Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015): Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen global 3515115447, 9783515115445

Das sechste "Jahrbuch für Politik und Geschichte" rückt im Schwerpunkt das Feld globaler Erinnerungskulturen u

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German Pages 174 [178] Year 2016

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Table of contents :
INHALT
Claudia Fröhlich, Harald Schmid:
Editorial
Schwerpunkt: Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen global
Anca Claudia Prodan, Marie-Therese Albert:
„Memory of the World“ in Transition – Some Thoughts
on the Preservation of Documentary Heritage in the Digital Age
Stephan Scheuzger:
Die grenzüberschreitende Übertragung von Wissen
über Transitional Justice und ihre Akteure in historischer Perspektive
Fatima Kastner:
Weltkultur der Versöhnung.
Zur globalen Ausbreitung vergangenheitspolitischer Normen, Standards
und Institutionen von Transitional Justice in der Weltgesellschaft
Ralph Buchenhorst:
Zur Matrix globalen Erinnerns: Das Gedenken an die Shoah
im transnationalen Kommunikationsraum
Karolin Viseneber:
Sprache(n) des Erinnerns – transnationale Diskurse
und globale Inszenierungsstrategien
Atelier & Galerie
Jenny Wüstenberg:
Vernetztes Gedenken?
‚Influence Mapping‘ in der transnationalen Erinnerungsforschung
C. K. Martin Chung:
Chinesische Vergangenheitsbewältigung:
Hindernisse und Ressourcen in vergleichender Perspektive
Aktuelles Forum
Aleida Assmann: Das Recht auf Vergessenwerden und die schleichende Kulturrevolution im Internet
Fundstück
Claudia Fröhlich, Harald Schmid:
Einführung
Stefan Troebst:
Provinzielle Geschichtspolitik unter Europäisierungsgebot
und Globalisierungsdruck
Forschungsbericht
Stephan Scholz:
‚Flucht und Vertreibung‘ in der deutschen Erinnerungskultur
Autorinnen und Autoren
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Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015): Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen global
 3515115447, 9783515115445

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Jahrbuch für Politik und Geschichte Geschichte Franz Steiner Verlag

Band 6 | 2015 | Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen global Herausgegeben von Claudia Fröhlich Harald Schmid

Jahrbuch für Politik und Geschichte Band 6

JAHRBUCH FÜR POLITIK UND GESCHICHTE Schwerpunkt: Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen global JPG 6 (2015)

Franz Steiner Verlag

jahrbuch für politik und geschichte Herausgegeben von Dr. Claudia Fröhlich und Dr. Harald Schmid Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Aleida Assmann, Prof. Dr. Horst-Alfred Heinrich, Prof. Dr. Helmut König, Prof. Dr. Bill Niven, Prof. Dr. Peter Reichel, Prof. Dr. Peter Steinbach, Prof. Dr. Edgar Wolfrum www.steiner-verlag.de/jpg

Umschlagabbildung: Umschlagabbildung: Besucher am Eingang zu der Ruinen-Gedenkstätte des am 10. Juni 1944 durch die Waffen-SS zerstörten französischen Dorfes Oradour-sur-Glane, 2015, © Harald Schmid Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 2191-2289 ISBN 978-3-515-11544-5 (Print) ISBN 978-3-515-11545-2 (E-Book)

JAHRBUCH FÜR POLITIK UND GESCHICHTE 6 (2015)

INHALT

Claudia Fröhlich, Harald Schmid Editorial ..............................................................................................................

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Schwerpunkt: Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen global Anca Claudia Prodan, Marie-Therese Albert „Memory of the World“ in Transition – Some Thoughts on the Preservation of Documentary Heritage in the Digital Age ..................... 15 Stephan Scheuzger Die grenzüberschreitende Übertragung von Wissen über Transitional Justice und ihre Akteure in historischer Perspektive ............. 29 Fatima Kastner Weltkultur der Versöhnung. Zur globalen Ausbreitung vergangenheitspolitischer Normen, Standards und Institutionen von Transitional Justice in der Weltgesellschaft .................... 47 Ralph Buchenhorst Zur Matrix globalen Erinnerns: Das Gedenken an die Shoah im transnationalen Kommunikationsraum ......................................................... 61 Karolin Viseneber Sprache(n) des Erinnerns – transnationale Diskurse und globale Inszenierungsstrategien .................................................................. 77 Atelier & Galerie Jenny Wüstenberg Vernetztes Gedenken? ‚Influence Mapping‘ in der transnationalen Erinnerungsforschung .................. 97 C. K. Martin Chung Chinesische Vergangenheitsbewältigung: Hindernisse und Ressourcen in vergleichender Perspektive .............................. 115

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Inhalt

Aktuelles Forum Aleida Assmann Das Recht auf Vergessenwerden und die schleichende Kulturrevolution im Internet ........................................... 137 Fundstück Claudia Fröhlich, Harald Schmid Einführung ......................................................................................................... 145 Stefan Troebst Provinzielle Geschichtspolitik unter Europäisierungsgebot und Globalisierungsdruck .................................................................................. 147 Forschungsbericht Stephan Scholz ‚Flucht und Vertreibung‘ in der deutschen Erinnerungskultur ........................... 153 Autorinnen und Autoren .................................................................................... 171

EDITORIAL Claudia Fröhlich, Harald Schmid

Globalisierung und Weltgedächtnis Alle Welt spricht von der Globalisierung: die Wirtschaft, die Politik, die Medien, Wissenschaft und Kultur ebenso wie der Tourismus – und die digitalen Akteure ohnehin. Seit langem sind nationale Grenzen auf vielfältige Weise nicht nur durchlässiger, sondern auch gleichsam verflüssigt worden. Den globalen Finanz- und Warenströmen folgen Politik und Kultur auf dem Fuß, um diese, die vormals primär national strukturierten Staaten und Gesellschaften in beträchtlichem Maße sozusagen neuformatierenden Prozesse steuernd und prägend zu begleiten. Versteht man solche Prozesse einerseits als Entgrenzung und Entwurzelung nationaler Handlungsbedingungen, andererseits als Beschleunigung sowie Neuverdichtung und -verflechtung grenzüberschreitender Interaktionen, fragt sich, welche Folgen der meist vor allem aus ökonomischer und politischer Sicht wahrgenommene Globalisierungsschub der letzten Jahrzehnte im Feld von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik hatte. Gibt es im strengen Sinne das Handlungsfeld globaler Erinnerungskultur? Die Begriffe Geschichtspolitik und Erinnerungskultur entstammen der Beobachtung und Analyse nationalen Umgangs mit unterschiedlichen Vergangenheiten. Als identifikatorisch relevant wahrgenommene nationale Epochen, Ereignisse und Akteure stehen dabei im Fokus von Politik, Kultur und Wissenschaft: Je nachdem, ob es dabei um traditionsbildend-zustimmungsfähige oder um kontroverse, politisch-ethisch herausfordernde Vergangenheiten geht, unterscheiden sich die Umgangsweisen. Erst im Laufe der Zeit wurden sie auch für Analysen und Deutungen grenzüberschreitender oder zwischenstaatlicher Prozesse benutzt. Doch bereits auf der nationalen Ebene waren und sind die Geschichtserzählungen und -bilder ebenso wie die weitgefächerten Praxen des politisch-kulturellen und auch justiziellen Umgangs mit Vergangenheit vielfältig in internationale, mithin transnationale Bezüge verwoben. Das Jahrbuch für Politik und Geschichte hat dieses Feld schon mehrfach thematisiert. Etwa die Kolonialgeschichte, der Erste oder Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg oder die Europäische Gemeinschaft überschritten genuin Nationalgrenzen und das Denken in diesen Rahmen, da sie in das Nationale eine zweite Wahrnehmungs- und Deutungsebene einschreiben. Diese Weiterung ist immer schon mehr gewesen als bloß transzendierend oder ergänzend. Sie ist vielmehr eine die nationalen Erzählungen auch transformierende Entwick-

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lung. So tangieren grenzüberschreitende Erinnerungsprozesse nationale Selbstbilder und Identitäten, nationale Geschichtserzählungen und Akteursbedingungen. Aus der Debatte um politisch-ökonomische und sozio-kulturelle Wirkungen der Globalisierung ist hinlänglich bekannt: Nationale Traditionen und Strukturen sind zumindest partiell von bemerkenswerter Beharrungskraft, auch unter dem Druck beschleunigter ökonomischer globaler Prozesse. Zudem ist evident, dass die Tragfähigkeit neuer globaler Strukturen oft fragil ist. Gleichwohl, die transformierten Arten des Vergangenheitsbezugs bezeichnen eine wirkmächtige Dimension politisch-kultureller Realität, sodass auch zu fragen ist, in welchem Maße Normen, Rituale, Orte, Akteure und Ressourcen geschichtspolitischen und erinnerungskulturellen Handelns zur Globalisierung der Einen Welt beitragen. Sind wir also auf dem Weg vom partikular-abgrenzenden Gedächtnis zum global integrierenden Weltgedächtnis? Was macht Erinnern, Gedenken, Politik mit der Geschichte zu einem globalen Prozess – wie im Feld der allgemeinen Globalisierung der Wechsel vom Bezugssystem Nation zur ganzen Welt respektive größere Weltregionen mit übergreifenden Institutionen? Wo sind dann die geschichtspolitischen Arenen, wer sind die erinnerungskulturellen Akteure, wie werden die entsprechenden Normen transformiert und wo verlaufen Konfliktlinien globalen Vergangenheitsmanagements? Welche Relevanz haben etwa globale Geschichtspolitiken für die Verbreitung normativer Leitbilder wie der liberalen Demokratie und universeller Menschenrechte? Welche normativ-kognitive Reichweite haben diese Diskurse? Wie verändern sich dabei die Vergangenheitsbezüge, wie die Geschichtsbilder der Nationen und jene der „Vereinten Nationen“? Mit welchen Projekten, mit welchen Zielen werden die Nationen auch im Feld von Geschichte und Erinnerung gewissermaßen globalisiert – und wie wirken diese Diskurse zurück auf das Selbstverständnis nationaler Gesellschaften? Wie lassen sich dabei die benachbarten Begriffe internationale, transnationale und globale Erinnerung voneinander unterscheiden – und aufeinander beziehen? Gilt auch hier der Leitspruch der politischen Globalisierung: global denken, lokal handeln – oder verstellt diese Sicht eher den Blick auf die globale Verflechtung respektive Durchringung aller Ebenen? Kurzum: Wie sehen Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen jenseits nationaler Grenzen in charakteristischer globaler Vernetzung aus? Zu dieser Ausgabe Diese Fragen umreißen den konzeptionellen Rahmen unseres Schwerpunkts zum Thema „Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen global“. Anca Claudia Prodan und Marie-Theres Albert eröffnen die Rubrik mit einem Beitrag zum UNESCOProgramm „Memory of the World“. Als ein Instrument des „kulturellen Internationalismus“ zielt das 1992 etablierte Programm auf die Sicherung der materiellen Dokumente der Überlieferung der Menschheit und Verbesserung ihrer Nutzungsmöglichkeiten. In diesem Kontext untersuchen die Autorinnen die Rolle digitaler Technologie, deren Nutzung – so die These – die Tendenz einer Informationsideologie befördere. Das historisch neue Spannungsverhältnis zwischen Träger und

Editorial

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Inhalt der Information fokussiert sich dabei auf den Status digitaler Dokumente, die zur Sicherung des Inhalts permanenter Anpassung an neue Soft- und Hardware bedürfen: Hieß früher, den Träger zu bewahren auch den Inhalt zu bewahren, so muss nun der Träger immer wieder erneuert werden, um den Inhalt zu sichern. Damit sind das schwierige Problem der Bestimmung des Werts digitaler Dokumente als Artefakte und diverse komplexe Fragen der Bewahrung dieser Dokumente verbunden. Diese werden verstärkt durch den oftmals interaktiven und gemeinschaftlichen Status derselben. Die Antworten auf diese Herausforderungen, so Prodan und Albert, gehen über technische Probleme hinaus und haben soziale und kulturelle Folgen, die die Erinnerungspolitik im digitalen Zeitalter beeinflussen. Insbesondere die Wendung des Fokus vom historisch kontextualisierten „Dokument“ zur entkontextualisierten „Information“ reihe sich ein in eine allgemeine Entwicklung zu einer Informationsideologie. Angesichts dessen plädieren die Autorinnen dafür, dass das UNESCO-Programm „Memory of the World“ seinen Umgang mit digitalen Dokumenten überdenken soll. Zwei Beiträge des Schwerpunktthemas befassen sich mit dem Phänomen Transitional Justice, die in den vergangenen dreißig Jahren ein zentrales Handlungsfeld globaler Erinnerung, vielleicht ein globales Handlungsmodell geworden ist. Wie hat sich seit den späten 1980er-Jahren das Wissen über Transitional Justice über nationale Grenzen hinaus verbreitet und wie hat der globale Wissenstransfer Transitional-Justice-Prozesse verändert? Mit diesen Fragen befasst sich Stephan Scheuzger in seiner zeitgeschichtlichen Analyse. In den Mittelpunkt rückt er exemplarisch die Institutionalisierung von Wahrheitskommissionen, um die Entwicklung von vier Akteursgruppen zu beschreiben, die „die Produktion und den grenzüberschreitenden Transfer von Wissen über Transitional Justice“ steuerten. Mit Blick auf die Analyse der Universalisierung und gleichzeitigen Partikularisierung von Transitional Justice, plädiert Scheuzger für eine Überwindung der dichotomisierenden Betrachtung von Globalem und Lokalem und stattdessen für die verstärkte Betrachtung von Akteuren in den konkreten und vielfach grenzüberschreitenden Verflechtungszusammenhängen, in denen Vergangenheitsaufarbeitung stattgefunden hat. Während Scheuzgers Beitrag akteurszentriert argumentiert, beschreibt Fatima Kastner die rasante weltweite Ausbreitung von Transitional Justice in den vergangenen dreißig Jahren als ein Konzept für Konfliktlösungen. Sie rückt dabei ebenfalls das Spannungsfeld zwischen lokalen Kulturen und universellen Prinzipien in den Blick, fokussiert aber die „lokale Wirkweise“ und „weltgesellschaftliche Funktion vergangenheitspolitischer Normen, Standards und Institutionen“. Sie zeigt, wie sich die nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte „legalistische Forderung nach der juridischen Verantwortlichkeit ehemals verbrecherischer Regime“ hin zu einem „erweiterten Gerechtigkeitskonzept von Transitional Justice“ verändert hat. Kastner bezeichnet das unter der Bedingung der Globalisierung neu entstandene „Rechtsregime“ als Lex Transitus und sie begründet, warum dem „sozialen Druck zur Anpassung an globale vergangenheitspolitische Verhaltensmodelle sich kaum ein souveräner Staat mehr entziehen kann“.

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Ralph Buchenhorst entwirft in seinem Beitrag über „Das Gedenken an die Shoah im transnationalen Kommunikationsraum“ eine „Matrix globalen Erinnerns“. Buchenhorst beschäftigt sich mit dem konkreten Fall der Aufarbeitung der Militärdiktaturen in Argentinien und Chile, um zu zeigen, wie mediale Infrastrukturen oder transnationale Lebenswelten die Verschränkung von Erinnerungsdiskursen und -praktiken strukturieren. Auf der Grundlage einer empirisch gesättigten Beschreibung dieser verschränkten Erinnerung diagnostiziert er als Herausforderung des globalen Erinnerns eine „Dialektik der Aufarbeitung“, die „zwischen Individualisierung und Standardisierung, Narrativ und Norm, kritischer Selbstreflexion und radikaler Ausgrenzung des Anderen hin und her navigiert“. Spricht man von globalen Erinnerungsstrukturen oder einem Weltgedächtnis, stellt sich unweigerlich auch die Frage: Wie können partikulare Erfahrungen, kondensiert in regionalem und nationalem Geschichtsbewusstsein, vermittelt werden? Gibt es eine oder viele „Sprache(n) des Erinnerns“? Karolin Viseneber widmet sich in ihrem Schwerpunkt-Beitrag diesem Problem der Übersetzbarkeit von Erinnerungen in andere sprachlich-kulturelle Kontexte. Im Mittelpunkt stehen dabei ausgewählte zeitgenössische Texte aus Südamerika. Viseneber fragt, ob es eine transnationale Sprache des Erinnerns geben kann und wie sich diese gegebenenfalls beschreiben ließe. Inszenierungsstrategien werden, so ihre These, „weit weniger von Nationen-, Sprach- oder Kulturgrenzen geprägt als meist angenommen. Partikulare Erinnerungen werden in unterschiedliche Kontexte übersetzt, wodurch sich Transformationen und Verschiebungen ergeben“. Dabei versteht sie Erinnerungsprozesse als umkämpfte Räume des Dissenses, die globale und lokale Elemente verbinden können Als Ergebnis konstatiert sie „ein gemeinsames Moment in diesen Erinnerungskämpfen (…), das aus dem Einschreiben in einen globalen Kontext von Verfolgung, Folter, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen resultiert“. In den Beiträgen der Rubrik Atelier & Galerie geht es in diesem Band um ein grenzüberschreitendes und nationales Beispiel des Umgangs mit Vergangenheit. Jenny Wüstenberg präsentiert einen methodisch innovativen Ansatz zur Analyse der „Transnationalisierung von Erinnerungspolitik“. Ausgehend von dem Befund, dass transnationale Netzwerke in den vergangenen Jahren die Erinnerungspraxen in der Europäischen Union geprägt haben, entwickelt Wüstenberg mit der Methode des „Influence Mapping“ ein Instrumentarium, um die Struktur dieser Netzwerke erfassen zu können. In ihrem Beitrag stellt Wüstenberg erste Ergebnisse aus einem laufenden Forschungsprojekt über die Struktur eines in der EU „vernetzten Gedenkens“ vor: Sie diagnostiziert ein „hohes Maß von Homophilie“ als Kennzeichen der Netzwerke europäischer Erinnerungsakteure, das jenen Einzelpersonen, die die Netzwerke verbinden, „besondere Machtpositionen“ ermöglicht. Wüstenberg thematisiert außerdem offene methodische Fragen ihrer Netzwerkanalyse, wie etwa die Verknüpfung von quantitativen und qualitativen Methoden. C. K. Martin Chung stellt ein Forschungsprojekt vor, dessen Thema in Deutschland eher randständig ist: Er beschäftigt sich mit dem Umgang der chinesischen Gesellschaft mit Vergangenheit. Ausgehend von den im Vergangenheitsdiskurs in China wichtigen Leitideen „Reue“ und „Umkehr“ begründet Chung, warum es analytisch spannend ist, den Umgang mit Vergangenheit in China und Deutschland zu

Editorial

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vergleichen. Sein transkulturell angelegtes Forschungsprojekt versteht sich außerdem als ein Plädoyer für die Relevanz vergangenheitspolitischer Themen im Feld interkulturellen Lernens. Um eine potenziell „menschheitsgeschichtliche Zäsur“ geht es dieses Mal im Aktuellen Forum, in dem Aleida Assmann sich mit dem „Recht auf Vergessenwerden“ auseinandersetzt. Anlass ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) von 2014 zur Löschung personenbezogener Daten im Internet. Sie beschreibt eine „schleichende Kulturrevolution“, die das übliche Zusammenspiel zwischen Erinnern und Vergessen durcheinander gebracht habe. Das Erinnertwerden, so Assmann, ist dadurch vom Segen zum Fluch geworden: „Was auf irgendeinem Weg ins Internet gelangt ist, wird mit dem bloßen Verstreichen der Zeit nicht mehr dekomponiert und kann auch nicht mehr geschreddert werden. Es ist unbemerkt hinübergeglitten in das universale Online-Archiv der Menschheit“, das die Eigenschaft besitze, von allen Seiten blitzschnell und mühelos alles Mögliche aufzunehmen, aber nichts zu vergessen“. Die bisherige menschheitsgeschichtliche Regel des Vergessens werde nun auf den Kopf gestellt: Erinnerung als Norm, Vergessen als Ausnahme. Für die Diskussion dieser Entwicklung betont Assmann dabei eine wichtige Unterscheidung: „Speichern kann an technische Maschinen abgegeben werden, Erinnern dagegen können nur Menschen, die unverwechselbare Standpunkte, eingeschränkte Perspektiven sowie Erfahrungen, Gefühle und Ziele haben. All das verbindet sich mit Identitäten und Kriterien der Bedeutung und Relevanz, deren Rückseite wiederum die Ausblendung von Unwesentlichem, die Negierung von Auszuschließendem und andere Akte des Vergessens sind.“ Vor diesem Hintergrund versteht die Autorin das EuGH-Urteil als bedeutenden Impuls auch für die Erinnerungsforschung. Gezielte Löschoperationen seien erforderlich um zu verhindern, „dass der uralte menschliche Wunschtraum des Erinnertwerdens allmählich in den Alptraum des nicht mehr Vergessenwerdens umkippt“. Das Thema „Flucht und Geschichtspolitik“ steht im Mittelpunkt der beiden abschließenden Beiträge. Als Fundstück präsentieren wir einen Essay von Stefan Troebst, der auf erinnerungskulturelle Folgen der Flüchtlingsbewegung und -debatte hinweist. Er fragt nach dem „auffälligen Desinteresse der politischen Klasse an einem geschichtspolitisch so zentralen Thema, nämlich dem der staatlich betriebenen und ethnisch begründeten Zwangsmigration von Deutschen, aber auch von Polen, Finnen, Griechen, Juden, Armeniern, Letten, Kosovo-Albanern, Ukrainern, Krimtataren, bulgarischen Türken, Tschetschenen und anderen im 20. Jahrhundert“. Dies verdeutlicht der Autor am Beispiel der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ und deren zentralem Projekt einer Dauerausstellung im Deutschland-Haus in Berlin-Mitte. Troebst setzt sich für eine Korrektur der öffentlichen Wahrnehmung der Stiftung und ihres Projekts ein: „hin zu einem gesamtstaatlichen Lern- und Erinnerungsort und einer Forschungsbörse von internationalem Ruf und weg vom Image eines provinziellen Verbandsmuseums“. Eine aktuelle Literaturübersicht und -analyse zum Thema „‚Flucht und Vertreibung‘ in der deutschen Erinnerungskultur“ bietet Stephan Scholz in seinem Forschungsbericht. Er kann zeigen, dass und wie sich die Forschungsanstrengungen auf diesem Feld in den vergangenen Jahren verstärkt haben, insbesondere im

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Mikrobereich individueller oder familiärer Vergegenwärtigung, verweist aber auch auf Desiderate und Schwerpunkte. Scholz plädiert dafür, künftig sowohl vergleichende migrationsgeschichtliche Studien anzuregen als auch „nach den Auswirkungen der aktuellen Zuwanderungserfahrungen auf die deutsche Erinnerungskultur an ‚Flucht und Vertreibung‘“ zu fragen. Vorschau auf Band 7 Schwerpunktthema des siebten, voraussichtlich Ende 2016 erscheinenden Bandes wird der virtuelle Aspekt des Umgangs mit Geschichte und Erinnerung sein. Darüber hinaus präsentieren wir in der Rubrik Atelier & Galerie – unabhängig vom Themenschwerpunkt – neuere Forschungsergebnisse zu den Themenfeldern Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik. Wir freuen uns über methodisch und inhaltlich innovative Beiträge. Die Manuskripte für beide Rubriken, für den Schwerpunkt ebenso wie für Atelier & Galerie, werden mittels Board Review und Double Blind Peer Review begutachtet. Dank Zuvorderst gilt unser Dank allen beteiligten Autorinnen und Autoren, die mit ihren Aufsätzen diesem Band sein Profil gegeben haben – und dieses Mal sich in Geduld üben mussten, bis das Jahrbuch erschien. Besonders verbunden sind wir unseren Gutachterinnen und Gutachtern, die uns durch ihre Stellungnahmen zu den Aufsätzen der Rubriken Schwerpunkt sowie Atelier & Galerie eine unverzichtbare Hilfe bei der Qualitätssicherung waren: Wolfgang Bergem, Sören Brinkmann, HorstAlfred Heinrich, Jan C. Jansen, Ulrike Jureit, Habbo Knoch, Daniel Leese, Stephan Linck, Peter Reichel, Dittmar Schorkowitz, Birgit Schwelling, Annette Weinke. Für muttersprachliche Unterstützung danken wir sehr herzlich dem Mitglied unseres Wissenschaftlichen Beirats Bill Niven. Unser Dank gilt auch dem Franz-Steiner-Verlag für die stets konstruktive Begleitung des Jahrbuchs. Verlagsleiter Thomas Schaber danken wir herzlich für die fortgesetzte und geduldige Unterstützung des JPG.

S C H W E R P U N K T: GESCHICHTSPOLITIKEN UND ERINNERUNGSKULTUREN GLOBAL

„MEMORY OF THE WORLD“ IN TRANSITION – SOME THOUGHTS ON THE PRESERVATION OF DOCUMENTARY HERITAGE IN THE DIGITAL AGE1 Anca Claudia Prodan, Marie-Theres Albert Abstract: The aim of this article is to present some developments triggered by digital technology in the field of documentary heritage preservation and to point out their consequences for the Memory of the World Programme (MoW). This is a 1992 initiative of UNESCO aimed at promoting the value of documentary heritage, so as to enhance its preservation and accessibility. One tool that has been increasingly applied to this end, especially concerning universal accessibility, is digital technology; but beyond the possibilities it offers, also a tendency emerges to subsume MoW to what seems to be an ideology of information. The article expounds the problems of this tendency, discusses its implications for MoW and suggests alternatives that might give it a new contemporary relevance. Zusammenfassung: Ziel dieses Artikels ist es, manche Entwicklungen, die die digitale Technologie im Bereich der Bewahrung des Dokumentenerbes auslöst, zu präsentieren und deren Auswirkungen auf das Programm Memory of the World (MoW) aufzuzeigen. Das ist eine 1992 von der UNESCO etablierte Initiative, die zur Aufgabe hat, das Bewusstsein von der Bedeutung der Dokumentenüberlieferung zu fördern, um deren Bewahrung und Zugänglichkeit zu verbessern. Ein Mittel, das immer mehr für diesen Zweck angewandt wird, besonders in Hinsicht auf universelle Zugänglichkeit, ist die digitale Technologie; aber jenseits der Möglichkeiten, die sie eröffnet, entsteht auch eine Tendenz, dass MoW in etwas eingeordnet wird, was eine Informationsideologie zu sein scheint. Dieser Artikel problematisiert diese Tendenz, diskutiert ihre Implikation für MoW und schlägt Alternativen vor, die MoW möglicherweise eine neue zeitgenössische Relevanz geben.

Introduction The Memory of the World Programme (MoW) belongs to the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) and its international system of heritage protection. Thus, its purpose can be best understood by placing it in the context of UNESCO as an international and intergovernmental organization. UNESCO was established in 1945, following World War II, and it was created to 1

This article is based on a Ph.D. dissertation on the Memory of the World Programme; see Anca Claudia Prodan: The Digital „Memory of the World“ – An Exploration of Documentary Practices in the Age of Digital Technology, Ph.D. Dissertation, Brandenburg University of Technology Cottbus-Senftenberg, 2014, URL: http://opus4.kobv.de/opus4-btu/frontdoor/index/index/ docId/3013.

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Anca Claudia Prodan, Marie-Theres Albert

contribute to international peace through collaboration and solidarity among the peoples of the world. Several means have been devised to this end, one of them being the maintenance, increase and diffusion of knowledge through „the conservation and protection of the world’s inheritance of books, works of art and monuments of history and science“.2 This aim found expression in several activities dedicated to heritage protection, such as the Convention for the Protection of the World Cultural and Natural Heritage (WHC), the Convention for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage (ICH), or the Memory of the World Programme. Each covers selected aspects of what UNESCO generally calls the heritage of humanity – a view that there are resources whose value is not confined to temporal or spatial boundaries, their protection concerning the world as a whole. John Henry Merryman called this view „cultural internationalism“, using it to refer to a tendency that emerged in post-war international law in the 1950 s.3 He opposed it to the notion of „cultural nationalism“ to explain two ways of viewing cultural property: either as belonging to a common human culture, regardless of origin, location, or property rights; or as part of national cultural heritage. As Merryman explains, one tendency is cosmopolitan, focusing on the protection of resources as part of a common world culture; the other is nationalist, focusing on the retention of resources as part of national culture.4 MoW, whose concern is with the documentary heritage of humanity, is an expression of cultural internationalism but it stands apart from the other initiatives in two main regards. First, unlike the heritage conventions mentioned above, being situated under the Culture sector, MoW is situated under the Communication and Information sector of UNESCO.5 This influences how MoW is sometimes perceived and promoted as a programme concerned with preservation of information. Second, unlike the others, MoW is not a convention but a programme and it has no legal force. Nevertheless, all activities undertaken by UNESCO are underpinned by its global ethics as reflected in the idea of a heritage of humanity. Despite not belonging to the same sector and not sharing the same status, MoW is considered complementary to heritage conventions. When placed in line with heritage initiatives rather than programmes focusing on information, a very different perspective of MoW emerges; it is not simply an instrument for preserving information but an expression of cultural internationalism and a means of international solidarity and cooperation. However, due to the technical possibilities of access triggered by digital technology, a tendency has emerged to view MoW as centring on the notion of information. The article at hand argues that this development is not beneficial for the intention of MoW to promote worldwide the significance of documentary heritage and set global standards for its preservation and access. In support of this 2 3 4 5

UNESCO: Constitution of the United Nations, Educational, Scientific and Cultural Organization, Adopted in London on 16 November 1945 by the General Conference, Preamble. John Henry Merryman: Two Ways of Thinking about Cultural Property, in: The American Journal of International Law 80 (1980) 4, pp. 831–853, 842. Ibid., p. 846. UNESCO carries out activities in five programme sectors: Education; Natural Sciences; Social and Human Sciences; Culture; Communication and Information.

„Memory of the World“ in Transition

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argument, first, the scope and objectives of MoW are introduced, also pointing out some changes triggered by digital technology in this context. To understand the background of these changes, as a second step the difference between digital and non-digital documents is discussed, as well as the consequences for the practice of preservation. This serves to underline that although the changes observed are of a technical nature, their implications are social and cultural. As third and last step, the paper illustrates how and why reconsidering the approach of MoW to digital documents would not only be necessary but also bears the potential to give MoW broadened relevance. The Memory of the World Programme and its Objectives The perspective of cultural internationalism is emphasized already in the opening paragraph of the key instrument for the implementation of MoW – the General Guidelines to Safeguard Documentary Heritage or simply the Guidelines – which reads: „The Memory of the World is the documented, collective memory of the peoples of the world – their documentary heritage – which in turn represents a large proportion of the world’s cultural heritage. (…) It is the legacy of the past to the world community of the present and the future.“6

For clarifying the scope of MoW, worthy of attention is its reference to collective memory. This concept entered the academic discourse already at the beginning of the twentieth century but especially during the last decades its use has intensified considerably, finding application in various disciplines and contexts, and being a core concept in an emerging research field known as Memory Studies.7 However, there is no unanimous agreement about its meaning. In this regard, Jeffrey Olick has remarked that collective memory is not an operational definition but an umbrella concept referring to a variety of products and practices.8 In contrast to this, collective memory in MoW has a specific meaning, above all representing a reflection of UNESCO’s cultural internationalism, being synonymous with the notion of the heritage of humanity: „… books, periodicals and manuscripts constitute the collective ‚Memory of the World‘. Other than our individual memories, they span the generations and the centuries.“9 In this context, the notion „collective“ refers to UNESCO’s internationalist vision of heritage, as something concerning the world as a whole, not just the countries on whose territory it is physically located, and not just present generations but also those to come. As for „memory“, MoW acknowledges that it has many facets, being embodied both in the material trace of the past 6 7 8 9

Ray Edmondson: Memory of the World. General Guidelines to Safeguard Documentary Heritage, Paris 2002, p. 2. For an example see Astrid Erll, Ansgar Nünning (eds): Cultural Memory Studies: An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin 2008. Jeffrey K. Olick: From Collective Memory to the Sociology of Mnemonic Practices and Products, in: Erll, Nünning (eds.): Cultural Memory Studies, 2008, pp. 151–162. Hans van der Hoeven, Joan van Albada: Memory of the World. Lost Memory – Libraries and Archives Destroyed in the Twentieth Century, Paris 1996, p. 2.

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and in people’s practices. However, MoW deals solely with material products because practices would include cultural manifestations that are normally considered under the ICH. The Guidelines clearly explain that the intangible and oral heritage is the province of other UNESCO programmes.10 Heritage categorizations, although criticized as being artificial and incompatible with real-life situations, can be explained by the fact that international law has developed reactively, in response to specific challenges, to fill gaps or address needs existing at certain moments in time. This becomes obvious by studying the background and rationale of UNESCO’s standard-setting activities. In the case of MoW, inspiration was taken from the success of the World Heritage Convention, which protects buildings and sites, but according to Ross Harvey the catalyst for its initiation was the destruction of the National Library of Sarajevo.11 Being composed of physical materials, documents suffer from natural causes of decay but also from man-made causes such as looting, dispersal, poor housing, neglect and, to a large extent intentional destruction, such as book burning, which has been practiced throughout human history. Although documents have always been the object of intentional destruction, their loss has intensified considerably especially during the two World Wars and the political upheavals of the 1980 s.12 Apparently, the efforts of libraries and archives as traditional institutions protecting documents were not effective enough, leading to the need to take complementary measures at the international level. Thus, in response to the concerns expressed by member states at the 1991 session of the General Conference of UNESCO, and following meetings with specialized organizations,13 a proposal was put to the Director General of UNESCO who decided to launch the programme. The rationale of MoW lies in the need to sensitize the public at large and change mindsets regarding documents and their value, and it pursues three objectives: to facilitate preservation, to assist universal access and to increase awareness worldwide about the existence and significance of documentary heritage. Preservation and access are key objectives in MoW but so are they in libraries and archives and, as MoW was not intended to replace but complement their activities, it is important to understand these objectives within the broader ethical framework of MoW, derived from UNESCO’s cultural internationalism. Thus, MoW was set up to encourage change in the way documents are perceived, its unique attribute being „the capacity to exercise a comprehensive and objective global perspective on the documentary heritage which is independent of time, political or ethnic boundaries, and so to promote the adoption of universal principles and changes in global consciousness“.14 10 11 12 13 14

Edmondson: Memory of the World, p. 8. Ross Harvey: UNESCO’s Memory of the World Programme, in: Library Trends 56 (2007) 1, p. 263. Numerous examples can be found in a compilation prepared in the context of MoW. See van der Hoeven, van Albada: Memory of the World, 1996. Examples include the International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA), the International Council of Archives (ICA) and the International Association of Sound Archives (IASA). UNESCO: Report of the First Meeting of the Bureau of the International Advisory Committee of the „Memory of the World“ Programme, Paris 1998, p. 15.

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In MoW this occurs through various activities ranging from publicity to educational measures, but the international Memory of the World register represents the most visible aspect. This is a list featuring some of the most significant documents the world has ever created, as it were, whose inscription is based on selection criteria. MoW pretends to be „a truly international undertaking“, one that „maintains a global perspective embracing all countries and peoples“, as well as all types of documents ranging from papyrus to digital files.15 But many authors criticized it for being subjective. For example, Annemaree Lloyd notes that designating documentary heritage as significant is a political act relying on selection criteria and although it intends to be objective it reflects the subjective position and political interests of those in charge with defining significance, always privileging some memories over others.16 In an attempt to place MoW within a human rights framework, also Hillary Charlesworth argues that although the programme, through its aims, has strong human rights foundations, the central criterion is that of significance, which raises uncomfortable questions for debate, such as whether MoW discriminates through the nomination procedure, if it gives recognition to minorities of all kinds, to those deprived of memories or with oral traditions.17 It should be underlined that MoW does not consist only in the international register, having also regional and national registers, as well as other activities that support its objectives, but if the programme is judged solely based on the international register, the criticism is well founded. Nevertheless, the Guidelines acknowledge that some cultures are more prolific document producers than others and therefore „not all cultures will be equally represented within the global documentary heritage and hence within Memory of the World“.18 The Guidelines also state that the register is highly selective but they argue that it is universally accessible, representing an illustration of the right of access, which MoW intends to promote. Making reference to the Universal Declaration of Human Rights and the Covenant on Civil and Political Rights, it states that „everyone has the right to an identity, and therefore the right of access to their documentary heritage. This includes the right to know it exists and where to find it“.19 The register exemplifies this principle in that although featuring only a selection of items, „it draws attention not only to the items listed, but also to the documentary heritage as a whole. Where an item on the Register can be accessed by Internet, it provides a link to the other holdings and services of the custodial institution concerned“.20

15 16 17 18 19 20

Edmondson: Memory of the World, 2002, p. 2. Annemaree Lloyd: Guarding against collective amnesia? Making significance problematic: an exploration of issues, in: Library Trends 56 (2007) 1, pp. 53–65. Hilary Charlesworth: Human rights and the UNESCO Memory of the World Programme, in: Michele Langfield, William Logan, Máiréad Nic Craith (eds.): Cultural Diversity, Heritage and Human Rights. Intersections in Theory and Practice, London 2010, pp. 21–30. Edmondson: Memory of the World, 2002, p. 8. Ibid., p. 15. Ibid.

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Without denying the subjectivity of selection practices underlying the register, this present article draws attention to a different aspect that is similarly problematic for MoW’s intention to exercise a comprehensive and global perspective on the documentary heritage, namely its over-reliance on digital technology. Already in 1998 an evaluation committee noted that although preservation and access were promoted as two main objectives, there was an ongoing dilemma between them, „particularly as a consequence of the emphasis on new technologies as a means of enhancing access“.21 The evaluation committee also observed „a change of emphasis, perhaps unintentional, from preserving original materials to merely safeguarding the information which they contain“.22 In essence these comments indicate two interrelated changes triggered by digital technology: a conceptual change in how documents are understood and the practical implication regarding their preservation. Beyond the possibilities of access afforded by digital technology, MoW should be mindful of these changes, as they do not seem fully supportive of its intention to promote documents as heritage and set global standards for valuing them. The article at hand turns now to explaining this aspect. Documents and Preservation in the Digital Age In MoW a document used to be defined as a unity between an informational content and the physical carrier holding the information, and both were considered equally significant. A document’s heritage value was not limited to its content but could also be attached to the carrier due to its aesthetic, historic, scientific, associative or other type of value. In the case of digital documents this conceptualisation has changed recently, with attention largely paid to the content. As explained in a 2011 companion for implementing MoW, in the case of digital documents „the carrier, although necessary to physically hold the information, is of lesser, and often of no importance in the context of Memory of the World“.23 As further explained in the same companion, the reason for this is the process of technological obsolescence, meaning that software and hardware quickly fall into disuse as new ones develop. This renders transferring the content from one carrier to another necessary in order for the content to be preserved.24 Indeed, in the case of traditional or non-machine readable documents such as a printed book, the preservation of the carrier, thus of the paper, was necessary because the content was recorded on it, with access to the book implying physical access to the paper. In the case of machine-readable documents such as a digital book recorded on a CD-ROM, this situation has changed. Despite the preservation of the CD-ROM being necessary, having access to it does 21 22 23 24

Guy Petherbridge, Christopher Kitching, Clemens de Wolf: ‚Memory of the World Programme‘ External Evaluation, Paris 1998, p. 14. Ibid., p. 16. UNESCO: Memory of the World Register Companion, 2011, URL: http://www.unesco.org/ new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/CI/CI/pdf/mow/Register%20Companion.pdf; last access: October 23rd, 2011. Ibid.

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not guarantee access to the digital book. The hardware and software that can „read“ it are also needed. In order to keep a digital book readable it is assumed that the carriers have to constantly change, which results in ignoring the carrier’s relevance as heritage and emphasizing its instrumental value in making content accessible. Whereas this might not represent a problem from the technical perspective of preserving content, denying the potential heritage value of the digital carrier on the basis that it will not be preserved does not accord with the fundamental principles of MoW. The value of a carrier has never been something inherent in the possibility of preserving it but arising from the assessment of a document against a set of criteria for determining significance. To some extent the problem of preserving digital documents is indeed technical but the changed conceptualization of documents has far-reaching consequences, influencing the politics of memory in the digital age and determining what and how future generations will remember. It might not be easy to think of a CD-ROM as having heritage value, but this depends on how documents are approached. John Feather distinguished between documents as artefacts and as information carriers. As an artefact, a document is a physical object, the carrier being part of its value. As an information carrier a document is a device for transmitting content and the carrier „is of interest only to the extent that it contributes to, or inhibits, that objective“.25 A chronological analysis of how the Guidelines developed shows that at the beginning of MoW there was an attempt to approach digital documents as artefacts but today they are seen as information carriers, with the heritage value placed on their content. However, the approach taken has practical implications because it underlies preservation. Thus, whether focus falls on the content, the carrier, or both makes a difference, as discussed below. The conceptual changes that are obvious in MoW reflect a broader development taking place in libraries and archives, where terminological changes can be noticed. The Royal School of Librarianship in Copenhagen has changed its name to the Royal School of Library and Information Science; the American Documentation Institute has turned into American Society for Information Science;26 or the German Society for Documentation is now called German Society for Information Science and Practical Information Work. Even Library Sciences are now called Library and Information Sciences, sometimes simply Information Sciences. Other examples could be added but Birger Hjørland is perhaps right in that the most important change underlying all the others is the shift from the notion of document to that of information as a basic unit of analysis, despite conceptual differences. According to him a document designates something with a creator, history and socio-cultural context; these are missing in the case of information, which is related to formalization, automation, reductionism and the absence of context.27 Apart from this aspect, in those accounts holding that only the content of digital documents matters we can 25 26 27

John Feather (ed.): Managing Preservation for Libraries and Archives. Current Practice and Future Developments, Aldershot et al. 2004, pp. 4–5. Birger Hjørland: Documents, Memory Institutions and Information Science, in: Journal of Documentation 56 (2000) 1, pp. 27–41. Birger Hjørland, Jeppe Nicolaisen (eds.): The Epistemological Lifeboat. Epistemology and Philosophy of Science for Information Scientists, 2005, URL: http://www.iva.dk/jni/lifeboat_

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sense not only a narrow approach to documents but also an ideology of information. Ronald Day remarks that information has become a central term of ideology, spreading over vast cultural spaces, forming a discourse of information, reflected in terms such as information society, information super-highway, information designers, and other information-based labels.28 As Day explains, „a tradition of values for information has been established and has been, rather uncritically and ahistorically, promulgated as a ‚good‘ not only for Western culture but, more troubling, for, and as, ‚the global‘“.29 In light of this discourse, Day holds that „vocabularies for the future are included or excluded, shaping history in a way that is fit for information and for little else“. Indeed, whatever the nature of the practice that people engage in nowadays, information seems to be at its core. A precious good for people living in information societies, the key resource of the economy, information is now simply everywhere. What is most problematic about this development for the field of documentary heritage preservation is that the discourse on memory and heritage is subsumed under a discourse of information, one in which information is but a commodity that can be exchanged and sold. But memory, especially collective memory, does not have its roots in an economic rationale, having a very powerful social rather than economic function.30 Even if they carry information, documents are more than information carriers. Consequently, a group of Scandinavian scholars has recently drawn attention to their social relevance, trying to develop a critical document theory so as to counter the shortcomings resulting from the reduction of documents to their content. As John S. Brown and Paul Duguid argue, documents should be seen as the means to make and maintain social groups not just the means to deliver information; documents do not simply communicate but rather coordinate social practices.31 Drawing on the theories of Anselm Strauss and Benedict Anderson they argue for the importance of documents in forming communities, for example, reflected in the way scientific journals bind intellectual communities together. Moreover, the circulation of documents over large distances creates imagined communities, in the sense that they are spread on too large a scale for people to know each member of the community, yet they imagine that a community exists through their shared use of documents. The fact that documents are more than information carriers is particularly relevant in the context of MoW, which has set itself the aim of raising documents above their informational level to the level of a heritage of humanity, giving them additional functions derived from UNESCO’s cultural internationalism. Although this

28 29 30 31

old/home.htm; last access: April 18th, 2013; See also Hjørland: Documents, Memory Institutions, 2000, p. 35. Ronald E. Day: The Modern Invention of Information. Discourse, History, and Power, Carbondale 2001, pp. 116–117. Ibid., p. 117. It also has a strong political function as often discussed in Memory Studies but in this present article this aspect cannot be considered. For some examples see Aleida Assmann, Sebastian Conrad (eds.): Memory in a Global Age. Discourses, Practices, Trajectories, New York 2010. John S. Brown, Paul Duguid: The Social Life of Documents, in: First Monday 1, May 6th, 1996.

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sounds like a philosophical statement, it does have practical implications because, as mentioned at the beginning of this article, UNESCO’s heritage programmes are intended to serve as means of international cooperation and solidarity, beyond their attempt to encourage action at the national and local levels. Subsuming the documentary heritage discourse under that of information and the ideology surrounding it may lead to mobilizing documents as commodities rather than as heritage of humanity, and thus as sources of cooperation and solidarity, which runs counter to the intentions and rationale of MoW. Consequently, placing the value of digital documents on their content influences the internationalist politics of memory advanced by MoW in that it not only closes down potential sources of heritage inherent in the carrier, but also fails to recognize the specific nature of digital documents, which is characteristic of human communication and documentation in the digital age. This argument requires closer examination. As said before, it might not be easy to think of a CD-ROM as having heritage value but this depends on how documents are approached. Digital documents can be seen as artefacts, although this is not yet a widespread practice. In a report explaining the value of the artefact in library collections digital documents are also given some attention. The report states that they are „of very great import for scholars interested in the artifact, for it challenges notions of originality and uniqueness, and even of authenticity, fixity, and stability“.32 Also their physical form can be significant if it displays an outstanding example of form, if it provides meaningful documentation, or if it has aesthetic or artistic qualities, especially in digital art and literature.33 The problem is not that digital documents cannot have value as artefacts, but that people have difficulty in perceiving them that way. As the report notes, in the case of digital documents: „The first and possibly the most difficult question is ‚What is the artifact?‘ What information or value inheres in the carrier medium? Is the equipment originally used for display part of the digital artifact? Does the software that presents and actualizes the data qualify as a constituent element of the artifact?“34

Such questions point out the specific nature of digital documents, which differ from traditional documents in several regards, with consequences for preservation. A traditional document has two dimensions: content and carrier. In the case of a digital document the situation gets more complicated, as it has three dimensions. First, it is a physical object, consisting of inscriptions – the digital code of 0 s and 1 s – on a carrier. Second, it is a logical object in that it is a computer readable code. Third, it is a conceptual object that makes sense to people, referring to what appears on the computer screen. As those supporting the artefactual value of digital documents argue, these are very complex objects whose main characteristics sometimes depend on a specific combination of hardware and software, so transferring the content from carrier to carrier – a method known as migration – is not always appropriate. 32 33 34

Council on Library and Information Resources (CLIR): The Evidence in Hand. Report of the Task Force on the Artifact in Library Collections, Washington D.C 2001, p. 48. Ibid., p. 51. Ibid.

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It requires rewriting how data is coded, which can lead to changes in the meaning of documents over time. Due to this shortcoming, there are alternative methods such as emulation, by which the original software and hardware environment is recreated. It is considered by some scholars the most appropriate solution, because digital documents are machine-dependent, and recreating the original computer environment reflects the only viable solution for maintaining the original look and feel35 of the document.36 In other words, this implies preserving digital documents as artefacts, not simply as information carriers. Digital documents possess further characteristics that make them special, requiring innovative preservation techniques that do not reduce their value to the informational content. William Uricchio remarks that they are not stable and fixed in the way we think of traditional books or photographs.37 Discussing social media – computer applications that allow people to share resources and discuss – Uricchio argues that they are not only dynamic but are examples of networked and collaborative cultural production.38 John Mackenzie Owen similarly notes that the dynamic, interactive and collaborative aspects are fundamental to digital documents.39 Consequently, both authors hold that the changes undergone by digital documents, as well as their collaborative and interactive nature, are part of the document and must also be preserved. The fact that they are constantly changing and interactive has even prompted Yola de Lusenet to suggest that the preservation of digital documents is much closer to the safeguarding of intangible cultural heritage – constantly recreated by communities – than the traditional method of document preservation based on conserving the carrier.40 Regardless of the type of heritage, traditional or machine-readable, tangible or intangible, Martine Rèmond-Gouilloud argues that the proper way of transmitting it to future generations is by keeping options open because „we cannot foretell their tastes or their needs. This being so, how can we know what to transmit to them? The best way of safeguarding their interests is to keep the option open.“41 Indeed, this is the aim of preservation and also the Guidelines state that „conserving an 35

36 37 38 39 40 41

The notion of look and feel is used in software design but appears also in the preservation of digital documents. The look refers to the original appearance projected by the system software and the feel refers to the manner in which the user interacted with the system software. For this definition and explanation see J. Glenn Brookshare: Computer Science. An Overview, 9. edition, Boston 2007, pp. 356–357. Jeff Rothenberg: Avoiding Technological Quicksand. Finding a Viable Technical Foundation for Digital Preservation, Washington D. C. 1999, p. 17. William Uricchio: Moving beyond the Artifact. Lessons from Participatory Culture, in: Yola de Lusenet, Vincent Wintermans (eds.): Preserving the Digital Heritage. Principles and Policies, Amsterdam 2007, pp. 15–25. Ibid., p. 17. Mackenzie J. Owen: Preserving the Digital Heritage: Roles and Responsibilities for Heritage Repositories, in: de Lusenet, Wintermans (eds.): Preserving the Digital Heritage, 2007, p. 49. Yola de Lusenet: Tending the Garden or Harvesting the Fields. Digital Preservation and the UNESCO Charter on the Preservation of the Digital Heritage, in: Library Trends 56 (2007) 1, pp. 164–182. Martine Rèmond-Gouilloud: Evolving Conceptions of the Heritage, in Jérôme Bindé (ed.): Keys to the 21st century, New York, Paris 2001, p. 150.

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original document and protecting its integrity means that no information is lost, and all future options for preservation and access are kept open“.42 Despite this statement, there is a tendency to keep the information but throw away the carrier. Yet, what makes us believe that the digital document will not have value as an artefact for future generations? Don’t we rather close out some options by assuming that the value of the digital document will lie alone in its information in the future? MoW, as an international initiative whose intention is to set standards regarding documents and their value, has an important influence on the building of the documentary heritage of our time, on its dissemination around the world and its transmission to future generations. Thus, if MoW intends to stand up to its own intentions and promote an internationalist vision of documents as heritage of humanity, it can ignore neither the potential value of the digital carrier, nor the social dimension of digital documents. As discussed below, MoW does have the mechanisms in that regard but it is necessary that it reconsider its approach to digital documents. The Memory of the World Programme in the Digital Age It was noted that MoW is criticized for the subjectivity of its international register. We can agree that selection is a political act and by definition it implies inclusion and exclusion. But we cannot really say that MoW discriminates through its nomination procedure, which is flexible, and at least in theory the programme is mindful of its limits and subjectivity. Although documents have to fit a set of criteria, MoW acknowledges that they are a matter of interpretation, and allows exceptions. MoW is flexible also in the nomination procedure itself, given that nominations may be submitted not just by States Parties, as is the case of the heritage conventions, but by everybody, including organizations of all kinds and even individuals, leaving space for whoever wants to get involved. Moreover, although UNESCO is a political organization consisting of representatives of member states, the International Advisory Committee (IAC) which is the peak body of MoW and takes decisions regarding the programme, consists of individuals appointed in their personal capacity as experts. MoW acknowledges even the limits of its own objectives. It recognizes that professional preservation knowledge, derived from a scientific understanding of documents, may be inappropriate in certain contexts, some cultures having traditional means reflecting their own ethos and customs; or it considers that there are cultural and religious limits of access, to name a few examples.43 However, MoW seems to fail to accommodate the heritage value of digital carriers as well as the dynamic and interactive nature of digital documents, thereby excluding an important potential source of memory characterizing the digital age. This is not to suggest that MoW should deal with practices such as those falling under the ICH, despite agreeing with de Lusenet that preserving digital documents is closer to preserving intangible heritage. MoW preserves the products of 42 43

Edmondson: Memory of the World, 2002, p. 13. Ibid., p.10, 14.

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collective memory not its practices, to employ the above mentioned distinction by Olick, and to respect the heritage categorizations of UNESCO. But going back to its roots, we have to remember that MoW was not set up to preserve information, although it has an important contribution in that regard. For example, it contributes to the UNESCO Information for All Programme (IFAP). As explained on its website, this is an intergovernmental programme created because „governments of the world have pledged to harness the new opportunities of the information age to create equitable societies through better access to information“44 – a statement that recalls the above-discussed ideology of information; but beyond that aspect, as part of its strategy IFAP also covers preservation of information, in this regard relying on technical expertise from MoW.45 However, MoW should take note that while it serves other information-related programmes, it cannot stop serving its own intention to change global consciousness about the relevance of documents. In certain regards MoW is equipped to accommodate the value of the carriers and the social dimension of documentary heritage, which forms and binds communities together. The criteria for inscribing documents cannot be discussed in the space of this article but in short it can be noted that to a great extent emphasis is placed on the historical, evidentiary, value of documentary heritage. Nevertheless, in 2007 a new criterion was added – social/spiritual/community significance – which emphasizes the living significance of documentary heritage. As explained in the Guidelines, „it allows a specific community to demonstrate its emotional attachment to the document or documents for the way in which these contribute to that community’s identity and social cohesion“.46 By studying nomination forms of digital documents that have not been inscribed as well as the reasons for their rejection, we find out that they fit the criteria for determining significance, having both historical or living significance, but they do not fit the traditional definition of documents, due to their dynamic and interactive nature. In one of the reports of the IAC we read that it consistently turned down large databases that have been nominated.47 This was the case with a digital archive proposed as a living archive, the largest collection of HIV/AIDS specific documents ever compiled in one single location; PANDORA, a collection of Australian online publications, proposed to highlight the value of digital documents for cultural and documentary history, and being the first example in the world of a public, globally accessible archive of fully functional websites, preserving also the look and feel of the original documents; or of Free Software, nominated as a vehicle of freedom, equality, fraternity and transparency, proposed also for its social implications such as mutual help and knowledge sharing. In each case the nomination was 44 45 46 47

UNESCO: Official Website of the Information for all Programme, URL: http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/intergovernmental-programmes/information-for-all-programme-ifap/about-ifap/; last access: April 14th, 2013. UNESCO: Report of the Tenth Meeting of the Sub-Committee on Technology of the International Advisory Committee of the „Memory of the World“ Programme, Paris 2008, p. 3. Edmondson: Memory of the World, 2002. UNESCO: Final Report of the Eighth Meeting of the International Advisory Committee of the „Memory of the World“ Programme, Paris 2008, p. 9.

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rejected for the main reason that they were open-ended, constantly changing, being in conflict with the MoW requirement that the documents be finite and precisely defined, of closed and fixed size and content.48 But if digital documents are dynamic, how else can they become part of MoW if not by also embracing this aspect, instead of reducing their value to informational content!? In the mentioned nominations it was not the content that was considered important, bur rather their form, dynamism, collaborative nature and it is exactly in these aspects where the heritage value lies. In its attempt to change global consciousness regarding the value of documents, MoW has never limited itself to listing practices. Today this gives it even more potential to bring to the fore the social dimension of documentary heritage, for example through developing cooperative practices on the basis of the products it preserves, thus creating community, real or imagined. This is already happening in libraries and archives, for instance through the method known as Lots of Copies Keep Stuff Safe (LOCKSS), which is an open-source, library-led digital preservation network in which institutions collaborate to preserve documents together. Similar communities can be formed on the basis of the documentary heritage featured by MoW. Moreover, in MoW preservation is defined as „the sum total of the steps necessary to ensure the permanent accessibility – forever – of documentary heritage“.49 There is nothing in this definition which says that preservation consists in preserving the carriers or the content or that it is confined to institutions. While the notion of participation or community involvement has become crucial in the WHC and ICH, MoW has not kept pace with this development. But again in libraries and archives there are already measures by which end-users participate in preservation activities. Rose Holley notes such activities in the context of libraries, all of which have been reported as successful due to their power to build community.50 Thus in MoW, rather than simply focusing on the preservation of the content, emphasizing the social dimensions of documents could imply approaching preservation as participation. Obviously, MoW can take several paths towards its intention to change mindsets about the global documentary heritage and its value, but whatever the choice, its activities should reflect UNESCO’s cultural internationalism. For that reason focusing alone on the informational content of documents will not be sufficient. Only the social dimensions of documentary heritage can bring this aspect to the fore.

48 49 50

Edmondson: Memory of the World, 2002, p. 25. Ibid., p. 12. Rose Holley: Crowdsourcing and social engagement. Potential, power and freedom for libraries and users, Paper presented at the Conference: Pacific Rim Digital Library Alliance (PRDLA) Annual meeting and Conference: Libraries at the End of the World: Digital Content and Knowledge Creation., Auckland, New Zealand., 18–20 November 2009.

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Conclusions In this article changes triggered by digital technology in the field of documentary heritage preservation were presented and some consequences for the Memory of the World Programme were discussed. MoW was contextualized in UNESCO’s philosophy of cultural internationalism and it was explained that its rationale lies in the need to change global mindsets regarding the value of documentary heritage and its preservation and accessibility needs. Although digital technology brings with it a number of opportunities, in this article the argument was made that MoW has reacted in a way which undermines its official rationale, as evidenced by the fact that it increasingly focuses on the preservation of the informational content of documents, at the expense of their social dimensions. This was said to reflect an ideology of information, present also in libraries and archives at large. However, in this field some modest attempts have also emerged to counter the inflationary use of information, by arguing that documents form and maintain communities rather than simply convey information. Consequently, the article suggested that there was need to integrate such developments in MoW, on the grounds that they better support its overall intention. Despite MoW having plenty of mechanisms to support such a step, a reconsideration of its approach to digital documents has to take place. The barriers to doing this are mainly conceptual, but moving beyond its own conceptual limits appears to be necessary in order to preserve the digital products of memory and to have a Memory of the World Programme that has adapted itself to the digital age.

DIE GRENZÜBERSCHREITENDE ÜBERTRAGUNG VON WISSEN ÜBER TRANSITIONAL JUSTICE UND IHRE AKTEURE IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE Stephan Scheuzger Zusammenfassung: Historische Ansätze sind in der Betrachtung von Transitional Justice rar geblieben. Den weitreichenden Veränderungen, die das Feld im Zuge seiner Ausdehnung zum weltweit dominierenden Reflexions- und Handlungszusammenhang im Umgang mit historischem Unrecht erfahren hat, ist deshalb in aller Regel keine angemessene Beachtung geschenkt worden. Der vorliegende Beitrag widmet sich aus historischer Sicht den Fragen, wie seit den späten 1980er- Jahren über die Grenzen nationaler Aufarbeitungsschauplätze hinaus Wissen über Transitional Justice generiert und übertragen worden ist, welche die beteiligten Akteursgruppen waren und welche Auswirkungen der Wandel in den Wissenstransfers und im Verhältnis zwischen den Akteuren auf die Entwicklungen im Feld hatte. Im Mittelpunkt der Analyse steht dabei das Instrument der Wahrheitskommissionen. Abstract: Historical approaches to the study of transitional justice are rare. In the process of its expansion to the dominating paradigm in dealing with past injustices, the field experienced extensive changes. Scholarship about transitional justice, however, has hardly ever taken into account these shifts in appropriate ways. This article examines from a historical point of view how knowledge about transitional justice was generated and transferred across the borders of the national sites of dealing with the past. It asks for the groups of actors involved and analyses the effects that the transformations of the knowledge circulation and the changes in the relationship between the actors had on the development of the field since the late 1980s. The focus thereby is on the instrument of truth commissions.

Der paradigmatische Charakter, den Transitional Justice im gesellschaftlichen Bereich des Umgangs mit historischem Unrecht mindestens seit der Jahrhundertwende erlangt hat, manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass auch die kritischen Fragen mehrheitlich aus dem Handlungsfeld selbst heraus gestellt werden. Die Forschung zu Transitional Justice reagiert maßgeblich auf konkrete, praxisrelevante Herausforderungen, mit denen sich das Feld konfrontiert sieht1 – und hat derart in den letzten Jahren Konjunkturen der kritischen Selbstbefragung ausgelöst. Am augenfälligsten ist dies im anhaltenden Boom von Untersuchungen zum impact as1

Mit Christine Bell lässt sich der Begriff des „Feldes“ hier verstehen als „a sphere of knowledge, interest and activity, held together by distinctive claims for legitimacy“. Transitional Justice, Interdisciplinarity and the State of the ‚Field‘ or ‚Non-Field‘, in: International Journal of Transitional Justice 3 (2009), S. 5–27, hier S. 6.

Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015), S. 29–45

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sessment von Transitional-Justice-Maßnahmen geworden.2 Eine andere prominente Entwicklung in der Selbstreflexion von Transitional Justice stellt die Hinwendung der Forschung zu Fragen des Verhältnisses zwischen der globalen Ausbreitung von Konzepten, Normen und Praktiken einerseits und den lokalen politischen Gegebenheiten und kulturellen Voraussetzungen im Umgang mit historischem Unrecht andererseits dar. Nicht zuletzt angesichts einer immer nachdrücklicher vorgebrachten Kritik an der mangelhaften Anpassung des Instrumentariums von Transitional Justice an die je partikularen Bedingungen der Schauplätze, auf denen es zum Einsatz gebracht wurde, sind in den letzten Jahren Studien erarbeitet oder auf den Weg gebracht worden, die sich um ein genaueres Verständnis davon bemühen, wie sich die Mechanismen der Transitional Justice in konkreten Aufarbeitungszusammenhängen mit lokalen Interessen und Praktiken des Umgangs mit Unrechtserfahrungen verbinden. Rosalind Shaw und Lars Waldorf haben in der bisher am meisten beachteten Publikation im Rahmen dieses Trends einen Ansatz vorgeschlagen, der beansprucht, den in der Debatte verankerten Gegensatz zwischen „lokalen Kulturen“ und „universellen Prinzipien“ zu überwinden.3 In der Logik der Anwendungsbezogenheit der Forschung in dem Feld hat dies jedoch weitgehend einseitig in die Betrachtung von Prozessen eines ‚localizing transitional justice‘ gemündet. Zwar hat sich in dem von Waldorf und Shaw unter diesem Titel herausgegebenen Sammelband ebenso wie in anderen Veröffentlichungen durchaus eine Abwendung von Auffassungen vollzogen, die mit dem Lokalen vor allem – gewohnheitsrechtliche – Tradition assoziiert hatten. Allerdings sind die Beiträge mehrheitlich einem dichotomisierenden Verständnis von Globalität und Lokalität verhaftet geblieben. Von außen übertragene, weltweit zur Anwendung gebrachte Normen und Instrumente sind in einem Gegensatz zu lokalen Verhältnissen betrachtet worden: Sie prallten gleichsam auf einheimische stakeholders und deren Interessen und Einstellungen. Der gegenseitigen Bedingtheit des Globalen und des Lokalen ist analytisch nicht angemessen Rechnung getragen worden. So ist kaum je die globale Bedeutung lokaler Akteure betrachtet worden. Das gilt auch für die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit der Ausbreitung von Normen der accountability und der damit verbundenen Instrumente.4 2

3

4

Vgl. u. a. Tricia D. Olsen, Leigh A. Payne, Andrew G. Reiter: Transitional Justice in Balance. Comparing Processes, Weighing Efficacy, Washington, D. C. 2010; Hugo Van der Merwe, Audrey R. Chapman, Victoria Baxter (Hrsg.): Assessing the Impact of Transitional Justice: Challenges for Empirical Research, Washington, D. C. 2009. Dabei haben sie namentlich für eine Bewegung „from ideas of the local as a ‚level‘ to understandings in terms of place-based standpoints“ plädiert. Rosalind Shaw, Lars Waldorf: Introduction. Localizing Transitional Justice, in: Rosalind Shaw, Lars Waldorf, Pierre Hazan (Hrsg.): Localizing Transitional Justice. Interventions and Priorities after Mass Violence, Stanford 2010, S. 3–26, hier S. 25. So hat auch Kathryn Sikkink für den von ihr in die Diskussion eingebrachten, prominenten Ansatz der „justice cascade“ zwar beansprucht, akteurszentriert zu sein. Eine bedeutende Schwäche des Konzepts liegt aber gerade in der Vernachlässigung konkreter Aushandlungsprozesse über die „principled issues“. Kathryn Sikkink: The Justice Cascade. How Human Rights Prosecutions Are Changing World Politics, New York u. a. 2011.

