginnenden Globalisierung versprechen. Unter dem Titel „Beschaffungs- und Absatzmärkte oberdeutscher Firmen im Zeitalter der Welser und Fugger“ versammelt der von Angelika Westermann und Stefanie von

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Welser herausgegebene Band, der auf den zweiten Neunhofer Dialog von 2009 zurückgeht, dreizehn sehr unterschiedlich angelegte Aufsätze. Insgesamt gelingt den vierzehn Autorinnen und Autoren eine spannende Mischung aus verschiedenartigen Themenstellungen und Projektkontexten. Die Beiträge von Kim Siebenhüner und Maximilian Kalus konzentrieren sich auf den Transfer von überseeischen Gütern und die organisatorischen Prozesse, welche süddeutsche Handelsgesellschaften zwischen der Beschaffung in Asien und der Distribution im deutschsprachigen Raum leisteten. Dabei beschäftigt sich Siebenhüner mit dem Erwerb von Juwelen und Diamanten in Indien im transkulturellen Kontakt zwischen muslimischen, hinduistischen, jüdischen und christlich-europäischen Zwischenhändlern. Demgegenüber erläutert Kalus die von Gewürzgroßhändlern dominierte Vermarktungskette von Pfeffer, der von Einkaufsreisenden erworben, durch konsortial organisierte Schiffspartien vorwiegend nach Antwerpen gebracht und schließlich von oberdeutschen Kaufleuten in Europa vertrieben wurde. Indem sich Kurt Weissen mit Safran, Astrid Schmidt-Händel mit Waid, Anna-Maria Grillmaier mit Ochsen und Rindern, Rolf Kießling mit Leder, Ralf Schürer mit Silber und Thomas Max Safley mit Quecksilber bestimmten Handelsgütern widmen, wählen sie (mit Ausnahme Safleys) einen räumlich orientierten Zugang. Weissen zeigt am hoch spekulativen Safranhandel, wie süddeutsche Kaufleute beim Zugriff auf die Produktionsorte im Süden Italiens (L’Aquila, Bari) Zwischenhändler ausschalteten und ein geographisch ausgedehntes Informationssystem aufbauten, um sich an die Preisausschläge anpassen zu können. Anhand von Geleitsrechnungen stellt Schmidt-Händel den Erfurter Handel mit dem pflanzlichen Blaufärbemittel Waid und die Käufer auf dem Nürnberger Absatzmarkt als „oberste nichtpatrizische Schicht“ (172) dar. Mit dem Ochsen- und Rinderhandel von Händlern aus der Reichsstadt Augsburg behandelt Grillmaier den wichtigen Sektor der Fleischversorgung (und nebenbei der Belieferung mit Leder). Die Viehhändler zogen bis an die Grenzen Niederösterreichs, um beim Erwerb von ungarischen Ochsen Anschluss an den Direkthandel zu finden. Kießling konzentriert sich auf den Lederhandel der Nördlinger Messen und führt vor, wie die Obrigkeit durch den Schutz vor Absprachen zwischen Metzgern und Gerbern, den Erlass von Handwerksordnungen, das Verbot des Fürkaufs und die Kopplung der Fleischversorgung an den Lederhandel das Marktgeschehen zu regulieren suchte. Er legt nicht nur die Verflechtung von Stadt und Land in der Praxis des Großhandels und der Produktion dar, sondern weitet den Blick dadurch, dass er den Tiroler Bergbau aufgrund des hohen Bedarfs an Ledererzeugnissen als Absatzmarkt charakterisiert. Die Beschickung der Nürnberger Gold- und Silberschmieden mit „Betriebsmaterialien“ benennt Schürer als ein Forschungsdesiderat. Denn der Absatz von Silbergeschmeiden an städtische Oberschichten oder fürstliche Höfe (und kirchliche Einrichtungen!) lässt sich gut rekonstruieren, wobei Standardisierungstendenzen und Produktionsrückgänge mehrschichtige, zum Teil noch nicht überzeugend analysierte Ursachen haben mochten. Safley wählt als Ausgangpunkt für seine Untersuchung des ebenso gewinnträchtigen wie kapitalintensiven Quecksilberhandels den Bankrott der Augsburger Höchstetter und deren gescheiterte Ambitionen auf die Monopolisierung des Quecksilberabbaus (in Idria und Almadén). Die Beiträge von Frank Göttmann, Angelika und Ekkehard Westermann sowie Walter Bauernfeind fokussieren die archivalische Hinterlassenschaft jeweils einer Handelsgesell-

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schaft. Am Beispiel der Brüder Felix und Jakob Grimmel, die zwischen 1549 und 1560 eine Handels- und Verlagsgesellschaft von Konstanz und Memmingen aus leiteten, leuchtet Göttmann die regionale Verankerung sowie die Expansionsvorhaben eines mittelgroßen Handelshauses aus. Vier Fünftel ihres Umsatzes erzielte die Unternehmung, welche ihre Verkaufserzeugnisse im auf Systemvertrauen gegründeten Verlagswesen produzieren ließ, durch Textilhandel. Angelika und Ekkehard Westermann zeichnen am Beispiel der Straßburger Prechter die konsortial betriebene Beschaffung von Silber in Lothringen und dessen kooperativ organisierten Vertrieb am Oberrhein sowie in Richtung Nürnberg, Hall in Tirol und Venedig nach. Ein weiterer Schwerpunkt der Prechter-Sigolsheim-WiedGesellschaft lag auf dem Handel mit Papier. Die Dokumentation des Gesamtaufwandes und -erlöses des Silberhandels der Prechter zwischen 1537 und 1550 verdeutlicht die sukzessive Konzentration auf den Silberexport nach Nürnberg. Aus dem reichhaltigen Familienarchiv der Nürnberger Tucher, welches wesentlich „Ausbildungsbriefe“ umfasst, rekonstruiert Bauernfeind das weit gespannte Korrespondenznetz einer an den wichtigen Standorten des frühen 16. Jahrhunderts präsenten Kaufmannbankiersfamilie und analysiert das Nachrichtenübertragungssystem anhand der jeweils beschäftigten Boten und ihrer Routen. Zwei Beiträge wählen alternative Zugriffe: Michael Rothmann charakterisiert die Messen in Frankfurt am Main nicht nur als bedeutende Distributionsmärkte im Alten Reich, sondern schildert die Kreditfinanzierung von Wareneinkäufen als symptomatisches Instrument des Warenhandels auf Messen. Zudem illustriert er anhand der Kammerrechnungen der Grafen von Ysenburg von 1434 bis 1567 den Einkauf von Adeligen auf den Frankfurter Messen, wobei deren Messeeinkäufe 40 Prozent ihrer Gesamtausgaben ausmachten und davon wiederum allein 70 Prozent in Textilen investiert wurden. Philipp Robinson Rössner richtet die Perspektive auf den Zusammenhang von Silbermärkten und Zahlungsmitteln. Er errechnet, dass fast die komplette Silberproduktion im Alten Reich zwischen 1470 und 1530 aus dem Reichsgebiet abfloss und es auf diese Weise zu einer sich in der Abwertung des Umlaufgeldes manifestierenden Deflation kam. Die Bezahlung von Bauern und Handwerkern mit minderwertigen Scheidemünzen habe auf Dauer die in der Forschung kaum beachtete, ökonomisch bedingte Neigung zu Aufständen (wie den Bauernkriegen) befördert. Die Stärke des Bandes liegt in der Heterogenität der methodischen und archivalischen Ansätze sowie der von den Kaufleuten gehandelten Güter. Denn auf diese Weise werden strukturelle Gemeinsamkeiten besonders gut sichtbar: die Verwurzelung der Beschaffung in lokaler, dezentraler Produktion, deren jeweilige Lage und Gewinnaussichten sehr unterschiedlich zu bewerten sind; das immer wieder auftretende Bemühen um den Direkthandel, also die Überbrückung des Zwischenhandels; die Spezialisierung auf bestimmte Produktlinien oder Warengruppen, für die ein spezifisches Wissen, insbesondere um Qualitäten, erforderlich war; die sehr unterschiedlich gelagerte Verbindung von Finanzierungs- und Warengeschäften; die schwierig zu rekonstruierenden Kenntnisse praktischer Vorgänge wie der konkreten Transfers oder der Sicherung von Qualitätsstandards; die Provenienz und der Kostenanteil von Bestandteilen komplexer Produkte; die besondere Bedeutung von Produktlinien für die Verbindung von Angebot auf Beschaffungsmärkten mit der Nachfrage auf Absatzmärkten; die Schwierigkeiten und Grenzen fundierter Quantifizie-

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rung und monetärer Bewertungen; der weitgehend personengeschichtliche Ansatz bei der Analyse von Entwicklungen und Dynamiken der vorindustriellen Wirtschaftsgeschichte. Die Schwäche des Sammelbandes besteht hingegen darin, dass die Beiträge wenig Bezug aufeinander nehmen und nicht durch eine systematische Einführung oder schlussfolgernde Synthese miteinander verklammert sind. An einigen Stellen hätte dem Buch überdies ein sorgfältigeres Lektorat gut getan. Auch ein Register, das die ansonsten eher divergierenden Einzelheiten oder auch auffällige sachliche sowie prosopographische Überschneidungen übersichtlich bündelt, wäre höchst hilfreich gewesen. Schade zudem ist, dass die immerhin im Buchtitel erwähnten Fugger allenfalls durch die Aufsätze „geistern“, die ebenso genannten Welser indes weitgehend durch Abwesenheit glänzen. Heinrich Lang

Bamberg

K LAUS N IEHR (H G .): Historische Stadtansichten aus Niedersachsen und Bremen 1450– 1850 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 268), Göttingen: Wallstein 2014, 364 S., 281 farb. Abb., (ISBN 978-3-8353-1534-1), 29,90 EUR. Städtebilder haben seit den 1980er Jahren Konjunktur in der historischen Forschung. Von der schon in der ältesten Stadtgeschichtsschreibung stets virulenten und ja auch zweifellos berechtigten Frage, wann denn nun und mit welchem Realitätsgrad die eigene Ortschaft erstmals ins Bild gesetzt wurde, hat sich diese Forschung spätestens seit dem eine Wegmarke setzenden Sammelband „Stadtbilder der Neuzeit“, der eine 2003 vom Südwestdeutschen Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung initiierte Tagung dokumentierte, merklich weiterentwickelt (B ERND ROECK (Hg.): Stadtbilder der Neuzeit. Die europäische Stadtansicht von den Anfängen bis zum Photo, Stuttgart 2006). Namentlich der Zürcher Frühneuzeitler Bernd Roeck, der auch die damalige Tagung mitveranstaltet hatte, hat hier gemeinsam mit Kolleg(inn)en und Schülern viel geleistet – gerade 2013 ist sein opulent ausgestatteter Band über Städteansichten der Schweiz (Schweizer Städtebilder. Urbane Ikonographien, 15.–20. Jahrhundert, Zürich 2013) erschienen und hat ein sehr positives Echo gefunden. Nicht gleichermaßen opulent, aber doch sehr hochwertig ausgestattet kommt auch der vorliegende Band daher, der historische Stadtansichten des deutschen Nordwestens aus dem 15. bis 19. Jahrhunderts kommentiert wiedergibt. Die Grundlage dafür bildet eine Sammlung, die schon in den 1970er Jahren von der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen initiiert und über Jahre ehrenamtlich vorangetrieben worden ist. Nachdem das Projekt gegen Ende des Jahrtausends langsam einzuschlafen drohte, hat die Kommission gemeinsam mit dem Kunsthistorischen Institut der Universität Osnabrück es seit 2009 wieder zum Leben erweckt, was schließlich zur Drucklegung des vorliegenden Bandes führte. Von den über die Jahre gesammelten rund 5 000 Belegen werden darin 235 Stadtansichten von Alfeld bis Zeven in sauber gearbeiteten, hochwertig illustrierten Katalogeinträgen dokumentiert. Vorweg schlagen sieben ebenfalls reich illustrierte Essays Querschnitte durch das Material, etwa zum Stellenwert von Stadtansichten in der kunsthistorischen Forschung (Klaus Niehr), zum Quellenwert für die Landesgeschichte (Hansjörg Küster) oder zu deren Aussagewert für die Wirtschafts- und Alltagsgeschichte (Bettina Schleier). Das alles ist lesenswert und anregend. Etwas hoch gegriffen scheint freilich die Bedeutung des Projekts in der ohnehin

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sehr knappen Einleitung skizziert: Dort ist von einem programmatischen Abschied von der Vollständigkeit die Rede, wo doch schlicht das nicht Leistbare nachvollziehbar zu einer solchen Entscheidung zwingt – und genau das hat man auch wenige Zeilen vorher lesen können, als von dem Torso die Rede ist, auf den das revitalisierte Projekt nur noch traf. Das wird sich voraussichtlich alles relativieren, wenn die zugrundeliegende Datenbank, aus der der vorliegende Band evident nur einen exemplarischen Ausschnitt dokumentieren kann, ans Netz geht. Darüber hätte man gern mehr gelesen als die kurze Andeutung auf Seite 8 der Einleitung, das Material werde – bald? Irgendwann? – „über die Homepage der Historischen Kommission [. . . ] abrufbar sein“. Ungereimt bleibt solange das „Anwachsen“ (8) der zugrundeliegenden Datenbank „auf ca. 2 200“ gegenüber zu Projektbeginn noch „ca. 5 000 Einträge[n]“ (7). Vermutlich werden uns also bald über besagte Homepage 12 000 Bildeinträge zur Verfügung stehen. Zu hoffen steht das. Diese etwas enttäuschten Bemerkungen zur Einleitung – absolute Kleinigkeiten, wie man ohne weiteres sieht –, sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir hier nicht nur einen visuell höchst ansprechenden, sondern auch einen solide dokumentierenden und anregend diskutierenden Band vorliegen haben. Er macht neugierig auf das versprochene Online-Material. Hiram Kümper

Mannheim

C HRISTIAN K UHN: Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert (= Formen der Erinnerung 45), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 553 S., (ISBN 978-3-89971-588-0), 79,99 EUR. Dass Familiengeschichtsschreibung im frühneuzeitlichen Europa als Genre und in ihren Funktions- und Wirkungsansprüchen kaum problematisiert wurde, ist bemerkenswert, gerade angesichts der umfangreichen Quellenlage und der über die verschiedenen europäischen Sprachgebiete hinweg auffallend gleichartigen Muster. Die Frage, wie solche Narrative generationelle Kontinuität konstruierten und dabei stets vor der Herausforderung standen, folgende Generationen zu integrieren, wird in Christian Kuhns Bamberger Dissertation am Beispiel der Nürnberger Patrizierfamilie Tucher in eindrucksvoller Weise behandelt. Mittels einer diskursanalytischen Annäherungsweise an das Thema geht Kuhn der semantischen Reichweite des „Grundbegriffs“ Generation nach und zeigt, wie verschiedene Generationen ein Familiengedächtnis erzeugten und sich dabei in didaktischer Absicht an ihre Nachfahren richteten. Die Familie, so die These der Untersuchung, vergewisserte sich ihrer selbst als periodenübergreifender ‚Zeitkörper‘ in einer religiösen und gesellschaftlichen Krisenzeit. Sowohl in Bezug auf Adels- als auch Patrizierkreise ist eine solche diachrone Erforschung von Generationskontinuitäten und -diskontinuitäten lange vernachlässigt geblieben und hat ein mehrere Generationen übergreifender Blickwinkel außerhalb spezifisch genealogischer Forschungen kaum Beachtung gefunden. Die Leistung dieser Herangehensweise liegt darin zu zeigen, wie Konstruktionen der Vergangenheit nicht bloß von jeder Generation neu konstituiert werden, wie generationssoziologisch orientierte Arbeiten zum sozialen Gedächtnis vielfach betont haben. Hierbei blieb das Wechselspiel zwischen den verschiedenen Generationen oft unterbelichtet. Wie Kuhn anhand der Familiengeschichtsschreibung sowie den in der Familie bewahrten Briefsammlungen von Vätern an ihre Kinder zeigt, konnten übergeordnete Narrative intergenerationelle Dynamiken

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erzeugen, die über tatsächliche historische Brüche hinwegtäuschen. Auffallend ist dabei, dass die Reformation trotz der in den Quellen überall präsenten religiösen Bezüge kaum als einschneidender Wendepunkt bedeutsam wird. Während die Reformation in der Familiengeschichtsschreibung in Regionen mit einer konfliktreicheren Religionsgeschichte oft einen zweiten Gründungsmythos der eigenen Familie konstituiert, wird hier vor allem die religiöse Kontinuität betont. Da Forschungen wie die Kuhns in dieser Form kaum vorliegen, ist eine vergleichende Perspektive derzeit noch nicht möglich. Während die Bedeutung der Reformation im Leben von Individuen bereits gut untersucht ist, wäre eine Synthese von Erkenntnissen über die Auswirkungen des religiösen Umbruchs auf genealogisch begründete Familienidentitäten sehr interessant. Kuhns Werk könnte hierfür einen wichtigen Impuls liefern. Während im gesamten Buch die Komplexität der Tucherschen Familiengeschichtsschreibung betont wird, trägt die Form der Darstellung leider nur bedingt dazu bei, diese zu komprimieren. In einem sehr elaborierten und in weiten Teilen von der Luhmannschen Systemtheorie geprägten Sprachstil werden Teilschlussfolgerungen aufgelistet, die das Gesamtergebnis der Untersuchung manchmal in den Hintergrund treten lassen. Teilweise drängt sich dem Leser der Eindruck auf, an der gewählten Ausdrucksweise müsse noch etwas gefeilt werden. Während Kuhn in Bezug auf die religiösen Dimensionen der Tucherschen Familiengeschichtsschreibung überaus differenziert und komplex argumentiert, werfen einige seiner Thesen Fragen auf, die wohl mit der zum Teil sehr zugespitzten Wortwahl zu erklären sind. Dass beispielsweise das religiöse Erbe der Vorfahren „essentialistisch als Garant von Heilsgewissheit“ der späteren Tucher-Generationen fungiert habe, wäre jedenfalls erstaunlich, und aus den zitierten Quellen lässt sich dieser Schluss meines Erachtens auch nur schwer ziehen. Vielmehr dienen die vorhergehenden Generationen als Vorbilder der Frömmigkeit und ist ihre Darstellung ein Appell an die Nachkommen, was Kuhn wohl letztlich auch meint. Während die Analyse durchweg stringent und überzeugend bleibt, hätte die Zugänglichkeit der Darstellung daher wohl von einem letzten redaktionellen Schliff profitieren können. Dasselbe gilt auch für den Fußnotenapparat, der immer wieder kleine redaktionelle Mängel aufweist, aber vor allem für den Umfang der Arbeit, die mehr als 550 Seiten umfasst und um einige Längen und sinngemäße Wiederholungen gekürzt werden könnte. Ungeachtet solcher Details ist Kuhns Buch eine wichtige und in vielerlei Hinsicht richtungsweisende Arbeit, die zeigt, wie eine diachrone Perspektive beim Verständnis frühneuzeitlicher Familienidentität und sich verändernder Zeit- und Geschichtserfahrung neue und überraschende Einsichten liefern kann. Johannes Müller