Die grenzüberschreitende Übertragung von Wissen über Transitional Justice

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Im vorliegenden Beitrag soll aus historischer Perspektive den Fragen nachgegangen werden, welche Akteure in welcher Form an den grenzüberschreitenden Übertragungen von Wissen über Transitional Justice beteiligt waren und welche Bedeutung dies für den Umgang mit vergangenen Massenverbrechen im nationalen Rahmen und für die Entwicklung des Reflexions- und Handlungszusammenhangs der Transitional Justice hatte. Während konsensuell geteilte epistemologische und normative Prämissen in der Regel höchstens pauschal als Kohärenz bildende Faktoren für diesen Zusammenhang angesprochen worden sind, haben einschlägige Beschreibungen von Transitional Justice vor allem vier Maßnahmenformen oder Strategien als konstitutive Bestandteile dieses „framework for confronting past abuse“5 in den Mittelpunkt gestellt: die strafrechtliche Verfolgung, das truthtelling, Reparationsleistungen sowie institutionelle Reformen wie die Überprüfung von Amtsträgern und Lustrationen. Es ist zuvorderst das Instrument der Wahrheitskommissionen gewesen, über das Transitional Justice an Geschichtspolitik beteiligt und auf Erinnerungskulturen ausgerichtet gewesen ist. Aus diesem Grund soll in der folgenden, knappen Darstellung das Hauptaugenmerk auf diese Kommissionen gerichtet werden. Durch die historische Betrachtung des Phänomens der Transitional Justice soll ein Beitrag zum Verständnis geleistet werden, dass es sich dabei um eine spezifische Form des Umgangs mit vergangenem Unrecht handelt, deren Entstehungsund Entwicklungsbedingungen im ausgehenden 20. und einsetzenden 21. Jahrhundert zu verorten sind. Trotz prominenter, immer wieder zitierter Stimmen, die einer sehr viel allgemeineren Auslegung des Begriffs im Sinn einer ‚Übergangsjustiz‘ das Wort reden und Transitional Justice in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten, wenn nicht nach dem Ersten Weltkrieg – oder gar in der griechischen Antike – ihren Ausgang nehmen lassen,6 ist diese Erkenntnis einer zeitgeschichtlichen Genese in den Diskussionen über das Feld unterdessen durchaus weit verbreitet. Ungleich weniger Beachtung geschenkt worden ist demgegenüber dem Umstand, dass der Begriff und mit ihm das Feld von Beginn an erheblichen Wandlungen ausgesetzt gewesen sind. Das Augenmerk gilt an dieser Stelle nicht den Faktoren, die die Akteure von Transitional Justice zur Formulierung und Umsetzung von Aufarbeitungsmaßnahmen in Erwägung zu ziehen hatten und haben. Es richtet sich vielmehr auf die Art und Weise, wie die Akteure den Umgang mit vergangenem Unrecht verstanden haben. Dadurch gelangen gerade auch die Entwicklungen in den Blick, die das Feld in der kurzen Zeit seiner Existenz erfahren hat und denen in der Analyse von Transitional Justice bisher kaum angemessen Rechnung getragen worden ist. 5 6

Louis Bickford: Transitional Justice, in: Dinah L. Shelton et al. (Hrsg.): Encyclopedia of Genocide and Crimes against Humanity, New York 2004, S. 1045–1047, hier S. 1045. Exemplarisch zu nennen sind diesbezüglich zweifellos die einschlägigen Publikationen von Ruti G. Teitel, die für sich auch in Anspruch genommen hat, den Begriff der „Transitional Justice“ geprägt zu haben. Transitional Justice, Oxford 2000; Transitional Justice Genealogy, in: Harvard Human Rights Journal 16 (2003), S. 69–94. Zum letzten Punkt vgl. dies.: Editorial Note – Transitional Justice Globalized, in: International Journal of Transitional Justice 2 (2008) 1, S. 1–4. Das Konzept der Transitional Justice bis in die griechische Antike zurückprojiziert hat Jon Elster: Closing the Books. Transitional Justice in Historical Perspective, Cambridge 2004.

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Die Anfänge in den späten 1980er-Jahren Der Beginn der Formierung des Feldes der Transitional Justice lässt sich auf die späten 1980er-Jahre datieren – mit der Durchführung der vom Aspen Institute in Queenstown, Maryland (USA), organisierten Konferenz „State Crimes: Punishment or Pardon“ im November 1988. Die Tagung bot dem transnationalen Wissensaustausch über den Umgang mit historischem Unrecht, der in die Herausbildung des Forschungs- und Handlungszusammenhangs der Transitional Justice münden sollte, eine erste Plattform. Anlass für die Diskussion über „the moral, political and jurisprudential issues that arise when a government that has engaged in gross violations of human rights is succeeded by a regime more inclined to respect those rights“,7 gaben zeitgenössische Entwicklungen, insbesondere die Demokratisierungsprozesse in Südamerika. Zwar wurde auf der Tagung auch auf die Erfahrungen der Nürnberger und der Tokioter Prozesse und den Umgang mit den Diktaturverbrechen in Griechenland, Portugal und Spanien in den 1970er-Jahren Bezug genommen. Die Diskussion stand aber insbesondere im Zeichen der Vorkommnisse in Argentinien. Dort hatte kurz nach dem Ende der Militärherrschaft 1983 der erste demokratisch gewählte Präsident Raúl Alfonsín zur Aufklärung der im Rahmen der Repressionspraxis des Verschwindenlassens zu Tausenden verübten Verbrechen die Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (CONADEP)8 eingesetzt. Im Jahr darauf war zudem mit dem ‚Jahrhundertprozess‘ gegen die Mitglieder der Juntas spektakulär die justizielle Aufarbeitung der massiven Menschenrechtsverletzungen eingeleitet worden – die sich bis zum Zeitpunkt der Tagung des Aspen Institute in eine weitgehende Straflosigkeit verkehrt hatte. Dass die Diskussion der Frage, wie Regierungen im Übergang zu demokratischen Verhältnissen mit den schweren Menschenrechtsverletzungen ihrer autoritären Vorgängerregime verfahren konnten und sollten, weniger vom Blick auf die historische Kontinuität der Problemlage als von einem unausgesprochenen Selbstverständnis der Neuartigkeit geprägt wurde, lag nicht so sehr in den spezifischen Herausforderungen begründet, vor denen die südamerikanischen Demokratisierungen standen. Verantwortlich waren vielmehr zwei rezente Entwicklungen auf wissenschaftlichem und politischem Gebiet. Die wesentliche wissenschaftliche Voraussetzung war das in den 1980er-Jahren aufgekommene und in den Debatten der Tagung des Aspen Institute omnipräsente Konzept der politischen Transition, mit dem der Wandel zur Demokratie vor allem als Resultat von Aushandlungsprozessen zwischen den maßgebenden politischen Akteuren begriffen wurde – und nicht mehr, wie unter den bis dahin vorherrschenden makrosoziologischen Ansätzen, als Folge von sozioökonomischen Gegebenheiten und Machtkonstellationen.9 Der Demokratiebegriff, auf den sich der neue Betrachtungsansatz der Überwindung autoritärer Herrschaft stützte, war ein pluralistisch-repräsentativer, wie 7 8 9

Alice H. Henkin: Conference Report, in: Justice and Society Program of the Aspen Institute: State Crimes: Punishment or Pardon. Papers and Report of the Conference. November 4–6, 1988, Wye Center, Maryland, Queenstown 1989, S. 1. Nationale Kommission über das Verschwinden von Personen. Das grundlegende Werk der Transitionsforschung war Guillermo O’Donnell, Philippe C.

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er sich namentlich bei Robert Dahl angelegt fand.10 Die neue politisch relevante Bedingung bildete der Umstand, dass sich die internationale Menschenrechtsbewegung nach ihrem auch als „Menschenrechtsrevolution“ apostrophierten markanten Bedeutungszuwachs im vorangegangenen Jahrzehnt in den 1980er-Jahren in Südamerika erstmals mit dem komplexen Problem konfrontiert sah, wie in der politischen Transformation Gerechtigkeit für vergangene Menschenrechtsverletzungen hergestellt werden konnte angesichts der durch die mehr oder weniger expliziten Interventionsdrohungen der Streitkräfte eingeschränkten Handlungsspielräume.11 Kennzeichnend für Transitional Justice wurde dementsprechend insbesondere dreierlei. Erstens bezeichnete der sich in den 1990er-Jahren etablierende Begriff, mindestens in seiner ursprünglichen Semantik, ein Dilemma. Dieses erwuchs aus der Konfrontation zweier Ansprüche an eine neue Regierung im Übergang zu einer demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Ordnung: einerseits der Anforderung, Gerechtigkeit zu üben im Angesicht der massiven Verbrechen, die von staatlichen Vertretern des überwundenen Regimes begangen worden waren; andererseits der gleichzeitig bestehenden Anforderung, den demokratischen Wandel abzusichern, der durch Reaktionen von Repräsentanten der alten Ordnung auf Maßnahmen zur Umsetzung der Gerechtigkeitsansprüche destabilisiert werden konnte. Zweitens wurden die vergangenen Unrechtserfahrungen im Rahmen von Transitional Justice in den Kategorien des Menschenrechtsdiskurses erfasst. Und drittens wurde das Feld politisch und epistemologisch durch die Politik- und die Rechtswissenschaften sowie durch die Menschenrechtsbewegung geprägt. Dabei war die Grenze zwischen scholars und practitioners außerordentlich durchlässig. Letzteres veranschaulicht nicht zuletzt das Beispiel des chilenischen Rechtswissenschaftlers José Zalaquett, der von der Militärdiktatur ins Exil gezwungen worden war und von Ende der 1970er- bis Anfang der 1980er-Jahre Amnesty International als Sekretär dessen International Executive Committee vorgestanden hatte. Zalaquett, der unterdessen seine akademische Tätigkeit in Chile wieder aufgenommen hatte, präsentierte auf der Tagung des Aspen Institute den zentralen Beitrag mit dem Vorschlag für ein „Normative Framework for a Policy on Past Human Rights Violations“.12 Darin bezeichnete er die Verhinderung künftiger Menschenrechtsverletzungen sowie die Wiedergutmachung der entstandenen Schäden als die übergeordneten Zielen einer jeden Politik des Umgangs mit vergangenen Regimeverbrechen. Beides besaß im Überleben der demokratischen Ordnung seine entscheidende Voraussetzung. Während Entscheidungen über eine strafrechtliche

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Schmitter, Laurence Whitehead (Hrsg.): Transitions from Authoritarian Rule, Baltimore u. a. 1986. Robert Dahl: Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven, London 1971. Zur „Menschenrechtsrevolution“ in den 1970er-Jahren vgl. u. a. Akira Iriye, Petra Goedde, William I. Hitchcock (Hrsg.): The Human Rights Revolution. An International History, Oxford u. a. 2012; Samuel Moyn: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge u. a. 2010; Jan Eckel: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940er Jahren, Göttingen 2014. José Zalaquett: Confronting Human Rights Violations Committed by Former Governments: Principles Applicable and Political Constraints, in: Justice and Society Program of the Aspen Institute: State Crimes, 1989, S. 29.

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Verfolgung von Schuldigen auch mit Blick auf ihre möglichen politischen Auswirkungen gefällt werden sollten, beruhte, gemäß Zalaquett, die Legitimität jeglichen Umgangs mit vergangenen Menschenrechtsverletzungen auf drei grundlegenden Bedingungen jenseits des politischen Ermessens: Sie hatte den Willen des Volkes zu repräsentieren, sie durfte internationales Recht nicht verletzen, und sie musste in „full knowledge of the truth about what happened“ formuliert werden.13 Zalaquetts im Band zur Tagung publizierter Beitrag – der für die Entwicklung von Transitional Justice einflussreich werden sollte – wurde auch in Chile rezipiert, wo Augusto Pinochet im März 1990 die Macht an den demokratisch gewählten Präsidenten Patricio Aylwin übergab. Anders als in Argentinien schränkte hier der Umstand, dass die Streitkräfte in der Transition nur wenig Machtpotenzial eingebüßt hatten, die Möglichkeiten einer rechtlichen Aufarbeitung der massiven Menschenrechtsverletzungen stark ein – ein noch unter der Diktatur erlassenes Amnestiegesetz blieb unangetastet. Zalaquetts normativer Rahmen bot der Regierung einen Begründungszusammenhang, der das Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeitsanspruch und Absicherung der Demokratisierung in der Formel „die ganze Wahrheit und so viel Gerechtigkeit wie möglich“ auflöste.14 Während es zunächst in Chile nur sehr punktuelle Anstrengungen zu einer justiziellen Aufarbeitung des Unrechts gab, stellte die 1990 geschaffene Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación (CNVR)15 das zentrale Instrument der Vergangenheitsaufarbeitung in dem Land dar und diente nicht mehr nur – wie in den Wahrheitskommissionen avant la lettre in den 1980er-Jahren in Bolivien, Argentinien und Uruguay – der Aufklärung des Schicksals der unter den Diktaturen zum Verschwinden Gebrachten. Die CNVR wurde damit zu einem entscheidenden Ereignis in der Entwicklung der nun erstmals als solche bezeichneten Wahrheitskommissionen. Mit der chilenischen Kommission wurde das Instrument in den in der Formierung begriffenen konzeptionellen Zusammenhang der Transitional Justice und dessen Logik eines vergangenheitspolitischen Dilemmas integriert. Über Wahrheitskommissionen wurde von da an fast nur noch im Rahmen von Transitional Justice nachgedacht. Aufarbeitungsrelevantes Wissen gelangte in unterschiedlichen Formen und über verschiedenste Kanäle in den chilenischen Kontext. Der in seinen Effekten weitreichendste Wissenstransfer war der, in dem sich der Menschenrechtsaktivismus und die wissenschaftlich angeleitete Beschäftigung mit der Frage des Umgangs mit den vergangenen Staatsverbrechen verschränkten. Auch wenn es in diesem Bereich noch andere Akteure gab, stand hier der Beitrag Zalaquetts im Mittelpunkt. Nationale Aufarbeitungserfahrungen, allen voran die argentinische, wurden dabei in den Ansatz einer allgemeinen vergangenheitspolitischen Norm der unbedingten Untersuchung und Offenlegung der Wahrheit über die Menschenrechtsverletzungen übersetzt. Die Menschenrechtsbewegung ist als Akteurin in den transnationalen Wissensübertragungen jedoch differenziert zu betrachten. So produzierte der Opferstatus von Angehörigenorganisationen sowohl in deren Selbstverständnis 13 14 15

Ebd., S. 30. Patricio Aylwin Azócar: La Comisión de la Verdad y Reconciliación de Chile, in: Estudios de Derechos Humanos, Bd. 2, San José 1995, S. 105. Nationale Wahrheits- und Versöhnungskommission.

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als auch in der Wahrnehmung der anderen Akteure eine klare Distanz zwischen dem Aktivismus eines Zusammenschlusses wie der Agrupación de Familiares de Detenidos-Desaparecidos (AFDD) und demjenigen der übrigen Menschenrechtsbewegung.16 Diese ungeachtet der zahlreichen Verbindungen letztlich unauflösbare Trennung der Sphären des zivilgesellschaftlichen Kampfes für die Aufarbeitung der Regimeverbrechen stellte keine chilenische Besonderheit dar. So zeigte die AFDD ein ähnliches Muster politischer Betätigung, wie dies Jahre zuvor in Argentinien die Madres de Plaza de Mayo17 getan hatten – bei aller Unterschiedlichkeit der beiden Zusammenschlüsse. Angehörigenorganisationen kam gerade bei der Einsetzung von Wahrheitskommissionen auch in zahlreichen anderen Ländern eine zentrale Bedeutung zu. So wurde in Guatemala bereits in der Mitte der 1980er-Jahre die Forderung nach einer solchen Kommission vom Grupo de Apoyo Mutuo por el Aparecimiento con Vida de Nuestros Hijos, Padres, Esposos y Hermanos (GAM)18 aufgebracht. Und in Peru ging der Anstoß für die Diskussion über die Schaffung einer Wahrheitskommission nach der erzwungenen Demission von Präsident Alberto Fujimori im Jahr 2000 maßgebend von der Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados, Detenidos y Desaparecidos del Perú (ANFASEP)19 aus. Anders als in Argentinien und Chile, wo mittelständische Frauen die Angehörigenorganisationen dominierten, waren der GAM und die ANFASEP vor allem von indigenen Frauen geprägt. Auch diese Zusammenschlüsse waren indes Teil der grenzüberschreitenden Netzwerke, über die die Angehörigenorganisationen an der weltweiten Produktion und Zirkulation von aufarbeitungsrelevantem Wissen beteiligt waren. So gehörten sowohl der GAM als auch die ANFASEP – wie die Madres des Plaza de Mayo und die AFDD – der 1981 gegründeten Federación Latinoamericana de Asociaciones de Familiares de Detenidos-Desaparecidos (FEDEFAM)20 an, die auch über den Subkontinent hinaus mit staatlichen, intergouvernementalen und Nichtregierungsorganisationen in Verbindung stand. Ein dezisionistisches Muster des Expertisentransfers in den 1990er-Jahren Das inter- und transnationale Feld der Transitional Justice expandierte in den 1990er-Jahren rasch. Dies war bereits in der ersten Hälfte des Jahrzehnts der Fall, 16

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Vgl. Agrupación de Familiares de Detenidos-Desaparecidos (Vereinigung der Angehörigen der Verhafteten-Verschwundenen): Brief an die Comisión de Justicia y Derechos Humanos de la Concertación de Partidos por la Democracia, Santiago de Chile, April 1989, Archivo Agrupación de Familiares de Detenidos-Desaparecidos, Santiago de Chile; dies.: Recuento de actividades 1990, [Santiago de Chile 1991], Archivo Agrupación de Familiares de Detenidos-Desaparecidos, Santiago de Chile. Mütter der Plaza de Mayo. Gruppe zur gegenseitigen Unterstützung für das lebendige Wiedererscheinen unserer Kinder, Eltern, Gatten und Geschwister. Nationale Vereinigung der Angehörigen der Entführten, Verhafteten und zum Verschwinden Gebrachten von Peru. Lateinamerikanische Föderation der Vereinigungen der Angehörigen der Verhafteten-Verschwundenen.

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als das Konzept noch in seiner Etablierung begriffen war. Dabei vollzog sich schon eine erste wesentliche Entwicklung des Feldes: Der noch nicht einmal gefestigte Begriff der Transitional Justice wurde von seiner Anwendung auf – südamerikanische – Prozesse der Transition, in deren Kontext er eingeführt worden war, auf – zentralamerikanische – Prozesse der Beilegung von Bürgerkriegskonflikten übertragen, die nicht direkt mit Demokratisierungen verbunden waren. In der Folge nahm Transitional Justice in der zweiten Jahrzehnthälfte dann immer stärker die Position der zentralen Referenz in der Problemwahrnehmung, der Konzipierung von Maßnahmen sowie deren Implementierung ein, wenn sich Nationalstaaten in Phasen der politischen Neuordnung mit der Frage der Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften politisch motivierter Gewaltverbrechen konfrontiert sahen. Das Feld entwickelte sich dabei derart zum dominierenden Rahmen der theoretischen Erfassung und praktischen Gestaltung des staatlich angeleiteten Umgangs mit historischem Unrecht, dass es ab der Jahrhundertwende zunehmend als ein globales Paradigma angesprochen wurde.21 Es prägte dabei das Verständnis dieses Umgangs in immer mehr und immer unterschiedlicheren Konstellationen. Dies tat es mit seinen konstitutiven politischen Werten eines liberalen Demokratieverständnisses, mit seiner Organisation des Denkens und Sprechens über das Unrecht in den Kategorien der Menschenrechtsverletzungen, mit seinen auf die Unterstützung der Herstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Verhinderung von schweren Menschenrechtsverletzungen in der Zukunft ausgerichteten Aufarbeitungsnormativen und mit seinem Instrumentarium von Gerichtsverfahren, Wahrheitskommissionen, Reparationen sowie Lustrationen und institutionellen Reformen. Der Bedeutungszuwachs von Transitional Justice wurde dabei insbesondere von zwei innovativen Entwicklungen getragen. Zum einen war dies die Internationalisierung der Strafverfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Verstößen gegen die Genfer Konvention – mit der wegweisenden Einrichtung des International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY) und des International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR) Mitte des Jahrzehnts sowie der Schaffung des International Criminal Court 1998. Zum anderen war es die Entwicklung des Instruments der Wahrheitskommissionen. Nach dem entscheidenden Schritt von einem Mittel der Aufklärung des Schicksals von zum Verschwinden gebrachten Repressionsopfern zu einem allgemeinen Instrument der Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen, der mit der CNVR vollzogen worden war, war das Konzept der Wahrheitskommissionen in den 1990er-Jahren erheblichen Wandlungen ausgesetzt. Von Chile reiste es nach Zentralamerika, wo es zunächst in El Salvador – mit der Comisión de la Verdad para El Salvador (CVES, 1992–1993)22 – zur Aufarbeitung von in Bürgerkriegen sowohl vom Staat als auch von der Guerilla begangenen Gewaltverbrechen eingesetzt wurde. Damit waren die Kommissionen maßgeblich an der angesprochenen frühen semantischen Weitung des Begriffs der Transitional Justice beteiligt. Indem 21 22

Vgl. Teitel: Transitional Justice Genealogy, 2003, S. 71; Jelena Subotić: The Transformation of International Transitional Justice Advocacy, in: International Journal of Transitional Justice 6 (2012) 1, S. 106–125, hier S. 107; Shaw, Waldorf: Introduction, 2010, S. 3. Wahrheitskommission für El Salvador.

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die CVES unter Auspizien der Vereinten Nationen eingesetzt wurde und operierte, erfuhr das Instrument rasch eine Konventionalisierung. Die Bandbreite von Mandaten und Vorgehensweisen auch der weiteren in den 1990er-Jahren eingesetzten Wahrheitskommissionen – der Commission Nationale de Vérité et de Justice in Haiti (1995–1996), der Truth and Reconciliation Commission (TRC, 1995–1998 bzw. 2002) in Südafrika sowie der Comisión para el Esclarecimiento Histórico (CEH, 1997–1999)23 in Guatemala – war gleichwohl erheblich. Ganz anders als im darauffolgenden Jahrzehnt erfuhr das Instrument immer wieder maßgebliche Innovationen. Dies lässt sich wesentlich auf die Art der Übertragung von Wissen über den Umgang mit dem historischen Unrecht zurückführen. Während Tagungen in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre weiterhin eine zentrale Rolle in der Konstituierung des Feldes der Transitional Justice spielten – allen voran die 1992 in Salzburg durchgeführte Konferenz „Justice in Times of Transition“24 –, wurde das Wissen über Wahrheitskommissionen in dem Jahrzehnt noch vornehmlich direkt zwischen den verschiedenen Aufarbeitungsschauplätzen in Lateinamerika, Europa und bald einmal auch Afrika transferiert. Zwar erschienen 1994 die von Neil Kritz editierten drei Bände der Anthologie Transitional Justice. How Emerging Democracies Reckon with Former Regimes, die erstmals eine umfassende, zusammenhängende Textgrundlage für das gleichnamige Feld schufen.25 Und im selben Jahr wurden auch die Artikel „Fifteen Truth Commissions“ von Priscilla B. Hayner und „Truth as Justice“ von Margaret Popkin und Naomi Roht-Arriaza publiziert, mit denen die Bestrebungen einsetzten, das Wissen über die Wahrheitskommissionen zu systematisieren.26 Die Tendenz, insbesondere auf dem Weg der Komparation generalisiertes Wissen zu gewinnen und in Umlauf zu bringen, veränderte die Einsetzung und die Arbeit dieser Kommissionen allerdings erst gegen Ende des Jahrzehnts, nach der südafrikanischen TRC – dem neben der Einrichtung des ICTY und des ICTR wichtigsten Ereignis auf dem Gebiet der Transitional Justice in den 1990er-Jahren. Nach Südafrika gelangte Wissen über frühere Wahrheitskommissionen insbesondere noch über persönliche Kontakte zwischen zentralen vergangenheitspolitischen Akteuren. So kam im Prozess, der zur Einsetzung der TRC führte, der 1994 von Alex Boraine organisierten internationalen Konferenz „Justice in Transition“ in Cape Town, auf der auch Referenten über die Erfahrungen mit den Wahrheitskommissionen in den Aufarbeitungsprozessen in

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Kommission zur Historischen Aufklärung. Weitere wichtige Konferenzen waren u. a. die 1993 in London durchgeführte Tagung „The Right to Truth: Amnesty, Amnesia and Secrecy“, die 1994 in Cape Town abgehaltene Tagung „Justice in Transition: Dealing with the Past“ sowie die Konferenz „Political Justice and the Transition to Democracy“, die 1995 an der University of Notre Dame stattfand. Neil J. Kritz (Hrsg.): Transitional Justice. How Emerging Democracies Reckon with Former Regimes, 3 Bde., Washington, D. C. 1995. Priscilla B. Hayner: Fifteen Truth Commissions – 1974 to 1994: A Comparative Study, in: Human Rights Quarterly 16 (1994) 4, S. 597–655; Margaret Popkin, Naomi Roht-Arriaza: Truth as Justice: Investigatory Commissions in Latin America, in: Law and Social Inquiry 20 (1995) 1, S. 79–116.

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Argentinien, Chile und El Salvador berichteten,27 eine entscheidende Bedeutung zu. Keynote speaker war José Zalaquett, der den südafrikanischen Akteuren auch in der Folge noch wiederholt mit seinem Wissen über Transitional Justice im Allgemeinen und den chilenischen Fall im Besonderen zur Verfügung stand. An der Vorbereitung der Tagung beteiligt war unter anderem auch die aus der Salzburger Tagung hervorgegangene, von den USA aus operierende Organisation Project on Justice in Times of Transition (PJTT). PJTT war die erste Organisation, die sich professionell dem grenzüberschreitenden Wissenstransfer über Transitional Justice verschrieb. Symptomatisch dafür, wie sich dieser Transfer in den 1990er-Jahren generell vollzog, zielte die Methode der shared experience von PJTT darauf ab, Foren zu schaffen, in denen Akteure, die Erfahrungen im Umgang mit historischem Unrecht gesammelt hatten, und solche, die vor der Herausforderung der Formulierung entsprechender Politiken standen, ins Gespräch kommen konnten.28 Instanzen, die vorformulierte, Allgemeingültigkeit beanspruchende lessons to be learned anboten, gab es noch keine, entsprechende Publikationen erst wenige. So war es noch überwiegend den Nutzern von aufarbeitungsrelevantem Know-how – den parteipolitischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren in den Ländern, in denen im Zuge eines politischen Wandels über den Umgang mit historischem Unrecht diskutiert, verhandelt und entschieden wurde – überlassen, mit Blick auf die jeweils spezifischen Voraussetzungen in den einzelnen Ländern ihre Lehren aus verschiedenen vorangegangenen partikularen Erfahrungen zu ziehen. In den Kategorien der Expertenforschung modelliert, lassen sich die Beziehungen zwischen den nationalen vergangenheitspolitischen Entscheidungsträgern und den transnational agierenden Trägern von Fachwissen über Wahrheitskommissionen entlang einer klassischen Unterscheidung näher bei einem dezisionistischen als bei einem technokratischen Muster verorten:29 Die Berater wurden angefragt und gaben auf der Grundlage ihrer Expertise Auskunft. Sie bestimmten aber die politische Agenda des Umgangs mit dem vergangenen Unrecht noch nicht maßgeblich mit, der Einfluss der sich formierenden transnationalen Expertengemeinschaft in Transitional Justice auf die Aufarbeitungspolitiken war gegenüber den nationalen Entscheidungsträgern entsprechend noch verhältnismäßig gering. Die Diagnose zeitgenössischer Beobachter am Ende des Jahrzehnts, dass der Einfluss internationaler Akteure auf die nationale Aufarbeitung von verbrecherischer politischer Gewalt in den 1990er-Jahren stark gewachsen war,30 traf gleichwohl zu. Vier Gruppen von Akteuren lassen sich dabei unterscheiden. Erstens war 27 28 29 30

Vgl. Alex Boraine, Janet Levy, Ronel Scheffer (Hrsg.): Dealing with the Past. Truth and Reconciliation in South Africa, Cape Town 1994. Vgl. Tim Phillips: The Project on Justice in Times of Transition, in: Chris E. Stout (Hrsg.): The New Hu-manitarians. Inspiration, Innovations, and Blueprints for Visionaries, Bd. 3, Westport u. a. 2009, S. 213–237. Zu der Unterscheidung vgl. Peter Weingart: Experte ist jeder, alle sind Laien, in: Gegenworte 11 (2003), S. 57–61. Vgl. z. B. Naomi Roht-Arriaza: The Role of International Actors in National Accountability Processes, in: Alexandra Barahona de Brito, Carmen González-Enríquez, Paloma Aguilar (Hrsg.): The Politics of Memory. Transitional Justice in Democratizing Societies, Oxford, New York 2001, S. 40–64, hier S. 40.

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die Expansion von Transitional Justice eng mit der Herausbildung einer Expertengemeinschaft in dem Feld verbunden. Unter einer historischen Betrachtungsweise wird deutlich, dass sich diese im ausgehenden 20. Jahrhundert noch nicht als eine „epistemic community“ beschreiben lässt.31 Verschiedene Kriterien der prägenden Haas’schen Begriffsbestimmung waren nicht erfüllt.32 Die Kohärenz der Überzeugungen und politischen Absichten im Feld der Transitional Justice war eindeutig noch nicht in einem derartigen Maße gegeben, dass von einer Kontrolle der Produktion und der Zirkulation von Wissensbeständen durch eine profilierte Gemeinschaft von Fachleuten gesprochen werden kann.33 Allerdings nahm die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen über Transitional Justice im Allgemeinen und über Wahrheitskommissionen im Besonderen ab der Mitte der 1990er-Jahre rasch und stetig zu. Dabei waren nicht wenige Beiträge mindestens dem Anspruch nach komparativ angelegt – und folgten so dem wesentlichen Verfahren zur Herstellung allgemeinen Wissens im Feld der Transitional Justice. Mehr oder weniger explizit war die Erkenntnisproduktion in aller Regel mit dem Interesse an einem Anwendungsnutzen in der Aufarbeitungspraxis verbunden. Mit der Ausnahme von PJTT existierten in den 1990er-Jahren noch keine auf die Produktion und den grenzüberschreitenden Transfer von Wissen über Transitional Justice spezialisierte Nichtregierungsorganisationen. Das Wissen zirkulierte indessen auch über die Netzwerke von Nichtregierungsorganisationen – die zweite Akteursgruppe –, die insbesondere im Bereich der Menschenrechtspolitik aktiv waren, wie Amnesty International oder Human Rights Watch,34 aber auch durch Organisationen mit spezifischeren Anliegen, wie etwa der bereits erwähnten FEDEFAM. Diese Netzwerke wiesen wesentliche Verbindungen mit denjenigen einer dritten Akteursgruppe auf: den intergouvernementalen Organisationen. Dabei sind die Vereinten Nationen als politisch einflussreichster internationaler Akteur in der Entwicklung von Transitional Justice in den 1990er-Jahren hervorzuheben. Als Instanz, die die international am breitesten akzeptierten Maßstäbe staatlichen Verhaltens festlegte, verband die UNO die Herstellung und Zirkulation von Wissen über Transitional Justice mit der Normenproduktion auf dem Gebiet und prägte so die Entfaltung des Feldes maßgeblich mit. Das diesbezüglich wohl bedeutendste UN-Dokument in dem Jahrzehnt war der von Louis Joinet 1997 in einer revidierten Fassung vorge31

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Ohne eine zeitliche Differenzierung vorzunehmen, haben von einer „epistemic community“ in Transitional Justice gesprochen: Michal Ben-Josef Hirsch: Agents of Truth and Justice: Truth Commissions and the Transitional Justice Epistemic Community, in: David Chandler, Volker Heins (Hrsg.): Rethinking Ethical Foreign Policy: Pitfalls, Possibilities and Paradoxes, London 2007, S. 184–205; Anne K. Krüger: Wahrheitskommissionen: Die globale Verbreitung eines kulturellen Modells, Frankfurt am Main u. a. 2014, S. 159. Peter M. Haas: Introduction: Epistemic Communities and International Policy Coordination, in: International Organization 46 (1992) 1, S. 1–35. Diese Kontrolle hat Claire A. Dunlop als den zentralen Wirkungsmechanismus von epistemischen Gemeinschaften beschrieben: Policy Transfer as Learning: Capturing Variation in What Decision-Makers Learn from Epistemic Communities, in: Policy Studies 30 (2009) 3, S. 289– 311, hier S. 289. Z. B. Africa Watch: South Africa. Accounting for the Past. The Lessons for South Africa from Latin America, in: News from Africa Watch, 23.10.1992.

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legte Bericht Question of the Impunity of Perpetrators of Human Rights Violations.35 Darin fanden sich drei allgemeine Prinzipien zur Bekämpfung der Straflosigkeit formuliert, auf die in der Folge in der Konzipierung von Transitional-Justice-Maßnahmen regelmäßig als UN-Richtlinien Bezug genommen werden sollte: ein Recht des Opfers auf Wissen – auf das sich namentlich Forderungen nach der Einsetzung von Wahrheitskommissionen berufen konnten –, ein Recht des Opfers auf Gerechtigkeit und ein Recht des Opfers auf Wiedergutmachung (reparations). Zur Zirkulation von Wissen über Wahrheitskommissionen trugen die Vereinten Nationen nicht zuletzt mit der Einsetzung der CVES und der Unterstützung der CEH in Guatemala bei. Mit der Einrichtung des ICTY und des ICTR sowie den Debatten über den Internationalen Strafgerichtshof leisteten sie einen ähnlichen Beitrag im Bereich der Internationalisierung der justiziellen Aufarbeitung. Von der Forschung bisher als Akteure in der globalen Zirkulation von Wissen über Transitional Justice kaum zur Kenntnis genommen worden ist die vierte Gruppe: grenzüberschreitend tätige Stiftungen. Insbesondere zwei Stiftungen profilierten sich früh mit wesentlichen Beiträgen zur Formierung, Etablierung und internationalen Karriere des Feldes. Zum einen war dies die Ford Foundation, deren prominente Rolle in der Herausbildung der Transitional Justice auf einem längeren Engagement im Menschenrechtsbereich basierte. Die Stiftung finanzierte bereits die Konferenz des Aspen Institute 1988. Mit der Finanzierung der Salzburger Konferenz 1992 initiierte zum anderen George Soros’ Open Society Institute (OSI) seine Aktivitäten auf dem Gebiet der Transitional Justice. Dass Stiftungen nicht einfach als Teil einer Ermöglichungsstruktur zu betrachten sind, sondern als „entrepreneur[s] of ideas“,36 die selber maßgeblich am Transfer von Wissen über Transitional Justice beteiligt waren, lässt sich für die Zeit vor der Jahrhundertwende an keinem anderen Zusammenhang so klar aufzeigen wie an der prominenten Rolle, die das OSI im Vorfeld der Einsetzung der TRC in Südafrika spielte.37 Die Institutionalisierung des Wissensangebots in den 2000er-Jahren Die TRC war gerade auch aufgrund der außerordentlich hohen internationalen Aufmerksamkeit, die die Kommission auf sich zog, eines der bedeutendsten Ereignisse für den Wandel, den um die Jahrhundertwende nicht nur das Instrument der Wahrheitskommissionen, sondern auch das Feld der Transitional Justice insgesamt 35

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United Nations, Commission on Human Rights, Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities: The Administration of Justice and the Human Rights Detainees: Question of the Impunity of Perpetrators of Human Rights Violations (Civil and Political). Revised Final Report Prepared by Mr. Joinet. 49th Session, Agenda Item 9, UN Doc E/ CN.4/Sub.2/1997/20/Rev.1, 1997. Peter D. Bell: The Ford Foundation as a Transnational Actor, in: International Organization, 25 (1971) 3, S. 465–478, hier S. 472. Vgl. Stephan Scheuzger: Wahrheitskommission: Der nationale Umgang mit historischem Unrecht im Kontext des sich universalisierenden Menschenrechtsdiskurses. Habilitationsschrift, Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaft, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, 2014, S. 405–427.

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erfuhr. So spielten Akteure, die ihre Expertise auf Erfahrungen in der südafrikanischen Wahrheitskommission zurückführen konnten, eine zentrale Rolle in den qualitativen Veränderungen des Wissenstransfers in Transitional Justice ab den 2000erJahren. Zu den Gründungsmitgliedern des 2001 in New York ins Leben gerufenen International Center for Transitional Justice (ICTJ) gehörten Alex Boraine, der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der TRC, Paul van Zyl, der ehemalige Geschäftsführer der TRC, sowie Priscilla B. Hayner, die für die TRC beratend tätig gewesen war und deren Standardwerk über die Wahrheitskommissionen Unspeakable Truths im selben Jahr erschien.38 Das nicht zuletzt durch Gelder der Rockefeller Foundation ermöglichte Zentrum expandierte rasch und war schon im ersten Jahr seiner Existenz in rund einem Dutzend Ländern auf dem amerikanischen Kontinent, in Afrika, Europa und Asien in der Beratung von staatlichen Akteuren und Nichtregierungsorganisationen aktiv. Im Jahr ihres zehnjährigen Bestehens begleitete die Organisation Aufarbeitungsprozesse in 33 Ländern und unterhielt neben dem New Yorker Hauptquartier auch noch fünf Regionalbüros.39 Während das ICTJ global ausgerichtet war, engagierte sich das ebenfalls aus der TRC hervorgegangene Institute for Justice and Reconciliation vor allem im grenzüberschreitenden Wissenstransfer über Transitional Justice in Afrika.40 Beide Organisationen waren Ausdruck einer wachsenden Institutionalisierung des Wissensangebotes in Transitional Justice ab der Jahrhundertwende. Dieser Trend brachte indessen nicht nur neue, spezialisierte Agenturen des Wissenstransfers in dem Feld hervor. An der globalen Wissenszirkulation beteiligten sich ebenfalls auf den Gebieten der Menschenrechtspolitik, des peace building oder der Entwicklungszusammenarbeit etablierte Organisationen. Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch gehörten ebenso dazu wie staatliche Organisationen – beispielsweise das United States Institute of Peace oder die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit – und zwischenstaatliche Organisationen, zuvorderst zahlreiche Unterorganisationen der Vereinten Nationen. Schließlich waren auch Universitäten Teil des institutionellen Zusammenhangs, in dem Fachwissen über Transitional Justice produziert, organisiert und für vergangenheitspolitische Akteure zur Verfügung gestellt wurde. Bereits in den 1990er-Jahren hatten rechtswissenschaftliche Fakultäten und politikwissenschaftliche Abteilungen zunächst vor allem in den Vereinigten Staaten, später auch in Europa Fachleuten nicht nur Plattformen für den Wissensaustausch auf dem Gebiet zur Verfügung gestellt, sondern auch damit begonnen, Studierenden und anderen Interessierten Kurse und Studiengänge in Transitional Justice anzubieten. Nach der Jahrhundertwende weitete sich dieser Trend weiter aus. Auch dadurch blieben die Grenzen zwischen scholars und practitioners in dem Feld nach wie vor stark durchlässig.

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Priscilla B. Hayner: Unspeakable Truths. Confronting State Terror and Atrocity, New York u. a. 2001. International Center for Transitional Justice: Annual Report 2011, New York 2011. Die Regionalbüros befanden sich in Bogotá, Brüssel, Cape Town, Beirut und Jakarta. Initiant des Instituts war der ehemalige Leiter des Research Department der TRC Charles VillaVicencio.

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Die Institutionalisierung der Expertise in Transitional Justice ab der Jahrhundertwende war einerseits die Folge einer gestiegenen Nachfrage nach dem Wissen. Andererseits war sie aber auch durch Veränderungen auf der Angebotsseite bedingt. Die Expertengemeinschaft im Feld hatte bis zur Jahrhundertwende eine deutlich höhere Kohärenz und ein klareres Profil entwickelt. Zwar bot Transitional Justice gerade aufgrund der raschen Ausdehnung nicht zuletzt in neue Disziplinen nach wie vor ein derart heterogenes Erscheinungsbild, dass auch noch darüber diskutiert wurde, ob sich dieser Forschungs- und Handlungszusammenhang überhaupt sinnvoll als Feld bezeichnen ließ.41 Gleichwohl kann mit Bezug auf Teile der Expertengemeinschaft nun von der Existenz einer epistemic community gesprochen werden. Dies nicht nur, weil sich geteilte normative Überzeugungen sowie geteilte Ideen über kausale Zusammenhänge im Umgang mit vergangenem Unrecht nachweisen lassen, sondern maßgeblich auch deshalb, weil unter zahlreichen Experten eine „common policy enterprise“ erkennbar war.42 Diese Agenda zielte auf die Durchsetzung konkreter, immer klarer definierter Aufarbeitungsmaßnahmen – wie die Einsetzung von Wahrheitskommissionen – zur Erreichung bestimmter vergangenheitspolitischer Endzwecke wie nationale Versöhnung, die Konsolidierung demokratischer Verhältnisse oder die Etablierung einer Menschenrechtskultur ab. Mit diesem nun deutlich prononcierteren Streben nach direkter politischer Einflussnahme ging eine wirtschaftliche Rationalität einher. Auf die wachsende Nachfrage nach Wissen über Transitional Justice reagierte die Expertengemeinschaft nicht zuletzt mit Professionalisierungstendenzen, in denen sich Strategien der Autonomieausdehnung und der Absicherung der eigenen Position im Feld feststellen lassen. Relevant war dieser Aspekt der Institutionalisierung des Wissensangebots insbesondere in den Bereichen der Expertise, die nicht über enge Verbindungen zur akademischen Sphäre verfügten und ihre Legitimität nicht aus der Wissenschaftlichkeit der Wissensproduktion bezogen. Zwar traten auf dem Markt des Wissens über den Umgang mit dem Unrecht als Anbieter vor allem Organisationen und Individuen auf, die für sich in Anspruch nahmen, nicht profitorientiert zu agieren. Es hingen indessen ganze Organisationen und damit zahllose individuelle berufliche Existenzen von den finanziellen Mitteln ab, die Staaten und internationale Organisationen besonders nach der Jahrhundertwende in Maßnahmen der Vergangenheitsaufarbeitung investierten. Zwei Konsequenzen dieser Veränderungen in den Wissenstransfers über Transitional Justice lassen sich hervorheben. Zum einen beförderten das politische wie das wirtschaftliche Moment, die hinter der Institutionalisierung des Wissensangebotes standen, den Trend, das Wissen immer mehr in lessons learned, best practices und guidelines – beispielsweise für die Einrichtung und Operation wirksamer Wahrheitskommissionen – zu transformieren. Auch im Feld selbst wurde mit der Zeit wahrgenommen, dass diese weitgehend auf Anwendbarkeit ausgerichtete Wissensproduktion zunehmend in die Formulierung eigentlicher toolbox-Lösungen mündete.43 41 42 43

Bell: Transitional Justice, 2009. Vgl. zu den Kriterien einer „epistemischen Gemeinschaft“ P. M. Haas: Introduction, 1992, S. 3. Das ICTJ präsentierte schon in seinem ersten Jahresbericht ein „transitional justice toolkit“. Annual Report 2001–2002, New York 2002, S. 9.

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Zum anderen verschob sich dadurch das Verhältnis zwischen den Experten und den nationalen politischen Entscheidungsträgern von einem dezisionistischen zu einem technokratischen Muster. Im Bereich der Wahrheitskommissionen trug dies einmal dazu bei, dass ab der Jahrhundertwende die Zahl der eingesetzten Kommissionen markant zunahm. Waren es in den 1980er- und den 1990er-Jahren insgesamt acht gewesen – sieben davon in Lateinamerika und eine in Afrika –, riefen alleine in der ersten Dekade der 2000er-Jahre Regierungen und Parlamente in Amerika, Afrika, Europa und Asien fünfzehn derartige Kommissionen ins Leben. Aber auch an der zunehmenden Standardisierung, die – mit der südafrikanischen TRC als zentraler Referenzerfahrung – ein wesentliches Merkmal der Entwicklung des Aufarbeitungsinstruments wurde, war der Wandel in den Wissensübertragungen über Transitional Justice maßgeblich beteiligt. Die wachsende Normierung der Vorstellungen über Transitional Justice und deren Instrumente schloss keineswegs aus, dass selbst grundlegende Ideen Veränderungen ausgesetzt sein konnten. Das beste Beispiel dafür ist die Verlagerung des Verständnisses von Gerichtsverfahren und Wahrheitskommissionen als alternative Formen der Aufarbeitung – eine Idee, die maßgeblich auf die internationale Wahrnehmung der chilenischen CNVR zurückging und die Diskussion über die Kommissionen in den 1990er-Jahren dominierte – hin zu einer Auffassung, die die beiden Instrumente als komplementäre begriff. Auch lassen die nach der Jahrhundertwende eingesetzten Wahrheitskommissionen durchaus bedeutsame Anpassungen des Instruments an die partikularen nationalen Gegebenheiten erkennen. Gleichwohl ist ebenso wenig zu übersehen, dass die Varianz der Mandate und Vorgehensweisen der Kommissionen gegenüber den 1980er- und 1990er-Jahren abnahm. Es kann Naomi Roht-Arriaza beigepflichtet werden, wenn sie von einer Tendenz der Transitional Justice gesprochen hat, „so pronounced in the case of truth commissions, for politicians and negotiators to extrapolate a ‚formula‘ that can be applied, with few changes, to any and all situations“.44 Zwar bildete das Credo, dass Initiativen zur Einsetzung von Wahrheitskommissionen an die spezifischen historischen, kulturellen und politischen Bedingungen des jeweiligen Kontexts anzupassen seien, einen festen Bestandteil der Richtlinienproduktion in Transitional Justice. Nichtsdestoweniger wurden mit den standardisierenden Effekten der Normierungstendenzen im Wissen über Wahrheitskommissionen auch bald problematische Aspekte evident. Diese reichten von der mangelhaften Adaptation des Instruments an spezifische kulturelle Voraussetzungen des Erzählens von Gewalterfahrungen und der unzulänglichen Berücksichtigung lokaler Bedeutungen von ‚Wahrheit‘, ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Versöhnung‘ bis zur Dysfunktionalität von Gesamtkonzepten. So etwa in Serbien-Montenegro, wo das Scheitern der 2001 von Staatspräsident Vojislav Koštunica eingesetzten Komisija za istinu i pomirenje45 auch auf das Bestreben von externen beratenden Instanzen wie dem OSI – und mit ihm Alex Boraine – zurück44 45

Naomi Roht-Arriaza: The New Landscape of Transitional Justice, in: Naomi Roht-Arriaza, Javier Mariezcurrena (Hrsg.): Transitional Justice in the Twenty-First Century: Beyond Truth versus Justice, Cambridge u. a. 2006, S. 1–16, hier S. 12. Wahrheits- und Versöhnungskommission.

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zuführen ist, im Nachkriegskontext des ehemaligen Jugoslawien eine Wahrheitsund Versöhnungskommission nach südafrikanischem Vorbild einzusetzen.46 Geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Effekte Wahrheitskommissionen sollten mit Geschichte Politik machen. Ihre fundamentale Funktion bestand darin, im politischen Wandel mit der Erarbeitung und Veröffentlichung einer historischen Darstellung der unter einem abgelösten autoritären Regime oder in einem überwundenen bewaffneten Konflikt begangenen verbrecherischen politischen Gewalt mindestens die Wiederherstellung und Konsolidierung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse zu befördern. Über diese allgemeine, offizielle Agenda hinaus verbanden sich mit der Tätigkeit der Kommissionen jedoch stets noch konkretere, von den je nationalen Gegebenheiten bestimmte politische Projekte. Damit waren den vereinheitlichenden Effekten der zunehmenden Verdichtung der Zirkulation von Wissen über Transitional Justice und dessen Aufbereitung in lessons learned von vornherein Grenzen gesetzt. Schon der Vergleich der Schlussberichte der ab der Jahrhundertwende unter den Bedingungen einer zunehmenden Normierung und Standardisierung des Instruments eingesetzten Wahrheitskommissionen führt vor Augen, welch unterschiedliche geschichtspolitische Anliegen der Produktion und Repräsentation von historischem Wissen durch die Kommissionen zugrunde lagen. Nichtsdestoweniger ist im Zuge der Ausdehnung von Transitional Justice zu einem paradigmatischen Rahmen des Umgangs mit historischem Unrecht eine bedeutende Angleichung von Geschichtspolitik im Übergang von autoritären Regimen zu demokratischen Ordnungen und von bewaffnet ausgetragenen inneren Konflikten zu befriedeten Verhältnissen zu konstatieren, zu der auch die Wahrheitskommissionen einen wesentlichen Beitrag geleistet haben: Das aufzuarbeitende Unrecht ist immer ausschließlicher in den Kategorien des Menschenrechtsdiskurses erfasst worden. Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte von Wahrheitskommissionen fehlen nach wie vor weitestgehend. Die eingangs erwähnten aktuellen Untersuchungen zum impact assessment von Transitional Justice haben daran nichts geändert. Darüber, wie sich die Aufklärungs- und Anerkennungstätigkeit der Kommissionen konkret auf die sozialen Gedächtnisse47 in den Nationen, in denen das Instrument zur Anwendung gebracht wurde, und darüber hinaus ausgewirkt hat, lassen sich kaum fundierte Aussagen machen. So kann auch die Frage nicht beantwortet werden, wie sich die Transformationen in den Wissensübertragungen über Transitional Justice auf die Erinnerung an Diktaturverbrechen und verbrecherische politische Gewalt in Bürgerkriegen ausgewirkt haben. 46 47

Vgl. Dejan Ilic: The Yugoslav Truth and Reconciliation Commission. Overcoming Cognitive Blocks, in: Eurozine, 23.4.2004, URL: http://eurozine.com/pdf/2004-04-23-ilic-en.pdf, letzter Zugriff: 4.7.2010. Zum Begriff des „sozialen Gedächtnisses“ vgl. u. a. Jeffrey K. Olick, Joyce Robbins: Social Memory Studies: From „Collective Memory“ to the Historical Sociology of Mnemonic Practices, in: Annual Review of Sociology 24 (1998), S. 105–140.

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Die Einsicht in den Wandel in der Wissenszirkulation und in den Beziehungen zwischen den daran beteiligten Akteuren um die Jahrhundertwende sollte indes keinesfalls dazu verleiten, die Spielräume der Entscheidungsträger, die Vielfalt der geschichtspolitischen Ausrichtungen und die Kontingenz in den Entwicklungen des Umgangs mit Unrechtsvergangenheit unterzubewerten. Allerdings gilt auch für die erinnerungskulturellen Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Hinwendung zu diesen Geschichten von Massenverbrechen, dass vorab durch den quantitativen Wandel, also durch die Expansion von Transitional Justice im Allgemeinen und des Instruments der Wahrheitskommissionen im Besonderen, ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet wurde, dass zuvorderst die Menschenrechte der „memory in a global age“ ihren normativen Bezugshorizont boten.48 Gerade auch anhand des Spannungsverhältnisses zwischen Universalisierung und Partikularisierung, das dem Menschenrechtsdiskurs und der Menschenrechtspolitik immanent ist, lässt sich verdeutlichen, dass eine Analyseperspektive auf globale und lokale Akteure in Transitional Justice – oder allgemeiner und konzeptionell offener: im gesellschaftlichen Umgang mit historischem Unrecht – ungleich weniger Erkenntnisse verspricht als die Analyse von Akteuren in den konkreten, komplexen und häufig grenzüberschreitenden Verflechtungszusammenhängen, in denen Vergangenheitsaufarbeitung gedacht und betrieben wurde.

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Vgl. z. B. Aleida Assmann, Sebastian Conrad: Introduction, in: dies. (Hrsg.): Memory in a Global Age, Basingstoke u. a. 2010, S. 1–16, insbesondere S. 5.

WELTKULTUR DER VERSÖHNUNG. ZUR GLOBALEN AUSBREITUNG VERGANGENHEITSPOLITISCHER NORMEN, STANDARDS UND INSTITUTIONEN VON TRANSITIONAL JUSTICE IN DER WELTGESELLSCHAFT Fatima Kastner Zusammenfassung: Transitional Justice ist zu einem globalen Handlungsmodell der versöhnungsorientierten Vergangenheitsarbeit in der Weltgesellschaft geworden. Weltweit rekurrieren Gesellschaften auf das Konfliktlösungskonzept, um nach politischen Übergangsprozessen historisches Unrecht aufzuarbeiten. Innerhalb eines kurzen Zeitraumes von kaum mehr als dreißig Jahren lassen sich in der Tat mehr als fünfzig Beispiele in zahlreichen Ländern Europas, Afrikas, Amerikas, Asiens und gegenwärtig auch in der MENARegion anführen. Dieses neuartige Phänomen der Globalisierung von Transitional Justice untersucht der Beitrag. Im Anschluss an neo-institutionalistische und systemtheoretische Überlegungen zu einer Theorie der Weltkultur und Weltgesellschaft wird die lokale Wirkweise wie auch die weltgesellschaftliche Funktion vergangenheitspolitischer Normen, Standards und Institutionen herausgearbeitet, die zur Ausdifferenzierung von Transitional Justice zu einem globalen Handlungsmodell in der Weltgesellschaft geführt haben. Abstract: Transitional Justice has become a global model of reconciliatory action in world society. Over a period of only thirty years, more than fifty instances, mostly associated with periods of radical political change following past oppressive rule, have occurred in countries of Latin America, Africa, Asia, Central and Eastern Europe, and currently even in the MENA region too. The article tries to give an explanation for this new phenomenon of the globalization of transitional Justice. Based on a neo-institutional and systems theoretical conception of world culture and world society the paper identifies transnational agents who contribute to this global diffusion process of norms, standards and institutions of post-conflict justice and illustrates domestic socio-legal implications as well as the world societal function of transitional justice.

Einleitung Im Völkerrecht wird zunehmend anerkannt, dass ehemals repressive Staaten ihre gewaltvollen Vergangenheiten aufklären müssen und verpflichtet diese sogar dazu, den Opfern von schweren Menschenrechtsverletzungen Wiedergutmachungen zukommen zu lassen. Aus der Perspektive des internationalen Rechts werden damit Erinnerung, Aufklärung und Wiedergutmachung historischen Unrechts als zentrale

Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015), S. 47–59

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normative Vorgaben der Weltgesellschaft postuliert.1 Tatsächlich ist eine Vielzahl von Staaten dieser völkerrechtlichen Verpflichtung auch wirklich nachgekommen. Länder, die Transitional-Justice-Prozesse in Gang gesetzt und auch durchgeführt haben, finden sich seit den frühen 1980er-Jahren in Mittel- und Osteuropa, Afrika, Asien, Lateinamerika, Ozeanien und mit Marokko und Tunesien nun auch in der Region des Maghreb und des Nahen Ostens. Dabei haben die betroffenen Gesellschaften jeweils unterschiedliche Instrumente der transitionalen Gerechtigkeit eingesetzt, die von den täterzentrierten Mechanismen des Systems nationaler, internationaler und hybrider Strafgerichtsbarkeit bis hin zu den eher opferzentrierten Instrumenten von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen reichen. Angesichts des Faktums, dass auf der Ebene der internationalen Politik effektive Durchsetzungsmechanismen fehlen, die etwa souveräne Staaten zur Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen zwingen könnten, ist das doch ein eher unerwarteter Befund. Wie lässt sich dieses erstaunliche Phänomen der globalen Ausbreitung vergangenheitspolitischer Normen, Standards und Institutionen erklären? Was motiviert, anders formuliert, souveräne Staaten dazu, unabhängig von kulturellen, religiösen und ethnisch-sozialen Kontexten, und auch unabhängig von dem Ausmaß und der Unterschiedlichkeit der vorausgegangenen gesellschaftlichen Konfliktformationen und Gewaltformen, das normative Konzept von Transitional Justice für die Aufarbeitung historischen Unrechts in Anspruch zu nehmen? Die herkömmliche sozial- und politikwissenschaftliche Literatur zu Transitional Justice Prozessen fokussiert primär Aspekte der nachhaltigen Befriedung und Aussöhnung ehemals gespaltener Gesellschaften.2 Sie hebt also vornehmlich den restaurativen Charakter von Transitional Justice nach politischen Prozessen des politischen Wandels hervor. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion wiederum, die der Frage nach Legalität und Legitimität der Übergangsgerechtigkeit nachgeht, wird neben der restaurativen auch die täterorientierte Dimension der Gerechtigkeit thematisiert. Sie betont also auch den retributiven Aspekt der transitionalen Gerechtigkeit.3 Demgegenüber wird hier aus einer Analyseperspektive einer Theorie der Weltgesellschaft die Position vertreten, dass es weder um restaurative noch um retributive Gesichtspunkte der Gerechtigkeit, sondern um ganz andere Problemlagen geht, auf die Gesellschaften mit dem globalen Handlungsmodell von Transitional Justice reagieren.4 Im Folgenden stehen daher drei Aspekte im Zentrum der Diskussion. In einem ersten Schritt geht es zunächst darum, das neuartige Gerechtig1

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Christoph Safferling: Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht, Heidelberg/Wiesbaden 2011. Albin Eser, Jörg Arnold, Helmut Kreicker (Hrsg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse. Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, Bde. 1–14,1999–2012. Alexander Labam Hinton (Hrsg.): Transitional Justice: Global Mechanisms and Local Realities after Genocide and Mass Violence, Brunswick 2010. Stefan Engert, Anja Jetschke (Hrsg.): Transitional Justice 2.0, in: Die Friedenswarte. Journal of International Peace and Organization 86 (2011), Nr. 1–2. Susanne Buckley-Zistel, Thomas Kater (Hrsg.): Nach Krieg, Gewalt und Repression. Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit, Baden-Baden 2011. Ruti G. Teitel: Humanity’s Law, Oxford 2011. Safferling: Internationales Strafrecht, 2011. Fatima Kastner: Transitional Justice in der Weltgesellschaft, Hamburg 2015.

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keitskonzept von Transitional Justice vorzustellen. Dabei werden die rechtssoziologischen Entwicklungslinien und die geopolitischen Hintergründe geschildert, die das Konzept der Übergangsgerechtigkeit von der normativen Ausnahme zu einer weltpolitischen Regel werden ließen. In einem zweiten Schritt wird es um die Frage der gesellschaftlichen Verortung dieses Prozesses gehen: Wie genau bilden sich vergangenheitspolitische Normen heraus, in welchen Arenen finden sie statt und welche Akteure sind an diesen Prozessen beteiligt? Im Anschluss an neo-institutionalistische Überlegungen zu einer Theorie der Weltkultur können im Kontext der Regelsetzungstätigkeit der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen sogenannte rationalisierte Andere, also Agenten und Verbreiter weltkultureller Struktur- und Deutungsmuster identifiziert werden, die maßgeblich zur Herausbildung und Ausbreitung vergangenheitspolitischer Handlungsmodelle in der Weltgesellschaft beigetragen haben.5 Dabei lässt sich anschaulich aufzeigen, unter welchen Bedingungen globale Handlungsmodelle zu einem lokalen Bezugspunkt für nationale Politiken der Übergangsgerechtigkeit werden können und wie dadurch partikulare Forderungen vergangenheitspolitischer Maßnahmen auf lokaler Ebene ermöglicht und durchgesetzt werden. Abschließend wird in einem dritten Schritt in Anlehnung an systemtheoretische Überlegungen zum Konstitutionalismus von Recht und Gesellschaft jenseits des Nationalstaates eine Analyseperspektive eröffnet, die sowohl die Ausdifferenzierung und Konstitutionalisierung von Transitional Justice zu einem globalen Rechtsregime im Kontext transnationaler Politikprozesse als auch seine weltgesellschaftliche Funktion zu bestimmen erlaubt. Von der Ausnahme zur Regel: Die Globalisierung von Transitional Justice Die Rede von Transitional Justice unterstellt ein einheitliches normatives Verständnis, das freilich realiter nicht besteht. Tatsächlich wird der Begriff Transitional Justice hinsichtlich seiner terminologischen Bestimmung wie auch in Bezug auf seinen Gegenstandsbereich unterschiedlich definiert und gebraucht. Gemeinsam ist allen Fassungen ein Ausgangspunkt der Betrachtung, der im Grunde paradoxe gesellschaftliche Phänomene in einem einzigen Begriff zu bündeln versucht. Zum einem geht es um soziale Wandlungsprozesse des Umbruchs und des Übergangs, die zumeist Entwicklungen von einem ehemals repressiven Regime zu einem wie auch immer gearteten Zustand einer postkonfliktionären Gesellschaft umfassen, an deren Herausbildung und Gestaltung Täter wie Opfer gleichermaßen beteiligt sein sollen. Dies impliziert vor allem die Zustimmung und Teilnahme an einem Prozess der transitionalen Gerechtigkeit, die insbesondere die Straftaten der ehemaligen Täter betreffen und deren Verantwortung für die vergangenen Verbrechen in Rechnung stellen, um Opfern von Unrecht und Gewalt Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Andererseits geht es um Gerechtigkeitsaspekte, die nicht nur zur Aufklärung vergangener individueller Schuld beitragen sollen, sondern vor allem das erlittene Un5

Zur Analyseperspektive einer Theorie der Weltgesellschaft vgl. Fatima Kastner, Boris Holzer, Tobias Werron, (Hrsg.): From Globalization to World Society. Neo-Institutional and SystemsTheoretical Perspectives, New York 2014.

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recht und das Leid der Opfer hervorheben, was wiederum primär den Opferbezug zentriert und damit eine gerechte Transition einfordert. Eben diese paradoxe Spannung zwischen transitionaler Gerechtigkeit und gerechter Transition prägt auch die heterogenen Auffassungen und Definitionen des Begriffs Transitional Justice, dessen zunehmender Gebrauch zwar seit etwas mehr als zwei Jahrzehnten zu konstatieren ist, ohne dass der Begriff aber eine allgemein gültige Definition erlangt hat. In der sich explosionsartig vermehrenden Literatur zu Transitional Justice wird, wenn auch durchaus umstritten, der in New York und London lehrenden argentinischen Professorin für internationales und vergleichendes Recht, Ruti Teitel, die Urheberschaft des Begriffs Transitional Justice zugesprochen.6 Sie führte den Begriff Anfang der 1990er-Jahre in die akademische Diskussionslandschaft ein, um die ebenso langwierigen wie komplexen Übergangsprozesse latein- und südamerikanischer Länder von ehemals diktatorischen Regimen zu demokratischen Gesellschaften zu beschreiben. Anders als in herkömmlichen Arbeiten zu Fragen des Umgangs mit vergangenem Unrecht, die zumeist von der Annahme ausgehen, dass die strafrechtliche Verfolgung der ehemaligen Täter von entscheidender Bedeutung für die Abschreckung und Verhinderung zukünftiger Verbrechen sei, betont Teitel weniger eine legalistische als vielmehr eine holistische Betrachtungsweise. Damit treten die Auswirkungen und Folgen systematischer Verbrechen für Postkonfliktgesellschaften als Ganzes ins Zentrum der Investigation. Darin kommt ein normatives Verständnis von Transitional Justice zum Ausdruck, das gesellschaftliche Übergangsprozesse vornehmlich im Kontext rechtsstaatlichen und demokratischen Wertewandels der jeweils betroffenen Übergangsgesellschaften begreift. Transitional Justice wird aus dieser Perspektive weniger ausschließlich in Bezug auf streng legalistische Vorstellungen im engeren Sinne und den faktisch zu erwartenden Nutzen für die Rechtstheorie und -praxis verstanden, als vielmehr im Sinne von Inszenierung und Symbolisierung von prinzipieller Strafbereitschaft, um gesamtgesellschaftliche und demokratische Sozialisationsprozesse zu initiieren und zu festigen. Aus dieser Analyserichtung stellen denn auch im historischen Rückblick die Erfahrungen mit den Ausnahmetribunalen von Nürnberg und Tokio weniger juridisch zu beanstandende politische Schauprozesse der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges über das unterlegene Nazideutschland und das Japanische Kaiserreich dar, als vielmehr entscheidende historische Errungenschaften und wegbereitende Formen von Transitional Justice. Sie gaben in der Nachkriegsära mit der Ex-post-Kriminalisierung und -Individualisierung der Verantwortlichkeit für völkerrechtliche Verbrechen als Verstöße gegen die Menschlichkeit entscheidende gesellschaftstransformierende Impulse auf nationaler wie internationaler Ebene, die zur nachhaltigen rechtsstaatlichen Umgestaltung der Postkriegsgesellschaften in Deutschland und Japan wie auch zur moralischen Neujustierung und menschenrechtlichen Anreicherung des internationalen Rechts geführt haben. Die Ausweitung der Kataloge des humanitären Völkerrechts und des Systems individueller Menschenrechte, wie auch die Institutionalisierung von zahlreichen Instru6

Vgl. Ruti G. Teitel: Transitional Justice, New York 2000. Siehe auch dies.: Transitional Justice Genealogy, in: Harvard Human Rights Journal 16 (2003), S. 69–94. Vgl. auch dies.: Globalizing Transitional Justice, New York 2014.