Leiden

K URT A NDERMANN (H G .): Bürger, Kleriker, Juristen. Speyer um 1600 im Spiegel seiner Trachten, Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2014, 114 S., (ISBN 978-3-7995-0555-0), 28,00 EUR. Ausgangspunkt und Publikationsgrund des von Kurt Andermann herausgegebenen Sammelbandes sind 16 Trachtenbilder von Speyerer Bürgern, Klerikern und Juristen aus dem beginnenden 17. Jahrhundert, die sich in einer Handschrift des Generallandesarchivs Karlsruhe (65 Nr. 626) erhalten haben. Herkunft und Entstehung der Letzteren sind unbekannt. Zum weiteren Inhalt zählen unter anderem Philipp Simonis‘ gedruckte Historische

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Beschreibung aller Bischoffen zu Speyr (Freiburg i. Br. 1608), Holzschnitte von Wappen Speyrer Domherren sowie Kupferstiche einiger Bischöfe. Andermann, Archivdirektor beim Karlsruher Generallandesarchiv, verortet die Kompilation im Umfeld eines historisch interessierten Speyrer Domgeistlichen. Nach dessen Tod gelangte sie vermutlich in das Archiv des Domkapitels und mit dessen Flüchtung an das Großherzogtum Baden. Die Bilder stehen in der Traditionslinie sogenannter Trachten- beziehungsweise Kostümbücher. Gegliedert nach ständischen, geographischen oder zeitlichen Kriterien präsentierten sie – häufig anlass- oder jahreszeitbezogen – die Kleidermoden der gesellschaftlichen Gruppen. Zu nennen sind beispielsweise die 1568 in Frankfurt am Main erschienene Eygentliche Beschreibung Aller Staende auff Erden [. . . ] mit Holzschnitten von Jost Amman oder Hans Weigels Habitus praecipuorum populorum [. . . ], basierend auf Zeichnungen von Amman und publiziert 1577 in Nürnberg. Untersuchungen zu einzelnen Trachtenbüchern in monographischer oder Aufsatzform gibt es einige. Aktuelle Beispiele sind unter anderem „Zwischen Reisebericht und Ethnographie. Das Trachtenbuch des Christopher Weiditz“ von Dennis Conrad (Marburg 2005) oder Isabel Kuhls Dissertation „Cesare Vecellios Habiti antichi et moderni: Ein Kostüm-Fachbuch des 16. Jahrhunderts“ (Köln 2008). Andermann wählt stattdessen die Form eines Sammelbandes mit quelleneditorischer Funktion. Dieser umfasst fünf Aufsätze sowie eine abschließende Zusammenfassung zu Inhalt und mutmaßlichem Entstehungskontext der Handschrift. Vier der Aufsätze schildern den übergeordneten historischen Hintergrund, der fünfte thematisiert die Speyrer Trachtenbilder selbst. Farbige Abbildungen der Aquarelle finden sich etwa in der Mitte des Buches. Kurt Andermann leitet ein mit einem Überblick zur politischen, territorialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage Speyers insbesondere im 16. Jahrhundert. Dabei zeichnet er das Bild einer freien, von Zünften regierten Stadt mittlerer Größe, die reichsweite Bedeutung besaß und eine – trotz diverser Krisensymptome in der zweiten Jahrhunderthälfte – stolze Bürgerschaft beherbergte. In seinem zweiten Aufsatz widmet sich Andermann der ratsfähigen Speyrer Oberschicht. Diese bestand ursprünglich aus Mitgliedern der Ministerialität sowie der bischöflichen Amtsträgerschaft. Ein allmählicher Wandel vollzog sich durch das Aussterben ansässiger Geschlechter, patrizischen Zuzug sowie den Aufstieg von Angehörigen der Handelszünfte. In den Trachtenbildern präsentiert sich diese Elite als „gediegenes, wohlanständiges Bürgertum, das zwar mit der Mode geht, es dabei aber nicht übertreibt“. Gerhard Fouquet, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der ChristianAlbrechts-Universität Kiel, beleuchtet den Speyrer Domklerus. Die ursprüngliche Klerikerkongregation der Domkirche war das wohl im 8. Jahrhundert entstandene Domkapitel. Im Hochmittelalter sind zudem als niedere Pfründner Domvikare, Dompfarrer und Stuhlbrüder belegt. Die im Kapitel versammelten Domherren entstammten dem Adel oder der Ministerialität. Ihr aufwendiger Lebensstil sowie ihre Forderungen nach Steuerbefreiung führten immer wieder zu Konflikten mit der Bürgerschaft. Als Speyer 1540 zur lutherischen Konfession wechselte, wurden Dombezirk und Klerikerbesitzungen „auch konfessionell zu Inseln in der neugläubigen Stadt“. Anette Baumann, Leiterin der Forschungsstelle der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung in Wetzlar, schreibt über die Juristen des Reichskammergerichts, des obersten Gerichts des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Zwischen 1527

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und 1689 hatte es seinen festen Sitz in Speyer und versammelte die juristische Elite des Reiches in der Domstadt. Dazu gehörten insbesondere der an der Spitze des Gerichts stehende Kammerrichter, die Assessoren als eigentliche Verfasser der Urteile sowie die Advokaten und Prokuratoren, also die Anwälte. Jan Ulrich Keupp, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, nimmt die Speyrer Trachtenbilder selbst in den Blick. Im 16. Jahrhundert galt die Einteilung der Gesellschaft in Stände als Ausdruck des göttlichen Ordnungswillens. Kleidung hatte daher dem jeweiligen Stand zu entsprechen. Hilfestellung bei der Wahl eines gottgefälligen Gewandes sowie gleichzeitig ästhetischen Gewinn boten die Trachtenbücher. Die Speyrer Kostümdarstellungen waren wohl weniger als eigenes Buch denn als Ergänzung eines bereits vorhandenen gedacht oder als lokal gefertigte Vorlage für ein überregionales Werk. Bemerkenswert ist, dass ganze Dreiviertel der Bilder mit olim (lat. einstmals) bezeichnet sind, sich also auf die Vergangenheit beziehen. Abschließend beurteilt Keupp die Aquarelle als stark stilisiert und in ihrer Grundtendenz wertkonservativ. Sie versinnbildlichten „das Plädoyer für eine stets besonnene und bodenständige Kleiderwahl“. Als Abbild der historischen Wirklichkeit seien sie indes nicht zu betrachten, sondern vielmehr als „Versuche einer Selbstvergewisserung durch Rückbesinnung“. Andermanns Sammelband lässt eine klare, durchdachte Gliederung erkennen: Nach einem historischen Überblick folgt die Beschreibung der relevanten Gesellschaftsgruppen und schließlich die stilistische Einordnung der Trachtenbilder selbst. Die fünf Aufsätze vollziehen somit eine allmähliche Annäherung an die Materie und führen den Leser vom Allgemeinen zum Konkreten. Die Abbildungen der Aquarelle sind nahezu in der Mitte des Buches positioniert und werden dadurch als eigentlicher Gegenstand in den Fokus gerückt. Rein quantitativ nimmt jedoch die Schilderung des übergeordneten geschichtlichen Kontextes den größten Raum ein, was wohl vor allem dem Mangel an Informationen zu Herstellung und Entstehung der Bilder geschuldet ist. Dies mag zunächst irritieren, da der Untertitel des Buches „Speyer um 1600 im Spiegel seiner Trachten“ anderes erwarten lässt. Der Qualität des Buches wird dadurch jedoch kein Abbruch getan, da die Hintergrundinformationen zum Verständnis der Aquarelle beitragen. Zudem wird zumindest in zwei der ersten vier Beiträge der Bezug zum Trachtenkatalog gesucht und somit der rote Faden aufgenommen. Zahlreiche biographische Beispiele machen die Ausführungen zu den gesellschaftlichen Gruppen sehr anschaulich. Jan Ulrich Keupps Expertise zu den Kostümfiguren überzeugt durch Fachkenntnis und nachvollziehbare Argumente. Zu fragen wäre, ob die das Buch beschließende Kurzzusammenfassung zu Inhalt und mutmaßlicher Provenienz der Handschrift nicht besser an den Buchanfang gepasst hätte, um die in den Beiträgen getroffenen Aussagen besser einordnen zu können. Insgesamt ist es Kurt Andermann nicht nur gelungen, die Speyrer Trachtenbilder „einem größeren Kreis von Interessenten zugänglich und bekannt zu machen“, was er als sein „besonderes Anliegen“ bezeichnet, sondern sie darüber hinaus verständlich zu vermitteln. Der Sammelband nimmt den Leser hinein in die Stadt Speyer um 1600 und liefert gleichzeitig neue Erkenntnisse zu einem bisher unbekannten kulturgeschichtlichen Zeugnis der Domstadt. Anke Keller

Nürnberg

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A LEXANDER K ÄSTNER , G ERD S CHWERHOFF (H G .): Göttlicher Zorn und menschliches Maß. Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften (= Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 28), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2013, 218 S., (ISBN 978-3-86764-404-4), 29,00 EUR. Wie gingen die sich selbst regelmäßig als homogene Sakralgemeinschaften stilisierenden Stadtgesellschaften des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit mit religiösen Abweichlern und deviantem religiösen Verhalten um? Diese Frage diskutiert der vorliegende, kompakte Sammelband. Er dokumentiert damit Teilergebnisse des Projekts „Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit“, das im Rahmen des im Juni 2014 ausgelaufenen Dresdner Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ von Gerd Schwerhoff geleitet wurde. Wir haben es hier also nicht mit einem Tagungssammelsurium, sondern mit den Beiträgen einer über längere Zeit zusammen arbeitenden Projektgruppe zu tun. Das trägt wohltuend zur Kohärenz des Bandes bei. Die größte Leistung kommt in dieser Hinsicht aber der ausführlichen Einleitung der beiden Herausgeber zu, die das Forschungsfeld religiöser Devianz in Stadtgemeinschaften des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit systematisch kartieren und die folgenden Fallstudien auf dieser Forschungslandkarte verorten. Diese Fallstudien sind sechs an der Zahl: zwei Querschnittstudien, die ein etwas weitwinkligeres Objektiv auf ihre Fragestellung richten, sowie vier Mikrostudien, die beschränktere Räume und Zeit-Räume in den Blick nehmen, um exemplarisch Perspektiven auf das Phänomen zu beschreiben. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie grosso modo obrigkeitliches Handeln zum Ausgangspunkt nehmen und nach den Zuschreibungen von religiöser Devianz sowie den Strategien des Umgangs mit derselben fragen. Jenseits dessen kann man einen Unterschied zwischen jenen Studien machen, die eher Werkstattcharakter tragen, wohl also Qualifikationsarbeiten dokumentieren, die im Rahmen des Projektes entstanden, und solchen, die eher abgeschlossene Kleinanalysen vorlegen. Deutlich den Charakter von – deswegen nicht weniger lesenswerten – Werkstattberichten tragen etwa die beiden Querschnittsstudien, die in der Materialdurchdringung noch eher am Anfang zu stehen scheinen: Claudius Sebastian Frenzel, der die Ulmer Policey-Gesetzgebung des 16. und frühen 17. Jahrhunderts (bewusst, vielleicht auch notwendiger-, aber jedenfalls bedauerlicherweise) nur an einem Bruchteil der Überlieferung untersucht, und Annette Scherer, die nach der Beurteilung religiöser Devianz in Nürnberger Strafgutachten zu Beginn des 17. Jahrhunderts fragt und dabei gerade einmal neun der deutlich über fünfhundert zur Verfügung stehenden Gutachten näher analysiert. Beide können überzeugend aufzeigen, welches Potenzial in dem jeweils anvisierten Quellenkorpus steckt – man wird aber gespannt sein dürfen, wie es damit weitergeht. Auch in Tim Deubels Auseinandersetzung mit dem Basler Bandweber Antoine Lescaille und dessen Ansichten über die guten Werke, die zu einer ausufernden Debatte mit zeitgenössischen Theologen führten, scheint der letzte Punkt noch nicht erreicht: Die Rekonstruktion des Falles gelingt ihm sehr anschaulich, die Einbettung in das größere Forschungsprogramm des Projekts aber bleibt noch vage. Einleuchtender gelingt das Alexander Kästner in seinem Beitrag über den Leipziger Essighändler Andreas Meister und dessen Denunziation als religiöser Abweichler im Jahre 1640. In dichter Rekonstruktion kann man die nachbarschaftlichen Konflikte, die zu Meisters Denunziation führten, und die Eigendynamik der nun einsetzenden obrigkeitlichen Schritte nachvollziehen. Die Rolle sozialer Nahbeziehungen bei der

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Entwicklung, ja man kann fast sagen: der Aushandlung von Häresie- und Lästervorwürfen illustriert auch der Beitrag von Eric Piltz. Anhand zweier Einzelfälle aus dem Antwerpen des 16. Jahrhunderts zeigt er, wie soziale Einbindungen zur „Entdramatisierung“ ebenso wie zur „Eskalation“ beitragen konnten. Dass das aber durchaus auch auf obrigkeitlicher Ebene funktionierte, zeigt die spannende Studie von Franziska Neumann, die nachzeichnet, wie sich das – seit dem 17. Jahrhundert rückblickend festgeschriebene – „labeling“ des Schneeberger Predigers Georg Amandus als Schüler Karlstadts überhaupt erst aus dem Widerspiel unterschiedlicher Devianzkonzepte herausschälte. Hier bereitete die besondere politische Situation als albertinisch-ernestisches Kondominat eine spannungsreiche Grundlage für ausführliche Debatten um die Bewertung des Predigers. Summa summarum: Ein Band, der viele spannende Potenziale und Fragen in illustrativen Einzelstudien aufzeigt und diese – vor allem auch dank der klar strukturierten Einleitung – in eine gut verzahnte Passform zu bringen weiß. Also: sicher nicht abschließend – aber im besten Sinne anregend. Hiram Kümper

Mannheim

A NDREAS F LURSCHÜTZ DA C RUZ: Zwischen Füchsen und Wölfen. Konfession, Klientel und Konflikte in der fränkischen Reichsritterschaft nach dem Westfälischen Frieden (= Konflikte und Kultur. Historische Perspektiven 29), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2014, 460 S., 20 farb. Abb., (ISBN 978-3-86764-504-1), 69,00 EUR. For the period from the late Middle Ages to the beginning of the Thirty Years’ War, historians have been interested in Franconian imperial knights and their relationship with the prince-bishoprics of Würzburg and Bamberg. This interest has been driven by their unique relationship in the Reformation era, challenging notions of confessionalization. Andreas Flurschütz da Cruz’s book takes up this story for the period after the Thirty Years’ War by concentrating on the Fuchs and Wolf families, whose destinies were intertwined until the eighteenth century. The Fuchs family with its different lines and centers of lordship belonged to the imperial knighthood since the beginning of the organization and, not unusual for imperial knights, became mostly Protestant while also producing some Catholic members. Two family members became prince-bishops of Bamberg: Georg IV Fuchs von Rügheim (1556–1561) and Johann Georg II Fuchs von Dornheim (1623–1633). The Wolf von Wolfsthal family, by contrast, originally was a patrician family from Nuremberg. For his service, Emperor Maximilian I ennobled Heinrich Wolf in 1501. The family already owned the castle Wolfstal and through a fictive genealogy, which still fools some modern historians, styled themselves Wolf von Wolfsthal of supposedly Swabian origins. Closer to their real home in Nuremberg, they also bought the castle Burgfarrnbach. Despite the family’s acceptance into the imperial knights, it ran into problems in the early seventeenth century. It had to sell the castle in Burgfarrnbach and a few years later faced extinction. The only male heir of the family was the twelve-year-old Johann II Wolf von Wolfsthal. Johann married Amalia Magdalena Fuchs in 1625, but he was so poor that he lived with her in the Fuchs family castle. The Thirty Years’ War changed his fortunes: He converted to Catholicism in 1629 and fought on the imperial side, meeting Catholics who would later be important for him in the Prince-Bishopric of Bamberg and at the

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imperial court in Vienna. He took advantage of these contacts to become one of the most powerful Franconian imperial knights after the war. The alliance with the Fuchs family was short-lived because of the early death of his wife and the lack of issue, but in 1650, Johann set his eyes on the Fuchs family’s estates Westheim and Eschenau because they served as security for an old debt. Johann went to see the bishop about the money the Fuchs family owed him. Johann Karl Fuchs did not respond to two summonses, the first of which only gave him two days’ notice. When Fuchs failed to attend a meeting in October 1651, the bishop granted the fief to the Wolf von Wolfsthals. There was some sharp dealing going on here: Johann had excellent ties to the Prince-Bishopric of Bamberg, and the bishop wanted to reward his perhaps most important courtier. Furthermore, Westheim and Eschenau were situated in an area with a high concentration of Protestants, and the bishop’s actions can also be interpreted as a Counter-Reformation policy. The Fuchs family was broke, Protestant, and despite being an established imperial knight family, found itself isolated because it had fought on the side of Sweden during the Thirty Years’ War. Like other Protestant families they concentrated on the administration of their estates and did not cultivate ties with Bamberg or Würzburg. This changed with the Protestant widow Maria Amalia Fuchs in the late seventeenth century. She contacted Bamberg for a loan. A canon, Johann Gottfried von Guttenberg, helped her financially and became the protector of the family. An important marriage between the Protestant Fuchs and the Catholic Guttenberg families helped seal the alliance with the understanding that the children would be raised Catholic. When Johann Gottfried von Guttenberg was elected prince-bishop of Würzburg in 1684, the widow’s Protestant son Christoph Ernst became his most important official. Christoph Ernst married into the influential noble family Greiffenclau and continued to serve the next prince-bishop of Würzburg, Johann Philipp von Greiffenclau. As a Protestant, Christoph Ernst Fuchs also was a member of the imperial aulic council but later converted to Catholicism. After Christoph Ernst’s death, his nephew came under the guidance of the Catholic Dornheim line of the family, was raised Catholic, and through inheritance unified the Fuchs lands in his person. Johann II Wolf von Wolfsthal’s success was continued by his son. Philipp Gaston Wolf von Wolfsthal married a niece of the prince-bishop of Bamberg in 1668 and continued his father’s role as one of Bamberg’s most important officials. But by the end of the seventeenth century, his contacts with Bamberg weakened because the prince-bishop of Bamberg counted himself in the Guttenberg camp. Philipp Gaston’s son turned out to be non-entity; through family influence, he married a member from an important Austrian family and was appointed to the imperial aulic council but died without issue. In a strange move, Philipp Gaston adopted a Schönborn as his way to continue his family after his death. The strategy of close association with local prince-bishoprics was imitated by the Protestant Fuchs family under the leadership of the widow Maria Amalia. The Fuchs became more successful than the Wolf von Wolfthals, even recovering the fief of Westheim and Eschenau by 1700. The powerful Lothar Franz von Schönborn counted Philipp Gaston among his clientele and supported his efforts to keep his lands intact against the Fuchs family, even bringing the issue before the imperial diet. But the Fuchs family prevailed because of its party’s closer ties to the emperor and the loss of Philipp Gaston’s influence in Bamberg. The prince-bishop of Würzburg Johann Gottfried von Guttenberg and his