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menten der Unrechtsaufarbeitung im Kontext des Norm- und Organisationssystems der Vereinten Nationen, seien direkte Auswirkungen dieser Rechtsevolution infolge der „postwar’s legacy’s ongoing force“.7 Seit der Jahrtausendwende, so charakterisiert Teitel den entscheidenden Wendepunkt in der Ausdifferenzierung von Transitional Justice, lasse sich im Zuge der globalen Diffusion des neuen Gerechtigkeitskonzeptes beobachten, wie sich das Konfliktbewältigungsmodell von Trasitional Justice einerseits „from the exception to the norm“ wandelt, sich damit aber andererseits zugleich stark von seinem ursprünglichen normativen Kern abwendet. Während in der unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg das Konzept von Transitional Justice im Sinne eines spezifischen legalistischen Instruments der Übergangsgerechtigkeit im Zusammenhang der Transitionsprozesse für die Postkriegsgesellschaften Deutschland und Japan eingesetzt wurde, entwickelt es sich seit dem Ende des Kalten Krieges zu einem allgemeinen restaurativ orientierten Verfahren der Aufarbeitung von Unrecht. Dieses Verfahren ist nicht primär durch täterorientierte, retributive Gesichtspunkte der Übergangsgerechtigkeit im Sinne des Nürnberger und Tokioer Modells gekennzeichnet, sondern bezieht nunmehr vornehmlich opferorientiert eine Vielzahl alternativer, außer-juridischer Strategien und Handlungsoptionen des Umgangs mit vergangenem Unrecht ein. Dabei haben sich die Instrumente und das normative Verständnis von Transitional Justice weg von dem ursprünglich legalistischen Modell von Straftribunalen hin zu einem hybriden Rechtsmodell der Restauration verändert. Ein entscheidender institutioneller Ausdruck dieses normativen Wandels des Transitional Justice Konzepts von Retribution zu Restauration bilden Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, in denen nicht mehr die individuelle Verantwortlichkeit der Täter, sondern die Opfer systematischer Verbrechen im Zentrum des institutionellen Geschehens der Aufarbeitung vergangen Unrechts stehen.8 Auf der Ebene des internationalen Rechts lässt sich diese Transformation der normativen Ausrichtung an der zunehmenden Inklusion von Opferperspektiven und der rechtlichen Fixierung von Opferrechten festmachen.9 So hat der Internationale Strafgerichtshof gegenüber den Nürnberger Prozessen eine stärkere Einbindung der Opfer in die Strafverfahren vollzogen und zeichnet sich diesbezüglich auch gegenüber den Sonderstraftribunalen von Ruanda und Jugoslawien aus. Neuere gemischt-internationale Tribunale, wie das Rote-Khmer-Tribunal in Kambodscha, lassen darüber hinaus Opfer als Nebenkläger auftreten und binden sie in alle Ermittlungs- und Verfahrensschritte des Gerichts ein. Die Stellung und der rechtliche Status von Opfern haben sich damit von bloß passiven Zeugen zu aktiven Mitge7 8

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Vgl. Teitel: Transitional Justice Genealogy, 2003, S. 69–94, hier S. 74. Fatima Kastner: Retributive versus restaurative Gerechtigkeit. Zur transnationalen Diffusion von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in der Weltgesellschaft, in: Regina Kreide, Andreas Niederberger (Hrsg.): Staatliche Souveränität und transnationales Recht, München 2010, S. 194–211. Tanja Hitzel-Cassagnes, Die Inklusion von Betroffenenperspektiven bei der Anerkennung von Menschenrechten, in: Kritische Justiz. Vierteljahresschrift für Recht und Politik 43 (2010) 1, S. 4–12. Christoph Safferling, Thorsten Bonacker (Hrsg.): Victims of International Crimes: An Interdisciplinary Discourse, Den Haag 2013.

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staltern von Transitional-Justice-Prozessen gewandelt. Diese Transformation des normativen Kerns von Transitional Justice lässt sich besonders deutlich an den Verfahren der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission belegen, die vornehmlich auf den Zeugenaussagen von über 20.000 Opfern und deren öffentlichen Bekundungen des Verzeihens basierte.10 Auch die Kommissionen zur Aufarbeitung systematischer Menschenrechtsverletzungen in Marokko und in den Ländern Latein- und Südamerikas beteiligen in ähnlich hohem Maß die Opfer bei der Aufarbeitung staatlich zu verantwortenden Systemunrechts. Mit dieser neuen Ausrichtung des Gerechtigkeitskonzepts von Transitional Justice, weg vom Fokus der Identifizierung und Bestrafung der Täter hin zur Zentrierung und rechtlichen Ermächtigung der Opfer, ändern sich aber auch die anvisierten juridischen und vergangenheitspolitischen Leitideen. Nicht mehr die Restitution von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sondern sozialer Friede und gesellschaftliche Aussöhnung stehen im Vordergrund des Interesses. Statt gemäß legalistischer Kalküle die Abschreckung zukünftiger Verbrechen durch strafrechtliche Verfolgung und Aburteilung der Täter anzustreben, stehen Aufklärung über Strukturen von systematischer Repression und Massengewalt im Zentrum des Interesses der Investigation. Sie untersucht statt individueller Schuld strukturelle Ursachen und Umstände von Systemgewalt. Wahrheit, Gerechtigkeit und die Heilung der Opfer sollen realisiert werden. Mit diesem normativen, sozialen und institutionellen Umschwung des Transitional Justice Konzepts von der Retribution zur Restauration und von der Täter- zur Opferfokussierung tritt auch die anfängliche Orientierung an den Rechtsprinzipien des Internationalen Strafrechts in den Hintergrund und wird durch quasi ‚private‘ Formen der Unrechtsaufarbeitung ersetzt. Der Wechsel vom Gerichtshof zum Anhörungssaal zeitigt denn auch eine Reihe von weiteren folgenreichen Veränderungen. In Bezug auf die betroffenen Individuen wandelt sich die rechtliche Beziehungsform von Kläger und Beklagtem zur dialogischen Beziehungsform zwischen Opfern und ihren ehemaligen Peinigern. Nicht Verantwortlichkeit und Schuld, sondern Zeugnis und Beichte strukturieren die kommunikative Auseinandersetzung. In Bezug auf die Gesamtgesellschaft wandelt sich der Fokus von Normativität und Jurisdiktion hin zu Heilung und Versöhnung, in der jeweils eigene kulturelle Orientierungen und Vorstellungen von Moralität und Ethik und, wie die Beispiele der Gacaca-Justiz in Ruanda oder das Ritual Mato oput in Norduganda deutlich machen, traditionelle Verfahren der Unrechtsbewältigung und nicht mehr universale Menschenrechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen das Geschehen orientieren.11 Dieser Umschwung von genuin juridischen Verfahren der Unrechtsaufarbeitung hin zu eher therapeutisch-religiösen Formen des Umgangs mit vergangenem Unrecht spiegelt sich auch im Wandel des Sprachgebrauchs wider. Die legalistischen Kategorien von individueller Verantwortlichkeit und Schuld werden ersetzt durch theologisch-religiöse Semantiken der Reue und des Verzeihens, die nicht Recht und 10 11

Alex Boraine: A Country Unmasked. Inside South Africa’s Truth and Reconciliation Commission, Oxford, New York 2000. Vgl. hierzu Gerd Hankel: Die Gacaca-Justiz in Ruanda – ein kritischer Rückblick, in: BuckleyZistel, Kater (Hrsg.): Nach Krieg, Gewalt und Repression, 2011, S. 167–183.

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Unrecht, sondern nunmehr lediglich das ‚Leid‘ der Opfer und das ‚Fehlverhalten‘ der Täter betreffen. Gerechtigkeit wird daher nicht vor Gericht eingefordert und erstritten, sondern über die ‚Beichte‘ und das ‚Zeugnis ablegen‘ im Rahmen von öffentlichen ‚Hearings‘ inszeniert. Nicht mehr die Feststellung individueller strafrechtlicher Schuld gilt als das Ziel der Untersuchungs- und Aufdeckungsbemühungen historischer Verbrechen, sondern die materielle wie symbolische Wiedergutmachung und Versöhnung von Opfern und Tätern. Die Frage, die sich angesichts dieses radikalen Wandels des normativen Kerns von Transitional Justice stellt, lautet: Wie konnten sich diese fortschreitende gesellschaftliche Kontamination und außerrechtliche Ausweitung des normativen Konzepts der Übergangsgerechtigkeit von Transitional Justice unter den Bedingungen der Globalisierung herausbilden? Und warum konnte dieser Wandel von einem legalistischen Modell der Aufarbeitung von Unrecht zu einem eher losen hybriden Ensemble von Rechts- und Sozialnormen solch eine Überzeugungskraft in der Weltgesellschaft entwickeln, sodass gegenwärtig, wie eingangs erwähnt, Transitional Justice unabhängig von kulturellen, religiösen und ethnischen sozialen Kontexten und auch unabhängig von der Unterschiedlichkeit der vorausgegangenen gesellschaftlichen Konfliktformationen und Gewaltformen weltweit von souveränen Staaten für die Bewältigung historischen Unrechts in Anspruch genommen wird? Worin besteht die universelle Plausibilität des Transitional Justice Konzepts? Oder anders formuliert: ‚wie wirkt‘ Transitional Justice als ein globales Handlungsmodell der Übergangsgerechtigkeit auf lokale Gesellschaften ein, angesichts des Mankos einer klaren Definition des Rechtscharakters und des Fehlens einer staatenübergreifenden Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsinstanz auf der Ebene der internationalen Politik? Wer sind die zentralen Akteure, die zur Herausbildung und globalen Ausbreitung von Transitional Justice beigetragen haben? In welchen politischen Foren und Arenen findet dieser Prozess statt? Agenten der Weltkultur im Kontext des Legitimationssystems der Vereinten Nationen Folgt man der neo-institutionalistischen Perspektive einer Theorie der Weltgesellschaft, dann stehen die besondere Rolle von sogenannten rationalisierten Anderen und die von ihnen kreierten und verbreiteten Rationalitäts- und Verhaltensmodelle im Vordergrund der Analyse.12 John W. Meyer und seine Forschergruppe in Stanford denken an so unterschiedliche Akteure wie lokal und transnational agierende NGOs (Transnational Social Movement Organisations – TNGOs), internationale Organisationen, Anwaltsnetzwerke, Wissenschaftler, Ärzte, Intellektuelle und politische Berater. Auf lokaler Ebene tragen diese Agenten der Weltkultur weltgesellschaftliche Rationalitäts- und Handlungsmodelle an einzelne Bürger und staatliche Apparate heran und initiieren so diskursive Formierungsprozesse, in deren Aus12

Ausführlich hierzu Kastner, Holzer, Werron, (Hrsg.): From Globalization to World Society, 2014.

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breitungsverlauf partikulare Forderungen in universalistische Deutungszusammenhänge eingebettet werden, die das Selbstverständnis wie auch die Selbstbeschreibungen von Staaten, Individuen und Organisationen gleichermaßen betreffen. Mithin ‚provoziert‘ die Weltkultur Nachahmungs- und Übernahmeprozesse, in deren Verlauf weltkulturelle Verhaltens- und Strukturmuster auf lokaler Ebene implementiert werden. Damit betont die neo-institutionalistische Weltgesellschaftstheorie vor allem die Wirkmacht sinnhaft-symbolischer Diskurse, das heißt insbesondere Beobachtungs- und Beschreibungsverhältnisse im Kontext transnationaler politischer Arenen. Überträgt man dieses Deutungsschema auf die Frage, warum und wie die Globalisierung von Transitional Justice sich ereignen konnte, dann lässt sich folgende Interpretation formulieren: Die Diffusion und die Übernahme globaler Handlungsmodelle der Übergangsgerechtigkeit erfolgen auf der Basis eines sich zunehmend verdichtenden, transnationalen sozialen Feldes, in dem unterschiedliche Akteure als Agenten spezifischer vergangenheitspolitischer Normen, Standards und Institutionen in Erscheinung treten. Dieses mehrdimensionale, sich beständig verstärkende Beobachtungs- und Thematisierungsnetzwerk besteht aus internationalen Organisationen, insbesondere des Menschenrechtssystems der Vereinten Nationen, das die Artikulation von Unrechtserfahrungen wie die Formulierung vergangenheitspolitischer Ansprüche in der Sprache des internationalen Rechts überhaupt erst ermöglicht und damit partikulare Forderungen nach Aufarbeitung systematischer Menschenrechtsverletzungen und Wiedergutmachung vergangenen Unrechts weltweit als legitimes Anliegen unterstreicht. Dieser an der Idee der Universalität der Menschenrechte orientierte globale Bezugsrahmen fungiert zugleich auch als Startpunkt und Legitimationsgrundlage für das Agieren unterschiedlicher ziviler Akteure der menschenrechtsorientierten Vergangenheitsarbeit. In Gang gesetzt und durch das Akkreditierungsverfahren der Vereinten Nationen normativ gefestigt ist seit einigen Jahren ein transnationaler Schub der Erfahrungs- und Wissensakkumulation sowie der zunehmenden Institutionalisierung dieses spezifischen Wissens und des dazugehörigen Expertentums zu beobachten. Prominentestes Beispiel für die globale Verbreiterung menschenrechtlicher Expertise und vergangenheitspolitischer Theorie und Praxis sind neben den altehrwürdigen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch gegenwärtig insbesondere das International Center for Transitional Justice (ICTJ), das seinen Hauptsitz in New York sowie Regionalbüros in Europa, Lateinamerika, Asien und Afrika hat und mit Marokko und Libanon nun auch im Maghreb und im Nahen Osten betreibt. Die Initiatoren der Einrichtung haben mit der Gründung des Instituts im März 2001 den Grundstein für eine globale Kultur der Versöhnungs- und Vergangenheitsarbeit gelegt. Das ICTJ fungiert zudem als Non-Profit-Beratungsagentur. Es hat in zahlreichen Ländern politische Übergangsprozesse unterstützend begleitet und bei der Einrichtung von internationalen und hybriden Straftribunalen wie auch bei der Einsetzung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen mitgewirkt und zumeist die jeweilige länderspezifische Planung wie auch die konkrete Umsetzung von Transitional-Justice-Prozessen entscheidend vorangetrieben und gestaltet.

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Die Mitarbeiter des ICTJ stellen dabei ihr vergangenheitspolitisches Fachwissen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen vor Ort ebenso zur Verfügung wie staatlichen Behörden, nationalen Menschenrechtsinstitutionen, Regierungen und internationalen Organisationen, etwa den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und anderen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Sie beraten bei der Rekonstruktion und Dokumentation vergangener Menschenrechtsverletzungen, bei der Erstellung und Auswertung entsprechender Datenbanken und Archive. Sie klären über Erhebungsmethoden und Interviewtechniken mit Opfern auf und weisen in die Arbeit mit Zeugen und Zeugenschutzprogrammen ein. Sie bieten diesbezüglich vor Ort Schulungs- und Trainingsprogramme zur Vergangenheitsarbeit an. Sie begleiten, entwickeln und unterstützen mit ihren Experten die Durchführung öffentlicher Hearings und wirken an der Entwicklung von spezifischen Entschädigungs- und Wiedergutmachungsprogrammen für die Opfer mit. Sie stehen inzwischen auch bei der Einsetzung von Gedenk-, Erinnerungs- und Versöhnungsstätten beratend und gestaltend zur Seite. Sie sind zudem mit den sogenannten Followup-Programmen bei der Formulierung respektive Durchsetzung von Empfehlungen für politische und strukturelle Reformen betraut, die zur Sicherung von globalen Menschenrechtsstandards auf lokaler Ebene beitragen sollen. Darüber hinaus wirken sie nach Abschluss der Tätigkeit eines Tribunals, einer Wahrheits- und Versöhnungskommission oder anderen alternativen Formen von Aufarbeitung, wie etwa Historikerkommissionen oder traditionellen Verfahren der Unrechtsbewältigung, bei der Publikation von Länderberichten, Dokumentationen und Fallanalysen mit, die die lokale wie globale Öffentlichkeit über die jeweilige länderspezifische Konfliktsituation, das zur Bewältigung anstehende Systemunrecht und die Ergebnisse des jeweils eingeschlagenen länderspezifischen Weges der Übergangsgerechtigkeit informieren. Diese in regelmäßigen Abständen publizierten Informationen zum jeweils aktuellen Stand eines länderspezifischen Transitional Justice Prozesses aus allen Regionen der Welt, in dem die Mitarbeiter des ICTJ tätig sind, werden auf der Website des ICTJ in Form eines World-Reports, in englischer, spanischer und arabischer Sprache öffentlich zugänglich gemacht.13 Die Akkumulation, Standardisierung und globale Verbreiterung dieses spezifischen Wissens der Übergangsgerechtigkeit hat eine Reihe von Resolutionen und Richtlinien der Vereinten Nationen zur Gestaltung politischer Transitionsprozesse nach kriegerischen Auseinandersetzungen und systematischer Repression beeinflusst. Bis heute sind eine Vielzahl solcher Empfehlungen und Guidelines zur Bewältigung historischen Unrechts der Vereinten Nationen auf Initiativen des ICTJ entstanden und verabschiedet worden. Ein Höhepunkt dieses Engagements der weltkulturellen Agenten von Transitional Justice ist neben der Etablierung einer eigens für Transitional-Justice-Prozesse eingerichteten Abteilung im Amt des Hohen Kommissars für Menschenrechte, insbesondere die Ausrufung eines Internationalen Jahres der Versöhnung durch die Vereinten Nationen im Jahr 2009. Darüber hinaus gibt es Initiativen, die zur Etablierung eines alljährlichen Weltversöhnungstages und sogar einer ganzen Aussöhnungsdekade aufrufen. Den 13

Vgl. hierzu die Dokumentationen auf der Website von ICTJ: https://www.ictj.org.

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Entwurf einer entsprechenden Resolution zur Einrichtung eines Tages der Weltversöhnung haben verschiedene Gruppierungen der Generalversammlung vorgelegt. Durch diese weltkulturellen Aktivitäten der Experten der Vergangenheitsarbeit ist ein globaler Schub der Vernetzung, Professionalisierung und Standardisierung der versöhnungsorientierten Vergangenheitsarbeit in Gang gebracht und im Rahmen des Regel- und Normierungssystems der Vereinten Nationen auf weltgesellschaftlicher Ebene institutionell gefestigt worden.14 In enger personeller Verflechtung und beratender Zusammenarbeit mit Richtern im Kontext des Entscheidungsnetzwerks internationaler Gerichte konnte sich so das Konzept von Transitional Justice zu einem weltkulturellen Handlungsmodell vergangenheitspolitischer Arbeit herausbilden und im Rahmen der Beratungs- und Schulungstätigkeit des ICTJ und anderer mit versöhnungsorientierter Vergangenheitsarbeit beschäftigter TNGOs, als konventionelles Instrument der Unrechtsaufarbeitung global ausbreiten. In den letzten Jahren lässt sich zudem beobachten, wie dieses Praxiswissen der transnational agierenden Vergangenheitsarbeiter sich zunehmend als ein eigenständiger wissenschaftlicher Diskurs formiert, in dem sich ein spezifisches Fachwissen, mit entsprechenden Methoden und einem entlang des Begriffs Transitional Justice ausgerichteten homogenen Fachvokabular herausbildet, der von Wissenschaftlern in universitären Kreisen, durch die Etablierung von spezifischen Fachbereichen und Forschungsinstituten wie auch von Praktikern der Vergangenheitsarbeit in der Politikberatung gleichermaßen geprägt wird. Lex Transitus: Zur Emergenz eines globalen Rechtsregimes von Transitional Justice Durch diesen sich verdichtenden Diskurszusammenhang von Transitional Justice hat sich über die zunehmende wissenschaftlich fundierte Autorität dieses Wissens eine weltgesellschaftliche Arena entfaltet, in der sich in der Sprache des Neoinstitutionalismus formuliert: 1. weltkulturelle normative Erwartungsmuster, wie die der staatlichen Verfolgungspflicht systematischer Menschenrechtsverletzungen; 2. globale Verhaltensmodelle, wie die der opferorientierten Vergangenheitsarbeit; 3. standardisierte Institutionen der versöhnungsorientierten Übergangsgerechtigkeit, wie die von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, herausgebildet und strukturell manifestiert haben. Im Verlauf dieses komplexen Kommunikationsverdichtungszusammenhangs erfolgt nun das, was der Althistoriker Christian Meier und der Philosoph Jacques Derrida im Zusammenhang ihrer jeweiligen Studien zum Umgang mit historischem Unrecht die Globalisierung des Versöhnungsparadigmas genannt haben.15 Dabei 14 15

Zur Versöhnungspolitik der Vereinten Nationen am Beispiel des Transitionsprozesses im Königreich Marokko vgl. Kastner: Transitional Justice in der Weltgesellschaft, 2015, S. 173 Jacques Derrida: Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität, in: Lettre International 28 (2000), S. 10–18. Christian Meier: Das Gebot

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wird Versöhnung als ein diskursives Phänomen verstanden, das gleichsam hegemoniale Auswirkungen zeitigt, indem sie die zunehmende Konsolidierung einer an der Idee der Menschenrechte orientierten globalen Versöhnungskultur und eines damit verbundenen moralischen Unrechtsbewältigungs-, Erinnerungs- und Gedächtnisimperativs entfaltet.16 Im Kontext der Diffusion dieses weltgesellschaftlichen Imperativs der Versöhnung und der damit verbundenen konkreten Praxen der Vergangenheits-, Erinnerungs- und Gedächtnisarbeit werden staatliche wie zivile Akteure über einen beständigen Kommunikationsfluss gleichsam fortwährend moralisch imprägniert und können, selbst wenn sie den Vollzug globaler Verhaltensmodelle lediglich symbolisch zur Schau stellen, dennoch als legitime Akteure der Weltgesellschaft soziale Anerkennung erfahren. Dieser transnationale Sozialisierungsprozesses hat die Ausbreitung des Unrechtsbewältigungsarsenals von Transitional Justice von der globalen auf die lokale Ebene durch die sinnhaft-diskursive Macht transnational agierender Nichtregierungsorganisationen der Vergangenheitsarbeit ausgelöst und ist durch die moralisch-politische Wirkmacht des Entscheidungsnetzwerkes internationaler Gerichte verstärkt worden. Als ein vorläufiges Ergebnis der Entwicklung lassen sich folgende strukturelle Innovationen der Weltgesellschaft zusammentragen: 1. die rechtliche Fixierung einer Vielzahl vergangenheitspolitischer Normen und Standards im Kontext des Völkerrechts (Imperativ der friedlichen Konfliktbeilegung, Verpflichtung der Staaten zum Schutz individueller Rechte, das Prinzip des unabdingbaren Rechts der Opfer auf Wahrheit, die Pflicht zur staatlichen Aufklärung und Wiedergutmachung historischen Unrechts, rechtliche Inklusion von Opfer- und Genderperspektiven, Verfolgung von Tätern sexueller und sexualisierter Gewalt); 2. die Erfindung einer Vielzahl von Instrumenten der Bewältigung historischen Unrechts (Ad-hoc-Straftribunale, internationale und hybride Strafgerichte, Sondergerichte mit integrierten Wahrheitskommissionen, Zeugenbetreuungsund Court-Monitoring-Programmen, Experten-, Sachverständigen- und Historikerkommissionen, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, Opfer-TäterMediationen, ‚nicht-westliche‘, traditionelle Techniken und Rituale, wie Mato oput, Gacaca-Justiz); 3. die Entwicklung verschiedener Techniken des Umgangs mit historischer Schuld (‚Wahrheit-Sprechen‘, ‚Zeugnis ablegen‘, Versöhnungs-, Heilungs-, Erinnerungs- und Gedächtnistechniken, Errichtung von Archiven, Datenban-

16

zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010. Vgl. auch Fatima Kastner: Das Welttheater des Pardons. Recht, Vergebung und Gedächtnis, in: Gunther Teubner (Hrsg.): Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann: Zur (Un-)Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerechtigkeit, Sonderband der Zeitschrift für Rechtssoziologie 29, Stuttgart 2008, S. 153–165. Vgl. die Beiträge des Sammelbandes von Aleida Assmann und Sebastian Conrad (Hrsg.): Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories, Basingstoke 2010. Siehe auch Daniel Levy, Nathan Sznaider: Human Rights and Memory, Pennsylvania 2010. Aufschlussreich hierzu Jan Eckel, Claudia Moisel (Hrsg.): Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Wallstein 2008.

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ken, Erinnerungsorten, Monumenten und Museen, Einsetzung nationaler und internationaler Erinnerungs-, Versöhnungs- und Gedenktage). Diese durch die TNGOs der globalen Kultur der Vergangenheitsarbeit in Gang gesetzte und (mit)gestaltete Ausdifferenzierung vergangenheitspolitischer Normen, Standards und Institutionen eines spezifischen Rechts für Gesellschaften im Übergang wird hier in Anlehnung an die systemtheoretisch orientierten Arbeiten von Gunther Teubner zur Theorie eigenständiger Rechtsregime Lex Transitus genannt.17 Sie hat dazu geführt, dass heute Prozesse von Transitional Justice zu einem globalen Phänomen geworden sind. Dabei differenziert sich ein neues globales Rechtsregime von Transitional Justice heraus, dessen Knotenpunkt aus dem Normordnungssystem der Vereinten Nationen, den Entscheidungen internationaler Gerichte und den Sozialnormen transnational agierender NGOs der Vergangenheitsarbeit besteht.18 Mit dieser Ausdifferenzierung und Konstitutionalisierung eines neuartigen, quasi eigenständigen Sozialsystems – das sich durch seinen operativen Bezug zum globalen Rechtssystem, orthogonal zur segmentären Ausdifferenzierungsform der Staaten ausbreitet – hat sich eine weltgesellschaftliche Arena entfaltet, deren sozialem Druck zur Anpassung an globale vergangenheitspolitische Verhaltensmodelle sich kaum ein souveräner Staat mehr entziehen kann. Der Ritus des öffentlichen Erinnerns und Entschuldigens hat sich damit nachhaltig mit den strukturellen Manifestierungen einer Weltkultur der Versöhnung im Kontext der Regelsetzungstätigkeit der Vereinten Nationen zu einem globalen ‚Mantra der Gerechtigkeit‘ entwickelt, an dem das Verhalten von staatlichen wie auch individuellen Akteuren gemessen wird.19 Im Sinne eines universalen moralischen Codes werden damit maßgeblich der Einsatz bestimmter Symbole, Rhetoriken und Gesten der Versöhnung verbunden.20 Für Gesellschaften, die sich mit einer ‚schlimmen Vergangenheit‘ konfrontiert sehen, stellt sich heute deshalb nicht mehr die Frage, ob sie ihre historische Schuld aufarbeiten, sondern nur noch, wie sie dies tun.21 Sei es, dass sie gemäß des weltkulturellen Gebots zu erinnern und des Imperativs Unrecht zu bewältigen, internationale oder hybride Ad-hoc-Tribunale einsetzen, Historiker- oder Wahrheits- und Versöhnungskommissionen mit der Aufklärung vergangenen Unrechts beauftragen, oder lediglich Gedenktage und Museen einrichten oder Mahnmale errichten. 17

18 19 20 21

Vgl. hierzu Fatima Kastner: Lex Transitus. Zur Emergenz eines transnationalen Rechtsregimes von Transitional Justice in der Weltgesellschaft, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 35 (2015), Heft 1, S. 29–47. Siehe auch Gunther Teubner: Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, Berlin 2012. Chris Thornhill: Rights and constituent power in the global constitution, in: International Journal of Law in Context 10 (2013), S. 357– 396. Poul F. Kjaer: Constitutionalism in the global realm. A sociological approach, London 2014. Ausführlich hierzu Kastner: Transitional Justice in der Weltgesellschaft, 2015, S. 163–233. Pierre Hazan: Das neue Mantra der Gerechtigkeit. Vom beschränkten Erfolg international verordneter Vergangenheitsbewältigung, in: Der Überblick. Gesellschaft nach Konflikten 43 (2007), S. 10–22. Jennifer Lind: Sorry States. Apologies in International Politics, Ithaca, London 2010. Christian Meier: Das Gebot zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010.

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Damit lassen sich auch die eingangs formulierten Fragen, nämlich warum souveräne Staaten Transitional Justice Instrumente einsetzen und warum diese Mechanismen wiederum ihre heutige weltgesellschaftliche Selbstverständlichkeit erlangen konnten, beantworten. Abhängig vom Konfliktverlauf und dem Grad der Bereitschaft zur Konfliktbearbeitung der jeweils betroffenen Postkonfliktgesellschaft erlangt ein souveräner Einzelstaat mit der Einsetzung der flexibel zu handhabenden Instrumente der Lex Transitus zweierlei: Zum einem festigt und legitimiert er mit der Durchführung eines landesspezifischen Transitional-Justice-Programms seinen Status als legitime staatliche Einheit auf der Ebene der internationalen Politik, weil er seiner völkerrechtlichen Verpflichtung zur Offenlegung und Wiedergutmachung staatlich zu verantwortender Verbrechen in der Vergangenheit nachkommt. Zum anderen gelingt ihm damit auf der nationalstaatlichen Ebene die politische Selbstinszenierung als Schlichter und Garant innergesellschaftlicher Stabilität und Ordnung. Verstärkt wird die Übernahmebereitschaft vergangenheitspolitischer Handlungsmodelle von Transitional Justice durch ein weiteres gewichtiges Faktum, nämlich dass Geberorganisationen wie die Weltbank, der internationale Währungsfonds oder auch die Europäische Union ihre Kredit- und Unterstützungsprogramme nicht nur von der Einhaltung menschenrechtlicher Normvorgaben und Standards der sogenannten ‚good governance‘, sondern inzwischen auch vom Umgang mit historischer Schuld und friedenserhaltender Maßnahmen abhängig machen. Mithin erlangen Einzelstaaten Legitimität und Anerkennung sowohl auf internationaler wie nationaler Ebene. Sie bestätigen nachhaltig ihren Status als souveräne Einheiten und Mitglieder der ‚zivilisierten‘ Staatengemeinschaft, womit sich auch die globale Ausbreitung des erweiterten Gerechtigkeitskonzepts von Transitional Justice von der normativen Ausnahme zur weltpolitischen Regel erläutern lässt. In einer Welt im Umbruch, in der unzählige Länder seit dem Ende der Ära des Kalten Krieges von Osteuropa, über Mittel- und Südamerika, Afrika und Asien bis hin zur heutigen Region des Maghreb und des Nahen Ostens sich im Übergang oder gar in Auflösung befinden, stellt das globale Handlungsmodell von Transitional Justice ein weitgefächertes und flexibel gestaltbares Arsenal an rechtlichen und sozialen Mechanismen der Konfliktbearbeitung zur Verfügung, das den betroffenen Übergangsstaaten ein Mindestmaß an Rechtssicherheit und gesellschaftlichem Frieden ermöglicht. Mit transitionaler Gerechtigkeit ist damit im Kern nicht mehr die noch ursprünglich im Anschluss an die Nürnberger und Tokioer Prozesse verbreitete genuin legalistische Forderung nach der juridischen Verantwortlichkeit ehemals verbrecherischer Regime und der sie tragenden Individuen gemeint. Vielmehr wird damit den veränderten Bedürfnissen und Anforderungen einer Welt im Umbruch nach Sicherheit und Stabilität Rechnung getragen.

ZUR MATRIX GLOBALEN ERINNERNS: DAS GEDENKEN AN DIE SHOAH IM TRANSNATIONALEN KOMMUNIKATIONSRAUM Ralph Buchenhorst Zusammenfassung: Erinnerungsdiskurse zu Ereignissen staatlicher Gewalt stehen seit Jahrzehnten im Fokus der Öffentlichkeit, unterstützt durch die Verbreitungsmöglichkeiten der neuen Medien. Sie bewegen sich im Spannungsfeld zwischen lokaler Erfahrung und globaler Aufmerksamkeit. Der vorliegende Beitrag liest anhand einer vergleichenden Analyse von Beispielen zum Shoah-Gedenken und zu südamerikanischen Geschichtspolitiken aus dieser Konstellation eine Matrix des Erinnerns heraus, die zwischen dem Schutz lokalen Geschichtssinns und der Notwendigkeit einer großen Erzählung der Folgen europäischer Expansion navigieren muss. Abstract: Since decades, remembrance of genocidal events has attracted growing attention, also due to the digital media’s means of dissemination. Thus, memory discourses are caught between local experience and global reception. The present contribution is based on a comparative analysis of examples taken from Holocaust remembrance and South American memory politics. As a result, it proposes to understand new tendencies in history politics as a matrix challenged to navigate between the protection of local experiences and the necessity for a global narrative of the European expansion’s consequences.

Einleitung Der vorliegende Beitrag untersucht die kulturelle Repräsentation und geschichtspolitische Verortung der Shoah im Kontext einer unübersehbaren und fortschreitenden Globalisierung des Gedenkens. Er möchte analysieren, welchen Einfluss die Intensivierung und Verbreitung von Fakten und Darstellungen zum zentralen europäischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts auf andere Erinnerungsdiskurse hat. Im Zentrum dieser Analyse stehen damit einerseits mediale Infrastrukturen, die jenes Gedenken wesentlich mitgestalten, andererseits transnationale Lebenswelten und daraus sich ergebende Sichtweisen auf den Holocaust. Zu identifizieren sind lokale, staatliche und suprastaatliche Akteure dieser Erinnerungsdiskurse und -praktiken, darüber hinaus ihre politischen Strategien und die Arenen, in denen sich solche Praktiken und Repräsentationsformen entfalten. Um transnationale Übersetzungsprozesse zwischen dem Shoah-Gedenken und anderen Erinnerungskulturen an konkreten Fällen aufzeigen zu können, soll die Debatte über die Formen, welche die Aufarbeitung der jüngsten Militärdiktaturen in Argentinien und Chile mit ihren circa 33.000 Verschwundenen annimmt, anhand einiger Beispiele dargestellt wer-

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den. Ziel der Untersuchung ist es, anhand der vorliegenden geschichtspolitischen Strategien eine Dialektik der Erinnerung negativer Vergangenheiten herauszuarbeiten, die der generellen Logik der Moderne, zwischen Individualisierung und Standardisierung, Narrativ und Norm, kritischer Selbstreflexion und radikaler Ausgrenzung des Anderen hin- und herzunavigieren, gehorcht.1 Die zitierten empirischen Beispiele dienen als Nachweis für die Existenz dieser Dialektik und damit als Nachweis für die These, dass der Holocaust und seine Aufarbeitung keinen Bruch mit der Moderne darstellen, sondern ihre Radikalisierung. Mediale, kulturelle und politische Voraussetzungen des Erinnerns Um die Globalisierung des Gedenkens an Genozide analysieren zu können, sind ihre Vorbedingungen zu klären. Dass die Erinnerung an lokale Ereignisse globale Dimensionen annehmen kann, darf vor dem Hintergrund der Verbreitungspotenz neuer Medien heute als selbstverständlich gelten. Die dadurch ausgelöste Vernetzung steigert Kapazitäten der Vermittlung von Ereignissen, die eine begrenzte Zahl von Teilnehmenden und Betroffenen direkt betrifft, zugleich jedoch auf Anteilnahme bei Nichtbetroffenen in anderen Weltregionen hoffen kann. Der Wunsch nach Intensivierung dieser Anteilnahme und die durch ihn ausgelösten Diskussionen um Einzigartigkeit, Vergleichbarkeit oder ein generelles Schema der Verbindung von Ereignis und seiner medialen Darstellung prägen heute die Auseinandersetzung um die Erinnerung von konfliktgeladenen Vergangenheiten. Sie betreffen vor allem historische Ereignisse, die durch staatlich organisierte Gewalt gegenüber einer Ethnie, einer politischen Gruppierung oder einer religiösen Gemeinschaft eine Opfer-Täter-Konstellation erzeugen, die sich durch eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zieht. Die erwähnte Intensivierung führt zu extremen Ausformungen in der Aufarbeitung von Vergangenheit. Kulturwissenschaftliche, medientheoretische und geschichtswissenschaftliche Diagnosen sprechen von einer Hypertrophie, einem 1

Ich beziehe mich hier auf ein Verständnis der Moderne, das im philosophischen und soziologischen Diskurs über die Konsequenzen der Aufklärung seit Hegel diskutiert wird und immer wieder um die Frage kreist, ob das europäische Rationalitäts- und Vernunftkonzept einen wirklich universalistischen Anspruch vertritt (Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne: Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/Main 1985; Zygmunt Baumann: Modernity and Ambivalence, Cambridge 1993; Richard Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge/ Mass. 1989). Nach dem Holocaust stand zur Debatte, ob die Aufklärung Mittäter oder Opfer totalitärer Systeme sei. Autoren post- und dekolonialistischer Argumente tendieren heute zur Behauptung einer Mittäterschaft und unternehmen es, die Moderne mit dem Nationalismus und der Ausgrenzung des (kolonialisierten) Anderen zu identifizieren (Walter Mignolo: The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options [Latin America Otherwise], Durham 2014; Paul Gillen, Devleena Ghosh: Colonialism and Modernity, Sydney 2007). Der vorliegende Beitrag versucht nachzuweisen, dass die globale Aufarbeitung der Shoah beides gezeigt hat: die Mittäterschaft der Moderne und ihre Fähigkeit, mit den Mitteln der Selbstkritik Konsequenzen aus dieser Mittäterschaft zu ziehen. Der dritte Abschnitt geht näher auf diese Logik der Moderne und den Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Shoah ein.

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Unbehagen oder einer Instrumentalisierung respektive Industrialisierung der Erinnerung.2 Solche Debatten gehen von einer stark diskutierten normativen Prämisse aus: dass es dem individuellen Gedenken an das Leiden einer Vielzahl von Menschen ethisch nicht angemessen ist, wenn seine mediale Repräsentation Ausmaße annimmt, die eher der Eigenlogik technischer Reproduzierbarkeit und digitaler Verbreitung gehorchen als der solidarischen Annäherung an die Opfer.3 Wir haben es also mit zwei einander widersprechenden Entwicklungen im Bereich der Erinnerungsdiskurse zu tun: mit einer ungeahnten Sensibilisierung für Möglichkeiten, Krisen der Gegenwart durch das Erkennen von Unterdrückungsmechanismen der Vergangenheit zu verstehen, und mit einer Entfremdung gegenüber dem ursprünglichen Ereignis selbst, das durch eine Wucherung scheinbar selbstgefälliger Formensprachen verdeckt wird. Beide Entwicklungen führen zu einem Phänomen, welches das durch knappe Aufmerksamkeitsressourcen geregelte Feld der Geschichtspolitik mitstrukturiert: zu einem Kampf der Erinnerungen (clashes in memory).4 Als Konzept ursprünglich in Südamerika entwickelt, um den Bestrebungen unabhängiger Akteure der Erinnerung Ausdruck zu verleihen und ihre Versionen den offiziellen staatlichen Darstellungen der Vergangenheit entgegenzustellen,5 wird es nunmehr zu einem Ausdruck für eine Wettbewerbssituation, die einem Nullsummenspiel um die Vorherrschaft in der Politik der Anerkennung gleicht. Mittlerweile gibt es Bemühungen, diesem Konzept Alternativen entgegenzustellen, die eher Möglichkeiten gegenseitiger Befruchtung, offener Bezugnahme und kreative Querverbindungen betonen.6

2

3 4

5 6

Vgl. dazu Andreas Huyssen: Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Stanford 2003; Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013; Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt/Main 2001; aus lateinamerikanischer Sicht: Juan Felipe Hernandez: La Química de la Memoria. A Benjaminian Approach, in: Journal of Latin American Cultural Studies 22 (2013) 3, S. 259–270; Sandra Lorenzano, Ralph Buchenhorst (Hrsg.): Políticas de la Memoria. Tensiones en la Palabra y la Imagen, Buenos Aires 2007. Einige Protagonisten dieser Diskussion sind: Susan Sontag: Regarding the Pain of Others, New York 2003; Jacques Rancière: Politik der Bilder, Berlin 2005; Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München 2007. Vgl. Muriel Blaive et al. (Hrsg.): Clashes in European Memory: The Case of Communist Repression and the Holocaust, Innsbruck 2011; Nina Elsemann: Erkämpfte Erinnerungen. Die Bedeutung lateinamerikanischer Erfahrungen für die spanische Geschichtspolitik nach Franco, Frankfurt/New York 2010. Elisabeth Jelin: State Repression and the Labour of Memory, Minnesota 2003; Marina Franco, Florencia Levín (Hrsg.): Historia reciente. Perspectivas y desafíos para un campo en construcción, Buenos Aires 2007. Wie etwa die Bestrebungen verschiedener europäischer Kultusminister, durch das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität einen gemeinsamen europäischen Erinnerungsraum zu schaffen: URL: http://www.enrs.eu, letzter Zugriff 25.03.2015, und den von den Vereinten Nationen ins Leben gerufenen International Day of Remembrance of the Victims of Slavery and the Transatlantic Slave Trade, URL: http://www.un.org/en/events/slaveryremembranceday, letzter Zugriff 25.03.2015.

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Kritik der Logik der Moderne Um den kritischen Impuls der Matrix globalen Erinnerns verstehen zu können, ist, bevor wir uns der Empirie des Shoah-Gedenkens zuwenden, auf einen Sachverhalt hinzuweisen, der die vorherrschenden westlichen Erinnerungsdiskurse zur Shoah, zum armenischen Genozid und zu den Massakern in Srebrenica in einen auch kulturgeschichtlichen und kulturpolitischen Zusammenhang globalen Ausmaßes eingliedert. Nur durch diese Eingliederung ist es möglich, Defizite in der eurozentrischen Sichtweise auf die Einmaligkeit des Holocaust in den Blick zu bekommen und als Konsequenz daraus den Fortschritt (und die Probleme) eines dezentralisierten Matrixkonzepts zu erkennen. Die Entwicklung und intensivierte Wahrnehmung des post- oder dekolonialen Diskurses hat dazu geführt, die Kolonialisierung Lateinamerikas und den transatlantischen Sklavenhandel als die erste großangelegte Expansions- und Vernichtungskampagne der Moderne anzusehen. Dieser Diskurs verweist darauf, dass sich mit der Erweiterung des europäischen Einflussraums zwischen dem 16. und 19. Jahrhunderts ein Missionierungs- und Kreolisierungsprozess entwickelte, in dessen Rahmen zwei zentrale Elemente der Logik der Moderne hervortraten: das Element der Entnationalisierung der Geschichte kolonialer Unterdrückung durch die transatlantische Diaspora7 und das Element des Gegensatzes von Rationalität und dessen Anderem. In der Junta de Valladolid (1550/51) von Ginés de Sepúlveda etabliert als Recht der Vernunft, das Unvernünftige zu unterwerfen und wenn nötig zu eliminieren,8 und in der Folge fortgeschrieben durch das Urteil Hegels, Afrika habe keine Geschichte9, sorgte diese Logik dafür, dass eine Erinnerung an die Opfer der europäischen Expansion durch das Fehlen einer ausreichenden Dokumentation und einer Geschichtsschreibung von unten ein fragmentarisches Unternehmen bleiben würde. Eine transnationale Geschichts- und Erinnerungsforschung ist heute daher auch daran interessiert, auf welche Weise diese Opfer wieder zu Akteuren innerhalb der Geschichte werden können, wie ihre Überlieferung ihrer Existenz zu retten und wie sie zu reaktivieren ist.10 Entsprechend wird zu diskutieren sein, ob man die Erinnerung an die Shoah als isoliertes Phänomen betrachten kann oder ob man sie nicht vielmehr als ein wichtiges Ereignis unter vielen einer erweiterten Geschichtsschreibung der Moderne sehen muss, die ohne den Rückgang auf die Expansionsbestrebungen seit Ende des 15. Jahrhunderts unvollständig bleiben würde. James Young zum Beispiel sieht sich in einem 2006 veröffentlichten Interview mit dem Titel „Die Zentralität der Shoah“ im Verlauf seiner Argumentation dazu genö7 8 9 10

Vgl. Paul Gilroy: The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness, London 1993. Siehe die Zusammenfassung der Sepúlveda’schen Argumente in Bartolomé de Las Casas: Apología, o Declaración y defensa universal de los derechos del hombre y de los pueblos, Vidal Abril Castello et al. (Hrsg.). Valladolid 1552/2000, S. 6–8. Georg W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt/Main 1986, S. 120 ff. Siehe dazu die Ansätze von Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, Walter D. Mignolo: Coloniality. The Darker Side of Modernity, in: Cultural Studies 21 (2007) 2–3, S. 155–167, und Anibal Quijano: Die Paradoxien der eurozentrierten kolonialen Moderne, in Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 40 (2010) 1, Heft 158, S. 29–47.

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tigt, eben jene Zentralität in Abrede zu stellen. Er weist zwar darauf hin, dass die Shoah vor allem deshalb zu einem entscheidenden Referenzpunkt des politischen und kulturellen Selbstverständnis der westlichen Zivilisation werden konnte, weil sie bereits in ihrem Verlauf durch Dokumentationen der Opfer (und in wenigen Fällen auch der Täter) zu einem Narrativ werden konnte, ein Narrativ, das direkt nach der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager durch die Alliierten in Form von Foto- und Filmaufnahmen weiter ausgebaut wurde.11 In der Beschreibung der Institutionalisierung dieses Narrativs durch Museen, Gedenkstätten und Kommissionen weist er aber auch auf die Gefahren hin, die diese Zentralität birgt. Die Institutionalisierung führe zu einer Konfrontation ethnischer Gruppen – mit allerdings sehr wünschenswerten Ergebnissen. In Deutschland hat das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas dazu geführt, auch die anderen Ethnien und Randgruppen, die in den Lagern umgebracht wurden, in den Erinnerungsdiskurs einzubeziehen. Mittlerweile wird der nationalsozialistischen Vernichtung der Sinti, Roma, Homosexuellen und Geisteskranken durch Denkmale und Bürgerinitiativen gedacht. Die Erinnerungskultur in den Vereinigten Staaten nimmt mittlerweile eine ähnliche Entwicklung. Neben dem 2004 eröffneten National Museum of the American Indian auf der National Mall in Washington, D. C., das die Geschichte der indigenen Bevölkerung des amerikanischen Kontinents erzählt, dokumentiert in einem besonderen thematischen Bereich das ebenfalls auf der Mall befindliche National Museum of American History die Geschichte der Sklaverei auf dem Subkontinent. Der Bau eines National Museum of Slavery in Richmond, Virginia, soll in Vorbereitung sein.12 Als Konsequenz aus der zuvor skizzierten Entwicklung wird in der vorliegenden Untersuchung ein Ansatz verfolgt, für den Daniel Levy und Nathan Sznaider durch ihre These, die Auseinandersetzung mit der Shoah habe zu einem kosmopolitischen Gedächtnis geführt, sowie Michael Rothberg mit seiner Untersuchung zur multidirektionalen Erinnerung an den Holocaust Grundsteine gelegt haben.13 Die Soziologen und Holocaustforscher Levy und Sznaider haben die Loslösung von einer nationalstaatlich geprägten Geschichtsschreibung durch den Übergang von der ersten zur zweiten (reflexiven) Moderne konzeptuell zu fassen versucht. Während die erste Moderne der Versuch war, neue Ausdrucksformen zu finden, ohne jedoch die fundamentalen Kategorien des Nationalstaats kritisch zu reflektieren, bezieht die zweite Moderne diese Reflexion in ihr Selbstverständnis mit ein. Ohne den Partikularismus der Shoah-Erfahrung anzutasten, will die reflexive Moderne ihn in die globale Frage nach der Respektierung der Menschenrechte einbeziehen. Sie fördert 11

12 13

James E. Young: Die Zentralität der Shoah, in: David Bankier (Hrsg.): Fragen zum Holocaust. Interviews mit prominenten Forschern und Denkern, Göttingen 2006, S. 314–337: siehe auch James E. Young, Beschreiben des Holocaust: Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt/Main 1997, S. 19. Zur wechselreichen und durch nationale Widerstände geprägten Geschichte der Erinnerung an die Sklaverei in den USA siehe James O. Horton, Lois E. Horton: Slavery and Public History: The Tough Stuff of American Memory, New York 2009. Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009.

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eine gegenseitige Befragung und Befruchtung lokaler Erinnerungen sowie die Idee grenzüberschreitender Solidarität.14 Rothberg wiederum behauptet, die Beschreibung der Matrix, das heißt der komplexen Konstellation globaler Erinnerung an organisierte Gewalt gegenüber Ethnien, könne nur dann gelingen, wenn sie von einer Verknüpfung von kolonialen und nachkolonialen Erinnerungen ausgeht. Allerdings, und damit möchte ich über die Ansätze der drei Autoren hinausgehen, muss man dabei auch die politischen, ökonomischen und kulturellen Machtpotenziale, die bei der Platzierung und Verbreitung von Erinnerungsdiskursen in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, mit berücksichtigen und nicht in naiver Weise von einer vorweg gegebenen Gleichberechtigung und -verteilung der Aufmerksamkeiten für konfliktgeladene Vergangenheiten ausgehen. Die neue Matrix des Erinnerns mag zwar durch globale Ausbreitung und Aufmerksamkeit geprägt sein, durch horizontale Kommunikations- und Entscheidungsmuster strukturiert ist sie zumeist nicht. Shoah-Gedenken im transnationalen Spannungsfeld zwischen Täter-, Opfer- und Betrachterperspektive Ich werde mich im Folgenden mit der Frage nach Arenen, Akteuren und Institutionen globaler geschichtspolitischer Strategien vor allem im Kontext des ShoahGedenkens beschäftigen. Dieser Diskurs mit seiner historischen Spannweite und Intensität bietet die Gelegenheit, Entwicklungsphasen und Paradigmenwechsel während eines globalen Umbruchs der Kommunikation und des Verständnisses von humanen Katastrophen zu beobachten. Er soll weder als nationales Phänomen noch als isoliert von dem Gedenken anderer Massenverbrechen gesehen werden. Deshalb wird im abschließenden Teil dieses Aufsatzes die Erinnerung an die sogenannten Verschwundenen der jüngsten Militärdiktaturen in Argentinien und Chile herangezogen, um Querverweise und Verflechtungen mit dem Shoah-Gedenken aufzuzeigen. Diese Einbeziehung soll das im theoretischen Teil entwickelte MatrixKonzept illustrieren. Sie wird verdeutlichen, dass die Matrix durch ein Gegenüber von lokalem und transnationalem Geschichtssinn geprägt ist und dass letzterer zu einer Überschreitung der engen Erinnerungsgrenzen zur europäischen Expansion insgesamt führt. Die transnationalen Bezüge der Shoah-Erinnerung rühren natürlich einerseits von der Tatsache her, dass die Opfer des nationalsozialistischen Terrors zu einem überwältigenden Teil diasporische Gemeinschaften waren: Juden, Sinti und Roma aus dem gesamten europäischen Raum. Nach dem Ende des Holocaust sind Überlebende dieser Gemeinschaften zu großen Teilen in andere Länder abgewandert, haben jedoch den Kontakt zu ihren Heimatländern nicht aufgegeben und gerade dadurch eine erste transnationale Brücke der Erinnerung geschaffen. Andererseits trug die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs lange Zeit auch spezifisch nationale Züge. In Polen war sie geprägt von der Auffassung, das polnische Volk sei das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen. Das jüdi14

So Levy, Sznaider: Erinnerung, 2001, S. 9 ff.

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sche Museum in Kopenhagen wiederum erzählt als Schwerpunkt die Rettung der dänischen Juden während der Besetzung im Jahre 1943. Die offizielle italienische Geschichtspolitik und Erinnerungskultur war bis in die jüngste Vergangenheit getragen von einer Ausblendung von Eigenverantwortung, einer strategischen Verharmlosung der Mussolini-Diktatur und bezüglich des Holocaust von einem Bild, das Italien ebenfalls als Opfer des Nazi-Terrors sieht.15 Da nach Israel die USA dasjenige Land war, das die meisten jüdischen Flüchtlinge aufnahm, etablierte sich auch eine Erinnerungskultur in den US-amerikanischen jüdischen Gemeinden, obwohl in den 1950er-Jahren hier – wie übrigens selbst in Israel – die Betonung der Notwendigkeit des Vergessens als Voraussetzung eines Neuanfangs vorherrschte.16 In der Folge waren es medial stark verbreitete Ereignisse wie der Eichmannund Auschwitz-Prozess, die US-amerikanische Fernsehserie Holocaust, der Historikerstreit, die Goldhagen-Debatte, die „Declaration of the Stockholm International Forum on the Holocaust“ und die Diskussion um das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die dafür sorgten, dass die Shoah-Erinnerung sich rhizomartig durch Länder, Gemeinschaften und Schichten verzweigte und so außerhalb akademischer Kreise wahrgenommen wurde. Deutlich wurde damit auch, dass Israel kein Monopol mehr auf die Interpretation des Holocaust hatte.17 Heute gilt dieser als normative Vergangenheit für den gesamten europäischen Kontinent.18 Aber auch außerhalb Europas nimmt die Erinnerung an die Shoah institutionalisierte Formen an: Argentinien, Kanada, Südafrika und Australien verfügen über Holocaust-Museen, Länder wie Uruguay und Brasilien haben Gedenkstätten eingerichtet. Schließlich gibt es zwischenstaatliche Organisationen wie die Task Force für Internationale Kooperation bei Holocaust-Bildung, -Gedenken und -Forschung (ITF, seit 2013: Internationale Allianz für Holocaust-Gedenken / International Holocaust Remembrance Alliance, IHRA) mit Sitz in Berlin und die seit Anfang 2011 arbeitende Deutsch-Israelische Schulbuchkommission (DISBK), die Geschichts-, Geographie- und Sozialkundebücher beider Länder vergleicht. Letztere wird vom Auswärtigen Amt und vom israelischen Erziehungsministerium gefördert, um die Darstellung des Holocaust und seiner Erinnerung im jeweils anderen Land zu un-

15

16

17 18

Vgl. Patrick Ostermann et al.: Die Shoah in Geschichte und Erinnerung. Perspektiven und Medien der Vermittlung in Italien und Deutschland, in: Claudia Müller et al. (Hrsg.): Die Shoah in Geschichte und Erinnerung. Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland, Bielefeld 2015, S. 9–24. Zur Situation in Israel nach der Staatsgründung siehe Ralph Buchenhorst: ‚They are different people‘. Die Vermittelbarkeit der Shoah und das Selbstverständnis der Moderne, in: Matthias Kaufmann et al. (Hrsg.): Warum Piero Terracina sein Schweigen brach, Bamberg 2013, S. 67– 74; zur frühen Entwicklung in den USA vgl. Matthias Hass: Gestaltetes Gedenken. Yad Vashem, das U. S. Holocaust Memorial Museum und die Stiftung Topographie des Terrors, Frankfurt/New York 2002, S. 249 ff. So Nathan Sznaider: Israel, in: Volkhard Knigge, Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 205–218, hier S. 213. So sieht es Aleida Assmann: Die transformierende Kraft der Erinnerung. Rede im Landtag von Baden-Württemberg, 27.01.2012, URL: http://www.gedenkstaetten-bw.de/fileadmin/gedenk staetten/pdf/veranstaltungen/vortrag_assmann_27_1_12.pdf, letzter Zugriff 26.03.2015.

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tersuchen und Fragen der Globalisierung in den Lehrwerken zu behandeln.19 Viele dieser Museen und Institute für Holocaust-Studien waren von 2010 bis 2014 in der European Holocaust Research Infrastructure vereint, um Forschern und der interessierten Öffentlichkeit digitalen Zugang zu verstreuten historischen Quellen zur Shoah zu ermöglichen.20 Transnational in einem emphatischen Sinne ist diese Erinnerung auch, weil sie diese mit Verflechtungen aufgeladene Geschichte in die urbanen Lebensräume von demokratischen Gesellschaften hineinträgt, die durch andauernde Migration stark von der Vermischung, Überlagerung oder bewussten Abgrenzung von kulturellen Handlungsmustern geprägt sind. Die sich ergebenden Konfrontationen unterschiedlicher Geschichtsentwürfe führen im besten Fall zu einer Erweiterung des geschichtlichen Verstehens, im schlechteren Falle zu einer Abschottung gegenüber alternativen Erzählungen. Transnationale Kulturräume eröffnen somit einerseits neue Handlungskontexte, Bewältigungs- und Interpretationsmöglichkeiten von Geschichte, andererseits sind sie geprägt durch eine Komplexität von unterschiedlichen, zuweilen sich widersprechenden Normen und Narrativen, deren Konsequenz Desorientierung statt Identitätsstiftung durch Erinnerung sein kann. Mit Sicherheit bedingt jene Komplexität jedoch gesteigerte Anforderungen an kognitive, emotionale und soziale Verarbeitung von konfliktgeladenen Vergangenheiten.21 Wenn man sich zum Beispiel in Deutschland mit dem Holocaust nicht mehr nur im Kontext der ‚eigenen‘ Geschichte auseinandersetzt, sondern zunehmend aufgefordert wird, ihn auch aus der Perspektive eines türkischen Immigranten, eines palästinensischen oder kurdischen Flüchtlings wahrzunehmen, dann entfaltet sich das, was ich in der Folge die Dialektik der Aufarbeitung negativer Vergangenheit nennen möchte: Geschichtspolitiken, die gesamtgesellschaftlich zwischen globaler Erweiterung der Perspektiven und Rückfall in streng lokale und hierarchische Positionen der Verteidigung monokausaler Erklärungsmodelle navigieren. Staatliche und suprastaatliche Akteure (wie zum Beispiel der Europarat oder das Europäische Parlament) haben darauf mit Maßnahmen reagiert, die das Gedenken an die Folgen europäischer Diktaturen zur kontinentalen Gemeinschaftsaufgabe erklären.22 Lokale Erinnerungspraktiken wiederum wehren sich gegen eine solche Standardisierung und reagieren mit Abgrenzung. Sie verstehen regionale Gedächtnisse als an Erfahrungen gebundene und deshalb unverzichtbare Verdichtungen von Vergangenheit, welche notwendige Schaltstellen zwischen der lokalen, der nationalen und der globalen Ebene bilden.23 19 20 21 22 23

Zu weiteren Aktivitäten der Kommission siehe die einschlägige Internetseite des GeorgEckert-Instituts: URL: http://www.gei.de/forschung/europa/bruchlinien/deutsch-israelischeschulbuchkommission.html, letzter Zugriff 27.03.2015. Internetauftritt der EHRI unter: URL: http://www.ehri-project.eu/about-ehri, letzter Zugriff 28.03.2015. Zu Anforderungen und Chancen transnationaler Lebenswelten siehe Désirée Bender et al. (Hrsg.): Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten. Ein wissenschaftliches Lesebuch. Erzählungen – Analysen – Dialoge, Bielefeld 2015. Vgl. dazu Dieter Langewiesche: Zeitwende. Geschichtsdenken heute, Göttingen 2008, S. 22. Den Einfluss dieser regionalen Kulturen untersucht zum Beispiel seit 2011 die Arbeitsstelle

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Oral history versus Vernetzung In den nächsten beiden Abschnitten ist zu zeigen, wie (topografische, formale und konzeptionelle) Grenzüberschreitungen im Erinnerungsdiskurs zur Shoah Repräsentationsräume öffnen, die für eine Erweiterung der Matrix des Erinnerns nutzbar gemacht werden können. Die oben erwähnten transnationalen Initiativen zeigen, dass wir mittlerweile auch die Phase der sogenannten Amerikanisierung der ShoahErinnerung durchlaufen haben. Mit diesem Konzept sind zwei geschichtspolitische Entwicklungen benannt worden: die Aufnahme und Diskussion der Geschichte der Vernichtungslager in der US-amerikanischen Gesellschaft und zugleich der Versuch, diese Geschichte durch Massenmedien zu popularisieren.24 Neuere Tendenzen in Kunst und Kulturtheorie, die sich mit dem Holocaust thematisch auseinandersetzen, reflektieren diese Popularisierung und Mediatisierung bereits auf einer Metaebene, um ihre Konsequenzen kritisch zu hinterfragen. Paradigmatisch dafür sind Kunstwerke, die Konsumkultur und Shoah-Erinnerung aufeinander beziehen, wie den Lego-Bausatz Concentration Camp (1996) des Polen Zbigniew Libera, das Prada Death Camp (1998) des jüdisch-amerikanischen Künstlers Tom Sachs, der Kurzfilm Dancing Auschwitz (2010) der australischen Aktionskünstlerin Jane Korman (in dem ihr Vater Adam Kohn und seine Enkelkinder in Auschwitz zu Gloria Gaynors Disco-Hit I will survive tanzen)25, oder schließlich Art Spiegelmans MetaMaus (2011),26 eine Kombination aus Dokumentation (der Entstehungsgeschichte von Maus, einem Comic, der die Lebensgeschichte des Shoah-Überlebenden und Vater des Autors entfaltet) und Reflexion über die Konsequenzen der Popularisierung des Buchs. All diese Arbeiten versuchen nicht, auf den Überlebenden als ultimative Instanz der Shoah-Erinnerung zurückzugehen, sondern das, was Jürgen Habermas den öffentlichen Gebrauch der Geschichte genannt hat,27 bis in seine letzten Konsequenzen hinein auszuleuchten. In einer dieser Entwicklung eher kritisch gegenüberstehenden Replik hat der amerikanische Literaturtheoretiker Geoffrey Hartman nun auf die Wichtigkeit der sogenannten oral history hingewiesen: „Im Gegenzug zu dieser Leere des öffentlichen Gedächtnisses, die von wechselnden, unpersönlichen Netzwerken der Information besetzt wird, behauptet sich eine andere, verantwortungsbewusste, aber zugleich auch belastete Erinnerung. Jedes Mal, wenn wir mündlich überlieferte Erzählungen zurück ans Licht holen (…), schaffen wir eine Widerstandslinie, die der Auslöschung entgegenwirkt, weil sie an einen Ort gebunden ist und durch diesen an eine Identität.“28

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Regionale Geschichtskulturen der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, siehe URL: http://www.uni-oldenburg.de/?id=24609, letzter Zugriff 05.04.2015. Vgl. zu beiden Tendenzen Katja Köhr: Die vielen Gesichter des Holocaust. Museale Repräsentationen zwischen Individualisierung, Universalisierung und Nationalisierung, Göttingen 2012, S. 53–63. Abrufbar unter URL: https://www.youtube.com/watch?v=gUjueE57WSY, letzter Zugriff 27.03.2015. Art Spiegelman: MetaMaus. A Look inside a Modern Classic, Maus, New York 2011. Vgl. Jürgen Habermas: Vom öffentlichen Gebrauch der Historie, in: Die Zeit, 07.11.1986, S. 12 f. Geoffrey Hartmann: Öffentliches Gedächtnis und moderne Erfahrung, in: ders., Aleida Assmann: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, Konstanz 2012, S. 119.