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successor von Greiffenclau were allies of the emperor and opposed the Schönborn camp, which took a more independent position and challenged imperial policies. The competition between the Fuchs and Wolf von Wolfsthal families played out in a larger competition between the Schönborns and their opponents. The Peace of Westphalia had supposedly resolved the issue of the ius reformandi in favor of the imperial knights, helping to reestablish the strong alliance between them and the imperial church. But this study demonstrates that prince-bishops still interfered in the religious life on the imperial knights’ estates. Interestingly enough, the heterogeneous nature of imperial knight religion still comes into play in Catholic prince-bishoprics during the seventeenth century. Flurschütz da Cruz is at cross purposes here: He takes pains to emphasize the importance of Catholicism, and of course he is right, but the Protestant Christoph Ernst Fuchs and his importance as an official in Würzburg in the late seventeenth century demonstrates that for the imperial knights, status and family still played significant roles along with religion. The imperial knights fiercely guarded control of certain important prince-bishoprics in the Empire for this very reason. Within these aristocratic territories, they had opportunities for employment and influence. The author emphasizes the importance of patronage for an imperial knight. However, he overemphasizes the Fuchs family’s dilemma, arguing that it faced poverty for its Protestantism and lack of contacts to local prince-bishoprics. There were also plenty of Protestant princes who sought noble officials. Though he mostly leaves out the imperial knightly organization from his narrative, he is correct in assessing the alliance with the imperial church as integral to the knights, whether Protestant or Catholic. It turns out, however, that it was less through the leadership of the Schönborns than in competition with them, which is a major finding of this book. The interests of imperial knights and the prince-bishops were thought to be preserved in a system, led by the Schönborns, based on the exclusivity of the imperial knights in the imperial church. Flurschütz da Cruz demonstrates how the knights were divided into different camps, with the Schönborns not providing the cohesion that conventional wisdom would suggest. The author also presents new research on patronage practices in a prince-bishopric. He demonstrates in the case of the Wolf von Wolfsthal family the success that an outlier family could have among the imperial knights. The dispute over Westheim and Eschenau sheds light on the administration of fiefs in Bamberg, which is not even well researched for the sixteenth century, and shows how the parties involved used the imperial courts to resolve their problems. The dispute over Westheim and Eschenau is odd, but more research is needed to assess how the administration of fiefs functioned and whether these anomalies were a constant problem. It would also be worthwhile to look at the knightly organization for its views on granting fiefs. In any case, the imperial knights had some of the most stringent notions of lineage in Europe. These kinship ties maintained their dominance in a cathedral chapter but proved weaker in regulating their property relations, which is a major reason for the construction of kinship in the first place. More than contingency based on practice is at play here, but a flaw in the alliance between prince-bishopric and imperial knights. Whereas research abounds on the imperial knights for the preceding Reformation era, Flurschütz da Cruz finds himself in a no-man’s land for the seventeenth century due to the lack of research. The dispute between the Fuchs and Wolf von Wolfsthal families allows

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him to touch on central issues for imperial knights in the seventeenth century, especially their interaction with the prince-bishoprics, which were major centers of knightly activity, and the imperial court in Vienna. Furthermore, he demonstrates the importance of the imperial chamber court and the imperial aulic council for this social group. A study of the interaction between imperial knights and the prince-bishoprics in the seventeenth century has been sorely missing, and Flurschütz’s book addresses this challenging task in an impressive manner, providing exciting insights into the world of the imperial knights. Richard J. Ninness

New York

M ATTHIAS BÄHR: Die Sprache der Zeugen. Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693–1806) (= Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 26), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2012, 316 S., (ISBN 978-3867643979), 39,00 EUR. Die 2011 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommene und für die Drucklegung geringfügig überarbeitete Studie setzt sich eingehend mit Untertanenprozessen auseinander, die zwischen 1693 und 1806 vor dem Reichskammergericht verhandelt wurden. Ziel des Autors ist es, die ‚Sprachen der Zeugen‘ auf Grundlage von Zeugenverhörprotokollen zu analysieren. Sprache wird hierbei mit der Cambridge School als ‚ways of talking‘ begriffen, „innerhalb derer sich die einzelnen Sprecher bewegen konnten“ (19). Über den Quellenwert der Zeugenverhöre, die die Forschung bereits verschiedentlich, aber keineswegs hinlänglich bearbeitet hat, reflektiert der Autor im ersten der insgesamt vier Kapitel. Deutlich wird nicht nur, dass die Parteien teils erheblichen Einfluss auf die Durchführung eines Verhöres hatten, indem sie die Fragen formulierten, Zeugen benannten oder das fertige Verhörprotokoll bei Gericht einreichten. Auf Grundlage von drei Fassungen eines Verhörs kann der Autor zudem zeigen, dass sich die juristische Überformung der Protokolle in Grenzen hielt. Die ‚Sprache‘ des Gemeinen Mannes lässt sich also durchaus aus den Quellen herausarbeiten. Dies unterstreicht Bähr in den drei Folgekapiteln, die jeweils ein Fallbeispiel behandeln, wobei weitere Prozesse zum Vergleich mit einbezogen werden. Beim ersten Beispiel, das wie die beiden anderen erfreulich intensiv analysiert wird (85–144) – hierdurch eröffnet sich eine erkenntnisreiche Nahperspektive –, steht eine Auseinandersetzung zwischen dem Dorf Berkach und den angrenzenden Herrschaften in Franken im Mittelpunkt. Der Streit, der nach dem Zusammenschluss der Gemeinde zu einem sogenannten Prozesssyndikat vor das Reichskammergericht gelangte, kreiste vordergründig um die Steuer auf Bier und andere Lebensmittel. Im Kern ging es jedoch um die Frage, wer die Herrschaft über das Dorf besaß. Die Berkacher beanspruchten hierbei unter Verweis auf eine eiserne Hand, die die Freiheit symbolisierte, reichsunmittelbar zu sein. Die Auseinandersetzung, die zwischen 1698 und 1702 das Reichskammergericht beschäftigte, endete ohne Urteil. Im Einklang mit der Forschung der letzten Jahrzehnte wird hier jedoch zu Recht nicht von einem Misserfolg gesprochen. Vielmehr gelang es der Gemeinde, den steuerlichen Zugriff auf ihre Schankrechte abzuwehren und eine gewisse kommunale Autonomie zu wahren. Das zweite Fallbeispiel (145–229) analysiert eine Auseinandersetzung im reformierten Fürstentum Nassau-Siegen, bei der sich nicht nur eine einzelne Gemeinde, sondern wohl der gesamte Untertanenverband zu einem Prozesssyndikat zusammenschloss. Beeindru-

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ckende 900 Untertanen unterschrieben zumeist eigenhändig die Prozessvollmacht der Deputierten. Bei dieser Auseinandersetzung von 1724 bis 1733, die gleichfalls um Steuern kreiste, stand argumentativ der topische Verweis auf die bedrohte Nahrung des Landes im Zentrum. Das dritte und letzte Fallbeispiel (231–280) von 1786 bis 1796 behandelt einen Streit um eine Allmende des im Westen des Hochstifts Speyer gelegenen Dorfes Esthal. Die von der Gemeinde eingebrachten fingierten Beweise, wie ein Siegel und eine Axt, können hierbei als – letztendlich gescheiteter – Versuch begriffen werden, sich einer juristisch-gelehrten Beweisführung zu bedienen, um die Verfügungsgewalt über einen Gemeindewald zu erlangen. Allen diesen Beispielen gemeinsam ist, dass es bei den Zeugenverhören weniger darum ging, einen belastbaren Zeugenbeweis vorzubringen, obgleich natürlich fingierte Beweise und das vom Autor angeführte (21, 239) Bemühen der Gemeinde um Archivalien in diesem Sinne zu deuten sind. Davon unberührt ist, dass Zeugenverhöre vor allem darauf zielten, „den Prozessgegner gewissermaßen ‚politisch‘ ins Unrecht und die Gemeinde ins Recht zu setzen“ (19). Das Reichskammergericht bot damit mittelbar über die Verhöre eine Bühne für die ländliche Gesellschaft, um (politische) Interessen zu artikulieren und um Ansprüche durch deren schriftliche Fixierung im Umfeld eines Gerichtsverfahrens zu autorisieren. Für den „‚prozessualen Widerstand‘ bäuerlicher Gemeinden“ (284) entscheidend waren hierbei wiederkehrende Argumentationsstrategien, die die Konflikte diskursiv strukturierten. Neben der alltäglichen Natur- und Raumerfahrung, die gerade von (angeblich) sehr alten Gemeindemitgliedern argumentativ eingebracht wurde, lässt sich eine ‚Sprache der Freiheit‘ feststellen. Mit ihr beanspruchten die Untertanen eine Nähe zum Kaiser, die vor den Ansprüchen lokaler Herrschaftsträger schützen sollte. Dies gelang jedoch im 18. Jahrhundert immer weniger, da Freiheit nur noch bedingt als vom Kaiser ‚gestiftete‘ Freiheit gelten konnte, sondern vielmehr im Gegensatz zur Leibeigenschaft verstanden wurde. Und auch für die ‚Sprache der Nahrung‘ lässt sich feststellen, dass zwar mit der ‚gerechten Nahrung‘ die bäuerlichen Untertanen schon sehr lange argumentierten. Dieses Argument konnte so auch im vom Kameralismus geprägten Untersuchungszeitraum benutzt werden, um von einer bedrohten ‚Nützlichkeit‘ zu sprechen. Das ‚Nahrungsargument‘ wurde jedoch dadurch entkräftet, dass „ein begrifflich neu gefasstes Eigentum mehr und mehr an Raum [gewann], für das der Willkürgedanke zentral war und in dem es keine Ober- und Untereigentümer mehr gab, die sich gegenseitig bestimmte Pflichten schuldeten“ (286). Die kompakte, sehr gut lesbare und methodisch überzeugende Studie nimmt also auch begriffsgeschichtliche Wandlungen in den Blick. Nicht zuletzt dadurch wird sie dem erhobenen Anspruch, dem „Gemeinen Mann auf die Spur zu kommen“ (34), gerecht. Lediglich eine tabellarische Übersicht über die untersuchten rund 40 erstinstanzlichen Untertanenprozesse sowie vielleicht sogar über die Verhörprotokolle – es sind „mehrere hundert“ (36) – vermisst der Rezensent. Alexander Denzler

Eichstätt-Ingolstadt

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M ARK H ÄBERLEIN (H G .): Bamberg im Zeitalter der Aufklärung und der Koalitionskriege (= Bamberger Historische Studien 12; Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 19), Bamberg: University of Bamberg Press 2014, 359 S., (ISBN 978-3-86309-218-4), 15,00 EUR. Während für etliche mindermächtige Glieder des Alten Reiches die Erforschung der geistesgeschichtlichen und reformpolitischen Entwicklungen des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ein Desiderat der Forschung bleibt, scheint auf den ersten Blick die sogenannte Katholische Aufklärung im Hochstift Bamberg eine terra cognita darzustellen: Schließlich stellen die reformerische Tätigkeit des Fürstbischofs Franz Ludwig von Erthal (reg. 1779–1795) sowie die daraus resultierenden Anpassungsleistungen nicht erst seit den biografischen Studien von Franz Xaver von Wegele (1878) und Friedrich Leitschuh (1894) eine aus verschiedenen Blickwinkeln immer wieder ausgeleuchtete Facette obrigkeitlicher Reformpolitik dar. Dennoch gelingt es dem von Mark Häberlein herausgegebenen Sammelband, dem bisher bekannten Bild zahlreiche neue Schattierungen hinzuzufügen. Dies liegt zum einen an dem im Vorwort des Herausgebers (7–10) erläuterten methodischen Ansatz, aufbauend auf den Studien von Georg Seiderer und Anderen zur „Gelehrtenrepublik“ in Franken, nicht ein weiteres Mal Franz Ludwig von Erthal als letztinstanzlichen Entscheidungsträger in den Blick zu nehmen. Stattdessen werden diejenigen Publizisten und höheren Staatsdiener in das Zentrum der Betrachtung gerückt, die das vom Fürstbischof geschaffene Klima nutzten, um ihre Reformvorstellungen zu artikulieren und umzusetzen. Zum anderen zeichnet die im zu besprechenden Band versammelten Aufsätze aus, dass diese intensiv die ungedruckten Quellen, insbesondere diejenigen des Stadt-, des Staats- sowie des Diözesanarchivs Bamberg und des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Abt. Westfalen zu Rate gezogen haben und sich nicht ausschließlich auf Flugschriften und gedruckte Traktate kaprizieren. Schließlich sagen Letztere vielfach mehr über Reformintentionen als über deren Wirklichkeit aus. Dies zeigt der vorliegende Sammelband am Beispiel der von Ludwig von Erthal errichteten, aber nicht nachhaltig finanzierten Mädchenschulen besonders deutlich. Der erste Beitrag des Sammelbandes stammt aus der Feder von Heinrich Lang (11–70), der anhand der Bestallungspolitik unter Franz Ludwig von Erthal und seinem Vorgänger Adam Friedrich von Seinsheim (reg. 1757–1779) herausarbeitet, wie die beiden Bamberger Fürstbischöfe gezielt Fachpersonal für die Umsetzung einer auf diesem Wege professionalisierten und verwissenschaftlichten Reformpolitik anwarben. Dieses hatte vielfach an den auswärtigen Reformuniversitäten in Halle, Göttingen und Jena studiert. Anhand der zeitgenössischen verfassungsrechtlichen und politischen Diskurse sowie der ökonomischen Krisen skizziert Lang nicht nur den ereignisgeschichtlichen Hintergrund der Bamberger Reformbemühungen. Er behandelt auch die Problematik des Forschungsbegriffs der Katholischen Aufklärung und das Wirken, aber auch die Grenzen der damit beschriebenen Strömung im Hochstift Bamberg sowie konkrete Bereiche obrigkeitlicher Reformpolitik unter besonderer Berücksichtigung der Statistik. Vor dem Hintergrund der Debatte über die Lebens- und Reformfähigkeit oder -unfähigkeit der geistlichen Staaten vor der Herrschaftssäkularisation vertritt Lang einen Mittelweg zwischen den Thesen von der Unausweichlichkeit der Aufhebung einerseits und einer positiv verstandenen „intendierten Rückständigkeit“ andererseits (13 f.). Unbeantwortet bleibt dagegen die zentrale

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Frage, ob wirklich jede der dargestellten „Modernisierungs-“ und Anpassungsleistungen im Hochstift Bamberg im „Zeitalter der Aufklärung“ auf aufklärerischem Gedankengut fußte oder zum Beispiel die Verwaltungsumorganisation nicht doch in allererster Linie auf reale Sachzwänge reagierte. Schließlich konstatiert Heinrich Lang in seiner lesenswerten Studie selbst recht allgemein: „Die naturwissenschaftlich inspirierte Theoriebildung erfuhr ihre Praxisanwendung in erster Linie durch die Akademisierung von Bildungsund Ausbildungswegen und durch Reformen, die entsprechend geschultes Personal in die Zentralverwaltung brachten“ (34). Mark Häberlein (71–131) verfolgt mit der Vermittlung und dem Gebrauch von lebenden Fremdsprachen in der mit zahlreichen Bildungseinrichtungen ausgestatteten Residenzstadt Bamberg einen interessanten Aspekt der Wissenschafts-, Migrations- und Gesellschaftsgeschichte der mainfränkische Metropole mit zeitlichem Schwerpunkt im 18. Jahrhundert. Der Aufsatz von Teresa Novy (133–215) ist zugleich die gestraffte und überarbeitete Diplomarbeit der Verfasserin. Diese widmet sich der Planung, Umsetzung und Nachwirkung der Reform der Mädchenbildung in der Stadt Bamberg, die als besonderes Anliegen Franz Ludwig von Erthals in der Errichtung eigener Mädchenschulen ihren Ausdruck fand und „Momente eines modernen Schulsystems“ (134) in sich trug. Einen Beitrag zur Kriminal- und Sozialgeschichte des Hochstifts Bamberg im ausgehenden 18. Jahrhundert sowie zur Dalbergforschung im weiteren Sinne liefert Thomas Ruppenstein (217–269), der dabei aus den Ergebnissen seines Dissertationsprojekts schöpft: Er befasst sich mit dem Fall des Domkapitulars Adolph Franz von Dalberg (1730–1794), dem nicht nur die Anstiftung zur Tötung seines vormaligen Bediensteten, sondern auch sexuelle Beziehungen zu seiner einstigen Haushälterin zur Last gelegt wurden. Anhand der Vita des illegitimen Sohnes Dalbergs zeigt Ruppenstein die problematische wirtschaftliche und rechtliche Stellung der unehelichen Klerikerkinder auf, die der Autor im untersuchten Fallbeispiel als „unerwünschte Generation“ (253) charakterisiert. Matthias Winkler (271–347) stellt in seinem Beitrag die Ergebnisse eines vom Stadtarchiv Bamberg geförderten Forschungsprojekts zur Geschichte Bambergs während der Koalitionskriege in den Jahren 1792 bis 1815 vor. Anhand der Versorgung kranker und verwundeter Soldaten, der vom Hochstift eingeforderten Requisitionen und Kontributionen, der Einquartierung fremder Truppen und am Rande auch der durch die militärischen Zwänge erforderlichen behördlichen Umorganisationen und Verwaltungsmaßnahmen legt Winkler eine detailreiche Analyse der sozialen, ökonomischen, politischen und administrativen Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Spätphase des Hochstifts und zu Beginn der bayerischen Herrschaft vor. Ein Ausblick auf die Problematik der bis weit ins 19. Jahrhundert verhandelten Frage der Kriegsschädenliquidation ab 1814/15 rundet die Darstellung ab. Mit dieser nicht nur für die Bamberger Spitalgeschichte zentralen Studie schließt Winkler eine wichtige Forschungslücke. Ein Abkürzungsverzeichnis sowie ein Personenregister runden den Sammelband ab, der nicht nur für die oberfränkische Regionalgeschichtsforschung, sondern aufgrund seiner Detailfülle auch für weiterreichende militär-, sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Arbeiten von nachhaltigem Wert ist. Michael Puchta