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Man sieht, wie Hartman hier versucht, der an den Ort gebundenen und durch die Authentizität der Erfahrung legitimierten Geschichte der Überlebenden Autorität zurückzugewinnen. Er übersieht dabei jedoch, dass die von ihm erwähnten Netzwerke eine zusammenhängende Erzählung genau jener modernen Erfahrung vorbereiten, die seit dem Beginn der Kolonisation bis zu den Völkermorden in Ruanda und Srebrenica durch die Rechtfertigung von organisierter Gewalt getragen wird. Die Kritik dieser Erfahrung kann nur durch eine von der einzelnen Stimme losgelöste und von nationalen Vorbehalten befreite andere große Erzählung, eine ihre Limitationen anerkennende und daraus Konsequenzen ziehende Selbstkritik der Moderne, geleistet werden. Darüber hinaus kann die transnationale Vernetzung Initiativen anstoßen, die lokal verankert, jedoch global unterstützt und durch diese Unterstützung erst möglich gemacht werden. So hat der in München ansässige jüdische US-Amerikaner Terry Shwartzberg die Plattform change.org dazu benutzt, weltweit für die Aufhebung des Stolperstein-Verbots in München Unterschriften zu sammeln.29 Change.org ermöglicht Privatpersonen und NGOs das Lancieren von Online-Petitionen und wächst nach eigenen Angaben mittlerweile mit zwei Millionen Nutzern pro Monat. In wenigen Wochen unterschrieben über 75.000 Personen den Shwartzberg-Aufruf. Natürlich kann man einwenden, eine digitale Unterschrift sei mit einer Teilnahme an einem Gespräch mit einem Holocaust-Überlebenden in keiner Weise zu vergleichen. Shwartzbergs Initiative ist jedoch ein aussagekräftiges Beispiel für die Nutzung des digitalen Raums zur Kontaktaufnahme mit einem globalen Publikum, um einen konkreten lokalen Erinnerungsraum zu gestalten. Zur Dialektik von transnationaler Befruchtung und Standardisierung Narrative Befruchtung durch Transnationalität beginnt heute jedoch bereits bei einzelnen Autoren, wenn zum Beispiel Jonathan Littell mit seinem Roman Die Wohlgesinnten, der die Karriere eines fiktiven, pathologisch veranlagten SS-Offiziers während der Shoah beschreibt, als in Spanien lebender amerikanischer Jude auf Französisch die Geschichte eines deutschen Täters schreibt.30 Die Kehrseite dieser Befruchtung darf nicht übersehen werden. Sie zeigt sich, wenn Standardisierungstendenzen spezifisch lokale oder nationale Erinnerungen überformen. Strafrechtliche ‚Erinnerungsgesetze‘ wie in Frankreich und der Schweiz, die Gesetze zur Verfolgung der Leugnung des Holocaust in Belgien, Deutschland und Tschechien, schließlich die Entschließungen des Europäischen Parlaments zum gemeinschaftli29

30

Dieses Verbot geht auf einen Entschluss des Münchner Stadtrats im Jahre 2004 zurück: Die Pflastersteine – kleine Messingquader mit Namen der in die Vernichtungslager deportierten jüdischen Bürger der jeweiligen Stadt – seien leicht zu schänden. Außerdem sei Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde und Münchner Ehrenbürgerin, gegen die Steine, das sei zu respektieren. Vgl. Gedenken an die Shoah. Stolperstein-Verbot spaltet München, in: Der Tagesspiegel, 28.10.2014, URL: http://www.tagesspiegel.de/themen/ reportage/gedenken-an-die-shoah-stolperstein-verbot-spaltet-muenchen/10897112.html; letzter Zugriff 29.03.2015. Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten, Berlin 2008.

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chen Gedenken an die Shoah (2005) fallen unter diese Tendenzen und haben den britischen Geschichtswissenschaftler Timothy Garton Ash dazu veranlasst, kritisch von einer „memory police“ zu sprechen, also von staatlichen Institutionen, die je nach Gesetzeslage entweder die Leugnung eines Genozids strafrechtlich verfolgen oder – wie im Falle des Genozids an den Armeniern in der Türkei – die Behauptung, er habe stattgefunden.31 In allen Fällen wird Erinnerung als staatliche oder staatenübergreifende Gemeinschaftsaufgabe verstanden, die einer gegenseitigen Befruchtung und einer kreativen Debatte über Formen, Widerstände und Gefahren von Geschichtspolitik nicht förderlich ist und eher zu einer zwanghaften, im besten Fall ritualisierten Erinnerung führt. Andere Kritiker verweisen auf die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung von Geschichte oder einer Machtmonopolisierung hinsichtlich ihrer Interpretation.32 Eine analytische Auseinandersetzung mit transnational sich ausbreitenden Erinnerungskulturen muss somit auch Tendenzen berücksichtigen, durch die eine netzwerkartige, multidimensionale Geschichtsschreibung normativ überformt und dadurch ihrer demokratisierenden Kraft teilweise beraubt wird. Brückenschläge: Translationsprozesse zwischen zwei Erinnerungsdiskursen Die nächsten beiden Abschnitte sind Darstellungsformen und Praktiken im Kontext der Erinnerung an die Konsequenzen zweier südamerikanischer Diktaturen gewidmet, die ähnliche analytische oder expressive Elemente aufweisen wie die europäische und US-amerikanische Erinnerung an die Shoah. Damit soll der empirische Teil dieser Untersuchung abgerundet und das letzte Element einer neuen, erweiterten Matrix des Erinnerns identifiziert werden: die Anknüpfung an koloniale Praktiken der Unterdrückung, die in Lateinamerika ihren Ursprung haben. Sicherlich deutet bereits das Faktum, dass der 1985 vorgelegte Bericht der argentinischen Wahrheitskommission über die staatlichen Unterdrückungsmechanismen der guerra sucia (schmutziger Krieg) den in der Shoah-Erinnerung geprägten Titel Nunca más! (Nie wieder!) trug, darauf hin, dass es Verbindungslinien zwischen beiden Aufarbeitungsanstrengungen gibt.33 Ein weiteres Indiz für diese Verbindung liefert der Parque de la Memoria (Erinnerungspark) in Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens. Am Delta des Rio de la Plata gelegen – dem Schauplatz der sogenannten Todesflüge, bei denen sedierte politische Gefangene aus Militärflugzeugen geworfen worden waren und im Fluss ertranken –, präsentiert er als seinen Mittelpunkt das Monumento a las Víctimas del Terrorismo de Estado (Denkmal für die Opfer des Staatsterrorismus, Baudizzone/Lestard/Varas, 2007). Die eigenwillig gebrochene Form der vier Mauersegmente und die Konzentration 31 32 33

Vgl. Timothy Garton Ash: The freedom of historical debate is under attack by the memory police, The Guardian, 16.10.2008. Einen Überblick zu dieser kritischen Auseinandersetzung geben Katrin Hammerstein et al. (Hrsg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009. Comisión Nacional por la Desaparición de Personas (CONADEP): Nunca más, Buenos Aires 1985.

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auf Namensplaketten für jeden einzelnen der Verschwundenen zeigt, dass formale Verbindungen zum Jüdischen Museum in Berlin (Daniel Libeskind, 2001) und zum Vietnam Veterans Memorial in Washington, D. C. (Maya Lin, 1982/1993) bestehen. Auch im Bereich von Filmproduktionen lassen sich Querverbindungen leicht ausmachen. Marco Bechis hat in seinem filmischen Essay Garage Olimpo (Argentinien 1999) über die Foltermethoden in den centros clandestinos (versteckte Zentren, das heißt geheime Inhaftierungs- und Konzentrationslager, auch Folterstätten der Militärs) das Prinzip der Nichtdarstellung des physischen Terrors respektiert. Der Film zeigt in Szenenfolgen Verschleppung, Inhaftierung und Verhör argentinischer Bürger, versagt sich jedoch die Darstellung der eigentlichen Folter in den sogenannten ‚quirófanos‘ (‚Operationssäle‘, das heißt den für Elektroschockbehandlung ausgestatteten Folterkammern). Damit gehorcht er einer Regel, die Claude Lanzmann in der Konzeption seines Films Shoah (Frankreich 1985) aufgestellt hat: das innere Zentrum des Terrors als black box zu behandeln. Bernardo Kononovich wiederum unternimmt es in seinem Dokumentarfilm Me queda la palabra (Mir bleibt das Wort, Argentinien 2004), die Rekonstruktion der Shoah mit der argentinischen Militärdiktatur in Beziehung zu setzen, indem er Zeugnisse von Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungslager neben Aussagen eines Überlebenden der argentinischen centros clandestinos setzt. Neben diesen Brückenschlägen im Bereich der expressiven Formensprache gibt es Anstrengungen, Erinnerungspraktiken in Lateinamerika mit theoretischen Ansätzen rückzukoppeln, die sich einer Kritik der durch Industrialisierung und Kapitalisierung aufdrängenden Konsumkultur und Geschichtsvergessenheit widmen. Argentinische Menschenrechtsorganisationen, die eine lückenlose Aufarbeitung der Diktatur fordern, berufen sich überraschend häufig auf Walter Benjamin und seine in den Geschichtsphilosophischen Thesen formulierte Einsicht, die nicht erlöste Vergangenheit der Opfer stelle eine Chance für die Erkenntnis der Gegenwart dar.34 Das Werk Benjamins, das eigentlich die europäische Moderne in ihren internen Widersprüchen zum Gegenstand hat, stellt ein ungewöhnliches Bindeglied zwischen den Geschichtsentwürfen in Europa und Lateinamerika dar. Willi Bolle, dem Übersetzer des Passagen-Werks ins Portugiesische, dient es dazu, die Geschichte der amazonischen Hafenstadt Belén in Brasilien neu zu schreiben.35 Der Gründer der mexikanischen Zeitschrift Contrahistorias (Gegengeschichten), Carlos Antonio Aguirre Rojas, wiederum behauptet, Benjamins wichtigster Beitrag zur lateinamerikanischen Geschichtsschreibung sei der Gedanke, die Geschichte der Unterdrückten müsse entbunden und erlöst werden. Entsprechend begibt sich die Zapatista-Bewegung in der Chiapas-Region, zu der Contrahistorias enge Verbindungen pflegt, in ihrem Kampf um Anerkennung ihrer lokalen indigenen Kultur gegenüber der offiziellen 34 35

Eduardo Jozami: Introducción. Porqué Walter Benjamin, in: ders. et al. (Hrsg.): Walter Benjamin en la Ex Esma. Justicia, Historia y Verdad. Escrituras de la Memoria, Buenos Aires 2013, S. 11–24. Willi Bolle: París en la Amazonia. Un estudio de Belén por el prisma de los Pasajes, in: Jozami et al., Walter Benjamin, S. 39–59; darüber hinausgehend zum Einfluss Benjamins auf die Theorie des urbanen Raums in Lateinamerika siehe: Ralph Buchenhorst, Miguel Vedda (Hrsg.): Urbane Beobachtungen. Walter Benjamin und die neuen Städte, Bielefeld 2010.

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nationalistischen Mestizo-Identität immer wieder in die Nähe des Benjaminschen Geschichtsentwurfs.36 Schließlich ist es der in Bolivien geborene und in Mexiko tätige Kulturkritiker Bolivar Echeverría, der die wohl wichtigste und meistdiskutierte geschichtsphilosophische Metapher Benjamins, den Engel der Geschichte, in einer überraschenden Wendung in die lateinamerikanische Kultur- und Sozialgeschichte übersetzt. Benjamins Interpretation des Angelus Novus, einer aquarellierten Zeichnung Paul Klees (1920), betont die Wichtigkeit der geschichtlichen Wahrnehmung des Scheiterns und die Notwendigkeit, unsere europäische Idee des Fortschritts daran zu messen.37 Echeverría bemerkt, dass Benjamins Beschreibung Klees Bild einige Gewalt antut und meint, jener habe bei der Formulierung der These eher einen Stich aus Gravelot’s und Cochin’s Iconologie par figures von 1791 im Sinne gehabt. Damit verschiebt Echeverría Benjamins kulturelle Referenzen vom Surrealismus und der europäischen Avantgarde zum Barock und damit zu einer kulturgeschichtlichen Epoche, die für die lateinamerikanischen Moderne zentral ist: Sie stellt die erste expressive Brücke zwischen Europa und dem Subkontinent dar und repräsentiert genau den kulturellen Kanon der Kolonialmächte, in dessen Formsprache die ersten Kritiker der Kolonisation ihrem Widerstand Ausdruck verliehen.38 Zur Chemie der Erinnerung zwischen Europa und Südamerika Zum Abschluss dieser Untersuchung wende ich mich zwei Projekten zu, die die zuvor ausgelegten Motive einer transnationalen Matrix des Erinnerns auf einzigartige Weise in Verbindung bringen: der Química de la Memoria (QM; Chemie der Erinnerung) in Argentinien, ein Projekt, das von dem deutschen Künstler Horst Hoheisel angestoßen und dann von lokalen Akteuren weiterbetreut wurde, und den Erinnerungspraktiken, die sich auf die ehemalige Salpetermine Chacabuco in der chilenischen Atacamawüste beziehen. Hoheisel wurde in Deutschland durch Werke und Aktionen bekannt, die dem Prinzip der Negation formaler Gestaltung gehorchen. Sein Aschrottbrunnen (1987) in der Kasseler Innenstadt ist eine kopfüber in den Boden versenkte Negativform eines 1908 vom jüdischen Industriellen Sigmund Aschrott gestifteten und 1939 von Nationalsozialisten zerstörten Brunnens. Größere Bekanntheit erlangte sein Vorschlag eines Antimonuments zur Shoah in Berlin: die Zerstörung des Brandenburger Tors, um dessen zermahlenen Stein auf dem Grundstück, das für das Denkmal vorgesehen war, gleichmäßig zu verteilen. Zu Beginn des Projekts QM, das seit 2005 Gestalt annimmt und ein work in progress ist, rief Hoheisel Interessierte (Zeugen, Betroffene, Familienangehörige) an der Zeit der argentinischen Militärdiktatur auf, in öffentlichen Sitzungen Objekte zu präsentieren, die für sie autobiografisch Be36 37 38

Siehe Ignacio M. Sánchez Prado: Reading Benjamin in Mexico: Bolívar Echeverría and the Tasks of Latin American Philosophy, in: Discourse. Journal for Theoretical Studies in Media and Culture, 32 (2010) 1, 43. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften Band I.2, Frankfurt/Main 1991, S. 691–704, hier S. 696. Vgl. dazu Sánchez Prado: Reading Benjamin in Mexico, 2010, S. 49 ff.

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deutungsträger dieser Epoche geworden sind. Die Beitragenden wurden dann aufgefordert, diese Bedeutung schriftlich auf einem Blatt Papier festzuhalten. Hoheisel selbst brachte einen leeren Behälter mit folgender Inschrift: „Dies ist nicht meine Geschichte. Darum bringe ich eine leere Schachtel“.39 Die über 100 gesammelten Objekte und zugehörigen Texte wurden als Wanderausstellung an mehreren Orten gezeigt.40 Mittlerweile hat Hoheisel als Initiator das Projekt verlassen, es wird von einer argentinischen Künstlerin und einer Soziologin weitergeführt. Die Verbindungslinien dieses Projekts zum Shoah-Gedenken sind vielfältig. Hoheisels Biografie als Künstler und Kurator selbst ist durch den Brückenschlag zwischen europäischem Holocaust-Gedenken und südamerikanischer Geschichtspolitik zur Aufarbeitung von Militärdiktaturen geprägt – immer wieder hat er versucht, seine Erfahrung mit Projekten zur deutschen Geschichte in lokale brasilianische, chilenische und argentinische Kontexte zu übersetzen. Sodann stellt sein leerer Behälter eine Verbindung zu den voids im Berliner Jüdischen Museum und zur leeren, unterirdischen Bibliothek des israelischen Künstlers Micha Ullman auf dem Berliner Bebelplatz her. In den Berliner Beispielen geht es darum, die Shoah negativ, als etwas Undarstellbares, zu imaginieren.41 Hoheisel bezieht sich mit seiner Geste auf dieses Motiv, allerdings deutet er es um, indem er die Differenz zwischen seiner Funktion eines Katalysators respektive Kurators und dem Fehlen einer lebensweltlichen Erfahrung der Zeit der Militärdiktatur hervorhebt. Damit zeigt er, dass die Globalisierung der Erinnerungskultur vor der lokalen, unmittelbaren Erfahrung respektierenden Halt machen sollte. Gleichzeitig nutzt QM Objekte im Prozess des Erinnerns auf die gleiche Weise wie das Projekt Gathering the Fragments der staatlichen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel.42 In beiden Fällen sorgen archivierbare Fotografien, Briefe, Filme, Tagebücher und Gegenstände des Alltags von Freunden und Familienmitgliedern der Opfer für ein dichtes Erinnerungsgewebe ‚von unten‘, eine quasi chemische Verbindung von Objekt und Narrativ, von privatem und öffentlichem Raum, von erster und folgender Generationen, von Betroffenen und fernen Beobachtern. So kann man die auf QM bezogene Erklärung der das Projekt mitbetreuenden Soziologin Maria Sánchez auch auf Gathering the Fragments beziehen: „This wasn’t about trying to arrange a collection of valuable pieces from a historical perspective, rather we wanted to narrate a specific time of our country adopting as a starting point the everyday experience from both the older and younger generations.“43 39 40

41 42 43

Maria A. Sánchez, Maria M. Quintana: La Química de la Memoria, unveröffentlichtes Manuskript, Universidad de Buenos Aires, Eje 3, 2005, S. 4. U. a. in der argentinischen Nationalbibliothek in Buenos Aires, im Museo de la Memoria in Rosario (Argentinien) und zuletzt 2013 in einer Adaptation an die Erfahrungen während der Militärdiktatur Pinochets in Chile im Museo de la Memoria y los Derechos Humanos, Santiago de Chile. Weitere Informationen unter URL: http://www.museodelamemoria.cl/expos/ exposicion-quimica-de-la-memoria-chile; letzter Zugriff 03.04.2015. Zur Frage der Darstellungsgrenze im Holocaust-Gedenken siehe Ralph Buchenhorst: Das Element des Nachlebens. Zur Frage der Darstellbarkeit der Shoah in Philosophie, Kulturtheorie und Kunst, München 2011. Siehe die Internetseite des Projekts: URL: http://www.yadvashem.org/yv/en/exhibitions/ gathering_fragments/index.asp, letzter Zugriff 04.04.2015. Sánchez, Quintana: La Química de la Memoria, 2005, 5.

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Die bemerkenswerte Form des Gedenkens, die sich um die ehemalige Salpetermine Chacabuco in der chilenischen Atacamawüste im entlegenen Norden des Landes rankt, ist viel konkreter mit Chemie verbunden. Chile war im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts der weltweit größte Salpeterexporteur, bevor in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein synthetischer Herstellungsprozess von Salpetersäure entwickelt wurde. In der Folge schlossen alle großen Salpeterminen in Chile, darunter auch die 62 Hektar umfassende, 1924 gegründete Chacabuco-Mine. Der chilenische Präsident Salvador Allende versuchte zu Beginn der 1970er-Jahre, sie als Industriedenkmal wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Nach dem Militärputsch gegen Allende wurde sie von Augusto Pinochet von November 1973 bis April 1975 zum größten Konzentrationslager des Landes umfunktioniert. 2.500 Menschen waren hier inhaftiert, bevor sie Mitte der 1970er-Jahre in andere Lager überführt wurden. Nach 1975 fiel das Areal wieder dem Vergessen anheim, bis 1991 der frühere politische Gefangene und Überlebende des Lagers Roberto Zaldívar genau dort einzog, wo er Jahre zuvor festgehalten und gefoltert worden war. Zaldívar hat in den Ruinen des Lagers eine Art inoffizielles Archiv angelegt: Fotografien, Dokumente, Briefe von Ex-Gefangenen, industrielle Artefakte aus der Zeit der Minenaktivität, ein Plan der Mine mit allen Gebäuden präsentieren sich den wenigen Besuchern, die den beschwerlichen Weg in die ansonsten völlig unbesiedelte Gegend auf sich nehmen.44 Im Lauf der Zeit wurde Zaldívar von deutschen, britischen und spanischen Film- und Radioteams besucht, die Dokumentationen über die Mine und seinen Erinnerungswächter anfertigten.45 Auch im Falle dieser alternativen Geschichtsschreibung von Hoheisel und Zaldívar gibt es theoretische Ansätze, sie mit dem geschichtsphilosophischen Ansatz von Walter Benjamin zu verbinden.46 Sie sehen in den Akteuren einer Geschichtspolitik, die Objekte dem kapitalistischen Verdinglichungsprozess und Orte des Scheiterns dem Vergessen entreißen, Übersetzer einer Vergangenheit der Unterdrückung in eine Gegenwart, die sich dem Fortschritt und der Idee einer homogenen Geschichte in ähnlicher Weise verschrieben hat wie zu Zeiten Benjamins die Weimarer Sozialdemokratie: „In a way, Hoheisel through his aesthetic production and Zaldívar in a more pedagogical way are performing the task of the 44

45 46

Vgl. dazu den informativen Artikel über Zaldívar von Ruben A. Chababo, den Direktor des Erinnerungsmuseums von Rosario, Argentinien: El guardián de la memoria. Ex preso político vive en el campo de concentración donde estuvo detenido, in: La Capital online, Rosario, 22.09.2002, URL: http://archivo.lacapital.com.ar/2002/09/22/articulo_268.html, letzter Zugriff 06.04.2015. Im Jahre 2006 sah sich Zaldívar aus Altersgründen gezwungen, Chacabuco zu verlassen. Pedro Barreda, ein Schüler Zaldívars, trat sein Erbe an und bietet bis heute Führungen durch das ehemalige Lager an. Wie zum Beispiel den Dokumentarfilm über Roberto Zaldívar Chacabuco – un jardinero en el desierto (Chacabuco – ein Gärtner in der Wüste) von Sascha Eichholz, Hans Freudenreich (D/ Chile, 1999). Als Beispiele seien genannt: Hernandez, La Química de la Memoria, 2013; Anthony Killik: Forging a Constellation. The Memory Strategies of Patricio Guzman, in: Dialectical Films. Radical film theory and practice in association with the Bristol Radical Film Festival, 11.09.2013, URL: http://dialecticalfilms.bristolradicalfilmfestival.org.uk/forging-a-constellationthe-memory-strategies-of-patricio-guzman, letzter Zugriff 05.04.2015.

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materialist historian: an ethical call to break the hegemony of the invisible determinants that have been invested by a dominant class as bastions of progress.“47 Es scheint, als ob die von Lateinamerika initiierten Brückenschläge nach Europa von einer Suche nach einem Denken motiviert sind, das das Unterdrückungsregime der ‚Bastionen des Fortschritts‘, das die europäische Expansion seit dem 16. Jahrhundert unterhielt, durch eine autonome Geschichtspolitik von unten verstehbar und angreifbar macht. Die globale Matrix des Erinnerns hat so nicht nur unterschiedliche Erinnerungsdiskurse thematisch und formal miteinander verknüpft, sie hat auch den geschichtlichen Rahmen auf den Kolonialismus erweitert und die eurozentrische Sichtweise auf die Genozide des 20. Jahrhunderts relativiert. Schlussbetrachtung Die vorangegangene Analyse hatte zum Ziel, neuere Entwicklungen in der Globalisierung des Shoah-Gedenkens aufzuzeigen und darüber hinaus die Frage zu stellen, auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen sich Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken weltweit aufeinander beziehen. Ihr ging es darum, durch Beispiele und das Herausarbeiten allgemeiner Tendenzen in der hochfrequenten Vermittlung negativer Vergangenheiten eine Dialektik der Aufarbeitung zu diagnostizieren. Zu zeigen war, dass Geschichtspolitiken heute zwischen einer globalen Perspektive auf den Schutz der Menschenrechte, dem Rückfall in streng hierarchische Positionen der Verteidigung monokausaler Erklärungsmodelle und dem Respekt vor den Eigenarten lokaler Erinnerungspraktiken navigieren müssen. Der durch die neuen Medien erweiterte Kommunikationsraum macht es letzteren immer schwerer, diese Eigenarten zu schützen und einen lokalen Geschichtssinn zu entfalten. Andererseits ermöglicht nur die globale Verbreitung dieser Praktiken die Vielschichtigkeit eines Erinnerns, das die radikalen Konsequenzen der expansiven Moderne in allen Einzelheiten und Verflechtungen ins Bild rückt. Anhand der Diskussion einiger Beispiele von lokalen Erinnerungsformen zu den Folgen südamerikanischer Diktaturen wurde deutlich, wie diese Verbreitung für motivische, formale und praxisorientierte Verflechtungen zwischen unterschiedlichen Aufarbeitungsstrategien sorgt. Die Untersuchung sollte im Ergebnis zeigen, dass die großen Erzählungen des selbstbestimmten Subjekts und der techno-szientifischen Vollendung der Welt, deren Ende die Postmoderne ausgerufen hatte, um eine weitere ergänzt werden müssen: um die Erzählung der Folgen europäischer Expansion seit den Anfängen des Kolonialismus bis ins 21. Jahrhundert hinein. Deren Etablierung kann nur gelingen, wenn die vielfältigen historischen Unterdrückungsmechanismen der Biopolitik durch Rassebegriff, Institutionalisierung von ethnischen Unterschieden, ökonomische und physische Ausbeutung in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und die Erinnerung an sie in all ihrer wechselseitigen Befruchtung deutlich gemacht werden.

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Hernandez: La Química de la Memoria, 2013, 267.

SPRACHE(N) DES ERINNERNS – TRANSNATIONALE DISKURSE UND GLOBALE INSZENIERUNGSSTRATEGIEN Karolin Viseneber Zusammenfassung: Gibt es eine transnationale Sprache des Erinnerns und ist es – in einem globalen Kontext von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen – möglich, partikuläre Erinnerungen in andere Kontexte zu übersetzen? Anhand ausgewählter zeitgenössischer Texte aus Südamerika sowie durch Verweise auf andere transnationale Medien der Erinnerung, wie zum Beispiel Erinnerungsarchitektur, werden unterschiedliche Arten und Strategien des Erinnerns jenseits von kulturellen und Sprachgrenzen untersucht. Dabei wird Erinnern, in Anlehnung an Stuart Halls Konzept von Globalisierung, als verhandelbarer Raum des Dissenses verstanden, indem lokale und globale Elemente verbunden werden. Abstract: Does a transnational language of memory exist and – in the global context of violence and human rights violations – is it possible to translate particular strategies of memory into other contexts? By analysing selected contemporary texts from South America, and cross-referencing other media such as urban memory spaces, the research identifies different modalities and strategies of remembering beyond cultural and language borders. Memory is therefore understood as a disputed space, following Stuart Hall’s concept of globalization as a negotiable space of dissent which connects local and global elements.

Eine Auseinandersetzung mit Erinnerungsstrategien und Erinnerungspolitiken ist in vielen Ländern der Welt seit einigen Jahrzehnten vermehrt zu beobachten, die sich in Diskussionen um Gedenkstätten, Erinnerungsarchitektur sowie einer Fülle an Literatur und anderen Medien der Erinnerung äußert. Wie intensiv dieses Feld bereits bearbeitet wurde und wie allgegenwärtig es mittlerweile ist, lässt sich national wie international an einer nahezu unüberschaubaren und stetig wachsenden Anzahl von Publikationen, Konferenzen, Handbüchern und Zeitungsartikeln zum Thema Gedächtnis respektive Erinnerung ablesen.1 Diese Präsenz des Erinnerns führt nicht zuletzt zu der Debatte um den Status von Erinnerungen und zu der Frage, ob sich 1

Zu der Frage, weshalb der Thematik Erinnerung/Gedächtnis heute so eine große Bedeutung zugesprochen wird, lassen sich immer wieder dieselben Argumentationen finden, wie etwa das Ableben der Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs, radikale Veränderungen durch Medienwandel und neue Speichermöglichkeiten, eine stärker kulturwissenschaftlich und interdisziplinär geprägte Ausrichtung der Geisteswissenschaften sowie das auf 1989 festgelegte Datum des Endes der Nachkriegsordnung. Vgl. zu einem didaktisch aufbereiteten Überblick zum Thema Gedächtnis/Erinnerung etwa: Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005.

Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015), S. 77–93

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diese in andere Kontexte übertragen lassen und was bei diesen Übersetzungsprozessen geschieht. Pointiert ist zu fragen: Kann es eine transnationale Sprache des Erinnerns geben und falls ja, wie ließe sich diese, in einem globalen Kontext von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, beschreiben?2 Sprache ist für den Prozess des Erinnerns essentiell und steht für die Aktualisierungs- und Veränderungsprozesse, die Vergangenes mit Gegenwärtigem in Verbindung bringen. In diesem Zusammenhang kann es jedoch nicht das Ziel sein, die Differenzen im Erinnern, die von der jeweiligen Position des erinnernden Subjekts im performativen Akt seines Diskurses hervorgebracht werden, einzuebnen und in einem globalen Erinnerungsdiskurs aufgehen zu lassen. Vielmehr wird anhand der folgenden Analyse ausgewählter zeitgenössischer Texte aus Südamerika der Versuch unternommen zu zeigen, dass Inszenierungsstrategien weit weniger von Nationen-, Sprach- oder Kulturgrenzen geprägt werden als meist angenommen. Partikuläre Erinnerungen werden in unterschiedliche Kontexte übersetzt, wodurch sich Transformationen und Verschiebungen ergeben. Schon die Fragestellung zeigt die damit verbundene Verknüpfung unterschiedlicher Wissenschaftskulturen und -diskurse: Erinnern lässt sich als ein Prozess beschreiben, der sich in einem ständigen Wandel befindet, da nicht nur verschiedene Motivationen und Ziele der Erinnernden ihn verändern, sondern ein andauernder Kampf um Deutungshoheiten und den Versuch, sich Gehör zu verschaffen, besteht. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Erinnerungsakteuren, deren unterschiedliche Erfahrungen und Motivationen sich nicht auf einen Nenner bringen lassen, wie etwa die Erinnerungen von Tätern und Opfern, Individuen oder Institutionen. Dies ist eine Herausforderung, die zugleich als Chance und Anschlussfähigkeit verstanden werden kann, die dem Themenfeld Erinnerung/ Gedächtnis zu seiner Anziehungskraft verhilft. Bei den folgenden Betrachtungen ist ein Datum von zentraler Bedeutung, welches die aktuellen Erinnerungsdiskurse innerhalb verschiedener Erinnerungsgemeinschaften prägt und global als ein historischer Moment mit Schlüsselcharakter wahrgenommen wurde und wird: das Jahr 1989,3 das nicht nur für das Ende von Systemen steht, sondern zugleich Ausgangspunkt neuer globaler politischer und kultureller Ordnungen ist. Claas Morgenroth hat in seiner Studie zur deutschen Gegenwartsliteratur gezeigt, dass Erinnerungsdiskurse immer bereits politisch sind, nicht zuletzt deshalb, weil da sie selektiv vorgehen, bestimmte Ziele verfolgen und an konkrete Erinnerungsgemeinschaften geknüpft sind.4 Diese Strategien der Selektion von Erinnern und Vergessen sind selbst bereits eine Entscheidung des Politischen, wie unter anderem etwa Benedict Anderson hervorgehoben hat, die zu einem historischen 2

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Unter anderem dieser Frage geht die Verfasserin in ihrer Dissertation über zeitgenössische argentinische Literatur nach, weshalb sich auch thematische Überschneidungen zu dem vorliegenden Artikel finden lassen: Vgl. Karolin Viseneber: Poetiken des Verschwindens. Zeitgenössische argentinische Romane über die letzte argentinische Militärdiktatur 1976–1983, Würzburg 2014, hier insbesondere S. 57. Zu den Auswirkungen des Jahres 1989 auf die verschiedenen Erinnerungsdiskurse innerhalb Deutschlands vgl. Claas Morgenroth: Erinnerungspolitik und Gegenwartsliteratur. Das unbesetzte Gebiet, The Church of John F. Kennedy, really ground zero, Der Vorleser, Berlin 2014. Morgenroth: Erinnerungspolitik und Gegenwartsliteratur, 2014.

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Gedächtnis einer Nation führen können.5 Die in Narrationen auftauchenden Differenzen im Erinnerten, machen gerade diese Vorentscheidungen explizit und zeigen auch die Veränderbarkeit des Schreibens von Erinnerungen. Oftmals ist dabei über das Unbehagen oder Misstrauen gegenüber der eigenen Sprache gesprochen worden, insbesondere, wenn es um das Schreiben von Erinnerungen geht, die an traumatische Erlebnisse geknüpft sind – und hier ist die Erinnerung an die Shoa sicherlich die stärkste und auch am häufigsten untersuchte Referenz.6 Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass Opfer und Täter sich immer ihrer Sprache bedienen müssen und es eben keine Sprache gibt, die nur einer Gruppe, den Zeugen etwa, vorbehalten wäre, wie etwa auch Jacques Rancière7 betont. Gerade darin liegt jedoch ein Potenzial von Literatur, eben jene Mechanismen aufzuzeigen, zu reflektieren und das Funktionieren von Sprache und von sich gegenseitig ausschließenden oder ergänzenden Erinnerungsdiskursen und ihrer jeweiligen Lokalisierung sichtbar werden zu lassen. Was bei Rancière als Aufteilung des Sinnlichen8 benannt wird, ist gerade jene Politik des Ästhetischen, die widerständige Formen des Sagens und Darstellens sichtbar macht. Im Weiteren soll es also darum gehen exemplarisch zu zeigen, inwiefern Erinnerungsdiskurse bereits transnational verhandelt werden und inwieweit geteilte Erinnerungen zu gemeinsamen Ästhetiken geführt haben. Dabei sollen jedoch gerade keine vergleichenden Untersuchungen zwischen verschiedenen Literaturen oder Kontinenten und damit auch unterschiedlichen historischen Situationen und Kontexten im Fokus stehen, sondern anhand von ausgewählten Beispielen vergegenwärtigt werden, dass literarische Texte in sich bereits transnational angelegt sein können und sich zwischen Konzepten, Sprachen und Kontinenten bewegen. 5

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Vgl. zur Selektivität von Erinnerungen auch das Kapitel „Erinnern und Vergessen“ in: Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, übersetzt von Benedikt Burkard und Christoph Münz, Frankfurt am Main u. a. 1996 (1983), S. 188–208. Darin analysiert er, wie die Selektion von Erinnerungen zu einer Erinnerungspolitik führen kann, die die Grundlage des historischen Gedächtnisses einer Nation bilden. Durch dieses Entwerfen einer nationalen Biografie wird eine „Identität“ des Kollektivs geschaffen, die nicht erinnert werden kann und deshalb erzählt werden muss, wodurch auch die Rolle der Literatur und anderer Erinnerungsmedien eine neue Relevanz erhält. Vgl. hierzu Morgenroth: Erinnerungspolitik und Gegenwartsliteratur, 2014; Vittoria Borsò, Gerd Krumeich, Bernd Witte (Hrsg.): Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen, Stuttgart u. a. 2001. Zur Darstellbarkeit der Shoa vgl. beispielsweise: Bettina Bannasch, Almuth Hammer (Hrsg): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Shoah, Frankfurt am Main u. a. 2004; Jorge Semprún fasst etwa zusammen: „Das Unsagbare, mit dem man uns ständig in den Ohren liegen wird, ist nur ein Alibi. Oder ein Zeichen von Faulheit. Man kann immer alles sagen, die Sprache enthält alles. Man kann die irrsinnigste Liebe sagen, die schrecklichste Grausamkeit. Man kann das Böse benennen, seinen Mohngeschmack, sein verderbliches Glück. Man kann Gott sagen, und das heißt schon was.“ Jorge Semprún: Schreiben oder Leben, Frankfurt am Main 1995, S. 23, zit. nach Bettina Bannasch, Almuth Hammer: Einleitung, in: Dies.: Verbot der Bilder, 2004, S. 9–22, hier S. 14. Vgl. hierzu: Jacques Rancière: Le destin des images, Paris 2003, hier insbesondere S. 142. Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hrsg. von Maria Muhle, übersetzt von Maria Muhle, Susanne Leeb und Jürgen Link, Berlin 2008 (2000).

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Der umkämpfte Raum des Erinnerns Bei Gesellschaften, die politische Unrechtsregime erfahren haben, lassen sich Ähnlichkeiten in den Erinnerungsdiskursen verzeichnen. Rike Bolte sieht dies nicht zuletzt in der Verwendung der neuen Technologien begründet: „Die Beschleunigung und Perfektionierung von Kommunikations- und Speichermedien erleichtert die Globalisierung von Memoria-Belangen sowie die Diffusion der künstlerischen Produktionen jener, die an die Erfahrung politischen Terrors erinnern wollen.“9 Welche Funktion nach einem politischen Unrechtsregime dabei offizielle Gedächtnisdiskurse übernehmen und wer an diesen Teil hat oder ausgeschlossen bleibt, ist in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen untersucht worden.10 Es lassen sich demnach Tendenzen ausmachen, wonach national geprägte Erinnerungsnarrative, die nach Krisen das Besinnen auf Gemeinsamkeiten profilieren, vorherrschen und Widerstandsmythen entstehen.11 Der Blick auf das Gemeinsame tendiert in vielen Fällen jedoch dazu, mögliche Unterschiede aufzuheben oder zumindest zu verwischen, die jedoch in der Frage nach transnationalen Erinnerungsdiskursen von großer Bedeutung sind. Was zeichnet diese aus, und lassen sich transkulturelle Merkmale feststellen ohne zugleich die Partikularitäten einzuebnen? Was könnte überhaupt der Mehrwert solcher transationalen Gemeinsamkeiten sein? Eine Frage, die sich nicht so leicht beantworten lässt, zugleich jedoch nahelegt, es bestünde die Möglichkeit, sich bewusst gegen transnationale Formen der Erinnerung zu entscheiden. Dies ist in einer Welt, die durch globale politische Entscheidungen, ökonomische Verflechtungen, multiple Migrationsbewegungen und die neuen technischen Möglichkeiten der Informationsverbreitung geprägt wird, unrealistisch, dennoch ist es natürlich wichtig und richtig zu fragen, welche Formen des Erinnerns hier überhaupt erfasst werden können. Gleichzeitig sei darauf hingewiesen, dass auch transnationale Formen des Erinnerns, sofern sie sich konkret lokalisieren lassen, Gefahr laufen zu einer Projektionsfläche zu werden. Dieser Stillstellung kann nur begegnet werden, wenn 9

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Vgl. hierzu Rike Bolte: Gegen(-)Abwesenheiten. Memoria-Generationen und mediale Verfahrensweisen kontra erzwungenes Verschwinden (Argentinien 1976–1996–2006), Phil. Diss., Berlin 2014: S. 26, URL: http://edoc.hu-berlin.de/docviews/abstract.php?lang=ger&id=40503, letzter Zugriff 15.12.2014. Vgl. exemplarisch zu Argentinien: Bolte: Gegen(-)Abwesenheiten, 2014; Viseneber: Poetiken des Verschwindens, 2014; zu Chile etwa: Antonia Torres: Las trampas de la nación. La nación como problema en la poesía chilena de postdictadura. Lenguaje, sujeto, espacio, Frankfurt am Main u. a. 2013. Siehe exemplarisch hierzu zwei Bände zu unterschiedlichen Vergangenheitsdiskursen, die sich mit verschiedenen Widerstandsmythen in Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg beschäftigen: Jörg Zägel, Reiner Steinweg (Hrsg.): Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion. Bd. 1: Auseinandersetzung in den nordischen Staaten über Krieg, Völkermord, Diktatur, Besatzung und Vertreibung, Berlin u. a. 2007; Dies. (Hrsg.): Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion. Bd. 2: Die Sicht auf Krieg, Diktatur, Völkermord, Besatzung und Vertreibung in Russland, Polen und den baltischen Staaten, Berlin u. a. 2007. Siehe zum Umgang mit der deutschen Vergangenheit auch: Aleida Assmann, Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999; Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001.

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Erinnern als veränderbar und dynamisch verstanden wird, eine Annahme, die nicht im Gegensatz steht zu einer Gedenkkultur oder anderen Formen des Erinnerns, die jedoch gerade das Prozesshafte und Veränderbare daran hervorhebt. Erinnerungsbilder lösen sich in einer globalisierten und zunehmend medial gesteuerten Geschichtskultur aus ihren konkreten sozialen Rahmen und werden frei verfügbar, wie etwa Bolte ausgehend vom argentinischen Kontext beschreibt: „(…) die neuen Medien [machen, K. V.] nicht nur undisziplinierte Pluralisierungen von Kulturproduktion, sondern insbesondere auch solche von Gedächtnisinhalten und Erinnerungsbelangen möglich“.12 So fragen sich zum Beispiel auch Daniel Levy und Natan Sznaider, die nationenübergreifende Gedächtniskulturen untersucht haben, inwiefern sich die Dynamik zwischen dem Lokalen und dem Globalen verändert, die sie nicht als kulturelle Gegensätze, sondern als sich gegenseitig voraussetzende Prinzipien beschreiben: „Nicht mehr nur ein nationales Gedächtnis, sondern auch ein kosmopolitisches Gedächtnis ist gefordert. Das kosmopolitische Gedächtnis geht über das nationale hinaus, ohne es abzulösen.“13 Der hier vorgestellte Ansatz stützt sich, in Anlehnung an Stuart Halls Konzept der Globalisierung,14 auf einen Begriff von Erinnerung, der diese als verhandelbaren Raum des Dissenses betrachtet, in dem lokale und globale Elemente verknüpft werden.15 Hall sieht diese Form der Globalisierung als Reaktion auf die schwindende Bedeutung der Nationalstaaten und weist zugleich auf die Gefahren der Verortung hin. „Das Sprechen muß einen Ort und eine Position haben und ist immer innerhalb eines Diskurses positioniert. Erst wenn ein Diskurs vergißt, daß er verortet ist, versucht er für alle zu sprechen.“16 So kann Globalisierung und damit auch die Globalisierung von Erinnerungsdiskursen nicht als widerspruchsfreier Raum gedacht, sondern sollte als Ort der ständigen Aushandlung verstanden werden. Von Chile nach Europa und zurück – Erinnern zwischen den Welten am Beispiel der náufragos Das Jahr 1989 geht mit globalpolitischen Veränderungen einher, wodurch andere Ordnungen entstehen und Erinnerungen neu ausgehandelt werden müssen. In Chile fallen in diese Zeit des Umbruchs zudem die ersten demokratischen Wahlen nach der Diktatur17, weshalb nun als Analysegrundlage einige kurze Texte aus Chile vor12 13 14 15

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Bolte: Gegen(-)Abwesenheiten, 2014, S. 24. Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001, hier S. 22. Vgl. Stuart Hall: Das Lokale und das Globale: Globalisierung und Ethnizität, in: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität, übersetzt von Dorothee Bohle, Hamburg 1994, S. 44–65. Auch Claus Leggewie und Richard Münch sprechen etwa von „entgrenzten Räumen“, um das Phänomen der Globalisierung zu beschreiben, vgl. Claus Leggewie, Richard Münch: Einleitung. Politik in entgrenzten Räumen, in Dies. (Hrsg.): Politik im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001, S. 9–12. Hall: Das Lokale und das Globale, 1994, S. 61. Gemeint ist hier die letzte chilenische Militärdiktatur, die von 1973 (Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende) bis 1990 dauerte und von Augusto Pinochet angeführt

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gestellt werden. Es handelt sich dabei überwiegend um Gedichte aus dem 2012 bei Cuarto Propio erschienenen Lyrikband Umzug der Autorin Antonia Torres.18 Diese stehen einerseits für die postdiktatorische Literatur in Chile – weisen jedoch auch mit anderen Texten, etwa aus Argentinien, starke Gemeinsamkeiten auf, wie im Laufe des Artikels gezeigt werden wird – und zeigen gleichzeitig ein Erinnern jenseits von Grenzen, da sich die Texte zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen bewegen.19 Der Lyrikband steht nicht zuletzt durch den programmatischen deutschen Titel Umzug für eine Situation, die zweierlei ist: Öffnen und Schließen zugleich, Abschied und Ankunft, Anwesenheit und Abwesenheit. Diese doppelte Geste prägt die Texte von Torres auf verschiedenen Ebenen: Sie sind an den konkreten historischen Rahmen, das postdiktatorische Szenario in Chile gebunden, öffnen jedoch zugleich einen transnationalen Raum des Erinnerns, indem sie auf andere Kontexte und globale Diskussionen verweisen und universelle Anschlussmöglichkeiten finden und so die von Bolte beschriebene Pluralisierung von Gedächtnisinhalten und Erinnerungsbelangen sichtbar werden lassen. Die Autorin Antonia Torres gehört der Generation der náufragos, das heißt Schiffbrüchigen, an, einer Gruppe von Schriftstellern, die sich insbesondere mit den Themen des Verlusts, der Unbestimmtheit und Orientierungslosigkeit auseinandersetzen. Die Schreibenden konzipieren sich selbst als Schiffbrüchige, die jegliche Orientierung verloren haben. Dies ist insbesondere auch in der Sprache sichtbar, die vom Diskurs der Katastrophe gezeichnet ist.20 Sépulveda fasst die verbindende Thematik der náufragos wie folgt zusammen: „el naufragio alude a quedar sin mapa,

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wurde. Einen aufschlussreichen Blick auf das postdiktatorische Chile vermitteln beispielsweise Tomás Moulian: Chile Actual: anatomía de un mito, Santiago de Chile 1998, und Nelly Richard, Alberto Moreiras (Hrsg.): Pensar en/la Postdictadura, Santiago de Chile 2005. Antonia Torres: Umzug, Santiago de Chile 2012. Eine zweisprachige Version der Gedichte ist im Dezember 2015 erschienen, vgl.: Umzug. Poesia de Antonia Torres/Mudanza. Übersetzt von Karolin Viseneber, Düsseldorf 2015. Der Terminus náufragos wurde 1998 von dem chilenischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Javier Bello geprägt. Er bezeichnet damit eine chilenische Lyrikergeneration, die auch als die Lyriker der 90er gefasst wird. Als verbindendes Merkmal dieser Gruppe von Autoren gilt, dass sie in einer Zeit zu schreiben oder zu publizieren beginnen, die als politischer Übergang von Diktatur zu Demokratie gesehen wird. vgl. Javier Bello: Los náufragos. Poetas chilenos de los 90, 1998, URL: http://www.uchile.cl/cultura/poetasjovenes/naufragos1.htm, letzter Zugriff 15.12.2014. „(…) se conciben como náufragos, vagos que han olvidado el nombre de las calles e incluso de las ciudades que habitaron. Este desconcierto llega hasta el lenguaje, donde la presencia de silencios y blancos amenaza la estructura misma del poema. En otras palabras, la sintomatología del desastre se apodera del discurso de los poetas del 90.“ Magda Sépulveda Eriz: El territorio y el testigo en la poesía chilena de la Transición, in: Estudios filológicos 45 (2010), 79–92, hier S. 83 („Sie nehmen sich als Schiffbrüchige war, Vagabunden, die die Namen der Straßen vergessen haben und selbst der Städte, die sie bewohnt haben. Diese Ungewissheit reicht bis in die Sprache hinein, die Präsenz von Leerstellen und Momenten der Stille bedroht die Struktur der Gedichte selbst.“). Ähnliche Beobachtungen hat Monteleone auch in Bezug auf argentinische Lyriker der 1990er-Jahre gemacht. Jorge Monteleone: Poetas en la mitad de la vida, in: URL: http://www.lanacion.com.ar/1188416-poetas-en-la-mitad-de-la-vida, zit. nach: Alicia Salomone, Karen Cea: Memoria poética e infancia en la escritura de Antonia Torres y Alejandra del Río, in: Aisthesis 54 (2013), S. 353–369, hier S. 357.

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sin historia y sin bandera.“21 Die Schiffbrüchigen sind also gerade nicht mehr an ihr Heimatland gebunden, das die historische Katastrophe produziert hat, sondern treiben orientierungslos und entwurzelt umher. Auch wenn sich die Bezeichnung náufragos vorwiegend auf eine Lyrikergeneration bezieht, lassen sich Parallelen auch zu anderen erzählenden Genres aufzeigen, die ähnliche Tendenzen aufweisen. So etwa zu den Kurzerzählungen des Autors Alejandro Zambra, geboren 1975 in Santiago de Chile, weshalb auch ein kurzes Beispiel aus seinem 2014 erschienenen Erzählband Mis documentos22 in die Analyse einfließen wird. Dabei ist die Metapher des Schiffbruchs ebenso treffend für die Beschreibung dieser Generation, wie sie auch bedeutungsträchtig und -mächtig ist für die hier umrissenen Fragestellungen. Erinnert sei etwa an das Gemälde Floß der Medusa (Le Radeau de la Medusa) des französischen Romantikers Théodore Géricault, welches das Gezeichnetsein durch die historische Katastrophe und die menschliche Tragödie symbolisiert. Zu seiner Zeit stellte es einen Affront gegen das (heldenhafte) nationale Gedächtnis dar und stand damit auch für eine andere, vom offiziellen und das heißt monumentalisierenden Gedächtnis abweichende Narration. Auch die chilenischen Schriftsteller, deren Katastrophe die Diktatur ist, schreiben gegen ein offizielles Gedächtnis an, gegen ein Erinnern, das monumentalisiert und festschreibt und somit die Toten und Gefolterten zu vergessen droht oder erneut zum Verschwinden bringt. Viele Texte Torres’, die sich auf den ersten Blick an konkreten Orten lokalisieren lassen, sind gerade durch eine Nicht-Verortbarkeit gekennzeichnet. Sie finden statt zwischen Kulturen und Räumen und handeln von Subjekten, die sich nicht festschreiben lassen. Das lyrische Ich bereist Landschaften, (Erinnerungs-)Orte und Städte, beobachtet und erlebt verschiedene Situationen und Kulturen und spricht dabei nicht selten für ein Kollektiv, sei es die eigene Familie oder die Gesellschaft, in der es sich befindet, ohne jedoch die Stimmen derselben zu vereinnahmen. So ist es in dem folgenden Gedicht, eine Gruppe von Unbekannten, die in Triest aufeinandertreffen: Miramar, Trieste a Federica y Paolo Un grupo de desconocidos camina de noche a orillas de los desechos de un verano A sus pies estallan décadas una república gloriosa el agua de tres naciones escurre entre las piedras de sus muelles Alguien un guía tal vez explica casi a susurros la fastuosidad y la belleza de un castillo invisible pero sospechado como el océano Alguien anota en el aire el diario de un imperio su lengua impura y violenta una proa que apunta al mar y a la noche

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„[D]er Begriff Schiffbrüchiger steht für den Verlust von Karte, Geschichte und Fahne“. Sépulveda: El territorio y el testigo, 2010, S. 82. Alejandro Zambra: Mis documentos, Barcelona 2014.

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Karolin Viseneber Somos un paseo de ciegos un grupo de disminuidos tanteando el paisaje la corriente del tiempo nos corta la cara tropezamos en aduanas o baches a cada paso torpe se nos escapa la frontera somos a oscuras al frío y al viento un grupo de minusválidos empujando sus propias sillas atrás un balneario vacío a esta hora del siglo en invierno.23

Triest entpuppt sich als ein Ort jenseits von Grenzen, in dem Zeit und Raum sich überlagern. Wie so oft in der Lyrik von Torres24 ist es auch hier ein kleiner Moment – der Spaziergang am Meer –, der andere Räume und Zeiten öffnet, Einlassstelle ist für Anderes, Verstörendes, ein neues Ertasten des Raums. Triest bietet sich für diese Überlagerung von Zeiten und Räumen insbesondere an, spricht doch etwa Vittoria Borsò von Triest als Grenzstadt, Stadt der Transkulturation, im Sinne des permanenten Aushandelns von Differenzen: „Zwischen dem offenen Meer und den mäandrierenden Inseln der Lagune, denen Spuren einer zweitausendjährigen Geschichte Europas eingeschrieben sind, ist Triest ein Ort, an dem die Setzung territorialer oder nationaler Grenzen unmittelbar als ein widersinniger Akt erscheint, ein Akt, der das teilt, was sich nicht teilen lässt: den gemeinsamen Raum von Kulturen.“25

Auch wenn Grenzen zur Schaffung von Ordnungen notwendig sind, wie Borsò weiter ausführt, verändern sie doch immer den Raum und führen unweigerlich zu Übergangs- und Schwellenphänomenen. Transkulturation ist in diesem Sinne ein Zwischenraum, ein Raum des Aushandelns und der Begegnung, der immer wieder neu zu bestimmen ist. Und hier lässt sich auch erneut eine Parallele zu Halls Globalisierungskonzept ziehen, das eben genau diese Begegnungen und Aushandlungen beschreibt und nicht das Globale in Opposition zum Lokalen untersucht. Diese Kontrastierung und Neuaushandlung zeigt auch das Gedicht von Torres, bei dem die Schönheit nicht ohne die Gewalt der Sprache („lengua impura y violenta“ / 23

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Torres/Viseneber: Umzug/Mudanza, 2015, S. 44: „Miramar, Triest//Eine Gruppe Unbekannter läuft durch die Nacht/an den Rändern der Überreste eines Sommers//Zu ihren Füßen zersplittern Jahrzehnte eine glorreiche Republik/das Wasser dreier Nationen versickert zwischen den Steinen ihrer Molen//Irgendwer vielleicht ein Fremdenführer erklärt beinahe flüsternd/ die Pracht und Schönheit eines Schlosses/unsichtbar jedoch erahnbar wie der Ozean//Irgendwer zeichnet das Tagebuch eines Imperiums in die Luft/die Sprache schmutzig und gewaltsam/ ausgerichtet auf das Meer und die Nacht//Wir sind ein Spaziergang der Blinden/ eine Gruppe Behinderter erspürt die Landschaft//der Strom der Zeit zerschneidet uns die Gesichter/wir straucheln am Zoll oder in Schlaglöchern/bei jedem ungeschickten Schritt entgleitet uns die Grenze//wir sind im Dunkel in der Kälte und im Wind/eine Gruppe Behinderter die ihre eigenen Rollstühle anschieben//dahinter ein verlassener Badeort/zu dieser Stunde des Jahrhunderts im Winter.“ Siehe hierzu auch Bello, der ein gesamtes Kapitel der Lyrik Torres’ widmet und bereits in Bezug auf ihren ersten Lyrikband ein Auftreten von verschiedenen Zeiten konstatiert, die sich gegenseitig überlagern. Vgl. Bello: Los náufragos, 1998. Vittoria Borsò: Vorwort, in: Ders., Heike Brohm (Hrsg.): Transkulturation. Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt, Bielefeld 2007, S. 7.

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„Sprache schmutzig und gewaltsam“) oder die Vergänglichkeit einer zersplitternden Republik zu denken ist. Die Grenzen entziehen sich („se nos escapa la frontera“ / „entgleitet uns die Grenze“) und das Wasser, welches die drei Nationen vereint, versickert („escurre entre las piedras“ / „versickert zwischen den Steinen“) und macht die Figuren zu Blinden im Strom von Zeit und Raum. Auch das vermutlich titelgebende Schloss Miramar, direkt am Meer gelegen, ist ein Ort mit verschiedenen historischen Schichten und Geschichten: Erst habsburgische Residenz, wird es ab dem Zweiten Weltkrieg von den verschiedenen Kriegsparteien genutzt.26 Hier stellt sich also die Frage, inwiefern die globalpolitische Situation und der Verlust eines klar umrissenen Weltbildes die spezifischen historischen Kontexte verändern oder welche Gemeinsamkeiten zu entdecken sind. Europa beziehungsweise das Leben in europäischen Ländern ist Teil der gelebten Realität der südamerikanischen Figuren, sei es als Besucher, Reisende oder Exilierte. So heißt es etwa in der Erzählung „Camilo“ von Alejandro Zambra, die zwischen den Kontinenten spielt, in Chile, Frankreich und den Niederlanden: „Es noviembre de 2012. Estoy en Amsterdám, en un encuentro con chilenos, converso con algunos, la mayoria exiliados, algunos hijos de exiliados, otros estudiantes.“27 Eine Erzählung, die immer wieder zwischen den verschiedenen Zeiten und Räumen hin- und hergleitet, zwischen den Erlebnissen während der Diktatur, der Postdiktatur sowie dem Leben in Europa. Dabei wird die Reise nach Europa, hier nach Frankreich, zur Erfüllung eines Traums stilisiert „Cuando partió a Francia, cumpliendo el sueño de su vida, yo pensé eso, que se me iba un hermano“28. Die Reise auf der Suche nach den Wurzeln – die jedoch nicht mehr die kulturellen Wurzeln, sondern die familiären sind –, das Wiedersehen mit dem exilierten Vater, endet letztlich auch hier in einer Katastrophe, dem Zerwürfnis zwischen den Parteien, einer gescheiterten Suche nach der eigenen Identität. So trifft auch im übertragenen Sinne die Vorhersage des Sohnes ein: „El proximo verano va a pasar algo importante“ / „Im nächsten Jahr wird etwas Wichtiges passieren.“, Was dies denn sein würde, fragt die Erzählinstanz: „Que no va a ser verano para mí. Va a ser invierno.“ / „Es wird für mich nicht Sommer sein, sondern Winter.“29 Das erlebte Europa ist eines, das, wie auch die eigene Geschichte, fragmentiert ist und sich nicht mehr zu identifikatorischen Zwecken oder der Erfüllung der eigenen Sehnsüchte eignet. Diese Erfahrung des Zerfalls der Gewissheiten und der Unmöglichkeit, eine stabile Identität zu finden, lässt sich auch anhand argentinischer Erzähltexte festmachen, die ebenso dem postdiktatorischen Kontext zuzuschreiben sind. In einer Erzählung von Gustavo Nielsen etwa wird etwa das Fotoalbum einer Fremden – und das Rekurrieren auf Fotografien als vermeintliche Abbilder von Wirklichkeit und 26 27 28 29

Vgl. hierzu die Internetpräsenz der Sehenswürdigkeit: URL: http://www.castello-miramare.it/ deu/storia/miramare.php, letzter Zugriff 15.12.2014. „November 2012. Ich bin gerade in Amsterdam bei einem Treffen von Chilenen, mit einigen von ihnen unterhalte ich mich, die meisten sind Exilierte, Kinder von Exilierten und ein paar auch Studenten.“ Vgl. für die spanische Version: Zambra: Mis documentos, 2014, S. 45. „Als er nach Frankreich ging, um sich den Traum seines Lebens zu erfüllen, kam mir der Gedanke, dass ich einen Bruder verlieren würde.“ Zambra: Mis documentos, 2014, S. 30. Vgl. Ebd., S. 44.

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Embleme der Memorialkultur ist hier kein Zufall30 – zu einem bedeutsamen Schatz, der es angesichts der eigenen zerstörten Genealogie wert ist, gestohlen zu werden. Ein nicht vorhandenes Familienalbum aufgrund der Jahre der Diktatur, wird bei dem Protagonisten ersetzt durch eine Aneinanderreihung von Zughaltestellen, den Bildern einer Reise durch Raum und Zeit, die in der Einsamkeit und dem zerstörten Leben des Protagonisten endet: „El tren es mi álbum de fotos. Las estaciones representan esos pequeños cuadros que uno mira mientras se va poniendo viejo. Once es la espera y es también la cárcel. Flores aparece como un paisaje de Bariloche, una foto que puede pasar inadvertida pero que provoca cierta tranquilidad, que da un respiro. Liniers es el pasado inmediato, Francisca quejándose de la villa, y es también el olvido. Morón es la foto de mi propia e inalcan-zable fiesta de casamiento, la casa humilde, la miseria personal, la soledad actual.“31

Diese Unmöglichkeit einer harmonischen Ankunft, das Nicht-mehr-Zuhause-Sein und das In-Bewegung-Sein sind auch in den Texten Torres’ vorherrschende Thematiken. Die Gedichte und die Sprache selbst sind geprägt von einer Wunde, einem Riss, der sie mitunter zu zerreißen droht. Die intensiven poetischen Bilder, das Umschlagen zwischen realistischem, fast sezierendem Beschreiben und poetischer Verknappung gehen nicht selten mit einer Fragmentierung der Sprache einher. Neben dem klaren Europabezug, der sich auch in konkreten Zuschreibungen manifestiert, so in dem bereits zitierten Gedicht über Triest, ist die Thematik der Erinnerung und der Erinnerbarkeit von Schreckensherrschaften eine immer wieder auftauchende Konstante. Dabei sind die Texte geprägt von Transitionsprozessen, der Frage, wie das, was während der Diktatur geschehen ist, erinnert werden kann, ohne es zu vereinnahmen: „Los textos escritos por Los Náufragos afirman que la Transición no ha terminado hasta la primera década del 2000. Bajo este signo ideológico ellos crean una voz que cuenta un pasado y muestra las piezas que permitirían rearmar la historia. Esa voz elabora la pérdida, y cuál es ella: la pérdida de las ciudades, de la vida pública y de la historia.“32

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Vgl. zu einer Auseinandersetzung mit der Fotografie als Medium der Erinnerung, insbesondere in Bezug auf die desaparecidos (Verschwundenen) der letzten argentinischen Militärdiktatur: Viseneber, Poetiken des Verschwindens, 2014, insbesondere Kapitel 2.3: Einschreiben von Abwesenheit(-en), S. 45–53. „Mein Fotoalbum ist der Zug. Die Haltestellen sind die kleinen Bilder, die man betrachtet, während man alt wird. Once ist das Warten und gleichzeitig das Gefängnis. Flores ist wie eine Landschaft in Bariloche, ein Foto, das leicht zu übersehen ist, aber eine gewisse Ruhe verbreitet, einen Luft holen lässt. Liniers ist die unmittelbare Vergangenheit, Francisca, wie sie sich über das Armenviertel beschwert, und ist ebenso das Vergessen. Morón ist das Foto meiner eigenen unerreichbaren Hochzeitsfeier, der ärmlichen Wohnung, des persönlichen Elends, der gegenwärtigen Einsamkeit.“ Vgl. die zweisprachige Ausgabe: Gustavo Nielsen: Las fotos/Fotos, übersetzt von Anna Luther und Lisa Niederau, in: Vera Elisabeth Gerling, Karolin Viseneber (Hrsg.): Voces. Cuentos agentinos – Stimmen. Argentinische Erzählungen, Düsseldorf 2010, hier S. 192. „Die von den Schiffbrüchigen geschriebenen Texte bestätigen, dass die Transition bis zum ersten Jahrzehnt nach 2000 nicht abgeschlossen ist. Unter diesem ideologischen Siegel erschaffen sie eine Stimme, die eine Vergangenheit erzählt und zeigen die Stücke auf, die es braucht, um eine Geschichte neu aufzubauen. Diese Stimme arbeitet am Verlust und zeigt um welchen

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So können die poetischen Werke Torres’ zugleich auch als politische Texte verstanden werden, setzen sie sich doch mit existenziellen Fragen nach Identitätskonstruktionen und Zugehörigkeit sowie Erinnerungspolitik auseinander. Politisch wird hier verstanden im Sinne Rancières, der in seinen theoretischen Überlegungen zu Kunst und Politik diese als „verschiedene Formen der Präsenz singulärer Körper in spezifischen Räumen und Zeiten“33 versteht.34 Dabei geht es insbesondere darum, die Aufteilung von bestimmten Räumen zu hinterfragen und die darin existierenden Spannungen auszuhalten, anstatt zu versuchen diese aufzulösen, wodurch neue Ordnungen des Sicht- und Sagbaren entstehen können. In Kunst und Politik, beide verstanden im Sinne Rancières als Aufteilung des Sinnlichen, liegt das Potenzial der Störung, der Unterbrechung, des Dissenses, da sie eben keinen eigenen Ort einnehmen und sich somit einer Naturalisierung verweigern. Auch in den Texten Torres’ werden die Stimmen immer wieder konfrontiert mit der brutalen Gegenwärtigkeit der erinnerten chilenischen Diktatur und der Zeit der Postdiktatur, die sich ihren Weg an die Oberfläche der Texte sucht, wie etwa im Gedicht „Denkmal“, in dem sich die Leichen der Diktatur mit dem Geruch von Kaffee und frisch gebackenen Plätzchen mischen. Um dies zu verdeutlichen sollen zwei weitere Gedichte von Antonia Torres vorgestellt werden, die beide um die Thematik der Diktatur und zugleich um die Frage nach Möglichkeiten des Erinnerns kreisen und so zurück zu der Ausgangsfrage nach möglichen transnationalen Sprachen der Erinnerungen führen. Denkmal Si lo piensas bien hay aquí un recuerdo. Detente piénsalo bien una sala de tortura un calabozo un par de soldados fumando una tarde fría un museo tibio un árbol de navidad inmenso e iluminado si lo piensas bien el olor a café galletas recién horneadas el cadáver de un hombre que sale por el patio trasero si consigues concentrarte realmente piénsalo por el río transcurre la noche una barcaza enorme lleva escombros una mujer dibuja en el muro con un clavo

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Verlust es geht: den der Städte, des öffentlichen Lebens und der Geschichte.“ Sépulveda: El territorio y el testigo, 2010, S. 90. Rancière: Aufteilung des Sinnlichen, 2008, S. 7. Für Hannah Arendt entsteht Politik erst zwischen den Menschen und liegt nicht in der Natur des Menschen selbst: „Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als der Bezug.“ Hannah Arendt: Was ist Politik?, in: Dies: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, herausgegeben von Ursula Ludz, München 1993: S. 9–12, hier S. 11.