Gauting

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L INA H ÖRL: Handwerk in Bamberg. Strukturen, Praktiken und Interaktionen in Stadt und Hochstift (1650–1800) (= Stadt und Region in der Vormoderne 2; Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bamberg 20), Würzburg: Ergon-Verlag 2015, 409 S., (ISBN 978-3-95650075-6), 58,00 EUR. Angesichts der Vielfalt der Neuorientierungen, Trends und Themen in der Geschichtswissenschaft tut es gut, ein handwerklich gründliches und bodenständiges Buch in der Hand zu halten, das sich einer Thematik zuwendet, die nicht so recht in all die ‚turns‘ der wissenschaftlichen Postmoderne zu passen scheint. Sich der Bamberger Zunft- und Herrschaftsgeschichte von 1650 bis zum Ende des Alten Reiches unter den Aspekten von Strukturen, Praktiken und Interaktionen zwischen Stadt und Land zuzuwenden, ist das Ziel der vorliegenden Dissertation. Was sich freilich so leicht umrissen im Titel liest, hat es tatsächlich in sich, weil diese Gesichtspunkte nicht im Einzelnen betrachtet werden, sondern in ihrer Verflechtung sowie in Kombination von Herrschafts- und Zunftgeschichte. Vorgeführt wird dieser multifunktionale Ansatz anhand der Residenzstadt und des Hochstifts Bamberg, unterschiedlicher Zünfte in Stadt und Land sowie aus makro- und mikrogeschichtlicher Perspektive. Nach einem stringent formulierten Kapitel zu den Rahmenbedingungen im Untersuchungsraum legt die Verfasserin den Grund für ihren Ansatz zunächst in der Erfassung des gesamten gewerblichen Spektrums in der Residenzstadt Bamberg, das sie quantitativ anhand der Auswertung der Bamberger Bürgerbücher über 200 Jahre ermittelt – hier quellenbedingt freilich anhand der Aufnahme von Neubürgern. Dadurch ergibt sich zwar ‚nur‘ ein Ausschnitt des Gesamtgewerbes, dafür aber ein sehr konkreter: Zwei Drittel aller Erwerbstätigen betrieben ein Handwerk, worunter wiederum die Beschäftigten in Textil-, Bekleidungs- und Ausstattungsberufen mit fast einem Viertel das Feld anführten. Dies unterscheidet Bamberg nicht grundsätzlich von anderen Städten; lediglich das Fehlen eines dominanten Leitgewerbes fällt ins Auge. Durch die Auswertung der Neubürgeraufnahmen, deren Zahlen über den Untersuchungszeitraum schwanken, lassen sich Regelungsmaßnahmen durch die Obrigkeit mittels der Bürgerrechtsvergabe festmachen, die eine „bewusste Zuwanderungs- und Wirtschaftspolitik der Fürstbischöfe“ nahelegen (90). Dem Zunfthandwerk als zweitem wesentlichen Baustein der Arbeit nähert sich die Autorin durch die systematische Aufnahme der knapp 500 Handwerksordnungen, die vom 15. bis zum 18. Jahrhundert für Stadt und Hochstift Bamberg erlassen wurden, wobei sie sich nur teilweise auf bereits in der Literatur analysierte Ordnungen stützen kann. Im Ergebnis zeigt sich eine Zweiteilung der Gründungen, deren erste Welle auf den städtischen Bereich und das 15. Jahrhundert entfällt, während ab dem 16. Jahrhundert die ländlichen Zunftgründungen dominieren. Die Hochzeit der Zunftgründungen für beide Räume entfiel auf das letzte Drittel des 17. Jahrhundert: Die Zahl der städtischen Inkorporationen für Spezial- und Veredelungsberufe stieg deutlich an, das Land dagegen unterwarf sich den Zunftnormen flächendeckend in den grundversorgenden Massenberufen. Ferner lassen sich für Stadt und Land verschiedene Organisationsprinzipien feststellen, denn die Stadtzünfte deckten den urbanen Raum ab, wogegen sich im Hochstift entweder die Ämter oder lokale Spezialisierungen als Zunftraum anboten. Waren zu wenige Handwerker auf dem Land ansässig, wurde auf die Organisation einer Mehrfachzunft zurückgegriffen. Aus diesen Entwicklungen leitet die Verfasserin ab, dass für Stadt und Land „der Erlass von

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Handwerksordnungen [. . . ] ein gängiges Mittel der Obrigkeit zur gewerblichen Lenkung und normativen Strukturierung“ war (122) – ein Ergebnis, das nicht nur dem angeblichen Niedergang der Zünfte deutlich widerspricht, sondern wiederum das wirtschaftliche Interesse der Herrschaftsträger belegt. Nach einer quantitativen Auswertung von Handwerkerlisten in der Residenzstadt Bamberg und damit dem Abschluss der Makroperspektive wird die mikrogeschichtliche Ebene durch die Analyse von sechs Beispielzünften – denen der Maurer/Steinhauer, der Bäcker, Schuster, Kupferschmiede, Seiler und Glaser – betreten. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Zunftformen und den Meisterrechtsverleihungen werden fokussiert, um über die normativen Vorgaben hinweg die tatsächlichen Verfahrensweisen und damit die Durchlässigkeit respektive die Flexibilität des Umgangs mit den Normen durch die Meisterrechtsanwärter zu analysieren. Dabei waren die Kategorien ‚Nahrung‘, ‚Gemeiner Nutzen‘ und ‚Bürgerrecht‘ aus Sicht der Kandidaten in vielfältiger Hinsicht das erfolgversprechendste Argumentationsmuster. Im letzten Analysekapitel werden arbeitsmarkt- und wettbewerbsregulierende Normen einerseits aus Sicht der Zünfte und der Obrigkeit, andererseits aus der Perspektive nichtzünftischer Konkurrenten und Auftraggeber untersucht. Dass die Zünfte ihre Privilegien zu schützen gedachten und dies mittels der obrigkeitlich festgeschriebenen Regulierungsmaßnahmen durchzusetzen versuchten, hinderte die ‚irregulären‘ Konkurrenten nicht, gleichfalls mittels Normen, Maßgaben und Sonderrechten ihre eigenen Vorstellungen von ‚Gemeinnutz‘ und ‚Nahrung‘ zu formulieren. In den daraus sich ergebenden Differenzen fungierte die Obrigkeit nicht satzungsgebend oder regulierend, sondern streitschlichtend. Die letzten beiden Kapitel erarbeiten qualitativ die eingangs angekündigte Kombination von Zunft- und Herrschaftsgeschichte, weil sie erkennen lassen, dass sich Zunft und Obrigkeit nicht nur in einem immer wieder neu auszuhandelnden Kräfteverhältnis bewegen, sondern auch, dass sich beide Institutionen in einem sich stets im Fluss befindlichen Kommunikationsprozess auf allen Ebenen befinden. Deswegen kann es auch nicht allein um die Normgebung gehen, die durchaus durch Interdependenzen von Obrigkeit und Zunft zustande kam; vielmehr geht es um den sich immer wieder ändernden, zum jeweiligen Vorteil genutzten Umgang mit Normen (361). Dieses als Quintessenz der Dissertation gefasste Ergebnis führt zum Anfang zurück, denn nichts ist, wie es scheint. Hinter dem profan anmutenden Titel „Handwerk in Bamberg“ verbirgt sich eine ganze Reihe von klugen Zusammenschauen neuerer Konzepte von Zunft- und Herrschaftsgeschichte. In allen Kapiteln versteht es die Autorin, die Ausgangspositionen klar zu vermitteln und diese anschließend anhand der Quellen und der neuesten Forschungsliteratur zu hinterfragen und neu zu interpretieren. Im Ergebnis liegt damit nicht nur eine längst überfällige Handwerks- und Herrschaftsgeschichte der Residenzstadt und des Hochstifts Bamberg vor, sondern ein multiperspektivisches Konzept, das in der Anwendung auch auf andere Untersuchungsräume Möglichkeiten für vergleichende Studien bietet. Schließlich und endlich belegen die klare Sprache und die konzise Argumentation der Verfasserin, die immer wieder zum Kern ihrer Fragestellungen zurückkehrt, dass auch geschichtswissenschaftliche Arbeiten lesbar und mit Verve geschrieben werden können, ohne ihren wissenschaftlichen Anspruch verlieren zu müssen. Insgesamt ist es der Autorin

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gelungen, eine sehr bedeutsame Arbeit vorzulegen, der eine breite Rezeption – auch die sprachliche Gestaltung betreffend – zu wünschen ist! Anke Sczesny

Augsburg

H OLGER G RÄF, A NDREAS H EDWIG , A NNEGRET W ENZ -H AUBFLEISCH (H G .): Die „Hessians“ im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776–1783). Neue Quellen, neue Medien, neue Forschungen (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 80), Marburg: Selbstverlag der Historischen Kommission Darmstadt und der Historischen Kommission Hessen 2014, XVI, 311 S., 28 Abb., 4 Tab., (ISBN 978-3942225-27-4), 28,00 EUR. Das wissenschaftliche und literarische Interesse am Einsatz deutschstämmiger Subsidientruppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ist seit dem 18. Jahrhundert ungebrochen, wobei der vermeintliche „Verkauf“ hessischer Landeskinder durch den scheinbar habgierigen Fürsten stets im Zentrum der Diskussion stand. Auf Basis der Auswertung neuer Quellen, die in der kürzlich vervollständigten Datenbank für die hessischen Truppen in Amerika, kurz HETRINA, gipfelte, vereint der Tagungsband aktuelle Forschungen zu diesem Thema und nimmt in einer reichhaltigen Rundumschau sowohl militär- als auch politikhistorische sowie kultur- und literaturwissenschaftliche Fragestellungen in den Blick. Der erste Abschnitt des Bandes, der den historischen Rahmen der Unternehmung behandelt, beginnt mit dem Beitrag von Philippe Rogger, der die aktuelle militärhistorische Diskussion um den Charakter frühneuzeitlicher Gewaltmärkte und Söldnerlandschaften aufgreift. Rogger stellt vor dem Hintergrund aktueller Forschungen die individuellen Motive für den Militärdienst den ökonomischen Dynamiken von Angebot und Nachfrage gegenüber und geht auf die finanzielle und politische Regulierung der Söldnermärkte ein, bevor er die Geographie des Söldnerhandels untersucht. Schließlich behandelt er die Diskussion um Zwangsrekrutierung contra Freiwilligkeit inklusive der ökonomischen Motivation der Hessen für den Kriegsdienst. Obwohl er das Selbstbild der (hessischen) Söldner unberücksichtigt lässt, bietet Roggers eine sehr gute Einleitung in einen Band, dessen erklärtes Ziel die Richtigstellung des verbreiteten Bildes vom gepressten Hessen darstellt. Eben diese Korrektur einer verbreiteten Fehlmeinung hat sich auch Christoph Kampmann zum Ziel gesetzt. Kampmann widmet sich dem Handel mit den Hessen, wobei er die These aufgreift, dass deren „Verkauf“ an die Engländer auf fürstlicher Gier und Genusssucht gefußt habe. Eingangs beschreibt er die reichsfürstliche Politik vor 1648 und betrachtet die Rolle der Hessen innerhalb der Söldnerarmeen des Dreißigjährigen Krieges. Anschließend erläutert er das Bedürfnis der Hessen nach Selbstständigkeit und die daraus resultierende Notwendigkeit einer großen stehenden Armee für die Positionierung innerhalb der Hierarchie der Reichsfürsten. In diesem Kontext geht Kampmann besonders auf die Gründe für die Unterstützung der landesfürstlichen Politik durch die Landstände ein und stellt abschließend fest, dass die Soldatenvermietung kein Bruch mit der Fürstentradition, wie Zeitgenossen und auch die Forschung gern behauptet haben, sondern das genaue Gegenteil gewesen sei. Weil es aber im Rahmen der hessischen Subsidienverträge zu einem Verlust der Handlungsfreiheit des Landesfürsten gekommen sei, habe diese

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Politik zur Sicherung der eigenen Machtposition schließlich versagt. Insgesamt bietet Kampmanns Aufsatz eine differenzierte Diskussion der eingangs erwähnten These des „Verkaufs“ der Hessen sowie eine ausführliche Widerlegung derselben aus obrigkeitlicher, d. h. landesherrlicher und landständischer Perspektive. Während Kampmann die Frage nach dem „warum“ der Subsidienverträge erörtert, konzentriert sich Mitherausgeber Holger Thomas Gräf auf das „wie“: Nach einem tabellarischen Überblick über die Subsidienverträge Hessen-Cassels in ihrer Gesamtheit bietet er ein kurzes Resümee der Beurteilung dieser Verträge in der historischen Forschung. Gräf beschreibt außerdem die Verträge im Detail und die hessischen Truppenstärken im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und zum Ausländeranteil. Abschließend setzt Gräf noch einmal zu einer Einordnung der Subsidiengeschäfte insgesamt an, indem er sowohl zeitgenössische Beurteilungen wiedergibt als auch zu einer eigenen Einschätzung der Verträge ansetzt. In Anbetracht der Tatsache, dass der Aufsatz einen vielseitigen Überblick über die Aspekte der Subsidienverträge bietet und die Auswirkungen der angesprochenen Militarisierung Hessens zusätzlich kurz anreißt, bildet Gräfs Studie eine sinnvolle und gute Ergänzung zum vorigen Essay Kampmanns. Im zweiten Teil geben Marco Ulm und Patrick Sturm einen Überblick über die Quellenlage, und zwar im Speziellen zu den Selbstzeugnissen hessischer Soldaten, während sich im dritten Abschnitt des Bandes Carmen Winkel, Stefan Aumann, Stephan Giersch und Johannes Koenig mit der Einbindung neuer Medien in die Erforschung der hessischen Subsidientruppen befassen. So dokumentiert Carmen Winkel den Umgang mit Datenmengen aus soziologischen Erhebungen innerhalb der deutschen und der US-amerikanischen Militärgeschichte, während Giersch und Koenig einen Einblick in die Relevanz der HETRINADatenbank und die Fischer-Datenbank für die Forschung bieten. Der vierte Teil des Bandes versammelt schließlich verschiedene militär-, kultur-, literatur- und kunsthistorische Untersuchungen des hessischen Amerikaeinsatzes. Stephan Huck gibt einen Einblick in sein langjähriges Forschungsprojekt zum Einsatz braunschweigischer Soldaten im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und bietet damit neben der hessischen eine weitere Perspektive auf den Einsatz von Subsidientruppen in Nordamerika. Huck behandelt wie Kampmann die Motive bei der Anwerbung der Truppen sowie die Gründe für den Eintritt in den Militärdienst. Abschließend stellt Ralf Pröve die Amerikabilder der Braunschweiger auf persönlicher und auf abstrakter politischer Ebene gegenüber. Die Ausführungen bieten keine neuen Erkenntnisse im Bereich der Motivforschung, ergänzen jedoch perspektivisch sehr gut Kampmanns Aufsatz und bieten zusätzlich einen interessanten Einblick in die Besonderheiten des Braunschweiger Werbesystems. Das Amerikabild der Soldaten greift auch Lena Haunert auf und analysiert verschiedene Aspekte desselben, wie religiösen Pluralismus, Erziehung, Ehe und Frömmigkeit sowie die Wahrnehmung des Krieges. Haunert bietet damit eine zwar auf die Darstellungen in Selbstzeugnissen beschränkte, aber gute Weiterführung von Hucks Ausführungen. Demgegenüber untersucht Christine Braun die Diskussion um den Einsatz von Subsidientruppen in der intellektuellen Öffentlichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts. Indem sie die These vom „Verkauf“ der Hessen kritisch aufgreift, setzt sie zu einer Darstellung der Befürworter der Subsidienpolitik an, erörtert den zeitgenössischen Diskurs und zeigt,

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welche besondere Rolle dem Amerikaeinsatz der Hessen in diesem Kontext beigemessen wurde und warum sich das Bild der „verkauften“ Hessen so lange halten konnte. Einen in der frühneuzeitlichen Militärgeschichte bisher vernachlässigten Aspekt behandelt Daniel Krebs in seiner Analyse des amerikanischen Umgangs mit hessischen Kriegsgefangenen. Ausführlich geht er auf Nutzen und Funktion der Gefangenen sowie deren Behandlung ein und schildert dabei auch das System der Schuldknechtschaft. Während sich Karl Murk einer Untersuchung der sozialen Verankerung von USA-Rückkehrern vor und nach ihrem dortigen Einsatz widmet, beschäftigen sich die letzten drei Aufsätze des Bandes mit der kulturellen Dimension des hessischen Amerikaaufenthalts. Christian Ottersbach stellt die Anlage des Wilhelmsbades in Hanau als Prestigeprojekt in den Kontext des Tagungsbandes, während Mark Häberlein den Erörterungen des zeitgenössischen, deutschen Diskurses das Bild der Hessen in der amerikanischen Kulturgeschichte im Rahmen einer historischen Gesamtschau gegenüberstellt. Den Abschluss des Bandes bildet Wynfrid Kriegleder mit einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung der Verarbeitung des hessischen Amerikaeinsatzes in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und schließt damit eine Sammlung aktueller Forschungen ab, deren Hauptaugenmerk auf der Revision der These von den vermeintlich „verkauften“ Hessen liegt. Dieselbe wird in dem vorliegenden Band in ihrer Gesamtheit beleuchtet und umfassend widerlegt, sodass diese Aufsatzsammlung nicht nur für Landes- oder Militärhistoriker interessant ist. Sara Petzold

Göttingen

L ENA H AUNERT: Einsatz in der Fremde? Das Amerikabild der deutschen Subsidientruppen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 168), Darmstadt/Marburg: Selbstverlag der Historischen Kommission Darmstadt und der Historischen Kommission Hessen 2014, VIII, 256 S., 23 sw-Abb., (ISBN 978-3-88443-323-2), 29,00 EUR. Die Erforschung der Geschichte der deutschen Hilfstruppen, die im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf britischer Seite gegen die nordamerikanischen „Rebellen“ kämpften, hat in den letzten Jahren durch Quellenpublikationen, Monographien und Sammelbände neue Impulse erhalten. Lena Haunert, die sich bereits durch die Mitarbeit an den Marburger Editionsprojekten zur Korrespondenz und den Tagebüchern des hessischen Adeligen Georg Ernst von und zu Gilsa sowie zum Tagebuch des Hanauer Jägers Philipp Jakob Hildebrandt Verdienste um dieses Forschungsfeld erworben hat, befasst sich in ihrer Dissertation mit der Wahrnehmung Amerikas durch Angehörige der deutschen Hilfstruppen. Die Arbeit, die ein umfangreiches Korpus ungedruckter und gedruckter Quellen auswertet, orientiert sich an aktuellen Konzepten der Selbstzeugnisforschung. Im Zentrum steht die Frage nach der „Differenzwahrnehmung“ (12) der deutschen Offiziere und Soldaten: Inwiefern nahmen sie Amerika als fremd bzw. andersartig wahr, und welche Faktoren beeinflussten diese Perzeption? Haunert gibt zunächst einen knappen Überblick über die historischen Rahmenbedingungen – die Verhältnisse in Nordamerika um 1776, die Subsidienverträge zwischen Großbritannien und deutschen Fürstenstaaten, den Verlauf des Krieges und den sozialen Hintergrund der Subsidientruppen – und legt in dem anschließenden kurzen Kapitel dar,

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welche Art von Kontakten zwischen deutschen Soldaten und Amerikanern bestanden. Demnach habe es vor 1776 relativ wenige Möglichkeiten gegeben, sich in den betroffenen Territorien über Amerika zu informieren; dementsprechend verfügten die Angehörigen der Subsidientruppen nur über geringe Vorkenntnisse. Anfangs bestanden zudem erhebliche Verständigungsschwierigkeiten, da die wenigsten Offiziere und Soldaten Englisch konnten (35 f.). Diese Sprachbarriere wurde im Verlauf des Krieges jedoch sukzessive überwunden, und mit zunehmender Dauer des Konflikts intensivierten sich die Interaktionen mit der nordamerikanischen Siedlerbevölkerung. Neben der Unterbringung von Soldaten in zivilen Haushalten trugen dazu insbesondere Situationen der Kriegsgefangenschaft bei. Die beiden Hauptkapitel der Studie widmen sich der „Wahrnehmung der Lebenswelt“ und der „Wahrnehmung des Unabhängigkeitskriegs“. Im ersteren Kapitel wählt Haunert einen primär regionalen Ansatz, indem sie die Perzeption Französisch-Kanadas (wo die Braunschweiger und Hanauer Regimenter im Sommer 1776 zuerst an Land gingen), Neuenglands und der mittelatlantischen Kolonien (wo sich das Kriegsgeschehen der Jahre 1776 bis 1778 konzentrierte) und der südlichen Kolonien (die seit 1778 in den Fokus der Auseinandersetzungen rückten) jeweils gesondert darstellt. Sie zeigt, dass die Eindrücke der Soldaten von den klimatischen Bedingungen ebenso beeinflusst waren wie von der Zusammensetzung der Bevölkerung, dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand und der Sozialstruktur. Während Kanada als ökonomisch wenig entwickelt angesehen und der niedrige Bildungsstand der Bevölkerung sowie das Fehlen einer Hochkultur moniert wurden, beeindruckten die Prosperität, die günstigen Umweltbedingungen und der hohe Lebensstandard der Bevölkerung Neuenglands, New Yorks und Pennsylvanias. Negativ wahrgenommen wurde hingegen die aus europäischer Perspektive unvertraute ethnische und religiöse Heterogenität der mittelatlantischen Region. In der deutschen Siedlerbevölkerung Pennsylvanias sah man einerseits erfolgreiche Landwirte, andererseits Menschen, denen man aus ständischer Perspektive „eine niedere Herkunft oder gar kriminelle Vergangenheit unterstellte“ (84). Die südlichen Staaten erschienen aufgrund ihres ungewohnten feuchtwarmen Klimas, der Plantagenwirtschaft und der weiten Verbreitung der Sklaverei in den Küstenregionen deutlich fremdartiger. Insgesamt lassen sich vor allem die religiöse Vielfalt, die Schwäche kirchlicher Strukturen und die „durchweg mit Abscheu“ (111) registrierte Behandlung der Sklaven als Faktoren identifizieren, welche die Differenzwahrnehmung der deutschen Söldner maßgeblich prägten. Besonderes Interesse weckte zudem die Urbevölkerung; da eine Reihe indianischer Nationen mit den Briten verbündet war, kamen viele deutsche Soldaten in näheren Kontakt mit ihnen. Während sie deren militärischen Nutzen skeptisch beurteilten, finden sich durchaus Ansätze zu einer differenzierteren Wahrnehmung jenseits geläufiger Topoi des „edlen Wilden“ und des grausamen Barbaren, die auch den kulturellen Unterschieden zwischen indianischen Gruppen Rechnung trug (112–125). Das Kapitel „Die Wahrnehmung des Unabhängigkeitskrieges“ bestätigt die Diagnose von Forschern wie Horst Dippel, dass deutschen Beobachtern ein vertieftes Verständnis für die politischen Anliegen, Werte und Konzepte der Amerikaner fehlte; diese wurden häufig auf eine diffuse Freiheitsliebe reduziert, die angesichts eines hohen Lebensstandards und einer als moderat beurteilten britischen Regierungspraxis ungerechtfertigt erschien (135, 206). Was den militärischen Verlauf des Krieges anbelangt, machte ein anfänglich weit verbreitetes Überlegenheitsgefühl zunehmender Ernüchterung Platz. Während

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die Professionalisierung der Kontinentalarmee unter George Washington einerseits die Differenzwahrnehmung der deutschen Soldaten reduzierte, erhöhte sie sich andererseits durch die bürgerkriegsähnlichen, von Guerillataktiken auf beiden Seiten geprägten Auseinandersetzungen zwischen „Patrioten“ und Loyalisten in New York und den südlichen Staaten (207 f.). Die Prägung der deutschen Offiziere durch traditionelle militärische und ständische Denkweisen manifestierte sich schließlich darin, dass sie angesichts der sich seit 1781 abzeichnenden Niederlage um die eigene soldatische Ehre besorgt waren (204–206). Insgesamt gelingt es Lena Haunert, durch eine sorgfältig kontextualisierte, den soziokulturellen Hintergrund der Soldaten wie auch die Spezifika der amerikanischen Lebenswelt berücksichtigende Quellenauswertung ein gleichermaßen konzises und differenziertes Bild der Amerikawahrnehmung der Angehörigen der deutschen Subsidienregimenter zu zeichnen. Mark Häberlein

Bamberg 4.

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H ARM K LUETING (H G .), unter Mitarbeit von Jens Focken: Das Herzogtum Westfalen. Band 2: Das ehemalige kurkölnische Herzogtum Westfalen im Bereich der heutigen Kreise Hochsauerland, Olpe, Soest und Märkischer Kreis (19. und 20. Jahrhundert), Münster: Aschendorff Verlag 2012, 2 Teilbände, insges. 1 172 S., (ISBN 978-3-402-12862-6), 35,00 EUR. Das Erscheinen des zu rezensierenden Doppelbandes als zweiter Teil einer Gesamtgeschichte des ehemaligen Herzogtums Westfalen stand – wie man dem Vorwort des Herausgebers entnehmen kann – unter keinem guten Stern. Nachdem der erste Teil, der auf 927 Druckseiten die Geschichte des Herzogtums Westfalen von den Anfängen der kölnischen Herrschaft bis zur Säkularisation 1803 darstellt, im Jahr 2009 erschienen war, sollte 2011 der zweite Teil auf den Markt kommen. Obwohl das Konzept stand und die Autoren gewonnen waren, hatten die Herausgeber nicht vorauszusehende Schwierigkeiten zu bewältigen. Die Bearbeiter der großen thematischen Blöcke Kommunalwesen sowie Wirtschaft und Gesellschaft zogen sich im Jahr 2010 vom Projekt zurück. Dadurch mussten die Konzeption grundlegend überarbeitet, die thematischen Blöcke gesplittet und auf neue Autoren verteilt werden. Durch diesen Umstand ergab sich eine Verzögerung der Fertigstellung von mehr als einem Jahr, die aber im Hinblick auf eine erneute Autorensuche und deren Einarbeitung als recht kurz zu beurteilen ist. Hinzu kamen weitere Autorenausfälle und Streitigkeiten um Honorarforderungen und Textänderungen, die sogar in einem Fall fast auf ein Gerichtsverfahren hinausgelaufen wären. Aus diesem Grunde musste etwa der vorgesehene Beitrag „Literatur und Literaten im kölnischen Sauerland des 19. und 20. Jahrhunderts“ gänzlich entfallen. Für die Konzeption der Erstellung einer Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist es ebenfalls unschön, dass autorenbedingt die gesamte Wirtschaftsentwicklung für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weggefallen ist (vgl. die Rezension von Heinrich Tappe in VSWG 100 [2013] 491 f.). Trotz aller dieser Widrigkeiten erschien 2012 der 1 172 Seiten umfassende Doppelband.

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Da der erste Band, der die Vormoderne in den Blick nimmt, als Territorialgeschichte des Herzogtums Westfalen konzipiert wurde, stand die Erstellung des Doppelbandes zum 19. und 20. Jahrhundert allerdings vor einem Problem, denn das „Herzogtum Westfalen“ existierte faktisch seit 1803 und schließlich ab 1825 auch als amtliche Bezeichnung nicht mehr. Aus dieser Schwierigkeit erwuchs auch der etwas ungelenke Untertitel. Vielleicht wäre es für das Gesamtkonzept des Projektes ratsamer gewesen, von der heutigen unpolitischen Bezeichnung „(kurkölnisches) Sauerland“ auszugehen und somit die lange Entstehungsgeschichte eines gegenwärtigen regionalen Identifikationsraumes zu beschreiben. Das hier angesprochene Problem ist dem Herausgeber selbstverständlich bewusst gewesen, wie die Einleitung zeigt. Mit der Auflösung des Herzogtums Westfalen Anfang des 19. Jahrhunderts verschwanden aber auch die einheitlichen Grenzen. Dadurch standen die Autoren auch vor dem Problem einer einheitlichen räumlichen Abgrenzung ihrer Themenbereiche. Da den Verfassern ausdrücklich in dieser Frage Freiheit gelassen wurde (19), ergab sich in dieser Hinsicht eine Uneinheitlichkeit des Bandes: Einige Beiträge befassen sich nur mit dem heutigen Hochsauerlandkreis und dem Kreis Olpe, während andere das Gesamtgebiet des ehemaligen Herzogtums Westfalen mit Hellweg- und LippeRaum einbeziehen. Diese Schwierigkeit ist aber vor allem bedingt durch das aus dem ersten Band übernommene konzeptionelle Korsett einer klassischen genetischen Territorialgeschichte. So ist denn auch die Themenauswahl dieser sehr verpflichtet. Der erste Teilband befasst sich mit den Themen Staat und Politik im 19. und 20. Jahrhundert (Hans-Joachim Behr, Jürgen Schulte-Hobein), wobei die beiden Jahrhunderte allerdings getrennt betrachtet werden, wodurch leider die Jahre zwischen 1890 und 1914 ausgespart bleiben, ferner Kommunalwesen (Harm Klueting, Günter Cronau), Gerichtswesen und Justiz (Patrick Ernst Sensburg), Bevölkerungsentwicklung (Harm Klueting), Gewerbe, Handel und Industrie (Wilfried Reininghaus, Josef Schulte) – ebenfalls in die Perioden 1800–1914 und 1914– 1945 getrennt – Verkehrsgeschichte (Markus Beck) und Sozialgeschichte (Jens Hahnwald). Hahnwald nimmt erfreulicherweise die Entwicklung der Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert insgesamt in den Blick. Eine Geschichte anderer sozialer Gruppen, wie z. B. der ländlichen Bevölkerung, vermisst man allerdings. Erfreulich sind dagegen der eigenständige Beitrag von Harm Klueting über Kommunalverfassung, Gemeindeordnung und kommunale Selbstverwaltung, ein Thema, das ob seiner vermeintlichen „Trockenheit“ vielfach nur recht stiefmütterlich abgehandelt wird, und der Aufsatz Günter Cronaus über die Entwicklung des Bürgermeisteramtes im 19. und 20. Jahrhundert, die in anderen Veröffentlichungen ebenfalls kaum in dieser Detailliertheit anzutreffen ist. Hier zeigt sich, dass eine durch unvorhersehbare Umstände erzwungene konzeptionelle Änderung auch positive Ergebnisse hervorbringen kann. Der zweite Teilband ist thematisch hingegen weniger „klassisch“ angelegt. Er enthält Beiträge zu Land- und Forstwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert (Bernward Selter), zur Entwicklungsgeschichte der Gewässer, Wasserwirtschaft und Elektrifizierung (1800– 2000), zur Vereins-, Organisations- und Institutionengeschichte (Dieter Wurm), zum kulturellen Leben in Stadt und Land (Susanne Falk), zu Schulwesen und Lehrerbildung (1803–1945; Jens Focken), zum Schulwesen seit 1945 (Erika Richter), zum katholischen Leben (Reimund Haas), zu Klöstern (Harm Klueting), zur Entwicklungsgeschichte der

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evangelischen Kirchengemeinden (Jürgen Kampmann), zur Geschichte der Juden seit 1803 (Georg Glade) und abschließend einen Beitrag über die muslimischen Gemeinden (Ahmet Arslan). Letzterer stellt allerdings nur eine steckbriefartige Zusammenstellung der muslimischen Gemeinden im „kölnischen Sauerland“ dar. Abgeschlossen wird der Band durch einen Abbildungsteil mit 16 Farbbildern, dessen Nutzen aufgrund der Bildzusammenstellung allerdings nicht ersichtlich wird, ein Personen- und Ortsregister, ein Nachweisverzeichnis der Abbildungen, Corrigenda und Ergänzungen zum ersten Band, die Kurzbiographien der Mitarbeiter und ein Autorenverzeichnis des Gesamtwerks. Vor allem die Beiträge von Dieter Wurm, dem ein Exkurs zur „Mundart und Sauerlandidentität“ von Manfred Raffenberg beigefügt ist, und Susanne Falk knüpfen an neuere geschichtswissenschaftliche Themen wie „Tourismus-Geschichte“ und Identitätsbildung an. Gerade aber hinsichtlich der oben angesprochenen problematischen Verbindung des alten Herzogtums Westfalen mit dem heutigen Selbstverständnis der Bewohner dieses Gebietes hätten in eigenen thematischen Beiträgen verstärkt die Faktoren der Identitätsbildung der Sauerländer und der Raumwahrnehmung („mental maps“) untersucht werden können. Christof Spannhoff

Münster

S ANDRA Z EUMER: Die Nachfolge in Familienunternehmen. Drei Fallbeispiele aus dem Bergischen Land im 19. und 20. Jahrhundert (= Beiträge zur Unternehmensgeschichte 30), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 389 S., 35 Abb., 17 Tab., (ISBN 978-3-515-09940-0), 56,00 EUR. Anhand dreier Familienunternehmen im bergischen Land des späten 18. bis beginnenden 20. Jahrhunderts untersucht Sandra Zeumer in ihrer Dissertation Erfolgsfaktoren für eine gelingende Unternehmensnachfolge und für den Bestandserhalt dieser Unternehmen (346). Sie behandelt diese auf einer personellen, einer rechtlichen und einer finanziellen Ebene (20). Den umfassenden Forschungsstand untergliedert die Verfasserin in ein historisches, ein wirtschaftswissenschaftliches und ein soziologisches Themenfeld. Dabei diskutiert sie die Literatur des historischen Themenfeldes aufgrund ihres Untersuchungszeitraumes von der Zeit der ersten industriellen Revolution (Ende 17./Anfang 18. Jahrhundert) an, deren „Träger“ die Familienunternehmer waren. Die wirtschaftswissenschaftliche Literatur befasste sich nach Zeumer hinsichtlich der Familienunternehmen vor allem mit dem Vermögensund Generationentransfer, der Unternehmensverfassung sowie deren möglicher Umwandlung von einer Personen- in eine Kapitalgesellschaft. Die soziologische Forschung wandte sich vor allem den Nachfolgeregelungen und -strategien zu. Aus diesem thematisch untergliederten Forschungsüberblick kann Zeumer eine Forschungslücke entwickeln und konstatiert vor allem die fehlende regionale Komponente. Diese Lücke will sie mit drei, wie sich zeigt, aussagekräftigen und ertragreichen Fallbeispielen des bergischen Landes vom 18. bis ins beginnende 20. Jahrhundert schließen. Dazu untersucht sie „die Nachfolge in Familienunternehmen“ und erstellt zudem eine „Anlayse der Unternehmensentwicklung über personelle Zäsuren hinweg“ (36).

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Im Folgenden erläutert Zeumer, wie die bergischen Familienunternehmen begrifflich und strukturell zu fassen sind. Demnach handelte es sich um Kernfamilien mit einem „ausgeprägt verwandtschaftlichen Netzwerk“ (45), die einen typisch dynastischen Charakter aufwiesen (51). Als erfolgreiche Nachfolgestrategie galt für die Unternehmen, die „personellen und finanziellen Verbindungen der Familie zu sichern und zu erneuern“ (48). Dies sollte durch die Übergabe an die nachfolgende Generation ohne „Erbfolgekriege“ gewährleistet werden und indem es den Nachfolgern gelang, das Unternehmen am Markt zu halten (50). Zeumers Quellengrundlage bilden hierbei hauptsächlich die Bilanzen der Unternehmen; sie werden um Kaufmannsbücher, rechtsrelevante Quellen, Korrespondenzen und sogenannte Ego-Dokumente ergänzt (52–59). Nach einem historischen Überblick über die Wirtschaft des bergischen Landes, das sich vor allem als stark exportabhängige Tuch- und Eisenregion auszeichnete, folgt die Analyse der aus diesem regionalen Umfeld stammenden Fallbeispiele. Sie haben ihre Wurzeln im Handwerk, Speditions- und Kommissionsgeschäft sowie im Bankwesen und Wechselhandel. Zeumer bearbeitet hier jeweils die Unternehmensgeschichte, den personellen Bestand, das Vermögen und die Finanzierung der Unternehmen. Das erste Beispiel bildet das Textilunternehmen Wülfing, Hardt, Pokorny & Cie. aus Lennep. Zeumer stellt neben der unternehmerischen Expansion auch die starke familiäre Einbindung vor allem in Netzwerke der Textilbranche fest. In dem Unternehmen gab es einen innerfamiliären Wissenstransfer und eine familieninterne Vermögensbindung sowie eine „hohe Reproduktion“ (223). Diese Faktoren führten zum Erfolg der Nachfolgesicherung und der Unternehmenskontinuität. Im zweiten Unternehmen, dem Bankhaus Von der Heydt-Kersten & Söhne aus Elberfeld, waren diese Faktoren in der Weise nicht vorhanden. Das Unternehmen musste Risiken wie geringe Kinderzahl, frühzeitige Todesfälle sowie Abtrennungen und Individualisierungsstreben einzelner Familienmitglieder verkraften. Vor allem zunächst konservativ geführte Geschäfte des Unternehmens und die erst in der vierten Generation als notwendig erachtete Expansion, kombiniert mit einem Standortwechsel sowie einer Unternehmensverfassung verhalfen dazu, dass etwa Abtrennungen, verbunden mit einem Kapitalabfluss, möglichst geordnet abgewickelt und somit der Bestand des Unternehmens gesichert werden konnte. Das dritte Fallbeispiel bildet die Familie Bagel, die als Buchbinder aus Wesel die Bestandskontinuität wahren konnte, indem sie ihren Standort nach Düsseldorf verlagerte, ihre Produktion erheblich um den Papierhandel bis hin zum Buchhandel erweiterte und schließlich durch innerfamiläre Unternehmensverfassungen Bruderkonflikte überwand und sich damit als „lern- und anpassungsfähig“ (345) erwies. In einem abschließenden Fazit zieht Zeumer zunächst den Vergleich zwischen den Fallbeispielen und ermittelt damit die Erfolgsfaktoren im Hinblick auf Nachfolgeregelungen und Bestandssicherungen der Unternehmen. Ferner fasst sie nochmals die Risiken und Grenzen einer erfolgreichen Unternehmensnachfolge zusammen, indem sie eine mangelnde „familiale Kohäsion“, „fehlenden Sinn für die Familie“ und, eng damit verbunden, eine „geringe Familienräson“ (347) und Kooperation untereinander sowie schließlich allgemeine Generationenkonflikte konstatiert (350). Als Strategien für eine erfolgreiche Kontinuität der Nachfolge und für den Bestandserhalt der Unternehmen verifiziert Zeumer anhand ihrer empirischen Untersuchung die Weitergabe von Kenntnissen und Werten (347), ferner