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Karolin Viseneber pero piénsalo allí donde duerme en cuclillas y mudo un maniquí sucio la ciudad flota en una postal fija en un monumento de piedra detente y piénsalo a la tarde te examinarán en la agonía35 Hay una falla en el centro una fruta podrida al fondo del canasto un rostro quemado por los agentes del horror un rastro que supura bajo las vendas Hay un error en todo esto Una piedra en el engranaje un mecanismo desaceitado Son objetos cartas llaves perdidas bajo la alfombra quebradas que esconden basura cuerpos bajo la cal No hay sagrado corazón que redima No hay oración que enmiende ni explique Hay un pinchazo por donde se cuela el aliento un desastre por donde hace agua la embarcación Hay una grieta una trizadura en el centro Allí chorrea la comprensión el alquitrán ardiente de la palabra36

Die Stadt im Gedicht „Denkmal“, sie schwimmt, treibt, schwebt – dies alles steckt in flotar – eine Stadt, die zum Denkmal wird, zum Museum, das an Folter und Leichen erinnert, die durch den Hinterhof verschwinden und zugleich erfüllt ist von Plätzchenduft und weihnachtlicher Beleuchtung. Um welche Stadt es sich da35

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Torres/Viseneber: Umzug/Mudanza, 2015, S. 32–35: „Monumento//Wenn du genau darüber nachdenkst ist hier eine Erinnerung/Halte inne/ denk genau darüber nach/ eine Folterkammer ein Kerker/einige rauchende Soldaten//ein kühler Nachmittag ein warmes Museum/ ein Weihnachtsbaum riesengroß und hell erleuchtet//wenn du genau darüber nachdenkst/der Geruch nach Kaffee Plätzchen frisch aus dem Ofen/ der Leichnam eines Mannes verschwindet durch den Hinterhof//wenn du es wirklich schaffst/ dich zu konzentrieren//denk darüber nach/mit dem Fluss verrinnt die Nacht/ein großer Kahn befördert Trümmer/ eine Frau zeichnet mit einem Nagel an die Wand//aber denk darüber nach//wo zusammengekauert und stumm/eine schmutzige Schaufensterpuppe schläft/schwebt die Stadt auf einer Postkarte/unbeweglich an einem steinernen Denkmal//halte inne und denk darüber nach/am Abend wirst du im Todeskampf geprüft.“ Torres/Viseneber: Umzug/Mudanza, 2015, S. 54: „Ein Fehler mittendrin/eine faule Frucht unten im Korb/ein Gesicht verbrannt durch die Agenten des Schreckens/eine eiternde Spur unter der Binde//Ein Irrtum in alledem//Ein Stein im Getriebe/ein ungeölter Mechanismus//Objekte Briefe Schlüssel verloren unter dem Teppich/Schluchten verstecken Müll Körper unter dem Kalk//Kein heiliges Herz das erlöst/ Kein Gebet das lindert oder erklärt//Ein Stich durch den der Atem entweicht/eine Katastrophe durch die das Schiff leckt//Ein Riss ein Spalt mittendrin// Dort zerfließt das Verständnis/der glühende Teer der Worte.“

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bei handelt bleibt offen, hat kein Gewicht, alles wird zum Denkmal – oder vielleicht wäre hier die Bezeichnung des Mahnmals noch treffender –, es gibt keinen Ort, an dem man sich der Vergangenheit entziehen kann, „aqui hay un recuerdo“ / „hier ist eine Erinnerung“. Gleichzeitig befindet sich das Erinnern selbst im Fluss, lässt sich selbst nicht festschreiben, ist veränderbar und auch vergänglich, wie die Metaphorik des Wassers in den Gedichten von Torres nahelegt.37 Es lässt sich ein ständiges Entziehen beobachten, ein Kreisen zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen, das sich niemals vollständig verorten lässt. Das lyrische Ich hat keinen festen Platz, es ist auf der Reise, zieht um, ist nicht mehr ganz hier, jedoch auch noch nicht ganz dort, sondern scheint sich dauerhaft in dem Prozess des Umziehens zu befinden. Das ist auch der Grund, warum das vermeintlich Eigene auf einmal fremd erscheint und auch die Erinnerung keinen konkreten Ort findet, wie etwa in dem folgenden Gedicht von Torres: „Camino triste con el resto de un mapa entre las manos. Sus hojas se caen y las pierdo entre la gente. La ciudad se ha vuelto ajena, sólo me llevan sus olores. Busco el mercado o la feria, lo ignoro. Me he vuelto extranjera y no sé nombrar las cosas: patata o pez espada, yuca o mamey. Camino y lloro como un perro husmeando el aire. Los idiomas y los gritos me confunden. Lloro hambre, lloro los sabores olvidados: busco luche, busco loyos, busco murtas. Una nalca de paraguas, por favor, forrada con la piel de antiguas bestias. Camino y tropiezo con cajones llenos de fruta. Tan sólo un par de piures frescos para guardar en ellos las monedas que me restan. No sé de dónde vienen los moluscos. Camino y me detengo. Busco un fondo donde poner a hervir mis lágrimas.“38

Die Stadt ist fremd geworden, nichts lässt sich mehr erkennen, die Stimmen und Geräusche verwirren das Subjekt, welches versucht, an vergangene Erfahrungen anzuknüpfen und merkt, wie ihm alles entgleitet, es sich selbst verliert an einem Ort, der zugleich irgendwie bekannt und fremd ist. Dieses Dazwischen-Sein zeigt die Unmöglichkeit des Ankommens an einem Ort, der eben nicht von Widersprüchen gekennzeichnet ist. Auch die Referenz auf Erinnerungsarchitektur und verschiedene Orte, die für das Erinnern stehen, wie etwa Museen oder auch ganze Städte, ist für unsere Frage von Bedeutung, da gerade in Bezug auf Erinnerungsarchitektur, eine Tendenz zu kulturübergreifenden Phänomenen aufgezeigt worden ist. Die Architektur hat dabei dauerhafte Beispiele geschaffen, wie die Übersetzung 37 38

Vgl. hierzu auch das Nachwort der Übersetzerin in: Torres/Viseneber: Umzug/Mudanza, 2015, S. 105–110. Torres/Viseneber: Umzug/Mudanza, 2015, S. 92: „Traurig laufe ich umher mit den Resten eines Stadtplans in den Händen. Die Seiten fallen heraus und ich verliere sie zwischen den Menschen. Die Stadt ist anders geworden, nur ihre Gerüche leiten mich. Ich suche die Markthalle oder den Wochenmarkt, ich weiß es nicht mehr. Ich bin fremd geworden und kann die Dinge nicht benennen: Kartoffel oder Schwertfisch, Yuca oder Mamey. Ich laufe umher und schluchze wie ein in der Luft witternder Hund. Die Sprachen und Schreie verwirren mich. Ich beweine den Hunger, beweine die vergessenen Gerüche: suche nach Luche, suche nach Loyos, suche nach Murtas. Eine Nalca de Paraguas, bitte, eingehüllt in die Haut ehemaliger Tiere. Ich laufe umher und stoße gegen Kisten voller Früchte. Zumindest ein paar frische Piure, um darin die Münzen aufzubewahren, die mir noch bleiben. Ich weiß nicht woher die Meerestiere kommen. Ich laufe umher und bleibe stehen. Ich suche nach einem Ort, um meine Tränen zum Sprudeln zu bringen.“

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traumatischer Erfahrungen sichtbar gemacht werden kann. Topographien der Erinnerung sind permanente Installationen und zugleich veränderbar und geben die Möglichkeit Differenzen einzuschreiben, wodurch sie sich zugleich einer eindeutigen Lokalisierung zu entziehen vermögen. Wie beispielsweise Andreas Huyssen39 am Erinnerungspark von Buenos Aires – dem Parque de la Memoria – exemplifiziert, der nicht unumstritten ist, kann daran eine weltweite Tendenz des Inszenierens von Erinnerung abgelesen werden. Die Konstruktion, die einer offenen Wunde gleicht – „una trizadura en el centro“ / „ein Spalt mittendrin“ , wie es im Gedicht „Hay una falla en el centro“ von Torres heißt – wird ergänzt durch Namensplaketten, die leer bleiben, wodurch die fehlende Gewissheit in Bezug auf historische Ereignisse symbolisiert wird. In der Folge wurde das Mahnmal mit anderen Erinnerungsstätten40 wie etwa dem Jüdischen Museum in Berlin oder dem Vietnam Veterans Memorial in Washington verglichen und kann sicherlich auch mit dem in Port Bou installierten Denkmal „Passagen“ für Walter Benjamin in Verbindung gebracht werde. Huyssen wendet sich gegen eine territoriale Verankerung von Erinnerungsorten, wie sie etwa Pierre Nora41 denkt und verlegt diese in ein Dazwischen, das performativ dazu auffordert, sich zu positionieren, Verantwortung zu übernehmen und zugleich die Lücke zu erinnern, als eine Form des Unvergesslichen. Eben jenes Dazwischen ist es jedoch auch, das sich in den analysierten Texten findet, die doppelte Geste aus Nähe und Ferne, Ankunft und Abschied und insbesondere Anwesenheit und Abwesenheit, die für die verschiedenen Erinnerungskonzeptionen von so großer Bedeutung ist, da sie das Erinnern selbst beschreibt. Diese Ähnlichkeiten sind es jedoch nicht alleine, die dafür stehen, dass es transnationale Formen des Erinnerns gibt. So werden zum Beispiel in verschiedenen Ländern der Welt frühere Folterzentren zu Kulturzentren oder Museen umgebaut, oder lokale Erinnerungsbilder, wie etwa das weiße Kopftuch der Madres de la Plaza de Mayo in Argentinien, die ihren verschwundenen Familienangehörigen gedenken, in andere kulturelle Kontexte übersetzt. Ihr Symbol, das weiße Kopftuch, wird mittlerweile in einer Vielzahl von anderen Ländern genutzt, in denen es auch „Verschwundene“ gibt, so etwa in Kolumbien, Chile, Paraguay, Peru, Uruguay, El Salvador, in Libyen und in der Türkei.42 Wie bei den náufragos der chilenischen Literatur gibt es auch hier keinen Ausweg mehr aus der Katastrophe, die sich schon ereignet hat und nicht mehr abgewendet werden kann, kein befreiendes Gebet „No hay oración que enmiende ni expliqe“ / „Kein Gebet das Besserung bringt oder er39 40 41 42

Andreas Huyssen: Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Stanford 2003. Zu einer theoretischen Diskussion über Mahnmale anhand des Holocaust-Mahnmals in Berlin vgl. beispielsweise Claus Leggewie, Eric Meyer: „Ein Ort, an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München u. a. 2005. Pierre Nora: Erinnerungsorte Frankreichs, übersetzt von Michael Bayer et al., München 2005, zu Noras Konzeption des Gedächtnisses vgl. auch: Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, übersetzt von Wolfgang Kaiser, Berlin 1990. Vgl. hierzu: Kuno Hauck, Rainer Huhle: 20 Jahre Madres de Plaza de Mayo. Geschichte, Selbstverständnis und aktuelle Arbeit der Madres de Plaza de Mayo in Argentinien, in: Detlef Nolte (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, Frankfurt am Main 1996, S. 108– 127, hier S. 118.

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klärt“, das Erlösung bringen könnte. Die Gesichter sind bereits „quemados por los agentes del horror“ / „verbrannt von den Agenten des Schreckens“, keine Rettung ist möglich. Was zu Beginn ein Fehler, ein Irrtum war (una falla, un error), „un mecanismo desaceitado“ / „ein ungeölter Mechanismus“ wird zu einer „grieta“ / einem „Riss“, einer „trizadura“ en el centro / einem „Spalt“ mittendrin, die alles Zukünftige bestimmen, wie es bei Torres heißt. Die hier vorgestellten Merkmale der Gedichte von Antonia Torres lassen sich auch in anderen postdiktatorischen Szenarien wiederfinden. Dabei geht es nicht zuletzt um Identitätskonzeptionen angesichts einer Katastrophe – man denke beispielsweise an die deutschsprachige Nachkriegsliteratur etwa von Jurek Becker, die sich mit den Fragen und Möglichkeiten des Überlebens beschäftigt und mitunter auch unbequemen oder beunruhigenden Stimmen, die in einem offiziellen Gedächtnisdiskurs keinen Platz finden. Ein aktuelles Beispiel aus Argentinien, das genau dies versucht, die unterschiedlichen Stimmen der Überlebenden aus den verschiedenen Lagern der Diktatur einzufangen und in der Gegenüberstellung beziehungsweise der rückblickenden Perspektive die jeweiligen Selbstbilder zu dekonstruieren, ist etwa Martín Caparrós A quien corresponda von 2008.43 Es handelt sich um einen Roman, in dem nicht zuletzt auch der aktuelle Gedächtnisdiskurs der argentinischen Regierung entlarvt wird. In der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Figuren, Tätern und Opfern ebenso wie den Mitläufern oder vermeintlich Unbeteiligten der Diktatur und auch der Postdiktatur, wird so erneut deutlich, dass Erinnerungsdiskurse immer auch politisch sind und verschiedene Ziele verfolgen. Was in Bezug auf die chilenischen Texte als Schiffbruch bezeichnet wurde, das Gezeichnetsein von einer Katastrophe, die nicht nur den Standort bestimmt, sondern zugleich auch das Schreiben prägt, hat etwa Elsa Drucaroff44 in Bezug auf die zeitgenössische argentinische Literatur als Menschenturm bezeichnet. Gefangen im Turm der Geschichte, die neuen Hoffnungen am Horizont – wie auch das Segel am Horizont, das die Überlebenden auf dem Floß der Medusa sehen können –, sind die zeitgenössischen Schriftsteller zugleich verankert in den Schrecken der Geschichte. Bolte zufolge hat sich das erzwungene Verschwinden während der argentinischen Diktatur und die Erinnerung daran zu einem „transkulturellen Paradigma“ entwickelt, „das im Kontext internationaler juristischer, ethischer und politischer Diskurse und Praktiken bearbeitet wird“.45 Dass das Verschwinden in Argentinien auf einer Strategie – dem Nacht-und-Nebel-Erlass46 – beruht, die auch im Nationalsozialismus eingesetzt wurde, ist ein weiteres Indiz dafür, dass sich die Erinnerungsdiskurse verschiedener Länder und Kulturen nicht voneinander trennen 43 44 45 46

Martín Caparrós: A quien corresponda, Barcelona 2008. Zu einer genauen Analyse dieses Romans vgl. auch Viseneber, Poetiken des Verschwindens, 2014, besonders Kapitel 5.1. Elsa Drucaroff: Los prisioneros de la torre. Política, relatos y jóvenes en la postdictadura, Buenos Aires 2011. Bolte: Gegen(-)Abwesenheiten, 2014, S. 25. Vgl. Lothar Gruchmann: „Nacht- und Nebel“-Justiz. Die Mitwirkung deutscher Strafgerichte an der Bekämpfung des Widerstandes in den besetzten westeuropäischen Ländern 1942–1944, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 29 (1981) 3, S. 342–396, zit. nach Bolte: Gegen(-) Abwesenheiten, 2014, S. 29.

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lassen, da sie aufeinander Bezug nehmen und sich gegenseitig zitieren. So sind auch in der zeitgenössischen argentinischen Literatur, die sich mit der Militärdiktatur auseinandersetzt, immer wieder Referenzen auf den Nationalsozialismus sowie andere Unrechtsregime zu finden. Diese scheinen jedoch unterschiedliche Funktionen einzunehmen und nicht nur für das Einschreiben in eine globale Geschichte der Menschenrechtsverletzungen zu stehen, sondern gleichzeitig auch die Vereinnahmung und Transformation von Diskursen für nationale Zwecke zu thematisieren, wie anhand der immer wiederkehrenden Referenz auf die Shoa deutlich wird.47 Dies lässt sich beispielsweise in Martín Kohans Roman Dos veces junio48 von 2002 beobachten, in dem die jüngere Geschichte Argentiniens mit dem globalen Großereignis Fußballweltmeisterschaft parallelisiert und gleichzeitig der deutsche Nationalsozialismus als Vergleichs- und auch Inspirationsquelle für die argentinische Militärdiktatur herangezogen wird, wenn etwa der deutsche Soldat zum Vorbild stilisiert wird. Interessant an diesem Roman ist sicherlich auch, dass er aus der Sicht eines Rekruten geschrieben ist, der einerseits Teil des Unrechtsregimes ist, gleichzeitig jedoch für diesen Militärdienst ausgelost wurde, was auf die Zufälligkeit hindeutet, die in einer bestimmten historischen Situation manche Menschen zu Tätern oder Opfern macht und gleichzeitig dazu auffordert, Stellung zu beziehen. Diese Tendenz nationale, auf Gemeinsamkeiten beruhende und mitunter Widerstandsmythen produzierende Erinnerungsnarrative zu bilden, wird von zeitgenössischen literarischen Texten häufig unterlaufen, in dem gerade andere Perspektiven geschildert werden oder die Stimmen zu Wort kommen, die aus den offiziellen Diskursen ausgeschlossen bleiben.49 Geteiltes Leid ist nicht halbes Leid Die Materialisierung von Erinnerungsdiskursen scheint, wie anhand zeitgenössischer Beispiele aus Südamerika gezeigt wurde, in unterschiedlichen Ländern und auch verschiedenen Medien ähnliche Formen und Strategien zu verfolgen und kann zu vergleichbaren Gestaltungen führen. Diese Tendenzen sind insbesondere nach 1989 zu beobachten, da seit der globalen Kräfteverschiebung eine Vielzahl von Akteuren in diversen Länder, nicht nur in Europa und Lateinamerika, beginnen, ihre eigenen Erinnerungsdiskurse neu zu bewerten und zu formen und zunehmend auch in transnationalen Kontexten zu untersuchen. Diese Auseinandersetzung ist, wie gezeigt wurde, nicht ohne eine politische Instrumentalisierung von Erinnerung 47

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Viseneber: Poetiken des Verschwindens, 2014. Die analysierten Romane sind: Dos veces junio (2002) von Martín Kohan, Kamchatka (2003) von Marcelo Figueras, Pequeños hombres blancos (2006) von Patricia Ratto, A quien corresponda (2008) von Martín Caparrós und Purgatorio (2008) von Tomás Eloy Martínez. Martín Kohan: Dos veces junio, Buenos Aires 2005 (2002). Zu einer Analyse dieser Grenzfiguren oder Vermittler anderer Optiken, die sich in der zeitgenössischen argentinischen Literatur so häufig finden lassen in Form von Kindern, Neuankömmlingen in einer bestehenden Ordnung oder Reisende, siehe Viseneber, Poetiken des Verschwindens, 2014.

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zu denken, da verschiedene Erinnerungsgemeinschaften unterschiedliche Ziele und Intentionen verfolgen. Dennoch scheint es ein gemeinsames Moment in diesen Erinnerungskämpfen zu geben, das aus dem Einschreiben in einen globalen Kontext von Verfolgung, Folter, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen resultiert. Dabei wurde, in Anlehnung an Stuart Halls Globalisierungskonzept, der Prozess des Erinnerns als ein umkämpfter Raum des Dissenses verstanden, der globale und lokale Elemente zu verbinden vermag. Auf diese Weise lässt sich Monumentalisierung, wie sie etwa innerhalb offizieller Gedächtnisdiskurse häufig sichtbar wird, entgegenwirken. Diktatoriale Erfahrungen werden als Riss verstanden, der alles darauffolgende beeinflusst und zugleich die unabschließbare Vergangenheit symbolisiert, die sich auch im Schreiben über diese Erfahrungen manifestiert. Diese Post-Poetiken,50 die hier anhand der Beispiele sichtbar wurden, thematisieren gerade dieses historische, politische, gesellschaftliche Scheitern, das jedoch zu einem produktiven Moment der Auseinandersetzung wird. Diese ist einerseits an die jeweilige politische und historische Situation gebunden, wird jedoch andererseits über das Einschreiben in eine globale Geschichte der Gewalt entnationalisiert und kann als Beitrag zur Aushandlung von Repräsentationsproblematiken verstanden werden. Es gibt keine heilsamen, utopischen Visionen mehr, keinen harmonischen Blick auf die Vergangenheit, sei es die eigene, nationale oder die globale, von Krisen und Schreckensherrschaften geprägte. Wenn es jedoch keine sinnstiftende Vergangenheit mehr gibt, keine großen politischen und kulturellen Ideen, wird die Gegenwart zu einem fragilen Ort, dem man nicht entfliehen kann. Auch die Erfahrung der Reise führt so nicht zu einer harmonischen Ankunft, sondern das Subjekt wird auf sich selbst zurückgeworfen, als ein Selbst zwischen Kulturen, Konzepten und Kontinenten, das sich immer wieder neu verorten muss. In dieser ständigen Neuverortung lassen sich auch gerade jene Fragen nach Identität und Alterität oder dem Blick auf den jeweils Anderen, wie sie das Verhältnis von Europa und Lateinamerika lange Zeit bestimmt haben, nicht mehr eindeutig verorten. Stattdessen lassen sich geteilte Erinnerungsdiskurse aufzeigen.

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So werden in der Dissertation der Verfasserin die untersuchten zeitgenössischen argentinischen Texte bezeichnet. „Post-Poetiken“ steht einerseits für ein zeitliches Danach (nach der Katastrophe, hier der Diktatur) und zugleich für eine Poetik, der das Scheitern inhärent ist, das Einschreiben der Krise in die Texte. Diese Bezeichnung wurde in Anlehnung an Idelber Avelars Untersuchungen gebildet, der – auf der Basis des Allegorie-Begriffs von Walter Benjamin – das Einschreiben der Krise in postdiktatorische Texte des Cono Sur untersucht, vgl. hierzu: Idelber Avelar: Alegorías de la derrota: La ficción postdictatorial y el trabajo del duelo, Santiago de Chile 2000.

ATELIER & GALERIE

VERNETZTES GEDENKEN? ‚INFLUENCE MAPPING‘ IN DER TRANSNATIONALEN ERINNERUNGSFORSCHUNG Jenny Wüstenberg Zusammenfassung: Die Transnationalisierung von Erinnerungspolitik ist ein relativ neues Thema für die Forschung und stellt deswegen auch methodisch eine Herausforderung dar. In meinem Projekt zum Thema „Konflikte und Allianzen in der Erinnerungspolitik der Europäischen Union“ verwende ich einen relationalen Ansatz, das heißt, ich analysiere die Akteure, die an dieser Politik beteiligt sind, die Verbindungen zwischen ihnen und den Einfluss, den sie durch ihre Positionen im Netzwerk inne haben. Ich argumentiere, dass die Gründung von transnationalen Netzwerken in den letzten Jahren die Erinnerungspolitik der EU grundlegend beeinflusst hat. In diesem Beitrag umreiße ich die Methodik des ‚Influence Mapping‘ und berichte über die ersten Ergebnisse meiner Studie. Abstract: Scholars of memory have only relatively recently turned their attention to the increasing transnationalization of remembrance politics. This has also posed a methodological challenge. In my ongoing research project on „Conflicts and Alliances in the Memory Politics of the European Union“, I have chosen a relational approach. I analyze the actors involved in these politics, the links between them, as well as the influence that they have acquired through their positions in the network. I argue that the creation of transnational networks has profoundly influenced memory politics in the EU in recent years. In this contribution, I outline the methodology of „influence mapping“ and report on the first findings of my study.

Claus Leggewie schrieb 2009: „Anyone who wishes to give European society a political identity will rate the discussion and recognition of disputed memories just as highly as treaties, a common currency and open borders“.1 Dementsprechend hat sich in den letzten Jahren eine kontroverse Debatte um mögliche und notwendige Inhalte einer gemeinsamen Erinnerung als kulturelles Fundament der Europäischen Union entwickelt. Dabei ist ein zentraler Streitpunkt die Gewichtung und Bedeutung der Shoah und der nationalsozialistischen Vergangenheit in Konkurrenz mit dem Gedenken des GULag und der Verfolgung unter kommunistischen Regimen. Die einschlägige wissenschaftliche Forschung zu diesem Thema konzentriert sich vornehmlich auf die Analyse geschichtspolitischer Interessenkonstellationen und Diskurse. Diese werden – und das ist der Ausgangspunkt meiner Studie – von 1

Claus Leggewie: Battlefield Europe. Transnational memory and European identity, in: Eurozine, 28.4.2009, URL: http://www.eurozine.com/articles/2009-04-28-leggewie-en.html (zuerst in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2009).

Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015), S. 97–113

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Jenny Wüstenberg

konkreten staatlichen, zivilgesellschaftlichen, akademischen oder supranationalen Akteurinnen2 entwickelt und vorangetrieben. Sie wiederum agieren nicht im politikfreien Raum, sondern befinden sich in einem dichten Beziehungsgeflecht, das sich sowohl über nationale als auch transnationale Ebenen erstreckt. In den letzten Jahren haben sich so mehrere grenzübergreifende Organisationen gebildet, die sich selbst als Netzwerke bezeichnen und die auch als solche ernst zu nehmen sind. Diese relativ neuen Strukturen und die Entwicklung sozialer Netzwerke haben – so meine Hypothese – die Erinnerungspolitik in der Europäischen Union grundlegend beeinflusst. In meinem aktuellen Projekt erforsche ich mit Hilfe von sozialer Netzwerkanalyse (SNA) und speziell dafür entwickelter Software diese transnational organisierten Erinnerungsakteurinnen. Im Zuge von Debatten über digital humanities und computergestützte Analyseverfahren gibt es zunehmende Bemühungen, die Geistes- und Sozialwissenschaften durch technologische Innovationen voranzubringen. Bis dato allerdings sind digitale Ansätze in wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Erinnerungspolitik noch kaum verwendet worden. In diesem Beitrag möchte ich einen Einblick in den methodischen Ansatz meiner Studie geben sowie diesen anhand erster Ergebnisse diskutieren. Ich verwende in meiner Forschung das ‚Influence Mapping‘, das sich öffentlich zugänglicher Daten über das Aufeinandertreffen von Netzwerkmitgliedern bedient. Die daraus resultierenden Ergebnisse werden visuell dargestellt und mit qualitativen Erkenntnissen über europäische Erinnerungspolitik in Beziehung gesetzt. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass es sich hier um eine Momentaufnahme eines noch nicht abgeschlossenen Forschungsprojekts handelt. Es geht in diesem Beitrag also nicht darum, einen Beleg für die Beschaffenheit und Bedeutung der betreffenden Netzwerke zu liefern, sondern darum, einen innovativen Forschungsansatz zu präsentieren und eine Diskussion über dessen Potenziale und Grenzen anzuregen. Bevor ich jedoch meine Methodik erläutere, möchte ich den Forschungsgegenstand einführend darstellen. Europäische Erinnerungspolitik in Forschung und Praxis Klas-Göran Karlsson schreibt, dass Europa zurzeit die „dritte Welle“ der Integration durchlebt, in der es – nach den ökonomischen und politischen Wellen – um die Entwicklung einer gemeinsamen Kultur geht. Hierbei spielt laut Karlsson die historische Erinnerung eine zentrale Rolle für die Herausbildung von kollektiven Werten. Karlsson – wie auch Dan Diner – verweist insbesondere auf das Holocaustgedächtnis als zentralen Bestandteil eines europäischen Erinnerungskanons. Die Shoah sowie die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs im Allgemeinen sollen nicht nur als Fundament für einen ethischen Grundkonsens dienen, sondern auch die kulturelle Autorität der Europäischen Union (EU) untermauern.3 Die Konstruktion 2 3

Geht es in diesem Artikel um Handelnde beiden Geschlechts, benutze ich die weibliche Form. Klas-Göran Karlsson: The Uses of History and the Third Wave of Europeanisation, in: Małgorzata Pakier, Bo Stråth (Ed.): A European Memory? Contested Histories and Politics of

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des Holocaust als gemeinsames europäisches Ereignis ist mittlerweile breit verankert – durch Gedenktage, in Gedenkstätten und auch durch Rituale, die auf supranationaler Ebene gepflegt werden. Immer wieder wird der progressive Grundgedanke der europäischen Einigung als explizite Antwort auf den Genozid von 1941 bis 1945 betont. Man kann hier eine Verlagerung des Gedenkens von nationalen in transnationale Arenen beobachten. Diese Entwicklung wurde von sogenannten Erinnerungsunternehmern aktiv vorangetrieben, denen sich die Forschung nun vermehrt widmet. Allerdings haben diejenigen, die eine akteurszentrierte Perspektive einnehmen, vor allem supranationale Institutionen in den Blick genommen. Elisabeth Kübler konzentriert sich beispielsweise auf die Erinnerungspolitik des Europarates.4 Aline Sierp hat in ihrer neuen Studie die historische Entwicklung der europäischen Geschichtspolitik und deren Verlagerung nach Brüssel erforscht.5 Andere haben konkrete EU-Programme einer eingehenden Analyse unterzogen, so zum Beispiel das „New Narrative for Europe Project“ und die „European Capitals of Culture.“6 Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass sich supranationale Akteurinnen verstärkt in die europäische Erinnerungspolitik einmischen. Allerdings argumentiert Karlsson, dass ein erfolgreicher Prozess der kulturellen Integration zumindest teilweise ‚von unten‘ kommen muss.7 Auch Wolfram Kaiser beurteilt die Kulturpolitik der EU nicht als hierarchisches Handlungsfeld, sondern als „best understood as a highly disorganized and chaotic field with multiple state and non-state actors with very different motivations and objectives“.8 Ein gemeinsames (wenn auch nicht einheitliches) Narrativ über die Vergangenheit in Europa muss also das Resultat eines Verhandlungsprozesses zwischen verschiedenen Akteurinnen sein, der nicht nur in offiziellen Gremien stattfindet. Dieser Prozess kann oft konfliktträchtig sein und wird nicht nur von der intrinsischen Bedeutung der konkurrierenden Vergangenheiten bestimmt, sondern auch von den Strategien und Ressourcen, die den beteiligten Akteurinnen zur Verfügung stehen. Ich möchte in meiner Arbeit deswegen nicht-staatliche und hybride Akteurinnen herausstellen, da meines Erachtens von

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Remembrance, New York 2010, S. 38–55; Dan Diner: Memory and Restitution: World War II as a Foundational Event in a Uniting Europe, in: Ders., Gotthart Wunberg (Ed.): Restitution and Memory. Material Restoration in Europe, New York 2007, S. 9–23. Elisabeth Kübler: Europäische Erinnerungspolitik. Der Europarat und die Erinnerung an den Holocaust, Bielefeld 2012. Aline Sierp: History, Memory and Trans-European Identity. Unifying Divisions, New York 2014. Stefan Troebst: Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik? Anläufe der Europäischen Union zur Stiftung einer erinnerungsbasierten Bürgeridentität, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 43–65; Wolfram Kaiser: The European Union’s „A New Narrative for Europe“ Project, in: Journal for Contemporary European Studies, Aline Sierp, Jenny Wüstenberg (Eds.): Special Issue on Transnational Memory Politics in Europe, 23 (2015) 3, S. 364–377; Kiran Patel (Ed.): The Cultural Politics of Europe. European Capitals of Culture and European Union since the 1980 s, London 2012. Karlsson: The Uses of History and the Third Wave of Europeanisation, 2010, S. 44. Wolfram Kaiser: Musealizing the European Union and Its History. Institutions, Actors and Networks, Boston, 2011; siehe auch Wolfram Kaiser, Stefan Krankenhagen, Kerstin Poehls: Europa ausstellen: Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln 2012.

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ihnen ein zentraler Impuls der transnationalen Erinnerungspolitik ausgeht, der bis jetzt nicht hinreichend beleuchtet wurde. Meine Hypothese ist, dass die europäische Erinnerung maßgeblich von der Reichweite und Beschaffenheit der komplexen transnationalen Netzwerke bestimmt wird. Es ist also wichtig, die Handelnden, deren Verbindungen untereinander und die Orte, an denen Erinnerungspolitik in der Praxis stattfindet, einer genauen Analyse zu unterziehen, statt sich nur auf Diskurse und Ergebnisse dieser Politik zu beschränken. Es muss jedoch klar gesagt werden, dass die Verbundenheit von Akteurinnen an sich noch keine Schlussfolgerungen über deren Wichtigkeit zulässt. Vielmehr muss eine durch SNA ermöglichte Betrachtung des Beziehungsgeflechts durch qualitative Daten über die Art und Stärke der Verbindungen ergänzt werden. Eine entsprechende qualitative Forschung, nämlich Interviews mit Akteurinnen und eine Diskursanalyse, werden die nächsten Schritte in meinem Forschungsprojekt sein. Im Folgenden erkläre ich, welche Organisationen in meine Studie aufgenommen wurden und warum. Das Europäische Parlament (EP) nimmt eine herausragende Bedeutung ein, denn es hat als kollektive Akteurin selbst einflussreiche erinnerungspolitische Maßnahmen ergriffen und auch als Forum fungiert, mithilfe dessen Individuen und nicht-staatliche Akteurinnen transnationale Kontakte knüpfen konnten. Eine im Jahre 2005 im EP verabschiedete Resolution fordert die Mitgliedstaaten auf, den 27. Januar als Holocaustgedenktag zu etablieren, wichtige Gedenkstätten als europäische Orte zu unterstützen und Holocaust-Bildung verstärkt zu fördern.9 Das EP war auch schon früher in ähnlicher Weise aktiv geworden und war zudem an der Vorbereitung und Gründung der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA, ursprünglich Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research – ITF) beteiligt, die 1998 durch einen Festakt in Stockholm ins Leben gerufen wurde.10 Obwohl die IHRA formal eine internationale Regierungsorganisation mit außereuropäischer Reichweite ist, kann sie doch als eines der ersten transnationalen Netzwerke im Bereich der Erinnerungspolitik gelten. Jedes Mitglied entsendet zwar Delegierte zu den Sitzungen, jedoch wird der Hauptteil der Aufgaben von Arbeitsgruppen erledigt, zu denen auch Wissenschaftlerinnen, Gedenkstättenleiterinnen und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft gehören.11 Zusätzlich zu diesen nicht-öffentlichen Arbeitsgruppen richtet die IHRA eine Vielzahl von Tagungen, Ausstellungen und anderen Veranstaltungen aus. Aufgrund dieser vielfältigen Aktivitäten und Beteiligung hat die IHRA durchaus Netzwerkcharakter.

9 10

11

URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P6-TA-2005–0018 &language=EN; letzter Zugriff: 25.2.2016. Harald Schmid: Europäisierung des Auschwitzgedenkens? Zum Aufstieg des 27. Januar 1945 als „Holocaustgedenktag“ in Europa, in: Jan Eckel, Claudia Moisel (Hrsg.): Der Umgang mit dem Holocaust in internationaler Perspektive, Göttingen 2008, S. 174–203; URL: https://www. holocaustremembrance.com/about-us; letzter Zugriff: 25.2.2016. Jens Kroh: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main 2008, S. 208.

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Obwohl die transnationale Koordinierung von Erinnerungspolitik im Bereich des Holocaustgedächtnisses relativ neu ist, hat es nicht lange gedauert, bis andere „Erinnerungsunternehmerinnen“ sich an ihr orientierten und begannen, ihrerseits Netzwerke zu gründen. Wieder war das EP maßgeblich daran beteiligt. Am 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges verabschiedeten Abgeordnete eine Resolution, in der das Ausmaß des Leidens in Osteuropa durch den Krieg und seine Folgen besonders betont wurden.12 Seitdem zeugen zahlreiche Resolutionen, Hearings und EU-finanzierte Berichte13 von dem Bemühen, das Gedenken an die Verbrechen kommunistischer Regime systematisch zu fördern sowie diese in eine gesamteuropäische Erinnerungskultur zu integrieren. Am 2. April 2009 wurde eine Resolution beschlossen, die wichtige Folgen auch für die Entwicklung von transnationaler Vernetzung hatte. In der Resolution heißt es, „dass Europa erst dann vereint sein wird, wenn es imstande ist, zu einer gemeinsamen Sicht seiner Geschichte zu gelangen, Nazismus, Stalinismus und faschistische sowie kommunistische Regime als gemeinsames Erbe anerkennt und eine ehrliche und tiefgreifende Debatte über deren Verbrechen im vergangenen Jahrhundert führt“.14

Des Weiteren wurde gefordert, den 23. August 1939 (der Tag des Molotov-Ribbentrop-Paktes) „zum europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime“ zu erklären. Auch wenn der Text die herausragende Rolle des Holocaust betont, wird hier erkennbar, dass Kontroversen über die Bedeutung verschiedener Vergangenheiten für die europäische Identität im Gange sind. Stefan Troebst und andere haben aufgrund solch gegensätzlicher Interpretationen argumentiert, dass Erinnerungspolitik in Europa in verschiedene „Zonen der Erinnerung“ aufgeteilt sei, die ein gemeinsames Gedächtnis erheblich erschweren.15 Zusätzlich wird eine einheitliche Herangehensweise durch ungelöste regionale oder

12 13

14

15

Hanno Arndt: European Union's ‚Aufarbeitung‘. Coming to terms with its communist past, Washington, D. C., 2011, S. 2. Zum Beispiel: Carlos Closa Montero: Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes in Europe is dealt with in the Member States, 2010, URL: http://ec.europa. eu/justice/fundamental-rights/files/totalitarian_regimes_final_study_en.pdf; letzter Zugriff: 25.2.2016; Aline Sierp: Democratic Change in Central and Eastern Europe 1989–90. The European Parliament and the end of the Cold War, Brussels 2015. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus, P6_TA(2009)0213, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc. do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2009–0213+0+DOC+XML+V0//DE; letzter Zugriff: 25.2.2016. Maria Mälksoo: The Memory Politics of Becoming European. The East European Subalterns and the Collective Memory of Europe, in: European Journal of International Relations 15 (2009) 4, S. 653–680, hier S. 654; Konrad H. Jarausch, Thomas Lindenberger: Contours of a Critical History of Contemporary Europe. A Transnational Agenda, in: Dies. (Eds.): Conflicted memories: Europeanizing contemporary histories, New York 2007, S. 4; Arnd Bauerkämper: Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur? Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die stalinistischen Verbrechen im Gedächtnis der Europäer seit 1945, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 43–65; Stefan Troebst: Der 23. August 1939. Ein europäischer Lieu de mémoire?, in: Eurozine, 11.8.2009, URL: http://www. eurozine.com/articles/2009-08-11-troebst-de.html (zuerst in: Osteuropa 7–8/2009).

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nationale Konflikte behindert.16 Ein Ziel meiner Forschungsarbeit ist es, herauszuarbeiten, inwiefern solche „Zonen“ und Erinnerungskomplexe sich in den politischen Organisationsstrukturen der beteiligten Akteurinnen wiedererkennen lassen. Eine nähere Betrachtung der Hintergründe der Resolution vom April 2009 macht deutlich, dass dieser Erklärung transnationale Netzwerkaktivität sowohl vorausging als auch auf sie folgte. Für ein Verständnis von transnationaler Erinnerungspolitik genügt es also nicht, sich lediglich deren prominenteste Ergebnisse vor Augen zu führen. Schon im Juni 2008 unterzeichneten zivilgesellschaftliche Vertreterinnen und bekannte Persönlichkeiten die „Prager Erklärung“ in der gefordert wurde, dass Kommunismus, Faschismus und Nazismus als gemeinsames Vermächtnis angesehen werden sollten.17 Dies führte nicht nur zur bereits genannten EP-Resolution, sondern auch zur Gründung der Platform of European Memory and Conscience mit Sitz in Prag. Mitglieder der Plattform sind nationale Gedenkstätten und Einrichtungen, deren Fokus hauptsächlich auf der Erinnerung an Kommunismus und ‚Totalitarismus‘ liegt.18 Gleichzeitig wurde der ‚Prager Prozess‘ innerhalb des EP durch eine Gruppe von Parlamentarierinnen (MEPs) vorangetrieben. Zu dieser Reconciliation of Histories-Gruppe gehören Abgeordnete aus allen EU-Staaten, von denen viele auch in der Plattform aktiv sind und so diese EU-Institution mit zivilgesellschaftlichem Engagement verknüpfen. Ein weiteres wichtiges Projekt in Brüssel ist das Haus der Europäischen Geschichte, das 2007 von dem damaligen Präsidenten des EP Hans-Gert Pöttering angestoßen wurde. Auch wenn die Gründungs- und Konzeptionalisierungsphase des Museums nur langsam voran kam, ist die Debatte darüber, was hier in die europäische Erzählung aufgenommen werden soll, von großer Bedeutung für die transnationale Erinnerungspolitik19 und deshalb Teil meiner Analyse. Weniger politisiert ist das Europäische Netzwerk der für die Geheimpolizeiakten zuständigen Behörden (ENOA), das 2008 von der damaligen deutschen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) mitinitiiert wurde. Auch wenn dieses Netzwerk ein Zusammenschluss von staatlichen Behörden darstellt, ist es von breiterer Relevanz für die transnationale Erinnerungspolitik. Denn durch diese Kooperation auf praktischer Ebene des Umgangs mit Akten entstanden ebenfalls vergangenheits- und grenzübergreifende Verbindungen.20 Überdies sind einzelne Akteurinnen zusätzlich an anderen transnationalen Organisationen beteiligt.

16 17 18 19

20

Gerard Delanty, Chris Rumford: Rethinking Europe. Social theory and the implications of Europeanization, London 2005, S. 97; Claus Leggewie, Anne Lang: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011. URL: http://www.praguedeclaration.eu; letzter Zugriff: 25.2.2016. URL: http://www.memoryandconscience.eu/2011/08/18/platform-members; letzter Zugriff: 25.2.2016. Building a House of European History. A Project of the European Parliament, Luxembourg 2013, URL: http://www.europarl.europa.eu/visiting/ressource/static/files/building-a-house-ofeuropean-history_e-v.pdf; letzter Zugriff: 3.9.2014; Volkhard Knigge et al. (Hrsg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung, Köln 2011. Marianne Birthler: Foreword, in: Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Ed.): The „European Network of Official Authorities in

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Ein weiteres Netzwerk, das ursprünglich ebenso auf staatlicher Initiative beruhte, sich aber mittlerweile zu einem Forum für erinnerungspolitische Akteurinnen aller Couleur entfaltet hat, ist das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität (ENRS). Es wurde 2005 von den Kultusministerien von Deutschland, Ungarn, Polen und der Slowakischen Republik ins Leben gerufen, hat sein Hauptquartier in Warschau und ist das aktivste der Netzwerke, die hier analysiert werden. ENRS war eine Reaktion auf Bemühungen des deutschen Bundes der Vertriebenen, ein ‚Zentrum gegen Vertreibungen‘ zu schaffen. Das Erbe der Zwangsmigrationen in Europa ist ein zentrales Thema des Netzwerks. Darüber hinaus hat sich ENRS wesentlich umfassendere Ziele gesetzt: „eine dialogische Erinnerungskultur in Europa“ und „eine Plattform der Verständigung über die Geschichte des 20. Jahrhunderts“ zu schaffen.21 Verstärkt seit 2011 hat ENRS – oft in Kooperation mit nationalen und europäischen Partnern – Dutzende Tagungen, Workshops, Ausstellungen und Filmfestivals ausgerichtet. Zusätzlich organisiert ENRS jährlich das „European Remembrance Symposium“, bei dem sich diejenigen versammeln, die in der europäischen Erinnerungskultur professionell tätig sind. Es lässt sich also eine ganze Reihe von neuen Projekten und Organisationen benennen, die eine transnationale Ausrichtung aufweisen und das Ziel haben, die entstehende europäische Erinnerungskultur aktiv mitzugestalten. Sie alle – samt ihrer Veranstaltungen, Beiräte, Arbeitsgruppen und Publikationen – sind Gegenstand meiner Netzwerkanalyse. Methodischer Ansatz Seit dem „relational turn“ in den Sozialwissenschaften ist die SNA ein zunehmend populärer Weg, um „Interdependenz zwischen Akteuren und Institutionen“ aufzuzeigen.22 Sie hat in der Erinnerungsforschung jedoch noch kaum Anwendung gefunden. Betrachtet man Erinnerungspolitik als ‚reguläres‘ transnationales Politikfeld, bietet sich als nützlicher analytischer Rahmen das Konzept der „governance networks“ an. Eva Sørensen und Jacob Torfing haben politische Steuerung durch Netzwerke beschrieben als Antwort auf „processes that are no longer fully controlled by the government, but subject to negotiations between a wide range of public, semi-public and private actors“.23 Netzwerkforscherinnen untersuchen ins-

21 22 23

Charge of the Secret-Police Files“. A Reader on their Legal Foundations, Structures and Activities, Berlin 2009, S. 4, 77. European Network Remembrance and Solidarity (Ed.): European 20th-Century History: Memory, Identity, Dialogue, Understanding, Warsaw 2013. Daniel Nexon: The Relational Turn in the Study of World Politics, Boston, MA, 2008; Scott D. McClurg, Joseph K. Young: Political Networks – Editorsʼ Introduction: A Relational Political Science, in: Political Science & Politics 44 (2011) 1, S. 39–43. Eva Sørensen, Jacob Torfing: Introduction. Governance Network Reserach: Towards a Second Generation, in: Eva Sørensen, Jacob Torfing (Hrsg.): Theories of Democratic Network Governance, Basingstoke 2007, S. 3 f.; siehe auch Michael Gehler, Wolfram Kaiser, Brigitte Leucht: Netzwerke im europäischen Mehrebenensystem. Von 1945 bis zur Gegenwart, Wien 2009.

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besondere die sogenannten Kanten und Knoten in sozialen Geflechten.24 Dabei sind Kanten Verbindungen, die zum Beispiel auf Informationen, Finanzen oder gemeinsamen Erfahrungswerten beruhen; Knoten können sowohl Individuen als auch Organisationen sein. Netzwerktheoretische Konzepte wie das „clustering“ von Knoten, strukturelle Merkmale eines Netzwerkes und die Dichte der Verknüpfung sind wertvolle Instrumente, um transnationale Erinnerungspolitik aus einer relationalen Perspektive zu erfassen.25 Interessant dabei ist, dass die Position einer Akteurin im Netzwerk mehr Beachtung findet als ihre formale Stellung in einer hierarchischen Organisation. Des Weiteren hat SNA gezeigt, dass selbst relativ schwache Verbindungen nachhaltige Effekte auf Politik und Kultur haben können.26 Diese werden von herkömmlichen Forschungsmethoden oft nicht genug beachtet. Eine Einführung in die SNA würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen; deshalb möchte ich an dieser Stelle meine praktische Vorgehensweise beschreiben. Mein erster Schritt bestand in der Auswahl der Organisationen und Projekte, bestimmt durch eine qualitative Analyse der europäischen Erinnerungspolitik, wie ich sie oben umrissen habe. Meine Forschung beschränkt sich vorerst auf Projekte, die erstens transnational ausgerichtet (also in mehr als einem europäischen Land verankert) sind und zweitens explizit das Ziel verfolgen, auf die Erinnerungskultur der EU Einfluss zu nehmen.27 In die erste Datenerhebung eingeschlossen habe ich öffentliche Veranstaltungen, Steuerungsgremien und Publikationen der folgenden ‚Projekte‘: – – – – – – –

International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität (ENRS) Platform on European Memory and Conscience (Platform) Europäisches Netzwerk der für die Geheimpolizeiakten zuständigen Behörden (ENOA) Haus der Europäischen Geschichte (HEH) Reconciliation of Histories-Gruppe im EP (RoH) Erstsignatorinnen der Prager Erklärung (PD).

Wie in der Visualisierung der Ergebnisse (siehe zum Beispiel Abb. 2 unten) deutlich wird, stellen die ersten drei Organisationen dieser Liste die größten „Cluster“ im Netzwerk europäischer Erinnerungspolitik dar. In meiner Studie sind Knoten als In24

25 26 27

Markus Gamper, Linda Reschke, Michael Schönhuth: Knoten und Kanten 2.0. Soziale Netzwerkanalyse in Medienforschung und Kulturanthropologie, Bielefeld 2012; Charles Wetherell: Historical Social Network Analysis, in: International Review of Social History 43 (1998), S. 125–144. David A. Siegel: Social Networks in Comparative Perspective, in: Political Science & Politics 44 (2011) 1, S. 51–54. McClurg, Young: Political Networks, 2011, S. 39–43; Mark Granovetter: The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78 (1973), S. 1360–1380. Organisationen wie zum Beispiel das European Heritage Network des Europarats, der International Council of Museums, die International Coalition on Sites of Conscience oder die Paneuropäische Union sind fraglos relevant, haben aber entweder spezifischere oder allgemeinere Zielsetzungen und werden hier deshalb ausgeklammert. In einer zukünftigen Erweiterung dieser Studie werden diese Organisationen Beachtung finden.

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dividuen definiert; Kanten bestehen aus sozialen Beziehungen, die aus mindestens einer verzeichneten persönlichen Begegnung hervorgehen. Denn Organisationen agieren nicht als Einheit; vielmehr verfolgen Personen innerhalb dieser Organisationen oft unterschiedliche Agenden. Deshalb interessiert mich, ob Individuen, die sich mit bestimmten Organisationen oder historischen Erfahrungen identifizieren, sich über solche Grenzen hinweg vernetzen. Eine wichtige Grundannahme meiner Studie ist, dass die Konstruktion einer europäischen Erinnerungskultur durch komplexe Diskussionsprozesse zwischen Personen in konkreten Foren passiert. Solche Debatten können zwar auch in virtuellen Räumen stattfinden, jedoch sind sie dann schwierig nachzuvollziehen. Für die Sammlung und Analyse der Daten verwende ich die Software Tartan (Ntrepid Corporation 2011), die entwickelt wurde, um kriminelle und terroristische Netzwerke aufzudecken und um deren Knotenpunkte sichtbar zu machen. Auch wenn die wissenschaftliche Verwendung einer solchen Software in Zeiten verstärkter Thematisierung von nachrichtendienstlicher Überwachung problematisch erscheinen mag, ist Tartan dennoch geeignet, komplexe Politiknetzwerke zu ergründen. Sie arbeitet ausschließlich mit Hilfe von öffentlich zugänglichen Informationen und veranschaulicht so Geflechte, für die keine vorhandene Datensammlung besteht. Es ist meines Erachtens also irrelevant, ob es sich dabei um klandestine oder andere Netzwerke handelt. Tartan ermöglicht durch ein ‚Plug-in‘ die Durchsuchung von Internetseiten und elektronischen Dokumenten nach Namen von sogenannten ‚Stakeholdern‘, die an ‚Events‘ der ausgewählten Organisationen teilnahmen. Im nächsten Schritt werden alle Dokumente in die Software eingespeist. Diese enthalten die Namen mindestens zweier Stakeholder und Ankündigungen oder Berichte über Workshops, Seminare, Tagungen, Festivals oder dergleichen, die von den relevanten Organisationen (mit-)ausgerichtet wurden. Ferner werden Listen von Gremien, die an der Steuerung der ausgewählten Projekte beteiligt sind (wie Kuratorien, wissenschaftliche Beiräte, Arbeitsgruppen, Geschäftsführungen) sowie Hinweise auf gemeinsame Publikationen in die Analyse einbezogen. Tartan ermöglicht eine automatisierte Extrahierung von Namen aus den Dokumenten, die dann noch manuell bereinigt und durch weitere wichtige Angaben ergänzt werden müssen (Titel, vollständige Namen, Zugehörigkeit zu Institutionen, zusätzliche Mitgliedschaften, Beruf, Staatsbürgerschaft, geografische Verortung). Wo möglich sammele ich auch Informationen über Verbindungen der Person zu einschlägigen historischen Ereignissen, die ihre Perspektive in der Erinnerungspolitik beeinflusst haben könnten (zum Beispiel Teilnahme an einer Oppositionsbewegung oder Familienerfahrungen mit der Shoah). Solche Informationen sind in der Regel nicht leicht zu finden und deshalb bis jetzt nicht ausreichend in meinem Datensatz vorhanden, um sie auszuwerten. Weitere Recherchen und Interviews sind geplant, um diesen Faktor systematisch integrieren zu können. Tartan verbindet alle Teilnehmenden an einem Event in allen möglichen Permutationen. Bei der Analyse sozialer Netzwerke ist es unabdingbar, genau zu definieren, was als Verbindung (‚Relationship‘ in Tartan) gewertet wird. Ein Tagungsprogramm allein sagt nichts darüber aus, wer mit wem auf dem Flur diskutiert hat. Man kann jedoch davon ausgehen, dass zwei Teilnehmende eines kleinen Treffens

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von bis zu fünf Personen, eines Konferenzpanels oder eines Steuerungsgremiums sich direkt ausgetauscht haben. Basierend auf dieser Annahme habe ich wie folgt kodiert: Menschen, die beide bei einem kleinen ‚Event‘ anwesend waren, wurden in Tartan durch ‚1 Meeting‘ und (falls keine zusätzlichen Informationen vorhanden waren) als ‚neutral‘ und ‚nicht verwandt‘ (‚not kin‘) verbunden. Für Stakeholder, die durch Arbeitsgruppen, Gremien oder gemeinsame Publikationen miteinander bekannt sind, definiere ich die Beziehung als ‚2+ Meetings‘. Tartan ermöglicht die Eingabe von Informationen über Meinungsverschiedenheiten und Hierarchien zwischen Akteurinnen, die jedoch meist schwer auffindbar sind. Nur bei bekannten inhaltlichen Auseinandersetzungen und bei offensichtlichen hierarchischen Beziehungen (zum Beispiel zwischen der Leiterin einer Organisation und einer Mitarbeiterin) können solche Datenpunkte integriert werden. In einigen Fällen sind auch familiäre Verbindungen bekannt. Diese Daten über die Beschaffenheit (zusätzlich zum Vorhandensein und der Stärke) einer Beziehung zwischen zwei Personen wirken sich auf die Berechnung des Rankings der Akteurinnen als ‚Influencer‘ und der Bewertung ihrer Position im Netzwerk aus. Tartan kalkuliert auf Basis der eingegebenen Daten für jede Stakeholderin den Wert ihrer ‚Zentralität‘, das heißt die Anzahl und Dichte ihrer Verbindungen. Mit anderen Worten, je mehr Beziehungen ein Individuum unterhält, desto bedeutender (so die Annahme) ist die Person im Netzwerk, denn mehr Informationen müssen durch sie vermittelt werden, um andere Mitglieder zu erreichen. Durch ihre ersatzlose Entfernung entstünde also ein ‚strukturelles Loch‘ und Informationen müssten auf längeren Wegen zu den Netzwerkbeteiligten gelangen. Ob diese Akteurin problemlos durch eine andere ersetzt werden könnte oder ob tatsächlich ein solches Loch entsteht, muss durch weitere empirische Forschung ergründet werden. Die SNA ermöglicht es, gezielt nachzufragen, inwiefern der Einfluss eines ‚Knotens‘ (also eines Individuums) nur auf seiner Funktionsbezeichnung beruht oder auf seiner Persönlichkeit und seiner individuellen Kontaktpflege. Meine Hypothese ist, dass im Feld der Erinnerungspolitik die persönliche Vergangenheit und die historische Sensibilität der Akteure besonders relevant und sie deshalb nicht einfach zu ersetzen sind. Zusätzlich wird in Tartan ‚Einfluss‘ durch einen Algorithmus berechnet, der ‚Zentralität‘ mit anderen Datenwerten verknüpft. Insbesondere wird hier die Natur der Beziehungen (Hierarchien, familiäre Bande, Meinungsverschiedenheiten) zwischen Stakeholdern einkalkuliert.28 Die Software visualisiert dann die Struktur des Netzwerkes, wobei die Dichte der Verbindungen durch die Nähe der Knoten zueinander dargestellt wird, aus denen sich ‚Cluster‘ ergeben. Darüber hinaus ist es möglich, innerhalb des Datensatzes nach bestimmten Attributen der Netzwerkmitglieder zu suchen und sie visuell darzustellen – ebenfalls ein wichtiger Schritt für die Analyse. Diese methodischen Annahmen möchte ich im Folgenden durch die Betrachtung der ersten Ergebnisse veranschaulichen. 28

Hierbei wird die klassische Formel für Zentralität (Summe aller Kanten für einen Knoten) mit dem sogenannten Jaccard-Spline-Index kombiniert: Noah E Friedkin: Jaccard-Spline index of structural proximity in contact networks, in: Social Networks 31 (2009) S. 76–84.

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Erste Ergebnisse Während der ersten Runde der Datenerhebung verwandte ich insgesamt 64 Dokumente, die 95 ‚Events‘ der ausgewählten Organisationen und Projekte beinhalteten. Es wurden jeweils Steuerungsgremien, Gründungsdokumente sowie öffentliche Veranstaltungen der Jahre 2011 bis 2013 einbezogen. An diesen ‚Events‘ nahmen 532 Individuen teil, die 5.789 Verbindungen eingingen. Daraus ergaben sich fünf nicht miteinander verbundene Netzwerke, von denen nur das erste, bestehend aus 510 Teilnehmenden, sich als relevant erwies.

Abb. 1: Screenshot der Tartan Visualisierung mit numerischen Labels

Abb. 2: Das Erinnerungsnetzwerk mit Organisationszugehörigkeit

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Schon die oberflächliche Betrachtung der Tartan-Visualisierung (Abb. 1) vermittelt einen Eindruck der Größe und Extensität des Netzwerkes europäischer Erinnerungsakteurinnen (es könnte nur mit mehreren ‚Screenshots‘ komplett erfasst werden).29 Es besteht aus mehreren Clustern mit variierender Dichte und verschiedener Anzahl von Verbindungen mit anderen Teilen des Netzwerks. Betrachtet man die Netzwerkstruktur mit der Zugehörigkeit der Stakeholder zu den jeweiligen Organisationen (Abb. 2), ergibt sich bereits eine bemerkenswerte Information: Die Cluster sind in hohem Maße von ‚Homophilie‘ gekennzeichnet. Homophilie bedeutet, dass die Mitglieder eines (Sub-)Netzwerkes vornehmlich mit Personen mit ähnlichen Eigenschaften, Interessen oder Identitäten interagieren, also wenig mit Teilnehmenden aus anderen Projekten zu tun haben.30 Auch wenn an dieser Stelle mehr Forschung notwendig ist, lässt sich bereits feststellen, dass sich innerhalb des Gesamtnetzwerkes der Erinnerungsakteurinnen relativ separate Ansammlungen gebildet haben, die auf bestimmte Aspekte der europäischen Vergangenheit fokussiert und nur durch wenige Einzelpersonen miteinander verbunden sind. In dieser Situation wird Kooperation über ‚Grenzen der historischen Erfahrung‘ hinweg erschwert. Des Weiteren bedeutet diese Aufteilung eine besondere Machtposition für diejenigen, die in der Lage sind Cluster zu verbinden. Es sind diese Personen, die eine herausragende Rolle in der Gestaltung europäischer Erinnerungspolitik spielen. Laut der Tartan-Kalkulation hat die ehemalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete, die auch EU-Kommissarin und MEP war den höchsten Zentralitätswert, das heißt sie ist das Individuum mit den meisten Beziehungen im Netzwerk (Abb. 3). Kalniete, deren Familie nach Sibirien deportiert wurde, tritt für die Anerkennung stalinistischer Verbrechen ein. Stellt man sich das Netzwerk ohne Kalniete vor, gingen wichtige Querverbindungen zwischen der Reconciliation of Histories-Gruppe, der Plattform und ENRS verloren. Das Gleiche lässt sich von Tunne Kelam, einem estnischen MEP, behaupten. Signifikante Akteure sind auch Ronaldas Racinskas (Geschäftsführer der Litauischen „International Commission for the Evaluation of the Crimes of the Nazi and Soviet Occupation Regimes“) und Toomas Hiio (vom Estnischen Kriegsmuseum), da sie die Verbindung von IHRA zum Gesamtnetzwerk herstellen, also Holocausterinnerung mit anderen Themen koppeln. Die Kalkulation von Einfluss im Netzwerk durch Tartan ergibt ein etwas anderes Bild der wichtigsten Akteurinnen (Tabelle 1). Hier fällt auf, dass Personen, die der breiten Öffentlichkeit nicht sehr bekannt sein dürften, beachtenswerte Positionen einnehmen. Der polnische Historiker Jan Rydel hat durch die Leitung der aktivsten Organisation ENRS die wichtigste Stellung inne. Rydel ist mit fast allen anderen ‚Top-Akteurinnen‘ direkt verbunden und nur durch eine weitere Mittelsperson mit anderen vernetzt. 29 30

Leider ist hier eine Abbildung in Farbe, die die Verbindungen individueller Akteurinnen noch deutlicher machen würde, nicht möglich. Die Autorin kann diese auf Nachfrage bereitstellen. Miller McPherson, Lynn Smith-Lovin, James M. Cook: Birds of a Feather: Homophily in Social Networks, in: Annual Review of Sociology 27 (2001) S. 415–444.

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Abb. 3: Sandra Kalniete im europäischen Erinnerungsnetzwerk

Abb. 4: Zugehörigkeit der Stakeholder (Kalnietes Netzwerk ist hervorgehoben)

109

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EinflussRanking

ZentralitätsRanking

Tartan-ID und Name

Position

1

8

599 Jan Rydel

Direktor ENRS-Präsidium

2

Mehr als 50

576 Rafal Rogulski

Direktor ENRS-Sekretariat

3

5

632 Göran Lindblad

Präsident, Platform of European Memory & Conscience

4

Mehr als 50

615 Jerzy Buzek

Ehem. Präsident des EP, ehem. polnischer Premierminister

5

1

616 Sandra Kalniete

MEP, ehem. lettische Außenministerin, ehem. EU-Kommissarin

6

4

878 Vytautas Landsbergis

Litauischer MEP

7

16

880 Milan Zver

Slowenischer MEP

8

Mehr als 50

881 Martin Mejstrik

Tschechischer Politiker, nahm teil an der Revolution 1989

9

2

618 Lukasz Kaminski

Präsident des Instituts für Nationales Gedenken, Warschau

10

14

579 Burkhard Olschowsky

Wissenschaftlicher Mitarbeiter ENRS, Warschau

11

Mehr als 50

651 Pawel Ukielski

Vizedirektor, Museum des Warschauer Aufstandes

12

Mehr als 50

882 Stephane Courtois

Französischer Historiker, Mit-Autor des Schwarzbuchs des Kommunismus

13

3

627 Tunne Kelam

Estnischer MEP, RoH-Gruppe

14

Mehr als 50

702 Jeffrey Olick

Amerikanischer Soziologe

15

Mehr als 50

796 Elizabeth Jelin

Argentinische Soziologin

16

Mehr als 50

636 Stefan Troebst

Deutscher Historiker

17

Mehr als 50

850 Andreja Valic Zver

Slowenischer MEP

18

Mehr als 50

655 Csaba Kiss

Ungarischer Politologe, Direktor des Wissenschaftlichen Beirats von ENRS

19

Mehr als 50

699 Gertrud Pickhan

Deutsche Historikerin

20

11

614 Hans-Gert Pöttering

Ehem. Präsident des EP, Initiator des Hauses der Europäischen Geschichte

Tabelle 1: Die 20 einflussreichsten Akteurinnen

Ähnlich zeigt sich die Position von Rafal Rogulski, dem Leiter des ENRS-Sekretariats: Er hat viele der gleichen Beziehungen wie Rydel, ist jedoch (zumindest laut dieser Erhebung) nicht mit Göran Lindblad von der Plattform, mit Pawel Ukielski (als Verbindung zu IHRA), oder einigen der Akademikerinnen im Netzwerk verbunden. ENRS als Ganzes kann sich auf ein weit gestreutes und vielfältiges Geflecht von Beziehungen verlassen. Es ist allerdings relativ lose gestrickt, so dass man eher von einem offenen Forum für Erinnerungsdebatten als von einer nachhaltig verankerten Gemeinschaft ausgehen kann.

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Abb. 5: Jan Rydel im europäischen Erinnerungsnetzwerk

Abb. 6: Göran Lindblad im europäischen Erinnerungsnetzwerk

Aus Platzgründen können hier weder das Netzwerkranking weiterer Personen noch andere interessante Aspekte eingehender betrachtet werden. So ließe sich beispielsweise anhand einer Auswertung der Staatsbürgerschaften der Akteurinnen auch Folgendes feststellen: Obwohl viele Nationalitäten – einschließlich nicht-europäische – vertreten sind, wird das Gesamtnetzwerk doch von Nord- und Zentraleuropäerinnen dominiert. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass der Umgang mit den südeuropäischen Diktaturen in den Veranstaltungen der einbezogenen Organisationen wenig diskutiert wird. Es scheint möglich, dass sich die Theorie der „Zonen der Erinnerung“ auch in der Praxis der Erinnerungspolitik wiederfindet.