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eine zuverlässige „Reproduktion“ durch „familiäre und geschäftliche Netzwerke“ (348), eine Heiratsstrategie zum Aufstieg und Statuserhalt (349) sowie das Aufsetzen von Verträgen (350). Im Fall der Generationenkonflikte empfahlen sich zudem eine räumliche Distanz der Kontrahenten, eine inhaltliche Spezialisierung für jeden Kontrahenten sowie vertragliche Sicherungsmaßnahmen. Stammbäume, zahlreiche den Text stützende Tabellen und Abbildungen sowie ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis runden die Studie ab. Sandra Zeumer hat in ihrer aufschlussreichen Untersuchung die historische Perspektive aufgrund der ausgewählten Fallbeispiele und der betrachteten Region auf die industrielle Zeit seit dem Ende des 18. Jahrhundert fassen müssen. Zugleich bieten sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten zu bereits erfolgten, aber auch laufenden Forschungsprojekten zu Familienunternehmen speziell der vorindustriellen Zeit an. Gerade in Fragen der Nachfolge- und Bestandssicherung sowie der Risikominderung in Konfliktfällen lassen sich schon seit dem Spätmittelalter bei Familienunternehmen erprobte Kontinuitätslinien und Parallellen zur industriellen Periode erkennen. Schon der von Zeumer zurecht weit gefasste Familienbegriff, der die personelle Basis einer Familiengesellschaft in einer Verwandtschaftsfamilie mit einem dynastischen Aufbau sieht (41 f.), lässt sich mit den frühmodernen Familienunternehmen der Wirtschaftszentren Nürnberg und Augsburg in Übereinstimmung bringen. Generationenkonflikte, Nachfolgeprobleme, fehlende Familienräson, mangelnde persönliche Konstitution, ungenügende Professionalisierung, Abfluss von Kapital und strittige unternehmerische Entscheidungen waren auch bei diesen ein immer wieder auftretendes Problem, und man begegnete ihnen genauso wie in der industriellen Zeit mit den Strategien einer unternehmensspezifischen Ausbildung verknüpft mit innerfamilärem Wissenstransfer, ferner mit Unternehmensverfassungen in Form von (Gesellschafts-)Verträgen, oder mit gezielten Heiratsstrategien, in denen sich „Heiratskreise“ und „Geschäftskreise“ ebenfalls überschnitten. Insgesamt hat Sandra Zeumer mit ihrer Dissertation zur Nachfolge in bergischen Familienunternehmen eine sehr sorgfältige, ertragreiche und wissenschaftlich präzise Untersuchung vorgelegt, die die allgemeine Unternehmensgeschichte um den Bereich der Erforschung regionaler Familienunternehmen wesentlich vertieft und zugleich ausbaut. Durch ihre Arbeit wird laufenden und künftigen Forschungen der innovative Ansatz ermöglicht, künstliche zeitliche Grenzen zu überwinden und einen ertragreichen wissenschaftlichen Austausch zum Thema der Erfolgsfaktoren ökonomischer Bestands- und personeller Nachfolgesicherung in Familienunternehmen der vorindustriellen und industriellen Zeit zu verwirklichen. Mechthild Isenmann

Leipzig

A NKE S CZESNY, ROLF K IESSLING , J OHANNES B URKHARDT (H G .): Prekariat im 19. Jahrhundert. Armenfürsorge und Alltagsbewältigung in Stadt und Land (= Materialien zur Geschichte der Fugger 7), Augsburg: Wißner-Verlag 2014, 196 S., 13 Abb., (ISBN 978-3-89639-955-7), 19,80 EUR. Der „Prekariats-“Begriff umschließt Personengruppen der „unteren“ Teile der Gesellschaft und ihre ungesicherten Umstände des Erwerbs von materiellen und nichtmateriellen Gütern, eingeschlossen die Zugänge zu diesen, und er ist durch begrenzte Dynamiken bzw.

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Veränderungen solcher Existenzbedingungen ausgezeichnet. Man geht demnach nicht fehl, von überaus komplexen Verhältnissen zu sprechen. Das symptomatische Schlagwort zu dieser Thematik ist „Nicht-Haben“. Diesem Thema war im September 2012 in Augsburg eine Konferenz gewidmet, die von den Fürstlich und Gräflich Fuggerschen Stiftungen maßgeblich gefördert wurde und deren Fazit im anzuzeigenden Band vorgelegt wird. Eine Einleitung der Herausgeber (9–17) umreißt den Rahmen der Veranstaltung. Die Überlegungen nehmen bei derzeitigen Umständen von Armut und Armenpolitik in der globalisierten Gesellschaft ihren Ausgang und verbreitern damit das Gesprächsangebot an die aktuelle Forschung und Politik. Sie skizzieren dann an einigen Beispielen, welche forschungsstrategischen Wandlungen und veränderten Akzentsetzungen die Thematik seit der Einrichtung der Augsburger Armensiedlung „Fuggerei“ erfahren hat. Dabei spielen vordergründig die Selbstsichten der Armen und der Stadt-Land-Vergleich eine Rolle. Unter dem Rahmentitel „Zur Problemstellung und Methodik“ (19–66) äußern sich drei Beiträge. Zunächst handelt Georg Seiderer (Erlangen-Nürnberg) „Von ‚wahren Armen‘ und ‚Scheinarmen‘. Bettel und Armut im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert“. Der Verfasser analysiert die „Preisfragen-Strategie“ der Spätaufklärung zu „arbeitswilligen“ und „faulen“ Armen und ihrem Suggestivfragencharakter, um schließlich bei Arbeitszwang und Arbeitspflicht zu enden. Darin erschließe sich eine wesentliche Hinführung „zur Neuorganisation des Armenwesens“ (27). Im Anschluss daran wird der Zugangsweg für diese Phase der Debatte um das Armenwesen aus Mittelalter und früher Neuzeit geprüft und zur Diskussion der „Ursachenfrage“ für Armut hingelenkt. Mit Erörterungen zu Wahrnehmung und Deutung von Armut und der Feststellung, dass es „unterschiedliche Diskurse über Armut“ (37) gibt, endet die Darlegung. Eine Reihe von Ursachenüberlegungen und Funktionsmechanismen (Produktion/Ausbeutung) und geistigen Leitlinien der Gesellschaft (Konfessionen), die hätten berührt werden müssen, bleiben auf diese Weise unausgesprochen. Andreas Gestrich (London) behandelt „Das Leben der Armen: ‚Ego-Dokumente‘ als Quellen zur Geschichte von Armut und Armenfürsorge im 19. Jahrhundert“. Er wendet sich hier vor allem jenen Quellenbereichen zu, in denen die „ganz Armen“ – gleichgültig in welche Kategorie sie von den Obrigkeiten eingeordnet wurden – einen Platz haben. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage des Verhältnisses der unmittelbaren „Selbstzeugnisse“ zu den „Ego-Dokumenten“ für die Armenthematik (eigenhändige Bittbriefe, „Fremdsuppliken“, Gutachten, Fürsprachen, Formulare etc.). In seinem mit mehreren konkreten Einzelfällen vorgestellten exzellenten Beitrag hebt der Verfasser die Bedeutung dieser Überlieferungen hervor, die sehr nahe an die betroffenen armen Menschen heranführen, und macht zugleich deutlich, dass sich hinsichtlich der mündlichen und schriftlichen Artikulationsfähigkeit/-fertigkeit der Bedrückten ein weiteres Forschungsfeld (57 f.) im Rahmen des Themas ergibt. Aus unmittelbarer Situationskenntnis stellte Franz Karg (Dillingen) die Fuggerei, ihre Bewohner, ihre Nachweise im Fuggerarchiv und damit die Möglichkeiten der Erforschung vor. Vier Beiträge spüren dem Armutsproblem im städtischen Raum nach (67–147). Zunächst handelt Anke Sczesny (Augsburg) über den Alltag in der Fuggerei. In ihrem Beitrag zur Konfliktforschung geht sie von der Wohnsituation in der prosperierenden

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Stadt aus und betont, dass es eine Verpflichtung und Ehre sei, in der Fuggersiedlung eine „Gnadenwohnung“ (77) zu erhalten. Deren „Haus-Ordnung“ wird als generelle Norm vorgestellt, um dann an mehreren Beispielen zu den entsprechenden Formen der Alltagsrealien – Gerücht, Anzeige und Denunziation – zu gelangen, bevor die Verfasserin auf die Konfliktbewältigung eingeht. Dabei betont sie, dass prekäre Armutsstellung, FuggereiZugang, interne Obrigkeit und Konfliktäußerung ein wichtiges Vergleichspaket zu den jeweiligen Situationen in der Stadt darstellen könnten, womit weitere Untersuchungen angeregt wären. Elke Schlenkrich (Frankfurt/Oder) lenkt den Blick auf Leipziger Institutionen der Armenfürsorge. Sie leuchtet anfangs die lokalen „Häuser“ (Spitäler, Lazarett, Zuchtund Waisenhaus) in ihrer institutionellen Beschaffenheit aus, vergleicht die Objekte und konkretisiert auf diese Weise das Konzept der „Orte der Verwahrung“. Dann widmet sie sich kritisch den Aspekten „Religiosität“ und „Arbeit“ in den Anstalten, wobei individuelle Abläufe und normative Regelungen berührt werden. Mit Frauen als Bittstellerinnen beschäftigt sich Daniela Heinisch (London) am Beispiel Frankfurter Quellen. Festgestellt werden kann allgemein, dass die direkt und indirekt supplizierende Frau im 18. Jahrhundert markanter als zu Beginn der frühen Neuzeit in Erscheinung tritt. Die Witwen standen jedoch ähnlich im Vordergrund wie die LageBegründungen der armen Frauen in ihren Schreiben an die Obrigkeit. Insofern hat sich nur wenig seit dem 16. Jahrhundert geändert. Peter Hintzen (Köln) prüft die Bittsteller auf Not und „vorsichtige Systemkritik“. Er rückt dabei die Deutzer Armenbriefe in den Mittelpunkt. Das ist verdienstvoll. Seine Mahnung aber, man möge die Warnung Hans-Ulrich Wehlers, „Geschichte von oben“ nicht durch die „von unten“ ersetzen, erscheint wohl überflüssig (146). Man muss keine Sorge haben, dass „die von oben“ zu kurz kommen könnten! Der dritte Teil (151–190) ist dem Land gewidmet und wird durch zwei Beiträge vertreten. Claudia Ried (Augsburg) widmet sich den schwäbischen Landjuden und rückt damit einen der nicht alltäglichen Problemkreise ins Licht, beleuchtet die dafür nötige Finanzbeschaffung und geht den Ursachen von Armut nach, die teilweise in der allgemeinen Situation des Landes liegen, sich also nicht wesentlich von den Gegebenheiten der nichtjüdischen Bevölkerung unterscheiden, teilweise aber auch spezifischer Art des „Fremdseins“ sind. Wie schließlich die jüdische Armenpflege funktioniert, wird abschließend demonstriert. Dass hierbei die „Wohltätigkeit“ als religiöse Pflichtaufgabe fungiert, stellt eine Besonderheit dar. Abschließend legt Katrin Marx-Jaskulski (Marburg) Gedanken der „Notbehelfsökonomie“ und der „Armenwürdigkeit“ dar. Sie greift dabei auf einen Projektteil des Sonderforschungsbereichs 600 (Fremdheit und Armut) der Universität Trier zurück, an dem sie erfolgreich beteiligt war. Zwischen Armsein im Dorf und in der Stadt sieht sie eine Fülle von Unterschieden wie auch Gemeinsamkeiten, die regional variieren; zugleich hat die Notbehelfsökonomie ein spezielles Gesicht und spielt auf dem Dorf eine größere Rolle. Von besonderer Bedeutung ist ihre Auseinandersetzung mit der „Würdigkeit“ des Armen, die sie berechtigterweise als „administratives Konstrukt“ nennt, weil die Almosen vergebende Obrigkeit intimere Kenntnisse über die Dorfarmut beschaffen, also häufig auch willkürlich „bewerten“ konnte und außerdem die individuelle Mentalität der Armen ins Gewicht fiel (187–190).

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Ein Resümee des Bandes muss konstatieren, dass er die beiden jüngeren Tendenzen der Armutsforschung – den Blick auf die „Selbstsicht“ des Armen und die Beziehungen zwischen Stadt und Dorf als „Handlungsraum der Armen“ – in erfreulichem Maße weitergeführt hat. Man liest den anregenden Band gern und mit Gewinn. Helmut Bräuer

Leipzig

G ERHARD W ILLI: Volks- und landeskundliche Beschreibungen aus den Landkreisen Unterallgäu und Ostallgäu mit Kaufbeuren. Die Physikatsberichte der Stadt- bzw. Landgerichte Mindelheim, Türkheim, Buchloe, Kaufbeuren, Obergünzburg, [Markt-]Oberdorf und Füssen (1858–1861), mit einem Beitrag von Peter Fassl (= Schriftenreihe der Bezirksheimatpflege Schwaben zur Geschichte und Kultur 1), Augsburg: Wißner-Verlag 2011, 360 S., (ISBN 978-3-89639-771-3), 25,00 EUR. G ERHARD W ILLI: Volks- und landeskundliche Beschreibungen „Entlang der Iller“. Die Physikatsberichte der Stadt- bzw. Landgerichte Neu-Ulm, Roggenburg, Illertissen, Babenhausen, Memmingen, Ottobeuren und Grönenbach (1858–1861), mit einem Beitrag von Peter Fassl (= Schriftenreihe der Bezirksheimatpflege Schwaben zur Geschichte und Kultur 4), Augsburg: Wißner-Verlag 2013, 383 S., (ISBN 978-3-89639-906-9), 25,00 EUR. Die zwischen 1858 und 1861 verfassten Physikatsberichte – damit sind die von qualifizierten Amtsärzten niedergeschriebenen medizinischen, topographischen und volkskundlichen Untersuchungen in den Stadt- und Landkreisen Schwabens gemeint – stellen eine ungemein bildhaft-detaillierte Beschreibung des Alltagslebens von Land und Leuten sowie der landwirtschaftlichen und ökonomischen Gepflogenheiten Mitte des 19. Jahrhunderts dar. Die nunmehr erschienenen Bände „Entlang der Iller“ und „Unter- und Ostallgäu“, die mit außerordentlicher Sorgfalt von Gerhard Willi ediert und mit einer verständniserweiternden Einleitung von Peter Fassl versehen sind, sind zwei weitere Bausteine in der noch nicht abgeschlossenen Edition aller vorhandener Physikatsberichte Schwabens (und Bayerns). Mit ihren durchaus auch sehr subjektiven Ansichten zu Land und Leuten in den jeweiligen Untersuchungsräumen liefern die Berichte, die durch bayerischen Ministerialerlass von den Ärzten ‚zwangsweise‘ erarbeitet werden mussten, nicht nur Informationen über die mehrheitlich der Mittel- und Unterschicht angehörigen Bewohner, sondern, durch einen Filter gelesen, auch Blicke auf die Ärzte selbst, d. h. auf deren Vorurteile und Wahrnehmungen. Dennoch, unter Berücksichtigung dieser personenabhängigen Einfärbungen der auch sehr unterschiedlich ausführlichen Handschriften, lässt sich ein reizvolles Konglomerat an Nachrichten zu Schwaben festmachen, das hier zwar nicht in seiner Gesamtbreite, wohl aber im Überblick besprochen werden soll. Mehr oder weniger umfassend sind in den einzelnen Landgerichten neben einer genauen Angabe nach Breiten- und Längengraden, Meereshöhe und den natürlichen und politischen Grenzen Themen wie Klima, Saat- und Erntezeiten, Anbaukulturen sowie die geologische Beschaffenheit abgehandelt. Die Viehbestände – bis hin zu Bienen und Amphibien – sind ebenso aufgenommen wie die Flora und das Mineralreich. Dem folgt meistens ein Abschnitt zu den Einwohnern, differenziert nach Geschlecht, Stand und Alter, deren physische und psychische Verfassung sowie zu den Wohnverhältnissen bis hin zu den Abtritten. Anschließend stehen Kleidungsweisen und Nahrungsgewohnheiten im Mittelpunkt, wobei vor allem der Fokus auf die Säuglingsernährung, die durchweg

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nicht zum Besten stand, gerichtet ist. Weitere Themen sind die Verdienstmöglichkeiten der Einwohner, die Kinder- und Jugendarbeit und die Anzahl und Art der Fabriken, Reichtum und Armut, Feste und Gebräuche sowie schließlich Religiosität und Aberglauben. Darüber hinaus lassen sich in manchen Fällen Beschreibungen zum Veterinärwesen oder auch geschichtliche Entwicklungen im Medizinalbereich finden oder Hinweise auf die Volkssprache, welche Themen immer abhängig vom Fleiß bzw. der Genauigkeit der Verfasser waren. Was sich hier als eine eher statistische – tatsächlich sind für einige Landgerichte auch Tabellen erstellt worden –, bei weitem aber nicht komplette Übersicht liest, ist durch die Interpretationen der berichtenden Ärzte weit mehr, denn sie setzen die Beschreibungen zumeist mit gesundheitspolitischen Überlegungen in Verbindung. Das umfasst somit auch Seuchen bei den Viehbeständen und wie sie zu vermeiden wären oder die Nutzung von Pflanzen für Heilzwecke. Sehr deutlich werden die Mediziner in der charakterlichen Beschreibung der Bevölkerung, die sie beispielsweise als „durchtriebene[n] und speculative[n] Menschenschlag“ beschreiben (Bd. 4, Roggenburg, 100; auch Fassl, 1). Dies könne so weit gehen, dass der reiche Bauer keine größere Freude empfinde, als wenn der baldige Tod der kranken Eltern prognostiziert werde, was die Herzlosigkeit dieser Menschen unterstreiche (Bd. 4, Roggenburg, 101). Im Mindelheimer Raum sind die Einwohner dagegen mit einem Volkscharakter begabt, der „durchweg ein gerader, biederer, offener u. herzlicher“ sei und den er mit „der ganzen, großen deutschen Nation gemein [hat]: ist zart u. schroff; zutraulich, gemüthlich [. . . ], freundlich u. stutzig-hinterhaltig [. . . ]“ (Bd. 1, Mindelheim, 99). Gerade diese charakterlichen und auch sehr pauschalen Beschreibungen der Bewohner illustrieren aufs deutlichste die Subjektivität der Berichte und die Voreingenommenheiten der Verfasser. In beiden Bänden gilt die Aufmerksamkeit der Mediziner immer auch den Ursachen und Gründen von Armut, die nachstehend etwas genauer betrachtet werden sollen. Wenn auch nirgends in den Physikatsberichten explizit aufgegriffen, so war die Armutsfrage Mitte des 19. Jahrhunderts angesichts zunehmender Industrialisierung und der damit einhergehenden Umgestaltung von Handwerk und Gewerbe, die sich auch auf die ländliche Erwerbsstruktur auswirkten, eine sehr wichtige. Prinzipiell werden bedürftige Menschen in jedem Landgericht beklagt, die zuweilen als „tüchtiger Kern zu einem künftigen Proletariate“ (Bd. 4, Roggenburg, 113), bezeichnet werden, wobei dann doch die Bewertungen der Armut sehr unterschiedlich sind. Gebrechlichkeit und Krankheit sowie das hohe Alter – auch das zu „zarte“ (Bd. 1, Türkheim, 148) – zählen zur Begründung ‚wahrhafter Armut‘, wozu noch die „verschämten Bettler“ (Bd. 1, Obergünzburg, 252) gerechnet wurden. Diese ‚wahren‘ Armen würden von den Armenpflegen sowie der mildtätigen Bevölkerung zurecht tatkräftig unterstützt, wogegen beispielsweise in Ulm die „Mehrzahl [der Armen] ganz oder theilweise erwerbsfähig sind“ und somit arbeiten könnten, dennoch aber als Arme und damit unterstützungswürdig eingestuft seien (Bd. 4, Neu-Ulm, 73). An anderer Stelle heißt es ganz klar, dass „Arbeitsscheu den Broderwerb lähmt [. . . ]. Mit einem Wort, es gibt hier nur selten unverschuldete Armuth“ (Bd. 4, Ottobeuren, 240). Diese althergebrachte Scheidung in wahrhafte und selbstverschuldete Armut generiert den Schluss, dass eine derartige Trennung zur Entlastung der gemeindlichen Armenpflegen mehr beachtet werden müsse, damit die ausgeschieden werden könnten, die durch „Verschwendung und Arbeitsscheu eigner

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Subsistenzmittel verlurstig geworden sind, oder selbst die ihnen schon zu Theil gewordenen Unterstützungen auf die schnödeste Weise mißbrauchten“ (Bd. 4, Ottobeuren, 248). Obgleich Fassl in den sehr instruktiven Einleitungen auf die Zugehörigkeit der Ärzte zum „technisch-, fortschritts- und naturwissenschaftsgläubigen liberalen Bürgertum“ (Bd. 4, Physikatsberichte als Quelle, 14; inhaltlich ähnlich in Bd. 1, 16) verweist, verharren die Ärzte mehrheitlich in diesem traditionellen Denken über Armut und deren Ursachen. Eine Ausnahme scheint der für das Landgericht Roggenburg zuständige Amtsarzt Dr. Johann Heinrich Beck gewesen zu sein. Mit kräftigen und schonungslosen Worten prangert er die Armenhäuser als „Musterbauten der Erbärmlichkeit“ an, die wegen der Feuchtigkeit „im Winter wie mit Zucker candirte Wänder besitzen. Diese dunklen und kalten Löcher“ würden von ein bis zwei Familien bewohnt, die infolgedessen vielfachen Krankheiten von Katarrhen bis „Typhen u. Blattern“ ausgesetzt seien. Neubauten oder Restaurierungen würden jedoch durch die „Renitenz der Gemeinden“ verhindert, so dass noch „viel zu einer totalen Reform dieser Pesthütten fehlt“ (Bd. 4, Roggenburg, 104 f.). Dieser erschütternde und hochemotionale Bericht von Beck geht wohl auf seine zeitlebens praktizierte Fürsorge und Hilfe für Arme zurück, denn allein im Jahre 1832 behandelte er nach eigenen Angaben kostenlos 2 274 bedürftige Personen (Bd. 4, Zur Edition der Physikatsberichte, 40), woraus sich seine Kenntnisse wie auch seine markigen Worte erklären lassen. Zu beiden Bänden ist zu konstatieren, dass sie mehr als ‚nur‘ eine Edition sind, was allein schon Verdienst genug wäre. Der einleitende Aufsatz von Peter Fassl ist jeweils spezifisch auf die Landgerichte zugeschnitten, wobei zwar notwendigerweise wegen der Gesamtanlage der Physikatsberichte Überschneidungen vorhanden sind, doch sind diese immer auch an heutige wissenschaftliche Forschungen angebunden. Seine fundamentalen Erläuterungen bieten damit vergleichende Einblicke zur Erstellung, den Hintergründen, den politischen und kulturellen Bedingungen in den Landgerichten Mitte des 19. Jahrhunderts. Zweifellos muss für beide Bände auch die hervorragende Leistung von Gerhard Willi nicht nur in editorischer Hinsicht betont werden, denn die akribischen Erklärungen mit Literaturverweisen in den Fußnoten erleichtern das Verständnis nicht zuletzt wegen der zeitgenössischen und manchmal dialektal eingefärbten Sprache ungemein. Mindestens genauso bedeutsam sind Willis einleitende Ausführungen „Zur Edition der Physikatsberichte“, die viel zu lapidar betitelt sind, denn er wartet mit systematischen Überblicken zu den Landgerichten und mit genauen Beschreibungen der in München und Augsburg liegenden originalen Physikatsberichte auf. Vor allem aber mit den offensichtlich umfangreichen Recherchen zu den Biographien der Amtsärzte lässt er deren Schwierigkeiten zur Erlangung eines amtsärztlichen Postens genauso lebendig werden wie deren Charaktere selbst, die offensichtlich – siehe Johann Heinrich Beck – mitunter nicht immer mit den allgemeingültigen Vorstellungen konform gingen. Die Physikatsberichte sind mit Genuss zu lesen, sicher auch wegen der manchmal derben, bisweilen zum Schmunzeln animierenden Sprache. Zu belächeln sind diese Berichte jedoch keinesfalls und sie sind mehr als nur eine Fundgrube von Anekdoten zum schwäbischen Volksleben. Es sind – wenn auch sehr subjektiv gefärbte – wissenschaftliche Berichte, die in einem Zeitraum entstanden, der durch vielfache Veränderungen in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft geprägt war. Das sich daraus ergebende Spannungsfeld

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vermittelt sich nicht zuletzt in Zuschreibungen und Vorurteilen in der Beschreibung von Land und Leuten. Doch gerade dies stellt eine einmalige Herausforderung für heutige Wissenschaftler dar, sich der vielen, noch nicht erforschten Themenbereiche anzunehmen, um sich dem Volksleben aus der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht aus der Metaebene, sondern aus der Perspektive der einfachen Leute anzunehmen. Anke Sczesny

Augsburg

L ENA K RULL: Prozessionen in Preußen. Katholisches Leben in Berlin, Breslau, Essen und Münster im 19. Jahrhundert (= Religion und Politik 5), Würzburg: Ergon Verlag 2013, 355 S., (ISBN 978-3-89913-991-4), 56,00 EUR. Während Prozessionen in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten seit langem die Aufmerksamkeit der Historiker auf sich gezogen haben und als Formen symbolischer Kommunikation auch theoretisch elaboriert erforscht worden sind, gilt dies für das Prozessionswesen des 19. Jahrhunderts in weit geringerem Maß. Die bei Werner Freitag in Münster verfasste Dissertation möchte diese Lücke ein Stück weit schließen; zwar haben in den letzten Jahrzehnten zahlreiche wichtige Untersuchungen die Bedeutung von Konfession und Religion für die Gesellschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts nachgewiesen. Das katholische Prozessionswesen auf seine Aussagekraft für gesellschaftliche Ordnungen und Konfliktfelder zu interpretieren, kann jedoch zumindest für den deutschsprachigen Raum als weitgehendes Neuland gelten (sieht man von Oliver Zimmer, Beneath the ‚Culture War‘, Journal of Modern History 2010, 288–334, ab). Hierzu vergleicht die Verfasserin vier preußische Städte: Berlin, Breslau, Essen und Münster. Sie skizziert zunächst die konfessionelle Ausgangslage und die Traditionen der jeweiligen Städte, um dann die Prozessionen in der Zeit des Umbruchs (bis 1830), im Zeitraum 1830–1880 (der als Zeitalter der „Kulturkämpfe“ bezeichnet wird), schließlich für die Periode bis 1914, die durch eine zunehmende Katholikenintegration im Kaiserreich gekennzeichnet war, zu schildern und zu vergleichen. Untersuchungsgegenstand ist jeweils die Fronleichnamsprozession; in Münster die „Große Prozession“, der dort eher ein vergleichbarer, gesamtstädtischer feierlicher Demonstrationscharakter zukam. Diese hatte ihren Ursprung wohl in einer Bittprozession anlässlich von Pest und Feuer in den 1380er Jahren. Zunächst analysiert Krull die rechtlichen Rahmenverhältnisse. Die Sattelzeit um 1800 war durch lokales Herkommen, aufklärerische Kritik an den Prozessionen und durch aufgrund der Säkularisationen bedingte Einschnitte beim Teilnehmerkreis gekennzeichnet; letztlich zeichnete sich Preußen durch einen „Flickenteppich mit heterogenen lokalen und regionalen Verwaltungstraditionen“ (47, nach Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung, 2005) aus. Eine neue Grundlage bedeutete deshalb das Versammlungs- und Vereinigungsgesetz vom 11. März 1850 (reichsweit dann die ähnliche gesetzliche Regelung 1908). Nach diesem bedurften Prozessionen, Wallfahrten und Bittgänge, wenn sie „in der hergebrachten Art stattfinden“, keiner vorherigen Anzeige oder Genehmigung. Freilich bot dieses Gesetz damit weiterhin Auslegungsspielraum, vor allem was unter „hergebracht“ zu verstehen sei; dies konnte bei kulturkämpferischer Einstellung enger ausgelegt werden (in dieser Form an diesem Ort schon immer), oder sehr weit (allgemein in der katholischen Kirche üblich, nicht unbedingt bislang am betreffenden Ort). Die Debatten auf dem Höhepunkt des preußischen Kulturkampfes um ein Verbot oder stärkere Restriktion

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des Prozessionswesens (1874 erfolgte eine restringierende Ministerialverfügung, aber kein Prozessionsverbot, wie zeitweise geplant) zeigen, dass sich die konfessionellen und ideologischen Konflikte des 19. Jahrhunderts auch an der Frage der symbolischen Nutzung des öffentlichen Raums entzünden konnten, freilich nicht zwangsläufig mussten. In einem weiteren Schritt skizziert die Verfasserin die Einwohnerentwicklung, die gesellschaftliche und konfessionelle Struktur sowie den Grad der katholischen Milieubildung in den Städten Berlin und Spandau, Münster, Essen und Breslau; hier dominieren natürlich Unterschiede, was Größe, soziale Zusammensetzung und Stellung der Kirche angeht. Die Zuordnungen von Essen und Münster zum katholischen Milieu, Berlins zu einem „Diasporamilieu“ und der katholischen Minderheit Breslaus eher zu „einer traditional katholischen Minderheit“ bleiben deshalb notgedrungen schematisch und unscharf. In der Regel haben die traditionellen Umgänge die Zäsur von Säkularisation und Spätaufklärung überlebt, dabei aber nicht nur an Beteiligung und Pracht eingebüßt, sondern auch ihre Funktion als Ort der Repräsentation der gesamten öffentlichen bzw. städtischen Ordnung verloren. In gewisser Weise ist deshalb eine Neubelebung des Prozessionswesens im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts bemerkenswert. Diese äußerte sich durch steigende Teilnehmerzahlen und die Erfassung bislang nicht partizipierender Gruppen, sowie einen bei kulturkämpferischen (oder, besonders in Essen, konfessionellen) Spannungen potentiell antiliberaldemonstrativen und mobilisierenden Charakter (vor allem in Münster, in Breslau eher in Folge der Konfrontation mit dem Deutschkatholizismus). Ab 1880 entspannten sich Konflikte tendenziell, und es kam wieder zu einer verstärkten Beteiligung der politischen Führung. In den Jahren vorher konnten Prozessionen – wie in Münster –, mussten aber nicht zum Austragungsort des Kulturkampfes werden. Eine besondere Situation stellte die rasant wachsende Großstadt Berlin mit ihrer kleinen katholischen Minderheit (überwiegend durch Zuzüge aus Schlesien) dar. Seit 1837 fand in Spandau vor den Toren der Stadt eine Fronleichnamsprozession statt, die schnell zu massiven Konflikten führte, bald aber auch die Berliner Katholiken zu einer Art Volkswallfahrt nach Spandau veranlasste, was wiederum die Gegnerschaft von Obrigkeit, Liberalismus und Protestantismus heraufbeschwor; einen Höhepunkt erreichte der Konflikt im Zusammenhang des sogenannten „Moabiter Klostersturms“, der sich 1869 anlässlich der Ansiedlung der Dominikaner in Berlin ereignete. Gerade bei Konflikten wurden Prozessionen Teil einer medialen Diskussion und Verstärkung; auch sonst bedeutete die Berichterstattung in den Kirchenmedien und Lokalzeitungen einen verstärkenden, identitätsformierenden Faktor. Die Zeit ab 1880 entwickelte eine differenzierte eigene bürgerliche Festkultur. An dieser partizipierte auch das Prozessionswesen; es kam weniger zu Konkurrenzsituationen als zu einem Austausch von Elementen. Immer wichtiger wurde die Teilnahme des zunehmend breiter werdenden katholischen Vereinswesens, gerade auch von akademischen Verbänden wie den Studentenverbindungen. Bürgerliche Familien- und Geschlechterbilder prägten im Laufe des Jahrhunderts immer stärker auch die kirchlichen Umgänge. Die Studie ist dadurch charakterisiert, dass trotz einer recht disparaten Quellenlage detailreich Aufbau der Prozessionen, Akteure, Wege, Konflikte und auch das mediale Echo mit seinen Bedeutungszuschreibungen untersucht werden; dabei werden aber doch recht unterschiedliche Fälle und Städte in den Blick genommen. Dies und die Quellenlage bedingen, dass die Fragestellung stark dahingehend zugespitzt wurde, inwieweit sich gesellschaftliche und religiöse Konflikte, besonders der Kulturkampf, auch in den

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Prozessionen spiegeln. Hier ist das Ergebnis, dass dies teilweise, aber nicht immer der Fall war. An dieser Stelle erhebt sich aber sofort die Anschlussfrage, ob es denn generalisierbare Faktoren gibt, die konfliktgenerierend gewirkt haben. Wollte man etwa eine Relation herstellen zwischen dem Grad von Modernisierung und Milieubildung auf der einen und den Prozessionen auf der anderen Seite, dazu zwischen lokalen Traditionen und zentralistischen Uniformierungen, müsste man ein umfassenderes Untersuchungsmaterial wohl anders bearbeiten. Klaus Unterburger

Regensburg

J OHANNA L UDWIG: Eigner Wille und eigne Kraft. Der Lebensweg von Louise Otto-Peters bis zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins 1865. Nach Selbstzeugnissen und Dokumenten, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2014, 504 S., 46 Abb., (ISBN 978-3-86583-846-9), 39,00 EUR. Louise Otto-Peters hat dank des steten und unermüdlichen Wirkens der Louise-Otto-PetersGesellschaft in Leipzig mittlerweile den ihr gebührenden Rang in der Geschichtsforschung erhalten und kehrt auch in Form von Straßen- und Gebäudebenennungen zunehmend in die Öffentlichkeit zurück. Trotz einer Vielzahl von Publikationen, maßgeblich initiiert durch eben jenen Verein, fehlte es bislang an einer aktuellen, umfassenden Biographie dieser außergewöhnlichen Frau. Johanna Ludwig versucht diese Lücke zu schließen. Sie selbst hatte die Gesellschaft zur Erforschung von Louise Otto-Peters gegründet und stand ihr jahrelang vor. Ihr war es jedoch nicht mehr vergönnt, die Veröffentlichung ihres Lebenswerkes zu erleben; sie verstarb nach schwerer Krankheit bereits 2013. Der Untersuchungszeitraum umfasst die ersten Lebensjahrzehnte der Frauenrechtlerin, von der Kindheit bis zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins im Jahre 1865. Ludwig konzentriert sich somit auf den Lebensabschnitt, der allgemein etwas weniger bekannt sein dürfte als Ottos prominentes Wirken im ADF und in dessen Publikationsorgan, den Neuen Bahnen. Der Arbeit vorangestellt ist ein Vorwort der Wirtschaftsund Sozialhistorikerin Susanne Schötz, die den Entstehungsprozess des Buches, die Quellenlage und Ludwigs Forschungsmethodik umreißt. Das Buch zeichnet in 16 Kapiteln chronologisch den Lebensgang dieser bedeutenden Frau nach. Geprägt durch ein humanistisch-liberales Elternhaus, in dem großer Wert auf selbständiges Denken gelegt wurde, entrüstet sich Louise Otto schon früh über die Ungleichbehandlung der Geschlechter. Mit zwölf schreibt sie ihr erstes politisches Gedicht zur Ehrung der Sächsischen Verfassung, mit 25 gelingt ihr der Durchbruch mit mehreren Artikeln über Frauenemanzipation in Robert Blums Sächsischen Vaterlandsblättern. Louise Otto erlangt zunehmende Bekanntheit, indem sie vor allem – für eine Frau – neue Wege beschreitet. Sie möchte sich von gesellschaftlichen wie politischen Zuständen selbst ein Bild machen und strebt zeitlebens nach Bildung. Ihre erste Reise unternimmt sie im Jahre 1845 allein. In den nächsten Jahren folgen weitere, die sie bis 1865 unter anderem nach Jena, Weimar, Hannover, Schlesien, Baden, Köln und Koblenz führen. Dabei sucht Otto stets die Öffentlichkeit, indem sie Reiseberichte in Zeitungen publiziert. Von regionalhistorischem Interesse sind ihre Aufzeichnungen, in denen sie Einblicke sowohl in das geistig-kulturelle Leben von Meißen, Dresden und Leipzig als auch in die jeweiligen gesellschaftlichen Kreise dieser Städte gewährt. Darüber hinaus beschreibt Otto auf ihren

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Reisen nicht nur die Sehenswürdigkeiten und besonderen landschaftlichen Reize, sondern auch gewählte Reiserouten und damit verbundene Strapazen und Hindernisse. Bei all ihren Unternehmungen verliert sie nie ihren kritischen Blick für soziale Missstände: So schildert Louise Otto die Armut und das Elend der Menschen, womit sie sich vor allem während ihrer Aufenthalte in Oederan im Erzgebirge und in Schlesien konfrontiert sieht. Ihr besonderes Augenmerk legt Ludwig auf die direkte Verknüpfung von „privaten“ Momenten und Erlebnissen mit dem daraus resultierenden literarisch-publizistischen Schaffen. Auf diese Weise versieht sie Louise Ottos Reiseberichte mit Gedichten, die während dieser Unternehmungen entstanden, oder ordnet die Entstehung ihrer zahlreichen Romane ein. Der Leser gewinnt dadurch einen präzisen Einblick, wie Otto gegenwärtige Erfahrungen verarbeitete und welche Erlebnisse sie (literarisch) prägten. Dadurch gelingt es der Autorin weiterhin, die reiche publizistisch-literarische Tätigkeit von Louise OttoPeters herauszuarbeiten und zu veranschaulichen. Als besonders bemerkenswert erscheint zudem das weite Kontaktnetz der gebürtigen Meißnerin. Otto korrespondiert nicht nur mit Berühmtheiten wie Robert Schumann oder Richard Wagner, sondern sie verfolgt auch religiöse Reformbewegungen wie den Deutsch-Katholizismus unter Johannes Ronge oder das protestantische Pendant der Lichtfreunde mit Interesse. Der Leser erfährt dabei, wie sehr Louise Otto-Peters von ihren Zeitgenossen geschätzt und geehrt wurde – und dies bereits als junge Frau. Das Buch verspricht eine Erzählung ihres Lebenswegs anhand von „Selbstzeugnissen und Dokumenten“, so der Untertitel, was auch stringent durchgehalten wird. Dafür greift Ludwig auf eine Vielzahl von Quellen zurück, durch die sich das Leben und Wirken der Frauenpolitikerin mit großer Genauigkeit rekonstruieren lassen. Die Autorin stützt sich vor allem auf Autographen wie Tagebücher und Briefe sowie auf gedruckte Gedichte und Zeitungsartikel. Aus diesen zitiert sie meist lange Passagen, um Ottos persönliche Gedankenwelt zu offenbaren. Ludwig gibt Louise Otto-Peters somit die Möglichkeit, ihren Lebensweg „selbst zu erzählen“, indem sie Ottos Aussagen über ihr eigenes Leben so auswählt und anordnet, dass der Leser tatsächlich stellenweise den Eindruck erhält, die Pionierin der Frauenbewegung habe ihre Biographie selbst geschrieben. Die Schilderung der Ereignisse rund um die Deutsche Revolution 1848/49 aus Ottos Sicht ist ein Schwerpunkt dieses Buches, wenn auch historische Einordnungen und Begebenheiten nur punktuell entfaltet werden. Nach dem Scheitern der Revolution spiegelt die Monographie das gesellschaftliche wie berufliche Stocken in Ottos Leben wider. Die Schattenseiten ihres steten Eintretens für Freiheit, Emanzipation und einen einheitlichen deutschen Nationalstaat werden sichtbar. Es folgen Jahre der Einsamkeit, in denen Ludwig eindrucksvoll das Ringen um den Fortbestand der Frauenzeitung sowie der Ideale von Demokratie und Freiheit schildert. Die Kapitelüberschrift „Louise beugt sich nicht“ (251) mag gleichwohl als wesentliches Charakteristikum Ottos gelten. Der Leser nimmt an ihrem Schicksal Anteil, das nicht selten düstere Momente birgt und von Krankheit, Tod und finanziellen Engpässen gezeichnet ist. Dies wird vor allem in Zusammenhang mit der wechselhaften Freundschaft zu Auguste Scheibe und den glücklosen Liebesjahren deutlich. Scheinen einige Schilderungen – bspw. das Bangen um die Freilassung ihres zweiten Verlobten August Peters – teilweise sehr ausführlich, ist dies doch damit zu rechtfertigen, dass diese Themen Louise Otto über einen langen Zeitraum hinweg stark beschäftigten und somit auch entsprechenden Niederklang in ihren Aufzeichnungen fanden.