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Vorteile und Grenzen des Netzwerkansatzes in der transnationalen Erinnerungsforschung SNA, und insbesondere das ‚Influence Mapping‘, ermöglichen eine systematische Untersuchung europäischer Erinnerungspolitik aus relationaler und akteurszentrierter Perspektive. Die Sammlung von Daten über Verbindungen zwischen Akteurinnen und die Visualisierung dieser Beziehungen hilft Abstand zu gewinnen von den hitzigen und manchmal auch für Wissenschaftlerinnen emotionsgeladenen Debatten über die Bedeutung konkurrierender Interpretationen der europäischen Vergangenheit. Ohne Zweifel dient es dem Erkenntnisinteresse, transnationale Erinnerungspolitik auf diese Weise als praktisches Politikfeld zu begreifen, das – wie jedes andere auch – von Interessen, Ressourcen und sozialen Beziehungen bestimmt wird. Das europäische Netzwerk von Erinnerungsunternehmerinnen besteht aus kleineren Clustern, die vor allem durch Organisationen und Projekte definiert werden, die oft von Menschen innerhalb von Regierungen und supranationalen Institutionen initiiert wurden, an denen aber sehr unterschiedliche zivilgesellschaftliche, intellektuelle und staatliche Akteurinnen teilhaben. Das Gesamtnetzwerk weist verschiedene Dichtegrade und Verbindungsstärken auf. In diesem komplexen Gefüge ist es nichtsdestotrotz offensichtlich, dass einige Stakeholder als Broker und Informationsleitstellen zwischen den Clustern fungieren und somit wahrscheinlich eine Führungsposition innehaben. Diese sind nicht unbedingt bekannte Persönlichkeiten, vielmehr ist ihre praktische Verbundenheit über verschiedene Netzwerkareale hinweg von Bedeutung. Die SNA verdeutlich auch, dass trotz lebhafter Aktivität und zahlreicher neuer Projekte noch nicht von einer gemeinsamen Praxis der europäischen Erinnerung oder auch nur von dem Vorhandensein von genuinen Foren für erinnerungspolitische Auseinandersetzungen die Rede sein kann. Ganze Regionen des Kontinents scheinen kaum an der Debatte teilzunehmen und der Austausch über ‚Vergangenheitsgrenzen‘ hinweg passiert noch nicht besonders häufig. Der hier verwandte Ansatz hat jedoch seine Grenzen. Zum einen ist die Methode sehr anfällig für Probleme, die aus einer unvollständigen Informationslage resultieren. Zum anderen hat die Auswahl der Projekte und Veranstaltungen für die Analyse einen großen Effekt auf die Struktur und Komposition des von Tartan dargestellten Netzwerkes. So muss (und ist auch von mir geplant) der Datensatz sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch bezüglich der inkludierten Organisationen erheblich erweitert werden. Es ist zu erwarten, dass diese Expansion meiner Studie weitere einflussreiche Personen und Cluster zu Tage fördern wird. Des Weiteren sind zwei Einschränkungen der Methode zu nennen, die grundsätzlicher Natur sind: Die Sammlung von Daten über Teilnahme an Gremien und Events sagt wenig über das Bestehen von informellen Verbindungen der Netzwerkteilnehmerinnen aus. Selbst bei bekannten Verbindungen ermöglicht dieser Ansatz allein nur bedingt, den Charakter der Beziehungen systematisch zu analysieren. Wenn sich zwei Individuen kennen, wissen wir zum Beispiel noch nicht, ob sie sich gut verstehen und kooperieren würden oder, falls Abneigung besteht, sich gegensei-

Vernetztes Gedenken?

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tig blockieren könnten. Es ist auch nicht ersichtlich, ob sie in einer hierarchischen Beziehung zueinander stehen. Informationen dieser Art sind nur durch qualitative Methoden (Interviews, Diskursanalysen, Archivrecherchen, teilnehmende Beobachtung) zu gewinnen, die dann in die quantitative Analyse durch Tartan integriert werden können. Selbst mit einem verbesserten ‚Mixed Methods‘-Ansatz verbleibt jedoch ein entscheidender Nachteil: Wir erfahren durch eine SNA nicht, welche subjektive Bedeutung die Protagonistinnen der europäischen Erinnerungspolitik ihrer Tätigkeit und den besuchten Veranstaltungen beimessen. Was bedeutet das Netzwerk für die beteiligten Personen vor dem Hintergrund ihrer persönlichen, familiären oder nationalen Geschichte? Welchen Einfluss haben die sich stets verändernden sozialen Geflechte, in denen sich die Akteurinnen befinden, auf deren Motivation, Einstellung, Kooperationsbereitschaft und Initiativen in der Erinnerungspolitik? Um solche Fragen zu beantworten, muss das relationale ‚Influence Mapping‘ mit interpretativen Methoden kombiniert werden. Wenn, wie die EP-Resolution von 2009 diagnostizierte, „Europa erst dann vereint sein wird, wenn es imstande ist, zu einer gemeinsamen Sicht seiner Geschichte zu gelangen“, dann wird noch sehr viel Networking stattfinden müssen – über bestehende erinnerungspolitische Grenzen und Animositäten hinweg. Es ist jedoch klar erkennbar, dass sich die europäische Erinnerungspolitik in den letzten Jahren als komplexes Politikfeld stark weiterentwickelt hat. Viele verschiedene Akteurinnen sind in diesem Feld aktiv und es genießt große Unterstützung von staatlichen und supranationalen Stellen. Auch in Zukunft wird die transnationale Erinnerungskultur ein faszinierendes Testgelände für den Ausbau und die Verbesserung der Netzwerkmethodik darstellen. Es ist zu hoffen, dass der Trend zu „digital humanities“ und relationalen Methoden in den Sozialwissenschaften auch in der Erinnerungsforschung seine Früchte trägt.

CHINESISCHE VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG: HINDERNISSE UND RESSOURCEN IN VERGLEICHENDER PERSPEKTIVE1 C. K. Martin Chung Zusammenfassung: Das deutsche Phänomen der Vergangenheitsbewältigung wird seit langem als komparatives Paradigma benutzt, um die Umgangsformen anderer Nationen mit ihren schwierigen Vergangenheiten zu untersuchen. Der Fall China wird aber oft vernachlässigt in der vergleichenden Forschung. Der Beitrag möchte diese Forschungslücke füllen und weist auf einige Hindernisse der chinesischen Vergangenheitsbewältigung hin. Er zeigt, wie die AkteurInnen versuchen, diese Hindernisse mit unterschiedlichen Ressourcen und Innovationen zu überwinden. Das hier vorgestellte laufende Forschungsprojekt bezieht sich auf die Bekenntnisse und öffentlichen Entschuldigungen, in denen sich einige Chinesen als Täter erinnern im Zusammenhang mit den traumatisierten innerchinesischen, han-tibetanischen und han-uigurischen Beziehungen. Die vorläufigen Ergebnisse der Untersuchung stellen einige Ähnlichkeiten und Unterschiede dar, die auf die vielversprechenden Potenziale des komparativen Paradigmas für interkulturelles Lernen hindeuten. Abstract: While the German phenomenon of coming to terms with the past has long been utilized as comparative paradigm for other nations, the Chinese case has often been neglected in the comparative literature. This essay attempts to thematize Chinese Vergangenheitsbewältigung in comparative perspective as a research project. It points to some hindrances in Chinese coming to terms with the past, and shows how social actors attempt to overcome these with various resources and innovations. The ongoing research project introduced here investigates Chinese confessions and public apologies, in which some Chinese remember themselves as perpetrators in the contexts of the traumatized intra-Chinese, Han-Tibetan and Han-Uyghur relationships. The preliminary results of the research demonstrate some similarities and differences, which point to the promising potentials of the comparative paradigm for intercultural learning.

Am Ende des Ersten Weltkriegs schrieb der deutsche Philosoph jüdischer Abstammung Max Scheler über „das große Gewissensphänomen der Reue“, „weil es unter den sittlich-religiösen Akten im Menschengeiste keinen gibt, der diesem Zeitalter so angemessen und für es so fruchtbar sein dürfte als der Akt der Reue. Sie allein

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Der Autor bedankt sich bei den anonymen Gutachtern für die kritischen und hilfreichen Anmerkungen zu einer früheren Fassung des Artikels sowie bei den Herausgebern für die ausführliche Überarbeitung dieses Textes.

Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015), S. 115–133

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verheißt mögliche Wiedergeburt.“2 Allerdings, so Scheler, „pflegt die moderne Philosophie in der Reue (fast ausschließlich) einen nur negativen und gleichsam höchst unökonomischen, ja überflüssigen Akt zu sehn“.3 Dies ist auch eine mögliche Erklärung für die geringe Resonanz auf seinen Aufruf zur Reue und Umkehr.4 Ähnlich beklagte der chinesische Autor Qian Zhongshu5 die „Nachteile“ des Gefühls der Reue (cankui), das er jedoch in Bezug auf die Bewältigung des schwierigen Erbes der Kulturrevolution (1966–1976) in China für notwendig hielt. So sagte der in der Kulturrevolution als Intellektueller Verfolgte 1980: „Cankui verursacht Befangenheit und Zögern, und mischt sich in den rasanten Lebenskampf ein (…) Cankui sei also ein Gefühl, das ausgetilgt werden solle (…). In dem zunehmend aufreibenden modernen Gesellschaftsleben scheint dieser psychologische Zustand nicht nur nichtsnutzig, sondern auch ganz nachteilig (buli)“.6 Der „Nachteiligkeit“ der Reue zum Trotz haben einige chinesischen Täter, Mittäter und Mitläufer öffentlich Bekenntnisse abgelegt – zum Beispiel in dem vor kurzem in Peking und Hongkong erschienenen Sammelband Women Chanhui (Wir tun Buße).7 Zwar bleibt der Wunsch der Überlebenden der Kulturrevolution, deren Geschichte in einem Museum zu dokumentieren, weiterhin unerfüllt,8 die Sammlung von Äußerungen der Umkehr kann aber als ein wichtiger Meilenstein der ‚chinesischen Vergangenheitsbewältigung‘ betrachtet werden. Im Kontext der vergleichenden Erforschung der Vergangenheitsbewältigung9 konzentriere ich mich in diesem Beitrag auf den Einfluss religiöser Vorstellungen, wie zum Beispiel Reue und Umkehr, cankui und chanhui: Wie verwenden vergangenheitsbewältigende AkteurInnen diese ‚geistigen Ressourcen‘ aus ihren eigenen 2 3 4

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Max Scheler: Reue und Wiedergeburt, in: Vom Ewigen im Menschen, 1. Band. Religiöse Erneuerung, Leipzig 1921, S. 5–58, hier S. 2. Ebd., S. 6. Obwohl Reue und Umkehr unterschiedliche Bedeutungen und Konnotationen besitzen, ist es in dem Zusammenhang klar, dass Schelers „Reue“ mit dem biblischen Begriff von „Umkehr“ (hebr. Tshuvah) beziehungsweise „Buße tun“ eng verbunden ist: Reue ist „der natürliche Akt, den Gott der Seele verlieh, um zu Ihm zurückzukehren, wenn sich die Seele von Ihm entfernte“. Ebd., S. 12. Wie üblich in Fernost folgt hier der gegebene Name dem Familiennamen, also Herr Qian in diesem Falle. Buli kann auch ‚schädlich‘ bedeuten. Siehe Qians Einführung in Yang Jiang: 幹校六記 [Sechs Erinnerungen an die Kaderschule], Hongkong 1981, S. 2. Alle chinesischen und englischen Zitate sind meine eigenen Übersetzungen. Wang Keming, Song Xiaoming (Hrsg.): 我們懺悔 [Wir tun Buße], Peking 2014; 我們懺悔: 未刪節全本 [Wir tun Buße. Unzensierte vollständige Ausgabe], Hongkong 2014. Ba Jin: 巴金隨想錄 (合訂本) [Ba Jins Erinnerungen, 5 Bde.], Hongkong 1988, S. V–105. Zwar existiert seit 2005 in Shantou (Provinz Guangdong) ein inoffizielles „KulturrevolutionMuseum“, es leidet aber von Anfang an unter schwierigen Bedingungen. 汕頭建文革博物館 展文革酷刑 [Das Kulturrevolution-Museum in Shantou stellt Foltern während der Kulturrevolution aus], in: Wen Wei Po, 19.6.2013. Siehe z. B. Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer, Wolfgang Schwentker (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt am Main 2004; Helmut König, Michael Kohlstruck, Andreas Wöll (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen u. a. 1998; Elazar Barkan: The Guilt of Nations. Restitution and Negotiating Historical Injustices, New York 2000.

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(oder aus anderen kulturellen Kontexten rezipierten) religiösen und philosophischen Überlieferungen, um eine Vergangenheitsbewältigung zu initiieren? Welche Möglichkeiten (und auch Unzulänglichkeiten) bieten sie als Ressourcen im Dienst der Versöhnung10 der Völker nach kollektiven Traumata? Scheler und Qian benutzten Begriffe aus Judentum und Buddhismus,11 um ihre Zeitgenossen zur Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit aufzufordern. Spätere Generationen bezogen sich auf die von beiden geprägten Begrifflichkeiten, um ‚Bewältigungsarbeit‘ zu leisteten.12 Die theologisch-philosophischen Quellen bieten sich meines Erachtens als vielversprechender Zugang zur Erforschung dieses Handlungsfelds an, die seine interne Logik zu verstehen sucht. Diese Studie stellt vorläufige Ergebnisse eines laufenden Forschungsprojekts13 vor. Die Beobachtungen und Argumente haben deshalb noch vorläufigen Charakter. Mein Ziel ist es zunächst einmal, für die Erforschung des Umgangs mit Vergangenheit in China eine vergleichende Ebene zu formulieren.14 Der Begriff Vergangen10

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Es ist sicherlich nicht selbstverständlich, dass es eine notwendige Verbindung zwischen Vergangenheitsbewältigung und Versöhnung gibt. Im politischen Jargon ist ‚Versöhnung‘ oft die Rede, womit man eigentlich Vergessen und Vertuschen meint – also, das Gegenteil von Vergangenheitsbewältigung. In der Auffassung der vergangenheitsbewältigenden AkteurInnen aber ist es nicht schwer zu erkennen, dass die Versöhnung mit den Opfern und den Überlebenden ein Grundmotiv ihres Handelns darstellt. Wang Keming zum Beispiel spricht von dem „versöhnenden Übergang“ zur Demokratie in China mit Wahrhaftigkeit und Buße. Diese Verbindung ist nur möglich, wenn man Vergangenheitsbewältigung grundsätzlich als die Bewältigung von Schuld versteht (Wüstenberg), aber nicht im Sinn von „(die Vergangenheit) ungeschehen machen“. Wang Keming: 人性復興是最偉大的復興 我們懺悔前言 [Vorwort. Die Renaissance der Humanität ist die größte Renaissance], in: Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. i–x, hier S. viii. Ralf K. Wüstenberg: Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland, Gütersloh 2004, S. 32. Über Reue, Umkehr und Buße im Judentum siehe Moses Maimonides: Die Lehre von der Buße, in: Ders: Mischne Tora – Das Buch der Erkenntnis, Berlin 1994. Über cankui/chanhui im Buddhismus siehe 金山御製梁皇寶懺 [Liang Huang Chan, oder das Bußgebet des Kaisers Liang], Taipeh 1986. Demnach gibt es zwei Dimensionen der cankui: can bedeutet, dass man sich dem Himmel (tian) stellt; kui bedeutet, dass man die Anderen über die Verstrickung und Loslösung von Sünde belehrt (5:9, S. 400 f.). In der heutigen Umgangssprache ist cankui durchaus säkularisiert und bedeutet lediglich „Reue“ und „Scham“. Wilhelm Röpke zitierte 1945 Schelers „Reue und Wiedergeburt“, um den Aufruf zur Umkehr zeitgemäß zu erneuern. Wilhelm Röpke: Die deutsche Frage, Erlenbach-Zürich 1945, S. 222. Qians cankui inspirierte Shi Tieshengs Bekenntnis „jikui“ oder „an die Reue erinnern“, das seinerseits den Sammelband der Bekenntnisse prägte (siehe unten). Shi Tiesheng: 文革記愧 [Erinnerung an die Reue über die Kulturrevolution], in: Ders.: 答自己問 [Da Zi Ji Wen], Tianjin 1996. Das Forschungsprojekt wurde finanziell gefördert von dem Asia-Europe Comparative Studies Research Project Grant 2013–2014 des Institute of European Studies of Macau (IEEM), ebenfalls seitens der Europäischen Union durch das European Union Academic Programme Hong Kong (EUAPHK). Der Frage der Vergleichbarkeit ist natürlich nicht auszuweichen. Mein Ausgangspunkt ist es, dass die Einzigartigkeit der Shoah eben nicht automatisch die Einzigartigkeit der Vergangenheitsbewältigung bedeutet. Die notwendige Abwehr einer Verharmlosung der Shoah durch Vergleichen soll nicht daran hindern, die Notwendigkeit ihrer Vergangenheitsbewältigung für an-

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heitsbewältigung15 und der komparative Forschungsrahmen bezieht sich dabei auf eine Formulierung Alfred Grossers: „Ich bleibe bei Vergangenheitsbewältigung nicht trotz, sondern wegen der Vieldeutigkeit des Begriffs Bewältigung. (…) Jeder Deutsche soll den Wunsch und den Willen haben, das Schicksal zu bewältigen, das die Verantwortlichen aus schweren Zeiten dem späteren Deutschland auferlegt haben. Jedes Opfer dieser Zeit, sollte es nach Gerechtigkeit streben, muß den Zorn, muß das Ressentiment bewältigen, das aus seinem und der Seinen Leiden entstanden ist. Bewältigen heißt weder abschütteln noch verneinen, wohl aber Herr werden über.“16

Die Implikationen dieser Definition der Vergangenheitsbewältigung sind vielfältig: Erstens ist das Phänomen als gegenseitiger Vorgang konzipiert. Der Bewältigungsprozess bedeutet demnach eine Zusammenarbeit von Tätern und Opfern, und den Opfern (samt den Überlebenden und deren Nachkommen) wird eine wesentliche Rolle in diesem Prozess zugewiesen. Zweitens wird der Zusammenhang zwischen Vergangenheitsbewältigung und nationalen Identitäten hervorgehoben. In dieser Hinsicht schließt sich Grosser Karl Jaspers’ Auffassung an, dass es zwar keine Kollektivschuld im kriminellen Sinne gebe, politisch aber eine „kollektive Haftung“ zu konstatieren sei.17 Grosser schreibt: „Es gibt nie und nirgends eine Kollektivschuld. Es gibt aber viele Kollektivhaftungen. Und in diesem Sinne tragen wir mit an den Konsequenzen von dem, was andere vor uns oder unter uns, in unserem Namen getan haben.“18 Die vorgestellte Arbeit über chinesische Vergangenheitsbewältigung achtet strukturell auf diese beiden relationalen und nationalen Prinzipien. Die kommunistische Schuld, die Schuld der Han-Chinesen und die Schuld der Anderen Relational und national lässt sich die Frage stellen: Mit welcher/n Vergangenheit/en soll sich chinesische Vergangenheitsbewältigung beschäftigen? In der 2009 erschienenen Ausgabe des Jahrbuchs für historische Kommunismusforschung ist ein Schwerpunkt der „Gegenwart der Vergangenheit im Reich der Mitte“ gewidmet. Darin setzen sich Susanne Weigelin-Schwiedrzik und Felix Wemheuer et al. mit verschiedenen Traumata und Themen der Zeitgeschichte Chinas auseinander, von dem Tiananmen-Massaker und der sich verändernden Bewertung der Biografie Mao Zedongs bis hin zu der Kulturrevolution und der Archivsituation.19 Chine-

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dere Nationen mittels des Vergleichs zu akzentuieren. Siehe das bahnbrechende Beispiel in Ostasien bei Iwabuchi Tatsuji: Die Vergangenheitsbewältigung und die japanische Literatur, Tokio 1997. Üblicherweise schreibt man den Ursprung des Begriffs Erich Müller-Gangloff zu. Siehe die Einleitung in König et al. (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung, 1998, S. 8. Alfred Grosser: Vergangenheitsbewältigung. Rede an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, gehalten am 18.5.1994, Jena 1994, S. 7 (Hervorhebung im Original). Karl Jaspers: Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, S. 56. Grosser: Vergangenheitsbewältigung, 1994, S. 8 (Hervorhebung M. C.). Siehe den Schwerpunkt „60 Jahre Volksrepublik China – Die Gegenwart der Vergangenheit im Reich der Mitte“ in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2009. Dazu auch Felix Wemheuer: Steinnudeln. Ländliche Erinnerungen und staatliche Vergangenheitsbewältigung

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sische ForscherInnen selbst haben sich auch mit diesen Themen und Wunden beschäftigt. Beispiele sind Wang Youqins Einsatz für die Erinnerung an die Opfer der Kulturrevolution,20 Ding Zilins Fürsprache für die „Mitleidenden“ (shounanzhe) während des Massakers vom 3. und 4. Juni 198921 und David Wangs Analysen der ‚Narbenliteratur‘ (shanghen wenxue).22 Daneben erschienen ungezählte Veröffentlichungen von chinesischen AutorInnen, die die ‚historische Wahrheit‘ aufbewahren oder die Lügen entlarven und zur chinesischen Vergangenheitsbewältigung beitragen wollen, indem sie gegen die (offizielle) Leugnung der historischen Fakten und die Abwehr der moralischen Last kämpfen. Diese Versuche thematisieren jedoch ausschließlich oder überwiegend die kommunistische Schuld und stiften stattdessen die von den ‚ganz gewöhnlichen‘ Chinesen selbst wahrgenommene Opferidentität. Das (unbeabsichtigte) Resultat dieses Umgangs mit der Vergangenheit ist eine Ausblendung der Schuld und Verantwortung des Han-Volkes gegenüber den Nicht-Han-Minderheiten (beziehungsweise Tibetern, Uiguren und Mongolen).23 Im Licht des Vergleichens kann man sagen, es wäre absurd, hätte sich deutsche Vergangenheitsbewältigung nur mit der ‚roten‘ Vergangenheit beschäftigt und nicht oder nicht hauptsächlich mit der ‚brau-

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der „Großen-Sprung“-Hungersnot in der chinesischen Provinz Henan, Frankfurt am Main u. a. 2007; Susanne Weigelin-Schwiedrzik: In Search of a Master Narrative for 20th-Century Chinese History, in: The China Quarterly 188 (2006), S. 1070–1091. Wang Youqin: Victims of the Cultural Revolution. An Investigative Account of Persecution, Imprisonment and Murder, Hongkong 2004. Normalerweise wird shounanzhe als ‚Opfer‘ übersetzt, also gilt der Unterschied zwischen ‚Opfer‘ und ‚Überlebender‘, der in den Diskursen über die Shoah allgemein befolgt wird, nicht. Hier aber hat Ding Zilin, selbst eine der ‚Tiananmen-Mütter‘, den Unterschied zwischen shounanzhe (diejenige, die gelitten haben) und sinanzhe (diejenige, die gestorben sind) gezogen. Siehe Ding Zilin: In Search of the Victims of June Fourth, Hongkong 2005, S. 2, 224. David Der-wei Wang: Of Scars and National Memory, in: The Monster That Is History. History, Violence, and Fictional Writing in Twentieth-Century China, London 2004, S. 148–182. Wangs Auffassung von Narbenliteratur reicht aber über die Texte zur Kulturrevolution hinaus. Zwar wird z. B. der 1959 Aufstand in Tibet in der „Zeittafel zur Geschichte der Volksrepublik China“ im Jahrbuch für Historische Kommunimusforschung 2009 registriert, dessen blutige Unterdrückung wird jedoch nicht als Thema chinesischer Vergangenheitsbewältigung behandelt. Erwähnenswert ist auch Gao Shuhuas Buch über die Kulturrevolution in der Inneren Mongolei. Als in der Inneren Mongolei geborener Han ließ sich Gao eher als Opfer in der zehnjährigen Katastrophe beschreiben; die Hauptopfer in seiner Schilderung der mörderischen Verfolgung der sogenannten ‚Neuen Volkspartei der Inneren Mongolei‘ sind auch Han-Chinesen (S. 359–378). Sein Hauptanliegen scheint es, die Schuld der ‚Propaganda-Einheit des Maoismus‘ der Volksbefreiungsarmee (junxuandui) zu betonen, nicht die Schuld der Han-Chinesen als solche (S. 375). Gao Shuhua: 內蒙文革風雲 [Die Kulturrevolution in der Inneren Mongolei], Hongkong 2007. Vgl. die Darstellung der Leiden der Mongolen unter den Han in David Sneath: The Impact of the Cultural Revolution in China on the Mongolians of Inner Mongolia, in: Modern Asian Studies 28 (1994) 2, S. 409–430. Die Werke der tibetischen Autorin Tsering Woeser erinnern an die Leiden der Tibeter unter den Han, da sie aber auch von der tibetischen Teilnahme an den Verbrechen während der Kulturrevolution sprechen, laufen sie Gefahr, von der falschen Seite missbraucht oder -verstanden werden. Tsering Woeser: 殺劫 [Verbotene Erinnerung: Tibet während der Kulturrevolution], Taipeh 2006; 西藏記憶 [Tibetische Erinnerung], Taipeh 2006. Die Erinnerungsarbeit Li Jianglins und Yu Jies (siehe unten) ist eine notwendige Ergänzung in dieser Hinsicht.

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nen‘ oder nur mit der deutschen Verfolgung der Deutschen, und nicht mit der deutschen Verfolgung der Anderen.24 Noch ein weiterer Aspekt wird in den gängigen Diskursen über chinesische Vergangenheitsbewältigung vernachlässigt: die Überwindung der eigenen Opferidentifizierung. Nach Grosser ist es Aufgabe der Opfer, der Überlebenden und deren Nachkommen nicht nur, nach Gerechtigkeit zu streben, sondern auch, den eigenen Zorn und das eigene Ressentiment zu bewältigen. Die Notwendigkeit dieser Aufgaben spüren jedoch einige Andersdenkende in China. So warnte Liu Xiaobo 2006: „Die ungetilgte Schande lässt das Hassgefühl unaufhörlich aufflammen, die zunehmende nationale Stärke führt zum Bewusstsein der Rache. Die Zusammenfügung der beiden verwandelt sich leicht zum gefährlichen aggressiven Kollektivbewusstsein“.25 Eine Mischung aus historischen Mythen und Halbwahrheiten, Selbstmitleid und Abschiebung der Schuld auf die Anderen sei laut dem Historiker Yuan Weishi die „Wolfsmilch“ (langnai), mit der man Generationen von Chinesen „ernährt“ habe und die in chinesischen Geschichtsbüchern bewältigt werden müsse.26 Notwendigerweise gehören zur chinesischen Vergangenheitsbewältigung auch diejenigen Versuche, mit der Schuld der Anderen und der gefühlten Opferidentität27 umzugehen. Dreierlei Beziehungen und Erinnerungen Die chinesische Vergangenheitsbewältigung betrifft deshalb dreierlei Beziehungen, in denen die Han-Chinesen sich als Täter (zum Beispiel gegenüber den Tibetern), Opfer (der Japaner) und beides (während der Kulturrevolution) erinnern oder erinnern können.28 Dieser Bruch mit der Versessenheit ausschließlich auf die kommunistische Schuld entspricht auch der Vorstellung jener Akteure, die Bewältigung betreiben und deren verschiedenen Aufgaben wahrgenommen haben. Einer der Wegbereiter der chinesischen Vergangenheitsbewältigung, Ba Jin, der in der Kulturrevolution verfolgt wurde, berichtete von einem Traum: „Ich muss es aussprechen vor allen Menschen! Nie wieder die großen Tragödien in Hiroshima und 24 25 26 27

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Siehe u. a. Christa Hoffmann: Stunden Null? Vergangenheitsbewältigung in Deutschland 1945 und 1989, Bonn 1992. Liu Xiaobo: 單刃毒劍:中國民族主義批判 [Kritik am chinesischen Nationalismus], Taipeh 2006, S. XXXI–II. Yuan Weishi: 現代化與歷史教科書 [Die Modernisierung und Geschichtsbücher], in: Bing Dian, 11.1.2006. In diesem Text geht es hauptsächlich um die chinesischen Erinnerungsorte der Begegnung mit europäischen Mächten. Siehe Werner Konitzer: Opferorientierung und Opferidentifizierung. Überlegungen zu einer begrifflichen Unterscheidung, in: Margrit Frölich, Ulrike Jureit, Christian Schneider (Hrsg.): Das Unbehagen an der Erinnerung. Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt am Main 2012, S. 119–127. Für eine Vorarbeit zu dem Thema siehe meinen Artikel: Rethinking, Reflection, Repentance: Comparing „Coming to Terms with the Past“ in Europe and China, in: EUAPHK Working Papers, Hongkong 2013, URL: http://europe.hkbu.edu.hk/euap/publication/Europe-China%20 VgB%20paper%20draft_17dec2013.pdf, letzter Zugriff: 15.7.2016.

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Nagasaki! Nie wieder die große zehnjährige Katastrophe der ‚Kulturrevolution‘!“29 Die Historikerin Li Jianglin, deren Mutter der Volksbefreiungsarmee (VBA) angehört, versucht ihre chinesischen Leser an das Tiananmen-Massaker von 1989 und das „Lhasa-Massaker“30 von 1959 zu erinnern. Diese Ereignisse seien die zwei einzigen Widerstände seit 1949, die von der VBA unterdrückt wurden und die militärischen Reaktionen „(teilten) viele Ähnlichkeiten“.31 Abgesehen von der Vertretbarkeit solcher Vergleiche oder Gleichsetzungen, ist nicht zu übersehen, dass das Sich-Erinnern als Opfer und das Sich-Erinnern als Täter in den primären Quellen miteinander verknüpft sind. Um die konkreten Themen dieses Forschungsprojekts zu formulieren, lasse ich mich von den zahlreichen bereits geleisteten Forschungen und Erfahrungen in Deutschland und Europa anregen.32 Zwei Forschungsrichtungen sind dabei als Bezugspunkte der Erforschung chinesischer Vergangenheitsbewältigung besonders interessant. Die erste Richtung umfasst die Themen politische Säuberung, Strafverfolgung, staatliche Wiedergutmachung, Wiederherstellung der Ehre der Opfer (chin. pingfan), Denk- und Mahnmale, offizielle Darstellung und Geschichtsschreibung (zum Beispiel in Museen), Außen- und Innenpolitik bezüglich tradierter Feindschaften und Verantwortungen – also der Bereich der „Vergangenheitspolitik“,33 die ‚von oben‘ oder aus dem Machtzentrum initiiert wird. Die zweite Richtung schließt diejenigen Sachverhalte ein, die eher ‚von unten‘ oder von der Zivilgesellschaft initiiert werden (können). Dazu gehören etwa Bekenntnisse, public apologies, Autobiografien und Erinnerungen der Mitleidenden, selbstkritische(r) Geschichtsschreibung und -unterricht, Dialoge zwischen Opfern und Tätern (oder deren Nachkommen), Darstellung und Kritik der Traumata in Literatur, Kunst und Philosophie. Diesen Komplex kann man insgesamt als „Erinnerungskulturen“34 bezeichnen. Zwar existieren unvermeidlich ‚Überlappungen‘ in den zwei Gruppen 29 30 31 32

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Ba Jin: Erinnerungen, 1988, S. II–132. Der Schriftsteller hatte nämlich die zwei japanischen Städte vor kurzem besucht. Li Jianglin: 1959 Lhasa!, Hongkong 2010, S. 10. Ebd., S. 11. Siehe u. a. Kathy Harms, Lutz R. Reuter, Volker Dürr (Hrsg.): Coping with the Past. Germany and Austria after 1945, Madison 1990; Petra Bock, Edgar Wolfrum (Hrsg.): Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999; Birgit Schwelling: Europäische Dimensionen des Erinnerns. Methodische Überlegungen in systematischer Absicht, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 3 (2012), S. 133–148. Peter Reichel vor allem hat seine eigene Gruppierung der Gegenstände entwickelt, die ich hier in Betracht ziehe. Peter Reichel: Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München 2004. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 2003. Über die Beziehung der Begriffe bemerken Cornelißen et al.: „Mit dem Begriff ‚Erinnerungskultur‘ ist in den letzten Jahren im Deutschen ein Begriff als Alternative zur Verwendung der vergleichsweise pathetisch konnotierten Formulierung ‚Vergangenheitsbewältigung‘ aufgekommen.“ Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer, Wolfgang Schwentker: Nationale Erinnerungskulturen seit 1945 im Vergleich, in: Dies. (Hrsg.): Erinnerungskulturen, 2004, S. 9–27, hier S. 12. Vgl. Aleida Assmann: „An die Stelle der Vergangenheitsbewältigung ist immer klarer die Vergangenheitsbewahrung getreten.“ In: Dies., Ute Frevert: Geschichtvergessenheit –

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und Interaktionen (beispielsweise in Bezug auf Geschichtsunterricht), die Relevanz der Unterscheidung besteht dennoch darin, deren potenzielle Ungleichheit hervorheben zu können. Methode: memory studies, reconciliation studies, Vergangenheitsressourcen Die Vielfalt und kulturelle Spezifik der im Forschungsprojekt zu bearbeitenden Quellen stellt eine große Herausforderung für die Auswahl der Methode dar. In der folgenden Skizze über chinesische Bekenntnisse – das heißt, Äußerungen, durch die sich Chinesen zu ihrer eigenen Täterschaft oder Verstrickung in die kollektive Schuld der Han bekennen – stütze ich mich auf den Ansatz der reconciliation studies und memory studies. Jan Assmann hat vor allem den Begriff „kulturelles Gedächtnis“ geprägt, der von „kommunikativem Gedächtnis“ zeitlich zu unterscheiden ist: „Sein wichtigstes Merkmal ist der beschränkte Zeithorizont. Es reicht in der Regel (…) nicht weiter zurück als 80 bis (allerhöchstens) 100 Jahre (…) Das kulturelle Gedächtnis hat seine Fixpunkte, sein Horizont wandert nicht mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit. Diese Fixpunkte sind schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten wird. (…) wir verdanken [Aby] Warburg den nachdrücklichen Hinweis auf die Kraft kultureller Objektivationen, ein kulturelles Gedächtnis zu stabilisieren, u. U. über Jahrtausende hinweg.“35

Eine der Fragen der vorliegenden Arbeit besteht – angelehnt an Assmann – darin, ob und wie das chinesische kulturelle Gedächtnis in die Vergangenheitsbewältigung des Landes eindringt. Die Analyse der Bekenntnisse zeigt, dass Gedanken aus dem chinesischen Altertum in der Bewältigung der jüngeren Vergangenheit aufgegriffen werden. Solche Bezüge sind seit langem auch Thema in den reconciliation studies. John Paul Lederach zeigt in seinem Buch Building Peace: Sustainable Reconciliation in Divided Societies, dass etwa Nicaraguaner einen Vers aus Psalm 85 zu rezitieren pflegten, um Versöhnung nach dem Bürgerkrieg zu begründen.36 Das kommunikative Gedächtnis über Verbrechen in der erlebten Vergangenheit wurde mit dem kulturellen Gedächtnis ‚umhüllt‘. Demnach entwickelt Lederach seinen Forschungsrahmen für die Versöhnungsprozesse in Lateinamerika, also die Spannungen zwischen den „faszinierenden Paradoxien“ (das heißt Wahrheit und Friede, Gnade und Gerechtigkeit), die in dem rezitierten Vers37 erwähnt sind.38 Auch in der deutschen Geschichte der Vergangenheitsbewältigung kann man das langlebige kulturelle

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Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 146. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann, Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9–19, S. 11 f. John Paul Lederach: Building Peace: Sustainable Reconciliation in Divided Societies, Washington D. C. 1997, S. 28. Ps 85:10. Lederach, Building Peace, 1997, S. 28.

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Gedächtnis spüren. Aleida Assmann verfolgt zum Beispiel einige „Schlagworte“ in den vergangenheitsbezogenen Debatten, die inhaltlich auf deren biblische Wurzeln zurückzuführen seien.39 Methodisch befassen sich diese bahnbrechenden Forschungen hauptsächlich mit Sprache40 in Versöhnungsverhandlungen und Auseinandersetzungen um die Vergangenheit im kommunikativen Gedächtnis. Sie belegen deren Verbindung mit Begriffen und Geschichten im kulturellen Gedächtnis und zeigen etwa, dass die geistigen Vermächtnisse aus der ferneren Vergangenheit Ressourcen für den Umgang mit der näheren Vergangenheit sind, der von verschiedenen Hindernissen (beispielsweise dem Vergessen-, Verharmlosen-, Selbstrechtfertigenwollen) belastet ist. Dieses Erbe kann als „intellektuelle Ressource“ (sixiang ziyuan)41 für Vergangenheitsbewältigung verstanden werden. Als Methode zur Erforschung der chinesischen Vergangenheitsbewältigung wird dabei das Ressourcen-Paradigma verwendet. Ausdrucksformen in den primären Quellen (in diesem Fall Bekenntnisse) werden analysiert und bestimmte Hindernisse, Ressourcen (oder neue Erfindungen) werden dargestellt. Hindernisse und Ressourcen: Das Sich-Erinnern-als-Täter in chinesischen Bekenntnissen Eine Gruppe von Quellen des hier vorgestellten laufenden Forschungsprojekts sind die chinesischen Bekenntnisse, die bisher nur wenig erforscht sind.42 Diese werden hier analysiert und in Beziehung gesetzt zu den relativ selteneren Äußerungen, in denen sich chinesische Intellektuelle selbstkritisch den schwer belasteten han-tibetanischen und han-uigurischen Beziehungen stellen. Seit 2004, als Yu Jie seine Umkehr zu Tibet (xiang Xizang chanhui) in Hongkong veröffentlichte, sind chinesische Äußerungen von „chanhui“43 mehrfach in verschiedenen Teilen Chinas zu hören.44 So veröffentlicht etwa die Zeitschrift Yan39 40

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Assmann, Frevert: Geschichtsvergessenheit, S. 59, 80. In einer weiteren Studie bezieht sich Lederach auf die tibetanische Klangschale als „Heilinstrument“, die er als Denkmodell für Versöhnung darstellt. John Paul Lederach, Angela Jill Lederach: When Blood and Bones Cry Out: Journeys through the Soundscape of Healing and Reconciliation, New York 2011, S. 89. Den Begriff entnehme ich aus Liu Zaifu, Lin Gang: 罪與文學 [Die Schuld und die chinesische Literatur], Hongkong 2002, S. 145. Über Bekenntnis oder „Schuld“ (zui) als Grundmotiv in der chinesischen Literatur siehe ebd. Dazu auch die jüngsten Bewertungen chinesischer Selbstkritik im Altertum. Wei Xin: Criticizing Oneself is not Penitence – Definition of the Imperial Edicts about Criticizing Oneself from the Imperial Edicts of Western Han Dynasty, in: Journal of Southwest Jiaotong University 15 (2014) 2. Der chinesische Begriff ist aus dem Buddhismus hergeleitet und findet sich in mehreren hanbuddhistischen Texten, z. B. dem Bußgebet des Kaisers Liang. Zum Vergleich mit ähnlichen Begriffen in anderen Religionen siehe Malcolm David Eckel: A Buddhist Approach to Repentance, in: Amitai Etzioni, David E. Carney (Hrsg.): Repentance. A Comparative Perspective, Lanham u. a. 1997, S. 122–142. Sicherlich gab es auch vor Yu Jies „Umkehr“ chinesische Diskurse über Schuld und Verantwortung, einschließend public apologies zur Kulturrevolution. Auch selbstkritische, von der

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huang Chunqiu seit 2008 die Rubrik „Umkehr“ (chanhuilu),45 in der bislang etwa achtzehn Bekenntnisse veröffentlicht wurden. Der erste Beitrag dieser Reihe war Wang Kemings „Ich schlug Gu Zhiyou“.46 Er und weitere Autoren forderten auch andere ehemalige Rotgardisten auf, Bekenntnisse zu veröffentlichen. Das Resultat dieser inzwischen mehrjährigen Bemühungen ist der oben erwähnte Sammelband von Bekenntnissen Wir tun Buße.47 Auch in Zeitungen wie Südliches Wochenende erschienen (auf Initiative der Historikerin Wang Youqin) einige persönliche Abbitten, die eine breite Aufmerksamkeit erfuhren.48 Aufregung wiederum veranlassten Liu Boqins Abbitte-Anzeige und Chen Xiaolus Entschuldigungsbrief Mitte 2013 sowie Song Binbins umstrittene Rede über „Abbitte und Dankbarkeit“ im Januar 2014.49 Es liegt mir fern, die Ehrlichkeit dieser Äußerungen zu bewerten, wie einige es getan haben.50 Ziel des Forschungsvorhabens ist es zu zeigen, wie Schuld und Verantwortung zugeteilt werden im chinesischen Gedächtnis, mit welchen intellektuellen Ressourcen oder mit welcher sozialen Unterstützung das Sich-Erinnern als Täter zum Ausdruck gebracht wird und ob Ähnlichkeiten mit europäischen Erinnerungskulturen zu erkennen sind. Festgestellt werden kann bereits jetzt: Neben den erwarteten Unterschieden (zum Beispiel die Anwendung buddhistischer und kommunistischer Begriffe) lassen sich unerwartete Ähnlichkeiten zwischen europäischen und chinesischen Erinnerungskulturen beschreiben.

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offiziellen Position abweichende Meinungen über Tibet von chinesischen Intellektuellen sind nicht ganz neu. Aber in Betracht der Länge beschränkt sich der Autor im vorliegenden Beitrag hauptsächlich auf die neuesten Erscheinungen der chanhui; die Analyse dieser früheren Diskurse und Beiträge sowie deren Unterschiede zu den späteren (z. B. zwischen dem Selbstbekenntnis als Täter und der Diskussion über die Schuld anderer), kann hier nicht geleistet werden. Siehe Yu Kaiwei (Hrsg.): 懺悔還是不懺悔 [Umkehren oder nicht], Peking 2004; Cao Changqing (Hrsg.): 中國大陸知識分子論西藏 [Stellungnahmen festlandchinesischer Intellektuellen über Tibet], Taipeh 1996. Anderswo ist diese Rubrik als „Bedauern“ übersetzt. Laut dem Chefredakteur der Yanhuang Chunqiu sei die Rubrik in seiner Zeitschrift „ein Forum der [chinesischen] Vergangenheitsbewältigung“. Sven Hansen: Geschichte der Anderen. Chinas Blick auf deutsche Vergangenheitsbewältigung, in: Boell.de, URL: http://www.boell.de/en/node/275908, letzter Zugriff: 15.10.2014. Wang Keming: 我打谷志有 [Ich schlug Gu Zhiyou], in: Yanhuang Chunqiu (2008) 5, S. 132– 140. Vorher aber hatte schon Wu Si, der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift, sein eigenes Bekenntnis (nicht so benannt, aber in gleicher Gesinnung) als „Linksextremist“ vorgelegt. Wu Si: 我的極左經歷 [Meine linksextreme Erfahrung], ebd. (2007) 7, S. 47–55. Einige unter diesen sind aber Nachdrucke, wie z. B. Shi Tieshengs „Erinnerung an die Reue“. Wang Youqin: 帶了個好頭: 紅衞兵道歉 [Ein guter Anfang. Die Abbitte der Rotgardisten], in: Südliches Wochenende, 22.10.2010; 紅衞兵的懺悔「老師,對不起」[Die Umkehr der Rotgardisten. „Es tut mir Leid, meine Lehrerin“], in: Apple Daily, 27.10.2010. Liu Boqin: 鄭重道歉 [Eine Abbitte im Ernst], in: Yanhuang Chunqiu (2013) 6, S. 83; 陳毅之 子陳小魯就文革批老師道歉 [Chen Xiaolu, Sohn Chen Yis, entschuldigt sich für die Kritik gegen die Führungsspitze seines Gymnasiums während der Kulturrevolution], in: Wen Wei Po, 21.8.2013; Song Binbin: 我的道歉和感謝 [Meine Abbitte und Dankbarkeit], in: Open Magazine (2014) 2, S. 51 f. Siehe die kritischen Bewertungen von Song Binbins Abbitte in der Ausgabe Februar 2014 des Open Magazine.

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Gegen die (gefühlte) Opferidentität: Der Schuldbegriff und das Bußbedürfnis Eine dieser Ähnlichkeiten besteht in den Verständnissen von Schuld und Bußbedürfnis. Die Entscheidung für ein Sich-Erinnern als Täter hängt unter anderem von dem gewählten Schuldbegriff ab; je enger die Definition von Schuld und Verantwortung ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass man sich nicht als Schuldiger betrachtet, der sonst der Buße oder chanhui bedürfte. Eher erinnert man sich als Unschuldiger oder gar Opfer. Wie eine der Bekennenden sagt: „Hinsichtlich der Umkehr lautet das am häufigsten zu hörende Wort zur eigenen Verteidigung ‚Ich bin auch Opfer‘.“51 In dem Einladungsbrief der Herausgeber des Sammelbands Wir tun Buße machen die Initiatoren einen begrifflichen Versuch, dieses ‚Denkhindernis‘ zu überwinden: „Wir haben uns gefragt: Wofür Buße tun? Wir sind eigentlich die Opfer der Kulturrevolution, deren unendlichen bösen Folgen immer noch von unzähligen Menschen getragen werden. Wir haben die Kulturrevolution nicht verursacht (…) wir gehorchten nur und hatten keine Wahl – [die Initiatoren der Kulturrevolution] tun keine Buße, wozu sollen wir dies tun? (…) Das persönliche Gewissen fordert unsere Umkehr. Nicht alle Menschen haben in diesen chaotischen Zeiten Fehler gemacht (…) unsere Gewalt- und Schandtaten haben uns tatsächlich zu Aktivisten in der Kulturrevolution gemacht, also zu Mit-Sündern (zuiguo canyuzhe). (…) Die sozialen Folgen fordern unsere Umkehr. So wie die deutsche Jugend, die ihrem ‚Führer‘ gehorchte, hat unsere Teilnahme an der Verletzung der Freiheit die objektiven Konsequenzen, dass andere Menschen und die Gesellschaft Schaden leiden. (…) Die politische Verantwortung fordert unsere Umkehr. Die Initiatoren sind zwar nicht von den Bürgern gewählt geworden (…), aber nur durch unsere primitive [Loyalität] konnten die diktatorischen Mächte so rücksichtslos sein. (…) Die kulturelle Verantwortung fordert unsere Umkehr. (…) Weil wir [den Kaiserkult] geerbt und verkündet haben (…), müssen wir uns die Frage stellen, wie wir zur Humanität beitragen sollen. (…) Die historische Verantwortung fordert unsere Umkehr. (…) Obwohl mich keine Schuld [des Initiierens] trifft, haben wir trotzdem zugeschaut und gefehlt. Die Zeugen einer Katastrophe haben die Verantwortung, ein zivilisiertes System aufzubauen, das die Gewalt, den Massenwahn einschränkt (…).“52

Diese fünfteilige, von den chinesischen Bekennenden vorgeschlagene Form der Buße unterscheidet sich in gewissem Maße von Karl Jaspers’ vier Kategorien von Schuld, insbesondere hinsichtlich philosophischer Klarheit und der metaphysischen Dimension.53 Dennoch teilen beide einen wesentlichen Aspekt: das expansive Ethos. So wie nach dem Jaspersschen Schuldbegriff kaum ein 1945/46 lebender Deutscher sich noch als unschuldig betrachten konnte,54 kann kein chinesischer Zuschauer der Kulturrevolution noch darauf bestehen, dass er nicht umkehren muss, nachdem er dieses Bußverständnis im Ganzen oder auch nur zum Teil akzeptiert hat. Jedenfalls wird es schwieriger, sich nur als Opfer zu betrachten, ohne 51 52 53 54

Hu Jian: 艱難懺悔 [Die schwierige Umkehr], in: Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. 98. Über dieses Problem im Zusammenhang der han-tibetischen Beziehung siehe Cao (Hrsg.): Stellungnahmen über Tibet, 1996, S. 201. Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. 373 f. Hervorhebung M. C. Jaspers: Die Schuldfrage, 1946, S. 63–65. Ebd., S. 31 f.: „Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig (…) Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich“.

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eigenes Fehlverhalten und eigene Verantwortung zu berücksichtigen. Ohne dieses anspruchsvolle „Vorverständnis von Schuld und Entschuldigung“55 wäre die teilnahmsvolle Bußübung unmöglich. Ein solches expansives, die eigene Schuld aktiv wahrnehmendes – also sicheinschließende, aber nicht sich-auflösende56 – Ethos ist auch in Yu Jies Botschaft der Buße zu finden. Als Andersdenkender in China, dessen langjährige und andauernde Verfolgung durch das Regime weithin bekannt ist, hält Yu es trotzdem für angebracht, über seine eigene Schuld gegenüber den Tibetern zu sprechen und nicht nur über die kommunistische Schuld. „Obwohl ich nie direkt oder indirekt an der Verfolgung [der Tibeter] teilgenommen habe, als Intellektueller des HanVolkes aber habe ich mein Unwissen und Schweigen über die Verbrechen meiner Volksgenossen jahrelang bewahrt. Hierin besteht die schamhafte Haltung. Ich muss die schwere Sünde (zuinie) meines Volkes mitverantworten, ich muss zu Tibet umkehren (chanhui)“.57 Um die nationale Schuld zu betonen und sie nicht hinter der Schuld der kommunistischen Herrschaft verschwinden zu lassen, benutzte Yu, der erst 1973 geboren ist, in einem früheren Aufsatz über „unsere Schuld“ in der Kulturrevolution Lu Xuns (1881–1936) Diagnose der chinesischen Gesellschaft als eine jahrtausendealte Überlieferung des „Kannibalismus“. „Lu Xun schrieb im Tagebuch eines Verrückten: ‚Erst heute begreife ich, dass dieser Ort, an dem vier Jahrtausende lang häufig Kannibalismus praktiziert wurde, auch jener Ort ist, an dem ich mich für viele Jahre herumtrieb; (…) nicht ganz versehentlich habe ich vielleicht auch einige Stückchen Fleisch meiner Schwester gegessen …‘ (…) Lu Xun erklärte hier ganz eindeutig, warum wir alle schuldig sind, warum wir alle Buße tun müssen.“58 Die Schuld und die Verantwortung der Nachgeborenen zählen sicherlich zu den zentralen Auseinandersetzungen selbst im ‚Geburtsland‘ der Vergangenheitsbewältigung. Hier versuchte Jürgen Habermas zu argumentieren, dass auch die deutschen Nachgeborenen „Lebensform“ und „Lebenszusammenhang“ der vorherigen Generationen teilen und daher „Mithaftung“ für die Verbrechen der Vorherigen zu übernehmen haben.59 55 56

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Jürgen Habermas: Warum ein Demokratiepreis für Daniel J. Goldhagen? Eine Laudatio, in: Die Zeit, 14.3.1997. Dies passiert, wenn man sich hinter einem universalen Schuldbegriff, der die Partikularität der eigenen Schuld ausblendet, zu verstecken versucht. Das war für Jaspers das Problem mit dem Diskurs über die „Schuld des Menschseins“ und die „Erbsünde“ in Nachkriegsdeutschland. Jaspers: Die Schuldfrage, 1946, S. 87 f. Yu Jie: 向西藏懺悔 讀雪山下的火焰 一個西藏良心犯的證言 [Die Umkehr zu Tibet. Die Lektüre des Buchs Fire under the Snow], in: Open Magazine (2004) 6, S. 80. Hervorhebung zugefügt. Es ist natürlich nicht selbstverständlich, dass Schweigen und Unwissen Schuld erzeugen. Wang Lixiong war z. B. der Meinung, dass das Han-Volk keine Schuld gegenüber den Tibetern habe, weil beide unter der kommunistischen Herrschaft leiden. Siehe Wang Lixiong: 天葬: 西藏的命運 [Die Himmelsbestattung. Das Schicksal Tibets], Ontario 1998, S. 240–242. Yu Jie: 我們有罪,我們懺悔 [Wir haben Schuld, wir tun Buße], in: Ders.: Daxiang Luntan. Ai Yu Tong de Bianyuan, Zhengzhou 2001, S. 123 f. Jürgen Habermas: Vom öffentlichen Gebrauch der Historie, in: Die Zeit, 7.11.1986. Interessanterweise ist Habermas’ Argument die umgekehrte Fassung der generellen Gegner von Vergangenheitsbewältigung: Auch diese sprechen von der ‚untrennbaren Verbindung‘ der Generatio-

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Gegen das Vergessenwollen: Die Beiträge der Opfer und das kollektive Gedächtnis Ein weiteres Hindernis der Vergangenheitsbewältigung ist das Vergessenwollen. Weil es eine allgemeine Tendenz ist und so auch in der abendländischen Geschichte üblich,60 stellt es für Opfer und Akteure der Vergangenheitsbewältigung noch eine größere Herausforderung dar als die gefühlte Opferidentität. Die hier analysierten chinesischen Bekenntnisse zeigen, dass die Opfer und die Überlebenden diesbezüglich anstoßgebend mitwirken können. Yu Jies „Umkehr“ ist in der Tat eine Antwort auf das Zeugnis eines tibetanischen Überlebenden, Palden Gyatsos.61 Dessen „mit Frieden und Toleranz erfüllte Erzählung“ über sein eigenes und seines Volkes Leiden sei „ohne Hass und Verbitterung“, „[d]ies ist mir besonders erstaunlich“.62 Auch in dem Bekenntnis Wang Kemings ist eine solche Äußerung der Buße als Erwiderung auf die erfahrene Barmherzigkeit zu spüren. „[Das Opfer] redete nie vor mir von den Schlägen und Kritiksitzungen, die er erlitten hatte, aber half mir häufig (…) Als er gutes Essen bekam, erinnerte er sich immer an mich (…) Als ich krank im Bett lag, ließ er Nudeln vorbereiten (…) Mein Herz wurde sauer, ich kehrte mein Gesicht um und weinte still“.63 Der von Wang Kemings selbst genannte Wegbereiter, der Schriftsteller Shi Tiesheng, folgte Qian Zhongshus Vorschlag zur „Erinnerung an die Reue“ und legte sein eigenes Bekenntnis ab. „Jahrelang bewahrte ich etwas im Herzen auf und wusste nicht, wie man damit umgehen konnte. Vor kurzem las ich [Qian Zhongshus Text über Reue und Erinnerung], er sagte: Wenn man als ganz gewöhnlicher Bürger seine Memoiren [über die Kulturrevolution] aufschreiben wolle, müsse er wohl von seiner ‚Erinnerung an die Reue‘ reden. Dieser Satz hat meine Sache im Herzen berührt. (…) Ich dachte, ja, es ist Zeit, jenes Geschehnis schwarz auf weiß zu dokumentieren (…).“64

Die Opfer, die der Buße nicht bedürfen, sind also in der Lage, zur Umkehr der Bußbedürftigen beizutragen, indem sie ihnen ihre Erinnerungen und Mahnungen, Ermunterung und Einsicht mitteilen.

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nen, aber ziehen daraus einen ganz anderen Schluss – daher müssten die Nachkommen die Ehre der Vorväter verteidigen und nicht so viel, wenn überhaupt, über ihre dunkle Vergangenheit reden. Siehe Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, Bonn 2010. Palden Gyatso, Tsering Shakya: Fire under the Snow. Testimony of a Tibetan Prisoner, London 1997. Yu Jie: Umkehr zu Tibet, 2004, S. 80. In gleicher Einstellung beantwortete Yu das Zeugnis Woesers. Yu Jie: Reign of Terror on the Tibetan Plateau. Reading Woeser’s Forbidden Memory. Tibet During the Cultural Revolution, in: China Perspectives (2008) 1, S. 104–108. Wang Keming: Ich schlug Gu Zhiyou, 2008, S. 65. 人性復興是最偉大的復興 我們懺悔前言 [Vorwort. Die Renaissance der Humanität ist die größte Renaissance], in: Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. vi. Shi Tiesheng: Erinnerung an die Reue, 1996, S. 106. Über Shis Begeisterung für den Sammelband siehe Wang Keming: 史鐵生與三本書 [Shi Tiesheng und drei Bücher], in: Yanhuang Chunqiu (2012) 4, S. 64–67.

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Gegen das Vergessen kann auch das soziale Milieu eine konstruktive Rolle spielen. So Song Xiaoming, einer der zwei Herausgeber neben Wang Keming: „Ich bin’s, der diese Sache zur Sprache gebracht hat. Am Anfang war das Abiturtreffen. Zweimal hatten wir uns heftig Vorwürfe gemacht, Erklärungen versucht, angeprangert, geschrien (…) dann dachte ich über mich und uns nach.“65 In mehreren Erzählungen ließen die Bekennenden erkennen, dass die Erinnerungen an die eigenen Übeltaten in der Kulturrevolution „plötzlich“ in Gruppensituationen zurückgekommen seien. „Eine der Bekannten sagte während des Abiturtreffens, dass sie nichts Schlimmes in der Kulturrevolution getan, keinen einzigen Lehrer bekämpft, niemanden geschlagen, keine Durchsuchung gemacht hätte. Dann erwiderte eine Mitschülerin mit ihrer kleinen Stimme, ‚Du hast mein Zuhause durchsucht …‘. Plötzlich war die Tür der Erinnerung aufgeschlagen! Diese Stimme erinnerte sie an jenes Erlebnis. (…) Sie hatte damals nicht gewusst, dass es sich um die Wohnung ihrer Mitschülerin handelte; sie glaubte, dass die Wohnung einem Demokraten gehöre.“66 Maurice Halbwachs’ These vom kollektiven Gedächtnis findet auch hier ihre Bestätigung: dass sich „eine Person nur erinnert, wenn sie sich auf den Standpunkt einer oder mehrerer Gruppen und einer oder mehrerer kollektiven Denkströme versetzt“.67 So wie das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1945 keine bloße eigensinnige Äußerung war, sondern veranlasst worden war durch den unerwarteten Besuch kirchlicher Leiter unter anderem aus vormals von Deutschen besetzten Ländern und deren Versuch, die verletzten Beziehungen wiederherzustellen,68 sind auch die chinesischen Bekenntnisse oft Antworten auf die (außerordentliche) Initiative der Leidenden. Es sieht sogar so aus, dass die Beiträge der Opfer und Mitleidenden zur Erinnerung und chanhui der Täter und Mitläufer manchmal unentbehrlich sind,69 rückt man etwa neben den Bekenntnissen die selbstkritische han-chinesische Geschichtsschreibung und Politikanalyse zur Minderheitsfrage in den Blick. Wang Lixiong hat selbst gesagt, dass sein Verständnis der han-uigurischen Problematik nicht möglich wäre ohne die Offenheit seines uigurischen Gesprächspartners „Mokhtar“, den er im Gefängnis kennenlernte.70 Oder Li Jianglins Forschungen über das „Lhasa-Massaker“ von 1959 wurden auch durch die Bereitschaft der tibetanischen Befragten ermöglicht, über ihre erlebten Leiden zu sprechen. Über sie sagte Li: 65 66 67 68 69 70

Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. 15. Neben dem Abiturtreffen nannte Song auch die Besichtigung der zerstörten Gebäude und die Spuren der Parolen als Anlässe zum Nachdenken. Hu Jian: Schwierige Umkehr, 2014, S. 93 f.; Liu Boqin: Abbitte im Ernst, 2013, S. 83. Maurice Halbwachs: The Collective Memory (übers. von Francis J. Ditter, Jr.), New York 1980, S. 33. Willem A. Visser't Hooft: Die Welt war meine Gemeinde. Autobiographie, München 1972, S. 230–231. Daraus folgt natürlich nicht, dass die Unbelehrbarkeit einiger Täter die ‚Schuld‘ der Opfer ist. Denn es besteht kein ‚Vertrag‘ für freiwillige Hilfe. Wang Lixiong: 我的西域, 你的東土 [Mein Westgebiet, Dein Ostland], Taipeh 2007, S. 7 f. Angeblich hat Wang das Vertrauen seines Gegenübers dadurch gewonnen, weil er selbst als han-chinesischer Andersdenkender verfolgt wurde.

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„Ich weiß, dass sie ihre höchst anspruchsvollen Erinnerungen bloßlegen müssen, wenn sie sich meiner Befragung zur Verfügung stellen. Während des Erzählens müssen sie die Leiden wiedererleben, die in ihrem Herzen jahrzehntelang bewahrt wurden. (…) Genau diese Geschichten der gewöhnlichen Menschen (…) haben mich gelehrt, jene Geschichte durch einen anderen Blickwinkel zu betrachten. Im tibetanischen Volk lebt diese Geschichte noch, sie schmerzt es noch.“71

Um die ihr vorgeworfene ‚Nestbeschmutzung‘ vor ihrem chinesischen Publikum zu rechtfertigen, verwandte Li eine Ressource aus der Geschichte. „In der Antike sagte man: ‚Die Geschichte als Spiegel benutzen‘ (yishi weijian). (…) Wir müssen das Geschehnis von 1959 erneut beurteilen (…), uns mit der Propaganda und der geschichtlichen Wirklichkeit auseinandersetzen (…), sonst werden wir nie das Trauma des tibetanischen Volkes verstehen“.72 An dieselbe Überlieferung appellierte Wang Youqin zum Gedanken der Opfer der Kulturrevolution: „China ist kein Land mit einer religiösen Tradition. Aber China hat eine Tradition der Geschichtsschreibung. Dadurch lernt man das Richtige von dem Irrigen und das Gute von dem Bösen zu unterscheiden“.73 Gegen die politische Instrumentalisierung der Buße: Vergangenheitsressourcen aus dem Altertum Auch der buddhistische Weg der chanhui ist eine Ressource aus der fernen Vergangenheit. Diese Ressource ist im heutigen China besonders nötig, wo der Begriff „chanhui“ selbst zum Opfer der politischen Instrumentalisierung geworden ist. Denn auch während der Kulturrevolution hatten nicht wenige vor der kommunistischen Herrschaft „Buße“ getan. Einer der Bekennenden, Professor Qian Liqun von der Universität Peking schrieb: „Damals tat ich ‚Buße‘ für die ‚Erbsünde‘ als Intellektueller. Ich nahm die ‚Umarbeitung‘ (gaizao) an, und damit verzerrte und verlor ich mich: das war meine unvergessliche Lektion.“74 Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Herausgeber den Sammelband der Bekenntnisse mit einem „Sondervorwort“ einleiten, das eigentlich eine Sammlung von anderen Auslegungen des Begriffes chanhui ist. Damit wird wohl ausgesagt, dass es sich nicht um die ‚Buße‘ kulturrevolutionärer Art handelt. Viele unter diesen kurzen Stellungnahmen beziehen sich auf den Buddhismus als Bedeutungsquelle der Umkehr. Das Avatamsaka-Sutra zum Beispiel wurde zitiert, um den Begriff chan zu erklären.75 Ebenso werden Begriffe und Vorschriften aus dem Konfuzianismus wie zixing (über sich reflektieren) und gaiguo (Fehler korrigieren) als Referenzquelle herangezogen.76 Uralte Texte wie die „Verordnungen der Selbstbeschuldigung“ (zui ji 71 72 73 74 75 76

Li Jianglin: 1959 Lhasa!, 2010, S. 13 f. (Hervorhebung M. C.). Ebd. Jin Zhong: 訪問文革研究者王友琴 [Ein Gespräch mit der Kulturrevolutions-Forscherin Wang Youqin], in: Open Magazine (2014) 2, S. 40. Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. (11); Sun Jingxuan: 毫無意義的糾纏 [Bedeutungsloses Zanken] in: Yu Kaiwei (Hrsg.): Umkehren oder nicht, 2004, S. 278. Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. (3)-(4). Vgl. Liang Huang Chan 5:9 (Taipeh 1986, S. 400 f.). Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. (9), (21).