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In Anbetracht der Vielzahl an Personen, mit denen Louise Otto korrespondierte, wäre ein Personenregister wünschenswert gewesen, um ein schnelles Nachschlagen zu ermöglichen. Ebenso erstaunt es, dass das Buch über kein Quellen- oder Literaturverzeichnis verfügt. Trotz dieser Monita ist es Ludwig zweifellos gelungen, den Alltag dieser Pionierin mit all seinen Sorgen und Ängsten, wie auch Erfolgen und Höhen darzustellen. Ihr Verdienst ist es, die biographischen Forschungen zusammenzufassen und eine umfassende Quellensammlung zu präsentieren. Der große Detailreichtum vor allem in Bezug auf den Lebensalltag der Meißnerin lässt die Hingabe und akribische Recherche Ludwigs offenbar werden, der sie sich mehr als zwei Jahrzehnte widmete. Der Leser erhält einen authentischen Einblick in das Leben von Louise Otto-Peters, über das er zu weiten Teilen jedoch selbst auf Basis der Quellenausschnitte reflektieren und sich ein eigenes Urteil bilden muss. Durch ihr frühes Ableben ist Ludwig ein abschließendes Fazit nicht mehr möglich gewesen; die Monographie endet mit einem Ausblick auf verschiedene Initiativen, die in den folgenden Jahrzehnten vom Allgemeinen Deutschen Frauenverein initiiert wurden. Es bleibt zu hoffen, dass ein zweiter Band zum Leben Louise Otto-Peters‘ erscheint und damit das Werk Johanna Ludwigs fortgesetzt und abgeschlossen wird. Elisabeth Gernhardt

Dresden

I NA S ZYMNAU: Im Zeichen des Krieges. Der Erste Weltkrieg und Ravensburg 1914– 1918. Begleitband zur Ausstellung: „Im Zeichen des Krieges. Ravensburg und der Erste Weltkrieg“ vom 10. Oktober 2014 bis zum 12. April 2015, Museum Humpis-Quartier Ravensburg (= Historische Stadt Ravensburg 8), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2014, 176 S., (ISBN 978-3-86764-533-1), 14,99 EUR. Die Ausstellung „Im Zeichen des Krieges. Ravensburg und der Erste Weltkrieg“ will aus lokalhistorischer Perspektive die Auswirkungen dieses Krieges auf eine südwestdeutsche Stadt aufzeigen. Das Konzept wird im Begleitband zur Ausstellung von Ina Szymnau, der Kuratorin der Ausstellung, dargestellt. Die Beschränkung auf die lokalhistorische Perspektive müsse und dürfe aber nicht bedeuten – so die Autorin –, ausschließlich in dieser Perspektive zu verharren und darüber „gröbere Strukturen der Kriegsgeschichte“ zu vernachlässigen. So wird einleitend auf die globale Textur und die Totalität des Ersten Weltkrieges hingewiesen, die sich aus der Nutzung weltweiter Ressourcen ergab. Insbesondere für Deutschland, das bald von sämtlichen Zufuhren an Lebensmitteln und Rohstoffen abgeschnitten war, gelte, dass der Krieg rasch in alle Lebensbereiche über alle Gesellschaftsschichten hinweg eindrang und dauerhaft den Alltag der Menschen, so wie sie ihn bisher kannten, veränderte. Die Darstellung des Attentats von Sarajevo und der sich daran anschließenden Julikrise berücksichtigt neueste Erkenntnisse der Weltkriegsforschung. So habe vor dem Attentat das politische Klima Serbiens stärker als in anderen Staaten zu Gewaltakten tendiert, was die Fatalität erklärt, mit der sich die europäischen „Schlafwandler“ von radikalen Strömungen wie der panslawistischen Bewegung in einen Krieg hineintreiben ließen. Ausführlich werden die Vorstellungen von Krieg in der wilhelminischen Gesellschaft betrachtet, denn nur im Wissen um die mentalen Grundeinstellungen der Menschen dieser Zeit können ihre Reaktionen auf den Kriegsausbruch verstanden werden, so Szymnau.

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Rezensionen und Annotationen

Das Kriegsbild der kaiserzeitlichen Gesellschaft war maßgeblich von den Erfahrungen des deutsch-französischen Krieges 1870/71 geprägt – ein Bild, das durch den waffentechnischen Fortschritt bis zum Kriegsausbruch 1914 einen grundlegenden Wandel erfahren sollte. Dieser Wandel blieb in den Köpfen der Menschen unbemerkt: Eine romantischverklärte Sicht auf den Krieg konnte sich halten. Mit dem Hinweis auf den Übergang der zivilen Verwaltung an die Militärbefehlshaber gemäß Artikel 68 der Reichsverfassung wird zum lokalhistorischen Teil übergeleitet, denn die Gemeindebehörden unterstanden mit Kriegsbeginn den militärischen Strukturen und mussten die von den Generalgouverneuren erlassenen Verordnungen befolgen. Streng chronologisch wird zunächst der Kriegsbeginn in Ravensburg mit der Mobilmachung und ihren Folgen erzählt. Dabei dienen zeitgenössische Druckschriften und Zeitungsartikel als Quellen. Die Analyse des Augusterlebnisses in Ravensburg zeigt aber auch, dass sich die Kriegsbegeisterung der Menschen angesichts von Zwangsaushebungen von Pferden und Kutschen, Einquartierungen von Soldaten in Privathäusern sowie massiver Einschränkungen des öffentlichen Lebens in engen Grenzen gehalten haben dürfte. Es gehört zu den Stärken des Buches, militärische Fachbegriffe und Organisationsformen der Zeit um 1914 allgemeinverständlich und prägnant zu formulieren. Damit ist es möglich, Zusammenhänge und tiefer liegende Ursachen kommunal-administrativer Handlungsweisen herauszuarbeiten. So wurden etwa die aktiven militärischen Formationen binnen weniger Tage durch die Reserve, die Landwehr und Kriegsfreiwilligen-Verbände von ca. 716 000 Mann im Juli 1914 auf über 6,4 Millionen aufgestockt. Die einem Exkurs gleichende ausführliche Darstellung der Heeresorganisation erfolgt vor dem Hintergrund der Beschreibung militärischer Massenquartiere in Ravensburg im Fabrikgebäude Spohn, in Turnhallen und Gymnasien. Die Einquartierung und Versorgung so vieler Soldaten – 40 000 Essensportionen musste die Stadt täglich bereitstellen – bedeutete für Ravensburg bereits in den ersten Kriegswochen massive Veränderungen des alltäglichen Lebens. In den Ausführungen zur Kriegswirtschaft und deren Auswirkungen werden zum Teil Ursachen für Probleme genannt, die in neueren historischen Untersuchungen durchaus anders gesehen werden. So sei für die Munitionskrise des Jahres 1914 der „hohe Verbrauch an Munition in den Materialschlachten“ verantwortlich gewesen. In dieser Phase des Krieges handelte es sich aber vielmehr um eine unerwartet frühe Folge der britischen Seeblockade, die zum Totalausfall der chilenischen Salpeterimporte führte. Diese Krise konnte trotz steigenden Munitionsverbrauchs durch die industrielle Ammoniaksynthese nach dem Haber-Bosch-Verfahren überwunden werden. Von Materialschlachten lässt sich erst von den großen und langen Schlachten bei Verdun oder an der Somme 1916/17 an sprechen. Für den Mangel an Nahrungsmitteln und die sinkende Industrieproduktion werden eine „mangelhafte wirtschaftliche Kriegsvorbereitung“ in Verbindung mit einer allgemein „leistungsschwächeren Volkswirtschaft der Mittelmächte“ verantwortlich gemacht. Der Mangel an Rohstoffen sei auf Transportprobleme zurückzuführen. In einem Nebensatz wird zwar die „Wirtschaftsblockade der Alliierten“ erwähnt, jedoch nach Meinung des Rezensenten in ihrer umfassenden Bedeutung für die Kriegswirtschaft in Deutschland nicht erfasst. Das verwundert, denn in der Darstellung der Folgen des Mangels und der Lösungsansätze in Form von Substitutionswaren offenbart sich ein tiefer Blick in die Akten des Stadtarchivs Ravensburg. Die Bewirtschaftung von Lebensmitteln

Rezension im Jahrbuch für Regionalgeschichte 33 (2015)

19. und 20. Jahrhundert

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durch das Kriegsernährungsamt oder die Tricksereien der Anbieter, wie der Fall eines Milchhändlers, der seine Milch durch Wasser streckte, finden ebenso Erwähnung wie der Steckrübenwinter 1916/17. Anhand der steten Verschlechterung der Versorgungslage entwickelt die Autorin alltagsund gesellschaftsgeschichtliche Fragestellungen weiter: Welche städtischen Milieus waren von Hunger besonders betroffen? Wie entwickelte sich der Arbeitsmarkt, und welche Maßnahmen wurden getroffen, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen? Die geschlechterspezifische Fragestellung, ob der Krieg „reiner Katalysator“ gewesen sei, der „Frauenbewusstsein und Frauenrechte auf Dauer sicherte“, wird betrachtet anhand der Frauenarbeit in Industrie und freiwilliger Krankenfürsorge im Rahmen des Lazarettwesens. Auf die Schilderungen der Kriegsauswirkungen auf die Stadt Ravensburg folgt eine Untersuchung der Nachrichten von der Front. Grundlage sind 370 Feldpostbriefe, die der Soldat Wilhelm Hohl an der Kriegsfront schrieb und die den Versuch zulassen, das Kriegserleben dieses Ravensburgers aus verschiedenen Perspektiven zu erfassen. Dazu werden Hohls Briefe anhand unterschiedlicher Identitätsmuster bzw. Rollen, die der Verfasser einnahm, analysiert. Daraus lässt sich ein detaillierter Einblick in Hohls Selbstbild als Kamerad, Familienmitglied, Württemberger sowie als Deutscher und schließlich als Gegner der anderen kriegführenden Mächte gewinnen. Die Ausführlichkeit, mit der hier ein einzelner Kriegsteilnehmer in den Mittelpunkt gestellt wird, muss allerdings kritisch hinterfragt werden. Unterscheidet sich das Fronterlebnis von Kriegsteilnehmern aus anderen Regionen von demjenigen Hohls? Oder ist es einfach die Fülle der überlieferten Briefe, die dazu führte, sie so breit darzustellen und zu interpretieren? Hier wäre eine kürzere Zusammenfassung mit Verweis auf die Magisterarbeit der Autorin zu diesem Thema angemessener gewesen. So bleibt die Chance ungenutzt, den ansonsten gelungenen und handwerklich ordentlich gemachten Band rund um den Kontext „Erster Weltkrieg und Ravensburg“ weiter zu entwickeln. Öffentliche Spendenaktionen, Zwangsablieferungen von Metallen oder Spannungsfelder zwischen Militär und zivilem Leben in Ravensburg, um nur wenige Beispiele zu nennen, bleiben so unbeleuchtet. Trotz der Kritikpunkte wird ein Buch vorgelegt, das aufgrund des ausgewählten Quellenmaterials zukünftigen Arbeiten den Weg weist. Als Gesamtbestandsaufnahme zur Stadtgeschichte Ravensburgs im Ersten Weltkrieg lässt die Autorin nachfolgenden Beiträgen gleichwohl noch genügend Raum, um sich vertiefend mit dem Thema zu befassen und bestehende Lücken zu schließen. Andreas Brandner

Bamberg

Rezension im Jahrbuch für Regionalgeschichte 33 (2015)

Autorenverzeichnis Ingrid Bátori

Sebastian-Kneipp-Straße 35, 56179 Vallendar

Sonja Hinsch

Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien, Universitätsring 1, A-1010 Wien

Dietmar Stübler

Watestraße 44/110, 04279 Leipzig

Matthias Winkler

Fredersdorfer Straße 26, 10243 Berlin

Historische Grundlagen der Moderne Herausgegeben von Prof. Dr. Eckart Conze, Prof. Dr. Philipp Gassert (geschäftsführend), Prof. Dr. Peter Steinbach und Prof. Dr. Andreas Wirsching

Historische Grundlagen der Moderne

l 8

l 11

Kristian Buchna

„Beliebt und gefürchtet“

Ein klerikales Jahrzehnt?

Die bayerischen Landräte im Dritten Reich

Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre

Nomos

Autoritäre Regime und Diktaturen

German Penzholz

Nomos

Historische Demokratieforschung

Historische Grundlagen der Moderne

„Beliebt und gefürchtet“

Ein klerikales Jahrzehnt?

Die bayerischen Landräte im Dritten Reich

Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre

Von German Penzholz 2016, ca. 715 S., geb., ca. 134,– € ISBN 978-3-8329-7444-2

Von Dr. Kristian Buchna

(Historische Grundlagen der Moderne, Bd. 8)

2014, 613 S., geb., 98,– € ISBN 978-3-8487-1230-4

Erscheint ca. Januar 2016

(Historische Grundlagen der Moderne, Bd. 11)

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Im Dritten Reich entschied der Landrat über Freiheit oder Unfreiheit der Bewohner des ländlichen Bayerns. Diese Studie untersucht zum ersten Mal ihre Rolle im nationalsozialistischen Regime und zeigt, warum sie, obwohl sie Hand in Hand mit der NSDAP zusammenarbeiteten, nach dem Krieg ihre Karrieren fortsetzen konnten.

Wie groß war der politische Einfluss der Kirchen in der Ära Adenauer? Erstmals werden in dieser Studie die kirchlichen Lobbybüros in Bonn analysiert und deren Methoden und Netzwerke transparent gemacht. Wie sich zeigt, waren die damaligen Warnungen vor einer Klerikalisierung und Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens keineswegs aus der Luft gegriffen.

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„Mein Kampf“ 1924–1945 Beiträge zur Leibniz’ Philosophie der Gerechtigkeit Beiträge zur Kommunikationsgeschichte – Band 28

Über Jahrzehnte folgte die Auseinandersetzung mit der berüchtigtsten politischen Schrift des 20. Jahrhunderts dem Diktum vom ebenso unlesbaren wie ungelesenen Buch. Es wurde erst in Zweifel gezogen, als mit dem absehbaren 70. Todestag Hitlers und dem Auslaufen der Urheberrechte die Frage nach dem künftigen Umgang mit immer virulenter wurde.

Othmar Plöckinger (Hg.) Quellen und Dokumente zur Geschichte von „Mein Kampf“ 1924–1945 2016. 695 Seiten mit 171 Dokumentabschriften. Gebunden. € 99,– & 978-3-515-11164-5 @ 978-3-515-11167-6

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Die Edition versammelt erstmals nicht nur alle relevanten Dokumente zur Entstehungsgeschichte des Buches, sondern liefert mit über 50 Rezensionen einen umfassenden Einblick in die Reaktionen beim Erscheinen der beiden Bände. Mit dem Honorar-Buch des nationalsozialistischen Eher-Verlags enthält es darüber hinaus die einzigen erhaltenen, lange verschollenen Aufzeichnungen über die Verkaufszahlen und Honorarleistungen, die Hitler bis Herbst 1933 erhielt. In zwei weiteren Abschnitten werden zahlreiche, zum Teil bisher unveröffentlichte Texte aus Deutschland aus der Zeit vor und nach 1933 präsentiert, die sich aus unterschiedlichsten Anlässen mit Mein Kampf beschäftigten – von politischen Schriften über staatliche Gutachten und Erlässe bis hin zu privaten Aufzeichnungen und Briefen. ..............................................................

Aus dem Inhalt Dokumente zur Entstehungsgeschichte | Das Honorarbuch des Eher-Verlags 1925–1933 | Rezensionen 1925–1932 | Analysen und Interpretationen 1925–1932 | Dokumente und Publikationen 1933–1945

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Ingrid Bátori: Bevölkerungsentwicklung, Migration und Einbürgerung in der Reichsstadt Nördlingen im 15. und 16. Jahrhundert Matthias Winkler: Das Exil als Aktions- und Erfahrungsraum: Französische Revolutionsemigranten im östlichen Mitteleuropa nach 1789

Sonja Hinsch: Von Arbeitslosen und Arbeitsscheuen. Die Herstellung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Formen von Nicht-Arbeit in Zwangsarbeitsanstalten, Besserungsanstalten und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Österreich 1918–1938) Rezensionen und Annotationen

Dietmar Stübler: Wilhelm Hähner als königlich-sächsischer Konsul in Livorno (1840–1866). Regionale Textilproduktion, wirtschaftliche Krisen und mediterrane Märkte

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-11261-1

ISSN 1860-8248