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zhao) – in denen sich die Könige und Fürsten im chinesischen Altertum anklagend zu äußern pflegten – sind erwähnt und werden mit dem Kniefall Willy Brandts verglichen, um den Mangel an Buße ‚von oben‘ im heutigen China doppelt zu beklagen.77 Auch Lu Xuns scharfsinnige Einsichten zählen zu den Leitmotiven in den Analysen (manchmal auch Verurteilungen) der Gesellschaft während der Kulturrevolution.78 Insgesamt kann man klar sehen, dass es die Strategie der Bekennenden ist, geistige Ressourcen aus dem vorkommunistischen China oder Ausland79 zu nutzen, um die jüngere Vergangenheit zu bewältigen. Wie wichtig oder sogar notwendig die Anwendung älterer Ressourcen ist, zeigt sich in den folgenden Beispielen, in denen man fragwürdigerweise die kommunistische Vergangenheit mit kommunistischen Mitteln zu bewältigen versucht. In manchen Bekenntnissen fällt auf, dass die kommunistische Gesinnung immer noch auf das Geschichts- und Moralverständnis einwirkt. Marx’ Verurteilung der Zerschlagung der Pariser Kommune wird mehrmals zur Verurteilung der ‚Hauptschuldigen‘ der Kulturrevolution herangezogen.80 Dessen Zitat81 war schon direkt nach der zehnjährigen Katastrophe in Zeitschriften zu lesen, ähnlich in der Stigmatisierung der ‚Viererbande‘.82 Das Problem besteht darin, dass das Marx-Zitat schon vor dem Ende der Kulturrevolution häufig benutzt wurde, um die ‚Parteifeinde‘ zu diffamieren.83 Jene frühen Reflexionen im Nachgang der Kulturrevolution, die zur Bewältigung der jüngsten Vergangenheit beitragen sollten, klingen also eigentlich nicht so unterschiedlich als die vorherige Propaganda. Nur die Namen der ‚Feinde‘ sind geändert. Daher der berechtigte Verdacht, dass diese ebenso wie jene nicht ‚authentisches‘ Umdenken über die Katastrophe, sondern ‚von oben‘ produzierte Worte seien.84 77 78 79 80 81

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Ebd., (6), 217; Hou Yijie: 古今罪己詔 [Zui Zi Zhao damals und heute], in: Yanhuang Chunqiu (2013) 5, S. 83–85; Wang Yeyang: 漢武帝與輪台罪己詔 [Kaiser Wu der Han-Dynastie und die Lun Tai Zui Zi Zhao], ebd. (2005) 4, S. 73 f. Lu Xuns Texte und Denken sind mehrfach von verschiedenen Bekennenden zitiert. Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. (11), 14, 16, 198. Neben Deutschland ist Südafrika das „Musterland“ der Versöhnung durch Buße. Wang Keming: Renaissance der Humanität, 2014, S. x. Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. 219, 377. Marx: „Das Paris der Arbeiter, mit seiner Kommune, wird ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft. Seine Märtyrer sind eingeschreint [sic] in dem großen Herzen der Arbeiterklasse. Seine Vertilger hat die Geschichte schon jetzt an jenen Schandpfahl genagelt, von dem sie zu erlösen alle Gebete ihrer Pfaffen ohnmächtig sind.“ Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Ders.: Marx Engels Werke 17. Bd., Berlin 1983, S. 362 (Hervorhebung M. C.). Wang Yi: 把四人幫永遠釘在歷史的恥辱柱上 [Die Viererbande an den Schandpfahl der Geschichte für immer und ewig nageln], in: Journal of Hubei University (1977) Z1, S. 77–81; Zou Junmeng: 評古為幫用的影射史學 [Die Instrumentalisierung der Geschichte der Viererbande], in: Journal of Shanxi Teachers University (1977) 4, S. 50–56; Shi Ping, 四人幫和巴枯 寧是一丘之貉 [Die Viererbande und Bakunin sind vom gleichen Schlag], in: Journal of Philosophy and Social Sciences of Fujian Normal University (1977) Z1, S. 120–123. Gong Junsi: 評李秀成的投降主義路線 [Kritik der kapitulationistischen Linie Li Xiuchengs], in: Journal of Social Sciences of Jilin University (1975) 6, S. 46–49; Wen Shaohua, Ding Xianjun: 辛亥革命時期的一個投降派 汪精衞 [Wang Jingwei. Kapitulationist während der Xinhai-Revolution], ebd., S. 37–45. Yu Jie ist auch das Problem der „Sprache“ bewusst. Ders.: Wir haben Schuld, 2001, S. 111–113.

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Die Schwierigkeit besteht darin, kommunistische Vergangenheit mit kommunistischem Gedankengut aufzuarbeiten, wenn solche Denkweisen zu den Bestandteilen des noch zu lösenden Problems gehören.85 Qian Liqun, der keine Wiederholung der ‚Buße‘ kommunistischer Art haben will, unterscheidet die alte und die neue Buße und warnt vor der Gefahr der ‚Umarbeitung‘: „Die geistige Umarbeitung (sixiang gaizao) schließt das Reflektieren des Intellektuellen ein. (…) Sie ist aber eine Falle, die viele schwere Konsequenzen verspricht (…) Die Buße des Christentums und die Bildung (xiuyang) des Konfuzianismus sprechen von dem Wunsch, dass man sich nach einem bestimmten idealen Charakter oder sittlichen Maßstab verbessert. Der ideale Maßstab des Christentums ist der jenseitige Gott; der ideale Charakter des Konfuzianismus ist der Weise (shengxian) in der Geschichte. Der Maßstab der geistigen Umarbeitung Chinas aber ist von der Partei bestimmt; man reflektiert über sich ‚nicht vor Gott oder den vorgestellten Menschen des Altertums, nicht vor sich selbst, sondern der Partei,‘ sie ist ein diesseitiges mächtiges Dasein. Die geistige Umarbeitung zielt daher nicht darauf, die Ideale des Charakters und der Sitten zu verwirklichen, sondern sich an die Forderungen der Partei anzupassen.“86

Die Buße, die Qian Liqun empfiehlt und übt, ist daher eine ganz persönliche, nicht von außen eingeforderte. Sie sei eine persönliche Wahl, die jeder nur für sich treffen könne und die das „innerliche Leben“ benötige.87 Gegen die Einschränkung der Vergangenheitsbewältigung: Weitere Demokratisierung? Die chinesische Vergangenheitsbewältigung befindet sich alles in allem erst im Anfangsstadium. Im Vergleich mit der geleisteten Erinnerungsarbeit ist das, was noch zu bewältigen ist, enorm. Ein wesentliches Hindernis der Bewältigung ist die Verdrängung und Verleugnung, die Ralph Giordano als die „zweite Schuld“ benannte.88 Die offizielle Verdrängung der Bekenntnisse ist unverkennbar. Wobei die Veröffentlichung des Sammelbandes zur Buße und anderer public apologies selbst auf dem chinesischen Festland zu begrüßen ist, die Zensur einiger Bekenntnisse und Passagen zur Tragweite kollektiver Umkehr zeigt allerdings die Grenzen. Nicht nur wurde Wu Yans Offenlegung unter anderem ihres begangenen „Verrats“ 85

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Fritz Bauers weitsichtige Mahnung, die Nazivergangenheit nicht mit Nazimethoden (wie z. B. „Schuld und Sühne“ in Vergeltungsstrafe) zu bewältigen ist also höchst relevant. Fritz Bauer: Der Zweck im Strafrecht, in: Ders.: Vom kommenden Strafrecht, Karlsruhe 1969, S. 17–42; Die Schuld im Strafrecht, in: Ders.: Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main u. a. 1998, S. 249–278. Qian Liqun: 一個物理學家的'改造' [Die ‚Umarbeitung‘ eines Physikers], in: Yanhuang Chunqiu (2015) 2, S. 52. Qian zit. nach Hu Ping: 人的馴化、躲避與反叛 [Das Züchten des Menschen], Hongkong 1999, S. 112. Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. (11). „Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945.“ Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Köln 2000, S. 17 (Hervorhebung im Original).

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C. K. Martin Chung

nach dem Tiananmen-Massaker gestrichen,89 selbst die hier zitierte Passage, die die Jasperssche Idee vom Schuldbewusstsein als Bedingung politischer Freiheit widerspiegelt,90 durfte nur auf Langzeichen in Hongkong erscheinen: „Wir befragen uns, warum erinnern wir uns, Buße zu tun, nur Jahrzehnte nach [der Katastrophe]? Weil das System (tizhi) unsere Umkehr nicht braucht. Weil die Umkehr uns zum Umdenken (fansheng), ja zur Selbstständigkeit bringen kann. Sie ist dazu fähig, die Gesellschaft subtil und allmählich zu verwandeln, damit sie menschenzentriert (renbenhui) wird statt beamtenzentriert (guanbenhui). Das ist die Grundlage der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. (…) der Geist der Umkehr zählt zu den Grundlagen des demokratischen Geistes, daran mangelt es der Kultur Chinas immer noch. (…) individuelle Umkehr besitzt die Werte der Humanität, die sich der Nicht-Demokratie widersetzen. Möge dieses Umdenken in die Öffentlichkeit eindringen, mit dem Hauptziel, das staatsbürgerliche, verfassungsrechtliche Bewusstsein zu entwickeln.“91

Verdrängt geworden ist auch die kaum verhüllte Kritik an der gegenwärtigen MaoVerehrung, die nicht in der Kurzzeichen-Version in Festlandchina erscheinen darf. „Bis heute ist die Tafel des Erzeugers historischer Katastrophen noch am Altar für Verehrung geblieben; mögen die in dem Buch gesammelten historischen Traumata und das Umdenken und Verantwortungsbewusstsein der Erfahrenden uns dazu helfen können, die einst verlorene Menschenwürde und Gerechtigkeit wiederzufinden.“92

Der erste Teil dieses Satzes Xu Yinongs wird gestrichen, der allgemeine und positive ‚Glückwunsch‘ für die Zukunft ist also erlaubt, die Beurteilung der Kontinuität der Führerverehrung in der Gegenwart nicht. Es lässt sich deshalb vermuten, dass die Zensurpolitik darauf gerichtet ist, nicht nur die unerwünschten Bekenntnisse zu ‚unberührbaren‘ Vergangenheiten (etwa des Tiananmen-Massakers) zu tilgen, sondern auch diejenige Versuche zu verbieten, die die Aufarbeitung jener ‚erlaubten‘ Vergangenheiten (etwa der Kulturrevolution und der Anti-Rechts-Bewegung) in der Gegenwart überschreiten. Die private Umkehr solle individuell bleiben und dürfe nicht der Bevölkerung die Frage systemischer oder kultureller Kontinuität stellen. Die Verdrängungstendenz kommt nicht nur ‚von oben‘. Yu Jie beklagte sich darüber, dass seine „Umkehr zu Tibet“ im Internet auf scharfe Kritik der „Wutjugend“ (fenqing) getroffen sei. „Acht oder neun von zehn Chinesen, mit denen ich in Kontakt bin, sind auch dieser Meinung über Tibet“, dass die Kommunistische Partei Chinas die moderne Zivilisation nach Tibet gebracht hätte, es also keinen 89 90 91

92

Wu Yan: 我的一次出賣 [Mein Verrat] in: Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014. Wus anderer Beitrag über ihr Schicksal während der Kulturrevolution wird auch in der Kurzzeichen-Version veröffentlicht. „Reinigung ist die Bedingung auch unserer politischen Freiheit. Denn erst aus dem Schuldbewußtsein entsteht das Bewußtsein der Solidarität und Mitverantwortung, ohne die die Freiheit nicht möglich ist.“ Jaspers: Die Schuldfrage, 1946, S. 104. Wang Keming: Die Renaissance der Humanität, 2014, S. iii. Vgl. Xu Youyu: „Die Umkehr ist nicht nur eine persönlich-moralische Frage, sie ist auch eine sozialpolitische Frage“. Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. (16). Xu ist auch einer der ersten, die die „unbußfertige Literatur“ erforscht haben. 人的道義支撑點在那裡?對五種不懺悔文學文本 的解讀 [Analyse der fünf Typen der verstockten literarischen Texte] in: Yu (Hrsg.): Umkehren oder nicht, 2004, S. 8–14. Wang et al. (Hrsg.): Wir tun Buße. Vollst. Ausg., 2014, S. (19).

Chinesische Vergangenheitsbewältigung

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Grund gebe, Buße zu tun.93 Wang Lixiong machte in diesem Zusammenhang der han-chinesischen Intelligenz den Vorwurf der Doppelmoral: „Die Intellektuellen des Han-Volkes, die hochrangigen Eliten einschließend, haben mich noch mehr schockiert. Im Alltag sehen sie ganz reformistisch, offen und vernünftig aus, aber wenn die Xinjiang-Frage auftaucht, kommen Wörter wie ‚umbringen‘ und ‚töten‘ leichtsinnig aus ihren Mündern. Wenn ein Genozid die Souveränität Chinas in Xinjiang schützen könnte, hätten sie dem Mord von Millionen Uiguren zugeschaut und kein Wort darüber verloren.“94

Diesen Anmerkungen zufolge steht die chinesische Gesellschaft in Übereinstimmung mit der Partei hinsichtlich han-chinesischer Unterdrückung der Minderheiten. Deswegen ist chinesisches Sich-Erinnern als Täter im Bereich chinesisch-chinesischer Traumata stärker als in Beziehungen zwischen Han und Nicht-Han. Selbst in Hongkong ist vor kurzem ein kleines Museum zum Gedenken der Opfer des 4. Juni 1989 eingerichtet worden. Aber darin ist kein Hinweis auf die tibetanischen Opfer von 1959 zu finden, worauf Li Jianglin hingewiesen hat.95 Die ausschließliche Beschäftigung mit kommunistischer Schuld scheint also nicht automatisch im Dienst der nicht-chinesischen Opfer zu sein. Die zweifachen Hindernisse der Vergangenheitsbewältigung – offizielle Zensur und gesellschaftliche Vorurteile gegen Minderheiten – müssen überwunden werden, damit die von den Bekennenden konzipierten „Bußbedürfnisse“ auch in der breiteren Gesellschaft und in dem Machtzentrum erfüllt werden können. Sonst bleibt diese werdende Erinnerungskultur eine Subkultur, ein „negativer, überflüssiger Akt“ (Scheler), ein „nachteiliger psychologischer Zustand“ (Qian Zhongshu). Die Veröffentlichung der unzensierten Fassung des Bekenntnisse-Sammelbands in Hongkong zeigt, dass die Vergangenheitsbewältigung auch einen Raum der Meinungsfreiheit braucht – was die Sonderverwaltungszone Chinas noch anbieten kann –, um nicht von der Gegenwartsbewältigung getrennt zu werden. Diese letzte Ressource zur Überwindung des großen Hindernisses der offiziellen Verdrängung in China ist aber von verschiedenen Seiten bedroht.96 Ihr Verlust würde bedeuten, einen Platz weniger für die uneingeschränkte Auseinandersetzung mit der chinesischen Vergangenheit zu haben. 93 94 95

96

Yu Jie: Reign of Terror, 2008, S. 104. Wang Lixiong: Mein Westgebiet, 2007, S. 59. Besuch des Autors am 19. Juni 2014. Auch Ding Zilin, eine der „Tiananmen-Mütter“, machte den Studenten im Nachhinein Vorwürfe, dass es auf dem Tianamen-Platz in 1989 „kein von den chinesischen Studenten geäußertes unterstützendes Wort für das tibetanische Volk zu hören“ gegeben habe, das eben zwei Monate zuvor ein von der Partei begangenes „blutiges Massaker“ erlitten hatte. Jiang Peikun, Ding Zilin: 關心西藏人權: 知識分子的責任 [Sich um das Menschenrecht der Tibeter kümmern. Die Verantwortung der Intellektuellen], in: Cao (Hrsg.): Stellungnahmen über Tibet, 1996, S. 56. Es gibt hier nämlich eine beunruhigende Bewegung, die die Auseinandersetzung mit der chinesischen Geschichte von Hongkongs Agenda zu streichen versucht. Diese Hongkonger Bürger sympathisieren jedoch nicht mit der Parteiführung – nichts wäre realitätsferner! –, sondern wollen überhaupt nichts mit Festland-China zu tun haben, auch nicht mit der Erinnerungsarbeit, die „nur eine Sache der Chinesen ist, nicht von uns Hongkongern“. Siehe Victoria Park lit up at June 4 vigil as ‚localist‘ groups stage alternative rallies, in: South China Morning Post, 5.6.2015.

AKTUELLES FORUM

DAS RECHT AUF VERGESSENWERDEN UND DIE SCHLEICHENDE KULTURREVOLUTION IM INTERNET Aleida Assmann Am 13. Mai 2014 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg eine Entscheidung gefällt, die weitreichende individuelle und kulturelle Auswirkungen hat und sogar als eine menschheitsgeschichtliche Zäsur betrachtet werden kann. Es geht um den Artikel 17 der Datenschutzrichtlinie der EU, wonach Individuen fortan ein Recht darauf haben, dass ihre personenbezogenen Daten im Internet gelöscht werden, wenn sie ruf- oder karriereschädigend sind und kein allgemeines Interesse an diesen Informationen besteht. Konkret bedeutet das: Von nun an können auf direktem Wege Anträge auf Löschung sensibler Daten an den Betreiber der Suchmaschine Google gestellt werden. Diese Daten werden von Google zwar nicht auf der Originalquelle gelöscht, aber der Link, mit dem Suchprofile erstellt werden, wird bei der Löschoperation aufgelöst. Bereits am ersten Tag nach dieser Entscheidung des Gerichts gingen bei Google über 12.000 Löschanträge ein, die alle manuell bearbeitet und von Juristen geprüft werden müssen. Das ‚Recht auf Vergessenwerden‘ ist zu Recht als eine bahnbrechende Entscheidung bewertet worden. Sie stellt eine Herausforderung nicht nur für Juristen, Internetplattform-Betreiber und Informatiker dar, die sich mit den konkreten Fragen der Umsetzung zu befassen haben, sondern auch für die Erinnerungsforschung, die hier mit einem neuen kulturgeschichtlichen Sachverhalt konfrontiert wird. Vom Vergessen zum Erinnern Die neue Rechtsprechung macht auf einen tiefgreifenden kulturellen Wandel aufmerksam, der sich längst im digitalen Datenkosmos des Internet vollzogen hat. Denn ganz neuartige Probleme sind entstanden, weil das gewohnte Zusammenspiel zwischen Erinnern und Vergessen, das die Gesellschaft bislang geprägt hat, im Internet in Unordnung geraten ist. Das bestehende Gleichgewicht zwischen Erinnern und Vergessen, das bislang als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, gilt nicht mehr, seit technische Maschinen die Kontrolle über die Sortierung des gespeicherten Datenvorrats übernommen haben. Seitdem ist das Erinnertwerden nicht mehr nur ein Segen, sondern auch zu einem Fluch geworden. Was auf irgendeinem Weg ins Internet gelangt ist, wird mit dem bloßen Verstreichen der Zeit nicht mehr dekomponiert und kann auch nicht mehr geschreddert werden. Es ist unbemerkt hinübergeglitten in das universale Online-Archiv der Menschheit, das mithilfe von Suchmaschinen blitzschnell durchsuchbar ist und zu dem immer mehr Menschen

Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015), S. 137–142

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Aleida Assmann

Zugang haben. Dieses digitale Mega-Archiv hat die Eigenschaft, von allen Seiten blitzschnell und mühelos alles Mögliche aufzunehmen, aber nichts zu vergessen. Mit den akkumulierten Speichertechniken von Schrift und Buchdruck, von Photographie, Film und Tonträgern hat sich die Menschheit mit dem Internet eine neue Gedächtnisprothese zugelegt, die die Grundstruktur der Kultur dramatisch verändert hat. Das hat der Rechts- und Politikwissenschaftler Viktor Mayer-Schönberger in einem prägnanten Statement folgendermaßen zusammengefasst: „Seit Beginn der Menschheitsgeschichte war das Vergessen für uns Menschen die Regel und das Erinnern die Ausnahme (…) Aufgrund der weiten Verbreitung digitaler Techniken ist das Vergessen heute zur Ausnahme und das Erinnern zur Regel geworden.“1 Erinnern war bislang durchgängig positiv besetzt. Man erinnert sich, um dazuzugehören und man möchte auch selbst im Gedächtnis der Gruppe fortleben. „Ein Mensch lebt, wenn sein Name genannt wird.“ Dieses altägyptische Sprichwort hat weltweite Gültigkeit. Deshalb gilt das Vergessen und die Auslöschung des Namens, die damnatio memoriae, als eine schwere Strafe. Sie trifft die Gedächtnis-Existenz der Person, die damit verleugnet und vernichtet wird. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom ‚2. Tod‘ oder von einem ‚Mnemozid‘, zum Beispiel im Fall der Türkei, wo auf den Genozid an den Armeniern durch dessen Leugnung ein Mnemozid gefolgt ist. Es gibt innerhalb der Kulturen aber auch positive Bewertungen des Vergessens. Vergessen wird gebraucht, um nach Niederlagen neu zu beginnen und nach traumatischen Konflikten eine neue Zukunft zu schaffen. „Die Schwäche des Gedächtnisses verleiht / Den Menschen Stärke“, dichtete Bert Brecht. Vergessen gilt auch als eine wichtige Entlastung angesichts der Überlast von Informationen. Nietzsche war überzeugt: Wer zu viel weiß, kann nicht mehr handeln – und verliert die Konturen seiner Identität. Hamlet war ihm ein Beispiel dafür. Auch die Evolutionspsychologen haben inzwischen die Bedeutung des Vergessens wiederentdeckt: Sie sprechen von Extinktionslernen und meinen damit den Vorgang des Ent-Lernens, des Rückgängigmachens dysfunktionaler Synapsen und schädlicher Gedächtnisspuren. Vergessen ist wichtig für die Befreiung von angeborenen Urängsten wie zu Beispiel der Spinnen-Phobie, aber auch grundsätzlich nötig für die Fähigkeit, Neues aufzunehmen. Ein Gedächtnis, in dem die Synapsen festgefahren sind, kann sich nicht an neue Umweltbedingungen anpassen. Mayer-Schönberger spricht aber nicht von der kulturellen Bewertung von Erinnern und Vergessen, sondern von ihrem Austausch als einer schleichenden Kulturrevolution, ja einer totalen Umkehrung unserer Vorstellungen. Bislang galt nämlich der Grundsatz von der Schwierigkeit und Aufwendigkeit des Erinnerns. „Der größte Teil geht verloren“ – diese antike Maxime, die in Emblembüchern der Renaissance wiederaufgenommen wurde, hatte bis in die Gegenwart ihre Plausibilität und fraglose Evidenz. Der sprichwörtliche Knoten im Taschentuch steht für den mnemotechnischen Aufwand, der getrieben werden muss, damit etwas aus dem 1

Viktor Mayer-Schönberger: Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten, Berlin 2010, S. 11 (engl. Orig.: Delete. The Virtue of Forgetting in the Digital Age, Princeton 2009).

Das Recht auf Vergessenwerden

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Kurzzeitgedächtnis übernommen und zuverlässig im Gedächtnis fixiert wird. Aufschreiben und Drucken, in Stein meißeln und auf Messingplaketten gravieren sind Beispiele für die mühsamen Vorkehrungen, die getroffen werden müssen, damit etwas im kulturellen Gedächtnis verbleibt. Zur Erhaltung in einem kulturellen Langzeitgedächtnis gehört nicht nur die ‚Sicherungsform der Dauer‘ sondern auch die ‚Sicherungsform der Wiederholung‘: Das wenige Wichtige muss im Bewusstsein vergegenwärtigt und in lebendiger Erinnerung erhalten werden, wofür Gedenktage und Kommemorations-Ereignisse immer wieder Anlass geben. Von allein tut sich hier gar nichts: Die kulturelle Reproduktion, die ja nicht über die Gene weitergegeben wird, muss immer wieder neu durch Elternhaus, Schule und öffentliche Medien an die nächste Generation weitergegeben, vermittelt und mit dieser ausgehandelt werden. Diese Selbstverständlichkeit, so die These, ist jetzt außer Kraft gesetzt, seit die kulturelle Überlieferung auf digitale Träger übergegangen ist, die ihr Speichervolumen in kurzen Zeitabständen verdoppeln. Jeder und jede, die mit ihrem Smartphone ständig Fotos macht, weiß, wie leicht es ist, in kürzester Zeit enorme Daten-Massen anzuhäufen und Archivbestände anzulegen. Auf digitaler Basis sind bewegte und unbewegte Bilder, Töne und Texte einfach und scheinbar unbegrenzt speicherbar. Tatsächlich ist das Vergessen genauso einfach geworden wie das Erinnern: mit derselben Anstrengung – es geht ja immer nur um einen Klick – können wir speichern und löschen. Doch das erweist sich inzwischen immer mehr als ein Trugschluss: was einmal eingespeist wurde in die weltweiten Datenströme, die von Server zu Server fließen, kann nicht mehr so einfach rückgängig gemacht werden. Es bilden sich obsolete, aber obstinate Datenschichten, die mit einem Klick jederzeit wieder an die Oberfläche zurückgeholt werden können. Es gibt allerdings auch eine unwillkürliche und unkontrollierbare Form des Erinnerns, auf die Friedrich Nietzsche bereits vor 150 Jahren hingewiesen hat, als er schrieb: „Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks.“2 Das selbsttätige unwillkürliche Erinnern hat Nietzsche nicht wie Proust als eine Offenbarung und Wiedergewinnung einer verloren geglaubten Zeit interpretiert, sondern als einen unheimlichen Wiedergänger, der nicht in eine spätere Zeit passt und dort auch nichts zu suchen hat. Genauso kann heute der große Datenspeicher des Internet die soziale Ruhe stören, weil Früheres nicht in Stapeln abgelegt und durch Neues verdeckt wird oder anderweitig verblasst und mit der Zeit verloren geht, sondern weil im Internet alles gleich nah oder fern ist, dauerhaft zugänglich bleibt und per Mausklick mittels algorithmenbasierter Suchmaschinen blitzschnell wieder an die Oberfläche geholt werden kann.

2

Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Ders.: Werke in Drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Bd. 1, München 1962, S. 209–285, hier S. 211.

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Aleida Assmann

Eine neue Zeitstruktur? Dieser fundamentale kulturelle Wandel vom Vergessen zum Erinnern als dem normalen Betriebsmodus der Gesellschaft führt nicht nur zu neuen rechtlichen und technischen Problemen, er wird derzeit auch in der Theorie intensiv diskutiert. Um das an einem Beispiel zu zeigen möchte ich hier auf die Thesen des Medienwissenschaftlers Andrew Hoskins eingehen. Für Hoskins, der zur Generation der ‚digital natives‘ gehört, hat das Internet eine gänzlich neue Form des kulturellen Gedächtnisses und eine neue Zeitstruktur hervorgebracht. Das Merkmal dieser neuen Zeitstruktur ist „das Ende der Erosionszeit“ (the end of decay time). Wie ist diese These zu verstehen? Die Argumentation ist durchaus nachvollziehbar: Da Informationen im Netz nicht vergehen, sondern mit einem Klick immer wiederherstellbar sind, geraten sie nicht in einen zeitlichen Abstand, sie verwittern auch nicht und unterliegen nicht wie materielle Bestände einer periodischen Entsorgung. Niemand kann sich mehr darauf verlassen, dass Dinge, die längere Zeit zurückliegen deshalb auch verblassen und allmählich vergessen werden. Diese ganze Bildlichkeit und Begrifflichkeit des Vergessens erscheint im Lichte der digitalen Medien als überholt. Aufgrund der neuen Zugänglichkeit, Verfügbarkeit und Transparenz der Daten kann Vergangenes durch einen Mausklick wieder zur Gegenwart werden und, wie wir inzwischen aus vielen Beispielen wissen, die Ruhe eines späteren Augenblicks stören. Diese Vergangenheit, die nicht mehr automatisch vergeht, kann aktuelle Konsequenzen für die soziale Reputation von Personen haben. Mit einer paradoxen ‚Vergangenheit, die nicht vergeht‘, das soll hier wenigstens am Rande vermerkt werden, hat die deutsche Gesellschaft bereits in den 1980erJahren Bekanntschaft gemacht, zum Beispiel im Juni 1986, als Ernst Nolte in einem Artikel in der FAZ diese Formel für das Trauma des Holocaust prägte. Tatsächlich gewann in den 1980er-Jahren der Holocaust, wie schon Hermann Lübbe festgestellt hatte, an emotionaler Aufdringlichkeit, obwohl er sich doch zeitlich immer weiter von der Gegenwart entfernte. Diese Zeitanomalie hängt, wie wir inzwischen wissen, mit der Psychopathologie des Traumas zusammen, ein Begriff, der erst seit 1980 von den medizinischen Fachleuten reklamiert und neu eingesetzt wurde. Ein psychisches Trauma, mit dem Opfer des Holocaust und anderer tief identitätszerstörender Gewalterfahrungen geschlagen sind, zerstört auch die heilsame Distanz, die die Zeit zwischen die Gegenwart und die verstörende Erfahrung schiebt. Die psychische Wunde des Traumas vernarbt nicht, der Schrecken kann jederzeit in unkontrollierbaren Bildern wieder präsent werden und tilgt dabei die Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Wenn wir den Theoretikern folgen, ist im Falle der ‚neuen Medien‘ und ihrem globalen Netzwerk, dem Internet, unter ganz anderen – nämlich rein technischen und nicht psychischen – Bedingungen eine ähnliche Zeitanomalie entstanden. Was von Hoskins als ‚Ende der Erosionszeit‘ bezeichnet wird, beschreibt Hans Ulrich Gumbrecht als die neue Zeitstruktur der ‚breiten Gegenwart‘. Diese neue Gegenwart ist breit, nicht nur, weil sie die Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft in sich aufgenommen hat, sondern weil sie uns mit uferlosen Angeboten überschwemmt. Es gibt laut Gumbrecht keine wahrnehmbare Grenze mehr zwischen

Das Recht auf Vergessenwerden

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Gegenwart und Vergangenheit, seit die Nutzer digitaler Medien alle Episoden und Errungenschaften früherer Zeiten mit einem Klick in die Gegenwart katapultieren, wo sie als unverdaulicher Wust nebeneinander bestehen. Meine Kritik an dieser These ist, dass hier dem Internet die Kraft zugesprochen wird, alle Unterschiede zu nivellieren und eine neue Einheitszeit hervorzubringen. Das ist aber nicht die Schuld oder Leistung des Internet, sondern allein der Theorie, die das gesamte Leben unter die digitale Regie zwingt. Es gibt jedoch, so würde ich dagegenhalten, auch noch ein Leben im Materiellen und Biologischen. Statt einer Vereinheitlichung von Zeit und einer Gleichschaltung von Virtuellem einerseits und Materiellem und Biologischem andererseits erscheint es mir vielmehr angebracht, über die neuen Interferenzen unterschiedlicher Zeiterfahrungen nachzudenken. Speichern und Erinnern Kulturelles Gedächtnis, das ist inzwischen allgemeiner Konsens, ist nicht ohne Medien denkbar; im Gegenteil beruht es auf Medien, die dieses Gedächtnis formen und definieren. Hoskins geht jedoch noch einen Schritt weiter und setzt das kulturelle Gedächtnis mit seinen Medien gleich. Und dieses Gedächtnis, so Hoskins, hat sich mit den neuen Medien fundamental verändert in der Weise, dass es seine Grenzen verloren und seinen Bezug zu Identitäten aufgelöst hat. Was die technologischen Voraussetzungen der neuen Medien anbelangt, so gilt inzwischen, dass sich ihre Speicherkapazität innerhalb immer kürzerer Fristen verdoppelt. Die Datenmenge, auf die Menschen heute Zugriff haben, hat sich damit exponentiell erhöht. Eine mögliche Beschreibung dieser Situation lautet, dass wir mit einer Überlast an Information zu tun haben, die nicht mehr bewältigt werden kann. Nietzsche sprach mit Blick auf das wachsende Wissen, das die historischen Geisteswissenschaften produzierten, von einer Flutwelle der Vergangenheit, die die Gegenwart überschwemmt; Hans Ulrich Gumbrecht vergleicht die breite Gegenwart der digitalen Medien mit einem stagnierenden Teich, der die ganze Vergangenheit in sich aufgenommen hat und aus dem nichts mehr abfließt. Nietzsche beschrieb den Historismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Epoche der ‚Charakterlosigkeit‘ wegen der beliebigen Mischung heterogener Stile; heute spricht Hoskins angesichts der neuen Medien, die nach seiner Aussage die Vergangenheit in toto abgespeichert haben und abrufbar halten, von der Auflösung von Identitäten, und Gumbrecht, der ebenfalls von einer vollständigen digitalen Erfassung der Vergangenheit ausgeht, von der Gegenwart als Einerlei permanenter Verfügbarkeit. Gegen diese Reduktion von Gedächtnis auf Medien und die daraus resultierende Gleichsetzung von Gedächtnis und Medien möchte ich hier auf dem wichtigen Unterschied zwischen Speichern und Erinnern bestehen. Was Gumbrecht und Hoskins beschreiben, gilt für den Modus des Speicherns, nicht aber für den des Erinnerns. Wenn die Verbindung zwischen Informationen und Identitäten aufgelöst ist, haben sich auch die Voraussetzungen für das Erinnern erledigt. Das Internet hat aber nicht die Macht, Identitäten abzuschaffen oder gleichzuschalten; vielmehr kann es sich ebenso in den Dienst von Identitäten stellen. Es gibt einen weiteren

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wichtigen Unterschied zwischen Erinnern und Speichern: Speichern kann an technische Maschinen abgegeben werden, Erinnern dagegen können nur Menschen, die unverwechselbare Standpunkte, eingeschränkte Perspektiven sowie Erfahrungen, Gefühle und Ziele haben. All das verbindet sich mit Identitäten und Kriterien der Bedeutung und Relevanz, deren Rückseite wiederum die Ausblendung von Unwesentlichem, die Negierung von Auszuschließendem und andere Akte des Vergessens sind. Es gibt inzwischen zwei Formen von Aufmerksamkeit, eine Aufmerksamkeit, die von Maschinen hergestellt wird, und eine Aufmerksamkeit, die nur Menschen aufbringen können. Die von Menschen programmierte ‚Aufmerksamkeit der Maschine‘ hierarchisiert Informationen unter anderem statistisch nach der Menge von Klicks, sie strukturiert somit auch die menschliche Aufmerksamkeit vor und entscheidet letztlich darüber, was gefunden werden kann und was nicht. Die menschliche Aufmerksamkeit ist dagegen qualitativ. Aus ihr entspringen der Suchbegriff, der eingegeben wird, und der Pfad, den man sich durch das Gewebe der Links bahnt. Die Aufmerksamkeit der Menschen hängt damit nicht nur an Häufigkeitswerten, sondern auch an Relevanzkriterien. Was heiß und was kalt ist, was nah und was fern ist, was interessant und was langweilig ist, das können letztlich nur Menschen entscheiden. Das Gedächtnis der Menschen wird gestützt vom Gedächtnis der Medien und Maschinen, es darf mit letzterem aber nicht gleichgesetzt werden. Es ist anders geordnet – durch bildliche Arrangements, verbale Narrative und freie Assoziationen. Dabei spielt noch etwas anderes eine Rolle, nämlich eine emotionale Aufladung, die etwas mit Erfahrung, Vorwissen und Gefühlen, kurz: mit Existenz und Identität zu tun hat. Der größte Teil geht verloren. Diese älteste Selbstbeschreibung des menschlichen Gedächtnisses galt bis vor kurzem für Individuen wie für Gesellschaften und Kulturen. Vergessen funktionierte automatisch und unauffällig, für das Erinnern waren besondere Anstrengungen nötig. Es gab bislang auch keine volle Kontrolle über das Gedächtnis, weder über das biologische noch über das kulturelle. Auch dieser Satz, der bisher einen positiven Klang hatte, scheint im Internet nicht mehr zu gelten. Während die Zugänglichkeit, Durchsuchbarkeit, Sortierung und Transparenz der Daten enorm zugenommen hat, haben sich auch die Formen des Zugriffs auf Daten grundlegend verändert und fordern deshalb neue Formen der Einhegung. Das Internet organisiert und hierarchisiert nicht nur unsere Aufmerksamkeit, sondern bedarf inzwischen auch mitwachsender Aufmerksamkeit. An diesem Punkt hat er EuGH eingegriffen: Der Wildwuchs der Daten kann mit gezielten Löschoperationen korrigiert werden. Das ist ein persönliches Desiderat und ein rechtlicher Anspruch geworden, wenn verhindert werden soll, dass der uralte menschliche Wunschtraum des Erinnertwerdens allmählich in den Alptraum des nicht mehr Vergessenwerdens umkippt.

FUNDSTÜCK

EINFÜHRUNG Claudia Fröhlich, Harald Schmid Im Herbst 2015 hat der Leipziger Historiker und Slavist Stefan Troebst öffentlich die bundespolitischen Akteure kritisiert. Seine Kritik war scharf, denn er warf ihnen nicht weniger als die Vernachlässigung von Geschichtspolitik als einem zentralen Politikfeld vor. Troebst argumentiert, dass die gegenwärtige „Flüchtlingskrise (…) die Koordinaten im erinnerungskulturellen Umgang mit Zwangsmigration (…) verschieben“ werde, Bundespolitiker aber die geschichtspolitische Dimension des brisanten Themas Flucht und Vertreibung nicht nur vernachlässigen, sondern den Interessenvertretern – etwa denen des Bundes der Vertriebenen (BdV) – überlassen. Konkret richtet sich Troebsts Kritik auf den Verzicht bundespolitischer Akteure, die Arbeit der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung geschichtspolitisch zu gestalten. Es mag nun naheliegen, Troebsts Debattenbeitrag als Empörung eines Enttäuschten abzutun. Troebst, Inhaber der Professur für Kulturgeschichte des östlichen Europa an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig, hatte kurz vor seiner öffentlichen Intervention den Vorsitz des internationalen Wissenschaftlichen Beraterkreises der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung niedergelegt. Vorausgegangen waren personalpolitische Diskussionen um die Besetzung der Position des Direktors der Stiftung. Doch der erste Blick täuscht. Troebst mischt sich als Historiker ein. Gestützt auf jüngste Forschungsergebnisse argumentiert er, dass Geschichtspolitik als „Machtpolitik“ ein Politikfeld wie andere sei, von den gegenwärtigen Repräsentanten der Bundesregierung in seiner Bedeutung und Wirkung aber fatal unterschätzt werde. Troebst analysiert die Preisgabe einer aktiven Geschichtspolitik auf zwei Ebenen: Mit der passiven Haltung der Bundespolitik sei den Interessenvertretern die inhaltliche Deutungshoheit auf diesem Politikfeld überlassen und die Gestaltung einer Erinnerungskultur mit ihrer europäischen und globalen Dimension aufgegeben worden. Hier bewegt sich Troebsts Argumentation auf dem Feld der etablierten PolicyAnalyse. Die zweite Ebene seines Einspruchs rückt Geschichtspolitik als Polity in den Blick, denn der Verzicht der Bundespolitik auf Geschichtspolitik stärke die Machtposition von Partikularinteressen im Gefüge des politischen Systems. Troebsts Intervention zeigt, dass der professionelle und analytische Blick politisch engagierter Wissenschaftler auf das Handlungsfeld Geschichtspolitik als politics die Wahrnehmung desselben schärfen können. Insofern betrachten wir Troebsts Wortmeldung und seine Forderung an Bundestag, Bundesregierung und Bundespräsident, geschichtspolitisch zu agieren, als den Beitrag eines Intellektuellen, der den öffentlichen geschichtspolitischen Diskurs aus der Wissenschaft heraus begleitet.

Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015), S. 145–146

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Claudia Fröhlich, Harald Schmid

Als Fundstück publizieren wir deshalb den Aufsatz von Stefan Troebst, der ab Sommer 2015 Grundlage seiner öffentlichen Intervention war und in verschiedenen gekürzten Fassungen in Tageszeitungen erschienen ist.

PROVINZIELLE GESCHICHTSPOLITIK UNTER EUROPÄISIERUNGSGEBOT UND GLOBALISIERUNGSDRUCK Stefan Troebst Die Woge von Kriegsflüchtlingen und ethnisch-religiös Gesäuberten aus Syrien, welche die Europäische Union und vor allem Deutschland derzeit erreicht, wird unweigerlich die Koordinaten im erinnerungskulturellen Umgang mit Zwangsmigration in Vergangenheit und Gegenwart hierzulande verschieben. In der Einwanderungsgesellschaft macht die Unterscheidung zwischen deutsch und nichtdeutsch zunehmend weniger Sinn, wie am Bereich schulischer Bildung bereits eindeutig ablesbar ist. Fragen danach, wie man Jugendlichen aus der zweiten oder dritten Migrantengeneration den Holocaust als zentralen Erinnerungsort vermittelt, stehen hier im Vordergrund. Darauf muss staatliche wie bürgerschaftliche Geschichtspolitik reagieren. In seinem 2013 erschienenen Buch über die Geschichtspolitik der Berliner Republik hat der Bonner Politikwissenschaftler Manuel Becker die bundesdeutsche Debatte über einen Beitritt der Türkei zur EU, die Kontroverse um die Stasi-Unterlagenbehörde und die Diskussionen um ein Zentrum gegen Vertreibungen rekonstruiert und analysiert. Seine wichtigsten Erkenntnisse lauten dabei: Geschichtspolitik ist mitnichten ein „weiches“ Politikfeld, vielmehr ist es ein zentraler Bestandteil von Machtpolitik. Und Geschichtspolitik ist darüber hinaus ein Politikbereich, der in den vergangenen 25 Jahren dramatisch an Bedeutung gewonnen hat – was sich ihm zufolge künftig verstärken wird. Mit anderen Worten: Geschichtspolitik wirkt sich auf Wahlergebnisse aus. Die von Becker als Fallbeispiele gewählten drei Konfliktthemen wurden sämtlich auf bundespolitischer Ebene verhandelt. Prominente Namen wie Helmut Schmidt, Wolfgang Schäuble, Joachim Gauck, Marianne Birthler, Markus Meckel, Wolfgang Thierse, Erika Steinbach oder Peter Glotz prägten dabei die genannten Kontroversen. Anders die Situation beim Ende 2014 ausgebrochenen und unlängst intensivierten Streit um die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, der durch eine missglückte Ausstellung ausgelöst wurde und personelle Konsequenzen hatte: Geschichtspolitisch engagierte und bundesweit bekannte Politiker welcher Partei auch immer haben dabei öffentlich keine Stellung bezogen, sondern die Meinungsführerschaft Abgeordneten und Verbandsfunktionären vornehmlich aus dem Süden der Republik überlassen. Vor allem Funktionsträger des Bundes der Vertriebenen (BdV), mehrheitlich aus Bayern, führen hier sowohl öffentlich wie im Stiftungsrat das Wort. In diesem mononational-deutsch besetzten Gremium sind sie mit sechs von 21 Sitzen zwar in der Minderheit, aber da sich hier die Vertre-

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Stefan Troebst

ter von Kirchen, Bundesministerien und zwei der derzeit drei Koalitionsparteien in der Regel bedeckt halten, dominieren sie die Debatte. Hinzu kommt, dass die Oppositionsparteien im Bundestag in diesem Gremium nicht vertreten sind sowie Repräsentanten des Zentralrats der Juden in Deutschland nur sehr sporadisch an den Sitzungen teilnehmen. Mit anderen Worten: Die Inhaber der Lufthoheit über etliche weiß-blau dekorierte Stammtische, nämlich BdV und CSU, üben diese weitgehend unbestritten auch auf einem Kernsegment bundesdeutscher Geschichtspolitik aus. Wie ist nun aber das auffällige Desinteresse der politischen Klasse dieses Landes an einem geschichtspolitisch so zentralen Thema, nämlich dem der staatlich betriebenen und ethnisch begründeten Zwangsmigration von Deutschen, aber auch von Polen, Finnen, Griechen, Juden, Armeniern, Letten, Kosovo-Albanern, Ukrainern, Krimtataren, bulgarischen Türken, Tschetschenen und anderen im 20. Jahrhundert, zu erklären? Wie kommt es, dass die im Ergebnis der Vernichtungspolitik Hitler-Deutschlands, dem Scheitern seiner Ostexpansion sowie der anschließenden Westexpansion der stalinistischen Sowjetunion erfolgte millionenfache und ineinander regelrecht verflochtene Vertreibung von Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten des versunkenen „Dritten Reiches“ und von Polen aus der sowjetisch annektierten Osthälfte des Landes nicht als gewichtiges Thema des offiziellen Berlin im Dialog mit dem auf anderen Politikfeldern so eng verbundenen Partner in Warschau gilt? Warum wird bundesdeutsche Geschichtspolitik in einem Politikbereich von erstrangiger Bedeutung für das Verhältnis des Landes auch zur Tschechischen Republik, zur Slowakei, zu Ungarn, Kroatien, Serbien und nicht zuletzt zur Russländischen Föderation weniger in der deutschen Hauptstadt als vielmehr in Oberbayern, Schwaben und Unterfranken formuliert? Weshalb schließlich gelten andere Bundesstiftungen wie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die Topographie des Terrors, die Stiftungen Erinnerung, Verantwortung, Zukunft und Aufarbeitung der SED-Diktatur als geschichtspolitische Erfolgsgeschichten, gar als Leuchttürme bundesdeutscher Erinnerungskultur mit europäischer, ja internationaler Ausstrahlung, die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung hingegen als Quell beständigen Ärgernisses? Bei der Suche nach einer Antwort kann möglicherweise der neudeutsche Terminus „Ownership“, in etwa: Eigentümerschaft, helfen. Denn das Thema Zwangsmigration in unterschiedlicher Form – Vertreibung, zwangsweise Binnenumsiedlung, Aussiedlung, Bevölkerungsaustausch, Transfer, Deportation, ethnische Säuberung u. a. – wird von Politik, Medien und Öffentlichkeit hierzulande mehrheitlich immer noch als peripheres und partikulares, jedenfalls nicht als gesamtgesellschaftliches Thema gleich Nationalsozialismus und Holocaust, ja selbst als SED-Diktatur betrachtet. Diese Sichtweise korrespondiert dabei in fataler Weise mit dem Anspruch etlicher Landsmannschaften und ihres Dachverbandes BdV dahingehend, dass die Zuständigkeit für dieses Thema – und damit zugleich die Deutungshoheit für das zugehörige Geschichtspolitikfeld – allein bei ihnen liege: „Wir“ sind – ungeachtet des Geburtsjahrgangs – gemäß Bundesvertriebenengesetz „die“ Vertriebenen und bleiben es qua Vererbung auch in Zukunft, also sind „wir“ alleine „zuständig“.

Provinzielle Geschichtspolitik unter Europäisierungsgebot und Globalisierungsdruck

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Die ebenso langwierige wie konfliktträchtige Umwandlung des BdV-Projekts der Gründung eines aus Bundesmittel zu finanzierenden Zentrums gegen Vertreibungen in die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist zwar durch ein einschlägiges Bundesgesetz, verabschiedet 2008 und novelliert 2010, in formaler Hinsicht gelungen. Doch in der Außenwahrnehmung wie im Selbstverständnis der Vertriebenenverbände stellt sich dies mitnichten so dar, wie überdies in Medien und Öffentlichkeit gemeinhin übersehen wird, dass der Zentrumsgründungsplan des BdV und die Konzeption der Bundesstiftung inhaltlich nur sehr bedingt deckungsgleich sind. Denn die Eigentümerschaft wird in der Perspektive der Öffentlichkeit ebenso wie in der Perzeption der Landsmannschaften gleichsam naturgegeben „den“ Vertriebenen und damit de facto dem BdV samt Stimmenblock im Rat der Stiftung, beigemessen. Daher auch die verbreitete journalistische Diktion von der „Berliner Vertriebenenstiftung“ oder vom künftigen „Vertriebenenzentrum im Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof“ – und dies ungeachtet der Finanzierung aus dem Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der bundesgesetzlichen Grundlage. Der Geschichtspolitik von Bundestag und Bundesregierung, von Kirchen und Zivilgesellschaft, gerade aber auch diejenige der Medien – Manuel Becker zufolge unangefochten die wirkmächtigsten „Sinnproduzenten“ auf diesem Politikfeld – obliegt es nun, für die Korrektur dieser doppelten Fehlwahrnehmung Sorge zu tragen. Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist eben keine gleichsam verbandsinterne Unternehmung von Vertriebenen für Vertriebene, sondern eine der Bundesrepublik für die Bundesbürger sowie nach Eröffnung von Dauerausstellung sowie von Dokumentations- und Informationszentrum natürlich auch für interessierte Besucher aus dem In- und Ausland, für Zeitzeugen samt Nachkommen, für informationssuchende Laien sowie mit Geschichte und Aktualität zwangsmigratorischer Prozesse in Europa und Übersee befasste Wissenschaftler aus aller Welt. Satzungsgemäßer Hauptzweck der Stiftung ist es, „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten“. Der BdV als zivilgesellschaftliche Organisation, die sich nachvollziehbarer Weise ein deutlich enger gefasstes Ziel gesteckt hat, nämlich „die Interessenvertretung der Vertriebenen, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler in allen vertriebenenspezifischen Fragen“, ist dabei aus historischen, kulturellen wie biografischen Gründen selbstredend als einer von mehreren gesellschaftspolitischen Faktoren in die Rechtskonstruktion der Stiftung eingebunden. Eine Monopolstellung besitzt er aber weder formal noch inhaltlich, schon gar kein Deutungsmonopol. Scheitert die notwendige Korrektur in der öffentlichen Wahrnehmung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, nämlich hin zu einem gesamtstaatlichen Lern- und Erinnerungsort und einer Forschungsbörse von internationalem Ruf und weg vom Image eines provinziellen Verbandsmuseums, wird diese sinnvolle Bundesinitiative von gesamteuropäischer Bedeutung auch in Zukunft aus den negativen Schlagzeilen nicht heraus kommen – weder hierzulande noch in unseren

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Nachbarländern. Die aktuelle Krise um die Stiftung, ausgelöst durch eine mutlose Personalentscheidung des verbands- und parteipolitisch dominierten Stiftungsrates und das dadurch bewirkte Abbröckeln des international zusammengesetzten Wissenschaftlichen Beraterkreises, belegt dies deutlich. Um dieses genuin europäische Projekt mit dem Potenzial globaler Wirkung zu retten, sind jetzt Bundestag und Bundesregierung, gar der Bundespräsident gefordert.

FORSCHUNGSBERICHT

‚FLUCHT UND VERTREIBUNG‘ IN DER DEUTSCHEN ERINNERUNGSKULTUR Stephan Scholz Als am 20. Juni 2015 in Deutschland erstmals ein nationaler ‚Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung‘ begangen wurde, erklärte Erika Steinbach, die als Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) seit 2001 diesen Gedenktag immer wieder eingefordert hatte, durch ihn werde nun „ein traumatisches Verbrechen gigantischen Ausmaßes (…) aus der Sprachlosigkeit endlich in das gemeinsame, kollektive Gedächtnis der gesamten Nation aufgenommen“.1 Mit der wiederholten Klage über ein angebliches öffentliches Beschweigen der erzwungenen Migration der Deutschen aus dem Osten infolge des Zweiten Weltkrieges hatte der BdV bereits zehn Jahre zuvor Politik und Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer nationalen Erinnerungsstätte in der Hauptstadt überzeugen können. 2005 wurde die Einrichtung einer solchen Stätte von der Großen Koalition als „sichtbares Zeichen“ beschlossen und 2008 die unselbständige Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (SFVV) unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums begründet, deren Dauerausstellung allerdings noch in Planung ist und wohl nicht vor 2018 eröffnet werden wird. Die erinnerungspolitischen Debatten auf dem Weg zu dieser Bundesstiftung sind von geschichtswissenschaftlicher Seite zeitnah nachgezeichnet worden.2 Robert Traba und Robert Żurek haben erst kürzlich auf die zentrale narrative Strategie einer vermeintlichen „Enttabuisierung“ hingewiesen, die sich in dieser Debatte mit Tendenzen einer nationalen Selbstviktimisierung, einer Ursachenrelativierung im Konstrukt eines europäischen ‚Jahrhunderts der Vertreibungen‘ und einer Universalisierung von Leiden und Schuld verbunden habe.3 Diese narrative Strategie war 1

2

3

Erika Steinbach: Gedenkstunde für die Opfer von Flucht und Vertreibung: Das Engagement unserer Stiftung trägt Früchte, Presseerklärung des Zentrums gegen Vertreibungen, 11.6.2015, URL: http://www.z-g-v.de/presse/aktuelles-details/datum/2015/06/11/gedenkstunde-fuer-dieopfer-von-flucht-und-vertreibung-das-engagement-unserer-stiftung-traegt-fruechte, letzter Zugriff: 22.9.2015. Tim Völkering: Von der privaten Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ zur Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, in: Michal Luczewski, Jutta Wiedmann (Hrsg.): Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts. Analysen deutscher und polnischer Erinnerungsorte, Frankfurt am Main 2011, S. 129–137; Ders.: „Nicht hinter jedem Namen steckt ein kluger Gedanke.“ Vom Zentrum zum Netzwerk zu einer Stiftung der Versöhnung: Der begriffliche Wandel eines neuen Gedenkortes für die Opfer von „Flucht und Vertreibung“, in: Bernd Schönemann, Saskia Handro (Hrsg.): Geschichte und Sprache, Münster 2010, S. 221–238. Robert Traba, Robert Żurek: „Vertreibung“ oder „Zwangsumsiedlung“? Die deutsch-polnische Auseinandersetzung um Termini, das Gedächtnis und den Zweck der Erinnerungspolitik, in:

Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015), S. 153–170

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Mitte der 2000er-Jahre von weiten Teilen der Politik und Medien bereitwillig übernommen und auch von einigen Historikern massiv gestützt worden. Manfred Kittel etwa, von 2009 bis 2014 erster Direktor der SFVV, hatte 2007 sein Buch über die vermeintliche Vertreibung der Vertriebenen aus der öffentlichen Erinnerung publiziert.4 Andreas Kossert, seit 2010 wissenschaftlicher Referent in der SFVV, hatte 2008 in seinem Bestseller Kalte Heimat mit demselben Tenor von einer „Mauer des Schweigens“ geschrieben, die spätestens seit den 1970er-Jahren ein gesamtdeutsches Phänomen gewesen sei. Nicht nur in der DDR sei das Thema ‚Flucht und Vertreibung‘ tabu gewesen, auch in der Bundesrepublik sei es seit den 1960er-Jahren „aus dem Gedächtnis verbannt, ja vertrieben“ und „bereitwillig getilgt“ worden.5 Andere Historiker widersprachen. Am wortgewaltigsten wandten sich 2010 Eva und Hans Henning Hahn in einer monumentalen, über 800 Seiten umfassenden Studie gegen die These von der Tabuisierung beziehungsweise Verdrängung der deutschen Zwangsmigration aus dem kollektiven Gedächtnis. Sie rekonstruierten dagegen ein seit den Anfängen der Bundesrepublik weitgehend konstant gebliebenes Narrativ, das zu einem „‚Mythos Vertreibung‘“ geronnen und „wie ein Glaubensbekenntnis“ immer wieder reproduziert worden sei.6 Obwohl das bundesdeutsche Narrativ einer unrechtmäßigen Vertreibung der Deutschen unter den Bedingungen des Kalten Krieges entstanden und von der deutschlandpolitischen Doktrin der Nichtanerkennung der Ostgrenze bestimmt worden sei, werde es in seinen strukturellen Grundzügen bis heute weiter gepflegt und verbreitet. Wesentliche historische Faktoren, insbesondere die Rolle des NS-Staates bei den Umsiedlungen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und den Evakuierungen an seinem Ende, seien dagegen über Jahrzehnte verdrängt worden, ebenso wie individuelle Erinnerungen, die nicht in das Muster des gängigen Vertreibungsnarrativs gepasst hätten, das vor allem von den Vertriebenenverbänden mit staatlicher Unterstützung immer wieder reproduziert worden sei. In der kontroversen Auseinandersetzung um die deutsche Erinnerungsgeschichte der vorangegangenen Jahrzehnte zeigte sich nicht nur eine breite öffentliche Unkenntnis. Es offenbarte sich auch ein erhebliches Forschungsdefizit, das dazu führte, dass auch renommierte Wissenschaftler teilweise der Tabuthese zustimmten und, wie etwa Martin Sabrow, leichtfertig vom „lange tabuisierten Vertreibungsthema“ sprachen.7 Immerhin erfuhr die Erinnerungsgeschichte nun eine größere Aufmerksamkeit und fand auch Eingang in Überblicksdarstellungen zur deutschen

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Christoph Koch (Hrsg.): War die „Vertreibung“ Unrecht? Die Umsiedlungsbeschlüsse des Potsdamer Abkommens und ihre Umsetzung in ihrem völkerrechtlichen und historischen Kontext, Frankfurt am Main 2015, S. 321–372. Manfred Kittel: Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982), München 2007. Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008, S. 13, 323, 337. Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn 2010, S. 10, 629. Martin Sabrow: Heroismus und Viktimismus. Überlegungen zum deutschen Opferdiskurs in historischer Perspektive, in: Potsdamer Bulletin für zeithistorische Studien 43/44 (2008), S. 7–21, hier S. 12.

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Zwangsmigration, wobei es teilweise zu widersprüchlichen Aussagen kam. So widmet die 2011 in der Beck’schen Reihe breitenwirksam als Taschenbuch erschienene Einführung Flucht und Vertreibung der Deutschen von Mathias Beer der Erinnerungsgeschichte ein eigenes Kapitel. Beer betont darin zwar sehr deutlich, dass das Sprechen über ‚Flucht und Vertreibung‘ „kein Tabu“, sondern vielmehr eine „Konstante in der Geschichte der Bundesrepublik“ gewesen sei, schreibt aber wenig später dann doch wieder über einen „Jahrzehnte ausgeklammerte[n] Komplex“, der erst 2008 durch das Stiftungsgesetz „in die deutsche Geschichte zurückgeholt“ worden sei.8 Auch die 2012 auf deutsch veröffentlichte Monographie Ordnungsgemäße Überführung des amerikanischen Historikers Ray M. Douglas gibt einen kurzen Überblick über die Erinnerungsgeschichte, wobei Douglas die Tabuthese für weitgehend widerlegt hält, aber immer wieder Versuche der Diskurskontrolle von verschiedenen Seiten konstatiert.9 Seit den Debatten um ein nationales Erinnerungszentrum Mitte der 2000erJahre und der Erkenntnis erheblicher Forschungslücken hat sich der Blick aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen verstärkt auf die bis dahin unterbelichtete Erinnerungsgeschichte gerichtet. In den zahlreichen seitdem entstandenen Forschungsarbeiten geht es längst nicht mehr allein um die Hamletfrage „Taboo or Not Taboo?“10, sondern darum, auf welche Weise konkrete Akteure, Medien und Praktiken mit unterschiedlichen Motiven und Zielen zu verschiedenen Zeiten den deutschen Erinnerungsdiskurs zur Zwangsmigration geprägt haben. Die Forschungsergebnisse diverser Disziplinen bündelt jetzt ein Handbuch, das die Rolle unterschiedlicher Erinnerungsmedien und -praktiken für den deutschen Vertreibungsdiskurs einführend und überblicksartig erläutert.11 Davon ausgehend, dass Erinnerungskulturen auf der medialen Transformation und Repräsentation von Vergangenheit basieren, geht es hier um die Bedeutung verschiedener Erinnerungsmedien nicht nur als Speicher, Bühnen oder Vehikel, sondern auch als Mitproduzenten der Erinnerung mit spezifischen Eigenlogiken, Reichweiten und Konjunkturen. Das Handbuch verweist aber auch auf intermediale Verknüpfungen, unterschiedliche Verwendungsweisen verschiedener Akteure (immer wieder auch mit Blick auf die DDR) und medienübergreifende Entwicklungen. Die wichtigsten Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen der letzten fünf Jahre werden im Folgenden näher vorgestellt. Um einen systematischen Überblick über die Fülle neuerer Arbeiten seit circa 2010 zu ermöglichen, werden sie, ihrem jeweiligen analytischen Fokus entsprechend, grob drei Strukturebenen zugeordnet, die hier nacheinander behandelt werden, in der Erinnerungskultur faktisch aber stark miteinander verschränkt sind. Unterschieden wird nachfolgend zwischen einer Mikroebene der individuellen Erinnerung und des Familiengedächtnisses der 8 9 10 11

Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011, S. 136, 156. Ray M. Douglas: „Ordnungsgemäße Überführung“. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012, S. 11 f. Bill Niven: Representations of Flight and Expulsion in GDR Prose, New York 2014, S. 1. Stephan Scholz, Maren Röger, Bill Niven (Hrsg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken, Paderborn 2015.

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Betroffenen, der Mesoebene eines organisierten Erinnerungsmilieus von Vertriebenen und ihrer Ausstrahlungen auf das lokale Gedächtnis, sowie einer Makroebne massenmedial vermittelter Erinnerungskultur auf nationaler Ebene. Zwischen Meso- und Makroebene beschäftigt sich zudem noch ein Abschnitt mit neueren Forschungen zu den verbandlichen und politischen Akteuren. Individuelle und familiäre Erinnerung Angesichts des viel beschworenen Aussterbens der Zeitzeugen, die die deutsche Zwangsmigration am Ende des Zweiten Weltkriegs und danach noch bewusst miterlebt haben, erfuhren Oral-History-Projekte in den vergangenen Jahren einen neuen Auftrieb. So wurde von 2008 bis 2011 am Lehrstuhl für bayerische und schwäbische Regionalgeschichte an der Universität Augsburg das Forschungsprojekt „Sudetendeutsche Vertriebene in Bayern“ durchgeführt. Die Ergebnisse der lebensgeschichtlichen Interviews zu den Nachwirkungen von Krieg und Vertreibung im „Mikrokosmos der Familiengeschichte“ wurden 2013 in einem Sammelband zusammengeführt.12 Im selben Jahr wurde Susanne Greiter in München mit einer Arbeit promoviert, in der sie fast 40 Interviews mit Angehörigen unterschiedlicher Generationen aus 18 Vertriebenenfamilien auswertete, die in Ingolstadt sesshaft geworden waren.13 Beide Projekte zeigen, dass pauschale Aussagen über die familiäre Weitergabe von Erinnerungen an die deutsche Zwangsmigration kaum möglich sind. Marita Krauss weist bereits im einleitenden Beitrag des Sammelbandes darauf hin, dass die Vielfalt lebensgeschichtlicher Interviews den wissenschaftlichen Drang zur Synthese in enge Grenzen weist. Die mündliche Tradierung von Erinnerungen sowohl an die alte Heimat als auch an den Vorgang der Zwangsmigration war und ist in verschiedenen Familien offenbar höchst unterschiedlich ausgeprägt und hängt von individuellen und familiären kommunikativen Verfasstheiten ebenso wie von sozialen Umgebungen ab. Auch Susanne Greiters Arbeit zeigt einen höchst heterogenen Umgang in verschiedenen Familien. Sowohl die Erinnerungen der sogenannten Erlebnisgeneration als auch der Umgang der nachkommenden Generation damit sind offenbar hochgradig abhängig von den erinnerungskulturellen und auch politischen Milieus, in denen sich die einzelnen Personen bewegen, und von der spezifischen Rezeption medial vermittelter Diskurse, die auch Sagbarkeiten im familiären Rahmen mit strukturieren. Daraus folgt zum einen, dass feste Generationenmuster, wie sie in der populärwissenschaftlichen Literatur über Kriegskinder und -enkel derzeit so verbreitet sind, eigentlich kaum möglich sind. Zum anderen verweist dies auf die

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Marita Krauss, Sarah Scholl-Schneider, Peter Fassl (Hrsg.): Erinnerungskultur und Lebensläufe. Vertriebene zwischen Bayern und Böhmen im 20. Jahrhundert – grenzüberschreitende Perspektiven, München 2013, S. 20. Susanne Greiter: Flucht und Vertreibung im Familiengedächtnis. Geschichte und Narrativ, München 2014.

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enorme Bedeutung der Erinnerungskultur sowohl partieller Erinnerungsmilieus als auch der Gesamtgesellschaft für die individuelle Erinnerung und ihre Tradierung im familiären Kontext. Partielle Erinnerungsmilieus und ihre lokale Ausstrahlung Die Erinnerungspraktiken der deutschen Vertriebenen jenseits des eigenen familiären Rahmens waren in den vergangenen Jahren Gegenstand verschiedener Forschungsprojekte, die nunmehr einen vertieften Einblick in ein spezifisches Erinnerungsmilieu der Bundesrepublik bieten. In seiner Dissertation The Lost German East, mit der er an der University of Illinois promoviert wurde, untersucht etwa Andrew Demshuk für die Teilgruppe der Schlesier die erinnerungskulturelle Binnenkommunikation auf der Organisationsebene ehemaliger Orts- und Kreisgemeinschaften bis 1970. Nach Demshuk hat die gemeinsame Erinnerung an die alte Heimat, gepflegt und praktiziert im Medium der bislang kaum untersuchten Heimatpresse und auf Heimattreffen, eine große Bedeutung für die Prozesse von Verlustbewältigung und Neubeheimatung besessen. Selbst geschaffene Räume der Vergemeinschaftung und der Erinnerungspflege hätten „surrogate Heimat spaces“ hervorgebracht, die den Vertriebenen das Einleben in einer neuen Umgebung erleichtert hätten.14 Auch für den kirchlichen Bereich ist eine Erleichterung der Neubeheimatung durch den Transfer gemeinschaftsstiftender Erinnerungsrituale hervorgehoben worden15 Nach Demshuk hat die nostalgische Verklärung der alten Heimat ermöglicht, sie in das Reich der Erinnerung gewissermaßen auszulagern, und im Zusammenwirken mit Entfremdungserlebnissen der Gegenwart – vor allem durch Reisen in die alte Heimat oder Berichte davon – zu einer frühzeitigen Anerkennung der Realität des Verlustes geführt. Vernachlässigt wird dabei allerdings die geschichtspolitische Bedeutung dieser internen Erinnerungspraktiken, vor allem die Verankerung des Bildes eines eigentlich überzeitlichen ‚deutschen Ostens‘, eines daraus abgeleiteten Heimat- und Rückkehrrechtes unabhängig von dessen Realisierbarkeit sowie einer konsequenten Ausblendung der deutschen Kriegspolitik als ursächlichen Kontext des Heimatverlustes. Deutlich wird diese geschichtspolitische Dimension in jüngeren Spezialuntersuchungen einzelner Erinnerungsmedien der Vertriebenen. Verschiedene Beiträge in dem von Erik Fischer herausgegebenen vierten Ergebnisband des Bonner Forschungsprojektes zur Deutschen Musikkultur im östlichen Europa und nun insbesondere die äußerst kenntnisreiche und reflektierte Dissertation von Sarah Brasack belegen etwa die massive Steuerung und Indienstnahme des lange kaum beachteten und weithin als unpolitisch geltenden kulturellen Mediums der Musik, das wie kaum ein anderes Heimatbilder evoziert und repräsentiert. Systematisch und 14 15

Andrew Th. Demshuk: The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory, 1945–1970, New York 2012, S. 178. Benedikt Kranemann (Hrsg.): Liturgie und Migration. Die Bedeutung von Liturgie und Frömmigkeit bei der Integration von Migranten im deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2012.

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gezielt konstruierten und benutzten Vertriebenenverbände auditive Erinnerungsorte zur quasi metaphysischen Begründung eines Rechts auf die Heimat und eines Unrechts der Vertreibung.16 Verbandliche Selektions- und Normierungsmechanismen im Erinnerungsdiskurs sind auch für die Heimatbücher der Vertriebenen deutlich geworden. In einem von Mathias Beer herausgegebenen Sammelband zum Genre des Heimatbuchs hat Ulrike Frede, basierend auf ihren Forschungen zu schlesischen Heimatbüchern, auf die Normierung eines homogenen, identitätsstiftenden Erinnerungsnarrativs des Vertreibungsunrechts hingewiesen. Dieses Narrativ, führt Wolfgang Kessler im selben Band aus, fixierte nicht nur das kommunikative Gedächtnis der Betroffenen, sondern war lange auch mit dem Hintergedanken der Restitutionsforderung verbunden.17 Jutta Faehndrich hat in ihrer Dissertation zu den Heimatbüchern der Vertriebenen ausführlicher die dort vermittelten hegemonialen und stereotypen Geschichtsbilder aufgezeigt, dabei aber auch wichtige regionale Unterschiede zwischen reichs-, sudeten- und anderen auslandsdeutschen Gruppen herausgearbeitet. Den von Demshuk hervorgehobenen Bewältigungseffekt dieser Form der Erinnerung stellt Faehndrich in Frage und meint stattdessen, dass sie für die Betroffenen „eine Trauerarbeit über den erlittenen Verlust, ein ehrliches Abschiednehmen vom Verlorenen und damit eine allmähliche Verarbeitung des Traumas des Heimatverlusts“ eher erschwert als begünstigt habe.18 Mit der Dissertation von Cornelia Eisler zu den fast 600 ‚Heimatstuben‘ der Vertriebenen vor allem in Westdeutschland liegt nun eine weitere detaillierte Untersuchung vor, die einen tiefen Einblick in ein spezifisches Erinnerungsmilieu gibt, aber auch deren enge Verschränkungen mit der staatlichen Kulturpolitik in plastischer Weise offenlegt.19 Als staatlich geförderte semi-museale Sammlungen materiellen Kulturgutes waren ‚Heimatstuben‘ im Rahmen der – von Eisler hier erstmals näher untersuchten – kommunalen Patenschaftsarbeit in den 1950er-Jahren einerseits auf den Zusammenhalt von Herkunftsgemeinschaften mit dem ausdrücklichen Ziel gerichtet, deren zukünftige Rückkehr in die alte Heimat zu gewährleisten. Andererseits sollten sie aber auch der Neubeheimatung vor Ort dienen, indem sie Erinnerungen an die alte Heimat in die neue Heimat integrierten. Die mit den Heimatsammlungen ebenfalls verbundene Absicht, Begegnungsstätten zwischen 16

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Erik Fischer (Hrsg.): Deutsche Musikkultur im östlichen Europa. Konstellationen – Metamorphosen – Desiderata – Perspektiven, Stuttgart 2012; Sarah Brasack: Resonanzen und Repräsentationen der Alten Heimat. Musik und Musikkultur der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland, Phil. Diss. Bonn 2015, URL: http://hss.ulb.uni-bonn.de/2015/4013/4013.pdf, letzter Zugriff: 22.9.2015. Ulrike Frede: „Unsere Heimat war deutsch!“ Überlegungen zum Umgang mit Geschichte und Geschichtsbildern in ostdeutschen Heimatbüchern, in: Mathias Beer (Hrsg.): Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen 2010, S. 179–202; Wolfgang Kessler: Von der Aneignung der Region als ‚Heimat‘ zur Dokumentation des Verlorenen. Heimatbücher zum historischen Nordostdeutschland, in: Ebd., S. 101–127. Jutta Faehndrich: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen, Köln u. a. 2011, S. 237. Cornelia Eisler: Verwaltete Erinnerung – symbolische Politik. Die Heimatsammlungen der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler, München 2015.

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Einheimischen und Vertriebenen zu schaffen, erfüllte sich nicht. ‚Heimatstuben‘ entwickelten sich stattdessen immer mehr zu Residueen einer sich stetig reduzierenden Gruppe innerhalb der Vertriebenen, die eine Form der Erinnerungspflege betrieb, die sich außerhalb dieser isolierten Räume zunehmend überlebte. Den mit ihnen verbundenen Anspruch, auf eine breitere lokale Erinnerungsgemeinschaft einzuwirken, erfüllten die ‚Heimatstuben‘ in der Regel nicht. Die Bedeutung dieser anvisierten lokalen Ebene für die Ausbildung und Verankerung kollektiver Erinnerungen an die deutsche Zwangsmigration ist erst seit kurzem Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. Eine Pionierstudie stellt in dieser Hinsicht die Arbeit von Claas Neumann dar, der für das Fallbeispiel der Stadt Oldenburg zeigt, wie durch das Zusammenwirken unterschiedlicher lokaler Akteure, Medien und Praktiken in der erinnerungskulturellen Formierungsphase der 1950er-Jahre die deutsche Zwangsmigration Teil eines städtischen ‚Erinnerungshaushalts‘ wurde, der sowohl Entwicklungen der nationalen Erinnerungskultur widerspiegelte als auch Resultat spezifischer lokaler Eigenlogiken war.20 Als wichtige Erinnerungsmedien auf lokaler Ebene erweisen sich dabei die mehr als 1.500 Vertriebenendenkmäler, die im öffentlichen Raum zahlreicher deutscher Städte und Gemeinden stehen. Jeffrey Luppes hat sie in seiner an der University of Missouri erstellten Dissertation als Instrumente der Vertriebenenverbände zur Demonstration territorialer Ansprüche und kollektiver Unschuld interpretiert.21 Ich selbst habe sie in meiner Habilitationsschrift als Gedenkorte der lokalen Gesamtgesellschaft analysiert, an denen unterschiedliche Positionen im Funktionsgeflecht von Verlustbewältigung, Integration, Deutschlandpolitik und Geschichtsdeutung auch kontrovers verhandelt wurden.22 In ihrem Zusammenwirken bilden diese Denkmäler eine dezentral strukturierte Erinnerungstopografie, die die Bedeutung des lokalen Erinnerungsraumes für die nationale Gedächtnisbildung verdeutlicht. Akteure der Erinnerungspolitik in Verbänden und Politik Die Untersuchungen unterschiedlicher Erinnerungsmedien der Vertriebenen haben deutlich die Bedeutung der Vertriebenenverbände als zentralen Akteur in der Gestaltung einer zunächst nach innen gerichteten Erinnerungssubkultur gezeigt, die aber gleichzeitig immer auch nach außen auf die deutsche Gesamtgesellschaft hin orientiert war. Die Landsmannschaften und insbesondere der BdV als nationaler Dachverband waren früher schon wiederholt Objekt nicht nur des öffentlichen, sondern auch des wissenschaftlichen Interesses. In jüngster Zeit sind vor allem Einzelaspekte untersucht worden, zum Beispiel die ‚Charta der deutschen Hei20 21 22

Claas Neumann: Medien, Praktiken und Akteure der öffentlichen Erinnerungskultur. Oldenburgs Gedenken an Flucht und Vertreibung im Zuge der 1950er Jahre, Oldenburg 2013. Jeffrey Luppes: To Our Dead: Local Expellee Monuments and the Contestation of German Postwar Memory, Phil. Diss. Ann Arbor 2010, URL: http://deepblue.lib.umich.edu/bitstream/ 2027.42/78786/1/jluppes_1.pdf, letzter Zugriff: 22.9.2015. Stephan Scholz: Vertriebenendenkmäler. Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft, Paderborn 2015.

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matvertriebenen‘ als Gründungsdokument des BdV, dessen erinnerungskulturelle Bedeutung heute umstritten ist.23 Nach wie vor bestehen erhebliche Forschungsdefizite hinsichtlich der verbandlichen Erinnerungspolitik, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass der im Bundesarchiv Koblenz befindliche BdV-Bestand immer noch nicht vollständig erschlossen und bislang erst unzureichend genutzt worden ist. Allein auf veröffentlichte Presseartikel stützt sich etwa die Münchener Dissertation von Anna Jakubowska zur Selbst- und Fremddarstellung des BdV von seiner Gründung 1957 bis 2004.24 Darin zeigt sich, dass Geschichtsbilder und Erinnerungspolitik des Verbandes bis 1990 maßgeblich vom deutschlandpolitischen Ziel einer Revision der Ostgrenze bestimmt wurden. Als der gesellschaftliche und politische Rückhalt dafür seit Ende der 1960er-Jahre abnahm, verknüpfte er eine historische Opferstilisierung mit seinem zeitgenössischen Selbstbild: Der BdV stellte die Vertriebenen, die er in ihrer Gesamtheit zu vertreten beanspruchte, als dreifache Opfer der Vertreibung, der Neuen Ostpolitik und der vermeintlichen Herausdrängung aus dem öffentlichen Diskurs dar. Mit dem stetigen Abnehmen des politischen Einflusses ging aber seit den 1980er-Jahren als Kompensation eine stärkere finanzielle Förderung durch die Kohl-Regierung für die kaum veränderte Kultur- und Erinnerungspolitik des Verbandes einher. Nachdem die Grenzfrage in den 1990er-Jahren endgültig entschieden war, verlegte sich der BdV vor allem unter der Präsidentschaft von Erika Steinbach (1998–2014) vollends auf seine erinnerungspolitischen Ziele, die er nun erfolgreich als ein nationales Interesse vermitteln konnte: Mit der Deklarierung der Vertreibung als historisches Unrecht und humanitäres Verbrechen prägte er erfolgreich einen neuen deutschen Opferdiskurs mit. Die Befunde von Jakubowska zum BdV werden im Wesentlichen auch durch einzelne Beiträge bestätigt, die in einem von Matthias Stickler herausgegebenen Sammelband erschienen sind.25 Der Band vereinigt zudem auch mehrere biografische Aufsätze zu einzelnen Verbandsfunktionären. Zusammen mit dem umfassenden Gutachten von Michael Schwartz zu den 13 Gründungsmitgliedern des BdVPräsidiums und ihrer Vergangenheit in der NS-Zeit,26 machen sie deutlich, wie auf23

24 25 26

Christopher Dowe: Mythos und Wirklichkeit – Die 1950 in Stuttgart verkündete Charta der deutschen Heimatvertriebenen, in: Schwäbische Heimat 61 (2010) 4, S. 418–425; Kurt Nellhiebel: 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Ursprung und Rezeption eines umstrittenen Dokuments, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010) 9, S. 730–744; Jörg Hackmann: Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950, in: Themenportal Europäische Geschichte (2010), URL: http://www.europa.clio-online.de/2010/ Article=463, letzter Zugriff: 12.2.2016; Matthias Stickler: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung“ – Die Stuttgarter Charta vom 5./6. August 1950 als zeithistorisches Dokument, in: Jörg-Dieter Gauger, Hanns-Jürgen Küsters (Hrsg.): „Zeichen der Menschlichkeit und des Willens zur Versöhnung“. 60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen, Sankt Augustin 2011, S. 43–74. Anna Jakubowska: Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957–2004). Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes, Marburg 2012. Matthias Stickler (Hrsg.): Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung. Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration, Stuttgart 2014. Michael Schwartz: Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das „Dritte Reich“, München 2012.

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schlussreich und wichtig auch die biografische Herangehensweise neben diskursund kulturgeschichtlichen Zugängen bleibt, wenn es um die Erinnerungspolitik in der Bundesrepublik geht. Der biografische Ansatz zeigt zum Beispiel vielfach die sowohl personellen als auch ideologischen Kontinuitätslinien zum Grenzland- und Volkstumsdiskurs der Zwischenkriegszeit auf. Zudem verweist er auf die teilweise sehr engen Verflechtungen zwischen Vertriebenenverbänden und Politik, die Gegenstand mehrerer jüngerer Arbeiten sind. So arbeitet Wolfgang Fischer in seiner Tübinger Dissertation zum politischen Handeln von Vertriebenen im Deutschen Bundestag bis 1974 heraus, dass die Vertriebenen unter den Abgeordneten alles andere als eine homogene Gruppe bildeten.27 In allen Parteien vertreten und nur zu einem Drittel gleichzeitig auch Mitglied eines Vertriebenenverbandes, war ihr politisches Agieren selbst in vertriebenen- und deutschlandpolitischen Fragen nur bedingt von ihrem biografischen Hintergrund als Vertriebene bestimmt. Wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen ‚Schicksalsgemeinschaft‘ von Vertriebenen, die offenbar lediglich die im Bundestag vertretenen Verbandsfunktionäre für entscheidend hielten, wurden zunehmend die (partei-)politische Orientierung und die Teilhabe an grundlegenden Veränderungen des allgemeinen geschichtspolitischen Diskurses, woraus sich insbesondere die große Zustimmung unter jüngeren SPD-Abgeordneten mit Vertreibungshintergrund zur Neuen Ostpolitik erklärt. Den radikalen Bruch, den diese Neue Ostpolitik in der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik bedeutet hat, streicht Matthias Müller in seiner Gießener Dissertation noch einmal deutlich heraus, in der er das Verhältnis der SPD zu den Vertriebenenverbänden bis 1977 chronologisch nachzeichnet.28 Unklar bleibt dabei, inwieweit dieser Bruch sich auch auf die Erinnerungspolitik auswirkte, die hier nur eine Nebenrolle spielt und auch von den Zeitgenossen anscheinend lediglich instrumentell im Hinblick auf die Grenzfrage betrachtet wurde. Mit der Neuen Ostpolitik sollte als eine Art Kompensation zunächst noch eine verstärkte Förderung der Vertriebenen-Kulturpflege einhergehen, von der die sozialliberale Koalition dann aber doch aufgrund des heftigen Konflikts mit dem BdV absah, um nun vielmehr die staatliche finanzielle Unterstützung für den Verband zu kürzen, der sich zunehmend selbst vom allgemeingesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs abschottete. Während für die Haltung der CDU zu den Vertriebenenverbänden und der Erinnerung an die deutsche Zwangsmigration bislang keine eigene Untersuchung vorliegt, hat Gerhard Hopp in seiner politikwissenschaftlichen Dissertation das Verhältnis der CSU zur Sudentendeutschen Landsmannschaft als dem wichtigstem Vertriebenenverband in Bayern mit Methoden der Netzwerkforschung untersucht. Obwohl seit den 1950er-Jahren mit der Schirmherrschaft der Landesregierung über die ‚Volksgruppe‘ der Sudetendeutschen eine „privilegierte Partnerschaft“ angelegt gewesen sei, habe erst der Konflikt um die Neue Ostpolitik für ein Zusammenschweißen zu einer „nahezu symbiotische[n] Beziehung“ zwischen Partei und Ver27 28

Wolfgang Fischer: Heimat-Politiker? Selbstverständnis und politisches Handeln von Vertriebenen als Abgeordnete im Deutschen Bundestag 1949 bis 1974, Düsseldorf 2010. Matthias Müller: Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, Berlin 2012.

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band gesorgt, die ein dichtes, klientelistisch geprägtes Netzwerk zur Folge gehabt habe.29 An den Verhandlungen zum Prager Vertrag von 1973, zum deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrag von 1992 und zum EU-Beitritt Tschechiens 2004 zeigt Hopp, wie dieses Netzwerk bis in die Gegenwart und trotz einer mittlerweile weitgehenden Loslösung von seiner sozialstrukturellen Fundierung erinnerungspolitisch immer wieder wirksam wird und sich die CSU dabei als Sprachrohr der Vertriebeneninteressen geriert. Dass dabei in Bayern erhebliche Überschneidungen zwischen parteipolitischer und staatlicher Unterstützung bestehen, zeigt die Dissertation von Erik K. Franzen, der die Entstehung und Ausgestaltung der Schirmherrschaft des Bundeslandes für die Sudetendeutschen bis 1974 detailliert nachgezeichnet hat, wobei auch hier die Erinnerungspolitik nur einen Nebenstrang bildet.30 Nach der Arbeit von Matthias Müller zur SPD überrascht dabei nur noch bedingt, dass auch die bayerische SPD mit ihrem Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner in den 1950er-Jahren die völkische Fundierung des Schirmherrschaftsdiskurses mitbegründet hat, etwa mit der Etablierung des Schlagwortes von den Sudetendeutschen als ‚viertem Stamm‘ Bayerns. Auf die Bedeutung der landespolitischen Ebene für die Ausgestaltung der Erinnerungskultur verweist auch die Oldenburger Dissertation von Britta Weichers zur Institutionalisierung und Konzeption der Ostkunde an den Schulen in den 1950erund 1960er-Jahren.31 Da Bildungspolitik in der Bundesrepublik Ländersache ist, waren es die Bundesländer, die nach den Ostkundeempfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1956 die Ostkunde als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip installierten und in der Ausgestaltung durchaus unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Überall kamen ergänzende Unterrichtsmaterialien zum Einsatz, die wiederum im Wesentlichen vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen und vom Bundesvertriebenenministerium finanziert wurden, deren erinnerungspolitische Aktivitäten bislang noch nicht ausreichend untersucht worden sind.32 Weiterhin offen und nur schwer zu beurteilen bleibt die tatsächliche Wirkung der schulischen Ostkunde auf die Geschichtsbilder ganzer Schülergenerationen. Auf die Bedeutung intermedialer Verflechtungen von schulischen mit anderen öffentlichen Medien und damit auf die erinnerungskulturelle Makroebene des Vertreibungsdis-

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Gerhard Hopp: Machtfaktor auch ohne Machtbasis? Die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die CSU, Wiesbaden 2010, S. 345 f. Erik K. Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974, München 2010. Britta Weichers: Der deutsche Osten in der Schule. Institutionalisierung und Konzepte der Ostkunde in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren, Frankfurt am Main 2013. Das gilt ebenso für die Bundeszentrale für politische Bildung und Einrichtungen wie den Göttinger Arbeitskreis oder das Herder-Institut in Marburg. Für die Erinnerungskultur an ‚Flucht und Vertreibung‘ wenig ergiebig sind Stefan Creuzberger: Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949–1969, Düsseldorf 2008; Gudrun Hentges: Staat und politische Bildung. Von der „Zentrale für Heimatdienst“ zur „Bundeszentrale für politische Bildung“, Wiesbaden 2013.

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kurses hat jüngst ein Aufsatz zur fotografischen Repräsentation von ‚Flucht und Vertreibung‘ in Geschichtsschulbüchern verwiesen.33 Nationale Erinnerungskulturen in West- und Ostdeutschland Die Bedeutung visueller Medien für die Konstruktion kollektiver Erinnerung an die deutsche Zwangsmigration ist nach ersten Hinweisen in einem Sammelband zur Ästhetik des Verlusts von Elisabeth Fendl34 vor allem in der Dissertation von Maren Röger deutlich geworden, in der sie unter anderem die „medialen Bildwelten des Vertreibungskomplexes“ in Deutschland und Polen verglichen hat.35 Für den deutschen ‚Bilderhaushalt‘ ist jüngst zudem problematisiert worden, dass oft gezeigte vermeintliche Vertreibungsfotos nicht selten tatsächlich anderen Kontexten entstammen und oft nur schwer zu bestimmen ist, was sie wirklich zeigen.36 Über die visuelle Dimension hinaus ist es Maren Röger in ihrer Doktorarbeit gelungen, einen tieferen Einblick in die medialen Mechanismen gesellschaftlicher Erinnerungskonstruktion zu geben, indem sie erstmals die Akteursrolle und die Eigenlogiken moderner Massenmedien für den Vertreibungsdiskurs untersucht. Für die zwei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung kann sie insbesondere das Wechselspiel zwischen Pressesystem, Buchmarkt und Fernsehen im Prozess eines ‚Collective-Memory-Setting‘ plastisch aufzeigen und unter anderem anhand des Bestsellers Im Krebsgang von Günter Grass deutlich machen, wie die deutsche Zwangsmigration vor allem nach der Jahrtausendwende zu einem erinnerungskulturellen Medienereignis wurde. Für die vorangegangenen Jahrzehnte steht eine vergleichbare umfassende Studie noch aus. Untersucht wurden in den letzten Jahren aber einzelne Erinnerungsmedien, die die öffentliche Aufmerksamkeit immer wieder auf die deutsche Zwangsmigration gelenkt haben. Tim Völkering hat in seiner 2014 in Münster eingereichten Dissertation etwa die Rolle von Sonder- und Wanderausstellungen seit den 1950er-Jahren untersucht, die regelmäßig für bundesweites Interesse gesorgt haben.37 Noch wichtiger waren wahrscheinlich populärkulturelle Medien wie 33 34 35

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Stephan Scholz: Fotografische Repräsentationen und Konstruktionen von ‚Flucht und Vertreibung‘ im Schulbuch, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015) 9/10, S. 562–576. Elisabeth Fendl (Hrsg.): Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung, Münster 2010. Maren Röger: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungskulturen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989, Marburg 2011, S. 254. Vgl. auch dies.: Bilder der Vertreibung: Propagandistischer Kontext und Funktionalisierungen in erinnerungskulturellen Diskursen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Franz X. Eder, Oliver Kühschelm, Christina Lisboth (Hrsg.): Bilder in historischen Diskursen, Wiesbaden 2014, S. 261–282. Stephan Scholz: „Ein neuer Blick auf das Drama im Osten“? Fotografien in der medialen Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 11 (2014) 1, S. 120–133, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1–2014/ id=5014, letzter Zugriff: 22.9.2015. Tim Völkering: „Flucht, Vertreibung und Integration“ in historischen Sonder- und Wanderausstellungen 1950–2011. Eine vergleichende geschichtskulturelle Analyse, Ms., Diss. Münster

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Kino- und Fernsehfilme. In den letzten Jahren sind dazu lediglich einige Aufsätze erschienen, die sich zum einen mit der Integration von Vertriebenen(themen) im deutschen Heimatfilm der 1950er-Jahre beschäftigt haben.38 Zum anderen wurden wiederholt jüngere TV-Blockbuster untersucht und dabei teilweise auch Bezüge zu älteren Spielfilmen hergestellt, insbesondere was Geschlechtermuster und TäterOpfer-Bezüge angeht.39 Auffällig ist dabei die häufige Wiederkehr des besonders dramatischen Motivs der Flucht über die Ostsee.40 Einen ersten umfassenden Überblick gibt nun die in Münster eingereichte Dissertation von Alina Laura Tiews, die nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die DDR behandelt.41 Erste Aufsätze zu einzelnen Filmen weisen bereits darauf hin, dass das Thema in der DDR offenbar durchaus nicht in einem „großen Orwellschen Erinnerungsloch entsorgt“ worden ist.42 Bereits eine erste Untersuchung von Carola Hähnel-Mesnard zur DDR-Literatur in den 1950er-Jahren hat die äußerst verbreitete These vom totalen Tabu der

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2014. Erste Ergebnisse sind veröffentlicht in: Ders.: Die Musealisierung der Themen Flucht, Vertreibung und Integration. Analysen zur Debatte um einen neuen musealen Gedenkort und zu historischen Ausstellungen seit 1950, in: Fendl: Zur Ästhetik des Verlusts, 2010, S. 71–124. Michaela S. Ast: Flucht und Vertreibung im bundesdeutschen Spielfilm der 1950er-Jahre, in: Deutschland Archiv Online, 2/2012, URL: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/ deutschlandarchiv/74912/flucht-und-vertreibung, letzter Zugriff: 22.9.2015; Dagmar Hänel, Erik Fischer: Grüne Heide, hohe Tannen – Konzepte der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen im bundesdeutschen Heimatfilm der 1950er Jahre, in: Fischer: Deutsche Musikkultur, 2012, S. 179–198. Björn Bergold: „Man lernt ja bei solchen Filmen immer noch dazu.“ Der Fernsehzweiteiler „Die Flucht“ und seine Rezeption in der Schule, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 61 (2010) 9/10, S. 503–515; Bettina Schlüter: „Politisch korrekt und auch sonst schwach“ – Die mediale ‚Reaktualisierung‘ von Flucht und Vertreibung, in: Fischer, Deutsche Musikkultur, 2012, S. 390–408; Stephan Scholz: Nur eine Stunde der Frauen? Geschlechterkonstruktionen in der Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Edeltraud Aubele, Gabriele Pieri (Hrsg.): Femina Migrans. Frauen in Migrationsprozessen (18.–20. Jahrhundert), Sulzbach im Taunus 2011, S. 99–125; Alexandra Tacke, Geesa Tuch: Frauen auf der Flucht. „Nacht fiel über Gotenhafen“ (1959), „Die Flucht“ (2007) und „Die Gustloff“ (2008) im Vergleich, in: Elena Agazzi, Erhard Schütz (Hrsg.): Heimkehr: Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien, Berlin 2010, S. 229–242. Vgl. dazu Bill Niven (Hrsg.): Die Wilhelm Gustloff. Geschichte und Erinnerung eines Untergangs, Halle 2011; Stephan Scholz: Rettung und Untergang. Die Ostsee in der Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Rudolf Holbach, Dietmar von Reeken (Hrsg.): „Das ungeheure Wellen-Reich“. Bedeutungen, Wahrnehmungen und Projektionen des Meeres in der Geschichte, Oldenburg 2014, S. 133–149. Alina Laura Tiews: Vertriebenenintegration durch Film und Fernsehen in DDR und Bundesrepublik 1949–1990, Ms., Diss. Münster 2014. So Douglas: Ordnungsgemäße Überführung, 2012, S. 428, ähnlich Kossert: Kalte Heimat, 2008, S. 10. Vgl. dagegen Bill Niven: On a supposed Taboo: Flight and Refugees from the East in GDR Film and Television, in: German Life and Letters 65 (2012) 2, S. 216–236; Alina Laura Tiews: „Wie lange fahren wir noch?“ – „Bis wir zu Hause sind“: Die Inszenierung von Flucht und Vertreibung als Heimkehr im DDR-Fernsehfilm „Wege übers Land“, in: Lars Karl, Dietmar Müller, Katharina Seibert (Hrsg.): Der lange Weg nach Hause. Die Konstruktion von Heimat im europäischen Spielfilm, Berlin 2014, S. 60–86.

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Erinnerung in der DDR relativiert.43 Heike Amos räumte daraufhin in ihrer Arbeit zur Vertriebenenpolitik des SED-Staates ein, dass nicht die Herkunft, Leiden und Integrationsprobleme der Flüchtlinge, sondern lediglich die staatsbedrohende Infragestellung der Ostgrenze und der Legitimität der Zwangsmigration selbst ein „absolutes Tabu“ gewesen sei und daher auch geheimdienstliche Aktivitäten motiviert habe – was sie nicht davon abhält, im Widerspruch dazu doch in genereller Hinsicht von einem „totalen Tabu“ zu schreiben.44 Nach einer weiteren Infragestellung der Tabu-These durch zusätzliche Einzelbeispiele in der Doktorarbeit von Katja Hartleb45 zeigt nun eindrucksvoll eine Monografie von Bill Niven, dass die Kultur und insbesondere die Literatur trotz starker staatlicher Reglementierung eine öffentliche Sphäre in der DDR darstellte, in der die deutsche Zwangsmigration beständig thematisiert wurde.46 In seiner Untersuchung von über 100 Romanen und Erzählungen kann Niven auf reichhaltige und durchaus heterogene Formen der literarischen Erinnerung verweisen, verschiedene Entwicklungsphasen, aber auch feststehende Erzählrahmen ausmachen. Wie Alina Tiews kürzlich in einer Besprechung zu Recht festgestellt hat, stellt Nivens Buch über das spezielle Feld der Literatur hinaus eine fundierte „Neubewertung des gesamten DDR-Diskurses über Flucht und Vertreibung“ dar.47 Nivens Blick auf die DDR-Literatur ermöglicht aber auch eine Erweiterung der Perspektive auf die Literatur der Bundesrepublik, zu der sie immer in einem gewissen Wechselverhältnis stand. So war der konstitutive Hintergrund der NSKriegspolitik in der DDR-Literatur auch eine Reaktion auf eine langandauernde Ausblendung dieses historischen Kontextes in der westdeutschen Literatur, in der offenbar ebenfalls lange festgefügte Diskursregeln bestanden. So fanden hier Bücher, die eine nationalsozialistische Verantwortung für die Leiden der flüchtenden Bevölkerung thematisierten, in den 1950er- und 1960er-Jahren keinen Verlag, wie das Frühwerk Stern ohne Himmel von Leonie Ossowski zeigt, das erst 1978 in der Bundesrepublik veröffentlicht werden konnte. Nach zahlreichen Beiträgen vor allem der englischsprachigen Germanistik zur Behandlung der deutschen Zwangsmigration in einzelnen Werken verschiedener westdeutscher Autoren,48 hat es nun Karina Berger unternommen, in ihrer Doktorarbeit einen Gesamtüberblick über die gesamte Dauer der Bundesrepublik zu ge-

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Carola Hähnel-Mesnard: Narrative der Flucht, Vertreibung und Integration in der DDR-Literatur der 1950er Jahre, in: Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 4 (2008), S. 121–143. Heike Amos: Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990, München 2009, S. 270, 254. Vgl. Dies.: Vertriebenenverbände im Fadenkreuz. Aktivitäten der Staatssicherheit 1949 bis 1989, München 2011. Katja Hartleb: Flucht und Vertreibung. Ein Tabuthema in der DDR-Literatur?, Marburg 2011. Niven: Representations, 2014. Alina Laura Tiews: Rezension zu Niven: Representations, 2014 in: sehepunkte 15 (2015) 7/8 (15.07.2015), URL: http://www.sehepunkte.de/2015/07/26816.html, letzter Zugriff: 22.9.2015. Vgl. beispielhaft Stuart Taberner, Karina Berger (Hrsg.): Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic, Rochester 2009; Friederike Eigler: Heimat, Space, Narrative: Toward a Transnational Approach to Flight and Expulsion, Rochester 2014.

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ben.49 Sie zeigt darin, dass der literarische Boom der letzten 20 Jahre nur Teil einer viel längeren Tradition in der westdeutschen Literatur ist, die als Medium zwischen individueller und kollektiver Verarbeitung selbst Sagbarkeitsregeln gleichermaßen unterliegt wie mitprägt. Immer wieder fungiert Literatur nicht nur als ein „Echolot der Erinnerung“,50 sondern thematisiert und verarbeitet zunehmend auch den sich wandelnden individuellen wie gesellschaftlichen Umgang mit der Erinnerung an die deutsche Zwangsmigration. Ein bislang wenig beachteter Raum zur Verbreitung literarischer Verarbeitungen, aber auch erinnerungskulturell relevanter Reportagen, Dokumentationen, Features und anderer Formate ist der Rundfunk. Nach einem ersten Aufsatz von Inge Marszolek zu einer Sendereihe in Radio Bremen in den 1950er-Jahren51 widmet sich Alina Laura Tiews nun in einem Forschungsprojekt diesem wichtigen Medium in umfassender Weise für die Zeit von 1945 bis 1961.52 Die Relevanz des Rundfunks als ein zeitweiliges Leitmedium für die kollektive Erinnerung an die deutsche Zwangsmigration aus dem Osten gerade auch im deutsch-deutschen Wechselverhältnis verdeutlichte erst jüngst Bundespräsident Joachim Gauck, als er sich im Juni 2015 in seiner Festrede zum ersten ‚Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung‘ daran erinnerte, wie er als jugendlicher Nichtvertriebener in der DDR nach dem wiederholten Hören des Ostpreußenliedes im Nordwestdeutschen Rundfunk schließlich selbst eine Sehnsucht nach dem verlorenen Land im Osten gespürt habe.53 Zusammenfassung und Ausblick Die Forschungen zur Erinnerungsgeschichte von ‚Flucht und Vertreibung‘ haben sich in den letzten Jahren stark intensiviert und zu vertieften Kenntnissen geführt. Die meisten Arbeiten haben dabei eine zeitlich begrenzte Untersuchungsperspektive eingenommen. Forschungen zur Mikroebene individueller oder familiärer Erinnerung, die meist als Oral-History-Projekte angelegt sind, fokussierten sich aus methodischen Gründen auf die jüngste Vergangenheit, während die vorangegangenen Jahrzehnte und längerfristige Entwicklungen außen vor blieben. Auch für die massenmediale Erinnerung gibt es gerade für die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik noch zahlreiche Defizite. 49 50 51 52

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Karina Berger: Heimat, Loss and Identity. Flight and Expulsion in German Literature from the 1950 s to the Present, Oxford u. a. 2015. Christopher Schliephake: Zeitgenössische Vertreibungsliteratur als Echolot von Erinnerung, in: Krauss et al.: Erinnerungskultur und Lebensläufe, 2013, S. 95–105. Inge Marszolek: Unforgotten Landscapes: Radio and the Reconstruction of Germany’s European Mission in the East in the 1950 s, in: German Politics and Society 32 (2014) 110, S. 60–73. Alina Laura Tiews: Ankunft im Radio. Flucht und Vertreibung in west- und ostdeutschen Hörfunkprogrammen 1945–1961. Ein Forschungsprojekt, URL: http://www.hans-bredow-institut.de/ de/forschung/ankunft-im-radio-flucht-vertreibung-west-ostdeutschen-hoerfunkprogrammen1945–1961, letzter Zugriff: 22.9.2015. Joachim Gauck: Rede zum Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung, 20.6.2015, URL: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/06/ 150620-Gedenktag-Flucht-Vertreibung.html, letzter Zugriff: 22.9.2015.

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Dagegen konnten Untersuchungen zur staatlichen oder verbandlichen Erinnerungspolitik, die auf archivalische Quellen angewiesen sind, aufgrund von Sperrfristen und Problemen des Zugangs die jüngere Vergangenheit noch nicht ausreichend berücksichtigen. Während der Zusammenhang von staatlicher Kulturförderung und dem Erinnerungsmilieu der Vertriebenenverbände deutlicher geworden ist, sind die Auswirkungen auf die allgemeine Erinnerungskultur und entsprechende Wechselverhältnisse bislang noch zu wenig untersucht. Zukünftig wäre es sinnvoll, die Erinnerung an die deutsche Zwangsmigration mit der Erinnerung an andere Migrationsgeschichten zu vergleichen, um zum Beispiel besser beurteilen zu können, ob und inwiefern etwa die Nostalgisierung der Herkunftsregion, die Bildung von Erinnerungsmilieus oder auch Formen der intergenerationellen Weitergabe von Erinnerungen spezifisch sind oder zum „Normalfall Migration“ gehören.54 Auch wäre angesichts derzeitiger und zukünftiger Herausforderungen der Migrationsgesellschaft nach der Bedeutung der Erinnerung für den Umgang mit diesen Herausforderungen ebenso zu fragen wie nach den Auswirkungen der aktuellen Zuwanderungserfahrungen auf die deutsche Erinnerungskultur an ‚Flucht und Vertreibung‘. Rezensierte und weitere verwendete Publikationen Heike Amos: Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990, München 2009. Heike Amos: Vertriebenenverbände im Fadenkreuz. Aktivitäten der Staatssicherheit 1949 bis 1989, München 2011. Michaela S. Ast: Flucht und Vertreibung im bundesdeutschen Spielfilm der 1950er-Jahre, in: Deutschland Archiv Online, 2/2012, URL: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/ deutschlandarchiv/74912/flucht-und-vertreibung, letzter Zugriff: 22.9.2015. Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011. Karina Berger: Heimat, Loss and Identity. Flight and Expulsion in German Literature from the 1950 s to the Present, Oxford u. a. 2015. Björn Bergold: „Man lernt ja bei solchen Filmen immer noch dazu.“ Der Fernsehzweiteiler „Die Flucht“ und seine Rezeption in der Schule, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 61 (2010) 9/10, S. 503–515. Sarah Brasack: Resonanzen und Repräsentationen der Alten Heimat. Musik und Musikkultur der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland, Phil. Diss. Bonn 2015, URL: http://hss.ulb. uni-bonn.de/2015/4013/4013.pdf, letzter Zugriff: 22.9.2015. Andrew Th. Demshuk: The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory, 1945–1970, New York 2012. Ray M. Douglas: „Ordnungsgemäße Überführung“. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012. Christopher Dowe: Mythos und Wirklichkeit – Die 1950 in Stuttgart verkündete Charta der deutschen Heimatvertriebenen, in: Schwäbische Heimat 61 (2010) 4, S. 418–425. Friederike Eigler: Heimat, Space, Narrative: Toward a Transnational Approach to Flight and Expulsion, Rochester 2014.

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Vgl. Klaus J. Bade, Jochen Oltmer: Normalfall Migration: Deutschland im 20. und frühen 21. Jahrhundert, Bonn 2004.

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Cornelia Eisler: Verwaltete Erinnerung – symbolische Politik. Die Heimatsammlungen der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler, München 2015. Jutta Faehndrich: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen, Köln u. a. 2011. Elisabeth Fendl (Hrsg.): Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung, Münster 2010. Erik Fischer (Hrsg.): Deutsche Musikkultur im östlichen Europa. Konstellationen – Metamorphosen – Desiderata – Perspektiven, Stuttgart 2012. Wolfgang Fischer: Heimat-Politiker? Selbstverständnis und politisches Handeln von Vertriebenen als Abgeordnete im Deutschen Bundestag 1949 bis 1974, Düsseldorf 2010. Erik K. Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974, München 2010. Ulrike Frede: „Unsere Heimat war deutsch!“ Überlegungen zum Umgang mit Geschichte und Geschichtsbildern in ostdeutschen Heimatbüchern, in: Mathias Beer (Hrsg.): Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen 2010, S. 179–202. Susanne Greiter: Flucht und Vertreibung im Familiengedächtnis. Geschichte und Narrativ, München 2014. Jörg Hackmann: Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950, in: Themenportal Europäische Geschichte (2010), URL: http://www.europa.clio-online.de/2010/Article =463, letzter Zugriff: 12.2.2016. Carola Hähnel-Mesnard: Narrative der Flucht, Vertreibung und Integration in der DDR-Literatur der 1950er Jahre, in: Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 4 (2008), S. 121–143. Dagmar Hänel, Erik Fischer: Grüne Heide, hohe Tannen – Konzepte der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen im bundesdeutschen Heimatfilm der 1950er Jahre, in: Fischer: Deutsche Musikkultur, 2012, S. 179–198. Eva Hahn, Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn 2010. Katja Hartleb: Flucht und Vertreibung. Ein Tabuthema in der DDR-Literatur?, Marburg 2011. Gerhard Hopp: Machtfaktor auch ohne Machtbasis? Die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die CSU, Wiesbaden 2010. Anna Jakubowska: Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957–2004). Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes, Marburg 2012. Wolfgang Kessler: Von der Aneignung der Region als ‚Heimat‘ zur Dokumentation des Verlorenen. Heimatbücher zum historischen Nordostdeutschland, in: Mathias Beer (Hrsg.): Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen 2010, S. 101–127. Manfred Kittel: Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982), München 2007. Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008. Benedikt Kranemann (Hrsg.): Liturgie und Migration. Die Bedeutung von Liturgie und Frömmigkeit bei der Integration von Migranten im deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2012. Marita Krauss, Sarah Scholl-Schneider, Peter Fassl (Hrsg.): Erinnerungskultur und Lebensläufe. Vertriebene zwischen Bayern und Böhmen im 20. Jahrhundert – grenzüberschreitende Perspektiven, München 2013. Jeffrey Luppes: To Our Dead: Local Expellee Monuments and the Contestation of German Postwar Memory, Phil. Diss. Ann Arbor 2010, URL: http://deepblue.lib.umich.edu/bitstream/2027. 42/78786/1/jluppes_1.pdf, letzter Zugriff: 22.9.2015. Inge Marszolek: Unforgotten Landscapes: Radio and the Reconstruction of Germany’s European Mission in the East in the 1950 s, in: German Politics and Society 32 (2014) 110, S. 60–73. Matthias Müller: Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949–1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, Berlin 2012. Kurt Nellhiebel: 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Ursprung und Rezeption eines umstrittenen Dokuments, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010) 9, S. 730–744.

‚Flucht und Vertreibung‘ in der deutschen Erinnerungskultur

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Claas Neumann: Medien, Praktiken und Akteure der öffentlichen Erinnerungskultur. Oldenburgs Gedenken an Flucht und Vertreibung im Zuge der 1950er Jahre, Oldenburg 2013. Bill Niven (Hrsg.): Die Wilhelm Gustloff. Geschichte und Erinnerung eines Untergangs, Halle 2011. Bill Niven: On a supposed Taboo: Flight and Refugees from the East in GDR Film and Television, in: German Life and Letters 65 (2012) 2, S. 216–236. Bill Niven: Representations of Flight and Expulsion in GDR Prose, New York 2014. Maren Röger: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungskulturen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989, Marburg 2011. Maren Röger: Bilder der Vertreibung: Propagandistischer Kontext und Funktionalisierungen in erinnerungskulturellen Diskursen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Franz X. Eder, Oliver Kühschelm, Christina Lisboth (Hrsg.): Bilder in historischen Diskursen, Wiesbaden 2014, S. 261–282. Christopher Schliephake: Zeitgenössische Vertreibungsliteratur als Echolot von Erinnerung, in: Krauss, Scholl-Schneider, Fassl: Erinnerungskultur und Lebensläufe, 2013, S. 95–105. Bettina Schlüter: „Politisch korrekt und auch sonst schwach“ – Die mediale ‚Reaktualisierung‘ von Flucht und Vertreibung, in: Fischer: Deutsche Musikkultur, 2012, S. 390–408. Stephan Scholz: Nur eine Stunde der Frauen? Geschlechterkonstruktionen in der Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Edeltraud Aubele, Gabriele Pieri (Hrsg.): Femina Migrans. Frauen in Migrationsprozessen (18.–20. Jahrhundert), Sulzbach im Taunus 2011, S. 99–125. Stephan Scholz: Vertriebenendenkmäler. Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft, Paderborn 2015. Stephan Scholz: Rettung und Untergang. Die Ostsee in der Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Rudolf Holbach, Dietmar von Reeken (Hrsg.): „Das ungeheure Wellen-Reich“. Bedeutungen, Wahrnehmungen und Projektionen des Meeres in der Geschichte, Oldenburg 2014, S. 133–149. Stephan Scholz: „Ein neuer Blick auf das Drama im Osten“? Fotografien in der medialen Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 11 (2014) 1, S. 120–133, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1–2014/id= 5014, letzter Zugriff: 22.9.2015. Stephan Scholz: Fotografische Repräsentationen und Konstruktionen von ‚Flucht und Vertreibung‘ im Schulbuch, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015) 9/10, S. 562–576. Stephan Scholz, Maren Röger, Bill Niven (Hrsg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken, Paderborn 2015. Michael Schwartz: Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundesverbandes der Vertriebenen und das „Dritte Reich“, München 2012. Matthias Stickler: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung“ – Die Stuttgarter Charta vom 5./6. August 1950 als zeithistorisches Dokument, in: Jörg-Dieter Gauger, HannsJürgen Küsters (Hrsg.): „Zeichen der Menschlichkeit und des Willens zur Versöhnung“. 60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen, Sankt Augustin 2011, S. 43–74. Matthias Stickler (Hrsg.): Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung. Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration, Stuttgart 2014. Stuart Taberner, Karina Berger (Hrsg.): Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic, Rochester 2009. Alexandra Tacke, Geesa Tuch: Frauen auf der Flucht. „Nacht fiel über Gotenhafen“ (1959), „Die Flucht“ (2007) und „Die Gustloff“ (2008) im Vergleich, in: Elena Agazzi, Erhard Schütz (Hrsg.): Heimkehr: Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien, Berlin 2010, S. 229–242. Alina Laura Tiews: Vertriebenenintegration durch Film und Fernsehen in DDR und Bundesrepublik 1949–1990, Ms., Diss. Münster 2014. Alina Laura Tiews: „Wie lange fahren wir noch?“ – „Bis wir zu Hause sind“: Die Inszenierung von Flucht und Vertreibung als Heimkehr im DDR-Fernsehfilm „Wege übers Land“, in: Lars Karl, Dietmar Müller, Katharina Seibert (Hrsg.): Der lange Weg nach Hause. Die Konstruktion von Heimat im europäischen Spielfilm, Berlin 2014, S. 60–86.

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Stephan Scholz

Robert Traba, Robert Żurek: „Vertreibung“ oder „Zwangsumsiedlung“? Die deutsch-polnische Auseinandersetzung um Termini, das Gedächtnis und den Zweck der Erinnerungspolitik, in: Christoph Koch (Hrsg.): War die „Vertreibung“ Unrecht? Die Umsiedlungsbeschlüsse des Potsdamer Abkommens und ihre Umsetzung in ihrem völkerrechtlichen und historischen Kontext, Frankfurt am Main 2015, S. 321–372. Tim Völkering: „Nicht hinter jedem Namen steckt ein kluger Gedanke.“ Vom Zentrum zum Netzwerk zu einer Stiftung der Versöhnung: Der begriffliche Wandel eines neuen Gedenkortes für die Opfer von „Flucht und Vertreibung“, in: Bernd Schönemann, Saskia Handro (Hrsg.): Geschichte und Sprache, Münster 2010, S. 221–238. Tim Völkering: Die Musealisierung der Themen Flucht, Vertreibung und Integration. Analysen zur Debatte um einen neuen musealen Gedenkort und zu historischen Ausstellungen seit 1950, in: Fendl: Zur Ästhetik des Verlusts, 2010, S. 71–124. Tim Völkering: Von der privaten Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ zur Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, in: Michal Luczewski, Jutta Wiedmann (Hrsg.): Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts. Analysen deutscher und polnischer Erinnerungsorte, Frankfurt am Main 2011, S. 129–137. Tim Völkering: „Flucht, Vertreibung und Integration“ in historischen Sonder- und Wanderausstellungen 1950–2011. Eine vergleichende geschichtskulturelle Analyse, Ms., Diss. Münster 2014. Britta Weichers: Der deutsche Osten in der Schule. Institutionalisierung und Konzepte der Ostkunde in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren, Frankfurt am Main 2013.

AUTORINNEN UND AUTOREN

Prof. Dr. Marie-Theres Albert, Kultur- und Erziehungswissenschaftlerin, Leiterin der Internationalen Graduiertenschule Heritage Studies und Inhaberin des UNESCO Lehrstuhls Heritage Studies an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg; Leiterin des Instituts Heritage Studies an der Internationalen Akademie Berlin (INA); Herausgeberin der Reihe Heritage Studies. Ausgewählte Publikationen: Perceptions of Sustainability in Heritage Studies, Berlin 2015 (Hrsg.); 40 Jahre Welterbekonvention. Zur Popularisierung eines Schutzkonzeptes von Kultur- und Naturgütern, Berlin 2015 (Hrsg. mit Birgitta Ringbeck, engl. Ausg.: 40 Years World Heritage Convention: Popularizing the Protection of Cultural and Natural Heritage); Understanding Heritage. Perspectives in Heritage Studies, Berlin 2013 (Hrsg. mit Roland Bernecker und Britta Rudolff). Prof. Dr. Aleida Assmann, von 1993 bis 2014 Lehrstuhl für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Ausgewählte Publikationen: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, 2. Aufl., München 2014; Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, 2. Aufl., München 2014; Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013; Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 5. Aufl., München 2010. PD Dr. Ralph Buchenhorst, Kulturwissenschaftler und Philosoph, Senior Researcher am Forschungsschwerpunkt „Gesellschaft und Kultur in Bewegung“ der Universität Halle-Wittenberg. Ausgewählte Publikationen: Ding und Gedenken: Zur Bedeutung von Materialität und Authentizität in Erinnerungskulturen, in: Herbert Kalthoff, Tobias Roehl, Torsten Cress (Hrsg.): Materialitäten: Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, München 2016, S. 113–132; Von Fremdheit lernen: Zum produktiven Umgang mit Erfahrungen des Fremden im Kontext der Globalisierung, Bielefeld 2015 (Hrsg.); Das Element des Nachlebens. Zur Frage der Darstellbarkeit der Shoah in Philosophie, Kulturtheorie und Kunst, München 2011; Políticas de la memoria: Tensiones entre la imagen y la palabra, Buenos Aires 2007 (Hrsg.). C. K. Martin Chung, Ph.D., Historiker und Politikwissenschaftler, Research Assistant Professor (European Union Academic Programme Hong Kong) an der Hong Kong Baptist University. Ausgewählte Publikationen: Repentance: The Jewish Solution to the German Problem. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 14

Jahrbuch für Politik und Geschichte 6 (2015), S. 171–174

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Autorinnen und Autoren

(2015), S. 129–155; From Nation to Region: Comparing Joint History Writing in Europe and East Asia, in: Andreas Vasilache, Reimund Seidelmann, José Luis de Sales Marques (Hrsg.): States, Regions and the Global System: Europe and Northern Asia-Pacific in Globalised Governance, Baden-Baden 2011, S. 229– 242; Rethinking, Reflection, Repentance: Comparing Coming to Terms with the Past in Europe and China, in: EUAP Working Papers, 16.12.2013, URL: http:// europe.hkbu.edu.hk/euap/publication/Europe-China%20VgB%20paper%20 draft_17dec2013.pdf. Dr. Claudia Fröhlich, Politikwissenschaftlerin, Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz Universität Hannover, 2011 bis 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Ausgewählte Publikationen: Geschichtspolitische und erinnerungskulturelle ZeitRäume. Vom Reiz einer analytischen Kategorie, in: Janina Fuge, Rainer Hering, Harald Schmid (Hrsg.): Gedächtnisräume. Geschichtsbilder und Erinnerungskulturen in Norddeutschland, Göttingen 2014, S. 43–54; Rückkehr zur Demokratie – Wandel der politischen Kultur in der Bundesrepublik, in: Peter Reichel, Harald Schmid, Peter Steinbach (Hrsg.): Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung, Deutung, Erinnerung, München 2009, S. 105–126; Vergesst Habermas nicht! DIE ZEIT im Historikerstreit, in: Axel Schildt, Christian Haase (Hrsg.): DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008, S. 200–217; „Wider die Tabuisierung des Ungehorsams“. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Frankfurt am Main, New York 2006. PD Dr. Fatima Kastner, Rechts- und Sozialwissenschaftlerin, Research Fellow am Käte Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“ Centre for Advanced Study an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; seit 2014 Science Ambassador der Arab German Young Academy of Sciences and Humanities an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Ausgewählte Publikationen: Transitional Justice in der Weltgesellschaft, Hamburg 2015; From Globalization to World Society: Neo-Institutional and Systems-Theoretical Perspectives, New York 2014 (Hrsg. mit Boris Holzer und Tobias Werron); Lex Transitus: Zur Emergenz eines globalen Rechtsregimes von Transitional Justice in der Weltgesellschaft, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 35 (2015) 1, S. 29–47; Retributive versus restaurative Gerechtigkeit. Zur transnationalen Diffusion von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in der Weltgesellschaft. In: Regina Kreide, Andreas Niederberger (Hrsg.): Staatliche Souveränität und transnationales Recht, München 2010, S. 194–211. Anca Claudia Prodan, Ph.D., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Interkulturalität und an der Internationalen Graduiertenschule Heritage Studies / UNESCO Lehrstuhl Heritage Studies der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg; Mitglied des Netzwerks des Unterausschusses für Lehre und Forschung des UNESCO-Programms Memory of the World; Ausgewählte

Autorinnen und Autoren

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Publikationen: The Memory of the World and its Hidden Facets, in: William Logan, Máiréad Nic Craith, and Ulrich Kockel (Hrsg.): A Companion to Heritage Studies, Chichester, West Sussex/USA 2015, S. 133–145; Documentary Heritage, Digital Technologies and the Dissemination of Knowledge, in: Marie-Theres Albert, Roland Bernecker, Britta Rudolff (Hrsg.): Understanding Heritage. Perspectives in Heritage Studies, Berlin 2013, S. 155–168; Bias and Balance in the Preservation of Digital Heritage, in: Luciana Duranti, Elizabeth Shaffer (Hrsg.): The Memory of the World in the Digital Age. Digitization and Preservation, Paris 2013, S. 989–1001. Prof. Dr. Stephan Scheuzger, Historiker, Förderprofessor des Schweizerischen Nationalfonds am Historischen Institut der Universität Bern. Ausgewählte Publikationen: Wahrheitskommissionen: Der nationale Umgang mit historischem Unrecht im Kontext des sich universalisierenden Menschenrechtsdiskurses, Habilitationsschrift, Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaft, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, 2014; Lateinamerika in der globalen Zirkulation von Expertise über den Umgang mit historischem Unrecht – Das Beispiel der Wahrheitskommissionen, in: Stefan Rinke, Delia González de Reufels (Hrsg.): Expert Knowledge in Latin American History. Local, Transnational, and Global Perspectives, Stuttgart 2014, S. 211–234; Wahrheitskommissionen, transnationale Expertennetzwerke und nationale Geschichte, in: Berthold Molden, David Mayer (Hrsg.): Vielstimmige Vergangenheiten – Geschichtspolitik in Lateinamerika, Wien, Berlin 2009, S. 215–238; Der Andere in der ideologischen Vorstellungskraft. Die Linke und die indigene Frage in Mexiko, Frankfurt am Main 2009. Dr. Harald Schmid, Politikwissenschaftler und Zeithistoriker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten. Ausgewählte Publikationen: Beglaubigungsversuche. Frühe Ausstellungen zu den nationalsozialistischen Verbrechen, in: Regina Fritz, Éva Kovács, Béla Rásky (Hrsg.): Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden, Wien 2016, S. 241–261; Die Wahrnehmung der NS-Verbrechen und ihrer Opfer im Wandel, Göttingen 2015 (Hrsg. mit Henning Borggräfe und Hanne Leßau); Schwierige Erinnerung: Politikwissenschaft und Nationalsozialismus. Beiträge zur Kontroverse um Kontinuitäten nach 1945, Baden-Baden 2015 (Hrsg. mit Susanne Ehrlich, Horst-Alfred Heinrich und Nina Leonhard); Gemeinsame Schuld, getrennte Gedächtnisse. Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus in Deutschland bis 1960, in: Günter Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner (Hrsg.): Die große Schuld, München 2015, S. 23–47. PD Dr. Stephan Scholz, Historiker, Privatdozent an der Carl v. Ossietzky-Universität Oldenburg. Ausgewählte Publikationen: Vertriebenendenkmäler. Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft, Paderborn 2015; Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken, Paderborn 2015 (Hrsg. mit Maren Röger und Bill Niven); Fotografische Repräsentationen und Konstruktionen von ‚Flucht und Vertreibung‘ im Schulbuch, in: Geschichte in Wissenschaft und

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Autorinnen und Autoren

Unterricht 66 (2015) 9/10, S. 562–576; „Ein neuer Blick auf das Drama im Osten“? Fotografien in der medialen Erinnerung an Flucht und Vertreibung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 11 (2014) 1, S. 120–133, Online-Ausgabe: URL: http://www. zeithistorische-forschungen.de/1–2014/id=5014. Prof. Dr. Stefan Troebst, Historiker und Slavist, Professor für Kulturgeschichte des östlichen Europa und Ko-Direktor des Global and European Studies Institute der Universität Leipzig. Ausgewählte Publikationen: Towards a European Memory of Forced Migration? Processes of Institutionalization and Musealization in Germany and Poland, in: Manuel Borutta, Jan C. Jansen (Hrsg.): Vertriebene and Pieds-Noirs in Postwar Germany and France. Comparative Perspectives, London 2016, S. 233–251; Remembering Communism. Private and Public Recollections of Lived Experience in Southeast Europe. Budapest, New York 2014 (Hrsg. mit Maria Todorova und Augusta Dimou); Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik? Anläufe der Europäischen Union zur Stiftung einer erinnerungsbasierten Bürgeridentität, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014), S. 15–42; Geschichtspolitik, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 4.8.2014, URL: http://docupedia. de/zg/Geschichtspolitik?oldid=94461. Dr. Karolin Viseneber, Literaturübersetzerin und Literaturwissenschaftlerin, war bis Ende 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Lebt und arbeite seit 2015 als freie Übersetzerin in London. Ausgewählte Publikationen: Vittoria Borsò. Lateinamerika anders denken. Literatur – Macht – Raum, Düsseldorf 2015 (Hrsg. mit Vera Elisabeth Gerling, Santiago Navarro und Yasmin Temelli); Poetiken des Verschwindens. Zeitgenössische argentinische Romane über die Militärdiktatur 1976–1983, Würzburg 2014; México: migraciones culturales – topografías transatlanticas. Acercamiento a las culturas desde el movimiento, Frankfurt am Main, Madrid 2012 (Hrsg. mit Vittoria Borsò und Yasmin Temelli); Voces. Cuentos argentinos/Stimmen. Argentinische Erzählungen, Düsseldorf 2010 (Hrsg. mit Vera Elisabeth Gerling). Dr. Jenny Wüstenberg, Politikwissenschaftlerin, DAAD-Gastprofessorin am Department of Political Science der York University in Toronto, Kanada. Co-Chair des Forschungsnetzwerkes „Transnational Memory and Identity in Europe“ im Council for European Studies. Ausgewählte Publikationen: Civil Society and Memory in Postwar Germany (i. E.); Special Issue: Transnational Memory Politics in Europe: Interdisciplinary Approaches, Journal of Contemporary European Studies 23 (2015) 3 (Hrsg. mit Aline Sierp); The struggle for European memory – New contributions to an emerging field, in: Comparative European Politics 14 (2016) 4, S. 376–389; Vom alternativen Laden zum Dienstleistungsbetrieb: the Berliner Geschichtswerkstatt – A Case Study in Activist Memory Politics, in: German Studies Review 32 (2009) 3, S. 590–618.

Claudia Fröhlich / Harald Schmid / Birgit Schwelling (Hg.)

Jahrbuch für Politik und Geschichte Schwerpunkt: Geschichte ausstellen

band 4 / 2013 die herausgeber Claudia Fröhlich ist Politikwissenschaftlerin und arbeitete bis 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und am Otto-SuhrInstitut der Freien Universität Berlin. Harald Schmid ist Politikwissenschaftler und Zeithistoriker und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel.

Die vierte Ausgabe des JPG widmet sich im Schwerpunkt dem Thema „Geschichte ausstellen“. Mit dieser aktuellen Perspektive auf den Umgang mit Vergangenheit setzen sich Martin Große Burlage, Thorsten Heese, Stefan Krankenhagen, Britta Lange, Bert Pampel, Silvio Peritore, Thomas Thiemeyer und Irmgard Zündorf auseinander. In der Rubrik Atelier & Galerie formulieren Félix Krawatzek und Rieke Trimçev eine Kritik des Gedächtnisbegriffs und Sebastian Haak erörtert die Geschichtspolitik des US-amerikanischen Militärs. Das Aktuelle Forum beteiligt sich mit Beiträgen von Bill Niven und Thomas Großbölting an der Debatte um die „Zukunft der Erinnerung“. Kunst und Erinnerungskultur stehen mit dem Beitrag von Sophie Oliver über Oscar Muñoz im Blickpunkt des Fundstücks. Wichtige Neuerscheinungen aus dem Feld der Transitional Justice stellt Anne K. Krüger im Forschungsbericht vor.

263 Seiten mit 12 Fotos. 978-3-515-10676-4 kart. 978-3-515-10706-8 e-book

Hier bestellen: www.steiner-verlag.de

Claudia Fröhlich / Harald Schmid / Birgit Schwelling (Hg.)

Jahrbuch für Politik und Geschichte Schwerpunkt: 25 Jahre europäische Wende

band 5 / 2014 die herausgeber Claudia Fröhlich ist Politikwissenschaftlerin und arbeitete bis 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und am Otto-SuhrInstitut der Freien Universität Berlin. Harald Schmid ist Politikwissenschaftler und Zeithistoriker und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel.

Aus Anlass des 25. Jahrestages der Wende in Europa nimmt das JPG die europäische Gedächtnislandschaft in den Blick. Im Schwerpunkt untersuchen Stefan Troebst, Arnd Bauerkämper, Harald Wydra, Ljiljana Radonic und Bettina Greiner geschichtspolitische Narrative in Europa. In Atelier & Galerie geht Erika Doss den memorialen Spuren der Terroranschläge von 9/11 nach. Bianca Roitsch und Anette Blaschke fragen nach der erinnerungskulturellen Bedeutung von Fotografien der deutsch-deutschen Grenze. Manuel Becker diskutiert das Konzept „Geschichte als Argument“. Im Aktuellen Forum plädiert Peter Steinbach in seiner Abschiedsvorlesung für die „Historischen Grundlagen der Politik“ und Uwe Bader schildert den Umgang mit den Rheinwiesenlagern. Joe Perrys Analyse der „Madonna von Stalingrad“ ist das Fundstück dieser Ausgabe. Mit Autobiografien und Biografien beschäftigt sich Volker Depkats Forschungsbericht.

271 Seiten mit 35 s/w-Fotos. 978-3-515-10912-3 kart. 978-3-515-10915-4 e-book

Hier bestellen: www.steiner-verlag.de

Das sechste „Jahrbuch für Politik und Geschichte“ rückt im Schwerpunkt das Feld globaler Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken in den Fokus: Vom UNESCO-Programm „Memory of the world“ über Transitional Justice als zentralem Handlungsfeld globaler Erinnerung bis hin zu einer „Matrix globalen Erinnerns“ und dem Problem der Übersetzbarkeit von Erinnerungen in andere sprachlichkulturelle Kontexte. Die Rubrik Atelier & Galerie behandelt trans-

nationale Netzwerke der EU-Geschichtspolitik sowie das Thema „Vergangenheitsbewältigung“ in China. Im Aktuellen Forum wird das „Recht auf Vergessenwerden“ im Internet erörtert. Als Fundstück präsentieren wir einen Essay über erinnerungskulturelle Folgen der Flüchtlingsbewegung und -debatte. Abschließend bietet der Forschungsbericht eine aktuelle Übersicht zum Thema „‚Flucht und Vertreibung‘ in der deutschen Erinnerungskultur“.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-11544-5